Deutsches Staatsrecht: I. Grundbegriffe [1 ed.] 9783428425792, 9783428025794

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Deutsches Staatsrecht: I. Grundbegriffe [1 ed.]
 9783428425792, 9783428025794

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WALTER HAMEL • DEUTSCHES STAATSRECHT

Deutsches Staatsrecht I. Grundbegriffe

Von

Dr. Walter Hamel Professor der Rechte an der Universität Marhurg/Lahn

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, BerUn 41 Gedruckt 1971 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

© 1971 Duncker

ISBN 3 428 02579 2

Vorwort Ein Lehrbuch des heutigen deutschen Staatsrechts erfordert zunächst die Klärung der Grundbegriffe und ihrer Zusammenhänge. Die, zum Teil wertvollen, Kurzlehrbücher haben einen anderen, einen pädagogischen Sinn; sie können sich nicht ausführlich solcher Untersuchung widmen. Der vorliegende Band I eines deutschen Staatsrechts versucht, diese Lücke auszufüllen. Um zu straffen, wurden die Anmerkungen auf das unumgängliche Maß beschränkt und die Darstellung von Einzelheiten späteren Ausführungen vorbehalten. Besonders behandelt wurden nur die Grundrechte, deren Auslegung noch in wesentlichen Fragen umstritten ist. Marburg a. d. L., Oktober 1971

W alter Harne!

Inhalt Erstes Kapitel: Der Rechtsstaat 1. Abschnitt: Recht, Freiheit, Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11

2. Abschnitt: Der Sinn der öffentlichen Gewalt: hoheitliche Positivierung des Rechts zur Entfaltung der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Abschnitt: Das Staatsrecht des Rechtsstaats

........................

21

4. Abschnitt: Die konstituierenden Kräfte einer Gemeinschaft . . . . . . . . . .

26

Zweites Kapitel: Die Demokratie 1. Abschnitt: Die Bedeutung der Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 28

2. Abschnitt: Die Demokratie im Bonner Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Abschnitt: Die staatliche Einheit: weder Summe Einzelner, noch Fiktion, sondern konstituierende Willensmacht des Volkes . . . . . . . . . . . . . . 32 4. Abschnitt: Verfassung, Verfassungsänderung und Revolution . . . . . . . .

37

5. Abschnitt: Die Struktur der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 6. Abschnitt: Das Bild des Organismus und die Repräsentation . . . . . . . . 44 7. Abschnitt: Demokratie und Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 8. Abschnitt: Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

9. Abschnitt: Demokratisierung der Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

10. Abschnitt: Die Determinierung des Volkswillens durch Wahlen und Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 11. Abschnitt: Die Mehrheit als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

12. Abschnitt: Das Scheitern der Demokratie: ein Versagen des Menschen 69

8

Inhalt Drittes Kapitel: Die Grundrechte

77

1. Abschnitt: Die Entwicklung der Menschenrechte und der Grundrechte

77

2. Abschnitt: Der Sinn der Grundrechte im Grundgesetz

79

3. Abschnitt: Grundrechte und Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

4. Abschnitt: Die Grundrechtsmündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

5. Abschnitt: Die Systematik der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

a) Die Würde des Menschen S. 96 - b) Die freie Entfaltung der Persönlichkeit mit dem Schutz des Brief- und Telefongeheimnisses S. 96 - c) Die Gewissensfreiheit S. 102 d) Die Freiheit der Meinungsäußerung S. 106 - e) Die Freiheit zum Versammeln und die Freiheit zum Vereinigen S. 108 - f) Die Freiheit der Kunst S. 110 - g) Die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre S. 118 - h) Die Gleichheit S. 119 - i) Die Ehe und die Familie S. 120 - k) Eigentum und Freiheit S. 128

Viertes Kapitel: Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt 1. Abschnitt: Staatsfunktionen und Gewaltentrennung

136 136

2. Abschnitt: Die regierende Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Abschnitt: Die drei Staatsfunktionen: Formen der hoheitlichen Positivierung des Rechts (formelle Hoheitsrechte) ... . . ........ . ... . ...... 145 4. Abschnitt: Der Regierungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5. Abschnitt: Das Bundesverfassungsgericht

Fünftes Kapitel: Das Staatsoberhaupt 1. Abschnitt: Objektivität der Herrschaft: eine Qualität der Person

153

157 157

2. Abschnitt: Die legitimierenden Aufgaben des Staatsoberhauptes . . . . . . 158 3. Abschnitt: Die personale Integrierung der Gemeinschaft durch das Staatsoberhaupt . .......................... . ...... .. .......... . .. ... 160 4. Abschnitt : Die Würde des Staatsoberhauptes

160

5. Abschnitt: Die Wahl des Staatsoberhauptes

161

Inhalt Sechstes Kapitel: Der Bundesstaat

9

163

1. Abschnitt: Die Souveränität des Bundes und der Länder

163

2. Abschnitt: Die Repräsentation der Länder im Bundesrat

167

3. Abschnitt: Die implied powers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4. Abschnitt: Die nicht verteilten Rechte und Pflichten der Länder und des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5. Abschnitt: Die Bundestreue . ...... . ......................... ... .... 172 6. Abschnitt: Die Bundesaufsicht

173

7. Abschnitt: Die Koordinierung der Länder und des Bundes in Ermessensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Siebentes Kapitel: Das Widerstandsrecht und der Staatsnotstand

176

ETStes Kapitel

Der Rechtsstaat 1. Abschnitt: Recht, Freiheit, Gewalt Das Recht ist der Raum der Freiheit. Nur wennes-als unbedingter, vorgegebener Maßstab des Verhaltens -jede Gewalt und Herrschaft, auch die staatliche, bindet und regelt, hat die Freiheit Bestand. Wird das Recht verfälscht in eine Funktion der Gewalt- in die zwangsweise Durchsetzung einer Tabu-Ordnung zur Erhaltung der Gesellschaft so gibt es keine Freiheit, wie einige der heutigen Sozialphilosophien, insbesondere die Frankfurter Schule zeigen (Horkheimer, Popper, Albert, Marcuse, Adorno, Gehlen). Die Ethik wird dort pervertiert in Wohlbefinden, d. h. die unbedingten, transcendenten Werte - Sinn, Freiheit, Recht und dessen Institute- werden als "Mythos" eieminiert und die verstandesmäßige Erfahrung natürlicher Güter, die stets nur bedingt richtig ist, (Materie, Wohlstand, Fortschritt) wird zum unbedingten Maß der Gesellschaft gemacht - das Kennzeichen der Ideologie-. Damit ist die Vernunft des Menschen nicht mehr frei vor der Natur, sondern nur noch technisches Werkzeug zur Erlangung solcher natürlichen Güter, ein Mittel der Selbstbehauptung; die Freiheit der Vernunft wird zur Freiheit der natürlichen Macht, die andere Menschen als Objekt verknechtet. Recht wird Kybernetik. Für Adorno besteht die Freiheit nur noch darin, dieses Grauen, das Gefängnis der Welt ins Bewußtsein zu heben und bei Namen zu nennen. Nur eine geistige, der Natur transcendente Macht, die durch ihren Wert jeglicher Gewalt gebietet und sie ordnet, - das Recht- konstituiert die Gesellschaft freier Menschen und jede Gemeinschaft. Recht ist nicht Mythos. Sondern es bestimmt im Gewissen und im Rechtsbewußtsein das praktische Verhalten: es fordert von den Menschen, gerecht und ungerecht zu unterscheiden und nach dem Maßstab der Gerechtigkeit die Gesellschaft zu ordnen derart, daß ein jeder seinen Freiheitsraum erhält. Das Maß des Gerechten - das was jedem zukommt - ist zwar nur undeutlich und mehrdeutig im Gewissen und Rechtsbewußtsein lebendig, so daß die Meinungen (Werturteile) darüber differieren: Varianten der Gerechtigkeit. Dennoch kann sich und soll sich ein jeder - insbesondere wer zur Herrschaft berufen - nach

12

I.

Der Rechtsstaat

diesem Maßstab gemäß seiner Erkenntnis richten; er pflegt sein Verhalten danach zu rechtfertigen und erkennt damit seine Verpflichtung an; ihm ist eine Grenze gesetzt, jenseits der offenkundig für jedermann - indiscutable - Willkür und Gewalt beginnt. Die Gerechtigkeit ist durch Gewissen und Rechtsbewußtsein die praktisch wirksame Idee von geistigem Substrat, die die Gewalt bindet und den Menschen in einen Raum der Freiheit instituiert. Verwirft der Mensch die Gerechtigkeit, so verwirft er seine Freiheit. Durch natürliche Erfahrung können wir nur theoretisch mit Begriffen des Verstandes feststellen, was da ist und war, nicht was da sein soll, d. h. was uns praktisch zum freien Gestalten aufgegeben ist. Der Verstand ist wertfrei und diskursiv; er scheidet, "definiert", aber vermag nicht Teile zu einer Ganzheit, nicht freie Menschen zum Ganzen einer Gesellschaft oder einer Gemeinschaft zu vereinen. Die Begriffe des Verstandes sind immer nur relativ gültige Bilder der Wirklichkeit. Die Ganzheit und die Hinordnung der Teile zu einer Ganzheit jedoch werden allein durch eine zentral ordnende Macht bewirkt, die der natürlichen Erfahrung vorgegeben ist, nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in der Naturwissenschaft•. Der Verstand trennt, der Geist vereint (Radhakrishnan). Das irrationale Miteinander-Leben freier Menschen mit seiner irrationalen Fülle freier Zielsetzungen kann nur durch eine nicht begrifflich sezierbare geistige Kraft, die das Mannigfaltige umfaßt und vereint, geordnet werden: durch Gerechtigkeit. Sie ist dem Menschen als Gebot des praktischen Verhaltens eingegeben. Menschen tun das Richtige im Dienste des Schöpfers; Wesen, Dasein und Erkennbarkeit bestehen in seiner Macht, die dem Verstande transzendent ist2 • Auch das an der Gerechtigkeit orientierte Recht pflegt zwar als eine rational faßbare Ordnung verstanden zu werden. Da es mit Begriffen des Verstandes positiviert wird, vermag es jedermann zu verpflichten, und ist daher das Mittel, das soziale Dasein zu erhalten und zu entfalten. Das römische Recht war durch die Macht seiner Logik das Maß zur Gestaltung und Beherrschung des Imperiums. Heute bestimmen Verfassungen Maß und System, nach denen jede Macht im Gebiete geordnet und berechnet werden soll; sie sollen sichern, daß der Mensch nur allgemeinen Gesetzen, nicht Menschenwillkür unterworfen und damit frei ist. Als Vollendung des rationalen Systems erscheinen "the Covenant" oder "the Charter" (= naturrechtlicher Urvertrag) der Völker; mit ihnen glaubte und glaubt der Mensch - im Völ1

Vgl. Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze (1969), insbesondere

2

Platon, Staat, 509 St.; Heisenberg a.a.O.

s. 291 ff.

1. Recht, Freiheit, Gewalt

13

kerbund und in den United Nations - den Frieden der Welt zu sichern. Doch an dem irrationalen souveränen Willen der Staaten scheitert die ratio des gesetzten Rechts: jeder Staat betrachtet sich selbst als absoluten Rechtsmaßstab, obwohl der Rechtswirksamkeit seines Willens Grenzen gesetzt sind. Denn das Substrat des Rechts - die Gerechtigkeit - ist ein irrationaler Wert, der dem Verstande vorgegeben ist und allein durch Werturteil bestimmt wird. An ihm scheitert jede nur rationale Ableitung des Rechts: Die griechischen Klassiker von Xenophon bis Aristoteles lehrten, daß ein Gesetz an sich der Billigung aller bedürfe; werde eine Minderheit, die sich nicht überzeugen läßt, zur Befolgung gezwungen, so li-ege Gewalt, nicht ein Gesetz vor. Auch Rousseau mußte zugestehen, daß sein rationales Bild vom Volkswillen und vom Gesetz nur dann Bestand hat, wenn alle sich zumindestens in dem Grundsatz einig sind, daß der Wille der Mehrheit als volontee generale gelten soll; sonst bestehe kein Staat und kein Gesetz. Lorenz von Stein hat schließlich im vorigen Jahrhundert den aufkommenden pluralistischen Staat dahin gekennzeichnet, daß nur noch Spielregeln für den Zugang zur Macht und deren Verteilung allgemeine Geltung hätten, während in der geistigen Substanz keine Einigung herrsche: d. h. Kapitulation der ratio vor der irrationalen Macht. Die griechischen Klassiker haben auch gelehrt, daß ein Gesetz dem Guten und Gerechten dienen müsse: sonst sei es kein Gesetz. Aber Platon ist bis zu seinem Tode nicht mit dem Problem fertig geworden, daß der gerechte Staat nicht verwirklicht werden kann, da die Weisheit, gerecht zu handeln, unter den Menschen nicht anzutreffen ist. Montesquieu preist zwar die Verfassung Englands (wie er sie sah) als die beste aller Verfassungen, weil sie die Herrschaft der Gesetze errichte; aber er sah doch für einen großen Flächenstaat die Despotie als angemessen an. Die französische Constitution vom 24. Juni 1793 erklärte- Rousseau folgend- das vom Volk beschlossene Gesetz könne nur befehlen, was gerecht und der Gesellschaft nützlich sei, und nur das verbieten, was ihr schädlich sei. Aber man legt heute auch in Europa - wie stets in den USA- den Menschenrechten die Bedeutung bei, die Freiheit des Menschen auch vor dem Gesetzgeber zu schützen. In alledem offenbart sich, daß der Verstand nicht die ganze Wirklichkeit zu erfassen vermag. Selbst das Verfassungssystem des heutigen Rechtsstaates, das durch Gesetz und Richterspruch das rechtliche Maß der Freiheit bestimmt, scheitert an der praktischen Notwendigkeit, das System der Gesetze im Notstand um der Erhaltung des Rechts willen zu durchbrechen, ja, Menschen mit der kommissarischen Ausübung von Gewalt zur Unterdrückung von Angriffen auf die Verfassung zu beauftragen.

14

I.

Der Rechtsstaat

Darüber hinaus hat jede rechtsstaatliche Verfassung ihre zeitliche Grenze: sie muß binnen kurzem verändert, ergänzt oder durch eine neue ersetzt werden, um den wechselnden irrationalen Anforderungen des Lebens "gerecht" zu werden. Weil das Recht sich nicht für alle Situationen im Voraus bestimmen läßt, verzichten Rechtsstaaten wie England und Israel auf eine Determinierung ihrer Verfassungen in Satzungen. Der Verstand allein kann nicht die irrationale Fülle des Rechts, die der Vielfalt des Lebendigen gerecht wird, fassen, messen und berechnen. Damit ist nicht die überzeugende Kraft und die Rechtssicherheit eines rationalen Rechtssystems geleugnet: sie zeigt sich in jedem guten Gesetz und in jeder guten Urteilsbegründung. Der Verstand allein vermag jedoch weder das Recht zu erzeugen, noch es richtig auszulegen: er kann nicht den Sinn des Rechts in der konkreten Situation bestimmen; dazu bedarf es eines Werturteils. Das römische Recht, das als Weltrecht angesehen wurde, scheitertetrotz seiner überzeugenden Logik an Menschen anderer geistiger Struktur und anderer Wertbegriffe: es wurde gewandelt. Das Privatrecht erscheint bei formaler Betrachtung zwar als Produkt des Verstandes, weil es den freien Willen verständiger Menschen zum Maßstab hat: es grenzt sie derart voneinander ab, daß die Freiheit des einen mit der des anderen zusammen bestehen kann; Sezieren und Selektieren sind die Erkenntnismethode des Verstandes. Die irrationale Wertung der Dinge und Menschen erscheint im Privatrecht als Zwecksetzung des verständigen Willens und damit als legitimiert und determiniert; die privatrechtliehen Beziehungen gelten daher in weitem Umfange als logische Folgen verpflichtender Willenserklärungen. Doch stellen sie eben nur die Folgen rechtlicher Verpflichtungen dar; die verpflichtende Macht der Willensäußerungen, das "Sollen" kann nicht vom Verstande begründet werden. "Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld)" - zu der nach Kant auch das Recht gehört- bleibt der theoretischen Betrachtung des Verstandes "gänzlich verborgen", ein "Geheimnis", drängt sich aber im Hinblick auf das praktische Verhalten unmittelbar- nicht vermittelt durch den Verstand - als moralisch, d. h. "schlechterdings notwendig" auf: das Gebot der praktischen Vernunft3• Das Unbedingte- die Gerechtigkeit 3 Kant, Krit. d. reinen Vernunft, Akad. Ausgabe Bd. III, S. 373 Fußnote; S. 536; Krit. d. prakt. Vernunft, Akad. Ausgabe Bd. V, S. 31; Metaphys. d. Sitten, Akad. Ausg. Bd. VI, S. 273. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, Akad. Ausg. Bd. VIII, S. 403 ff. Vorbild ist Platons Lehre vom Guten (dem Substrat der Gerechtigkeit), das, über das Sein hinausgehend, Ursache der Erkenntnis ist, sich also der Erkenntnis entzieht (Staat, 508 f.). Vgl. Paul Tillich: die motivierende Kraft zum Handeln ist die Gnade (Das religiöse Motiv des moralischen Handelns, Ges. Werke, Bd. III, S. 40 ff.).

1.

Recht, Freiheit, Gewalt

15

- kann nicht durch Begriffe erfaßt werden; es ist unverfügbar. Schon der Rechtssatz "pacta sunt servanda" setzt voraus, daß bestimmte Erklärungen und Handlungen als verbindlicher Pakt gewertet werden; hierüber aber entscheiden die gemeinsamen Rechtsanschauungen, insbesondere die über Treu und Glauben, gute Sitten, Verkehrssitte, kurz: entscheidend ist das Werturteil der rechtschaffenen Menschen in einer Gemeinschaft', nicht aber der Verstand; das gleiche gilt von der rechtlichen Wertung unvorhergesehener Ereignisse. Denn der Verstand vermag nicht die Umstände zu werten, d. h. zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsverbindlichkeit entsteht oder untergeht; er ist wertfrei; er kann ohne vorgegebene Wertmaßstäbe nicht sagen, nach welchen Kriterien die Freiheit des einen von der des anderen abzugrenzen ist. Er kann daher auch nicht die geistige Substanz, die eine Verpflichtung entstehen läßt - das Rechtsinstitut - definieren. Was der Kauf - der Grund seiner Verbindlichkeit - ist, kann niemand sagen: wir können nur seine mannigfachen Erscheinungen Voraussetzungen und Folgen - bestimmen. Daher bereitet die Auslegung a-typischer Verträge, deren Institute nicht gesetzlich geregelt sind, Schwierigkeiten. Rechtsinstitute sind durch die irrationale Eigenart der Vergemeinschaftung vorgegeben und geprägt; der Mensch erschafft sie nicht autonom. Denn das Recht ist die praktisch gebotene Ordnung oder besser: Verfassung des gemeinsamen Lebens, ist wirkende Wirklichkeit, nicht eine theoretische Abstraktion des Denkens: deshalb sind seine Begriffe irrational, wie alle Urbegriffe des Daseins (was "die Natur", "das Elementarteilchen", "die Physik", "das Leben", "die Pflanze" ist, oder was "die Sprache" oder "die Kunst" ist, kann keiner definieren, und jede Abstraktion, wie eine mit dem Verstand geschaffene Sprache, gibt nur ein einseitiges Bild der Wirklichkeit). Dem Verstande sind insbesondere Grenzen gesetzt durch einen rechtlichen status, der die Menschen nicht durch korrespondierende Erklärungen und Zwecksetzungen miteinander verbindet und voneinander abgrenzt, sondern sie zu einem gemeinsamen Willen und einer gemeinsamen Zwecksetzung vereint: durch das Recht jeder ungeteilten Gemeinschaft, jeder Betriebsgemeinschaft, jedes Verbandes. Nur die Vereinigung zum gemeinsamen Zweck ist durch freien Willensentschluß legitimiert; bei der Verfolgung dieses Zweckes haben sich die Menschen jedoch reziprok zu gemeinsamen Entscheidungen und Handlungen zu vereinen, die sich nicht logisch aus den Entscheidungen der Einzelnen ableiten lassen; hier geht es nicht darum, die Glieder in ihren Befugnissen voneinander abzugrenzen, sondern darum, daß alle gemeinsam das Zweckmäßige tun. Die Entscheidung, welche der Möglichkeiten des 4

Platon, Staat, 331 f. St.

16

I. Der Rechtsstaat

gemeinsamen Handeins die zweckmäßigste ist, kann nicht vom Verstande allein getroffen werden, sondern erfordert eine irrationale Wertung der gegebenen Situation und des erstrebten Zieles. Hier gibt es Konflikte, die sich nur dadurch lösen lassen, daß die Entscheidung bestimmter Glieder der Gemeinschaft- der Mehrheit oder des Leiters z. B. - rechtlich den Vorrang haben und die anderen zur Folge verpflichtet sind (aus dieser Erkenntnis entstand die Folgepflicht des Mittelalters). Das Recht solcher Gemeinschaften wertet daher die Angehörigen als Glieder, die teilhaben am Ganzen, aber den Entscheidungen bestimmter "Organe" über das gemeinsame zweckmäßige Verhalten im Rahmen des Rechts unterworfen sind; sie haben den rechtlichen status als Glied eines Verbandes. Soweit eine Folgepflicht nicht besteht, wie auf einigen Bereichen der Betriebsgemeinschaft (Löhne, soziale Leistungen), ist eine Entscheidung von Konflikten nach Maßstäben des Rechts, d. h. ein richterliches Urteil urunöglich: nur das gemeinsame Interesse am Betriebe kann dann zur Einigung führen. Nur die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, nicht das Handeln in Gemeinschaft miteinander läßt sich rational aus den korrespondierenden Willenserklärungen ableiten. An den gemeinsamen Aufgaben findet der Verstand seine Grenze.

2. Abschnitt: Der Sinn der öffentlichen Gewalt: hoheitliche Positivierung des Rechts zur Entfaltung der Gemeinschaft

An der öffentlichen Gewalt des Staates jedoch scheitert der Verstand völlig; ihre Legitimierung ist dem Verstande total verborgen, obwohl sie von Menschen errichtet - nicht naturgegeben wie Familie und Volk- und zur verstandesmäßigen Determinierung des Rechts berufen ist. Die Zugehörigkeit zum Staate und die staatsrechtlichen Pflichten sind nicht erwählt; die meisten Menschen sind hineingeboren, so, wie sie in ihre Heimat, ihr Volk, ihr Recht, ihre Sitten, ihre Sprache hineingeboren sind; sie sind der staatlichen Gewalt, gleichviel ob sie zustimmen oder nicht, unterworfen. Das Maß des Staatsrechts sind nicht die korrespondierenden Erklärungen freier Menschen, sondern ist die Aufgabe der öffentlichen Gewalt, das Zusammenwirken freier Menschen und den Gebrauch der eigenen Macht nach Maßstäben der Gerechtigkeit so zu ordnen, daß sich alle in Freiheit zu entfalten vermögen und die gemeinsamen Lebensgüter gewahrt werden. Die öffentliche Gewalt des Staates bestimmt aus der unbestimmten Fülle politischer und rechtlicher Möglichkeiten, was als rechtmäßig in der Gemeinschaft des Landes gelten soll, soweit die Glieder sich hierüber nicht einigen. Sie determiniert die Rechte und Pflichten der Glieder und ihrer Ver-

2. Der Sinn der öffentlichen Gewalt

17

bände; sie greift dabei selbst intervenierend und fördernd in das freie Spiel der Kräfte ein, soweit es für den Kreislauf des Ganzen erforderlich ist - Entscheidungen, die nicht verstandesmäßig allein aus der Logik allgemeiner Begriffe und Willensäußerungen gewonnen werden können, sondern zunächst eine Wertung der Gesamtsituation nach dem Rechtsempfinden der Gemeinschaft gebieten. - Die irrationalen Notwendigkeiten der gemeinsamen Existenz bestimmen die angemessenen rechtlichen Mittel; die öffentliche Gewalt des Landes hat darüber nach dem Maßstab der Gerechtigkeit zu entscheiden.

Die Rechtfertigung dieser Kompetenz folgt allein aus dem Mandat der öffentlichen Gewalt, das Recht der Gemeinschaft einseitig, also hoheitlich zu determinieren und durch Macht zu konkretisieren, soweit es zur Erhaltung und Entfaltung der verbundenen freien Menschen geboten erscheint. Dieses Mandat ist, wie Kant gezeigt hat, praktisches Vernunftsprinzip, dessen Notwendigkeit sich den Menschen unwiderstehlich aufdrängt5 , weil freie Menschen gemeinsam in Frieden nur leben können, wenn der Freiheitsraum eines jeden, d. h. sein Recht, allgemein verbindlich für alle von einem einheitlichen Willen gemäß der Gerechtigkeit determiniert und gesichert werden kann. Denn die Meinungen der Menschen über ihre Rechte und rechtlichen Pflichten divergieren, und die Menschen neigen dazu, das Recht aus Eigennutz zu verletzen. Die autonome sittliche Persönlichkeit, die das objektiv Gerechte erkennt und will, ist eine abstrakte Hypothese, nicht die wirkliche Struktur des Menschen. Das Bewußtsein der Menschen ist vielmehr verzerrt durch Selbstsucht, das Gerechte bestimmt nicht ihr Dasein, da sie nicht unmittelbar in der erhaltenden Liebe des Schöpfers (dem wahren Recht) leben. Sie können nicht ohne hoheitliche Gewalt, die aUgemein für alle verbindlich das Recht eines jeden zu bestimmen und zu beschützen vermag, gemeinsam in Freiheit existieren. Dieses praktische Vernunftprinzip offenbart, daß jenes allgemein gültige Mandat, das eine Gewalt als öffentliche qualifiziert, vom Schöpfer der Vernunft des Menschen eingegeben (Römer 13, 1; Eph. 1, 20 f.), also die Wirklichkeit des Rechts ist. Die öffentliche Gewalt, deren rechtlicher status heute "Staat" heißt, ist somit selbst eine notwendige Institution des Rechts, nicht nur, wie andere Willensmächte, ein Rechtssubjekt. Sie zeugt zwar nicht das Recht, hat aber das Recht- seinem Wesen gemäß - verbindlich für alle Glieder der Rechtsgemeinschaft zu determinieren und durch Macht zu vollziehen, soweit die Glieder es nicht von sich aus wahren. Dieses praktische Mandat der öffentlichen Gewalt bleibt 5 Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. Bd. VI, S. 319, und oben Anm. 3. Die zutreffende Bezeichnung "Mandat" stammt von Bonhoeffer: er erkannte in dem Auftrag des Staates eines der Mandate Gottes, Evang. Ethik, 1956,

s. 222 ff.

2 Hamel

18

I. Der Rechtsstaat

jedoch, wie die verpflichtende Kraft aller Rechtsinstitute, dem theoretischen Verstande "gänzlich verborgen", ein "Geheimnis", dessen Geltung der Mensch als "schlechterdings notwendig" durch seine Vernunft erfährt6 • Urbild und Ursprung der öffentlichen Gewalt ist das Richten: "auch magst du hie sehen, daß alle Herrschaft allein daher kommt, daß man über Leute zu richten hat"7 • Dabei hat "Richten" die Bedeutung von "Rechtfinden" ("Jurisdictio" in ihrer ursprünglichen Bedeutung des Mittelalters). Es umfaßt jegliche Determinierung von Recht, die abstrakt allgemeine und die den Einzelfall betreffende Regelung, Gesetzgebung und Ordnungs-(Polizei-) Gebot ("Friedensgebot"), Strafjustiz und Streitentscheid (die Differenzierung in Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung im heutigen Sinne entstand erst mit der Gewaltenteilung.) Der Sinn des Rechts und dessen Positivierung durch die öffentliche Gewalt besteht nicht nur darin, die Freiheit des einen von der des anderen abzugrenzen - eine rationale, auf Kant zurückgehende Verkürzung - . Denn jeder lebt und wirkt in Gemeinschaft, d. h . in reziproker Verflechtung mit anderen: alle stehen in wesensgestaltendem Zusammenhang miteinander, wie Theodor Litt gezeigt hat8 • Der Mensch ist nicht ein factum, sondern ein faciendus. Er ist mit anderen in gegebenen Gemeinschaften vereinigt und schließt sich mit anderen zu Verbänden zusammen, weil die Menschen viele ihrer Aufgaben und Wünsche nur miteinander in reziproker Ergänzung erfüllen. Der Sinn des Rechts ist, eben dieses Gefüge freier Menschen mit seinen Gütern durch gerechte Ordnung in Konkordanz, im Kreislauf derart zu halten, daß jeder seinen rechtlichen status (Rechtsraum) der Freiheit hat, in dem er kraft seiner Vernunft (aus der Natur heraustretend) sich zum wahren, rechtschaffenen Menschen zu entfalten und die Gemeinschaft mit anderen gerecht zu integrieren vermag - aber diese Berufung auch verfehlen kann -. Gerechte Ordnung freier Menschen ist der Sinn des Rechts. Recht ist nicht bloß eine rationale Form (wie der Neukantianismus meint), sondern noumenale Ordnung von geistiger Substanz (materialem Wert): der Gerechtigkeit, die der theoretischen Betrachtung nicht zugänglich ist, sondern ein persönliches Werturteil fordert. Daher setzt jede Herrschaft über andere eine persönliche Eigenschaft - gerechte Gesinnung, Rechtschaffenheit - voraus: den "bonus vir" des römischen Rechts9 • Wer kraft Amtes hoheitliche Gewalt auszuüben Oben Anm. 3. Glosse z. Sachsenspiegel, Landrecht III, Art. 52. 8 Individuum und Gemeinschaft (1926) S. 238 ff. 9 Dig. 13, 6, 33; Dig. 39, 5, 3, 1; Dig. 45, 1, 137, 2; Dig. 47, 10, 17, 5, Zu Dig. 1, 1, 1 vgl. Kaser, Das römische Privatrecht (1955), S. 172. Zu dieser Frage grundlegend: Platon, Staat, 433 St., 444, 544 f.; 577-582. &

7

2. Der Sinn der öffentlichen Gewalt

19

hat, ist zur Gerechtigkeit berufen, d. h. er hat das Leben in Gemeinschaft objektiv nach dem transzendenten Maßstab der Gerechtigkeit zu ordnen. Die Qualifizierung eines Menschen zu solchem Amt beruht entweder auf einer besonderen, transzendenten Begnadung: Gott kreierte im Mittelalter den König, und jede Wahl oder Akklamation galten als Zeichen Gottes, nicht als Instituierung10• Auch die Erbfolge war Gottes Wille. Das Blut der französischen Könige wurde als Sakrament angesehen. Noch heute gilt die Salbung - etwa in England - als die Form, in der sich Gottes Begnadung manifestiert. Die Worte "von Gottes Gnaden" zeigten die Grundlage der Legitimität eines Monarchen an. Schließlich wurde und wird auch oft die institutionelle Ordnung einer Monarchie oder einer Aristokratie allein wegen ihrer Tradition auf Gottes Willen zurückgeführt. Geht aber die öffentliche Gewalt von einer säkularen Macht - dem Volke - aus, so gibt es kein absolutes Kriterium, das eine Persönlichkeit vor anderen wegen ihrer gerechten Gesinnung auszeichnet und damit zur Herrschaft qualifiziert. Nur die praktische Bewährung kann die Instituierung in ein hoheitliches Amt als gerechtfertigt offenbaren. Erweist sich der Inhaber bei der Ausübung seines Mandats als unzulänglich, also ungerecht, so wird die Freiheit der ihm anvertrauten Menschen verletzt und deren Rechtsbewußtsein begehrt auf. Daher sind Instanzen vorgesehen, die hoheitliche Entscheidungen nachprüfen und abändern können, oder es bestehen legale Formen, um unfähige Träger hoheitlicher Ämter zu entfernen, sei es unmittelbar, sei es durch Limitierung ihrer Amtszeit. Denn es gehört zu jenem vernunftgebotenen rechtlichen Mandat der öffentlichen Gewalt, dem jedes Volk untersteht, daß nach Möglichkeit durch Formen und Verfahren eine gerechte Ausübung dieser Gewalt gesichert wird. Wo sie nicht bestehen, kann es zu einem gewaltsamen Umsturz, einer Revolution kommen; aber auch die neuen Machthaber unterliegen jenem Mandat einer gerechten Ordnung, auch sie haben sich darin zu bewähren, um als legitim zu gelten. Die faktische Gewalt hat nicht, wie Georg Jellinek meinte, "normative Kraft", sondern sie wird, - wie Geburt, Tod, Handeln - vom Recht gewertet. Das Mandat der öffentlichen Gewalt, Recht zu determinieren, enthält den Rechtsgrundsatz der Subsidiarität, oder besser: der suppleance, der von Abraham Lincoln und von den Päpsten Pius XI. (Enz. Quadrogesima anno) und Johannes XXIII. (Enz. Mater et Magistra) erkannt wurde. Die öffentliche Gewalt soll den Einzelnen und eingeordneten 10

Vgl. mein "Reich u. Staat im Mittelalter" (Hamburg 1944) S. 27 ff., 59 f.,

65, 118 ff. 2*

20

I. Der Rechtsstaat

Gemeinschaften alle Aufgaben überlassen, die von ihnen ohne Störung anderer oder des Kreislaufs des Ganzen bewältigt werden können. Sie hat aber alles zu besorgen, wonach die Menschen oder Gemeinschaften ein gerechtfertigtes Bedürfnis haben, wenn sie es selbst überhaupt nicht tun können, oder doch, auf sich selbst gestellt, nicht ebenso gut tun können. Die öffentliche Gewalt soll also insoweit, aber auch nur insoweit, intervenieren, als es zur Entfaltung der unverkümmerten freien Existenz Aller nach dem Maßstab der Gerechtigkeit notwendig ist und die Menschen - allein oder in Gemeinschaft - zur Selbsthilfe außerstande sind; in dieser Entfaltung besteht der Sinn des Rechts, das die öffentliche Gewalt zu determinieren und zu konkretisieren hat. Der rechtliche status der öffentlichen Gewalt (Staat), in den die Menschen gemeinsam instituiert sind, ist somit nicht dialektische Lebenstotalität - die Einheit des Lebens ist nur in der Persönlichkeit wirklich, und die Totalität des Lebens nur in der absoluten Persönlichkeit: in Gott - . Sondern der Staat hat das Mandat zur suppleance (zur stellvertretenden Hilfe), damit Gerechtigkeit herrscht. Daher hat die öffentliche Gewalt auch die rechtliche Verpflichtung, in den Formen und mit den Mitteln des Rechts selbst, in Eigenregie, "Aufgaben" zu erfüllen, die im allgemeinen Interesse liegen, aber nicht ohne Störung des Ganzen der Initiative der Einzelnen oder deren Gemeinschaften und Verbände überlassen werden können (vgl. Art. 30 GG.), insbesondere die Gestaltung und Unterhaltung öffentlicher Sachen, Anstalten und Betriebe, Schutz und Förderung weiterer Güter, die der Gemeinschaft wertvoll sind (wie Volksgesundheit, Ehe und Familie, Jugenderziehung und -Pflege, Volkstum, Kunst, Wissenschaft, Sport, Volkswirtschaft, öffentlicher Verkehr usw.) Darüber hinaus hat die öffentliche Gewalt jede Notlage, die den Kreislauf des Ganzen oder die unverkümmerte freie Existenz der Einzelnen beeinträchtigt, aber nicht von ihnen behoben werden kann, durch Subventionen, Renten oder Unterstützungen zu bekämpfen. Sie hat schließlich auch den Bestand der Gemeinschaft und ihres Rechts durch die vereinigte Macht des Volkes zu verteidigen. Schon die Könige, Fürsten und Städte des ausgehenden Mittelalters nahmen daher die Erfüllung all~ Aufgaben des "Landeswohls" oder "Gemeinwohls" unter Berufung auf ihr natürliches Recht in Anspruch. Die öffentliche Gewalt ist nicht ein Bündel von Kompetenzen, sondern hat ihrer Natur nach - als praktisches Vernunftprinzip - jenes einheitliche rechtliche Mandat, das im Wesen des Rechts beschlossen liegt und seit dem Mittelalter Gestalt erhielt: die Herrscher begehrten es nicht nur, sondern von ihnen wurde erwartet, daß sie sich dieses Amtes unterzogen, und oftmals wurden sie von den Ständen daran gemahnt.

3. Das Staatsrecht des Rechtsstaats

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Die Regelung durch Hoheit steht der öffentlichen Gewalt als praktisches Vernunftprinzip nur zu, soweit sie die öffentlichen Aufgaben nicht durch persönliche Kontakte und in den Formen des Zivilrechts bewältigen kann. Aber die Eigenart, das besondere Mandat der öffentlichen Gewalt ist, alle Angelegenheiten der Gemeinschaft, soweit erforderlich, einseitig rechtsverbindlich zu regeln - sei es durch Verpflichtung der Glieder, sei es durch eigenes Gestalten in den Formen des Rechts-. 3. Abschnitt: Das Staatsrecht des Rechtsstaats Kommt die öffentliche Gewalt diesem Mandat nach, d. h. sichert sie durch Institute, daß das Recht nach dem Maßstab der Gerechtigkeit determiniert wird und ausschließlich herrscht, so konstituiert sie den Rechtsstaat ("im Sinne dieses Grundgesetzes", Art. 28 Abs. 1 GG). Er zeichnet sich dadurch aus, daß nicht der persönliche Befehl ("der König will es"), sondern sachliche Gründe, die den Befehl rechtfertigen, die Verbindlichkeit hoheitlicher Anordnungen begründen: nur hierdurch wird die Freiheit der Verpflichteten gewahrt. Denn frei ist der Mensch nur, wenn er nicht Menschen, sondern allein den Geboten des Rechts unterworfen ist. Der status der Freiheit (Grundrechte), der Vorrang des Gesetzgebers vor den anderen Gewalten und die Unabhängigkeit der Abgeordneten des Volkes, die die Gesetze beschließen, die Garantie des Rechtswegs und die Unabhängigkeit der Richter sind daher die Institute des Rechtsstaats. Bürgerlicher (oder liberaler) Rechtsstaat und sozialer Rechtsstaat (Art. 28 Abs. 1, vgl. Art. 20 Abs. 1 GG) unterscheiden sich voneinander durch die Gerechtigkeits-Maßstäbe. Der eine geht vom freien Belieben des Einzelnen, der andere von seiner Verantwortung für die anderen, für deren unverkümmerte, menschenwürdige freie Existenz und für die Allgemeinheit aus. § 903 BGB auf der einen und Art. 14 Abs. 2 GG auf der anderen Seite, oder das Dienstverhältnis der BGB auf der einen und das heutige Arbeitsrecht auf der anderen Seite, kennzeichnen diesen Gegensatz. Die Bedeutung des "sozialen Rechtsstaats" besteht zunächst in einer rechtspolitischen Aufgabe des Gesetzgebers. Doch kann sie - wie jeder rechtspolitische Grundsatz (z. B. Art. 3 Abs. 2, Art. 6 Abs. 4 und 5 GG11) - in Grenzfragen auch unmittelbar Rechte und Pflichten erzeugen, wenn der Gesetzgeber seinen verfassungsrechtlichen Auftrag offensichtlich verletzt, sei es durch Untätigkeit, sei es durch asoziale Gesetze, die dem Grundsatz des sozialen Rechtsstaats eindeutig widersprechen.

Jede Herrschaft über Menschen erhält, um zu bestehen, die beherrschte Gemeinschaft in Formen des Rechts, mag es sich um einen 11

Vgl. BVerfG. E. 3, 225 (243 ff.); vgl. 8, 210 (216 ff.).

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I. Der Rechtsstaat

Betrieb, um eine persönliche Herrschaft oder um einen Staat handeln. Das Recht, das von einer öffentlichen Gewalt (einem "Staat") positiviert wird, aber zeichnet sich dadurch aus, daß es allgemein und unbedingt im Lebensraum eines Gebietes für jedermann gilt; dadurch wird die Gleichheit und Freiheit der Menschen gewahrt. Aus der Herrschaft in Familien, Sippen und Völkern ging zwar die öffentliche Gewalt hervor. Aber erst wo sie der allgemeinen rechtlichen Ordnung und Befriedigung eines Lebensraumes - eines Landes - diente (beginnend mit dem 13. Jahrhundert), trat ihr öffentlicher Sinn als Rechtsinstitut der Menschheit -der "Staat" -hervor. Sie gab jedermann einen Rechtsund Friedensstatus und verpflichtete jedermann. Doch das Recht zur ausschließlichen Beherrschung eines Landes und Lebensraumes - das Kennzeichen des heutigen Staates- verletzt selbst die Gleichheit und Freiheit der Menschen und Völker. Es ist bereits eine kapitalistische Herrschaftsform (entstanden aus dem Grundbesitz). Sie befriedet zwar ein Gebiet und gibt damit dem Menschen als solchem Rechte und Pflichten, ist also insoweit ein Fortschritt der Menschheit. Aber sie differenziert die Freiheit der Menschen und Völker nach ihrem Lebensraum und differenziert damit die Rechte und Pflichten der Menschen insbesondere das Aufenthalts-, Einwanderungs- und Auswanderungsrecht - nach der Staatsangehörigkeit, also nach Gesichtspunkten, die sich nicht sachlich rechtfertigen lassen: die Völker werden durch ihren Landbesitz in reiche und arme geschieden. Die Staatsangehörigkeit durchbricht nach heutigem Verfassungsrecht das Grundrecht der Gleichheit; so führt Art. 3 Abs. 3 GG nicht die Staatsangehörigkeit unter den Kriterien auf, die eine ungleiche Behandlung ausschließen. Die Ungerechtigkeit der bestehenden staatlichen und internationalen Ordnung! Die öffentliche Gewalt offenbart, daß die geistigen Gebote des Rechts - Gebote des Gewissens, die sich im Rechtsbewußtsein manifestieren - dem konkreten Leben der Menschen immanent sind. Das Recht gebietet, die natürlichen Faktoren der gemeinsamen Existenz nach einem besonderen, ihm eigenen Sinn zu werten und zu ordnen; der Sinn ist, das freie Verhalten so zu regeln, daß Alle, ihrer Individualität und den Umständen entsprechend, in reziproker Verpflechtung und Ergänzung gemäß dem Maßstab der Gerechtigkeit leben. Das Recht ist wirkende Wirklichkeit freier Menschen, ist daher durch psychische und physische Fakten integriert und wandelt sich mit ihnen; es ist aber nicht kausal, sondern durch den Wert bestimmt, der den kausalen, psychischen und physischen Einflüssen vom Rechte beigelegt wird. Die Transzendenz des Rechts ist nicht absolut und die Natur nicht bloß Inhalt und Gegenstand, nicht bloß "Material" der Rechtsordnung (wie Fichte meinte). Aber das Recht ist auch nicht eine Emanation der Materie:

3. Das Staatsrecht des Rechtsstaats

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allein aus der Materie ist der Regierungsrat nicht zu erklären (Feuerbach). Sondern das geistige, der Kausalität transzendente Gebot des Rechts besteht zur Ordnung der Existenz freier Menschen, die eine Einheit von Geist und Natur, von Freiheit und Kausalität ist: sie zu wahren ist der Sinn (Eidos) der Gerechtigkeit und des Rechts. Die Einheit von Natur und Noumena (die "Dinge an sich") ist zwar dem theoretischen Verstande nicht zugänglich, aber doch praktisch im Gewissen und Empfinden, das den Menschen zur Konkretisierung geistiger und seelischer Werte beruft, geboten. Wie Menschen einander verpflichtet sind, drängt sich unmittelbar- nicht vermittel durch Denken - als notwendig dem Rechtsbewußtsein auf; Kant nennt dies das obere Erkenntnisvermögen der praktischen Vernunft, das den Primat hat vor dem theoretischen Verstande. Dadurch ist eine Rechtsgemeinschaft möglich. Maßstab für dieses Urteil ist das Leitbild vom gerechten Menschen, das die Gemeinschaft (Familie, Stadt, Volk, Vaterland, Staat) beherrscht. Es gilt als Abbild und Vorbild der Gerechtigkeit. Der Natur des Menschen ist es transzendent, formt aber durch den Glauben an die Geltung transzendenter Gebote (moralischen Glauben) und durch vollziehende Tat die Natur des Menschen12 : durch Gerechtigkeit - daß jeder das Seinige tut - hat der Mensch seinen Raum der Freiheit. Die Vorstellung, daß der Mensch durch Denken und Diskussionen die wahre, alle überzeugende und verbindende Norm hervorbringen könne, ist ein Trugschluß; auch der kategorische Imperativ Kants13 gibt nur eine leere Form, die erst durch den Glauben an ein Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung ihren Inhalt empfängt (für die Diktaturen sahen die Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung anders aus als für Kant). Alle Rechtssysteme und Staatsverfassungen mögen sie auch noch so sehr einander widersprechen - können der Logik entsprechen: die Unterschiede bestehen in den religiösen Überzeugungen und in den Wertungen, an die der Verstand erst anknüpft; denn er kann nur sagen, was da ist, nicht was da sein soll. Die öffentliche Gewalt soll sichern, daß sich die polaren Mächte des Rechts: die Gerechtigkeit, wie sie sich im Rechtsempfinden der Gemeinschaft, wenn auch undeutlich und uneinheitlich, manifestiert, und die Gewalt des Willens - Idee und Sein - zur Einheit des Rechts ver12 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akad. Ausg. Bd. III, S. 19 f.; Kritik der Urteilskraft, a.a.O., Bd. V, S. 471 ff., im Anschluß an Platon. Daher bedeutete die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten eine "Bekräftigung" des "tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten" (Präambel), und "bekennt" sich das deutsche Volk zu "Menschenrechten" (Art. 1 Abs. 2 GG). Vgl. unten Kap. II Abschn. 5. 13 "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne", Krit. der prakt. Vernunft, Akad. Ausg. Bd. V, S. 30.

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I. Der Rechtsstaat

binden: das ist ihr institutioneller Sinn. Sie zeigt, daß Gerechtigkeit und Freiheit durch Institute des Rechts Wirklichkeit werden.Die allgemeine Staatslehre kann daher bestenfalls die natürlichen und geistigen Voraussetzungen politischer Ideen und staatsrechtlicher Institute aufzeigen. Sie kann auch die Bedeutung bestimmter Staatsstrukturen in historischer, kultureller, wirtschaftlicher und anderer Hinsicht schildern. Sie kann aber nicht die Wirklichkeit "Staat" in ihrer Ganzheit darstellen. Sie kann den Staat insbesondere nicht theoretisch definieren oder auf andere Begriffe zurückführen.

Gegenstand und Maß des Staatsrechts aber ist nicht die ungebundene Entscheidung der Menschen, sondern das rechtliche Mandat der öffentlichen Gewalt, die Positivierung des Rechts gemäß der - im Rechtsempfinden undeutlich manifestierten- Gerechtigkeit zu sichern, damit die Gemeinschaft Bestand hat. Dieses Mandat prägt die Ämter, Institute und Begriffe des Staatsrechts und darüber hinaus des öffentlichen Rechts überhaupt. Sie erfordert eine besondere, teleologische Methode der Auslegung. Als Prinzip der praktischen Vernunft kann jenes Mandat nicht allgemein theoretisch definiert, die Fülle seiner möglichen Aufgaben, Grundsätze und Formen nicht mit Begriffen des Verstandes dargestellt werden. Die Anforderungen an die öffentliche Gewalt wandeln sich mit den ständig wechselnden Situationen und Rechtsanschauungen; sie sind der Wirklichkeit angemessen und Gegenstand unbeweisbarer Ideen und Wertungen. Der Verstand vermag- da er "ausgrenzt" und "abstrahiert" - nur Aspekte und Relationen der Wirklichkeit, nie aber die wirklichen Dinge in ihrer Ganzheit, nie den "versammelnden Sinn der Dinge" (Heidegger) zu begreifen. Der Verstand kann schon in der Natur nicht die Eigenschaften des Lichts als Welle und als Korpuskel in ihrer Einheit erfassen. Er kann erst recht nicht die Maßstäbe der Gerechtigkeit, die sich mit den Menschen und den Situationen wandeln, und nicht den Sinn der öffentlichen Gewalt, der auf die Ganzheit des gemeinsamen Lebens gerichtet ist, erschöpfend bestimmen. Über freie Menschen herrschen allgemein geltende Gesetze (vgl. Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG), nicht Menschen. Aber was allgemein gültig ist, kann nicht vom Verstande, sondern nur durch Wertung, durch intuitive Erfassung des Gerechten und Billigen erfahren werden (die Nürnberger Gesetze Hitlers waren in arithmetischem Sinne allgemein, aber nicht allgemein "gültig" im Rechtssinne). Was die "freiheitliche demokratische Grundordnung" ist, läßt sich nicht logisch entwickeln, sondern nur an Beispielen, die auf Wertungen des Verhaltens beruhen, erläutern. Weil die abendländische Wissenschaft mit ihren rationalen Kategorien am Staate scheiterte, wurde der Staat eines ihrer Haupt-

3. Das Staatsrecht des Rechtsstaats

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probleme. Für den Orientalen hingegen, der wirkliche Ganzheiten in Bildern darstellt (anstatt sie mit Begriffen des Verstandes zu zerlegen), steht der Staat nicht in der Mitte der Philosophie. Damit ist keineswegs gesagt, daß das Staatsrecht jeglicher Determinierung durch den Verstand entzogen sei. Aber Wissenschaft und Praxis müssen sich klar darüber sein, was logisch bestimmt werden kann und soll und an welches vorgegebene Substrat jede Erkenntnis des Verstandes anzuknüpfen hat. Der Verstand vermag ein moralisches Gebot (wie das des Rechts) - das eine "verschleierte Göttin" für ihn bleibt - nur durch das "didaktische Verfahren" in uns auf deutliche Begriffe nach logischer Lehrart zu bringen14, d. h. festzustellen, in welchen Relationen die "Erscheinungen", insbesondere die Handlungen zueinander vom Gebot gebracht werden ("wenn A ist, soll B sein"). Der Verstand kann zwar nicht sagen, was das geistige Substrat - z. B. das rechtliche Mandat des Staates - praktisch fordert; was sinnvoll und gerecht ist, wird unmittelbar - nicht vermittelt durch theoretisches Denken - im Gewissen und Wertempfinden als Gebot der praktischen Vernunft erfahren. Aber der Verstand kann und soll das Geforderte nach den Regeln der Logik begrifflich gliedern. Eine solche verstandesmäßige Determinierung der Rechtsbeziehungen, die die öffentliche Aufgabe gebietet, ist der Sinn der öffentlichen Gewalt (der Gesetzgebung, der Rechtssprechung, der vollziehenden Gewalt). Alle Rechtsbeziehungen, die aus vorgegebenen Rechtsinstituten und Prinzipien folgen, sind in ein logisches System zu bringen, weil diese Institute und Rechtsprinzipien allgemein, für alle gelten und allein die Logik zur allgemeinen, allen verständlichen Erkenntnis führt. Darin besteht die Bedeutung jedes Gesetzes, jedes Urteils und jedes Verwaltungsaktes. Die Allgemeingültigkeit aller rechtlicher Entscheidungen offenbart sich darin, daß sie sich logisch in ein System einordnen lassen: jede Urteilsbegründung hat den Sinn, diese Einordnung darzutun. Die Rechtssicherheit, ein wesentliches Prinzip des Rechts, ergibt sich daraus; sie beruht nicht nur im Gesetz. Aber der allgemeine Sinn, der der staatlichen Determinierung (Gesetz, Richterspruch und Verwaltungsakt) den Inhalt gibt - welche rechtliche Ordnung für die gemeinsame Existenz freier Menschen erforderlich ist - kann nicht theoretisch deduziert, sondern nur durch Wertung der sozialen Situationen am Maßstab der Gerechtigkeit gewonnen werden; sie liegt in erster Linie beim Gesetzgeber und, soweit das Gesetz hierüber schweigt, bei den Gerichten und Behörden. Aus zahllosen unbestimmten Möglichkeiten - nicht aus einem allgemeinen Satz - muß intuitiv durch persönliches "Ermessen" (Werturteil) das rechtlich "An14 Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, Akad. Ausg. Bd. VIII, S. 405.

I. Der Rechtsstaat

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gemessene", das den Anforderungen und Nöten der Gemeinschaft entspricht, bestimmt werden. Nie kann eine gesetzte Verfassung diese Aufgaben und deren Erfüllung begrifflich vorzeichnen. Verfassungen und Gesetze können der Volksvertretung und der Regierung nicht rechtsverbindlich sagen, was geschehen soll, welche Gesetze erlassen und welche Verpflichtungen eingegangen werden sollen, oder welche "Richtlinien der Politik" der Bundeskanzler nach Art. 65 GG zu bestimmen hat. Eine Verfassung kann nur bestimmten Personen und Versammlungen die Ermächtigung erteilen, nach eigenem pflichtmäßigem Urteil das rechtlich und politisch Erforderliche zu regeln, kann Zuständigkeiten, Formen und Grenzen dafür setzen. Sogar die Grenzen, die die Grundrechte der öffentlichen Gewalt errichten, können nicht allgemein ihren Voraussetzungen nach, sondern nur ihrem Sinn nach umschrieben werden. Unrichtig ist somit die Vorstellung, daß allein gesetzte Verfassungen den Staat - oder gar das Volk - konstituieren. Grundlage eines Rechtsstaates sind die rechtlich gesonnenen Menschen, die das Recht nach den Geboten der Rechtsidee ihres Volkes gestalten und dafür verantwortlich sind: der "bonus vir" des römischen Rechts 15 • Daher können Staaten ohne gesetzte (geschriebene) Verfassung vorbildlich dem Rechte folgen (z. B. England, Israel). Gesetze, d. h. die Bestimmung des Rechts durch allgemeine Regeln, sind zweckmäßig, um die Allgemeingültigkeit und Gleichheit des Rechts und die Sicherheit zu wahren. Daß das Recht gerecht, d. h. der Gerechtigkeit gemäß sei, ist persönliche Intuition der rechtlich gesonnenen Menschen, die es determinieren. Das Gesetz wird erst durch die persönliche Weisheit der Menschen, die es finden und setzen, und der Menschen, die es anwenden, gerecht. Daher war für Platon die Weisheit das Merkmal, das einen Menschen zum Staatsmann qualifiziert.

4. Abschnitt: Die konstituierenden Kräfte einer Gemeinschaft Das Recht ist nicht die einzige geistige Macht, die eine Gemeinschaft bildet, sondern setzt dem Gestalten der Glieder nur die allgemein gültigen Formen und Grenzen, die für das Bestehen der Gemeinschaft erforderlich sind. Wird in einer Gemeinschaft - in einer Ehe oder in einem Volke - nur nach dem Recht gefragt, so ist sie bereits brüchig und gefährdet. "Sind Recht doch und Beweis die beiden Krücken, an denen alles hinkt, was krumm und schief16 ." Konstituierend für eine Gemeinschaft ist die brüderliche Gesinnung, die Toleranz: daß einer 15 16

Oben Anm. 9. Grillparzer, Libussa, 2. Aufzug.

4. Die konstituierenden Kräfte einer Gemeinschaft

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den anderen als eigen, als ihm angehörig und ihm anbefohlen aufnimmt, ihn umsorgt und aufrichtet ("tollere" hieß, ein Kind als eigen aufnehmen!). Durch Brüderlichkeit wird auch das Recht konkretisiert, aber sie setzt nicht Grenzen und legt nicht Pflichten auf, sondern bewirkt die "Concordia ordinata" Augustins, die Gemeinschaft in Werten und Gütern, die uns teuer sind: Familie, Sippe, Volk, Heimat, Vaterland, Menschheit. Ziel der staatlichen Repräsentanten des Volkes ist daher, über die hoheitliche Positivierung des Rechts hinaus solche Gesinnung durch persönliche Integrierung zu beleben, die überzeugt, also stärker bindet als eine rechtliche Entscheidung. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung: dabei ist Liebe nicht eine besondere Neigung und Sympathie, sondern Agape, die jedes menschliche Verhalten bestimmen sollte: sie kennzeichnet den wahren gerechten Menschen, die Persönlichkeit, die die Gemeinschaft, die Gesellschaft und das Recht konstituiert. Der letzte Sinn einer rechtsstaatliehen Verfassung ist daher, die beiden komplementären politischen Mächte: die persönliche Weisheit und Kunst des Staatsmannes und die auf Freiheit und Gleichheit gegründete Demokratie angemessen zu verbinden, derart, daß Brüderlichkeit, Freiheit und Einsicht vereinigt werden17•

17

Platon, Gesetze 688, 693--694; 697-702.

Zweites Kapitel

Die Demokratie 1. Abschnitt: Die Bedeutung der Staatsform Die Legitimität dieser polaren staatsgestaltenden Mächte - die politische Persönlichkeit und das Volk - wird zunächst durch die Staatsform bestimmt. Wenn man mit Herbert Krüger1 die Wirklichkeit des Staates psychologisch deutet, d. h. sie im "Selbstverständnis der staatlichen Gruppe", im "Staatsbewußtsein" und dessen Inhalt in der "Existenz" erblickt, so zerfließt der Staat in zahllose Einzelerscheinungen; man gelangt zu ausgezeichneten Aspekten, aber nicht zum geschichtsgestaltenden Wesen, nicht zur Institution "Staat", nicht zu den immanenten Notwendigkeiten und Formen des gemeinsamen Lebens, die das Staatsbewußtsein bestimmen und den einheitlichen Begriff "Staat" erst rechtfertigen. Man mißdeutet diese "Vorgegebenheit" als Modus der Entstehung und der Existenz, während sie die unabdingbare Essenz kennzeichnet: man glaubt die Existenz der Menschen statisch fixieren zu können und vernachlässigt - wie jede existentielle Betrachtung das Gestalten, Werden, Wandeln, kurz: das ständige Instituieren einer Bevölkerung in eine Staatsform, einen Prozeß des Lebens! Man sieht den Staat nicht als essentielles Wirken des Rechts und der Geschichte an und verleugnet daher die darin eingebettete Bedeutung der Staatsformen. Smend hingegen hat zutreffend das Problem der Staatsform als die "krönende und abschließende Frage der Staats- und insbesondere der Verfassungstheorie" bezeichnet2 • Selbstverständlich kann die Staatsform nicht allein nach der Zahl der Herrschenden bestimmt werden (es sei denn, der Zahl wird ein religiöser oder magischer Gehalt beigelegt). Die Staatsform gibt vielmehr Antwort auf die Frage: Wer integriert und verkörpert ursprünglich, seinem Wesen nach die Gemeinschaft der im Staate vereinten Menschen in ihren Lebensbeziehungen derart, daß er zur staat1 2

Allgemeine Staatslehre, 1964. Verfassung und Verfassungsrecht (1928), S. 110.

1. Die Bedeutung der Staatsform

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liehen Herrschaft in den Formen des Rechts ohne besondere Vollmacht legitimiert ist? Hierzu kann ein Herrscher kraft Charisma oder Tradition berufen sein (Herrscherprinzip). Oder die Herrschaft steht der Gemeinschaft zu (genossenschaftliches Prinzip), ist also deren öffentliche Angelegenheit, eine res publica (Republik); die gemeinsame Ausübung der Herrschaft wird in Grundgesetzen (Constitutiones, Verfassungen) geregelt; dabei richtet sich diese Ausübung entweder nach dem Stand (Geburts- oder Berufsstand), der die Gemeinschaft repräsentiert (Aristokratie), oder an der Ausübung haben grundsätzlich alle Mündigen gleichen Anteil (Demokratie). In der deutschen Vorstellung war jede dieser Herrschaftsformen wirksam. Nie erlosch die Anschauung, daß das Volk durch Gottes Ratschluß die Herrschaft den Königen übertragen habe: dem König hatten die Untertanen den Treueid zu leisten, und er hatte die rechte Ausübung des Amtes zu beschwören; dabei waren diese Akte ständisch-aristokratisch gegliedert. Die unversiegte genossenschaftliche Quelle der Herrschaft ließ dabei das Wächt eramt des Volkes nie eingehen: die Herrschaft blieb ein reziprokes Treueverhältnis, das im Falle des Mißbrauchs durch den König ein Widerstandsrecht des Volkes auslöste. Daher konnten sich in England Monarchie und Demokratie miteinander verbinden derart, daß die Herrschaft in weitem Umfange vom Volke ausgeübt wird, aber doch gewisse Rechte- insbesondere die Legitimierung oberster Staatsakte der Krone unentziehbar verblieben sind, insoweit also die Demokratie einschränken. "Stato", "Status", "Estat" oder "Staat" bezeichnete seit dem ausgehenden Mittelalter zunächst- insbesondere in Oberitalien und Frankreich - nur die Rechtsstellung (status) der Fürsten, denen die Ausübung der öffentlichen Gewalt zustand. In Deutschland jedoch herrschte seit dem Entstehen eines deutschen Staatsrechts und einer deutschen Staatslehre, d. h . etwa seit 1600, die Auffassung vor, daß der Staat auch den hoheitlichen status der Landesstände, also jegliche Rechtsmacht zur Ausübung öffentlicher Gewalt umfasse, mochte sie monarchisch-hierarchisch, mochte sie genossenschaftlich aufgebaut sein. Das Staatsrecht des aufgeklärten Absolutismus und des konstitutionellen Staates in seinen mannigfachen Differenzierungen der Staatsglieder soll hier nicht untersucht werden. In der Bundesrepublik ist die öffentliche Gewalt demokratisch, d. h. genossenschaftlich verfaßt: die öffentliche Gewalt steht den in ihr vereinigten Menschen, dem "Volke", gemeinsam zu (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Grund und Sinn hat die Demokratie darin, daß die öffentliche Gewalt eine notwendige Rechtsinstitution des gemeinsamen Lebens freier Menschen, d. h . ihr gemeinsamer Lebensstatus (Rechtsraum der Freiheit) ist und deshalb alle Glieder in gleicher Weise daran teilhaben.

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II. Die Demokratie

2. Abschnitt: Die Demokratie im Bonner Grundgesetz Das Bonner Grundgesetz bringt diese Sach- und Rechtslage klar zum Ausdruck. Gemäß der Präambel hat "das Deutsche Volk" in den westlichen Ländern das Grundgesetz mit dem Willen beschlossen, "seine nationale und staatliche Einheit zu wahren". Die Einheit des deutschen Volkes ist also national und staatlich: die "staatliche Einheit" ist eine Gestalt der Einheit dieses Volkes, ist eine leibliche Gestalt der deutschen Volksgemeinschaft (es gibt noch mehr leibliche Gestalten, z. B. die Sprache, die Sitten, die Kunst, das Recht). Das deutsche Volk beschloß das Grundgesetz "um dem staatlichen Leben ... eine neue Ordnung zu geben"; die "staatliche Einheit" des deutschen Volkes ist also Leben, d. h. Lebensprozeß. Alle Einheit ist Ordnung. Das deutsche Volk in den westlichen Ländern gab daher diesem seinem Leben "eine neue Ordnung" "kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt", indem es das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschloß. Es konstituierte diese "neue Ordnung" und "staatliche Einheit" "im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen". D. h. das deutsche Volk erkannte in seiner verfassungsgebenden Gewalt, mit der es die öffentliche Gewalt der Bundesrepublik Deutschland legitimierte, eine Gabe Gottes, für deren Gebrauch es Gott verantwortlich ist und von Gott zur Verantwortung gezogen werden kann. Da sie um der Menschen willen verliehen ist, umschließt sie die Verantwortung vor den Menschen. Der Satz "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 20 Abs. 2 GG) bedeutet somit, daß die verfassungsgebende Gewalt - und damit alle Gewalten, die von ihr ausgehen - dem deutschen Volke von Gott verliehen und daher legitim ist. Die staatliche Einheit - die Bundesrepublik Deutschland- ist die vereinigte Willensmacht des Volkes, die sich im Grundgesetz ihre Ordnung gab. Ihrem materiellen Inhalt nach enthält sie "Befugnisse" und "Aufgaben" (Art. 30 GG). Das Grundgesetz ist die Norm, gemäß der das deutsche Volk "Befugnisse" ausübt und "Aufgaben" erfüllt. Dabei werden unter dem "Deutschen Volk" die jeweils lebenden deutschen Volksglieder verstanden: sie verkörpern das deutsche Volk. Weder ist dieses Volk eine unbestimmte Menschenmenge: nur Deutsche sind zur Teilhabe am Volkswillen berechtigt. Noch handelt es sich um das deutsche Volk: denn "Volk" ist eine Generationen umfassende Gemeinschaft in Werten und Gütern, die allen teuer sind (Augustinus) und die sie von anderen Völkern unterscheiden. Zugleich läßt das Grundgesetz die Voraussetzungen der Demokratie im Sinne des Grundgesetzes erkennen: die nationale und staatliche "Einheit" des deutschen Volkes und dessen "verfassungsgebende Gewalt", d. h. die einheitliche Willens-

2. Die Demokratie im Bonner Grundgesetz

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macht des deutschen Volkes, die sich eine "neue Ordnung", das Grundgesetz gab und die "alle Staatsgewalt" (Art. 20 Abs. 2 GG), ihre "Befugnisse" und "Aufgaben" (Art. 30 GG) bestimmt. Die Demokratie besteht aus dem Postulat, daß ein einheitlicher Volkswille sich in Wahlen und Abstimmungen manifestiert (Art. 20 Abs. 2 GG) und die Mehrheit legitimiert, repräsentativ und verbindlich für das ganze Volk zu handeln. Die Einheit des Volkswillens entspringt nach westlichen Anschauungen aus der Einheit eines Volkes, das sich seiner politischen Bedeutung bewußt und willens ist, durch eigene staatliche Gewalt sich und die Welt in den Formen des Rechts zu integrieren. Doch ist ein solcher von einem Volk getragener Nationalstaat nur vereinzelt in der Welt rein anzutreffen. Niemals ist er gewachsen und vorgegeben. Sondern das einheitliche Volk, der "Volksgeist", das "Volkstum", die "Volkheit" (Goethe), die Sprache und der Volkswille sind durch Herrscher, Kriege, Niederlagen und Erdulden von Unterdrückungen, durch Eroberungen und andere gewaltsame Einwirkungen gestaltet; der politische Wille eines Volkes wird noch heute durchweg beeinträchtigt durch fremde Völker und beeinflußt selbst die Eigenart anderer Völker und die fremder Volksgruppen, die in demselben Raume siedeln. In vielen asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Vorstellung eines einheitlichen, durch Mehrheit manifestierten Volkswillens überhaupt nicht, oder noch nicht, im Rechtsbewußtsein lebendig (wie Heinrich Herrfahrdt3 gezeigt hat), so daß die Voraussetzungen für eine Demokratie dort nicht, oder noch nicht, gegeben sind. Der Nationalstaat des Westens aber wird durch die anderen Staaten und durch die im Lande siedelnden fremden Volksgruppen - wie die Dänen in Nord-Schleswig - zu seinen übernationalen sittlichen Aufgaben genötigt, die ihn mit anderen Völkern und Gruppen zur Menschheit vereinen und früher in "Reichen" ihre Konkretisierung fanden. Gestaltend für den staatlichen Willen, auch in der Bundesrepublik, sind nicht nur die nationalen Kräfte des deutschen Volksgeistes und der Wille, sie zu entfalten, sondern ebenso die tieferen Quellen aller menschlicher Gemeinschaft, die Verantwortung aller Menschen, aller Nationen, Stämme und Gruppen füreinander und die Notwendigkeit, in den konkreten historisch gegebenen Situationen miteinander und füreinander zu leben, auch wenn das Empfinden für gemeinsame Werte und Güter verkümmert ist. Die Einmütigkeit verschiedenartiger Gruppen wird, wo der Sinn der Nation recht verstanden ist, höher bewertet 3 In "Sun Yatsen" (1948) S. 136 ff., 162 f., und in "Sun Yatsens Bedeutung für die Allgemeine Staatslehre" (Deutsche Rundschau 1947, Heft 2, S. 122 ff.), sowie in seinem Referat f. d. Kongreß des Institut International de Sociologie 1969 in Rom: "Nationalstaat und überschneidungsräume in Europa und in den Entwicklungsländern".

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II. Die Demokratie

als die egozentrische Entfaltung und Herrschaft einer bestimmten nationalen Volksart. Nationale Volksgruppen ("Minderheiten"), die im Lande der Bundesrepublik siedeln (Dänen!}, sind deutsche Staatsangehörige, d. h. sie sind zur politischen Mitgestaltung wie jeder Deutsche berufen und werden in ihrer Eigenart, im Gebrauch ihrer Sprache, ihrer Kultur geschützt. Die Staatsmänner haben durch "schiedsrichterliche Führung" im Sinne Herrfahrdts, d. h. schöpferisch-synthetisch eine Rechtsgemeinschaft mit ihnen herzustellen. Zugleich gliedert sich das deutsche Volk ein in übernationale Gemeinschaften Europas und der Welt, auch durch Übertragung von Hoheitsrechten, und dient damit dem Frieden (Präambel, Art. 24 GG). Der verfassungsrechtliche Begriff "Volk" ist in diesem Sinne zu verstehen. Das Grundgesetz erstreckt sich nur auf den Teil des deutschen Volkes, der in der Präambel aufgeführt ist, d. h. frei ist, seinen Staat nach eigenem Ermessen zu konstituieren. Doch hat das freie deutsche Volk auch für die Deutschen gehandelt, "denen mitzuwirken versagt war". Diese Repräsentation folgt aus der bestehenden Volksgemeinschaft und aus dem Sinn des Grundgesetzes, nur "für eine Übergangszeit" zu gelten, bis "das gesamte Deutsche Volk" "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands" vollendet (Präambel GG.). Dieser Sinn rechtfertigt die Bezeichnung "Grundgesetz": sie unterscheidet das "Grundgesetz" von dem Ziel, der "Verfassung" des gesamten deutschen Volkes (Art. 146 GG). Dieses Ziel hat eine rechtliche Bedeutung: nichts darf geschehen, was der Erreichung im Wege steht4 • Die Präambel formuliert zwar nicht bestimmte Rechtsbeziehungen, aber sie zeigt die' institutionellen Rechtsgrundlage des Grundgesetzes auf, die die Auslegung aller Rechtssätze beherrscht und die Entscheidung von Grenzfällen, die nicht ausdrücklich durch Rechtssätze geregelt sind, unmittelbar bestimmt. Das deutsche Volk in dieser Gestalt hat seine verfassungsgebende Gewalt durch seine gewählten Repräsentanten in den Länderparla~ menten ausgeübt, indem es das Grundgesetz beschloß und gemäß dem Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland 1949 errichtete.

3. Abschnitt: Die staatliche Einheit: weder Summe Einzelner, noch Fiktion, sondern konstituierende Willensmacht des Volkes Das Grundgesetz zeigt, daß die "staatliche Einheit" weder ein bloßes Kollektiv, d. h. die Summe von Einzelnen, noch eine Fiktion, d. h. ein fingiertes Rechtssubjekt ist. Vergebens hat sich die Wissenschaft seit 4

So BVerfGE. 5, 85 (127 f.); 12, 45 (51).

3. Die staatliche Einheit

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dem Altertum darum bemüht, aus der Summierung gleicher Willensäußerungen autonomer Individuen eine Ei:p.heit abzuleiten. Ein unmögliches Vorhaben, das der Logik widerspricht! Denn das Zusammenzählen der Dinge ergibt niemals eine Einheit. Deutlich tritt dieser Widersinn bei Rousseau hervor, der solche Ableitung der staatlichen Einheit aus dem Willen Einzelner bis zur letzten Konsequenz durchführte: er gelangte zur Einheit der öffentlichen Gewalt nur durch die mystische Unterstellung, daß nach dem Urvertrag der Wille der Mehrheit die volontee generale offenbare, die nicht irren könne. Dennoch wirkt diese Lehre, ihres mystischen Gewandes beraubt, in den positivistischen Anschauungen unserer Zeit fort, die die gemeinsamen geistigen Grundlagen verleugnen und das Rechtsbewußtsein pluralistisch aufgespalten: man läßt den Sinn und das rechtliche Maß der öffentlichen Gewaltihr Mandat -beiseite und erblickt im Staate ein Verfahren mit dem Ziel, festzustellen, wer die Staatsgewalt nach eigenen Intentionen in Bewegung zu setzen, also wer über wen zu herrschen vermag. Die Wissenschaft liefert dieser Aufspaltung des Staates das theoretische Gerüst. Die wirkende Willenseinheit des Volkes bleibt ohne Deutung, das Volk wird als Masse begriffen, d. h. in isolierte Individuen atomisiert, die ihre Beziehung zueinander nach Belieben zu bestimmen meinen. Die "pluralistische" Gesellschaft verleugnet ihren gegebenen lebensnotwendigen Gegenpol, das Mandat der öffentlichen Gewalt, das sie vereint, so wie die eine Sprache sie verbindet. Nicht nur Entartungserscheinungen, sondern die öffentliche Gewalt als solche - eine konstituierende Wirklichkeit des Gemeinschaftslebens! - wurde und wird bekämpft von den Wiedertäufern Thomas Münzers, den Jakobinern, den Anarchisten bis zu heutigen radikalen Bewegungen. Künstlerische Formen werden mißbraucht (z. B. von Heinrich Böll), um vernunftgebotene Institute des menschlichen Geistes aufzulösen, anstatt nur der Entartung entgegenzutreten. Die Einheit der staatlichen Gewalt erscheint von dieser Warte ausseit Georg Jellinek- rechtlich als Abstraktion, als ein Gedankending; die Summe der Individuen wird in rechtlicher Hinsicht nur so behandelt, als wenn sie ein Rechtssubjekt wäre. Kurz, diese Richtung der Staatslehre und Staatsrechtswissenschaft übernahm die kanonistische Doktrin einer persona ficta und imaginaria. Ein fiktives Rechtssubjekt "Staat" herrsche, d. h. stehe zu den Individuen in der Relation des Befehls und Gehorsams- während tatsächlich die in einem Verfahren bestimmte Mehrheit gebiete-. Weshalb die Entscheidungen der Mehrheit für alle rechtsverbindlich sind, bleibt unerklärlich. Die Institution, dessen einheitlicher Sinn die Relationen der Subordination einschließt und sie zu einer einheitlichen Ganzheit verbindet: das Mandat der öffentlichen Gewalt, wird als "philosophisch" und daher "unjuristisch" 3 Hamel

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II. Die Demokratie

ausgeklammert. Übrig bleiben - nach dem Beispiel Carl Schmitts nur "Entscheidungen", ohne daß die praktische Notwendigkeit, die "maß"gebend für die Entscheidung des Menschen ist, in das Blickfeld der Untersuchung tritt. Da diese rational-positivistische Methode den Sinngehalt der Rechtsinstitute, insbesondere den des Staates ausklammert, ist sie unfähig, das Staatsrecht in seiner Eigenart darzustellen. Der Volkswille, der sich im Staate manifestiert, ist nicht eine gedankliche Abstraktion, ist nicht fingiert, um einen Komplex von Rechtsvorschriften, die für natürliche Personen gelten, auf ein Kollektiv anzuwenden. Sondern seine Bedeutung liegt zunächst in der Einheit seiner konkreten, sinnbestimmten Macht, die notwendig ist, um durch Positivierung von Recht das deutsche Volk in Freiheit zu entfalten. Die Einheit eines staatlichen Willens - der Gegenpol zu den vereinzelten Willensäußerungen der Volksglieder und deren Kollektiv - ist Gegenstand und Problem des Staatsrechts. Mit einer Ab~ straktion, Fiktion und Summierung rechtlicher Relationen kann nie und nimmermehr Recht positiviert und konkretisiert und das Volk geschützt werden. Gewiß handeln immer nur Menschen; aber wenn die freien Glieder eines Volkes um ihrer Existenz willen sich ständig reziprok zur Formung und Legitimierung eines einheitlichen Willens, in dem alle Glieder sind, ergänzen, so ist diese geballte Willenseinheit eine - segensvolle oder unheilvolle - reale Macht, nicht bloß eine Summe rechtlicher Relationen. Rechtliche Relationen haben ihre "Verfassung" in vorgegebenen undefinierbaren Instituten - Kauf, Ehe, Amt usw. - . Die Menschen sind durch ihre gemeinsame Existenz in Rechtsinstitute instituiert - auch in die Teilhabe am staatlichen Willen- und haben durch Rechtsinstitute Rechte und Rechtspflichten5• Die öffentliche Gewalt des in ihr geeinten Volkes ist existenznotwendig: ihr Mandat ermöglicht das Zusammenleben und -wirken der freien Menschen durch Determinierung und Konkretisierung von Recht gemäß den Grundsätzen der Gerechtigkeit; sie ist nicht frei erwählbar, nicht ein Institut des Verkehrsrechts, sondern unumgänglich, bedingungslos auferlegt, sie ist eine Institution der Menschheit. Die Bundesrepublik Deutschland wird daher vom Grundgesetz als konkrete staatliche Willenseinheit und Macht des deutschen Volkes verstanden: Art. 21 Abs. 2, Art. 87 a Abs. 4 und Art. 91 GG schützen außer der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" auch den "Bestand" der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik ist somit nicht identisch mit dem Komplex von Normen, den das Grundgesetz mit dem Begriffe "freiheitlich demokratische Grundordnung" bezeich5

Vgl. oben Kap. I Abschn. 1 und 2.

3. Die staatliche Einheit

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net; sie ist nach der Präambel die "nationale und staatliche Einheit" des Volkes, die von dem "Willen" des Volkes gewahrt wird; die Bundesrepublik ist das "staatliche Leben", dem das Volk im "Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland" "eine neue Ordnung" - und zwar eine freiheitliche demokratische Grundordnung - gibt. Das Volk bekundet seinen Willen zur Wahrung seiner staatlichen Einheit durch seine verfassungsgebende Gewalt (vgl. Präambel), die die öffentliche Gewalt des Bundes legitimiert. Sie ist eine reale geistige Substanz, ist eine Institution, die die Gemeinschaft des Volkes rechtlich zu ordnen berufen ist. Sie konstituiert den Staat, die Bundesrepublik und mit ihr deren Grundgesetz. Der Staat ist also auch nicht ein Computer, der allen zur Verfügung steht und die Wirksamkeit ihrer Willensäußerungen in einem Verfahren, insbesondere nach dem Maßstab der Mehrheit, errechnet. Er ist nicht das Kollektiv der jeweiligen Mehrheit, das die Minderheit beherrscht (das wäre demokratische Diktatur nach dem Muster Rousseaus). Sondern allein das lebensnotwendige rechtliche Mandat, die gemeinsame freie Existenz des Volkes durch Positivierung des Rechts gemäß dem Maßstab der Gerechtigkeit zu wahren, legitimiert die Herrschaft der Mehrheit: es verpflichtet als "Prinzip der praktischen Vernunft" alle Glieder des Volkes, auch die, die an der Formung der staatlichen Willensmacht nicht teilnehmen. Die Mehrheit ist in einem demokratischen Rechtsstaat nur das Maß, das nach Verfassungsrecht zur Ausübung öffentlicher Gewalt beruft; der Wille der Mehrheit repräsentiert das Ganze; er hat ein Amt. Nicht aber fällt ihm die Staatsmacht als Beute zu (das Ämter-Beutesystem verleugnet den Rechtsstaat). Die Mehrheit soll die öffentliche Gewalt gemäß deren Mandat handhaben, sie soll das ganze Volk in allen seinen Teilen- auch die Minderheiten - nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit ordnen. Daher haben ihre Entscheidungen für alle rechtliche Geltung. Die staatliche Einheit des Volkes besteht in seiner Willensmacht, die von lebenden Gliedern zur Erhaltung der gemeinsamen freien Existenz in den Formen und mit den Mitteln des Rechts bestimmt wird- eine geistige Einheit von praktischer Wirklichkeit-. Diese Willensmacht ist "souverän", da sie die höchste und alle äußeren Lebensbereiche umfassende Institution zur rechtlichen Regelung und Erhaltung der Gemeinschaft ist. Souveränität bedeutet in einem Rechtsstaat nicht höchster Wille, dem alle untertan sind, sondern rechtliche Zuständigkeit zur letzten Entscheidung über Recht und Unrecht, d. h. die souveräne Gewalt selbst ist bei dieser Entscheidung an die Grundsätze des Rechts - also auch an ihre eigenen rechtlichen Erklärungen, insbesondere Verträge - im Staatsrecht wie im Völkerrecht gebunden: sie steht in allen ihren Funktionen im Recht, ist eine recht-

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11.

Die Demokratie

liehe Kompetenz, die ihre Grenze hat an den principes generaux, die dem Recht immanent sind, an der Würde und Freiheit des Menschen, an dem Grundsatz "pacta sunt servanda" usw. Hierauf bezieht sich die Verantwortung des deutschen Volkes vor Gott und den Menschen (Präambel GG). Daher können Staaten zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten einer obligatorischen internationalen Schiedsgerichtsbarkeit beitreten, sich also verpflichten, deren Entscheidungen durchzuführen. (Art. 24 Abs. 3 GG). Auch können Verbrechen staatlicher Repräsentanten, wenn sie die allgemein gültigen principes gt'meraux des Rechts verletzen, trotz Scheinlegalität strafrechtlich verfolgt werden; ein Befehl Hitlers rechtfertigt allein keine Tötung von Menschen. Ein Staat darf sich gegenüber anderen Staaten nicht auf seine Souveränität in inneren Angelegenheiten berufen, wenn er offensichtlich Menschrechte im Sinne der völkerrechtlichen Vereinbarungen verletzt. Die Zuständigkeit zur letzten Entscheidung kann durch Überlassung begrenzter Hoheitsrechte an fremde Staaten (Staatservituten) oder durch Übertragung bestimmter Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen eingeschränkt werden (Art. 24 Abs. 1, 2 und 3 GG), ohne daß der Staat seine Eigenschaft als "souverän" einbüßt: sie ist ein rechtlicher Grundsatz, der wie ein Gummiball eingedrückt werden kann, aber seine volle Form wieder erhält, wenn die Einschränkung fortfällt. Doch ist die Souveränität des Volksstaats - sein Recht zur letzten Entscheidung - eine Anmaßung, da er nicht den absoluten Maßstab der Gerechtigkeit besitzt, um absolut richtige Entscheidungen zu fällen; insbesondere vermag er nicht gegenüber anderen Völkern die "concordia ordinata" (im Sinne Augustins), die Gemeinschaft in allen ihren Werten und Gütern zu integrieren. Er nimmt zum Maßstab seiner Politik nur das Recht und Wohl seines Volkes und Landes, nicht die universale Pax, nicht die "concordantia oppositorum", die Nicolaus v. Cues in der Morgendämmerung der Neuzeit erkannte. Er ist nicht in der Lage, die internationale Rechtsordnung allgemein, für alle Völker und Länder gültig zu finden und zu bestimmen, mag er auch gewisse principes gereraux - so wie er sie auslegt - achten. Er kann dem Egoismus der Individuen und Gruppen - und durch Vertrag auch dem fremder Völker - Grenzen setzen, aber nicht ihn überwinden. Die Staaten nehmen zwar souveräne Macht in Anspruch, haben aber, im Widerspruch dazu, nur relative, durch Volk und Land begrenzte Perspektiven, nicht den universalen Standpunkt und Maßstab, der zur souveränen Ordnung erforderlich wäre. Die Pluralität der Güter und Werte spaltet die Menschheit; anfangs in souveräne Herrscher, Völker und Länder, heute in "freie" Individuen, die nur schwer

4. Verfassung, Verfassungsänderung und Revolution

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eine einende Komponente des gemeinsamen Lebens finden. Aus den Teilen kann nicht das Ganze, das die Menschheit eint, entnommen werden. Die Maßstäbe derpaxder Welt, die die Menschheit verbinden, bestehen allein in religiösen Mächten. Die Reiche des Mittelalters waren Weltreiche nicht nach dem säkularen Recht der Macht, sondern weil sie als religiöse Institutionen galten, die die pax Christi sichern sollten. Nur diese Mission gab dem Kaiser die Würde eines Schiedsrichters und Schirmherrn der Welt, nur in dieser Hinsicht war er als dominus mundi allgemein anerkannt. Die Reiche des Mittelalters waren Kategorien des Glaubens6• Erst mit dem Schwinden des Glaubens an diese Institutionen - etwa seit Marsilius von Padua - begann man, die öffentliche Gewalt auf eine säkulare Willensmacht, die alles lenkte, zurückzuführen. Das Ergebnis waren schließlich souveräne Staaten. Auch das Deutsche Reich von 1871 war ein Staat, nicht ein Reich, nicht eine universale Ordnung. Die United Nations sind nur ein Bund: sie können nicht als Schiedsrichter einen ungerechten, rechtswidrig erworbenen internationalen status durch einen neuen ersetzen. 4. Abschnitt: Verfassung Verfassungsänderung und Revolution Verfassung oder Grundgesetz ist die rechtliche Ordnung, in der sich das Volk ständig konstituiert, insbesondere seinen Willen manifestiert. Sie allein konstituiert zwar noch nicht ein Volk (ein statisches Bild vom Volke!), aber sie ist die rechtliche Ordnung, die zur Konstituierung seiner Willenseinheit gehört. Sie ist die rechtliche Form der mannigfachen und wechselnden Willensäußerungen, insbesondere seiner Rechtssetzung: um sie zu ordnen, ist die Verfassung ihnen "übergeordnet"; sie verbürgt die Einheit und Kontinuität des Volkswillens und des von ihm gesetzten Rechts. Um diese Überordnung zu sichern, d. h. die konstituierende rechtliche Ordnung den wechselnden Meinungen und geistigen Bewegungen zu entziehen, sind in den meisten demokratischen Staaten für die Verfassung besondere Formen vorgesehen: die schriftliche Urkunde, die nur unter erschwerten Bedingungen abänderbar ist, sei es nur durch Plebiszit (unter der Vorstellung, es handelte sich um einen Vertrag), sei es durch eine besondere verfassunggebende Körperschaft, oder (wie im Grundgesetz) durch qualifizierte Mehrheiten der gesetzgebenden Körperschaften. Nur Völker, die einen homogenen Willen zur politischen Einheit haben (wie England und Israel), können auf eine konstituierende Urkunde verzichten. 8

Vgl. mein: Reich und Staat im Mittelalter (1944) S. 26 ff., 68, 76, 98 ff.,

105 ff., 123.

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li. Die Demokratie

Verfassungsurkunden verbürgen die politische Einheit und Stabilität des Volkes, aber sie können niemals alle Seiten des mannigfachen Lebens ausdrücklich ordnen. Insbesondere können sie nie der geschichtlichen Entwicklung und dem Wandel der Situationen Rechnung tragen. Sie sollten daher offen sein für die Zukunft. Sie sollten sich beschränken auf letzte zeitlose Grundsätze des Rechts und seiner Positivierung (z. B. Menschenrechte, Differenzierung in drei Staatsfunktionen), sie sollten die Instituierung der Repräsentanten des Volkes und deren Ämter angemessen regeln und sie mit der Macht versehen, den Bestand des Rechts und des Rechtsstaates vor Mißbrauch, Angriffen und Katastrophen zu schützen. Sie sollten dabei die Maßstäbe und Formen so allgemeingültig determinieren, daß dem Wandel der Situationen und Rechtsanschauungen durch Auslegung Rechnung getragen werden kann. Verfassungen können, da sie das Leben nicht erschöpfend regeln, nur dann konstituierende Ordnung des Volkes sein, wenn sie nach ihrem Sinn ausgelegt werden: was für jedes Gesetz gilt, hat für eine Verfassung existenznotwendige Bedeutung. Außer dem wörtlichen Text gibt es daher weitere, aus dessen Sinn folgende rechtliche Bestimmungen, die implicite im geschriebenen Rechtssatz mitgeregelt sind, sei es, daß sie bei vernünftiger Betrachtung als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sei es daß sie zur Ausführung des geschriebenen Rechtssatzes erforderlich sind. So folgt aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) und der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 Abs. 1), daß ein Richter nicht ein Amt in der vollziehenden Gewalt wahrnehmen darf; ebenso ist die Polarität von Bundestag und Bundesrat - daß sie einander hemmen und kontrollieren - nur möglich, wenn niemand beiden Körperschaften zugleich angehören kann (Art. 38 ff., Art. 50 ff., Art. 77 ff. GG). Eine besondere Bedeutung haben diese Auslegungsgesichtspunkte in einem Bundesstaat: sie lassen die einem Bunde immanente Verpflichtung zur Bundestreue erkennen und ergänzen die ausdrücklich geregelte Verteilung der Kompetenzen unter Bund und Ländern durch "implied powers" (vgl. unten Kap. VI Abschnitte 5 und 3). Töricht ist, "Verfassung" und "Verfassungswirklichkeit" einander zu konfrontieren. Die Verfassungswirklichkeit ist die Verfassung des Lebens, die wahre geltende Verfassung. Das andere ist ein starres rationales Gedankengebäude, das nicht das Leben gerecht zu ordnen vermag. Nur der gerecht gesonnene Mensch, der durch Auslegung der Verfassung den Situationen gerecht wird, ist die Verfassung. Die Beseitigung der bestehenden Staatsform, d. h. der verfassungsgebenden Gewalt ist das Kennzeichen der Revolution: sie kann

5. Die Struktur der Demokratie

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nicht durch die gestürzte Rechtsbasis legitimiert werden. Wohl aber vermag die konstituierende Gewalt selbst sich eine neue Verfassung zu setzen. So wurden die konstitutionellen Verfassungen des 19. Jahrhunderts fast durchweg von den Monarchen erlassen ("oktroyiert") unter Aufrechterhaltung seiner alle Herrschaft umfassenden Gewalt; allerdings legten sich die Monarchen vor Gott Schranken durch Eid auf die Verfassung auf, aber keine irdische Instanz konnte einen Monarchen wegen Verfassungsverletzung zur Verantwortung ziehen. Auch das deutsche Volk kann nicht nur das Grundgesetz durch entsprechende Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften ändern (Art. 79 GG), sondern es kann auchkraftseiner verfassunggebenden Gewalt, mit der es das Grundgesetz schuf (vgl. Präambel), sich eine völlig neue Verfassung geben (durch eine besonders hierfür gewählte verfassunggebende Nationalversammlung oder durch Volksabstimmung): dies wäre ein legitimer, nicht ein revolutionärer Akt, und ein Gesetz, das die hierfür erforderlichen Formen vorsieht, wäre verfassungsmäßig; Art. 146 GG zeigt nur einen Fall dieser Verfassungsetzung. Art. 79 Abs. 3 GG setzt, soweit er die Gliederung des Bundes in Länder von einer Grundgesetz-Änderung ausschließt, der verfassunggebenden Gewalt des freien Volkes keine Schranken, denn er beruht selbst auf dieser Gewalt. Nur die Würde des Menschen, die Menschenrechte (Art. 1 GG) und die Gerechtigkeit, in der die Freiheit und der Rechtsstaat wurzeln, sind der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vorgegeben, weil sie diese Gewalt begründen. Die Gliederung des Bundes in Länder jedoch kann den kommenden Geschlechtern keine unüberschreitbare Schranke errichten; sie könnte vom Volke unter Aufhebung des Grundgesetzes durch neue Verfassungsformen ersetzt werden.

5. Abschnitt: Die Struktur der Demokratie Staatliche Gewalt ist der gemeinsame rechtliche status von Menschen, der jeden verpflichtet - ähnlich wie die Sprache notwendig ist, um am gemeinsamen Leben teilzunehmen - . Demokratie aber bedeutet, daß die Glieder der staatlichen Gemeinschaft sich ihrer Freiheit- und damit ihrer Verantwortung füreinander und für ihre Gemeinschaft - bewußt sind und deshalb den status haben, die Gestalt ihres gemeinsamen Lebens- also auch dessen staatliche Gewalt - maßgebend zu bestimmen. Die Demokratie hat die Freiheit ihrer Glieder zur Grundlage.

Freiheit bedeutet nicht, nach Belieben zu handeln. Der freie Mensch ist nicht eine wilde Bestie, gegen die das Gesetz einige Schutzgitter errichtet. Freiheit besteht auch nicht allein darin, unter Alternativen

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li. Die Demokratie

wählen zu können: eine negative Bestimmung der Freiheit, die nur besagt, daß jeder natürliche Zwang ausgeschlossen ist (libertas indifferentiae)1. Freiheit bedeutet insbesondere nicht bloß, daß eine minimale Alternative der Wahl übrig bleibt (auch viele Schutzhäftlinge Hitlers und Stalins hatten eine gewisse eng begrenzte Möglichkeit, unter ihren Bewegungen zu wählen; war etwa deshalb die Freiheit der Person nicht verletzt?). Sondern Freiheit ist die dem Menschen geschenkte Fähigkeit (Vernunft), sein Verhalten bewußt nach übersinnlichen Werten (noumena), insbesondere nach den sittlichen Forderungen des Guten, des Gerechten, der Liebe zu steuern. Wer nicht die Rechtmäßigkeit oder das Unrecht seines Verhaltens einzusehen vermag, handelt ("wählt") nicht frei und ist daher nicht verantwortlich für sein Verhalten: er befindet sich (nach älterer Formulierung) in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande. Nur das Bewußtsein, die objektiven und subjektiven Naturgesetze gemäß eigener Einsicht in die geistigen Ordnungen zu beherrschen, also kontingent letzte Ursachen zu setzen, macht frei (intelligibler Charakter der Persönlichkeit). In den praktischen Forderungen des Guten, der Gerechtigkeit, der Liebe enthüllt sich jene Fähigkeit: die Freiheit. Insbesondere gehört dazu die innere Stimme "Du sollst", die sich unwiderstehlich aufdrängt8, der "Archetypus" des Gewissens (C. G. Jung), der nicht von der Gesellschaft geprägt ist, sondern als individuelle Macht gegen die Gesellschaft aufstehen kann. Hört der Mensch nicht auf diese Stimme, folgt er den kausalen Gesetzen seiner natürlichen Begierden, so hat er seine Freiheit verlassen. Widersinnig ist zu sagen, daß das Vermögen, von der Freiheit keinen Gebrauch zu machen, zur Freiheit gehöre: eine "Bastarderklärung" 9• Doch zeigt sich die Freiheit des Menschen - der Maßstab seines freien Ermessens - nicht nur in den Geboten der Sittlichkeit, wie Max Scheler10 gezeigt hat. Die Aufgabe des Künstlers, ja, jede Wertung und jede Gestaltung der Welt nach übersinnlichen Werten und Ordnungen, die wir im Wertgefühl und Wertbewußtsein erfahren, beruht auf der Freiheit des Menschen, letzte Ursachen gemäß eigenen Intentionen zu setzen. Indem wir unser Verhalten nach einem von uns erwählten Sinn bestimmen, sind wir frei von der Natur (diese Erfahrung wird zur Gewißheit durch die kategorischen Gebote unseres Gewissens: denn unbedingte Gebote setzen zu ihrer Vollziehung unbedingte Freiheit von den Bedingungen der Natur voraus). Kant, Metaphysik der Sitten, Akad. Ausgabe, Bd. VI, S. 226 f. s Vgl. oben Kap. I Anm. 3. 9 Kant, Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. Bd. VI, S. 227. 10 Der Formalismus in der Ethik und die formale Wertethik (1927).

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5. Die Struktur der Demokratie

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Der freie Mensch ist instituiert in ein Gefüge geistiger Mächte, insbesondere der Gerechtigkeit, des Guten, der Liebe, die ihm die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit und der Gemeinschaft mit anderen, an der er teilhat, aufgeben. Frei sein heißt, gerecht sein und Menschen durch Gerechtigkeit einigen. Gerechtigkeit ist nicht eine theoretisch bestimmbare Ordnung, nicht ein allgemeines Prinzip, sondern der Mensch soll gerecht sein: die Gerechtigkeit gebietet, daß jeder das Seinige, d. i. das Gute tut und dadurch zu dem Seinigen, d. i. der Substanz, dem Sinn seines Lebens kommt - nicht aus eigenem Erkenntnisvermögen, sondern durch die Macht Gottes, der das Gerechte und dessen Erkennbarkeit im Bewußtsein bewirkt11 und den Menschen rechtfertigt-. Substrat der Gerechtigkeit, das dem Menschen Angemessene, ist das Gute11 • Es umschließt die Toleranz, die sich des anderen annimmt: die Liebe. Im Bewußtsein der Gerechtigkeit ist die Verantwortung für andere und damit Gemeinschaft, Recht und Demokratie gegründet. Freiheit ist Verantwortung für die gerechte gemeinsame Existenz und beruft daher jeden zur Teilnahme an deren Gestaltung, also auch an der Gestaltung des staatlichen Willens. Nicht Herrschaft der Beherrschten (eine widersinnige Vorstellung), sondern Teilhabe eines jeden an der öffentlichen Gewalt, die das Leben in Gemeinschaft einheitlich nach Maßstäben der Gerechtigkeit ordnet, ist der Sinn der Demokratie; der Staatsbürger herrscht nicht, aber er hat die Aufgabe, gemäß der Verfassung an der Herrschaft verantwortlich mitzuwirken, insbesondere durch Legitimierung der Herrschenden. Gerechtigkeit, der Sinn der Demokratie, gebietet nicht bloß eine verstandesmäßig bestimmbare Ordnung des äußeren Verhaltens und der äußeren Dinge; sie ergreift die Seele, denn ihre zeugende Macht ist das Gute. Gerechtigkeit wirkt Einmütigkeit (Gemeinschaft) der Menschen in den Werten und Gütern, die allen teuer sind (reziproke Wesensbestimmtheit). Das seelische Substrat der Demokratie ist daher, daß auch die öffentliche Gewalt mit der Güte, die jeden versteht, auszuüben ist: nur so ist sie gerecht. Die Herrschenden sollen überzeugen und sich überzeugen lassen, so daß jeder in den staatlichen Geboten ein mögliches Gesetz seiner Freiheit zu erblicken vermag. Ein jeder ist berufen, daran mitzuwirken. Man sollte nicht von Demokratie, sondern von genossenschaftlicher Herrschaft sprechen. Die Bundesrepublik ist Genossenschaft und Herrschaft zugleich: die Herrschaft wird vom Volke genossenschaftlich ausgeübt; insbesondere 11

Platon, Staat, 433 St., 441-443, 508 f., 379; Gesetze 715 am Ende, 716.

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II. Die Demokratie

legitimiert das Volk durch Wahlen die zur Herrschaft berufenen Repräsentanten. Jedem Deutschen kommt die Bestimmung der staatlichen Willensmacht zu, aber keinem allein. Oder (da das Ganze in der reziproken Verflechtung aller besteht): jeder wirkt an der Verflechtung aller mit, aber keiner handelt allein. Die Teilnahme des Einzelnen am Staate wird durch das vernunftgebotene Mandat des staatlichen Willens bestimmt: der Einzelne hat die Rechtsstellung als dessen Glied. Ihm ist ein Recht der Teilhabe an der Ausübung dieses Mandats gegeben vergleichbar dem Recht der Teilhabe am Gebrauch einer Almende -. Das ganze Volk mit allen seinen Gliedern hat das Mandat, durch öffentliche Gewalt die gemeinsame Existenz freier Menschen rechtlich zu gestalten. Jeder, der an der Formung des öffentlichen Lebens, insbesondere der öffentlichen Meinung teilhat, aber auch jeder Wähler steht unter diesem Mandat, d. h. er hat ein Amt, eine Berufung; die Teilhabe eines jeden soll eine gerechte Gesamtordnung, die jeden nach seiner Eigenart zu dem Seinigen kommen läßt, zum Inhalt haben, nicht aber GruppenInteressen und abstrakte Ideologien verfolgen. Jeder mündige Deutsche hat einen Gliedstatus im Gesamtstatus aller, dem Staate, oder genauer, (da es sich zugleich um Vorgänge handelt): jeder mündige Deutsche ist instituiert in das Amt der Gliedschaft, mitzuwirken bei der Ausübung der öffentlichen Gewalt. Er ist, wie Otto v. Gierke12 sagte, "Gliedpersönlichkeit in der Gesamtpersönlichkeit". Die Struktur des Staatsrechts ist somit nicht Koordinierung der Menschen, wie die Struktur des Privatrechts, sondern Ordinierung der Menschen zur Willens- und Handlungseinheit des Staates, die um der gemeinsamen Existenz willen durch die praktische Vernunft geboten ist. Die rechtliche Ordinierung der Glieder zum Staate bestimmt alle staatsrechtlichen Rechte und Pflichten. Daher kann man nicht -nach dem Muster des Privatrechts - das Staatsrecht in Beziehungen unter Rechtssubjekten (der Staatspersönlichkeit und der Einzelnen), in Organisation, Kompetenzen und Rechte auflösen. Diese positivistische Betrachtung wird auch nicht dadurch überwunden, daß man mit Carl Schmitt eine Willensentscheidung über Art und Form der politischen Einheit als konstituierend, als "Verfassung" ansieht und sie vom Verfassungsgesetz unterscheidet: solange man nicht das vorgegebene vernunftgebotene Substrat der Entscheidung in den Blickpunkt der Betrachtung zieht, bleibt man im Positivismus befangen. Dieses Substrat, das unausweichliche Mandat des Rechtsbewußtseins konstituiert Inhalt und Form der politischen Einheit, die "Verfassung" der öffentlichen 12 0 . v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Nachdruck 1961, S. 36.

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Gewalt, und die Willensentscheidung konkretisiert sie. Das deutsche Volk hat durch seine verfassungsgebende Gewalt aus dem unbestimmten und unorganischen Substrat des Rechtsbewußtseins seine "neue Ordnung" im Grundgesetz determiniert - ein Wagnis der Entscheidung, das nur "im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" (Präambel GG) unternommen werden konnte-. Jede positivistische Lehre beschränkt den Blick auf Relationen unter Subjekten und sieht nicht die besonderen staatsrechtlichen Institute, die diese Relationen bestimmen; dadurch wird das Staatsrecht zu einem Konglomerat positiver Rechtsbeziehungen; Sinnzusammenhang, Verfassung und Einheit der Beziehungen gehen verloren: man weiß nicht, was der Staat in seiner praktischen Notwendigkeit- seinen institutionellen Aufgaben- ist. Die Kritik daran - von Otto v. Gierke und Albert Haenel bis zu Erich Kaufmann und Rudolf Smend - wurde nicht verstanden. Das Bundesverfassungsgericht jedoch hat die besonderen geistigen Substrate des Staatsrechts erkannt. Weder das Staatsrecht im Ganzen, noch irgendein staatsrechtlicher status (der Grundrechte, der Wahlfähigkeit, der Abgeordneten, usw.) ist die Summe zahlloser Rechtsbeziehungen, die Staatspersönlichkeit und Individuen miteinander verbinden; zu Grunde liegt stets die "Verfassung", die den Rechtsbeziehungen Sinn und Einheit gibt. Zur Auslegung des Staatsrechts genügt auch nicht die Methode, die dem Privatrecht angemessen ist, nur dahin einzuschränken, daß der Vorrang des öffentlichen Zwecks berücksichtigt wird; denn das Staatsrecht koordiniert nicht Staatspersönlichkeit und Einzelpersönlichkeit, sondern der status der Einzelpersönlichkeit ist Gliedschaft und Teilhabe an der Gestaltung des Staates und staatlichen Willens. Dieser status gibt den Rechten und Pflichten erst die positive Substanz und die besondere Systematik, deren Bedeutung im Einzelfall durch Werturteil am Maßstab des Mandats der öffentlichen Gewalt zu ermitteln ist, bevor die Methoden der Logik zum Zuge kommen. Das institutionelle Mandat und die Teilhabe an der Ausübung zu bestimmen und zu spezifizieren, ist der Sinn einer Staatsverfassung. Eine Verfassungslehre sollte daher über die Darstellung der formalen Organisation und der Kompetenzen hinaus eine Lehre von den Ämtern (Ämterlehre) sein, die die Vollziehung jenes Mandats und seiner Institute - das staatliche "Leben" (Präambel GG)! - zum Gegenstand hat18 • Daher können die staatsrechtlichen Institute jener Gliedschaft- wie die Enteignung, oder die Beamtenernennung, oder die Verleihung - nicht als Vertrag unter autonomen Rechtssubjekten begriffen werden, und lassen sich z. B. die 13 Vgl. Rudolf Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, Ztschr. f. ev. Ehtik 1962, S. 65 ff.

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II. Die Demokratie

Pflichten der Beamten oder die der Soldaten nicht allgemein im Voraus definieren: sie folgen aus dem besonderen staatsrechtlichen status, der die Persönlichkeit zu einem Dienst im Volke ordiniert. 6. Abschnitt: Das Bild des Organismus und die Repräsentation Diesen Sachverhalt hat die Staatslehre- soweit sie ihn erkannteseit dem klassischen Altertum am Bilde des Organismus anschaulich gemacht: wie im natürlichen Organismus die Teile in ein Ganzes die Blätter im Baume - derart als Glieder eingefügt sind, daß sie reziprok das Ganze bestimmen und vom Ganzen bestimmt werden, ohne ihre Eigenart zu verlieren, so vereinigen geistige Gebote freie Menschen zu einer praktischen Einheit des Lebens, insbesondere des Wollens. Solche Bilder und Gleichnisse projizieren ein unbegreifliches wirkliches Geschehen in die Außenwelt, um es zu erschauen; sie sind legitime Mittel, um eine undefinierbare Wirklichkeit zu erkennen. Aber sie sind nur fruchtbar, wenn sie nicht mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden (die mystische Bedeutung des Geschehens!), sondern vom Gemeinten unterschieden werden. Der Orientale erblickt im Gleichnis eine legitime Beweisführung, die mehr überzeugt als eine logische Deduktion: ein Gleichnis überzeugte König David von seiner Schuld, und Christus erkannte das kananäische Weib darin, daß sie im Gleichnis antwortete. Auch Volksmärchen und Sagen sind häufig Gleichnisse für die wahre, aber verborgene Wirklichkeit. Ebenso hat das Recht Institute, die nicht rationale Relationen zum Gegenstand haben, durch Bilder wie "Körperschaft", "Korporation", "Organ", "Mitglied" begriffen. Selbst für Kant, der den Staat rational zu deuten suchte, bot der natürliche Organismus "als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen" eine treffende Analogie zum Staatskörper, die den Unterschied vom Mechanismus (der durch eine von außen kommende Kraft getrieben wird) hervortreten läßt14• Freie Menschen sind durch geistige Mächte organisch miteinander verflochten derart, daß sie reziprok einander und das Ganze bestimmen und vom Ganzen bestimmt werden, z. B. durch die Sprache und durch die kategorischen Gebote des Rechts, das von der öffentlichen Gewalt determiniert wird. Das Bild des Organismus erhellt insbesondere, daß Handlungen eines "Gliedes" -im natürlichen Körper wie Staate- als Handlungen des Ganzen gelten: das Glied steht nicht neben dem Ganzen als dessen Vertreter, sondern im Ganzen, es verkörpert das Ganze und vermag 14

Kritik der Urteilskraft, Akad. Ausgabe, Bd. V, S. 374, 375 Fußnote.

6. Das Bild des Organismus und die Repräsentation

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daher für das Ganze zu handeln. Die Legitimität der lebenden Volksglieder, den Volkswillen bei der Gestaltung des Staates zu repräsentieren, ist daher in der Staatsform gegründet, einer Form der Existenz, nicht einer rechtlichen Relation: weil in der Monarchie der Monarch das Ganze geistig verkörpert und integriert, ist er legitimiert, auch rechtlich für das Ganze zu handeln; weil in einer Demokratie die lebenden Volksglieder das Ganze des Volkes verkörpern und integrieren, sind sie legitimiert, auch rechtlich für das Volk zu handeln, d. h. selbst dessen Entscheidungen zu treffen oder die hierzu berufenen obersten Repräsentanten (Staatsoberhaupt, Parlament) durch Wahl zu legitimieren. Hugo Grotius führte das Gleichnis überzeugend durch: er sagte, der Herrscher repräsentiere das Volk als dessen Organ so, wie das Auge im Sehen und die Hand im Schreiben den ganzen Menschen repräsentiert - ein Bild, das eine klare Vorstellung vom Wesen der Repräsentation oder besser: der Verkörperung vermittelt und von Otto von Gierke für den genossenschaftlich verfaßten Staat dahin formuliert wurde: "Die Gliedperson vertritt als Organ innerhalb ihrer verfassungsmäßigen Funktion die Gesamtperson juristisch so, wie das Auge im Sehen und die Hand im Schreiben den Menschen vertritt15." Das Glied ist etwas anderes als ein Element. Das Element ist ein Baustein für das Ganze. Das Glied lebt im Ganzen und das Ganze lebt nur in seinen Gliedern- eine reziproke Integration, ein geschlossener Kreislauf!- Das Glied ist ein nicht vom Ganzen zu isolierender und zu ersetzender Teil (wie der Baustein); es ist das Ganze in einer seiner Lebensäußerungen. In der schreibenden Hand ist der ganze Mensch wirklich und gegenwärtig; das Sehen des Auges ist ein Vermögen des ganzen Menschen. Daß dem Menschen das Schreiben seiner Hand und die Wahrnehmungen seines Auges zugerechnet werden und er dafür verantwortlich ist, beruht nicht auf einer rechtlichen Relation der Zurechnung, sondern liegt in der Existenz, der geistigen Substanz des Körpers: die Hand, ebenso wie das Auge ist der Mensch in einer seiner Funktionen (Identität, nicht Relation). Entsprechend besteht die Substanz einer Gemeinschaft darin, daß sie in jedem Gliede wirklich und gegenwärtig ist, wenn auch nur in einer ihrer Lebensäußerungen. Individualität der Glieder und Gemeinschaft aller formen sich reziprok zu eim!r praktischen Ganzheit. Die Gemeinschaft aller prägt das Glied in seiner Individualität, und in der Individualität des Gliedes wird die Gemeinschaft wirklich, das Glied ist die Gemeinschaft in einer Erscheinung ihres Lebens (Identität), die theoretisch nicht zu fassen ist, sondern nur am Bilde des organischen Körpers anschaulich gemacht werden kann. Goethe verkörperte in sei15

H. Grotius, de jure belli ac pacis, I, 3, § 7; 0. v. Gierke, a.a.O., S. 43.

II. Die Demokratie

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ner Individualität das deutsche Volk; eine Seite des deutschen Volkes war in ihm Wirklichkeit, so wie die französischen Klassiker Wirklichkeit des französischen Volkes waren. Doch ist verfehlt, eine Gemeinschaft freier Menschen mit dem natürlichen Organismus gleichzusetzen. Die Analogie dieses Bildes hat ihre Grenzen. Jeder Begriff gibt nur ein Bild von der Wirklichkeit18• Das Glied eines natürlichen Organismus ist "Organ", das nach Naturgesetzen seine Funktion darin hat. Das Glied einer menschlichen Gemeinschaft ist freie Person, die durch geistige Gebote berufen ist, aus eigener Entscheidung und Verantwortung für die Gemeinschaft zu handeln: sie hat nicht Funktionen, sondern Aufgaben und Ämter, sie ist nicht "Organ", sondern verantwortlicher Repräsentant der Gemeinschaft. Mit dem Bilde des corpus, der Körperschaft, die durch ihre Organe handelt, setzte sich die Erkenntnis durch, daß der Herrscher kraft seines Amtes den Willen der Gemeinschaft repräsentiert, so daß die öffentlichen Rechte und Pflichten am Amte haften und auf den Nachfolger übergehen. Darin bestand die rechtsgeschichtliche Bedeutung dieses Bildes, wie Otto v. Gierke gezeigt hat. Die soziale Wirklichkeit des Volkswillens, der sich durch Repräsentanten äußert, kommt noch heute darin zum Ausdruck. Doch darf damit nicht die personale Verantwortung jedes Repräsentanten für die Gemeinschaft verdrängt werden. Da die Menschen ihren Willen frei und verantwortlich bestimmen, ist jede Wahrnehmung der Aufgaben öffentlicher Gewalt ein Amt (nicht eine Funktion), das die Glieder der Gemeinschaft mit den Mitteln des Rechts zu ordnen hat. Verkörpert die Gemeinschaft sich in jedem Gliede, so ist jedes Glied von Natur fähig, in seiner verfassungsmäßigen Bestimmung für die Gemeinschaft zu handeln. In jedem Gliede des Volkes lebt das Volk gegenwärtig - eine organische Ganzheit lebt allein in ihren Gliedern - . Das Volk ist nie in der Totalität seines geschichtlichen Daseins, sondern immer nur in seinen lebenden Gliedern anwesend und wirkend - und bei einer Wahl nur in denen, die wählen - . Doch auch die sich wandelnde Individualität des Menschen ist ebenso wie die Individualität eines Baumes - immer nur in einer ihrer Seiten gegenwärtig. Das Glied besteht nur im Ganzen, und es ist nur eine Frage der inneren Verfassung des Körpers, welche Aufgaben es im Ganzen erfüllt. Der Bürger, wenn er abstimmt oder wählt, ist das Volk in einer seiner Lebensäußerungen (Identität). Er nimmt dessen vernunftgebotene Aufgabe wahr, durch öffentliche Gewalt die Gemeinschaft in den Formen des Rechts zu erhalten, sei es unmittelbar, sei es durch Wahl von Repräsentanten; er ist als Glied des Volkes hierzu te

Oben Kap. I, Abschn. 1.

6. Das Bild des Organismus und die Repräsentation

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legitimiert. Daher konnte und kann das deutsche Volk in den westlichen Ländern "auch für jene Deutsche" handeln, "denen mitzuwirken versagt war" (Präambel GG). Wenn man für die Verkörperung des Volkes in seinen Gliedern die Bezeichnung "Repräsentation" wählt, so muß man diese geborenen Repräsentanten von den gewählten unterscheiden: jene sind eine Seite des Volkes selbst, in der Existenz des Volkes enthalten - so wie die schreibende Hand Glied des Menschen ist - , diese aber sind Repräsentanten kraftrechtlicher Bestellung (Relation). Das Volk kann die Ausübung seines existentiellen vernunftgebotenen Mandates durch Wahl auf Repräsentanten mit dem Auftrag übertragen, an seiner Statt nach eigenem pflichtmäßigen Ermessen die öffentliche Gewalt gemäß deren Sinn zu gestalten: den Abgeordneten, dem Bundespräsidenten, dem Bundeskanzler usw; sie haben von den Wählern deren Mandat, den Volkswillen gemäß der Verfassung zu repräsentieren und rechtlich zu bestimmen, da die Wähler es nicht unmittelbar ausüben können. Der Rechtssatz, daß der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes ist (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), ist somit nicht eine Fiktion, sondern ein unabdingbares Verfassungsprinzip, das schon in der französischen Verfassung von 1791 enthalten war (Sektion III Art. 7): es folgt aus dem Wesen des Mandates der öffentlichen Gewalt, das ganze Volk mit den Mitteln des Rechts zu entfalten. Der Sinn jeder Wahl ist die Vbertragung dieses Mandats. Demgemäß schwören Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundesminister in erster Linie, daß sie ihre "Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen" werden (Art. 56 und 64 Abs. 2 GG), und ergehen Gerichtsurteile im Namen des Volkes. Jeder Repräsentant des Volkes, auch jeder Abgeordnete, pflegt daher seine Entscheidung mit dem Wohle des Volkes, insbesondere mit Gesichtspunkten der Gerechtigkeit zu rechtfertigen, mag er auch, bewußt oder unbewußt, von Sonderinteressen irgendwelcher Verbände oder Gruppen motiviert sein. Die politischen Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit (Art. 21 Abs. 1 GG), aber sie repräsentieren nicht den Volkswillen; Mitwirkung ist noch keine Repräsentation. Eine Partei ist Teil (pars), der zur Integrierung des Volkswillens nur beitragen soll. Sie darf daher nicht das Mandat des Abgeordneten, Vertreter des ganzen Volkes und nur seinem Gewissen unterworfen zu sein (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), beeinträchtigen. Ein Fraktionszwang ist unzulässig: Kein Abgeordneter darf wegen seiner Abstimmung oder seiner im Parlament geäußerten Meinungen von seiner Fraktion oder seiner Partei irgendwie - z. B. durch Ausschluß - benachteiligt werden. Scheidet ein Abgeordneter aus seiner Fraktion und seiner Partei aus, so verliert er nicht sein Mandat, gleichviel ob er in einem Wahlkreis oder durch eine Liste gewählt wurde. Eine Änderung des Art. 38

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li. Die Demokratie

Abs. 1 Satz 2 GG derart, daß das Mandat eines Abgeordneten von der Zugehörigkeit zu der Partei abhängt, deren Mitglied er zur Zeit der Wahl war, würde dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie widersprechen (verkannt von G. Leibholz). Denn eine Gruppe, wie die Partei, vermag nur besondere Anschauungen und Interessen zu vertreten, nicht aber Verantwortung (die immer personal ist) für das ganze Volk zu tragen. Nur die Persönlichkeit hat ein Gewissen und trägt Verantwortung; nur sie vermag daher jenes Mandat der Gerechtigkeit, auf das alles im Staate ankommt, zu erfüllen17 ; nur sie verkörpert ihrer Natur nach ihr ganzes Volk (so wie im Auge der ganze Mensch sich verkörpert) und kann ein einendes Vorbild s·ein: der Sinn der Repräsentation. Hat die Partei, nicht die Persönlichkeit die letzte Entscheidung, so werden Gruppen vertreten: das Kriterium der StändeVertretung und des Ständestaats. Die Repräsentation des Volkes durch Persönlichkeiten, nicht durch Stände oder Gruppen, aber wurde als das demokratische Prinzip gegen das Prinzip der ständischen Vertretung am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Volke erkämpft. 7. Abschnitt: Demokratie und Grundrechte Ist Grundlage und Rechtsquelle der Demokratie die Freiheit der Menschen, die füreinander und für die Gemeinschaft, die sie mit den Generationen verbindet- für Volk, Heimat, Vaterland, Menschheit - verantwortlich sind18, so stehen die Freiheitsrechte nicht im Gegensatz zum demokratischen Staate, sondern konstituieren ihn. Sie sind "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" (Art. 1 Abs. 2 GG), oder, wie die Virginia-Declaration (1776) sagt: "Rights do pertain to them and their posterity, as the basis and foundation of government". Sie sind die Institutionen, die eine demokratische Herrschaft legitimieren, Institutionen einer demokratischen rechtsstaatliehen Verfassung, geprägt von den geistigen Mächten der Gerechtigkeit. Jeder Mensch ist durch sein Verhalten darin instituiertl 9 und der Gerechtigkeit verpflichtet. Die Demokratie erschöpft sich nicht in formalen gesetzlichen Rechten, nicht im aktiven und passiven Wahlrecht, nicht im Stimmrecht: sie ergeben sich erst aus jenen Institutionen. n Vgl. John Locke, Two Treatises on Government, II § 136. Vgl. oben Kap. I Abschn. 4 und Kap. II Abschn. 5. Zutreffend P. Häberle, Die Wesensgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz (1962), S. 17 ff. 19 Eine Institution ist Vorgang und Zustand zugleich, wie Hans Dombois gezeigt hat. Vgl. meine Besprechung im "Quatember" 1971 S. 86. Ahnlieh wie hier Häberle, a.a.O., S. 96 ff. 1&

7. Demokratie und Grundrechte

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Somit haben die Grundrechte, die die Würde des Menschen und dessen Freiheit in ihren Differenzierungen sichern, in einer Demokratie einen verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Sinn: sie gewährlei~ sten jedem - über die Freiheit im privaten Bereich und Verkehr hinaus- das freie politische und rechtliche Mitgestalten des Volkswillens. Die "Würde des Menschen", die Quelle aller Menschenrechte (vgl. Art. 1 Abs. 2 GG: "darum") kennzeichnet den freien Menschen, der verantwortlich ist für die Gemeinschaften, in denen er steht; sie umfaßt das "menschenwürdige Dasein für alle", dessen Gewährleistung die Weimarer Verfassung als Ziel der Wirtschaftsordnung und Grenze der wirtschaftlichen Freiheit bezeichnete (Art. 151). Der sozialpolitische Sinn der Grundrechte führt nicht nur zu gesetzlichen Grenzen, die dem Schutze gleich- und übergeordneter Gemeinschaftsgüter dienen; er beruft auch zur aktiven Gestaltung der Gemeinschaft und des Staates. Nicht bloß der Gebrauch des Eigentums soll "zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" (Art. 14 Abs. 2 GG). Das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung wurde vom Bundesverfassungsgericht treffend als "schlechthin konstituierend" für eine "freiheitlich-demokratische Staatsordnung" bezeichnet, indem es die "freie Auseinandersetzung der Ideen und Interessen gewährleistet, die für das Funktionieren der Staatsordnung lebensnotwendig ist" 20 • Aber auch "Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Petitionsrecht sichern die Freiheit der Meinungs- und Willensbildung des Volkes". "Der permanente Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes mündet ein in den für die Willensbildung im Staate entscheidenden Akt der Parlamentswahl." "Die Staatsorgane werden durch den Prozeß der politischen Willensbildung des Volkes ... erst hervorgebracht21." Auch die Freiheit der Presse, der Berichterstattung im Rundfunk, Fernsehen und Film, die Freiheit des Gewissens, des Bekenntnisses, der Kunst, der Forschung und Lehre, der Berufe und die Freiheit zu zahlreichen weiteren Verhaltensweisen (die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sind) integrieren die politische Formung des Volkswillens, dessen rationale Gestalt sich im Staatswillen manifestiert: sie sind ein verfassungsrechtlicher status, ebenso wie die Ehe, die Familie, die Schule. Das verzerrte Bild eines isolierten autonomen Individuums, das seine Umwelt gestaltet, existiert nicht und hätte keine verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Bedeutung. Die Erwartungen, die die Gesellschaft an die staatliche Gesamtplanung und Ordnung auf allen Lebensgebieten stellt, prägen durch Meinungsäußerungen (auch der Verbände) die öffentliche Meinung, sie prägen damit den 20

21

BVerfG. E. 7, 198 (208); 12, 113 (125). BVerfG. E. 20, 50 (98 f.); 14, 121 (132).

4 Hamel

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Volkswillen, der den staatlichen Willen bestimmt, sei es unmittelbar in den verfassungsrechtlichen Formen der Wahlen und Abstimmungen, sei es allein durch die geistige, wirtschaftliche oder sonstige Macht, die die staatlichen Repräsentanten zur Beachtung nötigt. Zwar ist die unmittelbare Bestimmung des staatlichen Volkswillens nur im Rahmen der dafür vorgesehenen besonderen Rechtsformen des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zulässig. Die "Herrschaft der Verbände" außerhalb dieser Formen ist verfassungswidrig; denn nur die staatlichen Repräsentanten tragen für die gerechte Gesamtordnung, in der sich alle entfalten, die Verantwortung. Aber die Verbände wirken legal durch die überzeugende, integrierende Macht ihrer Ansichten und Aufgaben an der Entfaltung des Ganzen mit, für die der Staat koordinierend, schützend und notfalls intervenierend zu sorgen hat. "Das Volk bringt ... seinen politischen Willen nicht nur durch Wahlen und Abstimmungen zum Ausdruck." "Die öffentliche Meinung .. . beeinflußt die Entschlüsse der Staatsorgane." Gruppen, Verbände und gesellschaftliche Gebilde verschiedener Art versuchen, "auf die Maßnahmen der Regierung und die Beschlüsse der gesetzgebenden Körperschaften . .. einzuwirken" 22 • Die Verbände - die in der Vereinigungsfreiheit wurzeln - wirken darüber hinaus vielfach an der Erfüllung staatlicher Aufgaben mit, sei es begutachtend und kritisierend, sei es durch Teilnahme an der Gestaltung der öffentlichen Ordnung (Gewerkschaften, Unternehmerverbände, konzertierte Aktion, Parteien, insbesondere Kirchen, die in der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit ihre staatsrechtliche Grundlage haben). Der öffentliche status des freien Menschen beginnt nicht erst in den besonderen Rechten der Teilhabe am staatlichen Willen, insbesondere in Wahl- und Abstimmungsrechten; diese sind vielmehr Spezialisierungen des allgemeinen staatsrechtlichen status der Freiheit; sie haben nur den Sinn, aus der unbestimmten und ungeregelten Vielfalt der öffentlichen Meinungsäußerungen einen gemeinsamen Willen zu bestimmen, dessen das Volk bedarf, um politisch und rechtlich zu handeln. Diesen Zweck, den Volkswillen einartig, also rational zu begreifen, dienen die rationalen Formen und Maßstäbe der Wahlen und Abstimmungen (insbesondere der Maßstab der Mehrheit). Man darf nicht diesen speziellen status der Teilhabe am staatlichen Willen -die aktive und passive Wahlfähigkeit - allein als den status activus des Bürgers ansehen und dem Staatswillen gegenüberstellen. Denn das Substrat ist dasselbe: übt das Volk die verfassungsgebende Gewalt aus (Präambel Grundgesetz) und geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 GG), so ist Staatswille determinierter Volkswille, und 22

BVerfG. E. 20, 50 (98).

7. Demokratie und Grundrechte

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die Ausübung der Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ist rational bestimmter Volkswille. Das Wahlalter für die aktive Wahl folgt aus der Grundrechtsmündigkeit (unten unter Kap. III Abschn. 4). Demokratie ist Selbstverwaltung des freien Volkes. Selbstverwaltung aber bedeutet nach treffender englischer Auffassung nicht bloß, daß gewählte Personen und Versammlungen nach den Regeln einer Verfassung regieren und verwalten, und der aktive status des Staatsbürgers erschöpft sich nicht im Gebrauch einiger Mitbestimmungsrechte. Sondern jeder ist durch seine Freiheit zur politischen Mitwirkung und Mitverantwortung, zum Dienst an der Allgemeinheit berufen - eine Anschauung, von der Freiherr vom Stein ausging -. Staatsgeschäfte sind nicht eine Pfründe der Herrschenden, sondern sollen unter aktiver Teilnahme der Bürger vorgenommen werden. Demokratie gehört zur Aufgabe der Freiheit, Gerechtigkeit zu vollziehen. Nur dort wo der Rationalismus die Freiheit - die den Begriffen transzendent ist - in Begriffe faßt, wird sie und wird die Volksherrschaft zu Bereichen der Willkür verzerrt und der Einzelne dem Volkswillen konfrontiert (beginnend mit Rousseau). Die Garantien, die das Grundgesetz zum Schutze der Freiheit gewährt - wie die der Würde des Menschen und der Menschenrechte (Art. 1), der Grundrechte, und die der Art. 20, 21 Abs. 1 Satz 2 bis 4 und Abs. 2, der Art. 28, 38 Abs. 1, der Art. 97, 101 bis 104 GG- bilden die "freiheitliche demokratische Grundordnung", die das Grundgesetz besonders sichert (Art. 10 Abs. 2 Satz 2, Art. 18 Satz 1, Art. 21 Abs. 2 Satz 1, Art. 87 a Abs. 4 Satz 1, Art. 91 Abs. 1 GG). Insbesondere dürfen die Garantien der Freiheit ihrem verfassungsrechtlichen Sinn nach nicht dazu benutzt werden, um sie und die Freiheit zu bekämpfen. Denn die von ihnen verbürgte Freiheit ist die Voraussetzung und die Rechtsquelle eines demokratischen Rechtsstaates und seiner Verfassung. Menschenwürde und Freiheit in allen ihren Differenzierungen bilden die im sozialen Wesen des Menschen vorgegebene ("freiheitliche demokratische") Grundordnung, aus der Volk und Recht hervorgehen: mit ihr schützt das Grundgesetz die konstituierenden Mächte des Volkes, dessen verfassunggebende Gewalt, auf der das Grundgesetz beruht (vgl. die Präambel GG.) Der Wesensgehalt der Grundrechte, die jedem zustehen, ist "Menschenrecht", also unverletzlich und unveräußerlich (Art. 1 Abs. 2 GG) und darf sogar im Wege der Verfassungsänderung nicht angetastet werden (Art. 79 Abs. 3 GG), um wie viel weniger durch Ausübung eines Grundrechts! Er ist Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG), also auch Grundlage, Postulat des Grundgesetzes. t•

II. Die Demokratie

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8. Abschnitt: Staat und Gesellschaft Die in der Freiheit wurzelnde Demokratie entspricht nicht dem liberalen Bilde einer staatsfreien Gesellschaft, die der Staat nur zu schützen hat. Die Gesellschaft frei schaffender Menschen ist nicht die Summe von Individuen, die nach Belieben handeln, und das Recht der Gesellschaft ist nicht ein rationales System, das jedem einen Bereich der Willkür zuteilt derart, daß die Willkür des einen mit der des anderen zusammen bestehen kann. Der Staat hat daher nicht ein solches System nach den Grundsätzen des Verstandes als Geometer zu konkretisieren und zu schützen. Sondern der frei schaffende Mensch hat mit der gerechten Entfaltung der eigenen Persönlichkeit positive Aufgaben, die an anderen und gemeinsam mit anderen zu erfüllen sind- im Beruf, in der Nachbarschaft, in der Familie, in Verbänden usw. -. Eine Betriebsgemeinschaft kann nur bestehen, wenn alle einander helfen und einander verantwortlich sind: das "Betriebsklima" ist wesentlich für das Gelingen eines Werkes; denn das Werk ist allen gemeinsam aufgegeben, d. h. die Aufgaben der Betriebsangehörigen sind nicht nur voneinander abzugrenzen, sondern sollen sich reziprok ergänzen und formen; sie fordern persönliches Verstehen des einen für den anderen; jeder steht mit jedem im wesensgestaltenden Zusamemnhang23 ; der Mensch ist ein wirkendes Gewirktes (Heidegger). Der freie Mensch steht daher in sozialen Bindungen, die nicht logisch bestimmbar - wie im klassischen liberalen Bilde der Gesellschaft -, sondern von irrationalen Umständen abhängig sind: von der sozialen Lage des anderen, der Verkümmerung seiner Existenz, von seinen Leistungen, die die Gesellschaft integrieren, von Katastrophen oder von Störungen des wirtschaftlichen Kreislaufes, von der Radikalisierung der geistigen und materiellen Kämpfe usw. Typisch ist etwa, daß die Pflicht zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen und Katastrophen (§ 330 c StGB) heute als ein allgemeines existentielles Gebot der Not erscheint- während früher nach liberaler Auffassung diese Pflicht nur von der Polizei im "Polizeinotstand" auferlegt werden konnte mit der Folge, daß die öffentliche Hand für diesen "Eingriff", der als Enteignung qualifiziert wurde, Entschädigung zu leisten hatte -. Verfehlt ist Mazzinis These: "Die Freiheit konstituiert nichts." Sie verkennt die Sinnbestimmtheit der Freiheit. Frei ist der Mensch durch seine Berufung, Werte zu schaffen, die über seine natürliche Existenz hinausgreifen. Frei ist er, das gemeinsame Leben - allein und mit anderen - gerecht zu integrieren, insbesondere dessen Rechtsordnung mit ihren Instituten, zu denen die öffentliche Gewalt des Rechtsstaates 23

Theodor Litt, vgl. oben Kap. I Anm. 8.

8. Staat und Gesellschaft

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gehört. Die Grundrechte gewährleisten mit dem privaten Bereich zugleich Teilhabe am gemeinsamen Leben: beides ist eine untrennbare Freiheit. Die öffentliche Gewalt hat daher die freien Menschen nicht bloß nach einem rationalen Rechtssystem logisch voneinander abzugrenzen, sondern sie hat der Freiheit jedes Menschen die Gestalt zu sichern, die seiner sinnbestimmten, sozial gerechten Aufgabe entspricht. Darin liegt die Wendung vom bürgerlichen zum sozialen Rechtsstaat24 • Sinn und Maß des sozialen Rechtsstaates ist die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit, nach der ein jeder seine Rechte nur in Verantwortung für andere, also für die Gesellschaft und Gemeinschaft aller, gebrauchen darf; der Staat hat die "unverkümmerte Existenz" 25 eines jeden zu sichern; wird sie gefährdet, hat er zu intervenieren. Diese Erkenntnis hob schon Mitte des 19. Jahrhunderts an, als die soziale Frage aufbrach. Stahl sagte: Es ist "eine Verletzung des Rechts und der Gerechtigkeit, wenn die Obrigkeit, ihren Beruf versäumend, die ganze Erwerbstätigkeit sich selbst überläßt, und damit keinem in dem Kreis seines Erwerbes schützt, den Schwächeren der Übermacht des Stärkeren preisgibt" 26 • Die Freiheit des Menschen ist nicht begrenzte Willkür, sondern ein jeder ist, wenn er frei handelt, rechtlich verantwortlich für die freie unverkümmerte Existenz der anderen: ihnen muß der Freiheitsraum verbleiben, der zur gerechten Entfaltung ihres Menschentums erforderlich ist; keiner darf der Willkür eines anderen etwa durch dessen Besitz und Eigentum - unterworfen, also Knecht sein. Inwieweit das Institut das Eigentum danach zu revidieren ist, wird zu erörtern sein (unten Kap. III Abschn. 5 k). Jede Gesellschaft freier Menschen ist somit Gemeinschaft, da sie nicht nur in Abgrenzungen und vereinbarten Beziehungen besteht, sondern eine - durch das gemeinsame Leben bewirkte, vorgegebene - Struktur besitzt, in der jeder für die freie Existenz anderer einzustehen hat. In einer pluralistischen Gesellschaft ohne homogene Rechtsansichten erstreckt sich das Ermessen der öffentlichen Gewalt im Konfliktfalle auch darauf, zu entscheiden, welche der Rechtsgrundsätze, die im Volksbewußtsein wirksam sind, allgemein für alle gelten sollen: z. B. Rechtsgrundsätze über Arbeiterschutz, Mitbestimmung und Mitwirkung in Betrieben, Sozialhilfe, Jugendschutz, Lastenausgleich, Monopole, Investitionshilfe, Beschränkungen des Eigentums usw. Die Repräsentanten der öffentlichen Gewalt haben wie Heinrich 24 25

Oben Kap. I Abschn. 3. Fr. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts

88-102. zs Fr. J. Stahl, a.a.O., S. 61.

(5.

Aufl.) Bd. II 2, S. 61 f., 72 ff.,

II. Die Demokratie

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Herrfahrdt erkannte - eine schiedsrichterliche Aufgabe. Da eine solche Entscheidung ein Werturteil erfordert, ist die Berechenbarkeit und Sicherheit verloren, die das logisch determinierte und rein verstandesmäßig auszulegende Recht des privaten Verkehrs einer homogenen Gesellschaft - und damit der "bürgerliche Rechtsstaat" - gewährte. Dennoch entbehrt ein Werturteil über die sozialen Aufgaben der freien Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht der Objektivität und Allgemeingültigkeit. Keineswegs ist nur die Frage "wer entscheidet?" maßgebend: eine solche dezisionistische Anschauung sieht nur die Form, nicht den Sinngehalt des Werturteils. Auch das Werturteil wird durch ein "objektives Maß" - seinen Wert bestimmt. Es läßt sich zwar nicht verstandesgemäß beweisen; seine Bestimmung liegt im Ermessen und in der Verantwortung des Entscheidenden. Aber dieses Ermessen ist nicht Belieben, nicht Willkür: der rechtliche Wert, nach dem geurteilt wird und der im Gewissen und Rechtsbewußtsein wurzelt, setzt dem Ermessen "Maß" und Grenze. Diese Ermessen auszuüben ist die öffentliche Gewalt - Gesetzgeber, Gerichte, vollziehende Gewalt- von der Gesellschaft frei schaffender Menschen berufen, wenn diese entzweit ist in divergierende Rechtsauffassungen. Doch setzt eine Gesellschaft freier Menschen voraus, daß noch letzte gemeinsame Rechtsanschauungen herrschen, die alle verbinden und deren Willen bestimmen, in einer Rechtsordnung miteinander zu leben. Eine bis zu den letzten geistigen Grundlagen gespaltene Gesellschaft hat keinen Bestand27 • Auch die "schiedsrichterliche Führung" ist nur möglich, wenn sie und ihre Entscheidungen von einem maßgebenden Teil des Volkes als Recht anerkannt werden. Fundamental für eine demokratische Gemeinschaft ist die gemeinsame Grundhaltung, die in maßgebenden sittlichen Grundwerten wurzelt. Rechtliche Grundsätze - das Maß der Gerechtigkeit - durch allgemeingültiges Werturteil zu determinieren, ist in erster Linie der Sinn des Gesetzes: es ist der "standard of right and wrong" 28 • Deshalb hat der Abgeordnete, der die Gesetze beschließt, nach seinem Gewissen zu entscheiden (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Je mehr sich die Gesellschaft in eine Vielfalt von rechtlichen Werturteilen aufspaltet, desto mehr bedarf sie allgemeiner gesetzlicher Regeln, die ihre Einheit wahren; denn ohne Einheit im Recht hört jede Gesellschaft und jede Gemeinschaft auf. Daher wächst die Zahl der Gesetze. Dennoch ist der Staat nicht der Leviathan, der die Gesellschaft verschlingt, sondern er wird selbst integriert von der Gesellschaft: es ist ihr staatlicher Wille, der die Einheit und Ordnung als Schiedsrichter 27 28

Vgl. Rousseau, Contrat Social, 1.2. eh. 3; 1.4 eh. 1. John Locke, Two Treatises on Government, II § 124.

9. Demokratisierung der Gesellschaft?

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wahrt. Noch heute gilt die Erkenntnis: der Staat ist "notwendig und seiner Natur nach in allen seinen Erscheinungen und Prozessen Gesellschaft -, wenn auch nur eine spezifische Form derselben"; "darum ist das Recht die dem Staate notwendige Erscheinungsweise" 29 • Die "staatliche Einheit" des deutschen Volkes umfaßt das Volk auch in seiner gesellschaftlichen Erscheinung, und das "staatliche Leben", dem das Grundgesetz "eine neue Ordnung" gibt (Präambel GG), schließt das gesellschaftliche ein. Daher schützt und fördert der Staat die Verbände als Glieder der Gesellschaft, beachtet ihre Anliegen, die sie im Namen von Teilen der Gesellschaft vorbringen, fördert sie, ja, überläßt oder überträgt ihnen vielfach öffentliche Aufgaben zur rechtlichen Ordnung des Ganzen.

9. Abschnitt: Demokratisierung der Gesellschaft? Demokratie, d. h . Volksherrschaft ist eine Form der staatlichen Gewalt und der ihr eingegliederten Körperschaften und Einrichtungen des öffentlichen Rechts, nicht eine allgemeine Form der Gesellschaft freier Menschen. Nur das Prinzip der praktischen Vernunft, daß das Recht in einer Gesellschaft freier Menschen allgemein verbindlich für alle determiniert und konkretisiert werden muß, wenn die Glieder sich hierin nicht einig sind, rechtfertigt eine hoheitliche Einschränkung der Freiheit des Einzelnen, sich selbst den gerechten, ihm zukommenden Rechtsraum zu bestimmen. Darüber hinaus darf keine Herrschaft in die Freiheit des Menschen eingreifen. In einer Gesellschaft freier Menschen gibt es außer jenem vernunftgebotenen Mandat des Staates - nur eine Herrschaft, die von dem eigenen freien Willen des Einzelnen getragen wird. So sind die Probleme der Abhängigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Mitbestimmung in Betrieben nur durch den Sinn der Grundrechte, insbesondere der freien Entfaltung der Persönlichkeit und des sozial gebundenen Eigentums, zu lösen30 ; sie bestimmen grundsätzlich, was einem jedem zukommt. Niemals aber ist eine Demokratisierung der Gesellschaft freier Menschen, d. h. eine nicht auf freier Entscheidung des Einzelnen begründete Herrschaft, die über jenes notwendige Mandat des Staates hinausgeht, aus Prinzip möglich. Demokratie als "allgemeine Staats- und Lebensordnung" ist nicht Ausdruck der Achtung vor der Würde des Menschen und seiner Eigenverantwortung, wie das Godesberger Programm der SPD meint. Denn jede allgemeine Herrschaft in der Gesellschaft- auch die einer Mehrheit - tötet die Freiheit, die die Menschenrechte und Grundrechte 29

Albert Haenel, Deutsches Staatsrecht I, (1892), S. 116.

ao Vgl. unten Kap. III Abschn. 5 k.

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II. Die Demokratie

gewährleisten. Sie führt zum totalen Staat, in dem die Menschen auf allen Lebensbereichen, auch der Familie, gelenkt werden können und keinen gesicherten Freiheitsraum haben, den sie ausschließlich nach ihrer Persönlichkeit zu gestalten vermögen. Mit der Freiheit wird auch die Würde des Menschen angetastet, denn die Menschenrechte bestehen um der Würde des Menschenwillen (Art. 1 Abs. 2 GG.: "darum"). Im Godesberger Programm heißt es weiter: "Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt"; dieser Begriff einer durch den Sozialismus erfüllten Demokratie entspricht völlig dem der kommunistischen Volks-"demokratien". So sagt die Verfassung der "DDR" vom 9. 4. 1968 unter dem Abschnitt "Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung" im Art. 1: Die "Deutsche Demokratische Republik" "ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die ... den Sozialismus verwirklichen". Die durch den Sozialismus erfüllte Demokratie ist aber nicht ein Gebot der Vernunft, sondern Ideologie, d. h. ein produziertes Wahngebilde, das für allgemeingültige Realität genommen wird, die freie Persönlichkeit verdrängt und die Diktatur der Mehrheit eines Kollektivs errichtet. Dieser Begriff der Demokratie vernichtet den Rechtsstaat, der die Unantastbarkeit der Freiheit des konkreten Menschen zur Grundordnung hat und Eingriffe nur zuläßt, soweit sie notwendig sind, um die gemeinsame Existenz in Freiheit zu erhalten. Demokratie (= Volksherrschaft) ist ein Prinzip des Staates und der Körperschaften und Einrichtungen des öffentlichen Rechts, denen er die Teilhabe an seinem hoheitlichen rechtlichen Mandat überläßt, nicht eine allgemein verbindliche Lebensordnung freier Menschen. Die Freiheit kann nicht durch eine Herrschaft, auch nicht durch Herrschaft einer Mehrheit, außerhalb der lebensnotwendigen staatlichen Regelung eingeschränkt werden. Diese Zusammenhänge klar in das Bewußtsein zu heben, ist Aufgabe der Wissenschaft, da viele Politiker sie nicht erkennen. Das reziproke Zusammenwirken der Menschen erfordert zwar häufig autoritäre Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung: sie differenzieren und spezialisieren die zu erbringenden Leistungen um des Zieles willen in der Weise, daß der eine leitet und die anderen seinen Anordnungen folgen sollen. Solche Strukturen können durch die Sache die gemeinsame Aufgabe - geboten, aber (vom Staate abgesehen) unter mündigen Menschen nur durch freie Entscheidung jedes Einzelnen legitimiert sein. Der Eintritt des Einzelnen in solche Strukturen muß frei, sachlich begrenzt und kündbar sein, da die Freiheit unveräußerlich ist. Denn nur die freie Persönlichkeit vermag produktiv zu gestalten, nur sie ist kontingent, formt fortschreitend aus dem Überlieferten nach eigener Intuition neue Werte des Lebens. Eine Herrschaft,

10. Die Determinierung des Volkswillens

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sei es auch die einer Mehrheit, kann nicht durch das Wahngebilde einer Ideologie ("Demokratisierung der Gesellschaft") oktroyiert werden. Eine nicht approbierte Herrschaft kann nur gerechtfertigt sein, wenn und insoweit sie zur Erhaltung der gemeinsamen Existenz unumgänglich ist, d. h. wenn die Glieder hierzu nicht in der Lage und auf stellvertretende hoheitliche Hilfe angewiesen sind: nur dann ist die Herrschaft allgemeingültiges Prinzip der praktischen Vernunft, wie das Mandat der öffentlichen Gewalt oder wie die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu mündigen, verantwortungsbewußten Persönlichkeiten zu erziehen. Auch das Eigentum rechtfertigt noch nicht eine Herrschaft über die freie Persönlichkeit des Arbeitnehmers, der zur Nutzung des Eigentums beiträgt: er kann, da das Produkt auch sein Werk ist, Mitbestimmung fordern. Gegen zwei Fronten schützen die Menschenrechte die Freiheit: gegen nicht notwendige Eingriffe des Staates, und gegen den Mißbrauch der Freiheit zur Verknechtung anderer31 •

10. Absclmitt: Die Determinierung des Volkswillens durch Wahlen und Abstimmungen Hat die öffentliche Gewalt das Mandat, Recht zur Erhaltung der gemeinsamen freien Existenz allgemein verbindlich zu determinieren und durchzusetzen, so kann Volksherrschaft (= Demokratie) nur darin bestehen, daß einige Volksglieder im Namen und Auftrag des Volkes den Volkswillen repräsentieren, d. h. ihn verbindlich für alle, also "autoritär" bestimmen. Auch Volksbegehr und Volksentscheid (vgl. Art. 29 Abs. 2-5 GG) legitimieren eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit; sie sind repräsentative, nicht unmittelbare Demokratie, da die Mehrheit das Ganze repräsentiert. Selbst wenn Einigkeit in einer Gemeindeversammlung herrscht (Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG), werden doch die Abwesenden (Kinder, Greise, Kranke und kommende Geschlechter) von den Anwesenden repräsentiert und verpflichtet: eine echte Herrschaft der Beherrschten gibt es nicht. Die Positivierung des Volkswillens ist ein soziologischer Prozeß, der besondere Strukturen und Maßstäbe aufweist. Der hoheitliche Volkswille des Staates kann nicht theoretisch mit den Kategorien des Verstandes durch Diskussion erkannt werden; er ist nicht ein durch allgemeine Begriffe zu definierendes Gesetz. Die Substanz jedes Wollens ist vielmehr höchst individuelles Verhalten, das sich nicht logisch aus allgemeinen Gesetzen ableiten läßt. Die Individualität des Volkes (die meistens in der Sprache ihren Ausdruck hat) fordert und prägt den Volkswillen, aber zunächst ungeformt durch mannigfache Meinungen. st

Unten Kap. III Abschn. 3 und 5 k.

li. Die Demokratie

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Ihm eine einheitliche rationale Gestalt zu geben, kann wiederum nur durch individuelle Intuition, durch Vorschlag von Persönlichkeiten geschehen; das Volk kann durch Abstimmungen nur über den Vorschlag beraten und ihn als allgemein, für alle gültig anerkennen oder ihn verwerfen, aber nicht als Ganzes von sich aus einheitlich handeln. "Nur durch einzelne Persönlichkeiten und in einzelnen Persönlichkeiten kann der Volkswille sich aktualisieren, können sich die in ihm liegenden mannigfaltigen Möglichkeiten konkretisieren, kann er wirkender Wille werden. Er bedarf persönlicher Bildner und Träger ... ", "Repräsentanten des Volkswillens sind die einzelnen Personen, die als Glieder des Volksganzen vermögen, den unformierten Volkswillen in sich zu formieren und so zu formieren, daß er vom Volke als Ausdruck seines Willens empfunden und getragen wird32 ." Schon in jeder Versammlung macht Einer - oder eine kleine Gruppe - aus der Vielheit unbestimmter Möglichkeiten und Meinungen einen bestimmten Vorschlag. Er kann beraten werden, um die Gründe, die dafür oder dagegen sprechen, zu klären; Änderungen oder Ergänzungen können von weiteren Persönlichkeiten vorgeschlagen werden. Aber die Versammlung kann nur die Vorschläge beraten, approbieren oder reprobieren. Maßgebend für die Annahme sind die Autorita't des Vorschlagenden, die Qualität des Vorschlags und der in der Versammlung vorhandene ungeformte Wille, die "Stimmung". Alle Entscheidungen gehen auf die Initiative von Persönlichkeiten zurück, mag es sich um Entscheidungen der Volksglieder, mag es sich um Entscheidungen der Volksvertreter handeln. Dieser soziologische Prozeß, der um die Pole: Vorschlag und Approbation (oder Reprobation) kreist, hat seine legalen Formen im Recht der Initiative (Vorschlagsrecht, Antragsrecht), im Wahlrecht, in der Beratung der Volksvertreter, im Stimmrecht. Stets müssen Persönlichkeiten dem Volke oder den Volksvertretern vorangehen, wenn es gilt, den staatlichen Volkswillen zu prägen. Die Mannigfaltigkeit der Meinungen wird zur Einheit des Volkswillens nur durch Sein und Tat der politischen Persönlichkeit: die freie Tat, "das innerste Wesen der Persönlichkeit" ist "das Band zwischen dem Mannigfaltigen und dem Einen". Sie ist kontingent, d. h. setzt einen Anfang. "Jede, auch menschliche Tat ist generisch von Schöpfung nicht verschieden". Nur die Tat der Persönlichkeit vermag die vielfältigen Anschauungen des Volkes, die auch in dieser Tat lebendig sind, zu vereinen. Denn: "nur die Persönlichkeit bildet eine Einheit in dem Mannigfachen, das sie annimmt, weil sie eine davon unabhängige Bestimmtheit hat". Ihre "schöpferische Freiheit" kann man "als die Kraft unendlicher Individualisierung" bezeichnen, d. h . eben die Kraft, "Spezifisches zu setzen, 32

Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, Ges. Schriften III

(1960),

s. 275 f.

10. Die Determinierung des Volkswillens

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das als solches kein Gesetz, keine Regel, keinen Grund in etwas Vorausgehendem hat" 33 • Denn in der Persönlichkeit wirkt das Urbild Gottes ("das Selbst" im Sinne C. G. Jungs), das die Vereinigung der Mannigfaltigkeit und aller Gegensätze in sich birgt. Eben deshalb kann eine pluralistische Gesellschaft freier Menschen - wenn überhaupt - allein durch schiedsrichterliche Führung, die die einende Komponente überzeugend aufzeigt, rechtlich geordnet werden. Der Meister der politischen Webekunst ist nach Platon zur Herrschaft befähigt34 • Daher wird der Staat mit der Persönlichkeit verglichen, und wird die Einheit des Volkswillens auch durch ein Staatsoberhaupt integriert. Die überzeugende Macht von Persönlichkeiten wirkt die Einheit des Volkswillens auch über ihren Tod hinaus: Lenin eint noch heute die Völker der Sowjetunion. Indes: "Zur Einheit verschiedener Dinge ist es nötig, daß in jedem derselben etwas sei, was auch in dem anderen ist, und zwar schon in jedem für sich, wie es besteht, nicht erst, wenn es mit dem anderen sich verbindet35 ." Somit ist die Determinierung und Positivierung des Volkswillens und damit des Volksrechts - nur ein Teilaspekt des umfassenden Phänomens der Verkörperung einer Gemeinschaft36 • Nur wenn und weil der Staatsmann die im Volke lebenden geistigen und natürlichen Substanzen verkörpert - so wie das Auge Leib, Geist und Seele der Persönlichkeit verkörpert -vermag er den daraus quellenden Volkswillen und das ihm angemessene Recht glaubwürdig zu bestimmen und die Approbation der Mehrheit zu erlangen. Denn eine Ordnung ist nur dann "recht", wenn sie diesen besonderen Substanzen der Gemeinschaft, dem "Volksgeist", der "Volkheit" (Goethe) gemäß ist. Die existenznotwendige Einheit des Entscheidens über Recht und Unrecht, die alle Funktionen umschließt, folgt aus der Einheit der gemeinsamen geistigen und seelischen Werte des Lebens; sie prägt sich in der Einheit der Sprache, der Einheit des Rechts, der Sitten, der Symbole, der Heimat, des Vaterlandes aus. Der Volksgeist mit seinen Anschauungen hat sein leibliches Substrat in den jeweiligen Volksgliedern. Jede der Anschauungen, die im Volke wirken, gibt ein relatives Bild vom Volksgeist und Volkswillen in einer bestimmten Sicht; sie alle nach ihrem sachlichen und persönlichen Gewicht abzuwägen und ins Bewußtsein zu heben, ist Aufgabe des Staatsmannes. Darin hat er dem Volke voranzugehen. Er muß einen Blick für die einenden gerechten Gesetzlich33 Zitate aus: F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts (5. Aufl.) Bd. 1, S. 502 f.; Bd. II 1, S. 14-16 ff., 26 ff., 34. Vgl. Erich Kaufmann, Friedrich Julius Stahl als Rechtsphilosoph, Ges. Schriften, III, S. 16 ff. 34 Platon, Staatsmann (294), Staat (429 ff.). as F. J. Stahl, a.a.O., Bd. 1, S. 498. 36 Vgl. oben Kap. II, Abschn. 6.

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II.

Die Demokratie

keiten und Werte seines Volkes haben- für das, was zum Volke verbindet - und für die Abwandlungen, die diese Phänomene in den geschichtlich bedingten Anschauungen der Zeit, dem "Zeitgeist" erfahren. Die praktisch im Volke seiner Zeit wirkenden geistigen Werte sollen sein Verhalten - auch Kompromisse, die er eingeht - tragen und rechtfertigen; sie sollen darin präsent und transparent werden; die Repräsentation des Volkes, die Aufgabe des Staatsmannes, soll den Volksgliedern glaubwürdig werden, so daß sie darin eine mögliche verbindende Komponente des Volkes und damit eine Gesetzlichkeit der eigenen Freiheit erkennen- eine Kunst, mit der de Gaulle sogar der Revolution von 1968 Herr wurde -. Der Staatsmann hat nicht die laut demonstrierten Wünsche zu vollziehen oder sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Was im Widerspruch zu ihnen steht, kann gerade mit dem Volkswillen im Einklang sein; denn oft verdecken Gruppen durch öffentliches Spektakel den Volkswillen. Die einenden geistigen Kräfte des Volkes aufzuzeigen, ist das Amt des Staatsmannes: es gibt der "Repräsentation" des Volkes ihren transpersonalen Sinn, der sie konstituiert und vom individuellen Auftrag der Wähler unterscheidet. Doch bedarf solche "virtuelle" Repräsentation, um Bestand zu haben, eines Substrats in der aktuellen37 , d. h. die staatliche Repräsentation des Volkes muß derart überzeugen, daß sie die Approbation einer maßgeblichen Zahl von Volksgliedern findet; welche Zahl maßgeblich und daher als Majorität anzusehen ist, richtet sich nach der Verfassung. Nur wo der Kreis der Volksglieder so klein ist, daß er eine Versammlung und Beratung zuläßt, können sie unmittelbar die Vorschläge der führenden Staatsmänner beraten, approbieren oder reprobieren. Ist er zu groß dafür, so wählen sie Repräsentanten, die an ihrer Statt das Mandat zur Beratung und Entscheidung ausüben, aber dem Volke dafür Rede und Antwort zu stehen haben. Die öffentlichen Parlamentsverhandlungen und die Wahlen, die die Mandate der Repräsentanten erneuern oder versagen, sollen diese Verantwortung aktualisieren. Die Volksvertretung ist bei einem der Wirklichkeit, nicht einem abstrakten Rechenprinzip angepaßten Wahlsystem noch ein Spiegelbild der mannigfaltigen ("unorganisch") im Volke lebenden Anschauungen; sie ist aber fähig und beauftragt, Vorschläge zu beraten und durch Kompromisse, das "Salz der Politik" (Ernst Fraenkel), einen Volkswillen zu determinieren derart, daß darin eine Variante des im Volk lebenden Willens offenbar wird. Stellen Abgeordnete einer Partei die Forderung "alles oder nichts", so verletzen sie ihr verfassungsrecht37 So Edmund Burke, The Works, Bd. IV (London 1899), S. 293 (Brief über die Zulassung der römischen Katholiken Irlands zu freien Wahlen, 1792). Vgl. zu allem Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat (1958), S. 13 f.

10. Die Determinierung des Volkswillens

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liches Mandat; denn sie sollen nicht ihre Meinung durchsetzen - die das Volk immer nur von einer Perspektive her sieht - sondern sie sollen sich zusammen mit den anderen Volksvertretern zur Formung eines einheitlichen politischen Volkswillens koalieren. Die verbindende Komponente in einer freiheitlichen Demokratie wird durch Sein und vermittelnde Tat verantwortlicher Persönlichkeiten, nicht durch Diktat hergestellt. Parteien sind nur Mittel für diese Repräsentation. Durch die Wahl wird den Repräsentanten - Abgeordneten, Regierung, Staatspräsidenten - legale Amtsgewalt (potestas) zur Erfüllung ihrer Aufgaben übertragen. Doch der sittliche Grund, der sie legitimiert, ist das Vertrauen in die Integrität und Weisheit der Persönlichkeit, die eine Bewährung im Amte erhoffen lassen. Solches Vertrauen wurzelt in der Autorität, d. h . in dem Ansehen des persönlichen Vorbildes, dessen Gestalt und formenden Willen sich andere zu eigen machen. Ein Repräsentant kann sein Amt legitim nur ausüben, wenn seine politischen Intentionen von einem maßgebenden Teile der Volksglieder aus eigener Oberzeugung bejaht werden, also die Aufgaben, die für alle daraus folgen, von diesen Gliedern als Erfüllung ihrer eigenen Freiheit empfunden werden. "Challenge and response" (Arnold Toynbee) ist das Gesetz der Demokratie. Die unumgängliche autoritäre Struktur der Regierung soll durch persönliche Autorität der Regierenden, die in der freien Überzeugung eines maßgebenden Teiles des Volkes wurzelt, gerechtfertigt sein. Entscheidend für den Bestand einer Demokratie ist somit, daß das Volk politische Persönlichkeiten, die vorangehn und Wege weisen, als Autoritäten anerkennt. Ohne Autoritäten kann das Volk nicht regieren. Auf diesem Postulat ruht jede demokratische Verfassung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist nicht nach dieser Erkenntnis gestaltet, obwohl das Scheitern der Weimarer Verfassung sie nahe legte. Man hätte entweder eine Präsidial-Regierung, d. h. eine Regierung des vom Volk gewählten Staatspräsidenten schaffen können, der für die Gesetzgebung auf das Parlament angewiesen ist (nach dem Muster der USA). Man hat einer parlamentarischen Regierung den Vorzug gegeben, aber dem Bundeskanzler, obwohl nicht vom Volk gewählt, sondern von den Fraktionen ausgehandelt, doch wieder eine autoritäre Stellung verliehen, da er nur durch konstruktives Mißtrauensvotum gestürzt werden kann (Art. 67 GG). Dieses autoritäre Regierungsamt ist aber nur sinnvoll, wenn es durch aktuelle persönliche Autorität ausgefüllt wird; sonst wird es zur Diktatur der Regierungskoalition. Es hätte daher einen vom Volke gewählten Gegenspieler (Bundespräsidenten) erfordert, der verfassungsrechtlich verpflichtet ist, durch Auflösung des Bundestags das Volk anzurufen, also die legale Autorität des Bundeskanzlers zu aktualisieren, wenn Ent-

II. Die Demokratie

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scheidungen von existenzieller, nicht zu revidierender Tragweite zu treffen sind und begründete Zweifel bestehen, ob die Regierungskoalition noch vom Vertrauen des Volkes getragen wird (ähnlich der englischen Praxis). Denn Regierung und Parlament sollen das Volk in seinem aktuellen Willen, der nach dem Maßstab der Mehrheit bestimmt wird, nicht einen legal fingierten Willen repräsentieren. Das Grundgesetz gibt den Fraktionen der Regierungskoalition durch den Bundeskanzler legale Macht; die Autorität im Volke aber ist ohne praktische Bedeutung, so daß nicht ausreichend der Gefahr vorgebeugt ist, daß Regierung und Bundestag existentielle Entscheidungen gegen den Willen der Mehrheit des Volkes treffen. Wird die Repräsentation des Volkes durch eine Parlamentsmehrheit zur Fiktion, so ist sie Diktatur, die Volk und Freiheit abwürgt; insofern ist Rousseaus Kritik an der repräsentativen Demokratie voll berechtigt. Autorität kann auch außerhalb legaler Ermächtigung entstehen, ja, die legalen Repräsentanten zurückdrängen und selbst zu einer rechtlich verpflichtenden Macht werden, wie die Senatus-Consulte und die Kaisergesetze Roms, die Herrschaft Kaiser Augustus', sowie die deutschrechtliche Folgepflicht des Mittelalters zeigen. Doch gestaltet Autorität nicht nur die hoheitliche Rechtsetzung. Über das Recht hinaus belebt ein Vorbild die geistigen Werte und seelischen Mächte der Gemeinschaft. Sie belebt insbesondere die brüderliche Gesinnung, die tiefste Substanz der Gemeinschaft, aus der alle Werte, Kräfte und Formen,auch die Demokratie - hervorgehen38• Auch in unserer Zeit kann ein Staatsoberhaupt, dessen legale Gewalt gering ist, durch persönliche Autorität die geistigen Werte des Volkes und seines Staates zum Bewußtsein bringen und damit die Gemeinschaft integrieren (z. B. Theodor Heuss). In einer Demokratie soll der Staatsmann mit Geschick und Tatkraft die möglichen Mittel einsetzen, die zur Erhaltung und Entfaltung des Volkes erforderlich sind, er soll aber auch die Volksglieder in Freiheit von der Richtigkeit seiner Intentionen überzeugen. Ein Meister der politischen Kunst, der sich den im Volke lebenden Ideen verschließt, also nicht die Herzen zu gewinnen vermag (Metternich), hat in einer Demokratie keine Chance. Aber auch die bloße Popularität reicht zum Regieren nicht aus, wenn dem Staatsmann die Fähigkeit fehlt, voranzugehen und vor allem zu entscheiden. Die polare Struktur des Volkswillens - er gestaltet und wird gestaltet- gibt dem Politiker die psychologische Macht, das Volk "anzuführen" im Doppelsinn des Wortes. Er kann als Vorbild schlummernde 38

Vgl. oben Kap. I Abschn. 4.

11. Die Mehrheit als Maßstab

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Werte im Volke wecken, kann aber auch der Menge Wunschbilder und abstrakte Ideologien als die "wahre" Volkssubstanz suggieren und durch Approbation der Irregeführten legale Amtsgewalt erlangen: der Weg der Diktatoren. Frei bleibt ein Volk nur, wenn es imstande ist, echte Ideen, die sein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit konstituieren, von Gaukeleien zu unterscheiden. Jede Herrschaft, die nicht in dieser Fähigkeit des Volkes gründet, führt zur Unfreiheit.

11. Abschnitt: Die Mehrheit als Maßstab Die demokratische Staatsform erfordert einen rationalen Maßstab, nach dem auseinandergehende Willensäußerungen der Volksglieder oder der Volksvertreter miteinander abgewogen und die für alle verbindliche Entscheidung bestimmt werden kann. Der Sachlage würde der Maßstab der "sanior pars" entsprechen, die sich durch "Glaube, Erfahrung, Weisheit und Verstand" auszeichnet, ein Maßstab, der aus dem Benediktinerorden stammt und in das Staatsrecht des hohen Mittelalters, insbesondere in die Königskapitulationen eingegangen ist. Am Ausgang des Mittelalters sprach Marsilius v. Padua von der maßgebenden "pars valencior", ein Begriff, der sowohl ein Mehr an Wert und Geltung, als auch ein Übergewicht an Können zum Ausdruck brachte. Nicht die Zahl allein ist entscheidend. Denn Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, politische Erfahrung, Weisheit und Verstand sind nicht bei allen Gemeinschaftsgliedern gleich entwickelt, eine Tatsache, die im vorigen Jahrhundert zu mannigfachen Versuchen Anlaß gab, die Stimmen nach Stand, Besitz, Steuern oder dergleichen zu qualifizieren. Diese Versuche zeigten jedoch, daß eine solche Wertung sich nicht nach allgemein gültigen Kriterien bestimmen läßt, sich also einer rechtlichen Regelung entzieht. Ein rationaler Maßstab ist aber erforderlich. Daher ging man schon im Mittelalter davon aus, daß die Mehrheit ein Übergewicht an Weisheit und Können, also "Majorität" habe ("sanior vel major pars"); utilitarische Anschauungen ersetzten später die "Weisheit" durch "Interessen". Doch das arithmetische Kriterium war und ist unzulänglich, das Mehr an Weisheit und Geltung zu bestimmen; man sah sich daher genötigt, Fehlentscheidungen der Mehrheit durch Menschenrechte und durch ein System von cheques and balances zu verhindern. Der Maßstab der Mehrheit entspricht dennoch der heutigen Struktur zivilisierter Völker, um Entscheidungen als Volkswillen zu legitimieren. Im wesentlichen sind alle Glieder zur politischen Reife vorgedrungen, d. h. sie sind fähig, sich ein Urteil zu bilden. Der Grad dieser persönlichen Fähigkeiten jedoch läßt sich nicht objektiv und somit nicht rechtlich feststellen. Daher werden alle Stimmen "gleich" qualifiziert, und

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allein die arithmetische Mehrheit gilt als Maßstab, nach dem die alle verpflichtende Entscheidung bestimmt wird. Unanwendbar ist dieser Maßstab nur für die Staaten, deren Mitglieder noch nicht die einenden Werte der Gerechtigkeit, die sich im Staate, im Volke und Volksstamm, in der Heimat, im Vaterland, in der Menschheit manifestieren, in ihr Bewußtsein aufgenommen haben, sich auch noch nicht zu unterrichten und politische Werturteile sachgemäß zu prüfen vermögen; dort bleiben, wie ein Teil der afrikanischen Staaten zeigt, die Prinzipien der Demokratie abstrakt und daher untauglich, das Leben der Menschen rechtlich zu ordnen. Wo die Gerechtigkeit mißachtet wird, sind die "Fußstapfen der Freiheit Gräber", ein Wort Georg Büchners in diese Situation projiziert39• In unserer pluralistischen, d. h. durch Weltanschauungen und sonstige Werturteile gespaltenen Gesellschaft wird dem Willen der Mehrheit zwar nicht ein Mehr an Weisheit oder gar, nach dem Vorbild Rousseaus, die Erkenntnis des Richtigen zugesprochen. Aber der Maßstab der Mehrheit hat eine relative praktische Bedeutung, die für das Leben in Gemeinschaft zulänglich ist. Die Mehrheit zeigt zunächst an, daß deren Wille eine größere Machtbasis hat als der Wille der Minderheit: er hat "Majorität". Ein solches Übergewicht an Macht aber ist für die Ausübung öffentlicher Gewalt notwendig, um allgemein verbindliche Entscheidungen kontinuierlich gegen Widerstände durchzuführen, wie es die Aufgabe der öffentlichen Gewalt erfordert. Doch die Macht allein würde noch nicht zur Herrschaft legimieren: die Macht eines Diktators ist nicht gerechtfertigt. Die Mehrheit hat auch eine rechtliche Bedeutung, die sie zur Repräsentation des Volkswillens und damit zur Ausübung der öffentlichen Gewalt beruft. Die überzeugende Glaubwürdigkeit der führenden Persönlichkeiten und ihrer Politik- Autorität und Legitimität- werden durch die Approbation der Mehrheit aufgedeckt. Die Entscheidung der Mehrheit gilt als Zeichen für Richtigkeit. Sie hat nur relativen Wert; aber man vertraut darauf, daß die besseren politischen Persönlichkeiten und deren Intentionen eine Mehrheit finden. In einem Massenstaat mit seinen komplizierten Verflechtungen, die nicht jeder zu durchschauen vermag, kommt die Mehrheit mitunter zwar nicht durch sachliche Erwägungen der Abstimmenden, sondern durch Emotionen und Kurzschlüsse zustande, die Führer oder Verführer zu wecken verstehen. Aber das Kriterium der Mehrheit hat auch dort seinen relativen Wert darin, daß durch Mangel an Bewährung die Glaubwürdigkeit und Autorität der Repräsentanten zerstört wird, also die von ihnen integrierte Mehrheit sich verflüchtet und einer Mehrheit mit anderen Intentionen weichen muß. Diese soziologische 89

Dantons Tod, 2. Akt (Danton).

11. Die Mehrheit als Maßstab

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Erfahrung bewirkt, daß der Wille der Mehrheit in allen demokratischen Verfassungen als Maßstab der Legitimität gilt. Das Kriterium der Mehrheit dient nicht zur Erkenntnis des Richtigen, sondern es beruht auf dem demokratischen Postulat, daß in der Regel - trotz aller Irrwege - letzten Endes doch der Staatsmann mit den relativ besseren Fähigkeiten ein Mehr an Anhänger zu gewinnen vermag und ein Staatsmann, der sich nicht bewährt, die ihn legitimierende Mehrheit und Machtbasis verliert. Dieses Postulat zeitigt die heutigen Formen staatlicher Demokratie. Den gewählten politischen Repräsentanten des Volkswillens ist eine begrenzte Amtszeit belassen, damit der Volkswille einheitlich kontinuierlich nach einem politischen Konzept gestaltet wird; denn der Volkswille ist wie das ganze Volk ein geschichtliches, kontinuierliches Phänomen. Aber in bestimmten Zeitabständen oder unter besonderen verfassungsrechtlich geregelten Voraussetzungen ist neu durch Wahl festzustellen, welche Politiker von einer Mehrheit als Repräsentanten des Volkes legitimiert werden. Ist die einfache Mehrheit (sei es der Zahl der Erschienenen, sei es der Zahl der Stimmberechtigten) das Kriterium, das die Gültigkeit der Beschlüsse des Volkes oder der Volksvertretung bestimmt, so können Entscheidung von größter, nicht zu übersehender Tragweite von einer geringen Mehrheit getroffen, also das ganze Volk von einem Teil in politische Gefahren und Verluste geführt werden. Rousseau sagt daher mit Recht: "je wichtiger und schwerwiegender die Beratungen sind, desto mehr muß die Ansicht, die den Sieg erringt, sich der Einstimmigkeit nähern" 40 • Verfassungsänderungen können aus diesem Grunde nach dem Grundgesetz und anderen Staatsverfassungen nur mit qualifizierter Mehrheit von den gesetzgebenden Körperschaften beschlossen werden; dem Sinn einer solchen Vorschrift wird aber nur genügt, wenn nicht bloß eine formale Änderung des Wortlauts, sondern vor allem eine Änderung der Voraussetzungen und Grundlagen der Verfassung - die zum Teil in der Präambel zum Ausdruck kommen - als Verfassungsänderung angesehen werden. Ist die Mehrheit das Maß, nach dem der einheitliche Volkswille determiniert wird, so haben alle Wahlen und Abstimmungen den Sinn, eine stabile Mehrheit aufzuzeigen, damit das Volk kontinuierlich entscheiden und handeln kann. Dieser Sinn sollte auch das Wahlsystem bestimmen. Er geht nicht dahin, der Willkür eines jeden die gleiche Chance zu geben, sich durchzusetzen: diese Vorstellung, die zur Listenwahl führt, überläßt die Gestaltung des Volkswillens - insbesondere 40

Rousseau, Contrat Social, 1. 4 eh. 2.

5 Hamel

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II.

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durch Kompromisse und Koalitionen - völlig den gewählten Repräsentanten. Sondern die Wahl hat diese Gestaltung selbst zum Ziel, d. h. schon der Wähler steht unter dem vernunftgebotenen Mandat, gemeinsam mit den anderen einen einheitlichen Volkswillen herbeizuführen, also die hierfür notwendigen Kompromisse vorzuzeichnen: er hat eine politische Aufgabe und Verantwortung. Daher ist die Persönlichkeitswahl in Wahlbezirken die Form, die der Demokratie entspricht; allerdings muß, wenn im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit erreicht wird, eine Stichwahl folgen, um die Mehrheit im Wahlbezirk festzustellen. Dieses System zwingt den Wähler, der seiner Stimme einen Sinn gibt, sich für einen Kandidaten, der Erfolgschancen hat, zu entscheiden und damit schon im Wahlbezirk ein Kompromiß- die Grundlage jeder Koalition - zu vollziehen. "Der Wähler selbst wird mitberufen, an dem inneren Ausgleich der Parteiengegensätze für die Bildung eines Mehrheitswillens, auf die alles ankommt, mitzuwirken, und von der die Listenwahl ihn ausschließt41 . " Entsprechend ist auch der einzelne Bewerber, der in einem Wahlkreis kandidiert, zu Kompromissen genötigt: er muß, um Stimmen zu erhalten, auf die zahlreichen Wähler Rücksicht nehmen, die keiner Partei anhängen. Friedrich Naumann warnte vor der Verhältniswahl! Durch die Wahl sollen nicht allgemeine Programme, Weltanschauungen oder Parteien, sondern Persönlichkeiten bestimmt werden, die gemeinsam mit den anderen Gewählten den Volkswillen derart zu formieren vermögen, daß er von der Mehrheit des Volkes als Ausdruck ihres Willens empfunden wird. Das Mandat wird Persönlichkeiten erteilt, nicht Parteien; diesen Sinn bringt noch heute Art. 38 Abs. 1 Satz 2 zum Ausdruck42 • Der arithmetische Maßstab der Mehrheit entspricht jedoch nicht der Gerechtigkeit; die griechischen Klassiker haben dies richtig erkannt43 • Denn er zerreißt die Wirklichkeit: die Einheit des Lebens und Willens; er teilt das Volk in die herrschende Mehrheit und die ihr unterworfene Minderheit, die zwar durch bestimmte Rechte geschützt ist, jedoch bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben dem Willen der Mehrheit zu folgen hat. Indes repräsentiert die Mehrheit - sei es die des Volkes, sei es die einer Volksvertretung - den staatlichen Willen des ganzen Volkes und handelt für das ganze Volk. Dieses vernunftgebotene Mandat, dem alle Repräsentanten des Volkswillens - auch die Mehrheit - unterstehen, darf nicht zu einer abstrakten Fiktion erstarren, sondern es ist das notwendige Wirken eines lebendigen Substrats; es konstituiert die 41

Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, Ges. Schriften III

(1960), 42 43

s. 282.

Vgl. oben Kap. II, Abschn. 6. Vgl. oben Kap. I Abschn. 1.

11. Die Mehrheit als Maßstab

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gemeinsame freie Existenz, die die Minderheit einschließt. Das arithmetische Kriterium der Mehrheit ist immer nur eine Krücke, um die rationale Einheit des irrationalen Volkswillens herzustellen. Der Sinn einer freiheitlichen genossenschaftlichen Staatsform ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern geht dahin, durch Kompromiß Einmütigkeit zu finden derart, daß auch die Minderheiten - auch die, die keiner Partei angehören- in der Politik der Mehrheit eine mögliche Variante des Volkswillens erblicken. Voran sollte daher in einer Demokratie die Vermittlung, die Berücksichtigung der Belange und Anschauungen der Minderheiten, das Nachgeben stehen. Darin liegt seit dem Mittelalter die Bedeutung der Lehren, die die öffentliche Gewalt durch vernunftgebotene Verträge zu legitimieren suchen: die öffentliche Gewalt soll, soweit möglich, nach dem Grundsatz der Freiheit eines jeden gehandhabt werden, d. h. so als wenn sie auf einem Vertrag beruhte. Die Reichsverfassung von 1871 enthielt "vertragliche Elemente", da das Reich ein Bund souveräner Fürsten und freier Städte war. Die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes enthält auch vertragliche Elemente: sie liegen nicht nur in der Struktur des Bundesstaates, sondern auch darin begründet, daß sich in Bund und Ländern freie Deutsche zum vernunftgebotenen Staate vereinigen. Die Überstimmung nach dem Prinzip der Mehrheit kann unumgänglich werden, weil zur Erhaltung der Gemeinschaft einheitliche Entscheidungen nötig sind; aber die Überstimmung sollte immer nur das letzte Mittel sein, um den einen Volkswillen herzustellen. Denn: "Wir alle sind Narren, und keiner hat das Recht, einem anderen seine eigentümliche Narrheit aufzudrängen und ihm ein Gesetz daraus zu machen44." Abwegig ist jedoch die Ansicht, daß die Demokratie prinzipiell eine Opposition erfordere. Das Leben verharrt nicht in Gegensätzen, sondern sein Ur-Sinn ist das Sich-Finden, die Einheit, die Überwindung der Gegensätze. Zwar stellt die Dialektik des Denkens und der Diskussion jede Erkenntnis in Frage, aber doch nur, um durch solche Frage den Weg zu weiteren Erkenntnissen zu gehen. Diese kritische Verneinung ist der Sinn einer Opposition: sie handelt repräsentativ für das Volk, dessen Wille sich dialektisch entfaltet; doch sie ist dem Volke verantwortlich dafür, daß ein staatlicher Wille geformt wird, darf also nicht auf Verneinung oder auf ihrer Alternative beharren, sondern muß um Einmütigkeit bemüht sein. Das Ziel ist, jede Opposition durch Synthese der Meinungen zu überwinden. In der Einmütigkeit vollenden die Abgeordneten die Repräsentation des Volkswillens. Diese Vollendung ist zwar selten- etwa in der Stunde der Not- zu erreichen. Aber aus Prinzip eine Opposition zu fordern, ist anarchisch, 44

s•

Georg Büchner, Dantons Tod, 1. Akt (Herault).

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II. Die Demokratie

verneint die Einheit der Gesetzlichkeit des Lebens; diese Forderung ist ein Spaltpilz in der Existenz des Volkes. Ein solches Prinzip führt zu verkrampften Alternativen nur um des Widerspruchs oder um des Wahlerfolges willen. Finden die konträren Kräfte eines Volkes sich nicht in der Stunde der Gefahr zu einem Willen zusammen, so wirken sie mit an der Zerstörung des Volkes. Das Ende der Weimarer Republik ist ein warnendes Beispiel dafür. Den verfassungspolitischen Begriff der Opposition auf eine außerparlamentarische Bewegung anzuwenden, ist eine Verfälschung des Begriffs: denn die sogenannte "außerparlamentarische Opposition" unterscheidet sich ihrem Wesen nach von der parlamentarischen. Die "außerparlamentarische Opposition" vermag nicht (wie die Abgeordneten einer Volksvertretung) im Namen des Volkes zu sprechen, d. h. sie ist nicht durch Wahl beauftragt, unmittelbar verantwortlich den Volkswillen zu determinieren; sie beeinflußt nur die unbestimmte öffentliche Meinung, die die rationale Bestimmung des Volkswillens durch Wahlen und Abstimmungen jeder Art integriert. Das Mandat zur unmittelbaren verantwortlichen Teilnahme an der Bestimmung des Volkswillens unterscheidet die parlamentarische Opposition von allen außerparlamentarischen Kräften, die gegen eine parlamentarische Mehrheit Stellung nahmen. Die Volksvertretung, nicht eine "außerparlamentarische Opposition", hat ihr Mandat vom Volke. Eine "außerparlamentarische Opposition" darf ihrer Meinung daher nur mit den Mitteln, die jedem zustehen, Gehör verschaffen. Insbesondere darf sie auf die Volksvertretung keinen anderen Einfluß ausüben als den der geistigen Überzeugungskraft ihrer Argumente. Die vom Volke bestellten Repräsentanten durch Gewalt oder illegale Drohungen unter Druck zu setzen, verletzt die Demokratie und den Rechtsstaat. Das demokratische Mittel, die Repräsentanten zu entmachten, sind die geistige Kraft öffentlicher Meinungen und die von ihnen beeinflußten verfassungsmäßigen Wahlen und Abstimmungen- nicht die Lautstärke, mit der Meinungen geäußert werden und eine Majorität vortäuschen. Wird jedoch die etablierte Ordnung der Bundesrepublik mit Gewalt angegriffen, so handelt es sich nicht mehr um bloße Opposition, sondern um Aufstand, der unter Umständen einen inneren Staatsnotstand auslösen kann (davon unten im Kapitel VII). Das ganze Volk - auch seine außerparlamentarischen Gruppen - steht, wenn es um politisches Handeln geht, unter dem vernunftgebotenen Mandat, die Einheit des Volkswillens herzustellen, damit das Volk durch seine öffentliche Gewalt geordnet und geschützt werden kann.

12. Das Scheitern der Demokratie: ein Versagen der Menschen

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12. Abschnitt: Das Scheitern der Demokratie: ein Versagen der Menschen Nur ein Volk das repräsentabel ist, kann repräsentiert werden. Nur ein Volk, das den Willen zur Einheit hat und in staatlicher Autorität die Grundlage seiner Existenz erkennt, kann staatliche Repräsentanten mit Autorität bekleiden und damit die Ausübung einer gemeinsamen öffentlichen Gewalt legitimieren. Je weniger Bewußtsein und Wille eines Volkes von einenden geistigen Werten und Gütern- der Heimat, des Rechts, des Volkstums, des Vaterlands - integriert werden, desto mehr erwartet das Volk die Herstellung der politischen Einheit von der Zielsetzung und Tat des Staatsmanns: der hysterische Schrei nach der genialen Führerpersönlichkeit45 • Doch auch der Staatsmann kann nicht als Schiedsrichter (im Sinne Heinrich Herrfahrdts), d. h. schöpferischsynthetisch eine verbindende Komponente aufzeigen, wenn sie nicht latent im Volke vorhanden ist oder vom Volke als wesensgemäß aufgenommen wird. Fehlt einem Volke gar der Wille, seine Existenz nach einheitlichen Rechtsmaßstäben hoheitlich zu ordnen und zu sichern, so sind die Voraussetzungen einer Demokratie - einer gemeinsamen Herrschaft- entfallen: das Problem zahlreicher afrikanischer und einiger asiatischer Staaten48 • Das Volk ist politisch unfrei. Auch die Demokratie ist unzulänglich, wenn die Menschen unzulänglich sind. Nicht Staatsformen, nicht Systeme des Rechts und der öffentlichen Gewalt, sondern die Menschen versagen. Denn nicht Recht und Staat

bewahren den freien Menschen, sondern der Mensch soll Brüderlichkeit, Freiheit aller und Wissen um die gemeinsamen Güte-r und die gerechten Ordnungen des Lebens (Weisheit) bewahren und die öffentliche Gewalt danach gestalten41• Montesquieu hatte, Platon folgend, noch gesehen, daß jede Staatsform auf seelischen Eigenschaften der Menschen beruht und die Demokratie durch Liebe zu gemeinsamen Gütern (den res publica) - zum Vaterland, zur Gleichheit und zur Genügsamkeit- bestimmt und bedingt wird. Ist aber "die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens" vorüber wie Bonhoeffer erkannt hat'8 - so ist auch die Zeit der einenden Substanzen der Menschheit, der Achtung vor der Würde des Menschen und dem Recht, die Zeit der Verantwortung, der Familie, der Heimat, des Volkes, des Vaterlandes, der Brüderlichkeit und Nächstenliebe Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, a.a.O., S. 276. Vgl. oben Kap. II Anm. 3 und 27. 47 Vgl. oben Kap. I Abschn. 4. 48 Im Brief an einen Freund vom 30. 4. 1944 (in: "Widerstand und Ergebung", 1961, S. 144). 46

48

II. Die Demokratie

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vorüber. Denn das Gewissen "ist der aus der Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst" 49 • Mit dem Verlust des Gewissens verliert jedes System des Rechts und der öffentlichen Gewalt seine überzeugende, verpflichtende Macht. Haben Volk, Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Richter, Beamte nicht mehr die Maßstäbe der Gerechtigkeit in ihrem Gewissen, so können sie nicht mehr Recht von Unrecht unterscheiden. Übrig bleiben nur Ideologien und Spielregeln, die durch tatsächliche Macht, insbesondere durch staatliche Kompetenzen, aber auch durch Besitz der Kommunikations- und Produktionsmittel "manipuliert" werden können. Der Fortschritt der Menschheit in technischen Dingen kann Schein werden, der die Zersetzung an Geist und Seele verdeckt. Alle menschlichen Beziehungen werden, wenn das Gewissen fehlt, verlogen und fadenscheinig. Heinrich Böll hat dies richtig gesehen; aber er hat nicht die Wahrheit, die der Künstler schuldet- z. B. das wahre Recht und den wahren Staat- aufgezeigt oder auch nur durchleuchten lassen. Wenn gar die Staatsrechtswissenschaft den Rechtsstaat zur Spielregel der Macht deklassiert, verkennt sie ihre Aufgabe: die Entartung von der Wahrheit- von dem, was sein sollte- zu unterscheiden. Eine freiheitliche demokratische Grundordnung geht zwar davon aus, daß Mißstände der etablierten Gewalten durch das Volk gerügt und beseitigt, insbesondere die statischen Systeme dem Prozeß des Lebens in seinen Wandlungen angepaßt werden. Wenn aber das Volk selbst keine gemeinsamen Maßstäbe mehr im Gewissen und Rechtsbewußtsein hat, um die rechtliche Ordnung seiner Existenz neu zu bestimmen, so verliert der Satz: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", seinen Sinn: die öffentliche Meinung und der Volkswille werden genau so durch Sonderinteressen, Unwahrheit, Polemik und ökonomische Macht verzerrt wie das "establishment". Die Freiheit ohne Gewissen wird zum "Deckel der Bosheit" (1. Petrus 2, 16). Denn mit dem Gewissen und dem Rechtsbewußtsein verliert der Mensch den unbedingten, absoluten Sinn seiner Freiheit - Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe für alle - und damit das Maß seiner Freiheit. Aus der Freiheit von den Begierden - deren Beherrschung und Regelung - wird die Freiheit der Begierden, so daß der Staat nicht mehr aufgegebene Institute des Rechts, die das gemeinsame Leben freier Menschen konstituieren, sondern die Befriedigung des Animalischen ordnet und die innere und äußere Politik nur noch praktikable Lösungen der Augenblicksprobleme, nicht umfassende, in die Zukunft weisende Konzeptionen sucht. Das "allgemeine Wohl" wird zum materiel49

So D. Bonhoeffer, Evangelische Ethik (1956), S. 188.

12. Das Scheitern der Demokratie: ein Versagen der Menschen

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len Wohlstand, d. h. darauf beschränkt, allen die gleiche Möglichkeit zum Jagen nach materiellen Gütern zu eröffnen: die "permissive society", die schrittweise bei uns Boden gewinnt. Ist aber die Ehrfurcht vor dem Guten, dem Gerechten als Maßstab der Freiheit entfallen, so löst das Bewußtsein der Freiheit den unbegrenzten Willen zur Macht, zur Herrschaft im eigenen Interesse aus und mißbraucht jegliches Recht, jedes establishment, Eigentum und staatliche Institute hierfür mit dem Ziel, sich alles, auch Menschen zu unterwerfen. Der Mensch selbst wird zum Objekt einer Herrschaft, die nicht an den transcendenten Aufgaben und Bindungen der Freiheit orientiert ist. Die Vernunft ist nur noch ein Werkzeug der Willkür, "ein bequemes Dienstmädchen", "ein Hausadvokat, den die Besitzer zur Wahrnehmung ihrer Interessen gebrauchen"50• "Der unersättliche Hunger nach Freiheit" und "die Vernachlässigung alles anderen" führt zur "Auflösung der demokratischen Verfassung", die auf der Freiheit und Gleichheit eines jeden sich gründet und daher die Freiheit eines jeden bindet. "Die Anarchie muß in die Häuser eindringen." "Der Vater gewöhnt sich an Gleichberechtigung mit seinen Kindern und hat Furcht vor den Söhnen. Der Sohn hat weder Ehrfurcht noch Scheu vor den Eltern. So ist er frei!" "Der Lehrer hat Angst ... vor den Schülern und schmeichelt ihnen; die Schüler achten Lehrer und Erzieher gering." "Die Jüngeren stellen sich den Älteren gleich und treten gegen sie auf in Wort und Tat.""Pferd und Esel gehen ganz stolz einher und schlagen nach dem Vorüberkommenden, wenn er ihnen nicht Platz macht. Und so wird eben alles durch und durch frei." Schließlich "schwindet auch jede Achtung vor den Gesetzen, gleichviel ob geschriebenen oder ungeschriebenen, um ja keinen Gebieter, in welchem Sinne es auch sei, über sich zu haben". Das aber "ist der schöne jugendfrische Anfang, aus dem die Tyrannis hervorwächst"; "aus der äußersten Freiheit" geht "die ärgste und erbarmungsloseste Knechtschaft hervor" 51 • Wenn die Freiheit nicht von Gerechtigkeit und Recht und deren Urbild: der Liebe bestimmt wird, tritt die natürliche Selbstbehauptung- und -durchsetzung, d. h. die Gewalt an die Stelle; damit hört die Freiheit auf; denn Freiheit heißt, den natürlichen Drang, die Triebe beherrschen. Die bindungslose Freiheit, die die Weimarer Verfassung gewährte, war der Boden, auf dem sich Hitlers hemmungsloser Wille zur Diktatur, der schließlich alle Institute des Rechts und die Freiheit niederwalzte, entfalten konnte. Die Menschen benötigen für ihr Zusammenleben einen Gebieter: wenn sie nicht dem geistigen, der Gerechtigkeit, zu folgen suchen, so verfallen sie den grausamen Herren der Welt. 50 H. Taine, Les origines de Ia France contemporaine, 15eme ed. Paris 1887), S. 314. 51 Platon, Staat 562 ff. St.; vgl. Taine, a.a.O., S. 319.

I.

(L'ancien regime,

II. Die Demokratie

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Regierung und Volksvertreter haben daher nicht bloß das von allen acceptierte "ethische Minimum" zu schützen, sondern sie haben - um die Gesellschaft freier Menschen zu erhalten- dem Schwund an Sittlichkeitsbewußtsein entgegenzutreten und die Gesellschaft auf ihre unabdingbaren Grundlagen des Rechts durch Reden, vorbildliches Verhalten und Gesetze zu stellen; ihr Maßstab sind nicht die individuellen Wünsche, die die Gesellschaft spalten können, sondern die rechtlichen Anforderungen, die das gemeinsame Leben unausweichlich stellt; jede Gesellschaft ist notwendig Gemeinschaft in Rechtsgütern, die alle verbinden. Sie hat eine Regierung überzeugend als einende Kompenente aufzuzeigen und dafür einzutreten, auch in den Gesetzesvorlagen, die sie einbringt. Denn eine gespaltene Gesellschaft hat keinen Bestand52• Unrichtig ist die von der Regierung im Bundestag (am 5. 3. 1971) geäußerte Ansicht: "Dem Strafrecht ist eine sittenbildende Kraft nicht gegeben". Tatsächlich ist die Strafwürdigkeit (des Ehebruchs, der öffentlichen Unzucht, der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen, der Vernichtung entstehenden oder "nicht lebenswerten" Lebens) die stärkste Kraft, die dem Sittenverfall und der Auflösung der Gesellschaft entgegengesetzt werden kann (die Dunkelziffer der nicht verfolgten Fälle beweist nur das Versagen des Staates, sei es der Strafverfolgung, sei es der staatlichen vorbeugenden Hilfe). Die Strafwürdigkeit der Verletzung von Menschheitswerten (zu denen auch die Ehe gehört) zeigt, unabhängig von der Abschreckung, die Grenze der Menschlichkeit an. Schon heute verbreitet sich die Meinung, daß Ehebruch erlaubt sei. Die Demokratie lebt aber "von sittlichen Fundus ihrer Bürger" (Hengstenberg). Die rechtsstaatliehen Verfassungen des Westens bewahren zwar noch das Erbgut der Menschheit: sie sichern dem konkreten Menschen nicht einem ideologisch bestimmten "Sowjet-Menschen"- seine Würde und Freiheit zur gerechten Entfaltung nach eigener Erkenntnis: darin besteht ihr Wert gegenüber den kommunistischen Staaten. Aber die Gesellschaft freier Menschen mißbraucht dieses Erbgut, wenn sie die Freiheit von der Natur- die Freiheit zur Gerechtigkeit - durch die Natur bestimmt, also die Befriedigung der Triebe an Stelle der Gerechtigkeit als Sinn und Maß der Freiheit betrachtet. Eine solche Anschauung, der die Gesellschaft des Westens mehr und mehr verfällt, steht moralisch nicht höher als die kommunistische des Ostens: jede dient einer materialistischen Ideologie, keine der Gerechtigkeit. Strittig ist nur noch die Verteilung der materiellen Güter - nach dem Besitz des freigelassenen raffenden Einzelnen oder nach dem Wert der individuellen Arbeit für das produzierende Proletariat -. Hier wie dort Gz

Oben Kap. II Anm. 27.

12. Das Scheitern der Demokratie: ein Versagen der Menschen

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werden Geist und Seele des Menschen, insbesondere seine Verantwortung und Liebe für die anderen in einseitigen ideologischen Systemen verkrustet und verkümmert. Im Osten ist der Staat der Zwingherr zur Freiheit (Rousseau, Fichte), aber die Gesellschaft des Westens, das "man" ("man tut es") vermag ähnlichen Einfluß auszuüben. Ist der Mensch nur nach der "Sachbezogenheit" säkularer Gesetze orientiert, so wird er zu deren Sklaven; Agape, Ehrfurcht, Verantwortung verschwinden. Im Westen sollen Ehe und Familie, die Keimzellen der Menschheit und Urbilder jeder Gemeinschaft und Verantwortung, praktisch dem Belieben der Eheleute preisgegeben werden: auch wer die Zerrüttung seiner Ehe verschuldet, kann grundsätzlich ein Recht zur Scheidung erhalten. Der Ehebruch gilt nicht mehr als strafwürdig; damit wurde der besondere staatliche Schutz der Ehe, den Art. 6 Abs. 1 GG fordert, eingerissen (vgl. unten Kap. III Abschn. 5 i). Einige Verbände und Zeitschriften verlangen, ihre Verantwortung für den Menschen und das Grundrecht des Lebens (Art. 2 Abs. 2 GG) mißachtend, daß der Mord am frühen Menschenleben im Mutterleib straffrei bleibe, ohne zu berücksichtigen, daß jeder Verantwortung für das werdende Menschenleben trägt, insbesondere der Staat Notlagen der Mütter zu beheben hat. Angestrebt wird von der Regierung, die Gesellschaft "wertfrei" zu ordnen, obwohl ohne Unterscheidung von Recht und Unrecht- übersinnlichen Wertmaßstäben- das Verhalten von Menschen nicht geordnet werden und keine Gesellschaft bestehen kann. Das Kriterium der "Sozialschädlichkeit", das an die Stelle des Begriffes "Unzucht" treten soll (insbesondere im Strafrecht), ist keineswegs wertfrei, aber es läßt offen, was als schädlich für die Gesellschaft oder deren Glieder zu gelten hat; ist es materialistisch gemeint, so sind Würde und Freiheit preisgegeben. Mit der Strafwürdigkeit der öffentlichen Unzucht würde der Schutz des Schamgefühls entfallen, das die Intimsphäre des Menschen verbirgt, um seine Würde zu wahren (vgl. unten Kap. III Abschn. 5 f); denn Unzucht ist nach der Rechtsprechung Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls des normalen Menschen in geschlechtlicher Beziehung. Darf das Schamgefühl durch Verbreitung von Pornographien verletzt werden, so erhalten die Produzenten der Schamlosigkeit in allen Massenmedien die "Freiheit", die Intimsphäre und die Würde des Menschen anzutasten, damit die Genußsucht befriedigt wird- ein Verstoß gegen die staatliche Pflicht, die Würde des Menschen (Art. 1 Satz 2 GG}, insbesondere seine Intimsphäre (Art. 2 Abs. 1 GG) zu schützen; auch der Jugendschutz wäre praktisch undurchführbar, da Kinder und Jugendliche, wenn grundsätzlich die Verbreitung von Pornographien zugelassen ist, sich leicht den Genuß des für sie verbotenen Giftes verschaffen können. Daß der Staat das bestehende Verbot der Verbrei-

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Il. Die Demokratie

tung von Pornographien z. Zt. nicht mehr durchsetzt, also versagt, ist kein Zeichen dafür, daß es "unglaubwürdig" geworden ist (wie die Regierung in ihrer Begründung der Strafrechtsnovelle meint). Mit derselben Begründung könnte man die Strafbarkeit des Rauschgift-Handels aufheben. Der Staat wird, wenn dies alles als "Recht" gilt, nicht mehr Wächter konstituierender Werte und Ordnungen, die die Klassiker "Ideen" nannten, sondern eine Anstalt sein, die die Befriedigung von Gelüsten je nach dem Tagesmarkt sichert. Mahnmal waren bereits die letzten Juristentage, die die Dämme öffentlicher Moral einrissen, ohne zu prüfen und zu wissen, welche Achtung und welchen Schutz die Würde des Menschen und die Grundrechte (Persönlichkeit, Bekenntnis, Ehe und Familie) unverzichtbar als Grundlagen und Institutionen unserer Gemeinschaft fordern. Mit Recht erblicken die kommunistischen Völker nicht im Schamgefühl, sondern in der öffentlich zur Schau gestellten Schamlosigkeit des Westens eine Dekadenz des Menschentums und halten daher auf strenge Zucht in der Öffentlichkeit - zur Blamage der westlichen Gesellschaft. - Eine Freiheit ohne Zucht - Willkür - vermag nicht den Kommunismus zu überwinden: sie hat keine Überzeugungskraft; an ihr ist noch jede Gesellschaft zugrunde gegangen. Denn Freiheit ist Verantwortlichkeit für das Menschentum. Doch auch die kommunistische Ideologie zerstört Grundlagen des Menschentums und menschlichen Gemeinschaftslebens. Die Berufsarbei der Frau, ihr ökonomischer Wert hat unbedingten Vorrang vor ihren Pflichten als 'Ehefrau und Mutter und verdrängt sie; die Kinder wachsen nicht mehr grundsätzlich in der natürlichen Urgemeinschaft der Familie auf. Die "herrschaftslose" proletarische Gesellschaft wird durch die - materialistisch orientierte - Herrschaft der Funktionäre pervertiert. Immerhin sind in einigen kommunistischen Ländern noch die Gemeinschaftswerte "Volk" und "Vaterland" wirksam (der zweite Weltkrieg ist für die Sowjet-Union der große vaterländische Krieg). Zugleich spalten diese einseitigen Ideologien die Einheit der Menschheit. Jeder hält sein relatives Maß der Freiheit- das der GenußsuchtGesellschaft oder das der Arbeit - für die Wahrheit und verketzert den anderen mit seinem System. Beide verleugnen daher die Würde, zu der der Schöpfer jeden Menschen im Gewissen beruft; sie verleugnen die Ehrfurcht vor den konkreten Menschen in allen ihren Differenzierungen. Beide rüsten zur Verteidigung der "Freiheit" mit Waffengewalt. Aber auch diese "Verteidigung" ist verlogen; sie richtet sich nicht nur gegen die Menschen, die angreifen, sondern zielt mit den heutigen Waffen auf Mord jeglicher Menschen im Machtbereich des Gegners ab, um diese Menschen zu unterwerfen.

12. Das Scheitern der Demokratie: ein Versagen der Menschen

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Die Auflehnung der Jugend gegen die "establishments" unserer Zeit - den Schein=status der Freiheit- ist ein berechtigter Mahnruf; sie sind Bastarde unserer depravierten Gesellschaft, Bastarde der Gerechtigkeit geworden, im Westen wie im Osten. Ihre Ämter werden nicht als Dienst am Menschen, sondern zunehmend als Besitz und Pfründe zur Beherrschung von Menschen mit Macht und Geld angesehen. Aufgabe ist jedoch nicht, establishments zu mißachten und zu zerbrechen, denn ohne etablierte Gewalten, die das Recht determinieren und konkretisieren, um die Gesellschaft zu erhalten, ist gemeinsames Leben unmöglich. Alle Bewegungen, die ungerechte Systeme zerschlugen im Glauben an den guten Menschen, der ohne determinierte Institute öffentlicher Gewalt die wahre menschliche Gesellschaft in Freiheit errichten werde, sind nach entsetzlichen Blutbädern gescheitert (Thomas Münzer, Cromwell, die Jakobiner), oder schließlich doch zu einerneuen staatlichen Ordnung, einem neuen establishmentmit neuen Ungerechtigkeiten gelangt (die Bolschewiken). Der Nationalsozialismus bekämpfte das "System" der Weimarer Verfassung, und Hitler suchte, es durch Kommissare, die ihm persönlich verpflichtet waren, zu ersetzen; das Ergebnis war ein neues System, ein System der Schreckensherrschaft. Freiheit bedeutet nicht, establishments zerbrechen, sondern sie wandeln in ein- und aufgegebene Institutionen der Gerechtigkeit um des Wohls des Ganzen willen. Denn Freiheit ist nicht gestaltlos, sondern Geist Gottes (2. Kor. 3, 17). Institutionen (wie die öffentliche Gewalt) sind die wesenhafte Gestalt der Freiheit, aus der alle Rechtsinstitute, ja, alle Ordnungen folgen. Nur wer, wie Carl Schmitt, die Freiheit als prinzipiell unbegrenzte Betätigungsmöglichkeit, also anarchisch auffaßt, erblickt in der Institution einen Gegensatz zur Freiheit: für ihn fließt die Institution "Staat" aus der "Entscheidung" über die politische Einheit, nicht aus dem freien Geist der Vernunft, der diese Entscheidung bestimmt. Der Sache nach ist keine Freiheit ohne aufgegebene Institutionen; Menschenrechte sind Institutionen und subjektive Rechte zugleich. Die Determinierung durch Begriffe stellt zwar die Institutionen immer nur in bestimmten, durch die Situationen gegebenen Aspekten dar, vermag also nie die Fülle ihres Sinnes zu erfassen. Doch soll jede Determinierung dem rechten Gebrauch der Freiheit dienen. Nicht die Institution, sondern ihr Mißbrauch tötet die Freiheit: die determinierten Institutionen und Ordnungen, insbesondere der Staaten, sind ungerecht, wenn die Menschen, die sie setzen und handhaben, ungerecht sind; sie sind gerecht, wenn die Menschen gerecht sind, d. h. die aufgegebenen Ordnungen des Zusammenlebens - Gottes Gerechtigkeit in ihrem Gewissen tragen. Gerechtigkeit ist eine Tugend des Menschen;

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II.

Die Demokratie

daher war der "bonus vir" Roms zum Richter qualifiziert. Nur durch Wandlung der Menschen kann das Unrecht der Systeme beseitigt werden. Nur eine Gruppe, die in Ehrfurcht vor jedem Menschen, in Güte und Brüderlichkeit lebt, also glaubwürdig den gerechten, geordneten Menschen bezeugt, hat die Überzeugungskraft, ungerechte Systeme und ideologische Wälle, Feindschaften, Haß und Intoleranz durch Gerechtigkeit zu unterwandern und außer Geltung zu bringen so, wie die urchristlichen Gemeinden die Sklaverei unterwanderten (vgl. den Philemon-Brief) und noch heute manche religiöse Gemeinschaften die Systeme der Gesellschaft durch vorbildliche Liebe (Agape) unterwandern. Ein Zwang zur Freiheit und Vollkommenheit aber verknechtet. Nur der geordnete Mensch, der der Gerechtigkeit - nicht bedingten Gütern- dient, führt zur Freiheit und zur Demokratie.

Drittes Kapitel

Die Grundrechte 1. Abschnitt: Die Entwicldung der Menschenrechte und der Grundrechte Mit der Erkenntnis eines allgemeinen status der Freiheit und Verantwortung des Menschen - eines status, der den demokratischen Rechtsstaat konstituiert1 - erschließt sich der verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Sinn der Grundrechte und die Methode ihrer Auslegung. Stellen sie vereinzelte, wenn auch wichtige Rechte des privaten Bereichs dar, die durch Zufälle der Politik und Geschichte Verfassungsschutz erhalten haben, so hat jedes Grundrecht seinen besonderen Sinn, und die logischen Auslegungsprinzipien des Privatrechts - eines Rechts unter Koordinierten - könnten grundsätzlich anwendbar sein. In der Tat mögen in einigen Katalogen der Grundrechte mitunter Rechte aufgeführt sein, die vorwiegend durch besondere politische Konstellationen- nicht durch ihre konstitutive Bedeutung- Verfassungsrang bekamen. Wenn aber echte Grundrechte eine besondere rechtliche Qualität haben, die sie auszeichnet vor anderen Rechten- auch vor anderen in der Verfassung verbürgten Rechtenso sind sie nur von dieser Qualität her zu verstehen. Diese Wertung aufzudecken, ist Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft. Das Bild der Grundrechte, das uns überkommen ist, wurde im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte zweimal grundlegend verändert. Nordamerika verstand und versteht, nach englischen Vorbildern, die angeborenen Rechte des Menschen als unmittelbare Emanationen seiner Freiheit. Die Freiheit stand so sehr im Mittelpunkt des Rechts und des Staatsbewußtseins, daß die "Rechte", die daraus folgten, nicht als Abwehr gegen die öffentliche Gewalt, sondern "as the basis and foundation of government" angesehen wurden1 • Die angeborenen Rechte galten, da sie Spezifizierungen der Freiheit sind, als die Rechtsquelle (foundation), aus der jede staatliche Lenkung und Herrschaft ihre Legitimation schöpfte. Demokratie und Liberalismus waren noch nicht Gegensätze. Dementsprechend stand in der Unabhängigkeitser1

Vgl. oben Kap. li Abschn. 7.

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III. Die Grundrechte

klärung der USA die Freiheit in der Mitte, und die Demokratie wurde unmittelbar aus der Freiheit des Bürgers hergeleitet mit der überzeugendsten Begründung, die die Geschichte kennt- ohne die mystischen Fiktionen Rousseaus - . Menschenrechte waren weder in dieser Erklärung, noch in der Verfassung der USA ausdrücklich aufgezählt: sie waren in der Freiheit enthalten. Erst als die Interpretation der Verfassung durch Gerichte eine juristische Bestimmung der "Rechte" erforderte, wurden in Zusatzartikeln Menschenrechte eingefügt. Die französische Proklamation des Droits de l'Homme et du Citoyen (1789) und die Revolutionsverfassungen Frankreichs haben zwar weitgehend den Wortlaut der nordamerikanischen Vorbilder übernommen, sie aber zu rationalen und doktrinären Definitionen verzerrt und damit ihres vorgegebenen, nicht allgemein bestimmbaren status in der Gemeinschaft beraubt. Als Freiheit galt hier die Willkür des Individuums zum beliebigen Verhalten; sie hatte ihre Grenzen nur an den entsprechenden Rechten anderer. Weder die Freiheit des Einzelnen, noch der Volkswille, die Emanation der Freiheit aller, hatten, wie in den USA, in der Besorgung der gemeinsamen Angelegenheiten ihre Bestimmung und Begrenzung: der Volkswille regierte mit der Allmacht, die nicht irren kann und unwiderstehlich ist; Rousseau hatte ihn mit diesem Mythos des absoluten Königs versehen. Damit standen Staatsherrschaft und Freiheitsrecht des Einzelnen im Widerspruch zueinander. Rousseau hatte ihn damit gelöst, daß er die Freiheit des Einzelnen völlig im Volkswillen (volontee g{merale) aufgehen ließ, also die Geltung von Menschenrechten leugnete. Die französischen Revolutionsverfassungen hingegen ordneten die Menschenrechte dem Volkswillen, der sich im Gesetz äußerte, ein und unter. Damit waren die Menschenrechte in ihr Gegenteil verkehrt: sie gewährleisteten nicht die vorgegebene Freiheit, die die öffentliche Gewalt, auch den Gesetzgeber, gestaltete und legitimierte, sondern wurden von der öffentlichen Gewalt durch Gesetz begrenzt; nicht sie bestimmten das Gesetz, sondern sie wurden durch das Gesetz bestimmt. Sie waren eine Sphäre der Freiheit, deren Grenzen der Staat durch Gesetz festlegte. Das Verhältnis des freien Menschen zum Staate war - und ist - nach französischer Auffassung kontradiktorisch, ein Prozeßverhältnis: der Kampf des freien Menschen mit dem Leviathan. Die Menschenrechte waren nicht die Rechtsgrundlage der staatlichen Herrschaft. Die weitere Verzerrung der Menschenrechte brachte die Charte Ludwigs XVIII. Aus Menschenrechten wurden Grundrechte, die der König als Inhaber aller staatlichen Gewalt den Franzosen gewährte. Diesem Beispiel folgten fast alle konstitutionellen Verfassungen Europas. Das monarchische Prinzip verbot, den staatstragenden Kräften des Bürgertums konstitutive Bedeutung zuzusprechen. Auf Betreiben Metternichs

2. Der Sinn der Grundrechte im Grundgesetz

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wurde der Begriff "Menschenrechte" durch den Terminus "Grundrechte" ersetzt, soweit es noch nicht geschehen war. Die Grundrechte aber hatten nicht mehr - wie die Menschenrechte - ihre natürliche Wurzel in der Freiheit der Menschen; sie waren aus dem Willen des Monarchen abgeleitet. Dieses Bild der Grundrechte blieb im großen und ganzen in Deutschland bis 1919 erhalten. Der Verfassungsentwurf der Faulskirehe ließ die Frage nach dem Wesen der Grundrechte offen, so, wie er auch die Frage nach dem Inhaber der Reichsgewalt - Volk oder Monarch nicht entschied. Erst Friedrich Naumann wagte, der Weimarer Nationalversammlung die Grundrechte als Güter und Werte des Volkes darzustellen; er blieb im wesentlichen unverstanden; doch wurden auf Grund seiner Konzeption bereits "Grundpflichten" anerkannt. Im Jahre 1923 prägte Martin Wolff als erster den Begriff der Institutsgarantie für das Grundrecht des Eigentums2 • Das Reichsgericht legte das vorgegebene Wesen einiger Grundrechte frei. Sodann hat Rudolf Smend3 die Grundrechte als Güter, die das Volk integrieren, erkannt. Erstaunliche Wendungen angesichts des Nebels, der damals seit über 100 Jahren Grundrechte und Menschenrechte verhüllte! 2. Abschnitt: Der Sinn der Grundrechte im Grundgesetz Das Grundgesezt schließlich hat die Wende und Rückkehr zum Wesen der Menschenrechte und Grundrechte vollzogen. Nach Art. 1 Abs. 2 "bekennt" sich das deutsche Volk um der Würde des Menschen willen ("darum") zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten als "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Sie sind demnach auch Grundlage der "staatlichen Einheit", des "staatlichen Lebens" des deutschen Volkes, von denen die Präambel des Grundgesetzes spricht, kurz: Grundlage der Demokratie. Die angeborenen Rechte des Einzelnen können nicht von der Freiheit des Volkes, seine staatliche Gewalt zu gestalten, getrennt werden. Sie haben ihre klassische, konstituierende Bedeutung wieder erlangt; sie sind, wie in den USA, "the basis and foundation of government". Sie sind eingegebene Institutionen jeder menschlichen Gemeinschaft, zu denen sich das Volk nur "bekennen", die es aber nicht erschaffen kann. 2 Martin Wolff, Reichsverfassung und Eigentum (in der Berliner Festgabe für Wilhelm Kahl, 1923) S. 6. 3 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), S. 161 ff.

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III. Die Grundrechte

Der Begriff der "Grundrechte" im Grundgesetz umschließt Menschenrechte, die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Sie enthalten den unantastbaren "Wesensgehalt" (Art.19 Abs. 2 GG) derjenigen Grundrechte, die jedem zustehen. Das Wesen als status jeder Gemeinschaft kommt auch darin zum Ausdruck, daß Art. 1 GG - d. h. die Würde des Menschen, die Menschrechte und die Verbindlichkeit der Grundrechte für die gesamte öffentliche Gewalt - der Verfassungsänderung entzogen ist (Art. 79 Abs. 3 GG). Der Begriff der "Grundrechte" im Grundgesetz enthält ferner die Grundrechte der Deutschen, die sinngemäß als Grundlage jeder deutschen Gemeinschaft zu verstehen sind. Da auch sie einen unantastbaren Wesengehalt nach Art. 19 Abs. 2 GG haben, sind sie vorgegebene unverletzliche und unveräußerliche Rechte, die im statusdes "Deutschen" enthalten sind, den Art. 116 GG bestimmt; als Rechte jedes Menschen sind sie noch nicht allgemein in der Welt anerkannt. Wer die Grundrechte der Deutschen nur als positive vom Staat gewährte Rechte versteht, vermag nicht ihren besonderen Rang als Grundrechte zu erklären, die sie von allen anderen im Grundgesetz vorgesehenen Rechten, z. B. den Ansprüchen der Abgeordneten auf Diäten (Art. 48 Abs. 3 GG) unterscheidet (diese haben keinen unantastbaren Wesensgehalt; daher können sie auf Grund der Geschäftsordnung verkürzt, ja, zeitweise aufgehoben werden). Die Grundrechte schützen die Freiheit in ihren mannigfachen Äußerungen. "Liberty" galt und gilt in den USA, zusammen mit Life und Property, als Wurzel aller Menschenrechte; dabei ist das Leben die Voraussetzung, Eigentum das Mittel der Freiheit. Freiheit aber ist das geistige Substrat, d. h. der Sinn, der alle Grundrechte zu einem einheitlichen System vereint. Sie ist dem Staat vorgegeben, weil sie den Menschen als geistiges Wesen und damit auch den Staat konstituiert. Freiheit hat der Mensch, um den Sinn seines Lebens zu erfassen und zu erfüllen; hierfür ist er verantwortlich. Frei ist er in den Grenzen seiner Veranlagung, seiner Umwelt und seiner Berufung. Freiheit ist nicht ein "Recht" (sondern die Quelle aller Rechte); denn man kann weder die Freiheit, noch den Menschen definieren, d. h. durch Begriffe bestimmen: Freiheit ist Offenheit für jede Möglichkeit sinnvollen Verhaltens. Daher kennt die Europäische Konvention (v. 4. 11. 1950) neben dem Schutze der "Menschenrechte" den der "Grundfreiheiten", "welche die Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden" (Präambel). Im Grundgesetz ist "die Freiheit" nicht ausdrücklich gewährleistet; sie ist jedoch in der Würde des Menschen und in der freien Entfaltung der Persönlichkeit des Art. 2 Abs. 1 GG enthalten. Die Freiheit ist sinnbestimmt. Frei vom Zwang der Natur ist der Mensch, um den Wert und Sinn seines Verhaltens nach eigenem Ermessen zu bestimmen und die Welt danach zu gestalten: Glaube und Ge-

2. Der Sinn der Grundrechte im Grundgesetz

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wissen sind nach Art. 4 GG frei zur Verwirklichung der Aufgaben, die sich dem Glauben und dem Gewissen erschließen; die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen unterworfen {Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), damit sie ausschließlich nach Gerechtigkeit, dem Maßstab der öffentlichen Gewalt, ihr Mandat ausüben4 ; der Richter ist nach Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig, um ausschließlich nach dem Recht zu entscheiden; Forschung und Lehre sind nach Art. 5 Abs. 3 GG frei zur Erkenntnis der Wahrheit durch die Vernunft; die Kunst ist frei {Art. 5 Abs. 3 GG), um verborgene Werte, die der Künstler erschaut, auszudrücken; Wahlen und Abstimmungen sind frei, damit die Wähler und die Abstimmenden sich zur gerechten Bestimmung eines staatlichen Willens vereinen. Auch die Grundrechte sind sinnbestimmt: sie gewährleisten die Würde des Menschen, sein Leben, seine körperliche Unversehrtheit, und sie spezialisieren die Freiheit nach dem Sinn ihrer wesentlichen Äußerungen. Davon hat die Auslegung auszugehen. Wer außerstande ist, als Persönlichkeit sich sinnvoll wertend zu verhalten, ist nicht "mündig" zum Gebrauche der Freiheit und ihrer Gliederungen in den Grundrechten. Die Grundrechte gewähren nicht einen durch Allgemeinbegriffe begrenzten Bereich zum beliebigen Verhalten. Sondern Grundrechte sind Institutionen der Freiheit, in die der Mensch instituiert ist5 ; aus ihnen folgen zahlreiche, im Einzelfalle nach dem Sinn des Grundrechts bestimmbare Rechtsbeziehungen. Die Grundrechte gewährleisten dem Menschen, sein Verhalten gemäß dem Sinne eines Grundrechts nach eigenem Ermessen, d. h . nach eigenem Werturteil zu bestimmen, z. B. die körperlichen Bewegungen {Freiheit der Person), die Entfaltung der Persönlichkeit, die Äußerung von Meinungen, die Befolgung des Gewissens, das Versammeln und Vereinigen, den Gebrauch der Freizügigkeit, die Berufswahl, die Beschwerde, den Gebrauch des Eigentums usw. Ein sinnvolles Verhalten, das nicht in einem speziellen Grundrecht geregelt ist, wird durch den Grundsatz der Freiheit gewährleistet, aus der alle Grundrechte und Rechte hervorgehen. Mit dem Sinn sind auch die Schranken - oder besser Grenzen der Freiheit und daher die Grenzen der Grundrechte, die die Freiheit spezialisieren, bestimmt. Doch wäre eine logische Ableitung der Grenzen aus dem Sinne eines Grundrechts unzulänglich, ja, sie kann sinnwidrig sein, weil der Sinn der gewährleisteten Freiheit nicht ein abstrakt-statischer Begriff des Denkens ist, sondern eine irrationale Wirklichkeit des Lebens und seiner Güter, nämlich eine Gestaltung der Gemeinschaft, wie die Meinungsäußerung oder die Berufsaus4

5

So John Locke, Two Treatises on Govemment, II, 135 am Ende, 136. Vgl. oben Kap. II Abschn. 7, insbesondere Anm. 19.

6 Hamel

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111. Die Grundrechte

übung, oder die höchst-individuelle Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Schon die Voraussetzungen für die Anwendung eines Grundrechts können nur durch rechtliche Wertung der konkreten - individuellen und objektiven - Situation am Maßstab des Grundrechts-Sinnes ermittelt werden (handelt es sich um eine "Meinungsäußerung", um eine "Versammlung", um ein "Bekenntnis"?). Liegen aber die Voraussetzungen, z. B. eine Meinungsäußerung, vor, so wäre das Verhalten bei logischer Auslegung frei. Doch die sinnbestimmten Verhaltensweisen und die gestalteten Werte und Güter integrieren einander und können miteinander kollidieren. Das Gefüge des freien Gestaltens der Menschen ist irrational; seine Ordnung erfordert zunächst ein Werturteil, das den rechtlichen Wert des einen Verhaltens mit dem der anderen abwägt. Das freie, sinnbestimmte Tun des Einen kann - bewußt oder unbewußt - das Gestalten sowie die gestalteten Werte und Güter anderer beeinträchtigen, ja, die Gesellschaft freier Menschen, ihre "Sicherheit" gefährden. Eine Demonstration kann eine andere oder die Freiheit anderer, am Verkehr teilzunehmen, verhindern, sie kann auch die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpfen. Die Ausübung eines Berufes (z. B. als Baumeister oder als Heilkundiger) kann andere gefährden, eine Meinungsäußerung kann in Rechte anderer eingreifen (z. B. sie beleidigen, oder zum Boykott ihres Gewerbes auffordern). Jedes Grundrecht hat daher nicht nur Grenzen, die logisch aus dem Sinne des Grundrechts abgeleitet werden können, sondern es unterliegt auch - da der Gebrauch des Grundrechts jenes irrationale Gefüge der Gesellschaft irrational integriert - "Eingriffen", "Einschränkungen" oder "Beschränkungen" 6 , kurz: Schranken, die logisch dem Sinne des Grundrechts widersprechen; die "Festnahme" und die sonstige "Freiheitsentziehung" (Art. 104 GG) stehen logisch mit der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) im Widerspruch, aber können trotzdem um der Verfolgung einer schweren Straftat oder (bei Geisteskranken) um der Sicherheit willen erlaubt, ja, geboten sein. Das Verbot einer Berufsausübung, das die freie Berufswahl des Art. 12 Abs. 1 GG einschränkt, kann gerechtfertigt sein, wenn sie andere gefährden würde. Der Sinn der Freiheit, die ein Grundrecht gewährt, verpflichtet den Menschen, sich einzugliedern in die gegebene Gemeinschaft, die ihn mit anderen reziprok verbindet, d. h. in die rechtliche Ordnung der Werte und Güter, in denen die Gemeinschaft besteht - so wie das Leben in Gemeinschaft ihm aufgibt, sich in Sprache und Sitten einzufügen - . Die Ausübung eines Grundrechts hat so zu geschehen, daß 8 Vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 2; Art. 6 Abs. 3; Art. 8 Abs. 2 Satz 2; Art. 10 Abs. 2; Art. 11 Abs. 2 ; Art. 12 a Abs. 6; Art. 13 Abs. 2, 3; Art. 14 Abs. 3; Art. 15; Art. 17 a; Art. 104 GG.

2. Der Sinn der Grundrechte im Grundgesetz

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die anderen Werte und Güter der Gemeinschaft, soweit sie gleichen Rang oder den Vorrang haben, geachtet werden: sie schränken die Ausübung eines Grundrechts ein: darin besteht der Sinn des Schrankenvorbehalts in einem Grundrecht. Aber auch Grundrechte ohne Schrankenvorbehalt, ja, "alle Verfassungsbestimmungen müssen . . . so ausgelegt werden, daß sie mit den erkennbaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung vereinbar sind " 7 • Die Verwirkung der Grundrechte, die Art. 18 GG vorsieht, ist nur eine Folge dieser AuslegungsregeL Die freie Berufswahl muß den Anforderungen entsprechen, die notwendig sind, um gleich- und übergeordnete Rechtsgüter zu schützen (z. B. die Ausübung der Grundrechte anderer, die Volksgesundheit, die Ordnung des Rechtswesens oder die des öffentlichen Verkehrs): danach können die persönlichen und die objektiven Voraussetzungen für die Ausübung eines Berufes (als Arzt, Apotheker, Rechtsanwalt, Handwerker usw.) durch Gesetz bestimmt werden. Das Entsprechende gilt von dem Gebrauche jedes Grundrechts. Die sozial gebotenen Einschränkungen eines Grundrechts richten sich somit nach den Situationen; die Substanz jedes Grundrechts ist den jeweiligen Umständen "angemessen". Die Freiheit der Person, das Eigentum oder die Freiheit der Wohnung können sehr eng werden, wenn die Gemeinschaft gefährdet ist, ebenso die Freizügigkeit und die Versammlungsfreiheit in Seuchenzeiten. Um die praktische Bedeutung eines Grundrechts festzustellen, sind daher im Einzelfalle alle Faktoren des gemeinsamen Lebens- Verhaltensweisen, Güter und Gefahren - nach dem Sinne des Grundrechts, dem anderer Grundrechte und sonstiger Rechte am Maßstab der Verfassung und des allgemeinen Rechtsbewußtseins miteinander abzuwägen und voneinander abzugrenzen - eine Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht treffend als "Güterabwägung" bezeichnet. Sie umschließt das Prinzip der Adäquanz oder Verhältnismäßigkeit, d. h. Art und T iefe des Eingriffs sind nur gerechtfertigt, soweit sie unvermeidbar sind, um andere konstitutive Gemeinschaftsgüter vor Nachteilen und Gefahren zu schützen8 • Dieses Werturteil muß allgemein für alle Menschen (oder für alle Deutschen) in gleicher Weise gelten, weil sein Gegenstand die Freiheit ist, die nur allgemein gültigen Gesetzen unterworfen sein kann. Die Grenzen müssen daher ihren Voraussetzungen und ihrem Ausmaß nach durch Gesetz, das für alle gleich gilt, determiniert werden. Denn nur das Gesetz vermag die Wertmaßstäbe allgemein für alle gültig zu bestimmen, wie es das Wesen der Freiheit erfordert. Schranken, die sich nicht aus der logischen Auslegung ergeben - also "Einschränkun7 8

BVerfG. DVBI. 1971, S. 49 (50); vgl. BVerfG. E. 19, 206 (220). BVerfG. E. 7, 377 (407 f.).

III. Die Grundrechte

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gen", "Beschränkungen" und "Eingriffe" - erlangen daher erst durch Gesetz ihre allgemeine Gültigkeit (für alle Menschen oder alle Deutschen). Um diesem Sinne zu genügen, muß das Gesetz, das ein Grundrecht einschränkt, "allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten" (Art. 19 Abs. 1 GG) ("Beschränkungen" und "Eingriffe" sind darin eingeschlossen); die Gleichheit der Voraussetzungen und Folgen für alle muß durch Gesetz gewahrt bleiben (sinngemäß gilt auch Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nur für "Einschränkungen", nicht für Schranken, die schon logisch dem Sinne des Sachverhalts gemäß und daher allgemein sind wie die meisten Begrenzungen durch das Privatrecht: sie brauchen nicht das Grundrecht, das sie begrenzen, zu nennen). Werden Einschränkungen eines Grundrechts durch Gesetze geregelt, so haben Richter und Verwaltungsbeamte die integrierende Bedeutung, die die konkrete Ausübung des Grundrechts hat, mit dem Wert des Rechtsguts, das das Gesetz schützt, abzuwägen. Eine Meinungsäußerung kann im konkreten Fall einen solchen konstituierenden Sinn für die Gemeinschaft verfolgen, daß das vom Gesetz geschützte Rechtsgut dahinter zurücktritt: eine der fundamentalen Erkenntnisse, die das Bundesverfassungsgericht dem Staatsrecht vermittelte9• Unrichtig ist, die allgemeine Geltung, die die Grundrechtsschranken haben müssen (Art. 19 Abs. 1 BG), im rationalen Sinne, d. h. als abstrakt-mathematische Allgemeinheit (Unbestimmtheit der Fälle) zu verstehen: Rudolf Smend hatte bereits auf der Staatsrechtslehrer-Tagung 1927 die entscheidenden Gesichtspunke herausgestellt und Erich Kaufmann hatte sie vertieft. Die Grundrechte gewährleisten nicht eine abstrakte, gedachte Freiheit, sondern die praktische Freiheit zu einem konkreten sinnbestimmten Verhalten. Entscheidend ist daher nicht die gedachte arithmetische Allgemeinheit, sondern die allgemeine Gültigkeit der Schranken für alle. Diese Bedeutung der "Allgemeinheit" ergibt sich schon klar aus dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG; er verlangt, daß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall "gelten" müsse: die rechtliche "Geltung" muß allgemein sein, d. h. das Gesetz muß für alle Menschen - oder für alle Deutschen - als Recht gelten. Nicht auf die bestimmte oder unbestimmte Zahl der betroffenen Fälle kommt es an, sondern die Voraussetzungen müssen nach einem für alle gültigen Maßstab bestimmt sein, der die Einschränkung nach allgemeiner Rechtsauffassung rechtfertigt, mag auch voraussichtlich nur ein bestimmter Fall diese Voraussetzungen erfüllen. Daher ist die sog. Iex Schörner gültig10• Das Entsprechende gilt von den "allgemeinen" Gesetzen, die der Freiheit der Meinungsäußerung er8

to

BVerfG. E. 7, 198 (208 ff.) (Lüth-Fall). BVerfG. E. 7, 129 (150 ff.).

2. Der Sinn der Grundrechte im Grundgesetz

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richtet werden können (Art. 5 Abs. 2 GG, davon unten Abschn. 5 d). Die Begriffe "Allgemeinheit" und "Öffentlichkeit" im Sinne der arithmetischen Unbestimmtheit haben nur im Strafrecht Bedeutung; denn das Strafrecht definiert den strafbaren Tatbestand allein nach den Kategorien des Verstandes, damit er eindeutig ist für jedermann, also die strafbare Handlung dem Täter als Schuld zugerechnet werden kann. Dem Gesetzgeber sind, wenn er die Schranken eines Grundrechts und damit dessen Inhalt - regelt, absolute Grenzen gesetzt. Er muß den Sinn des Grundrechts wahren, d. h. seine Regelung muß eine mögliche Determinierung des Sinnes- und damit eine mögliche Determinierung der Freiheit- sein. Insbesondere darf die "Einschränkung" des Grundsatzes, mit dem das Grundrecht die freie Sinnbestimmung definiert, nur eine durch besondere Umstände gerechtfertigte Ausnahme sein. Das Grundrecht enthält somit einen unantastbaren Kern: das geistige Substrat des Sinnes. Es ist unabdingbare Voraussetzung der Freiheit, kann also nicht Gegenstand einer rechtlichen Beschränkung sein; es ist der "Wesensgehalt", dessen Unantastbarkeit Art. 19 Abs. 2 GG ausdrücklich feststellt. Der Sinn eines Grundrechts kann durch Qualifizierung der konkreten Umstände ausgelegt werden - darin besteht die Aufgabe der Güterahwägung - aber er darf nicht verletzt werden. Auch dieser unantastbare Wesensgehalt ist, da er im geistigen Substrat eines Sinnes besteht, nicht statisch-quantitativ, sondern "angemessen" zu begreifen; er besteht nicht darin, daß ein kleinster Bereich an Wahlfreiheit "übrig bleibt". Es entspricht dem sozialen Sinne eines Grundrechts - also auch seines Wesensgehaltes - zurückzutreten, soweit gleich- oder übergeordnete Rechtsgüter es zwingend gebieten. Auch der Wesensgehalt von Grundrechten kann sich unter besonderen Umständen verengen. So hat das Bundesverfassungsgericht treffend- im Gegensatz zum Bundesverwaltungsgericht - ausgesprochen, daß die freie Berufswahl "zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" durch objektive Schranken so weit eingeschränkt werden kann, daß einem Einzelnen der Zugang zu einem Berufe gänzlich versperrt wird11 • Kann doch die Gemeinschaft zu ihrer Verteidigung sogar den Einsatz von Freiheit und Leben fordern! Wesensgehalt und Schranken integrieren sich einander. Denn der Wesensgehalt eines Grundrechts hat eine Funktion im System der Rechtsgüter, die die Gemeinschaft konstituieren; er gestaltet dieses System und wird selbst von ihm gestaltet: die organische Reziprozität, die alle Teile des Gemeinschaftslebens kennzeichnet 11

BVerfG. E. 7, 377 (407 f.).

86

III. Die Grundrechte

und die das Bundesverfassungsgericht für die Abwägung des geistigen Gewichts eines Grundrechts mit dem eines beschränkenden Gesetzes herausgestellt hat. Niemals können einem Grundrecht Einschränkungen gesetzt werden, die nicht durch seinen Sinn, sondern durch Gesichtspunkte außerhalb seines Wesens bestimmt sind. Es gibt weder Eingriffe in den Wesensgehalt, noch "Vorbehaltsschranken", "die den als feststehend angenommenen Inhalt der einzelnen Grundrechte ... einengen" 12• Solche Anschauungen gehen von einem statisch-geometrischen Inhalt der Grundrechte aus, der nicht ihrem Wesen entspricht. Sind Menschenrechte "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" (Art. 1 Abs. 2 GG) und sind Grundrechte der Deutschen Grundlage jeder deutschen Gemeinschaft, formt also der freie Mensch Gemeinschaft und Staat, so kann es nur immanente, d. h. aus dem Sinn der Grundrechte folgende Schranken geben, nie aber können der Freiheit nach anderen Kriterien von der Gemeinschaft Schranken errichtet werden. Die immanenten Grenzen eines Grundrechts können sich logisch aus dem Sinne des Grundrechts, seiner Geltung für alle ergeben: damit die Freiheit des einen mit der des anderen zusammen bestehen kann. Die immanenten Schranken eines Grundrechts können aber auch aus dem System der Grundrechte folgen, d. h. ein Grundrecht kann seinem Werte nach im konkreten Falle durch Grundrechte anderer eingeschränkt sein, ja, hinter ihnen zurücktreten, z. B. die Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und Bindung an Verträge hinter der Gewissensfreiheit. Die Schranken eines Grundrechts können schließlich auch im System des Rechts, d. h. in anderen Bestimmungen des Grundgesetzes oder in einfachen Gesetzen zum Schutze gleich- oder übergeordneter Rechtsgüter errichtet sein; denn das ganze Recht hat die einheitliche Ordnung der Freiheit zum Inhalt. Stets folgen die Schranken eines Grundrechts aus seinem eigenen verfassungsrechtlichen Sinn, aus seiner integrierenden Bedeutung für die Gemeinschaft im konkreten Falle. Das Grundrecht selbst schützt nicht die Antastung von Rechtsgütern, die nach dem Grundgesetz oder nach allgemeiner Rechtsanschauung bei der Ausübung des Grundrechts zu achten sind. Diese "Güterabwägung" hat immer nur den konkreten Fall im Auge. Denn die Gerechtigkeit, aus der sie folgt, ist nicht eine allgemein zu definierende Regel, nicht eine objektive Norm oder ein allgemeines Prinzip, sondern nur der Mensch in seinem Verhalten kann gerecht sein (er ist gerecht, wenn er das Seinige und nur das Seinige tut) 13• Ein Grundrecht ist nicht eine generelle Regel, die anderen Grundrechten 12 v. Mangoldt- Klein, Das Bonner Grundgesetz I, 1957, S. 129. Zutreffend hingegen: P. Häberle, a.a.O., S. 51 ff., 58 ff. 13 Oben Kap. li Anm. 11.

2. Der Sinn der Grundrechte im Grundgesetz

87

oder sonstigen Rechten übergeordnet wäre, sondern Güterahwägung heißt, das konkrete Verhalten dahin zu werten, ob es dem im Grundrecht gesicherten Wert entspricht oder nicht. Wann die Menschenwürde, das oberste Rechtsgut, verletzt ist, läßt sich nicht generell sagen, "sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles" 14• Das konkrete Verhalten ist das Gut, das gegenüber anderen Gütern und Werten abzuwägen ist, um festzustellen, ob und in welchem Umfange es von einem Grundrecht gewährleistet, also ein Rechtsgut ist. Daher kann die Ausübung eines Grundrechts, obwohl es dem Privatrecht vorgeordnet ist, durch die Ausübung eines privaten Rechts (z. B. eines Gewerbebetriebes) eingeschränkt werden: eine geäußerte Meinung, die nur den privaten Bereich betrifft, darf nicht zum Boykott eines Gewerbebetriebes auffordern. Die Begriffe "Vorrang" und "Überordnung" entsprechen im allgemeinen nicht der Güterabwägung. Grundsätzlich handelt es sich darum, die Grenze zu finden, die es erlaubt, daß die Rechtsgüter zusammen entfaltet werden können. Die Frage des "Vorrangs" oder der "Überordnung" taucht nur in dem extremen Falle auf, daß Rechtsgüter sich einander ausschließen: wenn z. B. eine Meinungsäußerung, die auf Formung der öffentlichen Meinung abzielt, nicht anders als unter Verdrängung eines anderen Gutes kundgetan werden kann (Lüth-Fall), oder wenn der Spruch eines Gewissens nicht anders als unter Durchbrechung vertraglicher Pflichten erfüllt werden kann, oder wenn die Zulassung zu einer Berufsausübung zum Schutze konstitutiver Rechtsgüter nach objektiven Maßstäben derartig limitiert werden muß, daß ein einzelner geeigneter Bewerber vom Berufe ausgeschlossen wird15. Daher errichten die "öffentliche Sicherheit und Ordnung", die die Polizei- und Ordnungsgesetze schützen, nicht mehr unbedingt der Freiheit Schranken. Denn auch die Grundrechte, die die Freiheit gewährleisten, gehören zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung und treten, ihrer konstitutiven Bedeutung entsprechend, nur zurück, wenn und insoweit ihr Gebrauch im konkreten Falle ein anderes gleich- oder übergeordnetes Gemeinschaftsgut gefährdet. Daher zählen einige Grundrechte (Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2 und 3 GG) die Kriterien auf, die die Errichtung von Schranken rechtfertigen; sie sind im übrigen "polizeifest". Für die anderen Grundrechte ist die Güterahwägung mit der bedrohten öffentlichen Sicherheit und Ordnung im einzelnen Falle durchzuführen. Die Bedeutung eines Grundrechts in diesem System wird demnach nicht durch einen statisch definierbaren Sinn bestimmt, der nach und 14 15

BVerfG. DVBl. 1971, S. 49 (52). Oben Kap. III Anm. 9, 11.

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III. Die Grundrechte

nach - wie etwa die polizeilichen Aufgaben - durch die Rechtsprechung eine rationale gleichbleibende Gestalt erhalten könnte. Der verfassungsrechtliche Sinn der Freiheit- und damit auch der Sinn jedes Grundrechts- stellt vielmehr ständig neue sozialpolitische Aufgaben, die Zukunft nach Maßstäben sozialer Gerechtigkeit zu gestalten. Denn die Freiheit ist kontingent, d. h. jede Entscheidung setzt einen neuen Anfang - sei es zur Überwindung eines überständigen establishment, sei es zu dessen weiterer Verkrustung - . Wichtig ist heute insbe-· sondere die Frage, welcher Rang dem Eigentum zukommt, wenn es mit anderen Rechtsgütern, insbesondere der freien Entfaltung der Persönlichkeit, kollidiert. Die Schwierigkeiten, die der Mitbestimmung, der Wahrung der Pressefreiheit, oder dem Städtebaugesetz entgegenstehen, stellen die Aufgabe, die Bedeutung des Eigentums in unserem sozialen Rechtsstaat neu zu erfassen (unten Abschn. 5 k). 3. Abschnitt: Grundrechte und Privatrecht

Grundrechte determinieren nicht nur für die öffentliche Gewalt eine unübersteigbare Grenze. Menschenrechte sind "unverletzlich und unveräußerlich" für jedermann (Art. 1 Abs. 2 GG), aber auch die Grundrechte der Deutschen haben einen unantastbaren Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG). Widersinnig ist die Ansicht, daß dieser Schutz nicht gegenüber privaten Mächten bestehe. Menschenrechte liegen in der "unantastbaren" Würde des Menschen beschlossen (vgl. "darum", Art. 1 Abs. 2 GG). Die Würde des Menschen aber ist von aller staatlichen Gewalt nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), d. h. zu schützen vor anderen als staatlichen Mächten. Also sind auch Menschenrechte (die in der Würde des Menschen enthalten sind) unantastbar für jedermann, nicht nur für die öffentliche Gewalt. Sie sind "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" (Art. 1 Abs. 2 GG), also auch Grundlage jeder Gemeinschaft des Privatrechts (auch jeder Vertragsgemeinschaft). Für die Grundrechte des Deutschen gilt sinngemäß das Entsprechende. Grundrechte sind geistige Substrate der Freiheit, Institutionen, aus denen alles Recht hervorgeht. Man kann nicht diese Institutionen in Relationen unter Subjekten ("Drittwirkung") auflösen: eine Verkümmerung des juristischen Denkens! Schon der Kauf ist nicht ein Bündel zahlloser Rechte und Pflichten, sondern ein einheitliches Institut, aus dem Rechte und Pflichten folgen. Ein Grundrecht ist nicht bloß ein subjektives Recht, sondern ist - da es die Freiheit schützt - die Quelle, aus der Rechte und Pflichten entspringen. Grundrechte gewährleisten auch nicht positivrechtliche Einrichtungen (der Ehe, des Eigentums, der Selbstverwaltung der Gemeinden nach Art. 28 Abs.1 GG, der akademischen Selbst-

3. Grundrechte und Privatrecht

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verwaltung usw.). Sondern sie sind Institutionen der freien Menschheit; sie sichern die Freiheit zur Gestaltung der ehelichen Gemeinschaft, zum Gebrauch des (richtig verstandenen) Eigentums, die Freiheit der Gemeinden, des Künstlers, des Forschers, des akademischen Lehrers usw. Die positiv rechtliche Einrichtung, das establishment, kann die Freiheit töten. Freiheit und Freiheitsrechte konstituieren das ganze Recht (das eine Einheit ist), nicht nur das öffentliche Recht, mag sich dieser Sinn auch historisch zuerst gegenüber der öffentlichen Gewalt im status negativus offenbart haben. Das Bundesverfassungsgericht sagt daher: "Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften"; " . . . so wird bestehendes älteres Recht inhaltlich auf dieses Wertsystem ausgerichtet". Der Richter habe zu prüfen, ob die zivilrechtliehen Vorschriften in dieser Weise "grundrechtlieh beeinflußt sind"; er habe "die sich hieraus ergebenden Modifikationen des Privatrechts zu beachten" 16• Auch danach ist die Vorstellu.ng einer "Drittwirkung" unrichtig. Die Grundrechte wirken nicht erst mittelbar durch die öffentliche Gewalt auf das Privatrecht ein, insbesondere nicht dadurch, daß die öffentliche Gewalt, wenn sie das Privatrecht determiniert, nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist. Der Richter und der Verwaltungsbeamte können die Grundrechte im Privatrecht nur anwenden, wenn sie bereits im Privatrecht gelten; weder der Richter, noch der Verwaltungsbeamte können sie von sich aus in das Privatrecht einschleusen. Nur deshalb, weil sie das Privatrecht "ausrichten", "beeinflussen" und zu "Modifikationen" des Privatrechts führen, können sie dort angewendet werden. Bedenklich ist aber auch, die Grundrechte im Privatrecht nur durch das "Medium" privatrechtlicher Normen (gute Sitten, Treu und Glauben, usw.) zur Geltung kommen zu lassen. Man kann nicht den allgemeinen und grundsätzlichen status des Menschen (oder des Deutschen) in dessen privaten Bereich nur durch Linsen privatrechtlicher Normen einblenden, die spezifisch privatrechtliche Funktionen zu erfüllen haben. Diese Erörterungen verkennen jene Einheit des Rechts, dessen Grundsätze (z. B. Treu und Glauben) öffentliches und privates Recht beherrschen; die Differenzierungen des öffentlichen Rechts vom privaten hat nicht im Wesen des Rechts, sondern in unserer positiven Rechtsentwicklung ihren Grund (das angloamerikanische Recht, das nicht vom Absolutismus gestaltet wurde, kennt sie grundsätzlich nicht). Das Verfassungsrecht enthält daher Grundsätze - u. a. Grundrechte -, die für beide Rechtszweige, für jede menschliche Gemeinschaft gelten (vgl. Art. 1 16

BVerfG. E. 7, 198 (205 f.).

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III. Die Grundrechte

Abs. 2 GG). Auch das Bundesverfassungsgericht sagt, der Einfluß grundrechtlicher Wertmaßstäbe werde sich "vor allem" bei den zwingenden Rechtsvorschriften geltend machen, und zur "Realisierung dieses Einflusses böten" sich "vor allem" die Generalklauseln an17; das Gericht läßt also offen, ob das Privatrecht auch auf andere Weise durch Grundrechte modifiziert sein kann. Alle privatrechtliehen Normen können durch Grundrechte beeinflußt werden. Das Grundrecht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit hat das Privatrecht - den Schutz der Intimsphäre - wesentlich verändert18. Durch Art. 14 Abs. 2 GG ist der Inhalt des privaten Eigentums (§ 903 BGB) und anderer privater Vermögenswerte umgestaltet. Das Briefgeheimnis (Art. 10 GG) und die Freiheit der Wohnung (Art. 13 GG) sind Rechtsgüter des Privatrechts, die eine verfassungsrechtliche Gestalt erhielten. Das gleiche gilt vom Privat- und Familienleben, das nach Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte zu achten ist. Privatrechtliche Institute können durch die Verfassung modifiziert, z. B. die Vertragsfreiheit durch andere Grundrechte eingeschränkt sein, wie sich in der Kontroverse über die Bedeutung der Gewissensfreiheit für private Rechtsverhältnisse zeigt. Wenn Grundrechte ausdrücklich den Schutz vor privaten Mächten regeln, so wird nur ihr immanenter Sinn klargestellt, weil die Gefährdung besonders groß ist: so determinierte die Weimarer Verfassung die Freiheit der Meinungsäußerung dahin: "An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Angestelltenverhältnis hindern und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht" (Art. 118). Dieser Satz liegt in der sozialpolitischen Bedeutung des Grundrechts beschlossen; daß er im Art. 5 Abs. 1 GG nicht aufgenommen wurde, bedeutet also keine Veränderung des Grundrechts. Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden (Art. 9 Abs. 3 GG), hat seinen besonderen Sinn darin, daß es - im Unterschied zur allgemeinen Vereinigungsfreiheit - privaten Rechten, insbesondere der Vertragsfreiheit vorgeht: diese Güterahwägung hat das Grundgesetz selbst vorgenommen. Auch in privatrechtliehen Gemeinschaften müssen die Grundrechte beachtet werden. Soweit Beschlüsse durch Stimmen-Mehrheit gefaßt werden können (etwa in einer Gemeinschaft von Wohnungseigentümern), muß z. B. die Gleichheit gewahrt werden: am Gemeinschaftseigentum, das zur gemeinsamen Nutzung aller bestimmt ist (z. B. an einem Hof) dürfen keinem durch Mehrheitsbeschluß Rechte eingeräumt werden, die die anderen von der entsprechenden Nutzung ausschließen. 17

18

BVerfG. E . 7, 198 (206). Vgl. BGHZ. 13,334 (338) ; 26, 349 (354).

4. Die Grundrechtsmündigkeit

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Da die klassischen Grundrechte der freien unverkümmerten Existenz des Menschen nur unzulänglich Schutz gegenüber privaten Mächten gewähren und daher den sozialpolitischen Sinn der Grundrechte nicht erfüllen, werden soziale Grundrechte als Institute der Gemeinschaft gefordert. 4. Abschnitt: Die Grundrechtsmündigkeit

Der Mensch kann den status der Freiheit, in den er instituiert ist, nur ausüben, wenn er mündig, d. h. reif ist, den rechten Gebrauch zu erkennen und danach zu handeln. Wer seines Alters wegen noch nicht mündig ist, befindet sich im status der Erziehung, die als "natürliches", d. h. angeborenes (nicht gesetztes) Recht seiner Eltern unter den Grundrechten (Art. 6 Abs. 2 GG) aufgeführt ist. Die "anti-autoritäre" Erziehung - die die Notwendigkeit der Zucht bestreitet - übersieht den Mangel an Einsicht und Zucht des Willens, der die Unmündigkeit begründet: Kind und Jugendlicher können noch nicht Recht von Unrecht unterscheiden und danach ihren Willen lenken. Die Heranbildung hierzu erfordert die persönliche Autorität eines Vorbildes (nicht unbedingt Diktat und Zwang). Die Mündigkeit richtet sich nach der Individualität des Jugendlichen, doch kann sie auf Grund allgemeiner Lebenserfahrung durch Gesetz bestimmt werden. Die Normen des BGB über die Volljährigkeit und die Geschäftsfähigkeit regeln die Mündigkeit für den Rechtsverkehr mit äußeren Gütern, für die "Geschäfte". Sie gehen von der Reife des Intellekts aus, die diesen Rechtsverkehr beherrscht, und sind daher angemessene Ausführungsvorschriften zum Grundrecht des Eigentums, d. h. der privaten Vermögensgüter. Die Bedeutung höchstpersönlicher Güter und Werte - Gegenstand der meisten Grundrechte - ist jedoch nur der Seele zugänglich: sie wird intuitiv durch wertendes Empfinden - nicht vermittelt durch den Verstand- erfaßt. Jeder Eingriff in diese Güter und Werte- sei es auch durch die Eltern - berührt den Kern der Persönlichkeit und kann deren Entfaltung hemmen; er sollte daher nicht einseitig diktiert werden, sobald das Bewußtsein vom eigenen Ich sich zu regen beginnt: der Erziehungsberechtigte sollte um Verständnis des Kindes oder Jugendlichen für die Anordnungen bemüht sein. Nur so kann eine Seele und ein Geist reifen. Daher erfordern die Verträge über Berufsausbildung und Dienste besondere Bestimmungen für Kinder und Jugendliche; aus dem gleichen Grunde durchbrechen zahlreiche familienrechtliche Vorschriften die allgemeinen Regeln der Volljährigkeit und der Geschäftsfähigkeit in Angelegenheiten, die nicht nur

III. Die Grundrechte

92

den geschäftlichen Verkehr zum Inhalt haben. Darüber hinaus sollten alle Entscheidungen, die die seelische, geistige oder körperliche Entwicklung von Kindern beeinflussen, grundsätzlich nicht ohne deren Einwilligung von den Erziehungsberechtigten getroffen werden, sobald das Bewußtsein der eigenen Individualität im Kinde sich entfaltet, z. B. Entscheidungen über die Vornahme von Operationen, die nachteilige Folgen haben können, über das öffentliche Auftreten der Kinder (Artisten- und Wunderkinder, Mißgeburten), oder Entscheidungen, die die Berufswahl berühren. Einige Gesetze sehen bereits eine solche Regelung vor19• Zum mindesten sollte das Kind oder der Jugendliche angehört (vgl. § 1827 BGB) und nur aus schwerwiegenden Gründen sollte von seiner Auffassung abgewichen werden. Das Gesetz sollte dem Minderjährigen die Möglichkeit eröffnen, gegen die Entscheidung der Eltern das Vormundschaftsgericht anzurufen, das in allen Fällen, die die seelische, geistige und körperliche Integrität des Minderjährigen beeinträchtigen, entscheidet, wenn Einigungsversuche gescheitert sind. Die Unterbringung der Minderjährigen in einer geschlossenen Anstalt gegen oder ohne deren Willen dürfte schon jetzt nach Art. 104 Abs. 2 GG von einer vorherigen, richterlichen Entscheidung abhängig sein; da die Gesetze die Regelung vieler vermögensrechtlicher und personenrechtlicher Angelegenheiten mit weit geringerer Bedeutung von einer vormundschaftsgerichtliehen Zustimmung abhängig machen, wäre es unter der Herrschaft des Art. 104 Abs. 2 GG sinnwidrig, einen derart schwerwiegenden Eingriff in die persönliche Freiheit von der präventiven richterlichen Kontrolle auszunehmen20• Schließlich ist zu beachten, daß nach Art. 6 Abs. 2 GG das Grundrecht der Erziehung nur zu dem Zwecke der "Pflege und Erziehung der Kinder" von den Eltern ausgeübt werden kann; Entscheidungen, die erkennbar nicht diesem Zwecke dienen, sind ein Mißbrauch der elterlichen Gewalt und daher vom Vormundschaftsgericht abzuändern: wird einer Minderjährigen die Zustimmung zur Heirat von den Eltern nur deshalb verweigert, weil die Eltern die Arbeitskraft ihres Kindes benötigen, so ist die Zustimmung gemäß § 3 Abs. 3 EheG zu ersetzen. Wird der Beginn der Mündigkeit und der Beginn der bedingten Mündigkeit (bedingt durch die Zustimmung der Erziehungsberechtigten) generell durch Gesetz bestimmt, so sollte er für alle Rechte, die die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit betreffen, einheitlich fest19 z. B. § 5 Satz 2 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung vom 15. 7. 1921, und Art. 8 Abs. 1 Satz 2 des Gleichberechtigungsgesetzes vom

18. 6. 1957. 20

Im Ergebnis ebenso: Gustav Kuhn, Grundrechte und Minderjährigkeit

61965) S. 81 f. Das BVerfG. hat diese Frage noch nicht entschieden: E. 10, 302 (328 f .).

4. Die Grundrechtsmündigkeit

93

gelegt werden. Denn die Persönlichkeit ist eine Einheit, und auch die Erziehung der noch unreifen Persönlichkeit zur Reife muß ihr eine einheitliche Gestalt verleihen. Insbesondere können die Entscheidungen des Gewissens, des Kerns der Persönlichkeit, nur durch einheitliche Werturteile bestimmt werden, sei es vom Erziehungsberechtigten, sei es vom Kinde oder Jugendlichen, sei es von beiden gemeinsam. Unsinnig ist, daß § 5 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung vom 15. 7. 1921 (RKEG) die Mündigkeit zur Entscheidung über das religiöse Bekenntnis mit der Vollendung des 14. Lebensjahres eintreten, im übrigen aber die Erziehungsrechte der Eltern - auch die religiöse Beeinflussung - bestehen läßt; das Bundesverwaltungsgericht sagt dazu21 : "Es braucht hier nicht entschieden zu werden, ob diese Vorschrift unter der Geltung des Grundgesetzes überhaupt noch Bestand hat", zweifelte also an der Gültigkeit. Mit welchem Alter nach allgemeiner Lebenserfahrung die volle Reife in Gewissensfragen beginnt und damit die Erziehung endet, läßt das Jugendstrafrecht erkennen. Danach ist der Jugendliche in der Regel bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres noch erziehungsfähig und erziehungsbedürftig: das Jugendstrafrecht sieht Erziehungsmaßregeln vor, und nur wenn diese nicht ausreichen, die Verhängung von Zuchtmitteln oder Jugendstrafen. Die volle Strafrechtsmündigkeit, die eine Erziehung ausschließt, beginnt nach dem Gesetz in der Regel erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Sie aber hat dieselbe Wurzel wie die Religionsmündigkeit: die Reife des Gewissens. Ebenso gehen das Gesetz zum Schutze der Jugendlichen in der Öffentlichkeit (vom 27. 7. 1957) und das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (vom 29. 4. 1961) davon aus, daß Jugendliche vor Vollendung des 18. Lebensjahres noch nicht die sittliche Reife haben, selbständig schädliche Einflüsse im Gewissen zu werten und abzuwehren, also nicht voll mündig sind; nach dem erstgenannten Gesetz können daher unter Umständen Erziehungsmaßnahmen verhängt werden. Treffend sagen Maunz Dürig: "Wer noch nicht wertend unterscheiden kann, ist nicht grundrechtsmündig im Sinne des Gewissensgrundrechts gemäß Art. 4 Abs. 1 GG22." Eben dies aber ist das Kriterium, nach dem sowohl das Jugendstrafrecht als auch die letztgenannten beiden Jugendschutzgesetze den Eintritt der Mündigkeit und damit das Aufhören der Erziehung bestimmen. Die Mündigkeit zur Ausübung der Gewissensfreiheit beginnt daher nach deutschem Recht mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Kein sachlicher Grund ist ersichtlich, der es rechtfertigt, die Religionsfreiheit (die nach säkularer Auffassung von der Gewissensfreiheit umschlossen wird) hiervon auszunehmen, d. h. die 21

22

BVerwG. E. 15, 138; vgl. BGHZ. 21, 353. Das Grundgesetz, Komm., Anm. 20 zu Art. 19 Abs. 3.

94

III. Die Grundrechte

Mündigkeit zur Ausübung der Religionsfreiheit bereits mit 14 Jahren eintreten zu lassen. Mit dem Abschluß der Volksschule (an den § 5 Satz 1 RKEG und ältere Vorbilder anknüpfen) mögen die intellektuellen Grundlagen des Verstandes zur Bewältigung des rechtsgeschäftlichen Verkehrs gelegt sein; ein Kriterium für die Fähigkeit, Gewissensfragen wertend zu beurteilen, liegt darin keinesfalls. Das Entsprechende gilt für den üblichen Zeitpunkt der Konfirmation; er ergab sich aus dem Ende des Schulbesuches, nicht aus Gründen der religiösen Erkenntnis, und ist daher heute äußerst umstritten. Mit Recht haben bereits vor der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland die Verfassungen von Bayern, von Rheinland-Pfalz und vom Saarland § 5 RKEG dahin abgeändert, daß Jugendliche erst von Vollendung des 18. Lebensjahres ab berechtigt sind, die Teilnahme am Religionsunterricht - in Bayern auch die Teilnahme an kirchlichen Handlungen und Feierlichkeiten- abzulehnen. § 5 Satz 1 RKEG verletzt die Einheit des Gewissens, das nach dem deutschen Recht in der Regel erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres- nicht des 14. Lebensjahres- reif zu wertenden Entscheidungen, also zur Mündigkeit ist. Diese Bestimmung steht daher mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG im Widerspruch. Sie verletzt zugleich die natürliche Einheit der Erziehung, die Art. 6 Abs. 2 GG den Eltern als ihr natürliches Recht und zuvörderst ihnen obliegenden Pflicht gewährleistet. Man kann aus der Erziehung nicht die Grundlage- das religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis - herausbrechen, ohne die ganze Erziehung in Frage zu stellen23 ; denn jede sittliche Reife, zu der die Erziehung heranbildet, wurzelt in einem religiösen Glauben oder einem moralischem Glauben. § 5 Satz 1 RKEG ist somit verfassungswidrig.

Soweit ein Recht die unmittelbare Gestaltung der staatlichen Gemeinschaft zum Inhalt hat, kann die Befähigung zu solcher Aufgabe von einem höheren Alter als dem der allgemeinen Mündigkeit abhängig gemacht werden: so das aktive und das passive Wahlrecht, oder das Recht zur Bekleidung bestimmter Staatsämter. Denn sie erfordern über die Mündigkeit hinaus in besonders hohem Maße Reife des Verstandes und der Urteilskraft - Eigenschaften, die um der gemeinsamen Existenz willen den Vorrang vor der allgemeinen Reife der Persönlichkeit, insbesondere ihres Gewissens haben. Reif zur politischen Gestaltung durch Wahlen und Abstimmungen ist, wer nicht bloß die eigenen, insbesondere wirtschaftlichen Angelegenheiten ordnen kann, sondern sich der Verantwortung für andere, auch über den Kreis seiner Familie und Freunde hinaus, bewußt ist und danach die gemeinsame 2 3 Treffend OVG Koblenz, J.Z. 1957, 217, und Peters in: Bettermann- Nipperdey- Scheuner, Die Grundrechte, IV, 1, S. 394.

5. Die Systematik der Grundrechte

95

Existenz gerecht zu ordnen vermag. Eine paradoxe Erscheinung der Geschichte ist, daß man in der jetzigen Zeit, in der sich diese seelische und geistige Reife nach dem Urteil von Jugend-Psychologen spät vollendet, das Wahlalter herabsetzt. Wenn dies aber geschieht, so ist die Grundrechtsmündigkeit für die Gewissens-, die Religions-, die Meinungs-, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit entsprechend zu regeln; denn diese Grundrechte sind die Quelle, aus der die Entscheidung bei Wahlen und Abstimmungen entspringt24, aber auch die Mündigkeit für Petitionen hängt eng damit zusammen, so daß sie ebenso festzusetzen ist. 5. Abschnitt: Die Systematik der Grundrechte Die Systematik der Grundrechte zu untersuchen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Staatsrechtswissenschaft Dabei sind nur solche Unterscheidungen und Gliederungen zulässig, die sich aus dem Sinn der Grundrechte selbst ergeben. Verfehlt ist daher, abstrakt begrifflich "Rechtsgrundsätze" und "Rechtssätze" zu unterscheiden, ohne zu prüfen, ob solche Differenzierung der praktischen Bedeutung der Grundrechte im System des Grundgesetzes entspricht. Sie geht auf die rational beschränkte Anschauung zurück, die "Recht" nur in determinierten Rechtssätzen erblickt. Ein Grundrecht ist nicht ein Bündel von Rechtsbeziehungen, die durch einen Rechtssatz zusammengerafft und aus ihm abzuleiten sind. Sondern jedes Grundrecht hat einen einheitlichen, durch seinen Sinn bestimmten rechtlichen Grundsatz (Substrat): es gewährleistet ein sinnbestimmtes Verhalten, das die gemeinsame Existenz integriert und konstituiert. Es ist eine verfassungsrechtliche Institution der Gemeinschaft. Aus dieser Bedeutung - dem einheitlichen geistigen Substrat - folgen Rechtssätze, Rechte und Rechtspflichten, die sich nie rational-allgemein für alle Situationen bestimmen und sich daher auch nie allein nach den Prinzipien der Logik aus dem Grundrecht ableiten lassen. Die Ansprüche und Pflichten, die aus dem Gebrauch des Eigentums entstehen, ergeben sich aus dem Sinn des Eigentums in der konkreten Situation der Gemeinschaft. Das Entsprechende gilt vom status der Freiheit der Meinungsäußerung, ja, von jedem status. Die Rechte und Pflichten, die ein rechtlicher status hervorbringt, sind immer nur aus ihrer Sinnbezogenheit zum Ganzen zu verstehen. Somit sind alle Grundrechte Rechtsgrundsätze. Aber die meisten Grundrechte sind bereits als subjektive "Rechte" oder als "Freiheit" determiniert, so daß sie sich dem Juristen in der ihm gewohnten Form rechtlicher Relationen darstellen. Diese Determinierung geschieht indes 24

Oben Kap. II, Abschn. 7.

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III. Die Grundrechte

in vieldeutigen Begriffen, die allein nach dem geistigen Substrat, dem Sinn, (der Idee) auszulegen sind. a) Die Würde des Menschen (Art.1 Abs. 1 GG) ist der Urstatus, die Qualität, die ihn vom Tier unterscheidet, sein Wert als Gottes Ebenbild, der durch keine Krankheit, Verirrung und Schuld verloren gehen kann, weil er eingegeben, nicht erworben ist, oder besser: weil das Auge Gottes auf dem Menschen ruht. Die Würde übersteigt den Rahmen des Rechts, sie umschließt den status, frei und Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Aus der Würde folgen bereits unmittelbar rechtliche Beziehungen zu anderen: die Rechte auf Sein, Achtung und Schutz, z. B. das Verbot jeder erniedrigenden Behandlung und das Verbot, einen Menschen unter Ausschluß seiner freien Willensbestimmung zum Objekt eines fremden Willens zu machen. Die Rechtssprechung hat daher, wenn andere Grundrechte schweigen, solche Rechtsfolgen auch aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet, also diesen Grundsatz nicht nur als Kriterium der Auslegung anderer Rechtssätze angesehen25 ; insbesondere legt Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG aller staatlichen Gewalt die konkrete Rechtspflicht auf, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. b) Auch das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) mit dem Schutz des Brief- und Telefongeheimnisses (Art. 10 GG) ist ein Rechtsgrundsatz. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist Voraussetzung für den rechten Gebrauch der Grundrechte, ja, für den rechten Gebrauch jeglichen Rechts. Aber die Persönlichkeit kennzeichnet, im Unterschied zur Würde des Menschen, dessen individuelle Gestalt; die Entfaltung der Persönlichkeit ist ein Recht mit individuell bestimmbarer Substanz. Deshalb muß dieses Grundrecht abgegrenzt werden von den weiteren Grundrechten. Das Bild des "Muttergrundrechts" ist hierfür unzulänglich; denn es besagt nichts darüber, inwieweit sich die Kinder von der Mutter emanzipiert haben und selbständig geworden sind. Das Bundesverfassungsgericht erblickt im Art. 2 Abs. 1 GG das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit26 • Gegen diese Auslegung bestehen jedoch schwerwiegende Bedenken. Nicht die Aktivität, sondern das innere und äußere Verhalten, die Entfaltung des verantwortungsbewußten Menschentums, das die Welt auch ohne aktives Handeln als Vorbild integriert, kennzeichnet die Persönlichkeit und die verfassungsmäßige Ausübung ihrer Rechte. Eine allgemeine Handlungsfreiheit jedoch hätte keinen bestimmbaren, die Persönlichkeit konstituierenden Sinn: sie bezeichnet weder jegliche Möglichkeit sinnvollen Verhaltens (d. i. die Freiheit), noch einen spezialisierten Sinn 25 BVerwG. NJW. 1956, S. 393; BGHZ. 13, 334 (335); 35, 1 (9); BVerfG. E. 12, 1 (4); 19, 93 (99); vgl. auch BVerfG. E. 1, 97 (104), 332 (348). 2a BVerfG. E. 6, 32 (36 f.).

5. Die Systematik der Grundrechte

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des freien Verhaltens, hat also kein rechtliches Substrat. Die allgemeine Handlungsfreiheit läßt daher nicht einen Wesensgehalt erkennen, der durch kein Gesetz angetastet werden dürfte, d. h. Art. 19 Abs. 2 GG, der seiner Formulierung nach für alle Grundrechte gilt, könnte auf Art. 2 Abs. 1 nicht angewendet werden. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht in Art. 2 Abs. 1 GG einen unantastbaren Wesensgehalt hineinprojiziert, aber hat ihn bezeichnenderweise nicht aus der "allgemeinen Handlungsfreiheit" - dem vermeintlichen Inhalt des Art. 2 Abs. 1 GG - abgeleitet. Sondern es hat bei der Bestimmung dieses Wesensgehaltes Aspekte eröffnet, die weit über die allgemeine Handlungsfreiheit hinausgehen. Es sagt zutreffend: "Vor allem dürfen daher die Gesetze die Würde des Menschen nicht verletzen, die im Grundgesetz der oberste Wert ist, aber auch die geistige, politische und wirtschaftliche Freiheit des Menschen nicht so einschränken, daß sie in ihrem Wesensgehalt angetastet würde (Art. 19 Abs. 2, Art. 1 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 GG). Hieraus ergibt sich, daß dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist" 27 (Auszeichnung von mir). Von den Artikeln des Grundgesetzes, die das Bundesverfassungsgericht anführt, gewährleistet nur Art. 2 Abs. 1 ein Grundrecht; Art. 19 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 hingegen beziehen sich auf alle Grundrechte und enthalten nicht einen eigenen Wesensgehalt. Somit besteht nach dem Bundesverfassungsgericht das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) in der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Freiheit des Menschen; ihr Wesensgehalt ist die "Sphäre privater Lebensgestaltung", "ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit". Diese Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht auch ausdrücklich bestätigt: es billigt die Auffassung, daß Art. 2 Abs. 1 GG "in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG - den engsten Bereich der menschlichen Freiheit schütze", und daher eine Strafvorschrift verfassungswidrig sei, durch die "das Recht auf Achtung der Intim-Sphäre des Menschen verletzt werde" (Auszeichnung von mir). "Doch können auch Vorgänge, die sich in ,Kommunikation' mit anderen vollziehen, aus dem Gesichtspunkt des Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen sein28." "Die geistige, politische und wirtschaftliche Freiheit des Menschen", die jenen unantastbaren Wesensgehalt aufweist, ist aber nicht die "allgemeine Handlungsfreiheit", sondern kennzeichnet "die Freiheit", d. h. 27

2a

BVerfG. E. 6, 32 (41); vgl. 7, 198 (220). BVerfG. E. 6, 384 (433).

7 Hamel

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die Möglichkeit, sich nach eigenem Ermessen sinnvoll zu verhalten, insbesondere "das Seinige zu tun und nicht vielgeschäftig zu sein", um dadurch zum Sinn und Inhalt seines Lebens zu kommen, der Stand als Persönlichkeit verleiht29 • Dieser Grundbegriff "Freiheit" bestimmt die gesamte innere und äußere Haltung der Persönlichkeit, auch wenn sie sich nicht im Handeln äußert. Ihn meint das Bundesverfassungsgericht, wenn es im Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Freiheitsvermutung also den Grundsatz der Freiheit - insbesondere im Bereich der alltäglichen Vorgänge des gesellschaftlichen Verkehrs und der zwischenmenschlichen Beziehungen erblickt30, ja, ausdrücklich diese Freiheitsvermutung von der allgemeinen Handlungsfreiheit unterscheidet: "Die Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit erschöpft sich nicht in der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern umfaßt in unserer grundgesetzliehen Ordnung auch den grundrechtliehen Anspruch, durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist31 ." Daher könne sich der Bürger "bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt in seine Freiheit - auch in seine Freiheit in wirtschaftlicher Hinsicht - auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen, soweit nicht einzelne Lebensbereiche durch besondere Grundrechte geschützt sind32 ". Ebenso ist die Freiheit, Verträge über das eigene persönliche Verhalten, auch Stillhalteabkommen, zu schließen, in Art. 2 Abs. 1 GG enthalten- während die Vertragsfreiheit in Ansehung von Vermögenswerten aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt-. "Die Freiheit", deren Wesensgehalt eben in jener "Sphäre privater Lebensgestaltung", der "Intimsphäre", "dem letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit" besteht, ist der status, aus dem alle spezialisierten Grundrechte hervorgehen33 • Dieser Bedeutung der "Freiheit" würde entsprechen, ihre Gewährleistung als Menschenrecht unmittelbar aus Art. 1 Abs. 2 GG abzuleiten - wenn man schon nach einem positiven Rechtssatz sucht, um etwas Selbstverständliches zu begründen-. Aber "die Freiheit" ist auch im Art. 2 Abs. 1 GG eingeschlossen, da das freie Sein des Menschen eben Entfaltung der Persönlichkeit ist, die ohne "letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit" nicht geschehen kann. Zu diesem Bereich gehört natürlich auch das Mindestmaß an Handlungsfreiheit, "ohne das der Mensch seine Wesensanlage als geistig-sittliche Person überhaupt nicht entfalten kann" 3 '. Platon, Staat, 433 St. und oben Kap. II Anm. 11. BVerfG. E. 17, 306 (313). 3 1 BVerfG. E. 8, 83 (88). a2 BVerfG. E. 9, 3 (11). sa Oben Kap. III, Abschn. 2. 34 BVerfG. E. 4, 7 (15); das BVerfG. ließ damals offen, ob hierin der Inhalt des Art. 2 Abs. 1 GG. liege. 29

ao

5. Die Systematik der Grundrechte

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Das französische Vorbild des Art. 2 Abs. 1 GG, die Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen von 1789, hatte bereits die rationale und voluntaristische Verzerrung vorgenommen, die sich noch heute in dem Begriff der "allgemeinen Handlungsfreiheit" wiederfindet: "La liberte consiste ä pouvoir faire tout ce, qui ne nuit pas autrui." Das Grundgesetz hat aber diese Verzerrung im Art. 2 Abs. 1 GG überwunden, da es die Substanz des Grundrechts nicht als Tun, sondern als Entfaltung der Persönlichkeit - d. h. als geistiges Dasein, das allem Verhalten zugrunde liegt - kennzeichnet. Die Persönlichkeit besteht nicht im Handeln auf allen Lebensgebieten, nicht in der Betriebsamkeit, sondern sie tut nur das Ihrige, das ihr zukommt35 ; sie prägt auch das Schweigen, die Muße, die Einsamkeit, die Selbstbesinnung; sie ist "Entfaltung dss Menschentums" 36• Sie besteht in der individuellen Gestalt des Menschen, seiner Eigenheiten, seiner Eigenständigkeit, seinem "intellegiblen Charakter" (Kant), sie ist das Beharrende, Bleibende und Identische, das die Mannigfaltigkeit des Verhaltens, einschließlich seiner Handlungen gestaltet. Die Entfaltung der Persönlichkeit geschieht daher nicht in dem, was sie tut, sondern in dem, was ihr Eigensein, ihre Eigenart prägt, in der gestaltenden Macht ihres einmaligen Wesens, die andere in ihren Bann zieht, wo und wie sie sich auch immer befinden, verhalten oder betätigen mag. "Auch die Stillen, Innerlichen, Sinnigen wenn sie nur innerlich lebendig, rege, erlebnisstark sind, greifen als bestimmende Macht über sich hinaus und geben Gepräge dem, was der Prägung fähig ist37." Soweit Grundrechte eine Freiheit des Handelns gewährleisten, schützen sie nicht die Persönlichkeit in ihrer individuellen Gestalt, sondern das "Man", d. h. das allgemeine Rechtssubjekt, die allgemeine Person in ihren Verhaltensweisen. Art. 2 Abs. 1 GG aber meint die Persönlichkeit in der Einzigartigkeit ihrer Entfaltung - im Unterschied zum "Man"! - Das Recht auf Integrität der Persönlichkeit wird in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet, wie der Bundesgerichtshof erkannte3 8 • Es wird spezialisiert durch den Schutz einiger ihrer Seinsweisen- Brief- und Telefongeheimnis, Wohnung, Privat- und Familienleben (Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte). - Sie besonders zu regeln ist notwendig, weil hier das Dasein der Persönlichkeit in besonderer Weise die Gemeinschaft- und die Gemeinschaft das Dasein der Persönlichkeit- integrieren kann. Die weiteren Grundrechte aber lassen sich nicht als Ieges speciales gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG qualifizieren; denn sie unterscheiOben Kap. II Anm. 11. So OLG Schleswig, Schleswig-Holstein. Anzeiger, 1954, S. 369; vgl. BGH. Str. 8, S. 331. 37 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (1933), S. 123. as BGHZ. 13, 334 (338); 26, 349 (354 f.). 35

36

7•

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III. Die Grundrechte

den sich von Art. 2 Abs. 1 GG durch einen eigenen Wesensgehalt: sie gewährleisten die Freiheit zu einem bestimmten Verhalten. Das Bundesverfassungsgericht ist bei der Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG dem Trend der Zeit verfallen, das personale Sein in Aktualität, in Funktionalismus aufzulösen (der Heilige Geist betätige sich "für und für", die Kirche sei, was sie "tut", die Ehe sei ein "Ereignis"). Die Persönlichkeit ist aber nie Funktionär des Allgemeinen, des "Man". Die "verfassungsmäßige Ordnung" des Art. 2 Abs. 1 GG bezeichnet die Gesetzmäßigkeit, die der Persönlichkeit - ihrem geistigen Dasein - wesentlich ist; denn die Persönlichkeit lebt ihrem Wesen nach in den Gesetzlichkeiten der Gemeinschaft und trägt Verantwortung für die Gemeinschaft. Verfassung und Gesetze setzen ihr nicht Schranken zum Schutze übergeordneter Rechtsgüter, sondern sie sind ihre wesensmäßige Schranken. Daher behält Art. 2 Abs. 1 GG- im Unterschied zu anderen Grundrechten- nicht die Errichtung von Schranken, Einschränkungen oder Eingriffen den Gesetzen vor, sondern führt die Beachtung der verfassungsmäßigen Ordnung als Postulat des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit an: die Persönlichkeit in ihrem Selbstverständnis ist damit gekennzeichnet. Der freien Persönlichkeit sind nicht bestimmte Rechtsgüter der Gemeinschaft gleich- oder übergeordnet, so daß sie die Entfaltung der freien Persönlichkeit beschränken könnten. Kein Rechtsgut hat den Vorrang vor der Entfaltung der Persönlichkeit; denn die Persönlichkeit konstituiert den Rechtsstaat. Sondern das gesamte Recht der Gemeinschaft ist der Persönlichkeit aufgegeben und verpflichtet sie. Die Persönlichkeit achtet somit ihrem eigenen sittlichen Wesen nach alle verfassungsmäßigen Anordnungen, z. B. auch die der Polizei- und Ordnungsbehörden und die der Organe der Strafverfolgung, aber auch die Beobachtungen und Erkundigungen des Amtes für Verfassungsschutz, die der "Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes" dienen (Art. 87 Abs. 1 GG), und Beschränkungen des Brief-, Post- und TeZefongeheimnisses, auch solche, die zum vorbeugenden Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Staates notwendig sind (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG)39• Jene "Beobachtungen", "Erkundigungen" und diese "Beschränkungen" des Brief-, Post- und Telefongeheimnisses dienen unmittelbar der Erhaltung der Persönlichkeit in ihrer Würde, die durch jede subversive Untergrabung des Rechtsstaats und seiner freiheitlichen Ordnung selbst bedroht ist. Auch wenn Maßnahmen der Überwachung dem Betroffenen nicht mitgeteilt und nicht vor Gerichten von ihm angefochten werden können (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG), ist weder die Würde des Menschen, noch au BVerfG. DVBl. 1971, S. 49.

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das Rechtsstaatsprinzip verletzt, wenn solche Geheimhaltung und der - damit verbundene - Ausschluß des Rechtswegs notwendig sind, um eben diese Rechtsgüter vor einer "underhand aggression" zu schützen. Wer diesen Schutz nicht zuläßt - wie die drei überstimmten Richter des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zu Art. 10 GG- gibt die Würde des Menschen und den Rechtsstaat der Vernichtung durch Feinde dieser Rechtsgüter preis: eine solche Auslegung kann keinesfalls dem Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG entsprechen. Die Einfügung des Abs. 2 Satz 2 in den Art. 10 GG ist daher verfassungsmäßig. Der Notstand fängt nicht erst an, wenn der Angriff offenkundig wird (dann kann es zu spät sein). Der unantastbare Wesensgehalt ist somit auch im Art. 10 nicht ein statisch feststehender Bereich: er erlaubt der öffentlichen Gewalt, in die Sphäre privater Lebensgestaltung - auch ohne Wissen des Betroffenen - Einblick zu nehmen, wenn es erforderlich ist, um staatsgefährdende Unternehmen rechtzeitig zu erkennen; diese Sphäre ist insoweit offen für den Staat, weil die freie Persönlichkeit ihrem Wesen nach den Staat zu konstituieren oder ihn zu zerstören vermag (zur Frage der Rechtsmittel vgl. unten Kap. IV Abschn. 4). Erleidet der Betroffene durch solche rechtmäßigen Eingriffe in seine Grundrechte (Art. 2 Abs. 1, Art. 10 GG) Nachteile, etwa hinsichtlich seines Ansehens, seiner Stellung oder seines Vermögens, so sind sie zu beseitigen, wenn der Verdacht nicht erwiesen ist (nach dem allgemeinen Rechtsgedanken, der in §§ 74, 75 Einl.Preuß. ALR seinen Ausdruck fand). Die "Rechte anderer" und das "Sittengesetz", die Art. 2 Abs. 1 GG anführt, sind in der verfassungsmäßigen Ordnung eingeschlossen; ihre Erwähnung erscheint also bei logischer Betrachtung überflüssig. Aber Grundrechte haben über ihren juristischen Sinn hinaus eine politische Bedeutung. Sie stellen daher mitunter mehrere Begriffe, die ineinander verschränkt, aber durch die Geschichte zu politischen Bildern geprägt sind, nebeneinander, z. B. auch die Begriffe "Glauben", "Gewissen", "Bekenntnis" und "Religionsausübung" im Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Das "Sittengesetz" ist der umfassende Grund, in dem die verfassungsmäßige Ordnung wurzelt. Vielehe oder homosexuelle Betätigung widersprechen der Persönlichkeit, weil sie unserem Sittengesetz widersprechen. Entsprechend ist die Befugnis staatlicher Organe, gegen Selbstmordversuche einzuschreiten (wie sie einige Polizeigesetze vorsehen), durch das Sittengesetz legitimiert. Bei Seuchengefahr ist die Trennung des Keimträgers von der Familie nicht deshalb geboten, weil die "anderen" oder die "Allgemeinheit" den Vorrang hätten - keine Persönlichkeit hat den Vorrang vor anderen -, sondern weil das Verbleiben in der Familie, ja, jede Gefährdung anderer Persönlichkeiten dem Sittengesetz, der Verantwortung für die anderen widerspricht.

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III. Die Grundrechte

c) Die Gewissensfreiheit- die nach säkularer Auffassung die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit umschließt- (Art. 4 GG) ist ebenfalls eine grundsätzliche Norm. Durch die unbedingten Gebote des Gewissens haben wir die unbedingte Gewißheit, daß wir sie frei von den Bedingungen der Natur vollziehen können. Das unbedingte "Sollen" kann nicht in der Natur, sondern nur in der Freiheit gegenüber der Natur seinen Grund haben40 • Zwar wird das Gewissen in weitem Umfange von der Umwelt - der Erziehung, der Gesellschaft usw. - bestimmt: die Kollektivmoral (das "Ober-Ich" im Sinne S. Freuds). Aber sein Kern ("Archetypus des Gewissens" im Sinne C. G. Jungs) ist höchstpersönlich: das Gewissen kann sich gegen die Umwelt, gegen die Gesellschaft auflehnen, ja, zum Auszug (Exodus) aus der Umwelt, zum Aufstand und zum Zerbrechen der gegebenen Bindungen führen. Dieses Gebot, das "Sollen" ist unerklärlich für den Verstand 41 • Es offenbart unsere Freiheit gegenüber der Umwelt. Die Gewissensfreiheit ist somit Voraussetzung für jegliches Freiheitsrecht. Die Gewissensfreiheit in Glaubensfragen war auch historisch das erste Menschenrecht, das vom Kirchenvater Tertullian (um 200) erkannt und im Mailänder Religionsedikt Kaiser Konstantins praktisch verwirklicht wurde. Erst im 17. Jahrhundert wurden aus ihm die weiteren Freiheitsrechte entwickelt. Dieses Grundrecht ist noch heute die Mitte der Toleranz und des Friedens unter den Menschen: es gebietet, den anderen Menschen in seiner Überzeugung zu achten, zu erdulden, zu verstehen. Daher ist der Religionsunterrricht ein Verfassungsinstitut (Art. 7 Abs. 3 GG): er zeigt die verborgenen Mächte auf, die im Gewissen den Menschen konstituieren, also dem Verstande vorgegeben sind. Das Gewissen gibt mir die Gewißheit (den kategorischen Imperativ), daß mein praktisches Verhalten richtig oder falsch ist. Das "Meinen" hingegen ist ein theoretisches, objektiv und subjektiv unzulängliches Fürwahrhalten42 • Deshalb können wohl der Freiheit der Meinungsäußerung, nicht aber der Gewissensfreiheit Schranken durch allgemeine Gesetze errichtet werden. Gibt das Gewissen dem Menschen unbedingt gültige Gebote, so verletzt jede Schranke, jede Norm, die das Gewissen nicht anerkennt, dessen Freiheit. Es schließt Schranken aus, die der Staat nach seinem Ermessen durch "Güterabwägung" zum Schutze "übergeordneter Rechtsgüter" errichtet; dem Staate fehlen die rechtlichen Maßstäbe, um solche Überordnung über die kategorischen Forderungen des Gewissens zu legitimieren. Daher sieht Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG keine Schranken vor: der Staat kann die Gebote des Gewissens nicht relativieren, ohne die Gewissensfreiheit in ihrem Wesensgehalt anzutasten; 40

41 42

Vgl. Kap. I Abschn. 1, Kap. II Abschn. 5 und Kap. III Abschn. 2. Oben Kap. I Anm. 3. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akad. Ausg. Bd. III, S. 533-537.

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der Vorrang der "allgemeinen Staatsgesetze", die noch die Weimarer Verfassung (Art. 135) kannte, erwies sich als absurd, als Hitler die "allgemeinen" Rassengesetze den Kirchen oktroyieren wollte (die weiteren Einwände gegen die Rassengesetze können hier nicht erörtert werden). Die Gewissensfreiheit geht dem Kriegsdienst vor, und auch der Ersatzdienst darf die Gewissensfreiheit nicht beeinträchtigen (Art. 12 a Abs. 2 Satz 3 GG). Sie kann nicht durch Verträge eingeengt werden, sondern schränkt die Vertragsfreiheit ein, da sie die Erfüllung unabdingbarer, die Persönlichkeit konstituierender Gebote gewährleistet, während die Vertragsfreiheit das freie Ermessen, sich zu verpflichten, sichert. Die Erfüllung eines Vertrages kann daher verweigert werden, wenn sie unausweichlich dem Gewissen des Verpflichteten widerspricht; es handelt sich, wenn der Konflikt nicht vorausgesehen wurde, um ein unverschuldetes Unvermögen zur Leistung. Doch nimmt der Staat das Verfassungsrecht in Anspruch, jedem Gewissen eine allgemeingültige Friedensordnung im Lande zu oktroyieren, also in das individuelle Gewissen um der allgemeinen Toleranz willen einzugreifen, weil er das vernunftgebotene Mandat hat, Frieden im Lande zu sichern. Dadurch kann ein Konflikt der Gebote entstehen, der unausweichlich ist. Das Gewissen kann dem Staate nur durch Aufstand oder Exodus entgegentreten, wenn es ein Gebot des Staates ablehnt. Dennoch darf der Staat die Schranken errichten, die zur Erhaltung des Friedens im Lande unvermeidlich sind; denn jedes Menschenrecht, auch die Freiheit des Gewissens, wird als "Grundlage" jeder menschlichen Gemeinschaft gewährleistet (Art. 1 Abs. 2 GG); die Gewissensfreiheit darf also nicht zur Zerstörung der Gemeinschaft freier Menschen führen. Diese konstitutiven Schranken der Freiheit werden für alle gültig gemäß der allgemeinen Rechtsüberzeugung des Volkes von der öffentlichen Gewalt bestimmt: darin besteht das existenznotwendige Friedensmandat der öffentlichen Gewalt. Sie legt dem Einzelnen Grenzen auf, die nicht immer dem Spruch seines Gewissens zu entsprechen brauchen. Aber die Kompetenz der öffentlichen Gewalt, diese Grenzen zu errichten, ist ein Postulat, ohne das die Freiheit eines jeden, seinem Gewissen zu folgen, nicht bestehen kann. Das Prinzip der Gewissensfreiheit ist die Toleranz jeder Überzeugung; es erfordert die Schranken, die notwendig sind, damit alle frei die Glaubwürdigkeit ihrer Überzeugungen dartun oder darüber schweigen können, also keiner die Freiheit zur Unterdrückung anderer Überzeugungen mißbraucht. Eine freiheitliche demokratische Grundordnung beruht auf dem Vertrauen, daß das gemeinsame Leben sich in seinen Werten soweit möglich dann entfaltet, wenn die Menschen sich im freien geistigen Kampf auseinandersetzen, um sich durch ihre Glaubwürdigkeit zu überzeugen;

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III. Die Grundrechte

denn die Glaubwürdigkeit ist die Bewährung geistiger Werte. Daher müssen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen die staatlichen Anordnungen wahren, die zu solcher Auseinandersetzung in Freiheit zwingend notwendig sind, auch wenn sie die Freiheit eines intoleranten Gewissens einengen. Diffamierungen, die nach allgemeiner Rechtsauffassung als Beschimpfung einer Religion oder einer Weltanschauung oder einer Persönlichkeit gewertet werden, sind zu unterlassen. Blutrache ist verboten, auch wenn das Gewissen des Einzelnen sie erlaubt oder gar fordert. Wer an einer ansteckenden Krankheit leidet, kann die gesetzlich vorgeschriebene Absonderung und Behandlung nicht aus Gewissensgründen verweigern, wenn solche Maßnahmen unumgänglich sind, um andere vor der Ansteckungsgefahr zu schützen. Eheleute dürfen nicht um ihres Glaubens willenihre die Ehe konstituierenden Pflichten, insbesondere die Achtung vor der Überzeugung des Partners und den ehelichen Frieden verletzen. Diese zwingend notwendigen Rechtsgrundsätze ergeben sich aus dem Grundgesetz oder werden von ihm vorausgesetzt. Zwar kann die Gewissensfreiheit nicht verwirkt werden (vgl. Art. 18 GG), denn sie ist die Quelle der Freiheit und des Rechts; wohl aber soll sie in jene konstituierenden Schranken gewiesen werden. Zutreffend sagt der Bundesgerichtshof, daß die grundsätzlichen unabdingbaren Postulate unseres sozialen Rechtsstaates die kirchliche Autonomie (die letzten Endes in der Bekenntnisfreiheit wurzelt) einengen4s. Damit wird die Gewissensfreiheit nicht auf ein "Leitbild" beschränkt4\ sondern ihr werden äußerste, unvermeidlich gebotene Schranken bestimmt, ohne die die Freiheit aller sich nicht entfalten kann; ich habe sie mit dem "abendländischen Sittengesetz" umschrieben (das sogar im Orient dessen Sittengesetze zum Teil zurückdrängt). Die Regelung des Ersatzdienstes entspricht nicht diesen Kriterien. Er sollte nicht nach dem Muster des Wehrdienstes durch Gehorsamspflicht und straffe Lenkung organisiert sein; denn damit wird die Möglichkeit eröffnet, daß der Ersatzdienstpflichtige mittelbar für Zwecke eines Krieges eingesetzt, also die Gewissensfreiheit einiger religiöser Gruppen beeinträchtigt w ird. Es würde genügen, den Wehrdienstverweigerern die Ableistung von Arbeiten unter bestimmten Bedingungen aufzuerlegen, ihnen aber die Wahl der Stellen in der freien Wirtschaft zu überlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verweigerung des Ersatzdienstes für unzulässig erklärt, weil der Ersatzdienst als solcher zwingend vom Grundgesetz vorgeschrieben ist BGHZ. 22, 383 (387 f.), ähnlich BVerfG., oben Kap. III Anm. 7. Wie Konrad Hesse meint (Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1967, S. 115). 43

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(Art. 12 a Abs. 2 GG). Doch hat das Gericht nicht genügend berücksichtigt, daß der Ersatzdienst nicht die Freiheit der Gewissensentscheidung beeinträchtigen darf (Art. 12 a Abs. 2 Satz 3 GG); es hat insbesondere nicht geprüft, ob etwa nur die Form des Ersatzdienstes, die das Gesetz vorsieht, die Gewissensnot begründet45 • Diese Prüfung aber ist entscheidend. Wenn sich das Gewissen gegen die praktische Ausgestaltung, nicht gegen das Prinzip eines Ersatzdienstes wendet, so ist der Zwang zum Ersatzdienst unzulässig. Die grundsätzlich schrankenlose Gewährleistung der Gewissensfreiheit ergibt sich aus den unabdingbaren Geboten des Gewissens selbst. Sie gilt daher nicht für den Skeptiker und Zyniker, der solche Gebote nicht für sein praktisches Verhalten anerkennt, sondern jeden Spruch des Gewissens, jeden Glauben und jede Weltanschauung verneint: er leugnet das geistige Substrat, das von diesem Grundrecht gewährleistet wird: das Gewissen. Die Freiheit "des" Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) ist nicht eine Freiheit "vom" Gewissen, wie noch die Klassiker von John Milton bis zu Kant, Fichte, Regel und Fries klar erkannten. Die Negation des Gewissens zu sichern, widerspräche dem Sinn und Wortlaut des Grundrechts. Die Unsinnigkeit einer derartigen Auslegung zeigt sich in dem absurden Begriff "negative Freiheit" ("negative Bekenntnisfreiheit", "negative Koalitionsfreiheit"), der heute bedenkenlos von der Praxis und von der Wissenschaft verwendet wird. "Bastarderklärung" nennt Kant die Ansicht48 , daß die Fähigkeit, von der Freiheit keinen Gebrauch zu machen, zur Freiheit gehöre. Die Möglichkeit, von einem Rechte nicht Gebrauch zu machen, ist nicht Inhalt eben dieses Rechts. Die Freiheit, kein Gebot des Gewissens und keinen moralischen oder religiösen Glauben zu bekennen, oder auch: keine Meinung zu äußern, ist die Freiheit zum Schweigen und zum Nichttun, die Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet; denn dieses Grundrecht schützt nach der zutreffenden heutigen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Freiheit, soweit sie nicht durch andere Grundrechte spezialisiert ist. Oder soll die These vertreten werden: Wenn ich schweige, mache ich sowohl von der Freiheit des Gewissens, als auch von der Freiheit der Meinungsäußerung, als auch von der Freiheit der Lehre negativen Gebrauch, und wenn ich mich nicht künstlerisch betätige, übe ich die negative Freiheit der Kunst aus? Wer theoretisch jedes BVerfG. E. 19, 135; 23, 127 (132). Vertreten unter anderem vom Hess. Staatsger. H., NJW. 1966, S. 33 (dazu mein Aufsatz ebenda S. 18 ff.), vom Bonner Komm. z. Grundges., Art. 4 (1971), Rd Nr. 77 (Zippelius), von Konrad Hesse a.a.O., vom BVerfG. nur beiläufig geäußert, ohne die Entscheidung darauf zu stützen (E. 12, 1 ff.). - Dazu Kant, oben Kap. II Anm. 9. Vgl. auch meine Abh. "Glaubens- und Gewissensfreiheit" in: Die Grundrechte, hrsg. v. Bettermann- NipperdeyScheuner IV, 1 (1960), S. 64. 45

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Gewissen, jeden Glauben und jede Weltanschauung oder die Möglichkeit der Kunst leugnet, äußert eine Meinung, während die Gewissensund Glaubensfreiheit, ebenso wie die Freiheit der Kunst ein praktisches Verhalten zum Inhalt hat. Sartre ist theoretisch Nihilist; praktisch aber verhielt er sich im Ungarnaufstand so, als wenn es für ihn Gewissen und Moral gäbe: denn -er trat aus der kommunistischen Partei aus. Wer praktisch durch sein Verhalten das Gewissen leugnet, also "gewissenlos" handelt, verleugnet die Werte, die die freien Menschen konstituieren und die "Gewissensfreiheit" als Grundrecht qualifizieren. Freiheit bedeutet sinnvolles Verhalten, sie bedeutet insb-esondere Verantwortung für andere tragen. Daraus wird nicht die "Verpflichtung zu einem bestimmten Gebrauch der Freiheit" hergeleitet47 (wo hätte ich je einen solchen Unsinn behauptet?), sondern Freiheit und Grundrechte werden in ihrem Sinngehalt und Wesen bestimmt. d) Die Freiheit der Meinungsäußerung, die Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet, hat nach der klassisch-englischen Auffassung den Sinn, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen (Milton). Doch ist sie nur ein theoretisches - subjektiv und objektiv unzulängliches - Fürwahrhalten. Heute werden wir daher nicht der Ideologie verfallen, daß diese Freiheit und der geistige Kampf der Meinungen die Wahrheit zutage fördere; aber ihr konstitutiver Wert besteht immer noch darin, daß über frei geäußerte Meinungen diskutiert werden und durch Diskussion sich eine öffentliche Meinung bilden kann, die einen, wenn auch relativen Maßstab für das richtige politische Handeln abgibt, d. h. der Wahrheit und dem Recht insoweit nahekommt, als es zur Erhaltung und Entfaltung des gemeinsamen Lebens gemäß den Grundsätzen der Gerechtigkeit erforderlich ist. Daher ist der Presse, soweit es möglich ist, die rechtliche Verpflichtung zur wahren Berichterstattung von den Pressegesetzen auferlegt. Eine Meinung, die offensichtlich andere Zwecke verfolgt, also nicht das "Fürwahrhalten" im Sinne hat, genießt nicht den Schutz des Grundrechtes (z. B. der Faschingsulk, die Posse oder die böswillige Verleumdung). Wohl aber ist die Mitteilung von Tatsachen eine "Meinung": sie gibt ein subjektives Urteil über die Tatsachen wieder (jeder Zeuge müßte b-eginnen: "meiner Meinung nach . .. "). Die Worte des Art. 5 Abs. 1 GG "in Wort, Schrift und Bild" (seine Meinung frei zu äußern) bedeuten nicht eine Begrenzung der Freiheit, sondern eine beispielhafte Klarstellung: jedes Verhalten, das eine Meinung äußert, ist frei. Eine andere Auslegung wäre sinnlos. Aus dem Sinne dieser Freiheit, die Gemeinschaft zu integrieren, ja, die Demokratie zu konstituieren, ergeben sich Schranken, die von "allgemeinen Gesetzen" nach Art. 5 Abs. 2 GG errichtet werden können. 47

Wie Konrad Hesse a.a.O., meint.

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Rudolf Smend hat sie zutreffend dahingehend definiert: gemeint sei "die Allgemeinheit derjenigen Gemeinschaftswerte, die als solche den ... Grundrechtsbetätigungen gegenüber den Vorrang haben, so daß ihre Verletzung eine Überschreitung, ein Mißbrauch des Grundrechts ist" 48. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Auffassung angeschlossen49. Bereits in der französischen Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen (1789) wurde der "ordre public", den das Gesetz bestimmt (Art. 10), ebenso in der französischen Verfassung von 1791 die "surete public" und die "droits d'autrui" (Art. 5), in der belgischen Verfassung von 1831 die "repression des delits" (Art. 14) als Schranken aufgeführt; die Schweizer Verfassung von 1874 nennt den gesetzlich bestimmten Mißbrauch der Pressefreiheit als deren Schranke (Art. 55). Strafwürdige Delikte oder die Verherrlichung von Verbrechen können nicht der "Wahrheit", die für das Leben in Gemeinschaft unumgänglich ist, dienen. Die besondere Erwähnung des Schutzes der Jugend und des Rechts der persönlichen Ehre im Art. 5 Abs. 2 GG hat nur die Bedeutung einer Legalinterpretation der "allgemeinen Gesetze"; sie geht auf die alte, überholte Auslegung zurück, daß "allgemeine Gesetze" solche Gesetze seien, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richten. Auch Normen des Zivilrechts sind allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, wenn sie gleich- oder übergeordnete Rechtsgüter schützen. - Doch kann die einschränkende Bedeutung allgemeiner Gesetze im konkreten Falle selbst wieder eingeschränkt werden durch den öffentlichen Sinn einer Meinungsäußerung50. Ebenso gehören Polizei- und Ordnungsgesetze zu den "allgemeinen Gesetzen" im geschilderten Sinne51 , soweit sie gleich- oder übergeordnete Rechtsgüter schützen. Doch muß die konstitutive Bedeutung einer Meinungsäußerung berücksichtigt werden, wenn sie mit anderen Gütern der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kollidiert: greift eine Meinung nicht die Grundlagen des Staates oder der Gesellschaft an - wie z. B. gelegentliche Störungen einer Behörde oder Erregungen der Bevölkerung- so hat die Freiheit der Meinungsäußerung den Vorrang. Konstitutive Rechtsgüter, Grundlagen der Gesellschaft und Gemeinschaft, hingegen muß jede Meinungsäußerung achten. Sie sind im allgemeinen durch das Strafrecht geschützt. Aber es gibt auch Rechtsgüter, die, obwohl konstitutiv für die Gesellschaft, nur durch das Polizei- und Ordnungsrecht gesichert sind. Dazu gehört in weitem Rudolf Smend, Veröff. Verein d. Dt. Staatsrechtslehrer, Bd. 4, S. 52. BVerfG. E. 7, 198 (209 f. : "Schutz der Gemeinschaftswerte, der ... den Vorrang hat"- "Güterabwägung"). 5o Vgl. oben Kap. III Anm. 9. 51 BGHZ. 12, 197 (202). 48 48

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111. Die Grundrechte

Umfange die öffentliche Verkehrsordnung(§ 24 Str.VG!); niemand darf, um seine Meinung kundzutun, das Rotlicht der Verkehrsampel mißachten oder den öffentlichen Verkehr blockieren. Auch die freiheitliche demokratische Grundordnung61 und andere Postulate unseres Gemeinschaftslebens52 dürfen durch eine Meinungsäußerung nicht gefährdet werden, mögen sie strafrechtlich geschützt sein oder nicht. Die Freiheit der Meinungsäußerung umschließt die Freiheit der Presse, da die Presse die Verbreitung von Meinungen (einschließlich Tatsachen) zur Aufgabe hat: frei sind die für sie tätigen Personen und deren organisatorische Zusammenfassung zu dieser Aufgabe. Daher unterliegt die Pressefreiheit denselben Schranken wie die Freiheit der Meinungsäußerung (nur gegen hoheitliche Eingriffe ohne richterliche Entscheidung ist die Pressefreiheit durch besondere Bestimmungen geschützt). Doch muß bei der Güterahwägung die öffentliche Aufgabe der Presse, die Allgemeinheit wahrheitsgemäß zu informieren und zu öffentlichen Vorgängen Stellung zu nehmen, berücksichtigt werden. Insbesondere gibt die Einschränkung dieser Aufgabe durch Staatsgeheimnisse in allen freiheitlichen Staaten zu Konflikten Anlaß: nur wenn die Verbreitung einer Angelegenheit in materieller Hinsicht den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllen würde, ist nach deutscher Auffassung die Pressefreiheit eingeschränkt. Die formelle Bezeichnung als "geheim" gilt nur als Hinweis auf die materielle Geheimhaltungspflicht, aber konstituiert sie nicht, oder doch nur für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes. e) Die Freiheit zum Versammeln und die Freiheit zum Vereinigen (Art. 8, Art. 9 GG; Versammlungsgesetz v. 24. 7.1953, 30. 6. 1960, 5. 8. 1964; Vereinsgesetz v. 5. 8. 1964). Auch in einer Versammlung unterliegt die Freiheit der Meinungsäußerung den dargelegten Schranken. Verstößt eine Meinungsäußerung in einer Versammlung gegen die "allgemeinen Gesetze", so ist sie zu unterbinden; wird sie in einer Versammlung unter freiem Himmel oder in einem Aufzug getan, so kann sie, wenn sie nicht anders zu verhindern ist, die Auflösung wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Ordnung zur Folge haben (§ 15 VersG). Umgekehrt wird eine unzulässige Versammlung oder Demonstration nicht allein dadurch legitim, daß sie einer Meinungsäußerung dient; denn die Schranken, die nach Art. 8 GG und nach dem Versammlungsgesetz für Versammlungen bestehen, sind "allgemeine Gesetze", die die Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 2 GG begrenzen. Ein nicht angemeldeter Aufzug genießt nach Art. 8 61

Vgl. oben Kap. 111 Arun. 43.

5. Die Systematik der Grundrechte

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Abs. 2 GG und § 15 VersG nicht den Schutz der Versammlungsfreiheit und daher auch nicht den der Freiheit der Meinungsäußerung, auch dann nicht, wenn er sich spontan gebildet hat; denn diese Bestimmungen sollen der Verwaltung die Möglichkeit geben, Demonstration und Verkehr zu koordinieren, so daß keiner geschädigt wird. Ein "Aufzug", eine Demonstration darf nicht andere am Gebrauch ihrer Grundrechte hindern, also nicht die Freiheit anderer, am öffentlichen Verkehr teilzunehmen, erheblich beeinträchtigen; denn die Freiheit zur Teilnahme am öffentlichen Verkehr ist, wie jede nicht spezialisierte Freiheit, durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet53 und ein Gemeinschaftsgut, das als Existenzgrundlage des Gemeinschaftslebens grundsätzlich den Vorrang hat vor der Demonstration eines speziellen Anliegens einer Gruppe. Auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die nach Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts sind, den Gesetzen vorgehen und jedermann verpflichten, sind Grundlagen unseres Gemeinschaftslebens, die die Freiheit der Meinungsäußerung und die Freiheit zur Versammlung einschränken können. Zu diesen allgemeinen Regeln gehört die Verpflichtung jedes Staates, ein fremdes Staatsoberhaupt vor Verletzung seiner ihm nach Völkerrecht zukommenden Achtung, insbesondere vor Beleidigungen zu schützen. Niemand darf gegen diese völkerrechtliche Norm verstoßen, um seiner Kritik an einem fremden Staatsoberhaupt Ausdruck zu geben; denn es repräsentiert sein Volk und seinen Staat. Aufzüge, die sich dieser Achtung widersetzen, verletzen unmittelbar ein übergeordnetes Rechtsgut und sind daher von der Polizei zum Schutze der öffentlichen Ordnung umzuleiten, oder, wenn dies nicht möglich, zu verbieten oder aufzulösen (Art. 5 Abs. 2 GG und § 8 Abs. 2, § 15 VersG). Diese eindeutigen Schranken der Freiheit blieben unbeachtet, als der persische Schah im Juni 1967 die Bundesrepublik besuchte. Nach dem Wortlaut der Art. 8 und 9 GG sind die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit Grundrechte der Deutschen. Dennoch sind sie ihrem Wesensgehalt nach Menschenrechte. Denn zur Würde des Menschen, zur freien Entfaltung der Persönlichkeit und zur freien Meinungsäußerung gehört, mit anderen zusammenkommen und sich mit ihnen bleibend zu vereinigen, um die gemeinsamen Angelegenheiten gemeinsam zu beraten und zu gestalten. Daher sind in der Europäischen Konvention zum Schutze der Grundfreiheiten und Menschenrechte (Art. 11) die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit als Menschrechte verbürgt; sie stehen auch nach den deutschen Gesetzen (Versammlungsgesetz, Vereinsgesetz) jedermann zu. 63

Vgl. oben Kap. 111 Abschn. 5 b.

110

III. Die Grundrechte

f) Die Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG). Wie der Spruch des Gewissens, so ist auch die Kunst - das künstlerische Schaffen und das Kunstwerk - von der einmaligen Persönlichkeit in einzigartiger, nur ihr eigenen Weise geprägt, und das Verständnis dafür keineswegs Gemeingut aller: es sind Urphänomene der Persönlichkeit. Daher läßt sich nicht allgemein gültig durch Begriffe bestimmen, was Gewissen und was Kunst ist. Der Spruch des Gewissens hat allerdings einen ordnenden Sinn und dieser Sinn kann begrifflich dargestellt werden. Ob aber ein Kunstwerk eine anthropologische oder kosmologische Bedeutung haben, also die Individualität des Künstlers im Dienst von verborgenen Ordnungen stehen muß, oder ob allein die formale Virtuosität, mit der Verbrechen, Perversität und Perfidie dargestellt werden, ein Werk als Kunst qualifizieren kann: schon dies ist umstritten. Umstritten ist auch, ob Kunst gestaltlos sein kann, ob sie eine Form oder ob sie eine unsichtbare Substanz ist, die der Künstler zum Erlebnis bringt, ob sie "surreal" oder ein "Happening" sein kann. Was der einen Richtung ein Kunstwerk ist, wird oft von einer anderen als Nicht-Kunst disqualifiziert. Auf jeden Fall ist der Sinn eines Kunstwerks nicht mit Begriffen allgemein bestimmbar. Für die Musik ist zwar der Wert des Tones durch die Zahl der Schwingungen bestimmt und meßbar - der einzige meßbare, also begreifbare Wert! - In den Tönen wird das begriffliche Moment a priori exakt apperzipiert: die Tonzahl hat einen Wert. Wenn die Beziehungen der Töne untereinander (Oktaven usw.) nicht das exakte Schwingungsverhältnis haben, empfinden wir sie als "unrein" 54• Aber die Töne sind nur das Material des Musikwerkes, dessen Wert nicht objektiv erfaßt werden kann. Wird gar der harmonikale Wert des Tons geleugnet, so entschwindet jeder Maßstab, Musik zu begreifen; unerörtert muß hier bleiben, daß damit die "Harmonice mundi" verloren geht (denn die Tonzahl zeigt, daß die Harmonie des Intellekts mit der Harmonie der Seele eine Einheit bildet). Somit ist ein allgemein gültiges Urteil darüber, was Kunst und was nicht Kunst ist, unmöglich. Was Kunst ist, entzieht sich daher der rechtZiehen und gerichtZiehen Entscheidung. Im Kunstwerk bringt der Künstler das höchstpersönliche Erlebnis einer Wirklichkeit zum Ausdruck, die anderen nur durch höchstpersönliches Erlebnis zugänglich sein, aber nicht vom Verstande erfaßt und objektiv dargestellt werden kann. Rechtlich geschützt kann nur die höchstpersönliche Intuition im Kunstwerk und deren Kundgabe an andere sein. Wenn auch nur ein kleiner Kreis ein Werk als Kunst, als Wert empfindet, ist es Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG. 54 Vgl. Hans Kayser, Grundriß eines Systems der harmonikalen Wertformen, Zürich 1946.

5. Die Systematik der Grundrechte

111

Daher entziehen sich auch die immanenten Schranken der Kunst rechtlicher Determinierung. Ein Phänomen der Wirklichkeit, das sich nicht durch Begriffe definieren läßt, hat auch nicht allgemeine, d. h. für alle gültige Schranken; sie sind rechtlich nicht bestimmbar. Wohl aber hat die Gewährleistung, die das Grundrecht der Freiheit der Kunst gibt - so wie die Gewährleistung der Gewissensfreiheit einen rechtlich bestimmbaren Sinn in der Gemeinschaft. Denn Kunst vermag andere Menschen in ihrer tiefsten Substanz der Seele zu beeinflussen, vermag Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit in sie hineinzubilden. Die Freiheit, die die Grundrechte meinen, schließt aber nicht die Einschleusung der pervertierten Individualität, der Unmenschlichkeit und die Auflösung der Gemeinschaft ein: sie verstoßen gegen das Menschenbild, das in der Würde des Menschen, in seiner Freiheit und in jedem Grundrecht seinen Ausdruck findet. Die Berufung einer solchen Kunst auf die "Wahrheit" ist eine Täuschung: der wahre Mensch offenbart sich nicht in der Pervertierung, sondern in der Rechtschaffenheit: dem Menschen ist aufgegeben, die Pervertierung zu überwinden; diese Aufgabe ist die Wahrheit. Wie die körperliche Krankheit nicht den wahren Menschen zeigt, sondern zur Heilung aufruft und nicht verbreitet werden darf, so auch die geistige und seelische Mißbildung. Ein Verbrechen gegen das Menschentum als gültige Wirklichkeit des Menschen darzustellen, d. h. ohne es zu verurteilen, ist nicht Wahrheit, sondern Lüge, die die menschliche Gesellschaft irritiert und zerstört. Auch was einer Gruppe als Kunst erscheint, kann die Grundlagen der Menschheit verletzen, z. B. ein Aufruf zum Mord oder gar Völkermord, oder zum Rassenhaß; ein solcher Aufruf kann nicht Menschenrecht nach Art. 1 Abs. 2 GG sein. Antisemitismus darf auch in hoher künstlerischer Form nicht verbreitet werden. Die Freiheit der Kunst hat vielmehr, wie jedes Grundrecht, einen verfassungsrechtlichen Sinn in der Gemeinschaft; deren Integrierung, nicht deren Auflösung soll in Freiheit erfolgen. Denn auch die Freiheit der Kunst ist "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" (Art. 1 Abs. 2 GG); sie besteht nur in der Gemeinschaft, deren Verfassung die Grundrechte gewährleistet. Aus diesem Sinn folgt, daß die Freiheit der Kunst ihre Schranken in der natürlichen und geistigen Existenz der Gemeinschaft hat, d. h. die konstituierenden Werte und Güter der Gemeinschaft, insbesondere die Grundrechte anderer achten muß. Der Maßstab für diese Begrenzung ist in den Bestimmungen des Grundgesetzes zu suchen, aber auch in den Postulaten, die unser sozialer Rechtsstaat voraussetzt; was von den Grenzen der Gewissensfreiheit gesagt wurde, gilt entsprechend auch für die Freiheit der Kunst. Das Bundesverwaltungsgericht stellt diese Rechtslage mit etwas anderer Formulierung dar: danach dürfen Grundrechte "nicht in Anspruch genommen werden", "wenn dadurch

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III. Die Grundrechte

andere Grundrechte oder die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet werden" 55• Die Schranken der Freiheit der Kunst entsprechen also denen des Gewissens, mit dem Unterschied, daß das künstlerische Schaffen der einzelnen Persönlichkeit zwar aufgegeben, aber nicht kategorisch geboten ist, d. h. dem Künstler sind Schranken, die die Allgemeinheit errichtet, zuzumuten, während das Gewissen in unlösbare Konflikte kommen kann. Ist der Begriff "Kunst" heute nicht allgemein, für alle gültig bestimmbar, so sind doch der Freiheit der Kunst allgemeingültige Schranken gesetzt, weil die Gewährleistung der Freiheit im System des Grundgesetzes, insbesondere der Grundrechte einen bestimmbaren verfassungsrechtlichen Sinn hat. Dennoch prüfen die Gerichte bis heute in erster Linie, ob ein zur Entscheidung stehendes Werk "Kunst" sei, um festzustellen, ob es dem Schutz des Grundrechts unterstehe. Sie bestellen hierfür Sachverständige, deren Urteil sie sich anzuschließen pflegen, da den Gerichten die Wertmaßstäbe fehlen, um ein Werk allgemein gültig als "Kunst" zu qualifizieren. Die Gerichte übersehen dabei jedoch, daß schon in der Auswahl der Sachverständigen die Entscheidung zur Sache liegen kann. Viele Entscheidungen wären, hätten Hans Sedlmayr oder Emil Staiger als Sachverständige mitgewirkt, anders ausgefallen. Schließlich hat der Bundesgerichtshof im Jahre 1961 vom Begriffe der Kunst her sogar die verfassungsrechtlichen Schranken der Freiheit der Kunst eingerissen56• Andere Gerichte sind ihm gefolgt67 • Der Bundesgerichtshof erkennt zwar, daß § 166 StGB den Grundrechten Schranken errichtet, meint aber, § 166 werde "in seiner das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt" durch die Bedeutung der Freiheit der Kunst; dabei nimmt der Bundesgerichtshof Bezug auf die Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts, daß Normen des BGB (§ 826) in ihrer die Freiheit der Meinungsäußerung begrenzenden Wirkung selbst wieder durch dieses Grundrecht im konkreten Falle eingeschränkt werden können58• Dabei hat der Bundesgerichtshof übersehen, daß das kriminelle Strafrecht ein größeres verfassungsrechtliches Gewicht hat als die Normen des BGB, da es überwiegend Güter des Verfassungsrechts schützt; er hat nicht erkannt, daß § 166 StGB dem Schutze der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dient, also die verfassungsrechtliche Bedeutung dieses Grundrechts mit der des Art. 5 Abs. 3 GG in dem konkreten zur Entscheidung stehenden Falle abzuwägen war. BVerwG. 1, 92 (94); ähnlich BVerfG. oben Kap. III Anm. 7. Goldammers Arch. 1961, S. 240. n z. B. Bay. Ob. Landgericht, Goldammers Arch. 1964, S. 208; Landgericht Hamburg, NJW. 1963, S. 675 (678). &a BVerfG. E. 7, 198 (208). &&

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5. Die Systematik der Grundrechte

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Jedes Grundrecht wird seinem verfassungsrechtlichen Sinn nach von anderen konstitutiven Werten der Gemeinschaft begrenzt, insbesondere von anderen Grundrechten5 D, und diese Grenze wird durch den Sinn des Grundrechts im System des Grundgesetzes und durch das überwiegende Rechtsbewußtsein der Gemeinschaft bestimmt. Nur so kann ein Menschenrecht - der Inhalt vieler Grundrechte - "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" und "the basis and foundation of government" sein60• Niemand darf andere wegen der Ausübung ihrer Freiheitsrechte- etwa der Kundgabe ihrer Überzeugung- bedrohen, beschimpfen oder sonst diffamieren. Ein solcher persönlicher Terror kann die Freiheit mehr gefährden als ein Eingriff von hoher Hand. Auch Grundrechte, die keinen Schrankenvorbehalt haben, unterliegen dieser Rücksicht. Sie sind nicht allen anderen konstitutiven Werten übergeordnet. Denn jede Freiheit schließt Verantwortung und Toleranz gegenüber anderen ein; sonst würde sie sich selbst zerstören. Die Freiheit des Gewissens einschließlich des Glaubens und des Bekenntnisses ist als Grundrecht zwar ohne Vorbehalt einer Beschränkung gewährleistet; dennoch gestattet sie nicht, die Gewissensentscheidung eines anderen, dessen Glauben oder Weltanschauung zu beschimpfen, auch dann nicht, wenn eine solche Beschimpfung durch das eigene Bekenntnis gefordert sein sollte. Dieses Gebot der Achtung und des Friedens ist der Freiheit immanent; es gilt für jedes Grundrecht, auch für die Freiheit der Kunst. Kein Grund ist ersichtlich, aus dem der Künstler von dieser im Wesen der Gemeinschaft liegenden Rücksicht ganz oder zum Teil entbunden sein sollte. Beide Freiheiten, die des Gewissens und die der Kunst, stehen in einer Rechtsordnung, die jedem die Wahrung der Rechte anderer gebietet. Was von jedem Bekenner unabdingbare Gebote des Gewissens verlangt wird - daß er sich gegenüber Gegnern die Beschränkungen auferlegt, die der Staat um des allgemeinen Friedens willen für notwendig erachtet, mögen sie auch dem Bekenntnis Schranken setzen - muß ebenso vom Künstler gefordert werden. Die Freiheit der Kunst hat nicht den Vorrang vor der Freiheit des Gewissens und des Bekenntnisses. Sie hat die Integrität der gesamten Persönlichkeit, insbesondere ihre Ehre, ihren Glauben, ihr Bekenntnis zu achten. Denn die Persönlichkeit, die Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG schützen, ist die Mitte der Freiheit und der Demokratie. § 166 StGB aber determiniert und konkretisiert den Schutz der Freiheit des Gewissens, Glaubens und Bekennens. § 166 StGB wird somit nicht durch die Freiheit der Kunst eingeschränkt. 59 Oben Kap. III Anm. 7. eo Vgl. oben Kap. II Abschn. 7.

8 Hamel

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III. Die Grundrechte

Ob eine Schrift oder Darstellung das religiöse Bekenntnis anderer beschimpft, also deren Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt, kann nur das schlichte Gefühl der religiösen Menschen entscheiden; denn dieses Gefühl, das die kategorischen Gebote des Gewissens einschließt, ist das Allgemeingut, das durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und § 166 StGB geschützt wird. Der Bundesgerichtshof aber sieht das Urteil des künstlerisch aufgeschlossenen oder zum mindestens um Kunstverständnis bemühten Menschen als maßgebend dafür an, ob eine Beschimpfung religiöser Gebräuche vorliegt oder nicht. Er sagt, daß "bei Prüfung, ob ein Kunstwerk Einrichtungen oder Gebräuche einer christlichen Kirche beschimpft, nicht ... allgemein das Verständnis und das religiöse Gefühl der überzeugten Anhänger dieser Kirche, soweit sie sich ebenso von übergroßer Reizbarkeit wie von Gleichgültigkeit fernhalten, auch nicht allein das schlichte Gefühl des einfachen religiös gesinnten Menschen" entscheidend sei, sondern "das Wesen der zeitgenössischen Kunst" müsse "mitberücksichtigt" werden; dabei genüge es "von dem Eindruck auszugehen", "den ein künstlerisch aufgeschlossener oder zumindest um Verständnis bemühter wenn auch literarisch nicht besonders vorgebildeter Mensch von dem Kunstwerk hat". Schon der "Eindruck" eines solchen Menschen ist eine Fiktion, da "das Wesen der zeitgenössischen Kunst", ja, die Bewertung eines Werkes als "Kunst" auch unter Künstlern äußerst umstritten ist. Wichtiger aber ist, daß nach dieser Rechtssprechung ein bestimmter Kreis von Menschen, ja, eine besondere Kunstrichtung der Sachverständigen seine Auffassung, daß eine Beschimpfung religiöser Gebräuche nicht vorliegt, der betroffenen Allgemeinheit oktroyieren kann, obwohl er den Teligiösen Wert des verletzten Rechtsguts unter Umständen nicht zu beurteilen vermag. Da das Entsprechende auch für die Verbreitung unzüchtiger Schriften im Sinne des § 184 StGB gelten soll61 , kann ein solcher besonderer Kreis, ja, eine Kunstrichtung der Allgemeinheit auch seine Auffassung von "unzüchtig" aufzwingen, obwohl Güter der Allgemeinheit, des allgemeinen Friedens, durch diesen Begriff gewahrt werden sollen. Eine völlige Verkennung der gebotenen Güterahwägung nach allgemein gültigen Maßstäben! KunstsachveTständige und künstleTisch aufgeschlossene Menschen können begutachten, ob sie ein Werk als "Kunst" qualifizieTen; ob es "unzüchtig" ist odeT Teligiöse Bekenntnisse oder kiTchliche GebTäuche "beschimpft" und geeignet ist, den öffentlichen FTieden zu stören (§ 166 StGB), können sie nicht als Sachverständige beuTteilen. Hierfür ist das Empfinden derer, die vom Grundgesetz und Strafgesetzbuch geschützt werden sollen, entscheidend. el

So Landgericht Hamburg, a.a.O.

5. Die Systematik der Grundrechte

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Kunst kann unzüchtig im Sinne des § 184 StGB sein, wenn man jede Kunstrichtung als Kunst gelten läßt. ,.Der Künstler ist nicht von jeder Rücksicht entbunden, auch wenn dies auf Kosten der Vollständigkeit der künstlerischen Aussage geht62." Zu prüfen ist also nur, wie das Rechtsgut, das§ 184 StGB schützt, gegenüber dem Rechtsgut der Kunst abzuwägen ist, d. h. ob der Schutz, den § 184 StGB gewährt, vom Grundrecht der Freiheit der Kunst eingeschränkt wird. Auch für dieses Werturteil sind zunächst die Maßstäbe zu Grunde zu legen, die das Grundgesetz gibt. Das Rechtsgut, das § 184 StGB schützt, ist das ,.Scham- und Sittlichkeitsgefühl eines normalen Menschen in geschlechtlicher Beziehung" 63 • Schamgefühl aber ist in seiner Wurzel nicht anerzogen, nicht ein durch Heuchelei und Verdrängungskomplexe der Gesellschaft entwickelter Begriff, sondern ein Urphänomen des Menschentums. Man schämt sich seiner Blöße, d. h. seiner Unzulänglichkeit und Abirrung, der verlorenen Ganzheit des Lebens. Die Scham hat also die gleiche Wurzel wie das Gewissen: die Wahrheit. Sie sucht, die Blöße zu verhüllen. Auch der primitive Mensch schämt sich (z. B. seiner Lüge): er sucht seine Halbheiten und Verirrungen zu verbergen und wird verlegen, ja ,.blaß" oder ,.rot", wenn er sich ertappt fühlt. Die geschlechtliche Scham aber - die wir in irgendeiner Form auch bei jedem primitiven Volke antreffen - verhüllt die Entzweiung des Lebens der Menschheit. Der Geschlechtstrieb ist das Verlangen, diese Entzweiung vom anderen Geschlecht aufzuheben, die verborgene Einheit des Lebens wieder zu gewinnen- "ein Fleisch" mit ihm zu seinund den Verlust des Lebens, die Sterblichkeit zu überwinden; zugleich aber offenbart er die unübersteigbare Grenze, die dem Verlangen gesetzt ist, offenbart das Unvermögen, die Einheit des Lebens herzustellen. Das Entzweite und Unzulängliche als Geheimnis zu wahren, gehört zur Intimsphäre und zur Würde des Menschen. Das Bewußtsein von der Blöße seines Menschentums nötigt ihn zur Verhüllung, zur Scham, um die Entzweiung auszuhalten; nur der Mensch, nicht das Tier, hat geschlechtliche Scham, weil er sich seiner Blöße bewußt ist. Daher ist auch der völlig legitime Geschlechtsakt unter Eheleuten, wenn er in der Öffentlichkeit vorgenommen wird, schamlos und Unzucht im Sinne des § 183 StGB. Schamlos ist, die intimsten Beziehungen zum andern oder zu Gott (die alle um die Wiedergewinnung der verlorenen Einheit gehen) vor der Öffentlichkeit bloßzustellen. Wer die Bedeutung des Scheins in der Welt verkennt und bestreitet, ist ein Hochverräter der Menschheit (Kant). Jenes Geheimnis der Intimsphäre zu enthüllen ist nicht: die Wahrheit sagen, ist nicht Ehrlichkeit, sondern Zynismus. 62

es

••

Bayr. Ob. Landgericht a.a.O. BGH Str. 5, 346 (347); ähnlich BGH Str. 3, 295 (296) .

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III. Die Grundrechte

Die Würde des Menschen fordert vielmehr von anderen, das Geheimnis seiner Unzulänglichkeit - sein Schamgefühl - zu achten. Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG schützen das Geheimnis der Intimsphäre der Persönlichkeit. § 184 StGB aber dient diesem Schutze; ihn hat der Künstler unbedingt zu respektieren. Diese Güterahwägung ist bereits im Grundgesetz enthalten. Denn die Würde des Menschen ist der höchste Wert des Grundgesetzes. Daran würde auch nichts geändert, wenn nicht mehr die "Unzucht", sondern nur die "Sozialschädlichkeit" der Verbreitung von Pornographien als strafbarer Tatbestand gelten sollte. "Alle Verfassungsbestimmungen ... müssen so ausgelegt werden, daß sie mit den erkennbaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung vereinbar sind64." Gewiß können Unzucht, Mord und Grauen, ebenso wie Beschimpfungen religiöser Gebräuche am rechten Platz dazu dienen, den wahren geordneten Menschen - das Menschentum und die Concordia der Welt - zum Leuchten bringen derart, daß die Gesamtschau weder verirrte Instinkte weckt, noch ein religiöses Bekenntnis kränkt. Der Maßstab hierfür ist das moralische und das religiöse Empfinden der betroffenen Menschen, das von den Grundrechten und vom Strafrecht geschützt wird. Auch der Schutz der Jugend vermag der Freiheit der Kunst Schranken zu setzen. Denn nach Art. 6 GG stehen Ehe und Familie "unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" und wird das "natürliche Recht der Eltern", ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen, gewährleistet. Der Staat hat danach die besonderen Gefahren, die der Ehe und der Familie einschließlich der Kindererziehung drohen, abzuwehren. Dazu gehört der besondere Schutz der Jugend (der nach Art. 6 Abs. 5 GG in gleicher Weise für die unehelichen Kinder gilt). Dieser Schutz, den Art. 6 GG gewährt, errichtet aber, wie jedes Grundrecht, den anderen Grundrechten Schranken, auch der Freiheit der Kunst: d. h. beim Gebrauch jedes Grundrechts ist auf Ehe, Familie und Kindererziehung Rücksicht zu nehmen; in welchem Ausmaß ist eine Frage der Güterahwägung im konkreten Falle. Daraus, daß nur Art. 5 Abs. 2, nicht aber Art. 5 Abs. 3 GG einen Vorbehalt zum Schutze der Jugend macht, kann nicht der Schluß gezogen werden, nur die Freiheit der Meinungsäußerung, nicht aber die Freiheit der Kunst werde durch den Schutz der Jugend begrenzt; diese positivistische Auslegungsmethode, die nicht den Sinn der Freiheit in der Gemeinschaft berücksichtigt, ist schon im Privatrecht bedenklich, dem Grundrecht trägt sie in keiner Weise Rechnung. Sie beruht auf der veralteten, von der Rechtsprechung aufgegebenen Interpretation des Art. 5 Abs. 2 64

BVerfG., oben Kap. III Anm. 7. Vgl. Kap. l i Abschn. 12.

5. Die Systematik der Grundrechte

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GG, die unter "allgemeinen Gesetzen" nur solche Gesetze verstand, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richten. Werden aber mit dem Bundesverfassungsgericht die "allgemeinen Gesetze" als allgemein gültige Gesetze, d. h. im Sinne der Güterahwägung interpretiert so ist die persönliche Ehre und der Jugendschutz darin eingeschlossen; deren Erwähnung hat also nur noch die Bedeutung einer Legalinterpretation der "allgemeinen Gesetze" 65 • Keineswegs läßt sich daraus entnehmen, daß die Freiheit der Kunst höher zu bewerten sei als die persönliche Ehre und der Jugendschutzee. Auf jener unzutreffenden Auslegung der Freiheit der Kunst beruht

§ 1 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung jugendgefährdender Schriften87 :

Schriften, die der Kunst dienen, dürfen nicht auf die Liste gesetzt werden. Diese Bestimmung muß heute verfassungskonform entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgelegt werden. Der besondere Schutz, den die Familie und das natürliche Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder erfordert, muß berücksichtigt werden, da er schon nach dem Grundgesetz allen Rechten Schranken errichtet. Niemand darf ein Grundrecht derart ausüben, daß er Grundrechte anderer verletzt. Zutreffend ist somit der Standpunkt der Bundesprüfstelle, daß der künstlerische Wert einer Schrift gegen den Grad ihrer Gefährdung der Jugend abzuwägen, d. h. zu prüfen ist, ob die Schrift trotz ihres künstlerischen Wertes die Jugend und Jugenderziehung erheblich gefährdet, weil ihr künstlerischer Wert kaum der Jugend zugänglich ist und daher die Schrift andere, niedere Instinkte in der Jugend weckt. Das Bundesverwaltungsgericht aber hat sich die Worte des Oberbundesanwalts zueigen gemacht: "Kunstschutz geht vor Jugendschutz. Das ist der Preis für das Grundrecht der Kunstfreiheit68. " Der Künstler - den der künstlerisch aufgeschlossene Mensch qualifiziert - hat also als Einziger in der Bundesrepublik das Recht, Familie und Jugenderziehung- und damit Deutschlands Zukunft- unbegrenzt zu untergraben, obwohl der künstlerische Wert vieler heutiger Werke, nicht aber die Schamlosigkeit der Jugend weithin verschlossen bleibt. Ein schrankenloses Privileg "künstlerisch aufgeschlossener" Kreise auf Kosten der Jugend! Wo bleibt der "besondere Schutz", den das Grundgesetz der Ehe und der Familie gewährt und der Schutz des "natürlichen Rechts der Eltern" auf Erziehung ihrer Kinder? Wo bleibt die Vgl. oben Kap. III, Abschn. 2 und 5 d. Wie das Landgericht Harnburg (a.a.O.) meint. 61 Vgl. Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucksache Nr. 110 f. vom 28. 6.1950, S. 11; und BVerwG. E. 23, 104 (109). 68 BVerwG., Urt. vom 12. 1. 1966, Ufita Bd. 48, S. 324 (330). 65 66

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III. Die Grundrechte

Abwägung aller dieser Rechtsgüter im konkreten Falle, wie sie das Bundesverfassungsgericht für die Auslegung der Grundrechte und ihrer Schranken vorgezeichnet hat? g) Auch die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre {Art. 5 Abs. 3 GG) besteht, wie jede Freiheit, im praktischen Verhalten. Sie gewährleistet nicht bestimmte Einrichtungen, sondern die erforderlichen Einrichtungen dienen der Wissenschaft, Forschung und Lehre nur, wenn sie der Freiheit dienen. Wird die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre an Entscheidungen bestimmter Hochschulen, Akademien oder Forschungsinstitute gebunden, so wird sie verkrustet und verknechtet: darin besteht zum wesentlichen Teil die Unzulänglichkeit dieser Einrichtungen. So konnte es vorkommen, daß jemand nicht zur Habilitation gelangen konnte, bis ihm der Nobelpreis verliehen wurde: die Institution, die Stätte der Freiheit der Lehre, blockierte diese Freiheit. Der Grundsatz der Selbstergänzung dieser Einrichtungen widerspricht der Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre, da er nicht eine allgemein gültige, also objektive Wertung der Leistungen und Fähigkeiten der Erwählten sichert, sondern die im Wahl- oder Vorschlags-Gremium herrschenden wissenschaftlichen Methoden und Meinungen zum Maßstab macht. Die Bremer Hochschule ist ein Beispiel, das zu Bedenken Anlaß gibt. Der Student reift zur Persönlichkeit nur, wenn ihm möglichst viele, auch einander konträre Lehrmeinungen zur eigenen Beurteilung vorgetragen werden. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht in der reziproken Entfaltung der Gegensätze; eine nur marxistische Hochschule ist keine Universität {universitas). Daher sollten zur Beurteilung der wissenschaftlichen Befähigung einer Persönlichkeit nach Möglichkeit alle Richtungen herangezogen werden, und die Verleihung von Ämtern der Wissenschaft, Forschung und Lehre sollte von der Gleichheit aller verfassungsmäßigen Anschauungen ausgehen, d. h. nach Möglichkeit die Vertretung aller zur Aufgabe haben. Die Entscheidung kann nur von einem besonderen staatlichen Amt, das zu solcher Objektivität verpflichtet, also von keiner bestimmten politischen oder wissenschaftlichen Richtung beeinflußt ist, getroffen werden. Das Ansehn der deutschen Universitäten wurde in der monarchischen Zeit nicht zuletzt durch- des Urteils fähige - Minister, die bedeutende Lehrer oktroyierten, gewahrt. Schließlich muß die Bindung der Lehre an die "Treue zur Verfassung" {Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG) durchgeführt werden. Ein Verfahren muß geschaffen werden, um offensichtlich verfassungswidrige Lehren zu unterbinden, notfalls durch Entziehung des Amtes. Der jetzige Zustand, daß auf staatlichen Hochschulen Studenten, die später staatliche Stellen bekleiden, in verfassungswidrigen Anschauungen ausgebildet werden, untergräbt den freiheitlichen Rechtsstaat mehr als eine ver-

5. Die Systematik der Grundrechte

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fassungswidrige Partei. Die marxistische Lehre, einseitig als die Wahrheit vorgetragen, verletzt die Treue zur Verfassung, da sie den Grundwerten des Grundgesetzes widerspricht. h) Sind alle Menschen frei, so sind sie in ihrer Freiheit einander gleich. Die Freiheit ist das Maß der Gleichheit der Menschen, die Art. 3 GG sichert. Daher gewährleistet die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte (Art. 14) Gleichberechtigung in den Freiheiten, die die Konvention verbürgt, "ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status". Da jedoch die Ausübung der Freiheit durch die Anlagen des Einzelnen und die Umstände bestimmt und begrenzt wird, variiert die weitere rechtliche Stellung des Menschen: daraus ergeben sich Ungleichheiten. Diese individuellen Differenzierungen der Freiheit - und nur sie - rechtfertigen Unterschiede in der rechtlichen Stellung. So gewährleistet Art. 33 Abs. 2 GG allen Deutschen den "gleichen" Zugang zu jedem öffentlichen Amte "nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung". Auch aus übergeordneten Gesichtspunkten zur Erhaltung der Gemeinschaft kann die Gleichheit- so wie die Freiheit- eingeschränkt werden. Weil die Ausübung der Wahlfreiheit den praktischen Sinn hat, ein arbeitsfähiges Parlament und eine kontinuierliche Politik der Regierung zu legitimieren, können Splitterparteien, die diesen Erfolg gefährden, ungleich gegenüber großen Parteien behandelt werden68 • Doch allein das Gesetz vermag Differenzierungen der Freiheit und Gleichheit allgemein für alle gültig zu werten und danach rational zu bestimmen, was als gleich und was als ungleich im Rechtssinne gilt. Erst durch Gesetz wird die Gleichheit aller gewahrt. Daher gewährleistet Art. 3 Abs. 1 GG die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Das Gesetz ist, da es allgemein für alle gilt, der Garant der Gleichheit in der Gesellschaft. Ein Gericht wahrt die Gleichheit im individuellen Fall durch Auslegung des Art. 3 GG, wo das Gesetz schweigt. Das Gesetz aber bestimmt diese Auslegung allgemein gültig. Doch kann das Gesetz selbst nur Recht determinieren, d. h. es muß die Grundsätze der Gerechtigkeit und damit auch die der Gleichheit wahren; dieser Sinn des Gesetzes ergibt sich aus dem Wesen des Rechtsstaates, der Würde des Menschen und aus der Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), die nur das ihr Zukommende für sich in Anspruch nimmt. Darin liegt zweierlei: einmal hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum des Ermessens (der Abwägung), um die Kri6&

BVerfG. E. 1, 208 (249 ff.).

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III. Die Grundrechte

terien zu bestimmen, nach denen ohne Ansehen der Person Gleichheit und Ungleichheit zu verteilen sind; sodann darf diese Unterscheidung nicht willkürlich sein, sondern muß sich sachlich nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit rechtfertigen lassen70• In diesem Sinne erfordert eine Gleichheit vor dem Gesetz auch eine Gleichheit durch das Gesetz. Darüber hinaus vermag das Gesetz - und nur das Gesetz - die Gleichheit zum Schutze übergeordneter Gemeinschaftsgüter einzuschränken (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG). i) Die Ehe und die Familie (Art. 6 GG). Die Ehe ist die Keimzelle, aus der alle menschlichen Gemeinschaften hervorgingen und hervorgehen: Familie, Sippe, Stamm, Volk, Staat. Sie ist kein Vertrag; denn sie hat nicht einen bestimmbaren Zweck zu erfüllen, sie ist nicht auf eine bestimmbare Leistung gerichtet. Die römischkatholische Kirche hat ihre früher verkündete Zweckbestimmung: Kinderzeugung, mit Recht aufgegeben; sie degradierte die kinderlosen Ehen. Aber auch Kants Definition: Ehe sei ein "notwendiger Vertrag" zweier Personen verschiedenen Geschlechts "zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften", ist nicht ernstlich diskutierbar; die eheliche Gemeinschaft erschöpft sich nicht in den geschlechtlichen Beziehungen. Doch ist bemerkenswert, daß Kant das Kriterium des Konkubinats darin erblickt, daß es, im Gegensatz zur Ehe, nicht für die Dauer des Lebens abgeschlossen ist, sondern von jedem der Partner beliebig aufgegeben werden kann; dadurch gebe eine Person "sich selbst als Sache der Willkür des Anderen" hin, "welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet" - in heutiger Sprache: die Würde des Menschen verletzt - . Daher sei der wechselseitige geschlechtliche Genuß "allein unter Bedingung der Ehe ... möglich" 71 . - Die Ehe meint die wechselseitige volle Verantwortung für den ganzen Menschen als freie Persönlichkeit in allen Lebenslagen; jeder vertraut ganz dem anderen und vertraut sich ihm an; die Ehe besteht daher für das ganze Leben; auch die Eherechtskommission im Bundesjustizministerium sagte: "Die Ehe ist auf Lebenszeit angelegt." Wollen Mann und Frau sich nicht für Lebensdauer binden, d. h. steht ihr Versprechen irgendwie unter dem Vorbehalt, daß ein Partner nach eigenem Belieben die Ehe trennen könne, so schließen sie ein Konkubinat, das der Würde des Menschen widerspricht, weil sich jeder selbst als Sache der Willkür- der Verstoßung - des anderen hingibt. Nur weil die Ehe ein existentieller rechtlicher status ist, der nicht der beliebigen Verfügung der Eheleute 1o BVerfG. E. 1, 14 (16); 2, 266 (280); 3, 19 (24); 3, 58 (136); 3, 162 (182); 3, 288 (337); 4, 7 (18), ständige Rechtsprechung. 71 Metaphys. d. Sitten, Akad. Ausgabe, Bd. VI, S. 277 ff. (§ 24, § 26, § 25).

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unterliegt, sondern in einer objektiven Institution der Menschheit wurzelt, bleibt die Würde der Eheleute gewahrt (ein existentieller status, der den ganzen Menschen ergreift, ist nicht beliebig aufhebbar, wie z. B. die Staatsangehörigkeit, die Volkszugehörigkeit (Art. 116 GG), die Begnadigung (Einsetzung in den früheren status), oder auch die Mündigkeit). Ehe ist der status des Verbundenseins von Mann und Frau, aus dem- wie aus jedem status-unendlich viele Rechtsbeziehungen, die in ihrer Fülle nicht vertraglich erfaßbar sind, und andere Beziehungen hervorgehen. Der Mensch ist eine Zwei-Einheit: Mann und Frau; erst beide zusammen sind der Mensch. Die Ehe ist der status, in dem sie sich zu dieser naturbestimmten Einheit "Mensch" einander ergänzen und miteinander vereinigen; sie nehmen sich in ihrer Unterschiedlichkeit einander auf. Der gemeinsame Name ist der äußere Ausdruck dafür. Das Bibelwort "sie werden ein Fleisch sein" (1. Moses, 2, 24) gibt das treffende Bild. Weil Eheleute soweit möglich geeint werden, kann in der Ehe ein neuer Mensch, das Kind, durch die Erziehung beider Eltern (in ihrer Verschiedenartigkeit) ungebrochen zur Persönlichkeit heranreifen. Der Eros der Geschlechter, der ihre Einung bis in die unbewußten Tiefen hinein, das Einswerden bestimmt - nicht der Sexus allein - ist die Quelle, aus der die konkrete Ehe entspringt; der eine gestaltet den anderen in seinem seelischen, geistigen und körperlichen Wesen und wird von ihm gestaltet: die Entzweiung des Menschen zu überwinden, ist der Sinn der Ehe72 • Damit prägt sich im Laufe der Jahre schließlich jeder der Eheleute so tief in das Wesen des anderen ein, daß eine "Scheidung" im absoluten Sinne unmöglich ist: Keiner wird die Spuren auch einer schweren Ehe, das Bild des anderen völlig in sich auslöschen können. In diesem Gestalten und Gestaltet-Werden besteht die sinnbestimmte Freiheit der Ehe, die sie in die Grundrechte einreiht; die Freiheit zur Erziehung der Kinder ist darin eingeschlossen. Ehe und Familie sind ein gegliedertes Grundrecht (Art. 6 Abs. 1 GG), ein Raum der Freiheit, in dem die institutionellen Aufgaben und Pflichten der Verantwortung (die jedes Grundrecht bestimmen) das eigene Belieben so zurückdrängen, daß Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe und die Familie nicht als Freiheit, sondern als Institution formuliert. Die Ehe ist für das Grundgesetz "die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft"73. Diese Institution ist die vorgegebene "Verfassung" des personalen status, in den sich die Eheleute instituieren (Institution ist Vorgang und Zustand zugleich74). Die Institution "Ehe und Familie" Vgl. auch Kap. III Abschn. 5 f. BVerfG. E. 10, 59 (66). 74 So treffend Hans Dombois, oben Kap. II, Abschn. 7, Anm.19, vgl. Kap. II Abschn. 5. 72

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III. Die Grundrechte

zeigt besonders deutlich, daß man nicht- wie Gehlen75 meint - die Ethik der Familie von den Institutionen trennen und diese auf Ordnung und Unterordnung im Interesse der Machterhaltung zurückführen kann. Die Ehe ist eine Institution der Treue, die sich die Eheleute versprechen, sie bestimmt ("verfaßt") den status der Eheleute. Die Treue, nicht eine vertragliche definierte Pflicht bindet den ganzen Menschen auf Lebenszeit. Dabei ist "Treue" nicht bloß negativ- keine erotischen Beziehungen zu anderen - zu verstehen; Treue fordert, den anderen unbedingt in seiner Andersartigkeit mit seinen Fehlern und seiner Schuld zu tragen, zu ertragen, zu erleiden, für ihn einzustehen und verantwortlich zu sein, ihm zu helfen, nicht nur aus Mitleid und Barmherzigkeit, sondern weil er ihm "anvertraut", ein Mensch mit ihm ist. Treue bedeutet, den anderen als sein Eigen, als ihm angehörig aufnehmen. Das Gebot der Treue kann in schweren Lagen den Menschen überfordern: die Kraft hierzu kann nur von Gott geschenkt werden. Je mehr der religiöse Glaube schwindet, desto mehr scheitern die Menschen in ihrer Ehe. Zutreffend sagt der Bundesgerichtshof: "Die Ehe besteht ihrem sittlichen Wesen nach", "in der Begründung und fortwährenden Verwirklichung einer bis zum Tode eines Ehegatten fortdauernden und zur Familiengemeinschaft sich erweiternden Lebensgemeinschaft der Ehegatten. Sie als eine solche Lebensgemeinschaft zu verwirklichen, ist demgemäß auch der Sinn des Ehegelöbnisses. Nach diesem ihrem Wesensbild ist die Ehe grundsätzlich unlöslich, denn die tiefen persönlichen Beziehungen, die in der ehelichen Gemeinschaft zwischen Mann und Frau und in der Familiengemeinschaft zwischen Eltern und Kindern begründet und entfaltet werden sollen, vertragen es ihrem Wesen und ihrem inneren Werte nach nicht, als Beziehungen "auf Zeit" aufgefaßt zu werden ... Sie grundsätzlich auch vom sittlichen Standpunkt aus von vornherein der Möglichkeit einer Lösung und der Ersetzung durch entsprechende Beziehungen zu anderen Personen auszusetzen, würde bedeuten, sie in ihrem wesensmäßigen Bestand und in ihrem inneren Wert anzutasten und sie mit dem Keim des inneren Zerfalls zu behaften78." Der Sinn des Eheversprechens lebenslängliche Treue - muß heute ausdrücklich in ein Ehegesetz aufgenommen werden, weil er nicht mehr selbstverständlich, sondern angezweifelt ist. Ob unter Umständen außerhalb der gesetzlichen Formen eine Ehe dem Substrat nach bestehen kann, bleibe unerörtert. Ein Gesetz, das die Ehe regelt, muß von diesem Bild der Treue ausgehen und zugleich berücksichtigen, daß die Menschen durch Treuepflichten überfordert werden können. Der Wunsch nach Trennung einer 75 78

Moral und Hypermoral, 1969. BGHZ. 18, 13 (17 f.).

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Ehe ist immer auch ein Versagen dessen, der die Trennung begehrt: er ist nicht bereit oder fähig, den anderen in seiner Art zu tragen und zu ertragen. Daher ist bei einer Scheidungsklage stets abzuwägen (was die heutige Rechtsprechung verkennt), ob der klagende Teil unter dem anderen wesentlich mehr leiden wird als der andere unter einer Scheidung (wenn sie ihn etwa in Verlassenheit und Elend stoßen würde); denn Treuepflichten gelten unbedingt. Auch sollte eine Scheidung unterbleiben, wenn das Wohlergehn erziehungsbedürftiger Kinder die Aufrechterhaltung der Ehe erfordert; denn sie löst gemeinsame Pflichten und Verantwortung für Pflege und Erziehung der Kinder aus (Art. 6 Abs. 2 GG). Kurz: einem Scheidungsantrag ist nicht stattzugeben, wenn der Fortbestand der Ehe sittlich gerechtfertigt ist77• Die Vorschläge zur Reform des Scheidungsrechts78, insbesondere der Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz, versuchen, die Feststellung der Schuld zu vermeiden. Denn sie erfordert häufig ein peinliches Eindringen in die Intimsphäre der Eheleute. Auch läßt sich die volle Wahrheit häufig nicht ermitteln; nur die beweisbare, nicht aber die verborgene Schuld ist dem Gericht zugänglich; der Richter wird also oft überfordert. Die Reformer - insbesondere im "Diskussionsentwurf" -meinen, diese Unzulänglichkeiten eines Scheidungsprozesses, in dem die Schuld ermittelt werden soll, könnten vermieden werden, wenn die unheilbare Zerrüttung der Ehe, ihr "Scheitern" als das Kriterium angesehen würde, das eine Scheidung rechtfertigt. Doch auch die Feststellung einer unheilbaren Zerrüttung erfordert oft ein Eingehen auf die intimen Beziehungen der Eheleute. Um diese Untersuchung zu umgehen, soll nach dem Wunsch der Reformer schon aus einer Trennung der Eheleute von bestimmter Dauer kraft Gesetzes die unwiderlegliche Vermutung des Scheiterns der Ehe folgen, ohne daß nach den Gründen der Trennung gefragt werden darf. Eine solche Regelung führt jedoch zu groben, untragbaren Ungerechtigkeiten. Ein Recht zur Scheidung wegen unheilbarer Zerrüttung (= Scheitern) der Ehe würde jedem der Eheleute die Möglichkeit geben, beliebig durch Trennung - auch wenn sie gegen die ehelichen Pflichten zum Zusammenleben verstößt - eine langdauernde Zerrütrung herbeizuführen und sich daraufhin scheiden zu lassen. Daran würde auch nichts geändert, wenn kraft Gesetzes erst nach einer bestimmten Zeit (3 Jahren) des Getrenntlebens- die praktisch einer Kündigungsfrist gleichkäme - die Scheidung ausgesprochen werden könnte. Es verstößt aber gegen elementare Grundsätze des Rechts und der GeVgl. EheG § 47, § 48 Abs. 2, 3; BGHZ 18, 13 (16 ff.). Hierzu ausführlich: P. Mikat, Scheidungsreform in einer pluralistischen Gesellschaft, Z. f. d. ges. Familienrecht 1970, S. 33 ff. 77 78

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rechtigkeit, auf denen der Rechtsstaat und der Schutz der Menschenwürde beruhen, wenn sich jemand durch schuldhaften Bruch seines Versprechens von eben diesem Versprechen und von den Pflichten, die daraus folgen, lösen kann. Im Wesen des Rechts liegt, daß sich niemand seiner rechtlichen Verpflichtung beliebig entziehen darf. Die Voraussetzungen, unter denen eine Befreiung möglich ist, sind vielmehr in Rechtsgrundsätzen vorgezeichnet, die die Rechtssprechung aller Kulturstaaten für alle Rechtsgebiete erkannt hat, längst bevor sie in Gesetzen niedergelegt wurden, weil sie nach dem Rechtsempfinden aller Kulturvölker gerecht und billig sind, insbesondere: bei reziproken rechtlichen Verpflichtungen die Schuld des Partners, ferner die nicht zu vertretene Unmöglichkeit der Leistung oder, soweit zulässig, die Kündigung. Ein Gesetz aber muß, da es Recht determiniert, die konstituierenden Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit beachten, da sie eine Regelung erst rechtfertigen, d. h. als mögliches Recht erscheinen lassen. Ein Gesetz kann eine rechtliche Verpflichtung nur unter Wahrung solcher im Recht vorgegebenen Grundsätze, nicht aber beliebig für aufhebbar erklären - oder es würde die Verbindlichkeit des Rechts überhaupt beseitigen. Würde der Gesetzgeber als Recht normieren, was nicht Recht sein kann - daß unter Umständen die eigene Eheverfehlung (Trennung) ein Recht auslöst, seine ehelichen Pflichten aufzukündigen -so würde er die Ehe, das Grundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG, und den Rechtsstaat in ihrer Substanz zerstören. Diese Vernichtung der Grundlagen des Rechts wäre auch nicht durch eine "Härteklausel" zu beheben, nach der - wie im Diskussionsentwurf vorgesehen - in außergewöhnlichen Umständen der beklagte Teil dem Scheidungsbegehren rechtswirksam widersprechen kann und in "Ausnahmefällen" als "Härtefall" auch gelten kann, wenn dem klagenden Partner die planmäßige einseitige und bewußte Zerstörung der Ehe vorzuwerfen ist. Abgesehen davon, daß damit die - unvermeidliche Schuldfrage und die mit ihr verbundenen prozeßualen Schwierigkeiten wieder auftauchen, würde diese Regelung grundsätzlich von einem (unmöglichen) "Recht" des klagenden Teils auf Scheidung ausgehen und daher dem ehewilligen Teil die Beweislast aufbürden, wenn er die Ehe erhalten will. Dabei wird verkannt, daß schon die einseitige grundlose Trennung und Aufkündigung des Eheversprechens eine "Härte" gegenüber dem anderen, eine Verstoßung ist. Wenn dem ehewilligen Teil der Beweis, daß der klagende die Ehe planmäßig zerstört hat, nicht gelingt, so bleibt nur die Tatsache der mehrjährigen Trennung übrig; sie aber gibt nach dem Diskussionsentwurf dem Teil, der sichvielleicht unbegründet - getrennt und damit seine ehelichen Pflichten verletzt hat, das "Recht" zur Verstoßung des ehewilligen Teils, ohne ihm eine Eheverfehlung vorzuwerfen. Ein "Recht" zum Vertrauens-

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bruch, der unter keinem sittlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt werden kann! Im Vertrauen in die Versprechungen des anderen hat der ehewillige Teil sein Leben mit dem anderen geteilt! Um die unheilbare Zerrüttung, das Scheitern als Scheidungsgrund zu rechtfertigen, wird geltend gemacht, daß Dissens über den Inhalt der ehelichen Lebensgemeinschaft bei der Eheschließung vorgelegen hätte oder die ursprüngliche Einigkeit hierüber später entfallen, also die "Geschäftsgrundlage" im schuldrechtlichen Sinne fortgefallen sei. Diese Rechtfertigung beruht jedoch auf der irrigen Anschauung (die mehrfach in der Begründung des Diskussionsentwurfs auftaucht), daß die eheliche Gemeinschaft und die Verpflichtung hierzu allein von den Eheleuten, ihrem Versprechen erzeugt werde. Jede rechtliche Verpflichtung hat indes ihre Grundlage nicht nur in einem Versprechen, sondern in dem vorgegebenen Rechtsinstitut (z. B. Kauf, Darlehn, Schenkung), das die Parteien sich im Versprechen zu eigen machen und aus dem die mannigfachen, nicht ausdrücklich geregelten Rechtsbeziehungen abzuleiten sind. Auch das Eheversprechen und die eheliche Gemeinschaft in allen ihren Differenzierungen haben ihre verpflichtende Grundlage in der Institution "Ehe". Nur die Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft auf dieser institutionellen Grundlage ist der freien Vereinbarung der Eheleute überlassen; ein Dissens in dieser Hinsicht berührt nicht die Gültigkeit des Eheversprechens und den Bestand der Ehe. Die lebenslange Verantwortung für den anderen hört nicht auf, wenn sich der andere anders, als erhofft, entwickelt. Die unheilbare Zerrüttung einer Ehe kann auch nicht als "Fortfall der Geschäftsgrundlage" im schuldrechtlichen Sinne qualifiziert werden. Die Rechtsprechung, die diesen Begriff entwickelte, zeigt die Unmöglichkeit eines solchen Vergleichs: nur wenn die Grundlagen eines Rechtsgeschäfts, von denen beide Partner ausgingen, durch unvorhersehbare Umstände, die keiner der Partner zu vertreten hat - z. B. Katastrophen oder hoheitliche Eingriffe des Staates - beseitigt sind, so daß die Erfüllung der Verpflichtungen unmöglich oder unzumutbar wurde, ist die Geschäftsgrundlage entfallen; die Folge ist auch nur die Anpassung an die veränderte Lage, d. h. die Befreiung von unerträglichen Bindungen, aber nur selten die völlige Aufhebung. Auf die Ehe angewendet, würde die Grundlage entfallen, wenn einer der Partner unverschuldet so schwer und unheilbar körperlich oder psychisch erkrankt, daß eine eheliche Gemeinschaft ausgeschlossen oder untragbar ist. Das Ehegesetz (vom 20. 2. 1946) erkennt solche Fälle bereits als Scheidungsgrund an (§§ 44-47). Solange aber die Herstellung der ehelichen Gemeinschaft noch vom freien Willen und Verantwortungsbewußtsein der Eheleute abhängt, ist eine Zerrüttung der Ehe nicht durch ein schicksalhaftes Ereignis ausgelöst, das ohne Verschulden

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beider oder eines Ehegatten hereinbrach. Denn auch der Sinn der Ehe ist, wie der jeder Gemeinschaft, Aufgabe am Menschen: er fordert gegenseitiges Eingehen auf die Eigenart eines jeden und dessen Entwicklung, um eine drohende Zerrüttung zu verhindern. Ein Richter ist häufig nicht in der Lage, ein Verschulden mit objektiver Sicherheit festzustellen, nicht nur im Ehescheidungsrecht, auch im Strafrecht und im Schuldrecht. Doch kann man nicht, um diese und andere prozeßualen Mängel zu vermeiden, materielle Urkategorien des Rechts und der Gerechtigkeit- wie die Schuld - beseitigen, weder im Strafrecht, noch im Schuldrecht, noch im Ehescheidungsrecht: denn Recht und Gerechtigkeit verlören ihre Gültigkeit, weil solche Urkategorien in der Natur des Menschen, in seiner Freiheit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, ihren Grund und ihre Rechtfertigung haben. Wohl aber könnten und sollten die Folgen der Scheidung, insbesondere die Unterhaltspflicht der Ehegatten und das Sorgerecht für die Kinder, unabhängig vom Schuldspruch geregelt werden.

Ehescheidung wegen bloßer Zerrüttung- mit oder ohne Härteklauverleugnet die Verantwortlichkeit der Menschen füreinander und das Vertrauen, das ein Ehegatte in den anderen setzt. Sie verleugnet damit die Grundlagen des Eheversprechens und der Ehe. Sie eröffnet jedem der Ehegatten die Möglichkeit, sich ohne gerechten Grund vom Eheversprechen durch Trennung loszusagen und sodann den anderen willkürlich aus der ehelichen Gemeinschaft, einem Lebensstatus, auszustoßen, d. h. jeder könnte den anderen zum Objekt seiner Willkür, seiner Selbstsucht, seiner Wünsche machen: ein Verstoß gegen die Würde des Menschen und seine Freiheit.

sel -

Die Reformer können sich auch nicht darauf berufen, daß das z. Zt. geltende Ehegesetz im § 48 bereits eine Regelung der Ehescheidung wegen unheilbarer Zerrüttung vorsieht. Denn auch § 48 EhG verstößt gegen die Grundlagen des Rechts und der Billigkeit. Die unheilbare Zerrüttung wurde in Deutschland zum ersten Mal Scheidungsgrund durch die nationalsozialistische Ideologie, die in der Fortpflanzung der Rasse den Sinn der Ehe eines Deutschen erblickte, also materialistisch war. Dieser Scheidungsgrund zersetzte zuerst durch das Ehegesetz von 1938 (§ 55) das Recht, hat sich aber bis heute im § 48 des jetzt geltenden Ehegesetzes erhalten, etwas gemildert durch die Neufassung des Absatzes 2. Kann der oder die Beklagte nicht nach Abs. 2 des § 48 nachweisen, daß der klagende Teil die Zerrüttung ganz oder überwiegend verschuldet hat, so steht dem klagenden Partner ein "Recht" auf Scheidung der Ehe zu, wenn die häusliche Gemeinschaft seit drei Jahren aufgehoben ist. Also ein formales Recht zur willkürlichen Verstoßung des anderen.

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Auch wenn der beklagte Ehegatte in die Scheidung seiner Ehe einwilligt, ist die automatische Scheidung eine gefährliche Aushöhlung des Grundrechts, der Institution lebenslänglicher Verbundenheit. In prozeßualer Hinsicht ließe sich kaum je feststellen, ob der beklagte Partner die Zustimmung zur Scheidung freiwillig gegeben hat. Der klagende Teil, der in der Regel auch robuster sein wird als der beklagte, kann die Zustimmung unter Drohungen - z. B. dem anderen ein Zusammenleben zur Hölle zu machen - erpressen, um die Scheidung schnell und ohne Schwierigkeiten durchzusetzen; solche Erpressungen ließen sich nie aufdecken, weil der beklagte Partner unter Druck steht. Eine Ehe bei Einverständnis des beklagten Teils nach kurzer Frist automatisch zu scheiden, würde aber auch allgemein die Glaubwürdigkeit von feierlichen Versprechungen, von Treue, und damit den Bestand jeder menschlichen Gemeinschaft und Gesellschaft untergraben, da sie. in der Ehe ihre Keimzelle haben. Wird in der Ehe das Versprechen unbedingter Treue (im dargelegten Sinne) nicht mehr Ernst genommen, so wird jede sittliche Verbundenheit von Menschen, jede unbedingte institutionelle Verantwortung der Menschen füreinander, jedes Vertrauen in einen Menschen, jede existenzielle Gemeinschaft fragwürdig, weil Ehe die "Wirklichkeit der Gattung und deren Prozeß" ist79• Ein personaler status der Treue ist nicht beliebig auflösbar. Stellen Eheleute ihr individuelles "Glück" (das sie vielleicht in einem anderen Partner sehen) höher als ihre Treue und Verantwortung füreinander und legitimiert der Staat dieses Verlangen und den Bruch der Treue durch Scheidung der Ehe, so kann der Staat auch nicht unbedingte, dem Belieben des Einzelnen entzogene Pflichten und Verantwortungen für irgend eine andere Gemeinschaft, nicht mehr Treue, ja Einsatz des Lebens für Volk, Vaterland, Staat und seine freiheitliche Ordnung fordern; sie verlieren ihren Wert und werden nicht mehr ernst genommen; den Wehrdienst sucht man durch Kriegsdienstverweigerung zu umgehen, indem man Gewissensgründe vorspiegelt. Treue ist die Grundlage jeder Gemeinschaft und jeder Gesellschaft, die eheliche Treue aber ist ihr Urbild und Ursprung. Läßt der Staat den Treuebruch in der Ehezu-macht er ihn vom Belieben der Partner abhängig so wird jedes Versprechen, jedes Vertrauen in Menschen unglaubwürdig. Die Integrität der Ehe ist eines der Momente, um die sich die Auflösung der Gesellschaft dreht 80• Der Staat hat sich auch in einer pluralistischen Gesellschaft nicht wahllos ohne eigene Wertung nach den vorhandenen Meinungen zu richten und eine letzte gemeinsame Basis zu suchen, um auf ihr eine 79

so

Hegel, Philosophie des Rechts, § 161. Hegel, a.a.O., § 255.

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III. Die Grundrechte

Ordnung aufzubauen. Er hat sich insbesondere nicht Auffassungen anzupassen, die Recht und Gerechtigkeit wiederstreiten, weil sie die Freiheit der Gewalt ausliefern und die Würde des Menschen verletzen. Sondern jeder Staatsmann hat die Ansichten und Wünsche am Maßstab des Rechts und der Gerechtigkeit abzuwägen und alle Meinungen auszuscheiden, die vor diesen Werten, die konstitutiv für jede Gesellschaft sind, keinen Bestand haben können, insbesondere solche, die der Freiheit der Triebe, der privaten Wünsche, kurz: materialistischer Zielsetzungen den Vorrang geben vor der Verantwortung gegenüber anderen und dem Bestand von Pflichten. Der Staatsmann hat seine Wertung und Entscheidung einsichtig und überzeugend als notwendig und gültig für die Gesellschaft darzutun. Oft ist gerade das, was im Gegensatz zu lautstark geäußerten Meinungen steht, das politisch Richtige und Erhaltende. Im Zusammenhang mit dem Recht der Scheidung soll auch die rechtliche Gestalt der ehelichen Gemeinschaft dahin verändert werden, daß die Frau das gleiche Recht zur Berufsarbeit erhält wie der Mann, d. h. ihre Pflichten in Ehe und Familie sollen nicht mehr grundsätzlich den Vorrang vor ihrer Berufsarbeit haben (wie nach §§ 1356, 1360 BGB). Dabei wird ein Gesetz, das solche Veränderung vorsieht, zu berücksichtigen haben, daß nach dem Grundrecht des Art. 6 Abs. 2 GG Pflege und Erziehung der Kinder "das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" sind. Dieses Grundrecht darf nicht durch die Berufsarbeit beider Eltern verkürzt werden. Notfalls hat der Staat sie in die Lage zu versetzen, ihr Recht und ihre Pflicht gemäß dem Grundrecht wahrzunehmen. k) Eigentum und Freiheit (Art. 14 GG). Der Mensch entfaltet seine Freiheit in und an Lebensgütern, sie sind ihm eigen. Das Eigentum ist der Bereich, in dem der Mensch frei zu sein vermag. Es ist das MitteL zur Freiheit, oder in der klassischen Definition der Virginia-Declaration (1776): "all men ... have certain inherent rights"; "namely the enjoyment of life and liberty, with the means (!) of acquiring and possessing property and pursuing and obtaining happiness and safety". Nicht das Eigentum als solches, sondern der Sinn, den der freie Mensch ihm gibt, erfüllt eine Aufgabe und Funktion, die die Gemeinschaft konstituiert. "Das Eigentum ist der Stoff für die Offenbarung der Individualität des Menschen" 81 • Daher sollte die Nutzung der Lebensgüter nach dem Gesichtspunkt verteilt werden, daß einem jeden die unverkümmerte freie Existenz verbleibt, damit er das "Seinige", d. h. den Sinn seines Lebens in gleicher Weise wie andere zu entfalten vermag. "Erworbene Rechte können nicht als 81

Fr. J. Stahl, Die Phil. d. Rechts (5. Aufl.), Bd. II 1, S. 351.

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unantastbar gelten, soweit sie das Recht der Persönlichkeit anderer aufheben". "Es ist ähnlich, wie die Freiheit des Einen nie die Integrität der anderen verletzen darf" 82 • Der Grundsatz der Gleichheit gebietet, daß die Lebensgüter sachlich nach den Fähigkeiten, Leistungen und Bedürfnissen und nach den Funktionen der Güter verteilt sein müssen, nicht aber nach dem Eigennutz. Besteht Mangel an einigen Lebensgütern, so ist ihre Nutzung und damit die Freiheit gemäß dem Prinzip der Gleichheit zu beschränken. Das heutige Eigentum aber ist grundsätzlich nach dem Gesichtspunkt des Eigennutzes verteilt: ein jeder darf in den Formen des Rechts beliebig viel Vermögensgüter an sich raffen. Dieser Sinn - die Privatnützigkeit - wird durch Art. 14 Abs. 2 GG zwar begrenzt, aber nicht beseitigt: der Gebrauch des Eigentums soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, d. h. die Privatnützigkeit bleibt als grundsätzliches Merkmal des Eigentums bestehen. Eben dieser grundsätzliche Sinn ist aber fragwürdig. Sinn des Eigentums sollte die Entfaltung der persönlichen Freiheit aller sein. Das generelle Prinzip der Privatnützigkeit differenziert die Nutzung der Lebensgüter nicht danach, daß jedem zur gleichen Erfüllung seiner individuellen Aufgaben, dem "Seinigen" verholfen wird und die unvermeidlichen Einschränkungen dieser Entfaltung jeden gleich treffen. Jenes Prinzip differenziert daher auch nicht nach den Funktionen, die die Lebensgüter in einer Gemeinschaft freier Menschen haben: Konsumgüter, Produktionsgüter, Boden, Wohnung usw. Kurz: das Eigentum im heutigen Sinne grenzt grundsätzlich die Selbstsucht des einen von der des anderen ab, aber verteilt nicht die Güter nach ihrer Bestimmung, der freien Entfaltung eines jeden zu dienen. Dieses Institut des Eigentums kann daher die Freiheit des Einzelnen abwürgen: der Eigentümer vermag die Habenichtse am Gebrauch ihrer Freiheit zu hindern, indem er ihnen die Nutzung der hierfür erforderlichen Lebensgüter vorenthält, ohne sie selbst zu nutzen. Das Eigentum kann zum Grundrecht der Unfreiheit und der Ungleichheit werden. Den Sozialtheorien liegt "die sittliche Wahrheit zu Grunde, daß jedes Individuum absoluter Zweck ist, daß darum der Kreis der Wohlhabenden, der die Gewalt, die tatsächliche und die rechtliche, innehat, die Masse der Nichtbesitzer nicht ihrem Geschicke überlassen darf" 83• Eigentum ist nicht Besitztum, nicht Privileg, mit dem ich nach Belieben verfahren, also auch andere beherrschen kann; sondern Eigentum ist Gabe, mit der ich meinen Dienst an den Menschen verrichten soll, ist also Auf-gabe. Darin hat der Sozialismus recht: nicht das Eigentum adelt den Menschen, sondern die Arbeit - aber s2 83

Fr. J. Stahl, a.a.O., S. 339. Fr. J. Stahl, a.a.O., Bd. I, S . 98.

9 Hamel

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nicht bloß die materielle Produktivität, sondern die Arbeit für den Menschen-. Sie ist die Mitte der Freiheit. Das Unrecht des heutigen Eigentums läßt sich nicht dadurch beseitigen, daß man die Güter nach einer anderen abstrakten Ideologie verteilt. Weder das heutige Eigentum am Boden und an Bodensc..'lätzen, noch das heutige Eigentum an Produktionsgütern verletzt unbedingt die Freiheit. Wo jedem Menschen unermeßliches Urland zur Verfügung steht, das der Bearbeitung harrt, führt die Okkupation und Kultivierung des Bodens noch nicht zur Beeinträchtigung der Freiheit anderer. Noch weniger ist der Begriff der Produktionsgüter geeignet, ungerechtes Eigentum vom gerechten zu scheiden: jeder Hammer, jeder Nagel, jeder Pinsel ist ein Produktionsmittel; ihr Gebrauch beeinträchtigt aber nicht die Freiheit anderer. Größe und Wert der Produktionsmittel sind ebenfalls nicht Kriterien, nach denen eine gerechte Verteilung vorgenommen werden könnte; die Grenzen ließen sich nicht danach allgemein bestimmen. Vielmehr wird Eigentum erst dann ungerecht, wenn es ein Monopol verschafft, das anderen den Zugang zu Lebensgütern verschließt, die sie zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit unumgänglich benötigen. Ein derartiges Monopol macht die Teilhabe der anderen von der Willkür des Eigentümers abhängig; es errichtet eine gesetzlose Herrschaft des Eigentums und verletzt damit die Freiheit der anderen. Gegen eine solche Verkümmerung der freien Existenz darf und soll der Staat einschreiten, d. h. die Nutzung dieser Güter beschränken und neu verteilen; denn die staatliche Gewalt darf und soll den Rechten die Schranken errichten, die zur Entfaltung der Freiheit aller geboten sind. Die Verteilung der Güter kann sich nur nach deren konkreten Funktion in der konkreten Gemeinschaft richten. Konsumgüter sind zur Privatnützigkeit bestimmt; ihr Gebrauch beeinträchtigt nicht die Freiheit anderer, sofern sie in ausreichendem Maße vorhanden oder nach dem Maßstab der Gleichheit verteilt sind. Grund und Boden hingegen ist Lebensraum und Stoff der Urproduktion. Er kann nicht produziert werden, ist also seiner Natur nach begrenzt. Reicht er nicht aus, um jedem die freie Existenz zu gewähren, so führt der Eigennutz zu keiner gerechten Verteilung. Die Gemeinschaft hat daher die Nutzung des Bodens nach jenen sachlichen Maßstäben der Gleichheit zu verteilen derart, daß jeder entsprechend seiner Individualität daranteilhaben kann. Aus diesem Grunde ist der Rechtsgrundsatz gerechtfertigt, ja, geboten, daß der Staat Obereigentümer des ganzen Landes ist - ein Rechtsgrundsatz, der heute noch in England gilt (der König als Repräsentant des realm ist Iord paramount des Landes) und bei uns entsprechend bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte (der König als Repräsentant seiner Völker ist Obereigentümer des Landes) -. Es müßten die notwendigen rechtlichen Konse-

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quenzen daraus gezogen werden. Grund und Boden steht der Gemeinschaft des Landes, dem Staate zu; ein jeder kann daran teilhaben. Die Verteilung nach der sozialen Funktion des Bodens- auch eine gerechte Aufteilung des Großgrundbesitzes oder dessen gemeinsame Nutzung ist Aufgabe der staatlichen Gewalt. Soweit der Boden für die gemeinsamen Belange in Anspruch genommen werden muß, wird das potentielle Obereigentum der Gemeinschaft aktualisiert. Das "Deichurteil" des Bundesverfassungsgerichts hat den ersten Schritt zu dieser Erkenntnis getane•. Die beliebige Verfügung über Grund und Boden- ohne Rücksicht darauf, ob der Käufer ihn für sich benötigt - sollte unzulässig sein. Die Aufhebung des Mieterschutzes in der Bundesrepublik war ein Rückfall in unsoziale kapitalistische Anschauungen: man kann nicht einer Familie den privaten Lebensraum, den sie sich zu ihrer Entfaltung nach ihrer Eigenart gestaltet hat, ohne schwerwiegende Gründe nehmen allein aus dem Grunde, daß ein anderer formal das Eigentum daran hat, es sei denn, daß er es für sich und seine Familie dringend benötigt. Auch hier sollte der Vorrang eines Nutzungsrechts allein durch Güterahwägung im konkreten Falle bestimmt werden, wie sie das Mieterschutzgesetz der Sache nach vorsah. Man sollte zu gestuften dinglichen Nutzungsrechten am Boden, und damit auch an Wohnungen gelangen. Dem Grundeigentümer und seiner Familie sollten nur die von ihnen persönlich gezogenen unmittelbaren Früchte und der persönliche Gebrauch des Eigentums zustehen. Alle weiteren Vorteile - insbesondere die Wertsteigerung, die nicht durch Aufwendungen des unmittelbaren Eigentümers herbeigeführt wurden sollten der Gemeinschaft als Obereigentümer zufallen. Dabei ist es unwesentlich, ob diese Vorteile durch Investitionen der öffentlichen Hand (Aufschließung), oder durch die Art der privaten Ansiedlung in der Umgebung, oder allein durch die Lage in einem Viertel, das allmählich allgemeines Lebenszentrum geworden ist, entstanden sind: denn alle diese Ursachen haben in der Zugehörigkeit zum Gemeinschaftsleben ihren Grund, so daß es gerechtfertigt ist, daß die Vorteile der Gemeinschaft zufallen. Das Städtebaugesetz kann der heutigen sozialen Lage nur gerecht werden, soweit es von diesen rechtlichen Grundsätzen ausgeht. Für Produktionsmittel, die produziert werden können, sind jedoch andere Gesichtspunkte maßgebend. Entscheidend ist, daß das Eigentum an großen Produktionsgütern, insbesondere Fabriken, nicht vom Eigentümer allein durch seine Arbeit genutzt werden kann, aber andere von der Nutzung ausschließt. Das heutige Eigentum daran ist ein Monopol. sc

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BVerfG. E. 24, S. 367 (388 ff.) .

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III. Die Grundrechte

Der persönliche Gebrauch allein aber sollte maßgebend dafür sein, daß eine Sache jemandem als eigen zusteht. Denn nur in der persönlichen Nutzung entfaltet sich die Freiheit: Eigentum ist seinem Wesen nach ein Bereich, in dem der Mensch frei zu sein vermag. Produktionsmittel sollten daher dem eigen sein, der sie persönlich zu nutzen vermag: einem Einzelnen oder einer Produktionsgemeinschaft, insbesondere auch einer Familie. Nach dem heutigen Eigentumsbegriff aber kann der Eigentümer von Produktionsmitteln, um sie zu nutzen, andere freie Menschen hinzuziehen, die keine Rechte daran haben. Sie werden, um durch ihre Arbeit zu leben, vom Eigentümer genötigt, ihre persönliche Arbeitskraft zu Bedingungen hinzugeben, die zunächst von seinem Ermessen abhängen und die nicht dem Werte ihrer Arbeit zu entsprechen brauchen; das Streikrecht deckt diesen Mangel des positiven Rechts auf. Damit ist die Persönlichkeit mißachtet und Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Denn zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört, daß sie über ihre persönlichen Kräfte und Werte durch Vertrag zu angemessenen Bedingungen verfügen kann. Der Mensch kann durch sein Eigentum an Produktionsmitteln heute andere "ausbeuten", und die Gleichheit kann zur "Gleichheit der Ausbeutungsbedingungen in allen Produktionssphären" (Engels) verkürzt werden. Wenn jemand sein Eigentum durch fremde Arbeitskraft nutzt, müßten die Arbeitnehmer die rechtliche Stellung erhalten, die ihrer Persönlichkeit und ihrer Arbeit, d. h. ihrem Beitrag zum Werte des Produktes entspricht. Darin haben die Rechte zur Mitwirkung und Mitbestimmung ihren Sinn und ihre Grenzen. Die Arbeitnehmer sind nicht Werkzeuge des Kapitalgebers, sondern sie sind selbst Miteigentümer der Produktionsmittel entsprechend ihrer Aufgaben im Betriebe und der Struktur des Betriebes, die durch den sachlichen Zweck geboten ist. Leitet der Eigentümer persönlich Unternehmen und Betrieb, so entscheidet er über die Organisation des Betriebes und die Integration in den Markt; denn wer die Produktionsmittel zur Einheit eines produktiven Betriebes vereint, ist persönlich für die Produktivität der Arbeit aller verantwortlich. Den anderen Betriebsmitgliedern steht jedoch Mitbestimmung an allen Entscheidungen zu, die ihre persönliche Stellung im Betrieb unmittelbar berühren und nicht zwingend durch den gemeinsamen Zweck geboten sind. Alle Miteigentümer haben einen Anteil am Gewinn, entsprechend dem Werte ihres Beitrags zum Produkt. Danach ist die Verfassung des Unternehmens zu gestalten. Anders sind jedoch die Betriebe zu beurteilen, die sich in der Hand von Kapitalgesellschaften befinden. Führen die "Eigentümer" nicht unter eigener wirtschaftlicher Initiative und persönlicher Verantwortung das Unternehmen und den Betrieb, sondern investieren sie nur ihr Kapital, so ist der Sinn des Eigentums - der Entfaltung der Per-

5. Die Systematik der Grundrechte

133

sönlichkeit zu dienen - verkannt: die Aktionäre sind nicht Unternehmer, sondern ihr Anteil wird zum reinen Spekulationsobjekt. Dem Wesen der Sache nach steht das Eigentum denen zu, die am Betriebe und am Unternehmen mitwirken: der Gemeinschaft der Arbeiter und Angestellten, zu der in solchen Unternehmen auch der angestellte Leiter gehört. Sie haben zwar nicht alle die Qualitäten eines Unternehmers, den Betrieb leistungsfähig zu gestalten und in den Markt zu integrieren. Aber sie sind genau so oder besser als die Aktionäre geeignet, die richtigen Unternehmer anzustellen und grundsätzliche Entscheidungen miteinander zu treffen. Einem Gemeineigentum der Arbeitnehmer diese angemessene Rechtsgestalt zu geben, ist soziales Gebot einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung; die Geldgeber haben da sie ihr Kapital zwar geschaffen haben, aber nicht durch persönliche Arbeit nutzen- kein Bestimmungsrecht, kein Eigentum (als Mittel zur Freiheit); sie sind durch Geldansprüche, Kontroll- und Pfandrechte zu entschädigen. Eine bloße Reform des Aktienrechts aber ist ebenso unzulänglich wie der Einbau einiger Vertreter der Arbeitnehmer in die leitenden Organe einer Kapitalgesellschaft. Sinnwidrig ist auch, wenn Vertreter der Arbeitnehmer nicht allein von den Betriebsangehörigen, sondern unter Mitwirkung der Gewerkschaften gewählt werden. Denn die Gewerkschaft repräsentiert nicht die Mitglieder eines Betriebes, da nicht alle ihr angehören; sie kann auch nicht eine repräsentative Aufgabe kraft Amtes erhalten, da es sich um den Bereich der Freiheit, der Gesellschaft, nicht des Staates handelt85• Eine Verstaatlichung der Betriebe - wie sie in den kommunistischen Staaten üblich ist - verletzt das Wesen der Freiheit. Sie fingiert - ähnlich wie die Aktiengesellschaft - das Eigentum einer abstrakten unorganischen Menge, während es nur denen "eigen" ist, die es als Mittel zur persönlichen Entfaltung benutzen. Die Verstaatlichung geht von einem utopischen Menschen aus, der um dieser Fiktion willen einem solchen Betriebe die gleiche persönliche Verantwortung und Hingabe entgegenbringt, wie seinem persönlichen Eigentum. Werden daraus besondere Dienstpflichten abgeleitet und durch Zwang konkretisiert, ist die Freiheit der Menschen verletzt. Das Eigentum darf, auch abgesehen vom Recht an Produktionsgütern, nicht die persönlichen Grundrechte anderer erheblich beschränken. Sondern der persönliche Vorteil, den die Nutzung des Eigentums gewährt, ist mit der Beeinträchtigung, die andere dadurch erleiden, abzuwägen. Ein Bauwerk darf nicht dem Nachbarn Luft, Licht oder Sonne nehmen. Insbesondere kann die Freiheit der Meinungsäußerung durch Mono~ pole an Massenmedien eingeschränkt, ja, ausgeschlossen werden. Soss Vgl. oben Kap. li Abschn. 9.

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III. Die Grundrechte

weit solche Monopole aus technischen Gründen (begrenzte Zahl der Wellenlängen) unvermeidlich sind, müssen sie daher unabhängigen Instanzen übertragen werden, die dafür sorgen, daß jede Meinung (ebenso wie jedes Bekenntnis) zu Worte kommt und jede Polemik, die andere Meinungen verzerrt, vermieden wird: den Radio- und Fernsehanstalten ist diese Parität aufgegeben, aber sie wird nicht durchweg gewahrt. Das Recht des Verlegers einer periodischen Druckschrift (Zeitung, Zeitschrift) kann zum Monopol werden, das die Pressefreiheit anderer beeinträchtigt. Nur wo er die periodischen Druckschriften persönlich redigiert, ihre Richtung und ihren Stil bestimmt und sie damit zugleich in den Markt integriert, erfüllt er eine sachliche, durch den Sinn der Druckschrift bedingte Funktion: so wie jeder Betrieb, jede Versammlung und jeder Aufzug einen Leiter haben muß, der die :Mitglieder zur gemeinsamen Mitwirkung koordiniert, so auch die Herausgabe einer periodischen Druckschrift; denn sie muß eine einheitliche Gestalt haben. Allen, die an der Herausgabe teilhaben, stehen im Rahmen der allgemeinen Tendenzen und des Typs Mitbestimmungsrechte zu; sie sollten für Zeitungen in Redaktionsstatuten geregelt werden. Wo jedoch der Verlag von Zeitungen und Zeitschriften in einer Hand monopolisiert wird derart, daß der Verleger nicht selbst die Redaktion der periodischen Druckschriften verantwortlich leitet, sondern hierfür abhängige Redakteure einsetzt und mit Weisungen versieht, (Hearst in den USA, Northclyff in England, Scher!, Ullstein, Springer in Deutschland), ist die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit beeinträchtigt: je mehr solche Monopole der Verleger entstehen, desto weniger können abweichende Meinungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Entsprechend kann die Freiheit, Meinung, Bekenntnis und Kunst im Film zu äußern, praktisch eine Freiheit der Filmunternehmer werden, wenn die Finanzierung der Filmherstellung sich in wenigen Händen vereinigt. Die Eigentümer dieser Massenmedien haben jedoch eine öffentliche Aufgabe, denn sie gestalten die öffentliche Meinung, die den Volkswillen konstituiert. Für die Presse ist die öffentliche Aufgabe in den Gesetzen ausdrücklich anerkannt, aber nicht in ihren praktischen Konsequenzen durchgeführt. Was öffentliche Aufgabe eines privaten Unternehmens bedeutet, geht beispielhaft aus der Rechtsstellung der Apotheken nach dem Bundesapothekengesetz vom 20. 8. 1960 hervor: der Apotheke obliegt "die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung der ordnungsmäßigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung" (§ 1); der Eigentümer muß daher, um dieser öffentlichen Aufgabe voll nachzukommen, den Betrieb persönlich in eigener Verantwortung leiten

5. Die Systematik der Grundrechte

135

(§ 7) und darf nur eine Apotheke besitzen (§ 3 Ziff. 5). Diese Grundsätze, die sich aus dem Wesen der öffentlichen Aufgabe eines privaten Unternehmens ergeben, müßten ähnlich auch für die Presse und für den Film gelten. D. h. der Eigentümer- Verleger oder Filmunternehmer - müßte persönlich in eigener Verantwortung dem Massenmedium die geistige Gestalt (der Meinung, des Bekenntnisses, der Kunst) geben; der Verleger eines periodisch erscheinenden Druckwerkes sollte verantwortlich für die Herausgabe sein. Er sollte auch nur so viele Zeitungen oder Zeitschriften verlegen dürfen, wie er persönlich in eigener Verantwortung zu redigieren vermag. Denn die öffentliche Aufgabe verpflichtet den Verleger, sich dem Betriebe bis in alle Einzelheiten mit seiner ganzen Person zu widmen. Verpflichtungen, die die Erfüllung seiner öffentlichen Aufgabe betreffen, dürfte er Geldgebern gegenüber nicht übernehmen. Eine Ehrengerichtsbarkeit sollte über die Innehaltung der Berufspflichten wachen. Wird die öffentliche Aufgabe der Presse in dieser Weise ernst genommen, so ist der Gesichtspunkt der Privatnützigkeit nur doch insoweit bestimmend, als die öffentliche Aufgabe ihn zuläßt. Das Entsprechende gilt vom Filmunternehmer. Als Eigentümer eines Massenmediums sollte auch er verpflichtet sein, persönlich in eigener Verantwortung jeden Film seines Unternehmens herzustellen: nur wenn und soweit er dies vermag, sollte er die Herstellung von Filmen übernehmen dürfen. Daß der Inhaber eines Unternehmens der Filmproduktion als Hersteller "gilt" 86 und somit alle Rechte eines Herstellers erwirbt, auch wenn er nicht selbst der Hersteller ist, stellt eine kapitalistische Verkümmerung der Urheberfreiheit dar.

Kurz, die öffentliche Aufgabe der Massenmedien schränkt die private Nutzung des Eigentums ein: sie verpflichtet die Eigentümer, sich persönlich dieser Aufgabe zu widmen, sie schließt aus, daß beliebig viele Massenmedien sich in einer Hand vereinigen und Monopole entstehen. Das Kapital, das die Massenmedien erfordern, würde sich damit auf mehrere Unternehmen verteilen: jedes von ihnen hätte sein individuelles Gesicht; fremden Personen dürften keine Rechte auf die geistige Gestaltung eingeräumt werden (etwa bei Aufnahme eines Darlehns). Die Freiheit, Meinung, Bekenntnis und Kunst der Öffentlichekit mitzuteilen, wäre durch die Vielzahl der Verleger oder Filmunternehmer gewahrt, da der Einfluß des Kapitals auf das unumgänglich notwendige Maß beschränkt wäre. Absatz und Gewinn der Massenmedien würden sich nach ihrer geistigen Überzeugungskraft richten, mit der sie die Gemeinschaft integrieren. se § 85 Urheberrechtsgesetz.

Viertes Kapitel

Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt 1. Absclmitt: Staatsfunktionen und Gewaltentrennung Bei der Erörterung der sogenannten Gewaltenteilung - besser: der Balance der Gewalten - müssen zwei Gesichtspunkte auseinandergehalten werden: a) der essentielle: in welche Funktionen gliedert sich die öffentliche Gewalt eines Rechtsstaates ihrem Wesen nach? b) der politisch-pragmatische: wie soll die Ausübung der öffentlichen Gewalt auf mehrere Repräsentanten verteilt werden, damit sie einander kontrollieren und Mißbrauch verhindern? Diese Gesichtspunkte sind keineswegs kongruent. Die Unterscheidung der Staatsfunktionen im essentiellen Sinne bedeutet Gliederung der staatlichen Determinierung und Konkretisierung des Rechts nach bestimmten Formen, die dem Wesen dieser Aufgabe gemäß sind: die formellen Hoheitsrechte im Unterschied zu den materiellen, nach Sachgebieten bestimmten Hoheitsrechten (Finanzen, Wirtschaft, Arbeit, Polizei, Äußeres usw.). Die öffentliche Gewalt wird demgemäß von allen rechtsstaatliehen Verfassungen, auch vom Bonner Grundgesetz in drei Funktionen gegliedert: Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Jede dieser Funktionen wacht zwar darüber, daß alle ihre Formen wahren; aber der Sinn der Differenzierung besteht in den besonderen Formen jeder dieser Funktionen. Das politisch-pragmatische Prinzip der cheques and balances hingegen zwingt nicht, diese Funktionen drei getrennten Gewalten zu übertragen. John Locke unterschied drei Funktionen, aber verteilte sie auf zwei Repräsentanten: König und Parlament (für Locke lag, englischem Recht entsprechend, das Schwergewicht der hoheitlichen Verwaltung bei der Rechtsprechung, zu der auch gesetzesgebundene Akte der Verwaltung zählten, so daß die dritte Gewalt in der Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen, einschließlich des Krieges und des Friedens, bestand). Der Gesichtspunkt der cheques and balances kann auch zu vielen anderen verfassungsrechtlichen Differenzierungen

2. Die regierende Gewalt

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der öffentlichen Gewalt führen: z. B. zum Bundesstaat oder zum ZweiKammer-System. Die essentielle rechtsstaatliche Gliederung der staatlichen Tätigkeit in drei Funktionen beruht auf der rationalen Konzeption vom Vorrang des Gesetzes, der die Freiheit sichert: nur wenn jede Rechtsmacht und jede Rechtspflicht, auch die der vollziehenden Gewalt, durch allgemein gültige Gesetze von der Volksvertretung gemäß der Verfassung rational bestimmt sind, und die Durchführung durch unabhängige, d. h. nur dem Recht und dem Gesetz unterworfene Richter kontrolliert werden kann, sei der Mensch Recht und Gesetzen, nicht der Willkür von Menschen unterworfen und damit frei (vgl. Art. 20 Abs. 3, und Art. 19 Abs. 4 GG). So sieht das Grundgesetz- wie sich aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt - den Sinn des Gesetzes unter anderem darin, Inhalt, Zweck und Ausmaß der gewährten Rechtsmacht zu bestimmen. Die Staatsfunktionen sichern die allgemein gültige Determinierung des Rechts durch Gesetz und die Herrschaft des Rechts und des Gesetzes um der Freiheit willen. Es handelt sich um die spezifischen Formen der hoheitlichen Determinierung des Rechts. Nichts besagen die Funktionen jedoch darüber, wie der Inhalt des Rechts zu gestalten ist, um den irrationalen Anforderungen des Gemeinschaftslebens zu entsprechen (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Die liberalen Väter der Gewaltentrennung - insbesondere Montesquieu und Kant - sahen darin kein Problem: der richtige Inhalt der Gesetze ergab sich aus der vorgegebenen Vernunft, die alle beherrschte, zum gemeinsamen Handeln nötigte und durch Denken und Diskussion erkannt wurde. 2. Abschnitt: Die regierende Gewalt Indes war diese Anschauung eine rationale Verkürzung des soziologischen Sachverhalts, die in den Vorstellungen der liberalen Gesellschaft wurzelte. Gewiß ist der Sinn des Gesetzes im Rechtsstaat, die Freiheit gemäß der Vernunft rechtlich zu begrenzen, so daß die Freiheit des einen mit der des anderen zusammen bestehen kann. Das Gesetz ist Rechtsnorm der Freiheit. Aber sein Sinn erschöpft sich nicht darin, und Gesetzgebung ist nicht bloß Erkenntnis, Bestimmung und Sicherung einer vorgegebenen allgemeinen Rechtsnorm, die theoretisch durch Vernunft zu erkennen wäre. Sondern das Recht selbst - und damit auch das Gesetz - hat einen materiellen Sinn: es erfüllt das Gebot der praktischen Vernunft, die gemeinsame Existenz mit anderen nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit zu sichern1 • Aufgabe des Ge1

Oben Kap. I Abschn. 1 u. 2.

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

setzgebers ist daher zunächst nicht theoretische Erkenntnis eines allgemeinen Gesetzes, sondern diese konstituierende vernunftgebotene Zielsetzung; sie ist persönliche gestaltende Tat, die aus der Fülle unzähliger Möglichkeiten durch Werturteil die maßgebende gerechte Norm der gemeinsamen freien Existenz findet und von dem allgemeinen theoretischen Verstand reguliert und determiniert, aber nicht konstituiert wird. Das Gesetz weist der Freiheit des Einzelnen die rechtlichen Grenzen und Pflichten, die zum gemeinsamen Wirken aller erforderlich sind, damit sie sich entsprechend den Grundsätzen der Gerechtigkeit nicht einander hindern, sondern ergänzen. Jedes Gesetz hat demnach einen politischen undefinierbaren Sinn: die Bewältigung des irrationalen gemeinsamen Lebens durch rechtliche Form. Auch das BGB hat den politischen Sinn, der Gesellschaft einer bestimmten liberalen Struktur die rechtlichen Formen zur Entfaltung zu geben; ihm liegen daher typisch liberale Werturteile zugrunde, die sich besonders deutlich in der Gestalt des Dienstvertrages und in den Grundsätzen des Eigentums (§ 903!) zeigen. Jedes Gesetz ist Maßnahme: es soll fördern und verhüten um einer von Wertvorstellungen bestimmten Planung der Gesellschaft und Gemeinschaft willen. Ein abstraktes Gesetz, das nur aus theoretischen Erwägungen des Verstandes folgt, ist eine irreale Spielerei, so auch die Unterscheidung des "Maßnahme-Gesetzes" vom "Gesetz": sie geht von einem vorgegebenen geometrischen Bild des Gesetzes der Gesellschaft aus, das logisch festzustellen sei - die Freiheit des einen von der des anderen nach rationalen Grundsätzen der Gleichheit abzugrenzen -. Jedes Gesetz hat aber ein sozialpolitisches Ziel. Gesetzgebung ist daher nicht theoretische, durch Denken und Diskussion gewonnene Erkenntnis eines theoretisch begreifbaren allgemeinen Gesetzes der Gesellschaft, sondern politische Planung des gemeinsamen Lebens nach bestimmten allgemein gültigen Wertmaßstäben. Zunächst hat jeder, der an der Gesetzgebung teilnimmt, intuitiv die politische Entscheidung zu treffen, welche der möglichen Gestaltungen des Rechts das gemeinsame Leben der gerechten Entfaltung zuführt: er hat das angemessene Recht zu finden. Im Gesetzentwurf fließen daher mannigfaltige Informationen über die Lage, Bedürfnisse, Wünsche, Anregungen, fließen praktische Erfahrungen und Kenntnisse zusammen: aus alledem formt der Staatsmann nach seiner persönlichen Intuition die politische Richtung, die das gemeinsame Leben freier Menschen ermöglicht und fördert, er entwirft die Gesetze, die hierfür erforderlich sind. Den Inhalt eines Gesetzes zu finden- die Rechtsfindung- verlangt zunächst persönliche politische Wertung der Gegebenheiten und Zielsetzungen, ist persönlich gestaltende Intention aller, die aktiv am Gesetzesentwurf mitwirken, von den Referenten, den Ministern, dem Kanzler bis zu

2. Die regierende Gewalt

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den Abgeordneten. Diese die Gemeinschaft konstituierende Gestaltung geht den Formen der Gesetzgebung vorher und wird von ihnen vorausgesetzt: schon die Gesetzesvorlage und der Gesetzes-Antrag erfordern einen bestimmten Gesetzes-Entwurf. Die Rechtsfindung entzieht sich der Gewaltenteilung, weil sie sich der allgemein gültigen rechtlichen Determinierung entzieht. Sie ist individuelle Eingebung und formende Tat, die zwar von der Verfassung und von Gesetzen umgrenzt, aber nicht begrifflich vorgezeichnet werden kann. Sie ist kontingent, ist die Quelle, aus der die staatliche Gemeinschaft Leben und Richtung erhält. Sie ist der Kern des Regierens, das die staatliche Gemeinschaft konstituiert. Zur Rechtswirksamkeit der Anordnungen gehören die Formen der Gesetzgebung, insbesondere der Beschluß der Volksvertretung und die Veröffentlichung; Gesetzgeben ist Regieren in bestimmten Formen. Aber einseitig und abstrakt ist, die Formen der Gesetzgebung allein als konstituierend anzusehen. Die Qualität eines Gesetzes, die das Schicksal des Volkes bestimmen kann, wird vor und in diesen Formen durch die nicht definierbare Anschauung und Planung der Staatsmänner gezeugt, die den unbestimmten Volkswillen rational nach den im Volke lebenden sozialen rechtlichen Werten aufzeigt und damit den staatlichen Funktionen und der staatlichen Gemeinschaft die Wege zur Entfaltung weist. Regieren setzt die staatliche Einheit, die Verfassung und die Funktionen in Gang: dazu gehört nicht nur die Erfüllung verfassungsrechtlicher Pflichten, wie z. B. die staatlichen Repräsentanten zu instituieren (Ausschreibung von Wahlen, Wahlprüfungen, Erlaß von Geschäftsordnungen der obersten Repräsentanten usw.). Sondern Regieren ist die hoheitliche Lenkung der Gemeinschaft nach freiem pflichtmäßigem Ermessen in den Formen des Rechts. Durch Regieren erhalten diese Formen, zu denen auch die drei Funktionen zählen, ihren konkreten Sinn und Inhalt. Regieren ist die treibende Kraft, der Motor der öffentlichen Gewalt. Ein Staat kann ohne Gewaltentrennung, aber er kann nicht ohne Regieren bestehen. Hört das Regieren auf, so geht der Staat mit seiner Verfassung und seinen Funktionen unter; denn seine Lebenskraft erhält er von den persönlichen Gaben der regierenden Staatsmänner und dem Volke, das sie beruft. Über die Gesetzesfindung und Gesetzgebung hinaus geschieht Regieren durch persönliche Kontakte, Gespräche, Verhandlungen, durch persönliche Zusagen, durch öffentliche Reden, durch Schlichten, Vermitteln, Ausgleichen, aber auch durch Lenkung der freien verwaltenden Tätigkeit, durch Planung öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen, durch öffentliche Aufträge, durch Subventionen an private Wirtschaftszweige. Erst hierdurch, nicht durch Gesetz allein, kann die praktisch notwendige Harmonie, die Homogenität und Reziprozität des

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

Verhaltens, die Gesinnung, die die Gemeinschaft konstituiert2 bewirkt werden. Gegenüber anderen Staaten wird das notwendige Einvernehmen sogar vorwiegend mit solchen Mitteln hergestellt. Dieses gesamte politische Handeln, das "Regieren", ist weder nur Gesetzgebung, noch ist es nur Ausführung eines gesetzlichen Gebotes. Sondern es ist persönliche Eingebung und Gestaltung nach Werten der Gerechtigkeit, ist der Impuls des staatlichen Lebens, das im Grundgesetz "eine neue Ordnung" erhielt (vgl. Präambel GG). Daher nennt England, John Locke folgend, das gesamte Handeln der Gewalten nach seinem gestaltenden Sinn: "government" und bringt damit treffend zum Ausdruck, daß ein Rechtsraum der sinnbestimmten Aktivität gemeint ist, während unser Begriff "Staat" zu der irrigen Vorstellung des Statischen verführt. Ist Regieren individuelle Gabe und Tat, so müssen die Richtlinien der Politik von Einem oder von einem Kollegium bestimmt werden, dessen Mitglieder sich im Wesentlichen zu denselben politischen Werten, Zielen und Wegen bekennen: der Regierung. Ihr kommt auch die Leitung der Verwaltung zu, da deren Behörden die Politik im Rahmen und nach den Geboten der Gesetze durchzuführen haben und der Regierung das Material zur Beurteilung der Gesamtlage verschaffen. Eine Regierung kann nur durch die Erfahrung ihrer Verwaltung feststellen, welche gesetzliche Regelung praktikabel ist, d. h. praktisch eine Handhabe gibt, um den Sinn des Gesetzes zu erfüllen. Die Volksvertretung kann nicht allein regieren. Ihr fehlt die einheitliche politische Intention, die Homogenität der politischen Anschauungen, Werturteile und Zielsetzungen, kurz: die Fähigkeit zur persönlichen verantwortlichen Tat; sie kann nicht durch Mehrheitsbeschlüsse ersetzt werden. Die Volksvertretung ist, wie jede Versammlung, auf individuelle Vorschläge angewiesen, auf Planung der Regierung, auf deren Vorlagen oder auf Anträge der Abgeordneten. Die Volksvertretung kann sie beraten, beschließen oder ablehnen, vermag aber nicht ohne individuelle Tat, ohne Vorangehn von Persönlichkeiten zu handeln3 . Kein Parlament kann eine Regierung ersetzen, der es an Entschlußkraft zum Regieren fehlt. Umgekehrt kann eine Regierung durch die Sachkunde, die ihr aus der Verwaltung zufließt, die gesetzgebenden Körperschaften torpedieren; diese müssen vielfach der Regierung vertrauen, daß sie alle sachdienlichen Unterlagen erkundet hat. Dieser praktische Vorsprung der Regierung kann nicht durch eine Parlamentsz Oben Kap. I Abschn. 4. 3

Oben Kap. II Abschn. 10.

2. Die regierende Gewalt

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Bürokratie behoben werden, denn ihr fehlt die unmittelbare Erfahrung der praktischen Nöte und der Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung sie aber ist die Grundlage für ein gutes Gesetz - . Die Regierung kann auch durch Verhandlungen insbesondere außenpolitisch - Situationen herbeiführen, die die gesetzgebenden Körperschaften in eine Zwangslage bringen. In alledem zeigt sich, daß die Gesetzgebung eine Form ist, die zum Regieren mit gehört, aber nicht die Substanz der Staatslenkung zum Inhalt hat. Die persönliche Verantwortung für die Gestaltung der Gesamtordnung und damit die Bestimmung der Politik fällt vielmehr den Mitgliedern der Regierung zu. Die Determinierung des Rechts in den Formen der Gesetzgebung - ein wesentlicher Teil des Regierens- wird überwiegend durch Initiative der Regierung oder auf Anregung der Regierung ausgelöst. Die Volksvertretung nimmt am Regieren teil, da sie die Gesetze berät und beschließt, auch den Beschluß eines Gesetzes durch einen Antrag von Abgeordneten herbeiführen und damit die Politik der Regierung durchkreuzen kann. Das Schwergewicht der Initiative und daher die Verantwortung für die Gesamtpolitik liegt aber bei der Regierung. Diese Lage wird durch den Begriff "vollziehende Gewalt" verdeckt, in den man heute die regierende Gewalt einzuordnen pflegt: er kann sowohl die Vollziehung der Gesetze, als auch die Gewalt, die Gesetzgebung, Gesetzesausführung und Rechtsprechung gründet und treibt, bedeuten. Nur Fleiner differenzierte die Regierung von der Vollziehung, rechnete aber beide zur dritten staatlichen Funktion. Das Urbild der staatlichen Funktionen und Gewalten hat Platon herausgestellt: der Staat werde seiner Natur nach von zwei einander konträren Elementen gestaltet, der Weisheit und Fürsorge des Staatsmannes, der dem Volke die Richtung gibt, und den Gesetzen, die die Freiheit wahren. Beide Funktionen verhalten sich nach Platon zueinander wie die Kunst des Künstlers zu den allgemeinen Kunstregeln4 • Von dort nahm die Lehre der Gewaltenteilung ihren Anfang. John Locke hat Platons Konzeption noch bewahrt: er sah die "federative power" als ungeteilte gesetzlose Gewalt des Urzustandes an, in dem die Staaten noch untereinander lebten, und sprach dem Träger der Executive, dem König, nicht nur diese Gewalt, sondern auch die "prerogative" (das Vorrecht) zu, nach eigenem Ermessen alles das zu tun, was für das gemeinsame Wohl notwendig, jedoch nicht im Gesetz vorgesehen ist. Einer der folgenschwersten Irrtümer Montesquieus war, daß er dieses besondere Vorrecht, das dem Träger der Exekutive zusteht, auch der Sache nach als Executive ansah, also der Ausführung des Gesetzes zuordnete, während es gerade die 4

Platon, Staatsmann, S. 292-297.

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Regelung dessen, was vom Gesetz nicht geordnet ist, zum Gegenstand hat, also einen anderen Sinn besitzt als jede der drei Funktionen. Im Banne dieser Vorstellung kennt die heutige Konzeption vom Rechtsstaat nur noch "verfassungsrechtliche Hilfstätigkeiten", die sich nicht in eine der drei Funktionen einordnen lassen, aber notwendig sind, "um die Verfassung in Bewegung und in Gang zuhalten". (Otto Mayer). Erich Kaufmann5 sagt treffend, daß dieser Begriff "seine Stätte in der die Gewaltenteilung selbst erst setzenden, die staatlichen Hauptorgane konstituierenden, ihr Tätigwerden und Zusammenwirken normierenden obersten Strukturordnung des Staates" findet. Er zählt dazu Aufgaben der Regierung, wie das Antreten der Regierung und die Ausschreibung von Wahlen, die Vereidigung der Beamten und Soldaten, auch Tätigkeiten der Parlamente, wie die Wahl ihres Präsidenten und die Annahme ihrer Geschäftsordnung, die Wahlprüfungen, die Genehmigung der gerichtlichen Verfolgung von Abgeordneten, Interpellationen, die Geltendmachung der Minister-Verantwortlichkeit. Es handelt sich indes nicht um einen bunten Strauß vereinzelter Tätigkeiten, die die Ausübung einer Funktion in Gang setzen, also "Hilfe" leisten, aber auch nicht um eine vierte Gewalt, die den anderen an die Seite zu stellen wäre, wie Otto Mayer meinte. Sondern Regieren ist die konstitutive Gewalt, die aller staatlicher Tätigkeit aufgrund verfassungsrechtlicher Ermächtigung Antrieb und Richtung gibt, insbesondere findet und vorschlägt, was in den Formen der Funktionen geschehen soll, ein Gestalten, das aus zahllosen Möglichkeiten nach Gesichtspunkten politischer Zielsetzung die Wege und Mittel zur freien gerechten Entfaltung des gemeinsamen Lebens weist. Wenn zur Durchführung der politischen Aufgaben rechtsverbindliche Gesetze nötig werden, also das Recht zu determinieren ist, differenziert sich das Regieren um der Freiheit willen nach den Formen der drei Funktionen. Kennzeichen des Regierens ist, daß diese Tätigkeit, die "Webekunst" des Staatsmannes (Platon), sich im allgemeinen der gesetzlichen Regelung entzieht, da sie individuelle Entscheidungen und Handlungen durch persönliche Werturteile erfordert. Außerhalb der arithmetisch gebauten Straßen wuchert der Busch, das Leben, das nie von den Formen der ratio ganz bezwungen werden kann. Dazu gehören auch die auswärtige Gewalt und die militärische Kommandogewalt. Zwar treten sie nicht, wie Otto Mayer meint, aus dem Bereich der Rechtsordnung des Staates heraus; auch sie sind an die Verfassung, insbesondere an das Völkerrecht gebunden. Aber die Aus5

"Verwaltung, Verwaltungsrecht", in: Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1960),

S.103.

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übung dieser Gewalten entzieht sich ihrer Natur nach grundsätzlich der Regelung durch Gesetz; sie kann nicht dem Zweck, Inhalt und Ausmaß nach durch Gesetz bestimmt werden, sondern muß sich nach den jeweiligen irrationalen Gegebenheiten, der Zweckmäßigkeit richten. Dadurch unterscheiden sie sich von jeder Ermessensfreiheit, die das Grundgesetz oder ein Gesetz selbst ausfüllen könnte, sie aber an Regierung oder Verwaltung unter Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß delegiert. Deshalb ist die Zuständigkeit zur Kommandogewalt im Grundgesetz getrennt von der Wehrverwaltung geregelt: das eine gehört zum Regieren, das andere zum Verwalten. Die auswärtige Gewalt und die Kommandogewalt sind zwar Vollziehung des Völkerrechts und Vollziehung einiger Gesetze, die diese Angelegenheiten betreffen (Ein- und Ausfuhr-Verbote, Behandlung von Ausländern, Behandlung von Gefangenen, Gebrauch bestimmter Waffen usw.). Aber nur wenige Teilgebiete können vom Gesetz erfaßt werden. Der Sinn der auswärtigen Gewalt besteht auch nicht, wie Montesquieu meint, nur in der Vollziehung des Völkerrechts, sondern sie ist grundsätzlich -in ihrem natürlichen Kern- freie Gestaltung der irrationalen Beziehungen in den weiten Grenzen und Formen des Völkerrechts und der Gesetze. Der Vorrang des Gesetzes, das wesentliche Prinzip der Gewaltenteilung, besagt, daß das Gesetz die Ausübung jeglicher Rechtsmacht, insbesondere die der Verwaltungsorgane, regelt und die Gerichte diese Regelung zu kontrollieren vermögen. Die Verwaltung hat daher Ermessensfreiheit nur insoweit, als das Gesetz sie ihr gewährt (delegiert). Weder das Grundgesetz, noch ein anderes Gesetz können aber die Ausübung jener Regierungsgewalt regeln, sie können weder die Richtlinien der Politik (Art. 65 GG), noch die Ausübung der auswärtigen Gewalt oder der Kommandogewalt, noch die Regelung unvorhersehbarer Katastrophen, noch die Ernennung von Ministern, Beamten oder Richtern bestimmen, d. h. durch Begriffe vorzeichnen; sie können nur die Ämter und Stellen bezeichnen, die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben zuständig sind, und können einige äußerste Grenzen bestimmen. Es sind Aufgaben der Prärogative, die nicht vom Gesetz delegiert sind weil sie ihrer irrationalen Natur nach sich der Determinierung durch Gesetz entziehen, also der Gewaltenteilung vorgegeben sind. Man kann sie demnach nicht der Verwaltung (Teil VIII GG) zurechnen. Das Grundgesetz bestimmt diese Zuständigkeiten im allgemeinen im Abschnitt "Die Bundesregierung"; denn es handelt sich um persönliches Ermessen unter persönlicher Verantwortung, das der Regierung ihrer Natur nach eigen ist; aber auch viele Kompetenzen, die sich in den Abschnitten über den Bundespräsidenten, die gesetzgebenden Körperschaften und die Gesetzgebung des Bundes finden, gehören zum Regieren. Die

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Bestimmung der Zahl der Bundesministerien und deren Errichtung gehört zu den Richtlinien der Politik (Art. 65 GG). Sie ist nicht aus Art. 87 GG abzuleiten; denn dieser Artikel behandelt nur die bundeseigene Verwaltung; insbesondere spricht Art. 87 Abs. 3 GG nur von "Bundesoberbehörden", Bundesministerien aber sind "oberste Bundesbehörden" (vgl. Art. 85 Abs. 3 GG); auch sind Minister ohne Ressort zulässig. Die Ermächtigung zum Regieren wird nicht erst durch positive Bestimmungen einer Verfassung zur Prärogative gestaltet, sondern ist Substrat jeder öffentlichen Gewalt. Denn Regieren heißt, die rechtlich nicht bestimmten Gesichtspunkte und Maßnahmen aufzuzeigen und durchzusetzen, die zur Bewältigung der gemeinsamen freien Existenz notwendig sind und daher den drei Funktionen erst den Inhalt vermitteln und sie in Gang setzen. Regieren ist die einheitliche konstituierende Gewalt des Staates. Nicht das Setzen einer Verfassung allein ist "pouvoir constituant", wie Benjamin Constant meinte, sondern erst durch Handeln - durch Regieren - gemäß der Verfassung werden Staaten errichtet. Erst als die obersten Repräsentanten ihre Tätigkeit aufnahmen, nicht mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes bestand die Bundesrepublik. Regieren heißt, die Richtlinien der Politik bestimmen oder mitbestimmen und durchsetzen. Eine Mitwirkung des Parlaments an den politischen Entscheidungen der Regierung, wie sie heute von den Ausschüssen des Bundestags und vom Plenum in Anspruch genommen wird, widerspricht jedoch der verfassungsmäßigen Funktion des Bundestags: ihm steht die Gesetzgebung- zusammen mit Regierung und Bundesrat- zu. Für die Bestimmung der politischen Richtlinien jedoch hat der Bundeskanzler den Vorrang. Die Rechte, den Bundeskanzler zu wählen, ihn durch einen anderen zu ersetzen und Gesetze zu geben, werden jedoch vom Parlament vielfach dazu mißbraucht, die Richtlinien-Kompetenz des Bundeskanzlers zu untergraben, d. h. die Entscheidung auch in solchen Angelegenheiten an sich zu reißen, die nicht Gesetzgebung sind. Die Legislative wird, wie Montesquieu6 sagte, despotisch, wenn sie nicht von der Executive (zu der Montesquieu auch die Regierung rechnete) gehemmt und in ihre Schranken gewiesen werden kann. Bundeskanzler und Ministerpräsidenten der Länder bestimmen praktisch nicht, wie die Verfassungen es vorschreiben, die Politik nach eigenem Ermessen -wie der Präsident der USA und der Bundesrat der Schweiz- sondern folgen in weitem Umfange dem Druck der Fraktionen; sie suchen, um politisch zu handeln, sich nicht nur in Fragen der Gesetzgebung mit den maßgebenden Fraktionen zu einigen und verzichten dabei vielfach auf die Durchführung eigener Vorstellungen. Der Bundestag 8

Esprit des Lois, XI, 6.

3.

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hat zwar das Recht, von der Bundesregierung über die Lage der Bundesrepublik informiert zu werden, er hat das Recht zu Interpellationen und Kleinen Anfragen und das Recht der Stellungnahme und Kritik, damit er seine Funktion der Gesetzgebung (zu der auch die Feststellung des Haushaltsplans gehört) und seine weiteren im Grundgesetz bezeichneten Kompetenzen wahrzunehmen vermag. Er übt aber praktisch über die Tätigkeit der Bundesregierung eine allgemeine Aufsicht aus, die ihm nach dem Grundgesetz nicht zusteht. Die Fraktionen haben zum Teil die regierende Gewalt der Regierung ausgehöhlt und das eigene Ermessen an die Stelle gesetzt. Diese Kriterien - und die Wahl des Bundespräsidenten durch die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien - haben mit Recht zu der abwertenden Bezeichnung "Parteienbundesstaat" geführt. Die 5 Ofo-Klausel und der staatliche Anteil an der Partei-Finanzierung sind demgegenüber Randerscheinungen. 3. Abschnitt: Die drei Staatsfunktionen: Formen der hoheitlichen Positivierung des Rechts (formelle Hoheitsrechte) Das Grundgesetz gliedert die öffentliche Gewalt nach den drei Funktionen, deren Formen zur Determinierung des Rechts erforderlich sind (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG); sie sind durch das Wesen des Rechts und der von ihm geschützten Freiheit geboten (Gewaltentrennung in formelle Hoheitsrechte). Der Sinn dieser Formen ist, die Freiheit des Menschen zu wahren derart, daß er den Geboten des Rechts und des Gesetzes, nicht den Befehlen von Menschen unterworfen ist. In der Mitte stand und steht die Rechtsprechung, d. h. die Rechtsfindung und Rechtsentscheidung im Einzelfall. Sie verlangt, daß die Richter nur dem Rechte und dem Gesetze folgen, also unabhängig von anderen Bindungen sind (Art. 97 GG.); die Unabhängigkeit wird unter anderem garantiert durch lebenslängliche Anstellung und Unabsetzbarkeit. Recht auf Gehör für die Prozeßparteien und die Angeklagten, Verhandlung, Armenrecht sind einige weitere Formen, die die objektive Durchführung des Rechts gewährleisten. Das Gesetz aber sichert durch logische Determinierung die allgemeine gleiche Geltung und Berechenbarkeit des Rechts. Es wird daher vom Volke oder dessen obersten Repräsentanten, den Volksvertretern erlassen und hat den Vorrang vor jeder anderen rechtlichen Regelung; damit ist es das wesentliche Mittel zur Lenkung der Gemeinschaft. Das Gesetz ist der "standard of right and wrong" des Volkes7 : der Gesetzgeber muß es also nach pflichtmäßigem Ermessen gemäß den Maßstäben der Gerechtigkeit gestalten (ein offensicht7

John Locke, Two Treatises on Government, II, § 124.

10 Hamel

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

lieh ungerechtes Gesetz sichert die Ordnung unfreier Knechte). Daher sind die Volksvertreter, die das Gesetz beschließen, ebenfalls unabhängig von Weisungen und nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), um allein der Gerechtigkeit zu folgen 8 , wie sie im Gewissen und Rechtsempfinden des Volkes lebt. Die Rechtsprechung kann das Gesetz auf seine Rechtmäßigkeit (die die Verfassungsmäßigkeit einschließt) hin kontrollieren, damit der Gesetzgeber nicht despotisch wird, d. h. anordnet, was schlechterdings nicht - von keinem Gesichtspunkt aus- zu rechtfertigen, also willkürlich ist. Beide Gewalten sind daher voneinander zu trennen. Ein Gesetz wird wegen der Allgemeinheit seiner Regelung nicht immer dem besonders gelagerten, individuellen Fall gerecht: daher sollte es durch Vorbehalte eine individuelle Auslegung, ja, Durchbrechung gestatten, wenn die gerechte Regelung des Falles es erfordert. Nur ein überragendes öffentliches Interesse an der Allgemeinheit der Ordnung könnte die individuelle Gerechtigkeit zurückdrängen. Eine besondere Struktur hat die vollziehende Gewalt. Ihr steht neben der Determinierung des Rechts die Durchführung der materiellen Aufgaben zu, die im öffentlichen Interesse dem Staate obliegt, weil sie nicht oder nicht ebenso gut von den Einzelnen oder eingeordneten Verbänden bewältigt werden kann8 ; daher kann ein Staat wohl ohne Gewaltenteilung- also ohne Sicherung der Freiheit- aber nicht ohne vollziehende Gewalt bestehen. Soweit die vollziehende Gewalt die öffentlichen Angelegenheiten in den Formen des Hoheitsrechts wahrnimmt, stellt sie die Rechtmäßigkeit der hierfür notwendigen Maßnahmen einseitig durch Befehl (Staatsakt, Verwaltungsakt) fest, d. h. sie determiniert ihr Recht zur Vornahme ihrer eigenen Maßnahmen; sie hat aber neben deren Rechtmäßigkeit auch deren Zweckmäßigkeit zu bestimmen. Ihre Formen ergeben sich demgemäß sachlich aus der jeweiligen Angelegenheit (Verteidigung, auswärtige Angelegenheiten, Schule, Verkehr, Heilanstalt usw.), nicht allein aus der Pflicht, die Objektivität des Rechts zu wahren. Sie ist daher von den beiden anderen Gewalten zu unterscheiden und untersteht der Kontrolle der Rechtsprechung, des Wächters des Rechts und der Freiheit: ihre Maßnahmen können von Gerichten wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben werden. Die vollziehende Gewalt umfaßt einmal die gebundene Verwaltung, deren Handeln grundsätzlich durch Gesetz, zum mindesten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß, bestimmt wird. Sie umfaßt in der Terminologie des Grundgesetzes ferner die regierende Gewalt, d. h. das Handeln nach freiem, nicht durch Gesetz bestimmbaren Ermessen, soweit es s John Locke, a.a.O., II, § 136. 9 Vgl. oben Kap. I, Abschn. 2.

3. Die drei Staatsfunktionen

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sich nicht in den Formen der Gesetzgebung bewegt. Es sprengt den Rahmen der drei Funktionen (weil es nicht nur das Gesetz ausführt), ist aber seiner Natur nach, als Prärogative (Vorrecht), von dem wahrzunehmen, in dessen Hand die Erledigung der materiellen Aufgaben des Staates, die Executive liegt. John Locke sagt zutreffend: "Prerogative is nothing but the power of doing public good without a rule." "Many things there are, which the law can by no means provide for, and those must necessarily be left to the discretion of him that has the executive power in his hands, tobe ordered by him as the public good and the adventage shall require; nay, 'tis fit that the laws themselves should in some cases give way to the executive power, or rather to this fundamental law of nature and government1o." Verfassungen und Gesetze bestimmen der regierenden Gewalt nur die Zuständigkeit zum freien Ermessen und die Innehaltung der Verfassung (z. B. Beachtung der Menschenrechte, Verbot des Angriffskrieges), aber zeichnen in keiner Hinsicht- auch nicht nach Inhalt, Zweck und Ausmaß- den Gebrauch des Ermessens vor. Sie ist noch ungegliederte Gewalt, die nach Locke in der federative power und der prerogative ihren Platz hat. Die drei Funktionen haben ihrem Wesen nach keine bestimmte materielle Zuständigkeit. Ein Gesetz kann sich auf Rechtsgrundsätze beschränken und alle weiteren Ausführungen den Gerichten oder, unter Beachtung des Art. 80 GG, den Regierungen und Ministern überlassen. Das Gesetz kann aber auch Einzelheiten bis hinunter zum Einzelfall regeln, wie eindeutig aus Art. 14 Abs. 3 GG hervorgeht: danach kann eine Enteignung unmittelbar durch Gesetz vorgenommen werden. Das Gesetz kann Maßnahmen zur Behebung einer besonderen Notlage anordnen, kann aber auch bleibende Regelungen treffen. Im Wesen des Rechts und seiner hoheitlichen Determinierung liegt nicht der Begriff eines "Gesetzes im materiellen Sinne". Aber ein Gesetz muß- ebenso wie jede Entscheidung der Gerichte, Regierungen und Behörden- die Grundsätze der Gerechtigkeit beachten, insbesondere die Grundrechte. So müssen jedem Gesetz allgemein gültige Rechtsmaßstäbe zugrunde liegen; denn sie sind im Wesen des Rechts beschlossen. Deshalb sind sie im Art. 19 Abs. 1 GG als Voraussetzung für gesetzliche Einschränkungen der Grundrechte besonders erwähnt. Doch ist diese "Allgemeinheit" nicht arithmetisch zu verstehen (Unbestimmtheit der Fälle oder der betroffenen Personen). Sondern es handelt sich um die allgemeine Geltung (wie Art. 19 Abs. 1 ausdrücklich sagt), d. h. um die für alle gültigen Wertmaßstäbe des Rechts; so ist das Verbrechen ein allgemein gültiger Rechtsmaßstab für einen Eingriff in Rechte, insbesondere in die Freiheit der Person, nicht aber die Rasse11 • Die Freiheit wird durch die 10

11

10°

John Locke, a.a.O., II, § 166, § 159. Vgl. oben Kap. III Abschn. 2 und 5 d.

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

Herrschaft des Rechts und des Gesetzes gewahrt, das das Volk (oder seine Vertretung) nach allgemein gültigen Maßstäben des Rechts, die im Grundgesetz und im Rechtsbewußtsein enthalten sind, bestimmt. Auch ist verfehlt anzunehmen, daß nur das Gesetz allgemein gültige Rechtsgrundsätze bestimmen könnte, die Gerichte, Regierungen und Verwaltungsbehörden aber hiervon ausgeschlossen seien, also nur das Gesetz auf den Einzelfall anwenden dürften. Auch die Gerichte haben, wenn das Gesetz schwieg oder die gesetzliche Regelung sinnlos geworden war, d . h . offensichtlich der Gerechtigkeit widersprach (wie in der Frage der Aufwertung nach dem ersten Weltkrieg), neue Rechtsgrundsätze aufgestellt und danach die Rechte und Pflichten bestimmt. Ebenso haben Regierungen und Verwaltungsbehörden - wenn eine Angelegenheit nicht durch Gesetz geordnet war- auf Grund ihrer unmittelbaren Verantwortung für die Menschen Rechtsgrundsätze nach freiem Ermessen determiniert, z. B. für noch nicht geregelte Zweige der Fürsorge und der Schulpflicht (so im Anfang für Mongolithenkinder), oder zur Behebung einer außerordentlichen, unerwartet hereingebrochenen Notlage (z. B. der Flut-Katastrophe an der Nordseeküste im Februar 1962), oder im Staatsnotstand. Hier offenbart sich die noch ungegliederte regierende Gewalt, die John Locke als prerogative bezeichnet. Alle drei Funktionen haben ihre einheitliche historische Wurzel in der "jurisdictio" des Mittelalters, die Rechtsfindung, Rechtssetzung, Rechts-Entscheidung und -Durchsetzung umfaßte. Allein durch die rechtsstaatliehen Formen wurden und sind sie voneinander getrennt. Noch heute ist es nur eine Frage des positiven Rechts, ob und wieweit die rechtliche Regelung einer Angelegenheit durch Gesetz, durch richterliche Entscheidung oder durch Verwaltungsakt erfolgt. Die freiwillige Gerichtsbarkeit könnte auch Verwaltungsbehörden (unter Kontrolle der Gerichte) übertragen werden; da sie aber Richtern anvertraut ist, handelt es sich um richterliche Entscheidungen, z. B. im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG12• In England kann ein Rechtsstreit unter Umständen durch Gesetz (bill of attainder) entschieden werden und werden Konzessionen grundsätzlich von Richtern erteilt. Bei uns unterscheidet sich der Verwaltungsakt durch kein materielles Merkmal von der gerichtlichen Entscheidung: es werden Rechte und Pflichten bestimmt, und diese Anordnung wird, wenn kein Rechtsmittel eingelegt wird, rechtskräftig. Man darf nicht unsere positiv-rechtliche Unterscheidung zu einer notwendigen der Vernunft ("a priori") verabsolutieren. Schon das Reichsgericht hatte mit Recht gesagt, daß der Begriff der "bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten" im § 13 GVG nur positiv-rechtlich 12

Vgl. § 1800 Abs. 2 BGB und BVerfG. E. 10, 302.

3. Die drei Staatsfunktionen

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und historisch zu verstehen ist. Aus dem Wesen des Rechts und des Rechtsstaates folgt nur der Grundsatz, daß das Gesetz, das die Volksvertretung beschließt, den Vorrang vor den anderen Funktionen hat, und daß die letzte rechtliche Entscheidung eines konkreten Falles in den besonderen Formen der Rechtsprechung durch Gerichte, getrennt und unabhängig von den anderen Funktionen, zu treffen ist; dies gilt auch für Akte der regierenden Gewalt, soweit sie Rechte determiniert, also "jurisdictio" ist (vgl. unten Abschnitt 4). Doch nur die hoheitliche Determinierung des Rechts gehört zu den Staatsfunktionen. Denn deren besondere Formen sind dem Rechte und dem Rechtsstaat eigen, weil nur durch sie die Freiheit, die das Recht wahrt, geschützt wird. Deshalb ist der Haushaltsplan - da er die Behörden rechtlich bindet - ein Gesetz (Art. 110 GG), nicht aber die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 59 Abs. 2 GG). Zustimmung ist ein Rechtsgeschäft, nicht ein rechtsverbindlicher Befehl wie das Gesetz. Rechte und Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen- ihr Beginn, Inhalt und Endewerden von den vertragsschließenden Partnern durch Vertrag begründet und allein vom Völkerrecht, nicht vom inneren Staatsrecht bestimmt. Sie entziehen sich der staatlichen Gesetzgebung (die EVG-Verträge sind nie in Kraft getreten, obwohl die Zustimmung nach Art. 59 Abs. 2 GG erteilt und die Verträge im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurden). Bei der Beratung über die Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrage können daher Abänderungsanträge nicht gestellt werden. Ihr Abschluß ist nach dem Grundgesetz von der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften abhängig, weil hier das Recht der Bundesrepublik durch eine andere Quelle als der des Beschlusses dieser Körperschaften bestimmt wird, nämlich durch den völkerrechtlichen Grundsatz "pacta sunt servanda", der nach Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts ist, den Gesetzen vorgeht und damit das innerstaatliche Recht gemäß den völkerrechtlichen Verträgen gestaltet. Völkerrecht, auch soweit es durch Verträge geregelt wird, ist in einem Rechtsstaat - nach treffender englischer Auffassung - self executing, d. h. es ist eine eigene Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts neben und vor dem Gesetz. Die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften aber ist ein Regierungsakt in der Form des Gesetzes13 • Die Determinierung des Rechts durch die drei formellen Funktionen schließt nicht aus, daß bestimmte Funktionen sich zur Erledigung gewisser Aufgaben besonders eignen und daher das positive Recht ihnen 13 BVerfG. E. 1, 372 (395) mit anderer Begründung. Zur unmittelbaren Geltung des Völkerrechts als innenstaatliches Recht: a. A. BVerfG. E. 6, 309

(363).

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

diese Aufgaben zuweist. So können z. B. nach Art. 19 Abs. 1 GG. Einschränkungen der Grundrechte nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, weil nur das Gesetz, nicht der Richter, die Allgemeinheit und Gleichheit der Einschränkung im ganzen Lande zu sichern vermag. Ob die grundsätzliche Differenzierung der Staatstätigkeit allein nach den Formen (so wesentlich sie auch sein mögen) dem Sinne des Staates entspricht, ist fraglich. Sie geht von dem Vorrang der gesetzgebenden Gewalt des Volkswillens aus. Aber auch der Volkswille und seine Repräsentanten stehen unter dem vernunftgebotenen rechtlichen Mandat der öffentlichen Gewalt, d. h. sie haben ein gebundenes Amt mit bestimmten Aufgaben: sie sollen für eine kontinuierliche stabile Politik zur Entfaltung der gemeinsamen Existenz freier Menschen sorgen. Daher sollte die Gliederung der Staatshoheit nicht nur nach den drei Formen, sondern darüber hinaus nach Aufgaben und Ämtern erfolgen. Nur so könnte die Ausübung der regierenden Gewalt, die sich im weiten Umfange jener Gliederung entzieht, verteilt werden. Sun Yatsen, der als Vater des modernen China von allen politischen Richtungen, auch den Kommunisten, verehrt wird, hatte an die Stelle der formellen Staatsfunktionen des Westens "Ämter" mit bestimmten Aufgaben gesetzt, die in den Formen der drei Funktionen und in weiteren sachbezogenen Formen wahrzunehmen waren. Zwei weitere Ämter - das Amt des Zensors (zur Überwachung der Sauberkeit der Verwaltung) und das des Beamten-Auslese- und Prüfungswesens- fügte er hinzu14• 4. Abschnitt: Der Regierungsakt

Die notwendige - in der Natur der Sache beschlossene- Prärogative des Regierens vor den Formen der Gewaltenteilung offenbart sich im Regierungsakt (z. B. Anerkennung und Nichtanerkennung von Staaten, Wahl des Bundeskanzlers, Ernennung der Minister, Begnadigungen, Verleihung von Orden und Ehrenzeichen); auch die Gestaltung des Inhalts eines Gesetzes durch Vorlagen und Anträge gehört dazu. Sie entziehen sich zwar in weitem Umfange der Determinierung durch Gesetz und damit der Gewaltenteilung; denn sie konstituieren praktisch die verfassungsrechtliche Gesamtordnung, indem sie sie in Bewegung setzen; sie sind Verfassungsakte- nicht Verwaltungsakte, die in einem Gesetz vorgezeichnet sind -. Aber sie ergehen nicht außerhalb des Rechts; sie werden umgrenzt durch das Verfassungsrecht, insbesondere 1• Vgl. Heinrich Herrfahrdt, .,Sun Yatsen" (1948) S. 142, und .,Sun Yatsens Bedeutung für die allgemeine Staatslehre" (Deutsche Rundschau 1947, Heft 2,

s. 122 ff.).

4. Der Regierungsakt

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durch die Grundrechte und die verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten. Daher sind sie ihrer Natur nach nicht gerichtsfrei: die Gerichte können prüfen, ob beim Gebrauch des weiten Ermessens - und unter Beachtung seiner konstitutiven Bedeutung - diese verfassungsrechtlichen Grenzen verletzt wurden. Jede Ausübung öffentlicher Gewalt ist in einem Rechtsstaat vom Recht begrenzt und kann daher insoweit Gegenstand der Rechtsprechung sein. Rechtsprechung entsteht nicht erst durch die Gewaltenteilung, sondern ist der Kern, aus der die Gewaltenteilung hervorging. Sie hat nicht nur das Gesetz, sondern auch das Recht, das über das Gesetz hinausgreift, auszuführen (Art. 20 Abs. 3 GG). Gegen jede Verletzung des Rechts durch die öffentliche Gewalt steht daher der Rechtsweg offen (Art. 19 Abs. 4 GG). Gefragt kann nur werden, ob ein Regierungsakt nach positivem Verfassungsrecht der staatlichen Gerichtsbarkeit entzogen ist und in welchen Grenzen er nach freiem Ermessen gestalten kann (z. B. die Bestimmung der "Richtlinien der Politik", Art. 65 GG). Nach Art. 19 Abs. 4 GG ist auch die Hoheit der Verfassungsorgane nicht grundsätzlich von der Gerichtsbarkeit ausgeschlossen, wie das Bundesverwaltungsgericht meint15• Doch folgt aus dem Sinn der Gewaltenteilung, daß der Gerichtsbarkeit die Akte entzogen sind, mit denen Bundestag und Bundesrat sich selbst konstituieren (z. B. Einberufung, Wahl der Präsidenten, Annahme der Geschäftsordnung, Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten, Ordnungsrufe oder Zulassung von Vorlagen oder Anträgen): da diese Körperschaften das Recht determinieren und darin im Rahmen des Grundgesetzes den Vorrang vor den anderen Gewalten haben, ist es sinngemäß, daß sie sich auch selbst ohne Mitwirkung der anderen Gewalten konstituieren; nur bei Verletzung des Grundgesetzes könnte im Wege des Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Aber diese Ausnahmen sind nur aus dem positiven Verfassungsrecht zu entnehmen, wie sich schon darin zeigt, daß die Entscheidungen des Bundestages im Wahlprüfungsverfahren und im Verfahren über den Mandatsverlust durch Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht angefochten werden können (Art. 41 Abs. 2 GG). Gegen Regierungsakte, die nicht die:: gesetzgebenden Körperschaften in Gang setzen, wie z. B. die Wahl des Bundeskanzlers, die Ernennung oder Entlassung eines Ministers, die Bestimmung der Richtlinien der Politik, die Anerkennung oder Nichtanerkennung von Staaten, steht nach Art. 19 Abs. 4 GG der Rechtsweg offen. Doch hat die verfassungsrechtliche Ermessensfreiheit eine solche Weite, daß eine Verletzung des Rechts - etwa der Grundrechte kaum denkbar ist. Immerhin wäre möglich, daß die Ausübung des Begnadigungsrechts im konkreten Falle gegen den Gleichheitssatz ver15

BVerwG. E. 14, 73 (75 f .).

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

stößt, z. B. wenn allen Teilnehmern an einem Verbrechen die Reststrafe erlassen wird mit Ausnahme von Einem, ohne daß irgend ein sachlicher Grund für die Ausnahme erkennbar ist; der Gnadenakt steht zwar über den gesetzlichen Relationen, denen der Rechtsbrecher unterworfen ist, er steht aber nicht außerhalb des Rechts, sondern instituiert den Rechtsbrecher in einen neuen rechtlichen status, der von der gesetzlichen Strafe befreit; er ist also ein besonderes Institut des Rechts und daher in einem Rechtsstaat nach den Grundprinzipien des Rechts zu handhaben. Denkbar wäre auch, daß eine Regierung offensichtlich einen Angriffskrieg vorbereitet, also Art. 26 GG verletzt, oder gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) verstößt, oder die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts lahmzulegen versucht, oder Maßnahmen trifft, die entgegen dem verfassungsrechtlichen Gebot zur Wiedervereinigung die Wiedervereinigung blockieren18• Praktisch näher aber liegen die Streitigkeiten unter den obersten Repräsentanten des Staates über ihre Zuständigkeit, oder die Streitigkeiten über die Gültigkeit von Rechtsnormen. An diesen Fragen zeigt sich, daß konstituierende Akte der obersten Repräsentanten nicht an sich außerhalb der Gerichtsbarkeit stehen. Sie können nach dem Grundgesetz vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden (Art. 93 GG). Ein bestimmter politischer Akt kann nach Art. 10 Abs. 2 GG durch Gesetz der Gerichtsbarkeit entzogen werden: die Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, wenn sie dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder dem Bestande oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes dient. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, die dem Staate den Einblick in die geschützte Privatsphäre gestatten17, ist eine Frage, die dem politischen Ermessen weiten Raum läßt und nicht allein nach rechtlichen Maßstäben entschieden werden kann. Nur eine offensichtliche Überschreitung - der Ermessens-Mißbrauch, der schlechthin nicht durch jene Voraussetzungen legitimiert sein kann - wäre rechtswidrig. Da ein solcher ErmessensMißbrauch aber kaum denkbar und kaum nachweisbar ist, wäre dem Betroffenen mit einer richterlichen Nachprüfung nicht geholfen. Ihm ist vielmehr an einer Nachprüfung des politischen Ermessens gelegen. Hierfür aber sind nicht die Gerichte legitimiert. Daher ist an Stelle der Gerichte ein Organ des Bundestages (und dessen Hilfsorgan) vorgesehen, das das politische Ermessen -und damit auch dessen rechtliche Grenzen- überprüftts. 1e 17

18

Vgl. BVerfG. E. 5, 85 (127 f.); 12, 45 (51). Vgl. oben Kap. III Abschn. 5 b. Ebenso die Begründung z. Reg. Entwurf (Bundestags Drucks. V/1879,

5. Das Bundesverfassungsgericht

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5. Abschnitt: Das Bundesverfassungsgericht Auch das Bundesverfassungsgericht ist ein Gericht. Es übt Rechtsprechung aus; denn es entscheidet allein nach Maßstäben des Rechts, nicht nach politischer Zweckmäßigkeit. Die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte als politische Entscheidungen in justizförmiger Form anzusehen, ist eine der unheilvollen Begriffsverwirrungen im Staatsrecht, die leider auch die Gesetzgebung und die Rechtsprechung gelegentlich beeinflußt haben. Ob Anklage nach Art. 61 GG gegen den Bundestagspräsidenten erhoben werden soll, hängt über die Rechtsfrage hinaus vom politischen Ermessen, dem Ansehn der Bundesrepublik usw. ab. Ist sie erhoben, so hat das Bundesverfassungsgericht nur über die Frage der Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes zu entscheiden. Aber den Verfassungsgerichtshöfen und Staatsgerichtshöfen pflegen solche Angelegenheiten übertragen zu werden, in denen es darauf ankommt, Rechtsfragen von Fragen des politischen Ermessens mit Verständnis für das politisch Konstituierende zu scheiden und das politische Ermessen den Repräsentanten zu überlassen, die für den Bestand und die Entfaltung der staatlichen Gemeinschaft die Verantwortung tragen, insbesondere der Regierung und den gesetzgebenden Körperschaften, aber auch dem Staatsoberhaupt. Politische Verantwortung für das Ganze setzt volle Ermessensfreiheit in den Grenzen der Verantwortung voraus, oder sie wird fragwürdig; daher haben die Gerichte sie zu respektieren. Dieser besonderen konstitutiven Bedeutung der verfassungsrechtlichen Ermessensfreiheit gerecht zu werden, ist die Aufgabe der Verfassungsgerichte: sie sind besonders geeignet dafür. Aber ihre Errichtung und Zuständigkeit ist nicht begrifflich notwendig, sondern allein das positive Verfassungsrecht entscheidet darüber. Es gibt keine Verfassungsstreitigkeiten im materiellen Sinne, die "an sich" von Verfassungsgerichten entschieden werden müßten. In jedem Rechtsstreit vor jedem Gericht kann die diffizile Frage der rechtlichen Grenzen politischen Ermessens auftauchen; jedes Gericht kann zu solcher Entscheidung genötigt sein, wenn eine Angelegenheit nicht einem Verfassungsgericht übertragen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht immer die politische Ermessensfreiheit oberster politischer Repräsentanten respektiert. Ist ein Antrag, eine Partei für verfassungswidrig zu erklären, beim Bundesverfassungsgericht gestellt, so hat sich das Gericht auf die ihm vom Grundgesetz zugewiesene Rechtsfrage des Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG zu S. 18), ferner der Rechtsausschuß des Bundestags (Schriftlicher Bericht, BT. Drucks. V/2873, S. 4), der Vorsitzende und der Berichterstatter des Rechtsausschusses im Plenum (Sten. Ber., 17. Sitzung v. 29. 6. 1967, S. 9320 Cf., 9322 B); vgl. BVerfG., Abweich. Meinung, DVBl. 1971, S. 55.

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

beschränken. Stellt es die Verfassungswidrigkeit der Partei fest, so dürfen alle weiteren Konsequenzen - Auflösung der Partei, Verbot der Ersatzorganisation, Einziehung des Vermögens- nicht allein nach der Logik aus der Verfassungswidrigkeit der Partei abgeleitet werden; es handelt sich um politische Entscheidungen, die in dem Antrag der politischen Repräsentanten liegen können, aber nicht zu liegen brauchen; es kann politisch zweckmäßig sein, andere, mildere Mittel gegen die Partei zu ergreifen. Die Bestimmung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, die dem Bundesverfassungsgericht zwingend vorschreibt, mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit die Auflösung der Partei und das Verbot einer Ersatzorganisation auszusprechen (§ 46 Abs. 3), geht über das Grundgesetz hinaus und überträgt - verfassungswidrig - dem Bundesverfassungsgericht Entscheidungen, die nach politischer Opportunität zu treffen sind. Wenn es schon der Polizei gestattet ist, einen polizeiwidrigen Zustand zur Vermeidung schlimmerer Nachteile zu dulden, um wie viel mehr muß der Regierung gestattet sein, eine verfassungswidrige Partei, die ständig beobachtet wird, um der politischen Gesamtlage des Volkes willen nicht völlig zu beseitigen, sondern allein mit der Drohung des Verbots und des Verbots einer Ersatzorganisation auf verfassungsmäßiges Verhalten hinzuwirken. Wenn das Bundesverfassungsgericht über diese vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehene Maßnahmen hinaus sogar die Landtagssitze der SRP-Abgeordneten kassierte, so hat es offensichtlich die Grenze der Gerichtsbarkeit überschritten. Denn die Abgeordneten hatten ihr Mandat vom Volke, wenn auch unter "Mitwirkung" der SRP (Art. 21 Abs. 1 GG), nicht aber von der SRP; das Entsprechende gilt von den Landtagssitzen der KPD-Abgeordneten nach dem Verbot der KPD19• Das Bundesverfassungsgericht erblickt den Sinn seines Spruches darin, "diese Ideen selbst aus dem Prozeß der politischen Willensbildung auszuscheiden", und meint, dem Mandat hafte ein "unheilbarer Makel" an, sagt aber im Widerspruch dazu, die persönliche Wählbarkeit dieser Abgeordneten bleibe "unberührt". Die Ermessensfreiheit und Verantwortung der gesetzgebenden Körperschaften hingegen hat das Bundesverfassungsgericht treffend erkannt und geachtet bei der Prüfung der Frage, ob ein Gesetz das Grundrecht der Gleichheit verletzt oder nicht: das Gericht darf einen solchen Verstoß nur dann feststellen - und damit ein Gesetz für ungültig erklären - wenn für eine ungleiche Behandlung, die das Gesetz vorsieht, "sachlich einleuchtende Gründe schlechterdings nicht mehr erkennbar sind" 20, die Verletzung also offensichtlich - indiscutable im tu BVerfG. E. 2, 1, (72 ff., 75, 76); 5, 85 (392). !o BVerfG. E. 3, 58 (136); vgl. 11, 245 (253); 12, 326 (333); 17, 197 (203), 319 (331); 18, 121 (124).

5. Das Bundesverfassungsgericht

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Sinne des französischen Rechts - willkürlich ist. Die wertende Abwägung jedoch, ob eine ungleiche Behandlung durch ungleiche Umstände gerechtfertigt ist, gehört zur Ermessensfreiheit der gesetzgebenden Körperschaften, soweit diese Wertung vernünftiger Weise möglich ist. Diesen verfassungsrechtlichen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht durchweg berücksichtigt, als es über Gültigkeit von Gesetzen zu entscheiden hatte, die einem Grundrecht der Freiheit Schranken errichten. Die Prinzipien der Güterahwägung und der Adäquanz - daß die Tiefe des Eingriffs in angemessenem Verhältnis zur Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes stehen muß - sind zwar bestimmend für die Zulässigkeit der gesetzlichen Schranken eines Grundrechts21 • Hat aber ein Gesetz diese Wertung vorgenommen, so darf ein Gericht - sei es auch das Bundesverfassungsgericht - nicht seine Beurteilung an die Stelle der Entscheidung der gesetzgebenden Körperschaften setzen - es sei denn, die Entscheidung des Gesetzgebers ist unter keinem sachlichen Gesichtspunkt zu rechtfertigen -. Das Bundesverfassungsgericht aber behandelte die Grundrechte, insbesondere die Berufsfreiheit, wie unbestimmte Rechtsbegriffe, die die Tätigkeit der gesetzgebenden Körperschaften so vorzeichnen wie ein Gesetz das Handeln der Verwaltung. Damit ist jedoch die verfassungsrechtliche Ermessensfreiheit und Verantwortung des Gesetzgebers verkannt. Ob die Gefahren, die der Volksgesundheit durch die Niederlassungsfreiheit der Apotheker drohen, so groß sind, daß sie eine Limitierung der Zahl der Apotheken nach dem Bedürfnis rechtfertigen22, ist nicht von einem Gericht zu entscheiden, sondern von den gesetzgebenden Körperschaften; denn nur sie tragen mit der Regierung die Verantwortung für die Volksgesundheit und können zur Entscheidung die Fülle des Materials der Verwaltung verwerten. Nur wenn für solche Entscheidung, die ein Gesetz trifft, offensichtlich jede sachliche Begründung fehlt, ist die Ermessensfreiheit der gesetzgebenden Körperschaften überschritten und damit das Grundgesetz verletzt. Der Bundesgerichtshof hat diesen Gesichtspunkt erkannt23 • Auch das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf die Beschränkungen, die die Handwerksordnung für die selbständige Ausübung eines Handwerks vorsieht, treffend ausgeführt: bei diesen "Wertungs- und Abwägungsfragen kann die Auffassung des Gesetzgebers vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet werden, solange nicht eindeutig ist, daß sie von unrichtigen tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht

2t 22 23

Oben Kap. III Abschn. 2. BVerfG. E. 7, 377 (409 ff.). BGHZ. 22, 167 (176).

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IV. Die drei Staatsfunktionen und die regierende Gewalt

oder mit der Verfassung in Widerspruch steht". Das Gericht hat mit Recht nicht geprüft und entschieden, ob die Erhaltung des Handwerkstandes und der Qualität seiner Leistung die Einschränkungen der Berufsfreiheit, die die Handwerksordnung errichtet, rechtfertigen. Sondern es hat nur den Wert des Handwerks für die Gemeinschaft aufgezeigt und festgestellt, daß die - daraus hergeleiteten - Gründe für die gesetzlich bestimmten Beschränkungen "nicht offenbar fehlsam" sind24 • Das Bundesverfassungsgericht hat also nicht - wie eine oberflächliche Kritik meint - die Kriterien der Güterahwägung aufgegeben, sondern hat dieses Ermessen grundsätzlich als Aufgabe des Gesetzgebers angesehen.

24

BVerfG. E. 13, 97 (113 f.).

Fünftes Kapitel

Das Staatsoberhaupt 1. Abschnitt: Objektivität der Herrschaft: eine Qualität der Person Die Ausübung der öffentlichen Gewalt, insbesondere die Findung und Bestimmung des Rechts, hat in einem Rechtsstaat objektiv, d. h. nach sachlich gerechtfertigten Gesichtspunkten ohne Rücksicht auf individuelle Interessen zu erfolgen. Die Freiheit eines jeden ist unter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes in den Schranken zu wahren, die zur Bewältigung der Anforderungen des gemeinsamen Lebens erforderlich sind; denn darin besteht der Sinn des Rechts1 • Objektivität aber ist eine Qualität der Person; objektiv ist der gerechte Mensch. Die Quelle aller Herrschaft ist nicht nur historisch jurisdictio. Wer in einem Rechtsstaat herrscht, soll stets Schiedsrichter für alle sein, welche Gewalt er auch ausüben mag. Der Begriff der schiedsrichterlichen Führung, den Heinrich Herrfahrdt prägte, ist grundlegend für die Handhabung jeder öffentlichen Gewalt in einem Rechtsstaat. Die Vorstellung allgemeiner objektiver Rechtsnormen hingegen beruht auf einer späteren Abstraktion. Der Herrscher soll objektiv, er soll gerecht sein. Der Bundespräsident soll, um sich dieser Aufgabe mit seiner ganzen Person zu widmen, kein anderes besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben und nicht den leitenden Organen eines gewerblichen Unternehmens angehören (Art. 55 GG); nach ungeschriebener, aber aus dem Sinn des Amtes folgenden Regel soll er sich auch nicht parteipolitisch betätigen; ein unbesoldetes Amt wird er nur übernehmen dürfen, wenn es keine politischen Aufgaben zum Inhalt hat. Diese persönliche Berufung zur Objektivität kam im Mittelalter darin zum Ausdruck, daß der König von Gott kreiert und instituiert wurde; die Wahl oder Aklamation des Volkes oder des Heeres galten als Zeichen Gottes 2 • Die Grundlage jedes Königshauses ist bis heute Gottes Wille, Oben Kap. I Abschn. 2. Vgl. mein: "Reich und Staat im Mittelalter" (Hamburg 1944), S. 27 ff., 60, 65. 1

2

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V. Das Staatsoberhaupt

d. h. die persönliche Berufung zum gerechten Herrscher, zum Haupt des Volkes und dessen staatlicher Gewalt durch Gott. Ist in einem Staate die Regierung vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit, also von Fraktionen und Parteien abhängig, so ist ein Staatsoberhaupt notwendig, das die unabdingbare krönende Aufgabe hat, über diese .,Teile" hinaus die sie umfassende und sie überdauernde Einheit des Ganzen zu wahren, die die einseitig orientierte Regierung nicht zu wahren vermag. Die Einheit des Staates liegt letztlich immer in einer persönlichen schiedsrichterlichen Führung, die jedem gerecht wird: im Pouvoir neutre et moderateur; er ist die Quelle staatlicher Legitimität. Vermag die Regierung nach der Verfassungsstruktur diese Aufgabe nicht zu erfüllen, so sind republikanische Staaten genötigt, ein besonderes Staatsoberhaupt zum Wächter der Gerechtigkeit und Einheit zu bestellen. In Staaten, die eine parlamentarische Regierung nicht kennen (z. B. USA, Schweiz), fällt jene einende Aufgabe der verantwortlichen Regierung - dem Präsidenten oder dem Kollegium - zu, da sie nicht von einer Gruppe abhängig ist. Denn diese Aufgabe ist ihrem Wesen nach Regieren, ja, die kontinuierliche Geschlechter verbindende Substanz des Regierens.

2. Abschnitt: Die legitimierenden Aufgaben des Staatsoberhauptes Das Staatsoberhaupt hat seinem Amte nach die obersten konstituierenden Regierungsakte vorzunehmen; durch ihn erhalten sie das Ansehn, das über die derzeitige Regierung hinausgeht: die Legitimität der öffentlichen Gewalt. Das Staatsoberhaupt nimmt daher die Ernennung der Regierungsmitglieder, der obersten Beamten, Richter, Offiziere vor, erteilt Gnadenerweise; es verleiht Orden und Ehrenzeichen kraft seines Amtes ohne besondere Ermächtigungs. Ihm steht die Ausfertigung der Gesetze zu, d. h. die amtliche mit öffentlichem Glauben versehene Bescheinigung, daß das Gesetz verfassungsmäßig von den zuständigen Körperschaften beschlossen wurde. Eine rechtsverbindliche Entscheidung, daß das Gesetz seinem Inhalte nach verfassungsmäßig ist, liegt in der Ausfertigung nicht, da sie in einem Rechtsstaat letztlich den Gerichten zusteht und es dem verfassungsrechtlichen Ansehen des Staatsoberhauptes nicht entsprechen würde, wenn seine Entscheidungen - abgesehen vom Falle der Amtspflichtverletzung - vor Gericha Der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland wurde durch den Erlaß des Bundespräsidenten vom 7. 9.1951 (BGBl. I, S. 831) gestütet ohne besondere gesetzliche Ermächtigung.

2. Die legitimierenden Aufgaben des Staatsoberhauptes

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ten angefochten werden könnten. Wohl aber kann und muß er offensichtliche Verstöße gegen das Recht durch Verweigerung der Unterschrift verhindern. Typisch für ein Staatsoberhaupt ist die einende Kompetenz, durch Auflösung des Parlaments das Volk anzurufen, um die Repräsentation des Volkswillens zu aktualisieren. Das Grundgesetz sieht sie nur vor, wenn sich im Bundestag keine absolute Mehrheit für einen Bundeskanzler findet (Art. 63 Abs. 4 Satz 3; Art. 68 Abs. l). Das Volk solle aber immer angerufen werden, wenn zweifelhaft ist, ob wichtige politische Entscheidungen der Volksvertretung dem Volkswillen entsprechen, und eine demokratische Verfassung sollte, wie die Weimarer Verfassung (Art. 25), die notwendigen Formen hierfür bestimmen'. Schließlich ist das Staatsoberhaupt der Repräsentant des Staates im Verkehr mit auswärtigen Staaten: er beglaubigt und empfängt Gesandte, er schließt völkerrechtliche Verträge des Bundes (vgl. Art. 59 GG) und vermag damit das Recht des Staates zu gestalten. Daß das Staatsoberhaupt die meisten dieser Entscheidungen nur mit Gegenzeichnung eines Regierungsmitgliedes treffen kann, verändert nicht die Tatsache, daß es auch seine Entscheidungen sind: erst durch ihn erhalten sie die Legitimität der öffentlichen Gewalt. Daher hat das Staatsoberhaupt auch das Recht, die Vornahme solcher Staatsakte z. B. die Ernennung von Ministern, Richtern, Beamten und Offizieren - abzulehnen, aber nur aus Gründen, die über die Parteipolitik hinaus den ganzen Staat - seine Verfassung, seine politische Glaubwürdigkeit, seine Interessen - betreffen; denn nur darin besteht sein verfassungsgrechtliches Wächteramt. Verpflichtet ist er nur zur Vornahme solcher Staatsakte, für die die Verfassung ihm diese Pflicht ausdrücklich auferlegt. Auch wenn ein Akt der auswärtigen Gewalt von der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften abhängt, bleibt er eine Willenserklärung des Staatsoberhauptes im Namen des Staates. Die Zustimmung nach Art. 59 Abs. 2 GG zieht nur eine verfassungsrechtliche Schranke hoch, sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Ratifizierung, ist Regierungsakt in den Formen der Gesetzgebungs. Das Oberhaupt eines Rechtsstaates kann grundsätzlich nicht selbst Macht ausüben, aber es kann und soll - da es die entscheidenden Akte legitimiert - andere daran hindern, daß sie bei der Ausübung von Macht offensichtlich gegen die Verfassung oder gegen grundlegende überparteiliche Interessen des Volkes verstoßen. Der Bundespräsident Vgl. Kap. II Absclm. 10. Oben Kap. IV Absclm. 3 Anm. 13; BVerfG. E . 1, 396 (412). Vgl. Erich Kaufmann, Normenkontrollverfahren und völkerrechtliche Verträge, Ges. Schriften I, S . 599 f. 4

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160

V. Das Staatsoberhaupt

der Bundesrepublik Deutschland hat nach dem Grundgesetz nur vier Rechte zur selbständigen politischen Gestaltung, die jenen Grundsatz durchbrechen: er schlägt den Bundeskanzler vor, er kann ihn im Falle des Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG ernennen oder den Bundestag auflösen und er kann den Bundeskanzler, dessen Amt beendet ist, ersuchen, die Geschäfte gemäß Art. 69 Abs. 3 bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen (vgl. auch Art. 58 Satz 2 GG).

3. Abschnitt: Die personale Integrierung der Gemeinschaft durch das Staatsoberhaupt Die rechtlichen Kompetenzen des Staatsoberhauptes sind indes nur einzelne Seiten der Substanz seines Amtes. Besteht ein Volk nicht allein durch Recht, auch nicht nur in diesen oder jenen Werten der Sitte, Kunst, Sprache, kurz: im Volkstum, sondern in dem persönlichen Verbundensein, der brüderlichen Gesinnung, mit der jeder jeden trotz dessen Eigenheiten, Schwächen und Verirrungen als seinesgleichen ansieht, so ist der letzte Sinn des Regierens über den Bereich rechtlicher Entscheidungen hinaus, diese Gesinnung durch persönliches Sein und Wirken so überzeugend vorzuleben, daß andere die Anforderungen des Gemeinschaftslebens einsehen und danach ihr eigenes Leben formen, also diese letzte seelische Substanz der Gemeinschaft geweckt wird6 • Sie umschließt die Rechtschaffenheit, die die rechtlichen Gebote als mögliche Form des gemeinsamen Daseins erkennt und erfüllt; die Einheit des Volkswillens, den die öffentliche Gewalt determiniert, hat in der Einheit der Gesinnung seinen Grund. Diese personale, einende Aufgabe des Regierens liegt dem Staatsoberhaupte ob und gibt seinem Amte das politische Gewicht, wenn die Gegensätze zwischen Parteien, Fraktionen und anderen Gruppen die Einheit von Volk und Staat bedrohen. Denn weder ein Streit unter den obersten Repräsentanten des Volkes (Regierung, Volksvertretung, Opposition) in Ermessensfragen, noch ein Angriff auf diese Repräsentanten im Rahmen der Meinungsfreiheit, noch Meinungsverschiedenheiten unter großen maßgebenden Verbänden können nach Rechtsnormen beigelegt werden, sondern nur durch den Willen, sich miteinander durch Kompromiß zu einen, damit die Gemeinschaft erhalten bleibt.

4. Abschnitt: Die Würde des Staatsoberhauptes Dem Staate und dem Staatsoberhaupt spricht man eine besondere "Würde" zu. In diesem Begriff mischen sich indes Werte des Amtes e Oben Kap. I Abschn. 4, Kap. li Abschn. 10.

5. Die Wahl des Staatsoberhauptes

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und angeeignete positive Rechte der Macht. Eine angeborene Würde hat nur der Mensch, weil das Auge Gottes auf ihm ruht. Nur er bleibt - trotz aller Verirrungen - berufen, sein Leben und die Welt frei nach der Weisheit des Schöpfers zu gestalten. In Gemeinschaften und Verbänden - auch im Staate - sucht der Mensch, dieser Berufung nachzukommen: ihnen steht keine höhere Würde zu als dem Menschen. Wohl aber kann das Amt in einem Verbande - insbesondere im Staate - den Menschen besonders verpflichten, sich seiner eingeborenen Würde gemäß zu verhalten, also den geordneten Menschen zu zeigen, um des Amtes würdig zu werden. Denn die würdige Haltung, mit der ein Amtsträger den wahren Menschen anderen offenbart, formt als Vorbild die Menschen, so daß sie den Anforderungen der Gemeinschaft - vor allem des Rechts - aus eigener Überzeugung nachkommen. Diese persönliche Autorität, die aus echter Würde folgt, legitimiert zum Amte. Der Richter spricht glaubwürdig und überzeugend Recht nur, wenn sich in ihm der rechtschaffene Mensch manifestiert; denn nur der Mensch kann gerecht sein, nicht eine abstrakte Norm. Der legale Befehl ist eine drückende Schablone, wenn er nicht getragen wird von der Würde und Weisheit eines Vorbildes, das den geordneten Menschen zeigt; eine Familie, ein Betrieb, eine Gemeinde oder ein Volk erfüllen ihre Aufgaben nur kümmerlich, wenn sie widerwillig durch Zwang zusammengehalten werden. Das Amt des Staatsoberhauptes aber hat sein Schwergewicht darin, über alle rechtlichen Kompetenzen hinaus - die immer unzulänglich sind - die Menschen durch Würde, Glaubwürdigkeit und persönliche Überzeugungskraft zu einen; da eine solche Reife sich erst im höheren Lebensalter heranbildet, ist die Vollendung des 40. Lebensjahres Voraussetzung für die Wahl zum Bundespräsidenten (Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG). Jene sichtbare Würde, die Verkörperung des Menschen dieser Gemeinschaft wird im Staate und im internationalen Verkehr besonders geehrt. Darüber hinaus aber gibt es auch positiv-rechtliche Anmaßungen, die aus der Überheblichkeit der Machthaber entstanden.

5. Abschnitt: Die Wahl des Staatsoberhauptes Um diesem persönlichen Gewicht des Amtes- der Autorität- zu genügen, sollte das Staatsoberhaupt unmittelbar vom Volke gewählt werden. Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung jedoch wird von den Fraktionen des Bundestages und den der Landtage bestimmt. Die Fraktionen richten sich bei der Nominierung ihres Kandidaten aber wesentlich nach Partei-Interessen und ParteiGesichtspunkten. Der Bundespräsident wird demnach von denselben 11 Hamel

162

V. Das Staatsoberhaupt

Mächten getragen, die auch den Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder wählen, obwohl sein Amt ihn zur Objektivität und Unabhängigkeit gegenüber diesen Mächten verpflichtet. Das Ansehen, das eine Persönlichkeit im VC11ke hat, sollte entscheidend sein, d. h. die Stimme des Volkes, die den Parteien weithin kritisch gegenüber steht, sollte - wie in den USA - den Ausschlag geben. Denn der Bundespräsident soll für die einende Harmonie unter den "partes" sorgen. Manche Nominierung durch eine Partei wäre anders ausgefallen, hätte sie auf die Stimmung im Volke Rücksicht nehmen müssen.

Sechstes Kapitel

Der Bundesstaat 1. Abschnitt: Die Souveränität des Bundes und der Länder

Der Begriff des Bundesstaates- d. h. der Vereinigung von Staaten zu einem Staate- erscheint bei logischer Betrachtung als Antinomie. Ist Souveränität das Merkmal der staatlichen Gewalt, ist sie Zuständigkeit zur letzten ("höchsten") rechtlichen Entscheidung, so kann es nicht zwei souveräne Gewalten in einem Gebiete geben, d. h . nur der Bund oder nur die Länder können souverän und damit Staaten sein. Um dieser scheinbaren Antinomie auszuweichen, hat man mehrere "Lösungen" gesucht, die sämtlich nicht dem Begriffe "Bundesstaat" entsprechen. Man hat das Kriterium des Staates in anderen Merkmalen als dem der Souveränität erblickt: die "eigenständige" oder die "nicht abgeleitete" Gewalt. Indes ist jede Persönlichkeit und jede Stadt mit ihren Freiheiten und ihrer Rechtsmacht "eigenständig" und "nicht abgeleitet"; ihre natürliche Eigenständigkeit wird durch Grundrechte, denen Art. 28 Abs. 2 GG gleichgestellt ist (vgl. § 91 BVerfGG), geschützt. Der größte Teil der Städte ist seit jeher "eigenständig". Andererseits haben viele Staaten nicht eine eigenständige, sondern eine abgeleitete Gewalt, sowohl für die historische, wie für die politische Betrachtung: einige sind künstliche, nicht aus dem Volkswillen hervorgegangene Gebilde, die heute nur durch ihr historisches Gewicht und durch fremde politische Mächte erhalten werden. Von der Raager Cour und der Wissenschaft des Auslandes, auch einem Teil der deutschen Wissenschaft (Otto v. Gierke, Erich Kaufmann) sind daher nicht diese Kriterien, sondern allein die Souveränität als entscheidend für den Staatsbegriff erkannt worden. Man kann auch nicht die Souveränität nach Sachgebieten aufteilen derart, daß auf einigen der Bund, auf anderen die Länder die letzte Entscheidung haben. Denn sofort taucht die Frage auf, wer über diese Abgrenzung rechtlich bestimmt. Im Wesen der Souveränität liegt vielmehr beschlossen, daß die "höchste" Gewalt (summa potestas) zugleich "alle rechtlichen Sachgebiete umfassend" (plenitudo potestatis) sein

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VI. Der Bundesstaat

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muß; sie wurde mit dem Aufkommen dieses Begriffs im Kirchenrecht und im Staatsrecht auch so verstanden. In neuester Zeit wurde versucht, über den Ländern und deren Vereinigung zur Bundesrepublik noch einen Zentralstaat, den Bund, zu konstruieren, der die Einheit des Ganzen wahrt. Indes hat das Bundesverfassungsgericht diese Vorstellung - mit Recht- als verfassungswidrig abgelehnt!. Der sogenannte "Zentralstaat", der die Entscheidung über die rechtliche Gesamtordnung und über die Kompetenzen hat, läßt sich nicht von der Bundesgewalt trennen. Prinzip des Grundgesetzes - ebenso wie das der Reichsverfassungen von 1871 und 1919 -ist vielmehr, daß dem Bunde die Kompetenz- Kompetenz und die Wahrung der Gesamtverfassung (durch Bundesaufsicht und Bundesgerichte) zusteht. Dennoch darf man den Ländern nicht die Staatlichkeit absprechen. Nach Art. 30 GG üben sie "staatliche Befugnisse" aus und haben "staatliche Aufgaben". Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sagt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" und meint damit - wie die Überschrift des Abschnitts "Der Bund und die Länder" und das Wort "Alle" zeigen - auch die Staatsgewalt der Länder. Die gleiche Formulierung mit der gleichen Bedeutung findet sich im Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ("aller staatlichen Gewalt"). Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Satz 2 bringen zum Ausdruck, daß es nur eine Staatsgewalt gibt: das Wort "AUe" im Singular bedeutet eine differenzierte Einheit in ihrer Totalität ("allezeit", "alle Welt", "alle Mann", "allemal"). Demgemäß spricht Art. 20 Abs. 3 GG von der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung im Singular und meint damit die des Bundes und die der Länder. Dasselbe gilt von Art. 1 Abs. 3 GG. Ebenso umfaßt im Art. 92 GG der Begriff "Die rechtsprechende Gewalt" die des Bundes und die der Länder. Es gibt nur eine Staatsgewalt, die dem Bunde und den Ländern gemeinsam zusteht. Daher wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes durch den Bundesrat mit (Art. 50); sie wirken auch an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und der obersten Bundesgerichte mit, da sie an der Wahl der Richter dieser Gerichte durch den Bundesrat oder durch den Richterwahlausschuß teilnehmen (Art. 94 Abs. 1 Satz 2, Art. 95 Abs. 2 GG). Schließlich wählen die Repräsentanten der Länder auch gemeinsam mit den Mitgliedern des Bundestages durch die Bundesversammlung den Bundespräsidenten; sie nehmen durch den Bundesrat gemeinsam mit dem Bundestag den Eid des Bundespräsidenten entgegen (Art. 54, Art. 56 GG). Der Bundespräsident ist der oberste Repräsentant der einen Staatsgewalt, so daß die Länder keinen eigenen 1

BVerfG. E. 13, S. 54 (77).

1. Die Souveränität des Bundes und der Länder

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Staatspräsidenten mehr haben können. Die eine gemeinsame Staatsgewalt ist so gegliedert, daß stets die souveräne Entscheidung im konkreten Fall gewahrt bleibt, mag sie Landesorganen, mag sie Bundesorganen zustehen. Die Alternative, die für die Errichtung des französischen Einheitsstaates maßgebend wurde: wer ist souverän?, entfällt damit. Bund und Länder sind gemeinsam souverän. Diese Vorstellung entspricht der Entwicklung des Souveränitätsbegriffes in Deutschland. Die Souveränität der deutschen Landesfürsten, die zuerst im Jahre 1640 durch Bogislav v. Chemnitz vertreten und im Frieden zu Münster von 1648 praktisch anerkannt wurde, war eingegliedert in das Reich; auch hatten an ihr die Landstände teil. Darin lag weder eine Inkonsequenz, noch eine Preisgabe des Souveränitätsbegriffes. Denn das deutsche Recht hatte bereits Rechtsbegriffe, die diesen scheinbaren Widerspruch lösten. Die Souveränität, die eine ist, kann, wie Otto v. Gierke in seiner Kritik an Laband gezeigt hat2 nach deutsch-rechtlichen Vorstellungen mehreren gemeinsam zur gesamten Hand zustehen nach dem Prinzip: jeder hat die ganze unteilbare Souveränität inne, aber keiner allein - ein Begriff, der sein Vorbild im Gesamthand-Eigentum hat -. Die Souveränität des Bundes - sein Recht zur letzten Entscheidung- ist immer auch Ländersouveränität, da die Länder bei der Ausübung mitwirken. Daher erstreckt sich die Kompetenz des Bundes nicht darauf, die Gliederung des Bundes in Länder und deren grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung zu beeinträchtigen: die souveräne Gewalt steht ihnen gemeinsam zu. Diese Regelung, die Art. 79 Abs. 3 GG trifft, ist allerdings unvollkommen; denn das bundesstaatliche Prinzip ist nicht - wie die Würde des Menschen - jeder Verfassung vorgegeben, sondern nur positiven Rechts, d. h. mit Zustimmung der betroffenen Länder, den Mitträgern der Souveränität, könnte es verändert werden. Nur die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben, nicht die Souveränität, sind verteilt unter Bund und Länder (Art. 30 GG). Die Souveränität ist "individuum" und "indivisa", "non indivisibile"; sie kann mehreren nach ideellen Anteilen zustehen, und ihre Ausübung kann unter sie verteilt sein3 • Nach Art. 23 GG gehört auch Groß-Berlin zu den Ländern der Bundesrepublik. Der östliche Teil Groß-Berlins ist der Bundesrepublik durch die Macht der Verhältnisse widerrechtlich entrissen. Der westliche Teil ist jedoch ein Land der Bundesrepublik mit zwei Einschrän2 0. v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Staatsrechtswissenschaft (Neudruck 1961), S. 61 ff. 3 0. v. Gierke, Johannes Althusius (1958), S. 154 Note 95, S. 245 ff., S. 170 Noten 138, 140.

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VI. Der Bundesstaat

kungen (Vorbehalten), die die Militärgouverneure der drei Westmächte im Schreiben vom 12. Mai 1949 (mit dem sie das Grundgesetz genehmigten) aufgeführt haben: "We interpret the effect of Articles 23 and 144 (2) of the Basic Law as constitution acceptance of our previous request that while Berlin may not be accorded voting membership in the Bundestag or Bundesrat nor be governed by the Federation she be, nevertheless, designate a small number of representatives to attend the meetings of those legislative bodies." Indem die Westmächte die Art. 23 und 144 Abs. 2 GG interpretierten und genehmigten, bestätigten sie die Gültigkeit dieser Bestimmungen im Sinne ihrer Interpretation, die ihre vorausgegangenen Ersuchen präzisierte. Die Rechtsstellung Berlins als Land der Bundesrepublik ist nicht aufgehoben: die Entsendung von Vertretern in die gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik kann ihren Sinn nur darin haben, daß Berlin deren Land ist mit beschränkten Rechten, d. h. es wirkt in diesen Körperschaften beratend mit; dementsprechend haben die Abgeordneten GroßBerlins auch an der Feststellung der Annahme des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat mitgewirkt (Art. 145 GG). Auch daß Berlin nicht vom Bund, sondern von den drei Westmächten und dem von ihnen ermächtigten Abgeordnetenhaus regiert wird, schließt die Eingliederung in die Bundesrepublik als deren Land nicht aus: regierende Akte des Bundes, insbesondere Gesetze, erlangen in Berlin mit Zustimmung des Abgeordnetenhauses als Recht des Bundes Rechtsgültigkeit. Von diesen Einschränkungen abgesehen, gilt das Grundgesetz, auch Art. 23, in Berlin. Art. 127 GG, den die Westmächte vorbehaltlos im Schreiben vom 12. 5. 1949 genehmigten, zeigt eindeutig, daß Berlin als Land in die Organisation der Bundesrepublik einbezogen ist und daß die Rechtsstellung eines Landes auch nicht beeinträchtigt wird, wenn Bundesrecht in einem Lande nur mit Zustimmung der Landesregierung in Kraft tritt (vgl. BVerfG.E. 7, 1 [7 ff.]). Im jetzigen Viermächte-Abkommen über Berlin (Anlage II) wird erklärt, West-Berlin sei nicht "Bestandteil (konstitutiver Teil) der Bundesrepublik Deutschland" und "die Bestimmungen des Grundgesetzes", die damit im Widerspruch stehen, seien "suspendiert worden". Diese Erklärung entspricht, wie dargelegt, nicht den Tatsachen und der Rechtslage: Berlin ist vielmehr als Land konstitutiver Teil der Bundesrepublik. Diese Rechtsstellung ist nicht "suspendiert", sondern Art. 23 und 144 Abs. 2 GG, d. h. die Rechte Berlins als Land und die Rechte der Bundesrepublik hinsichtlich Berlins sind im Genehmigungsschreiben der Westmächte bestätigt und durch Interpretation dieser Bestimmungen nur begrenzt worden. Das Bundesverfassungsgericht sagt zutreffend (a.a.O.): "Nach endgültiger Feststellung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat haben die Militärgouverneure weder

3.

Die implied powers

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Art. 23 Satz 1 GG mit Bezug auf Berlin ausdrücklich suspendiert, noch haben sie eine ausdrückliche Feststellung getroffen, daß Berlin nicht in die ursprüngliche Organisation der Bundesrepublik einbezogen ist"; auch ihre Vorbehalte gegenüber der Verfassung Berlins enthalten, wie das Gericht zeigt, nicht solche Suspension oder Feststellung. Die Bundesregierung hat somit, indem sie die Anlage II des Viermächte-Abkommens billigte, das Grundgesetz verletzt. Sie darf aus der Anlage II bei Verhandlungen nicht Konsequenzen ziehen, die in die bezeichnete verfassungsrechtliche Stellung Berlins, insbesondere in die bestehenden Kompetenzen der Bundesorgane in Berlin eingreifen. 2. Abschnitt: Die Repräsentation der Länder im Bundesrat Die Repräsentanten im Bundesrat werden nicht - wie die des Senats der USA und die des Ständerates der Schweiz - von der Bevölkerung jedes Landes gewählt, sondern sie bestehen aus Mitgliedern der Landesregierungen. Diese Form der Mitwirkung ist nicht ein willkürlicher Verstoß gegen Grundsätze der Demokratie, sondern durch die besondere Struktur unseres Bundesstaates bedingt. Denn seit der Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867) steht bei uns - im Unterschied zu den Verfassungen der USA und der Schweiz- den Ländern grundsätzlich die Verwaltung auch in den Angelegenheiten zu, die vom Bund gesetzlich geregelt sind: die Länder führen die Gesetze des Bundes als eigene Angelegenheiten aus (Art. 83 GG). Daher war und ist es notwendig, daß die Leiter der Länderverwaltungen - die Länderregierungen - bei der Gesetzgebung des Bundes mitwirken, sei es persönlich (so Art. 51 GG), sei es durch abhängige Vertreter (so RVerf. von 1871 und von 1919). Denn aus der praktischen Erfahrung und Sachkunde der Verwaltung fließt den gesetzgebenden Körperschaften das Material zu, das sie zur Beurteilung der Gesetzesvorlagen befähigt. Umgekehrt kann eine Verwaltung ein Gesetz nur dann sinnvoll ausführen, wenn sie im Gesetz eine praktikable Regelung der Angelegenheiten erkennt. 3. Abschnitt: Die implied powers Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben sind nach Funktionen und Sachgebieten unter Bund und Länder verteilt (Art. 30, Art. 70, Art. 83, Art. 92 GG). Doch lassen sich die Sachgebiete nicht eindeutig voneinander abgrenzen: sie überschneiden sich in der Praxis, so daß die Zuordnung einer Angelegenheit mitunter Schwierigkeiten macht. Die Verfassung der USA ent-

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VI. Der Bundesstaat

hält daher die "sweeping clause", wonach der Bund - außer den ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen - auch solche Gesetze erlassen darf, die notwendig und geeignet (necessary and proper) sind, um die ausdrücklich zugeteilten Kompetenzen auszuüben. Diese Klausel bringt - wie der "Federalist" zur Zeit der Auseinandersetzungen um den Verfassungsentwurf darlegte - nichts anderes zum Ausdruck, als was sich ohnehin von selbst versteht: es ist, so sagte er, ein einfaches Gebot der Logik, aus der ausdrücklichen Feststellung einer Kompetenz noch weitere Befugnisse zu entnehmen, deren der Bund zur Ausführung jener bedarf. Dieser Grundsatz einer sinnvollen Auslegung war und ist daher allgemein für Bundesstaaten von Bedeutung, insbesondere für das Deutsche Reich und für die Bundesrepublik'. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn enger begrenzt; es sagt, der Bund sei zuständig, "wenn eine dem Bund zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, also ein Übergreifen in nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materien unerläßliche Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesgesetzgebung zugewiesenen Materie"5, oder wenn Wesen und Sinn des Bundes die Regelung einiger Sachgebiete durch den Bund und nur durch den Bund gebietet, sie also der Landesgesetzgebung entzieht6 • Daß eine Materie nicht ohne eine andere geregelt werden "kann", also die Mitregelung "unerläßliche" Voraussetzung für die Regelung einer zugeteilten Materie ist, oder die Regelung durch den Bund "begriffsnotwendig" und "zwingend" erforderlich sein muß - wie das Bundesverfassungsgericht6 meint - unterstellt jedoch absolute physische, also wertfreie, Begriffe des Verstandes; es handelt sich aber um eine Rechtfertigung aus dem Sinn durch vernünftige Auslegung (wie auch aus anderen Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts hervorgeht). So umfaßt die Regelung des Gewerberechts die gewerbliche Ausbildung und damit das Gewerbeschulrecht; zur Regelung der Bundeseisenbahnen, des Luftverkehrs, der Schiffahrt, des Straßenverkehrs, des Kraftfahrwesens, des Gewerbes, des Versammlungsrechts gehört auch das Polizeirecht, das diese Materien betrifft (in diesem Umfange ist das Polizeirecht Bundesrecht und daher revisibel nach§ 549 ZPO), usw. Die häufige Be' Vgl. Heinrich Triepel, Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung (Festgabe für Laband, 1908, S. 249 ff.); Erich Kaufmann, Rechtsgutachten zu EVG und Deutschlandsvertrag, Ges. Schriften I (1960) S. 529 (548 ff., 583 f.). Vgl. auch oben Kap. II, Abschn. 4. 6 BVerfG. E. 3, 407 (421); 8, 143 (148 ff.); 11, 6 (19 f.); 11, 192 (199); 12, 205 (237 f.); 15, 1 (20). 8 BVerfG. E. 11, 89 (98 f.).

3. Die implied powers

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zeichnung "Sachzusammenhang" ist so unklar, daß daraus verfassungswidrige Konsequenzen abgeleitet werden können. Es handelt sich nicht um zusätzliche ungeschriebene Konsequenzen, die irgendwie mit einer geschriebenen sachlich zusammenhängen. Das Grundgesetz kann nicht durch ungeschriebene Normen erweitert werden (Art. 70 Abs. 2, Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG). Sondern gemeint sind "eingeschlossene", d. h. im Sinne des geschriebenen Textes enthaltene (implied) Zuständigkeiten. Dazu gehört auch die Vertretung aller Sachbereiche, einschließlich der der Länder, gegenüber auswärtigen Staaten durch die auswärtige Gewalt des Bundes (Art. 32 GG). Sie nimmt gegenüber auswärtigen Staaten alle Interessen des Bundes unter Einschluß der Interessen der Länder wahr, auch kulturpolitische, sozialpolitische usw.; sie behandelt Fragen des Schüler- und Studenten-Austausches mit dem Ausland, des nachbarlichen Verkehrs der Behörden mit denen des Auslandes, der Nacheile, Fragen der Flußregulierungen, die über die Grenzen wirken, Fragen des Straßen-Anschlusses usw. Im Ermessen der auswärtigen Gewalt des Bundes liegt es, ob sie und in welchem Sinne sie über diese Angelegenheiten mit dem Ausland verhandelt, gleichviel ob sie zur inneren Zuständigkeit des Bundes oder der Länder gehören. Das Land hat nur das Recht, vor Abschluß eines Vertrages, das seine besonderen Verhältnisse berührt, gehört zu werden (Art. 32 Abs. 2 GG). Die Länder aber bedürfen für einen Vertragsschluß mit auswärtigen Staaten in Angelegenheiten ihrer Gesetzgebung - also auch für Verhandlungen hierüber - der Zustimmung der Bundesregierung (Art. 32 Abs. 3 GG). Die auswärtige Gewalt des Bundes umfaßt das Recht, Verträge auch über Landesangelegenheiten mit auswärtigen Staaten abzuschließen. Solche Verträge können in das Landesrecht eingreifen, und zwar kraft Völkerrechts als besonderer Rechtsquelle, nicht kraft Gesetzes7 • Diese Regelung des Art. 32 GG wird auch nicht durch Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eingeschränkt8 • Denn Art. 59 GG behandelt ausschließlich die Kompetenzverteilung unter Organen des Bundes - wie sich aus dem Wortlaut und aus der Stellung dieses Artikels im Abschnitt "Der Bundespräsident" ergibt - während die Abgrenzung der auswärtigen Gewalt des Bundes gegenüber den Ländern in Art. 32 GG unter dem Abschnitt "Bund und Länder", und hinsichtlich der Gesetzgebung im Art. 73 Abs. 1 Ziff. 1 GG enthalten ist. Diese Auslegung entspricht der Verfassung anderer Bundesstaaten (z. B. USA und Schweiz). In der Reichsverfassung von 1871 hatte Art. 11 Abs. 3- der dem heutigen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG entsprach- nach der damals herrschenden Lehre 7 Oben Kap. IV, Abschn. 3. s Wie Maunz meint; Deutsches Staatsrecht (1967), § 33 II.

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VI. Der Bundesstaat

die weitergehende Bedeutung, die auswärtige Gewalt des Reiches von der der Bundesstaaten abzugrenzen, da eine dem Art. 32 GG entsprechende Norm in jener Reichsverfassung nicht vorhanden war: die Bundesstaaten konnten vielmehr selbst auswärtige Gewalt ausüben, soweit sie nicht in das Reichsrecht, insbesondere in die Rechte des Kaisers nach Art. 11 RV eingriffen. Als aber die Weimarer Reichsverfassung im Art. 78 die Länder von der auswärtigen Gewalt grundsätzlich ausschloß, konnte Art. 45 Abs. 3 Weimarer Verfassung- der dem Art. 11 Abs. 3 RV 1871 entsprach - nur noch den Sinn haben, die KompetenzVerteilung unter Reichsorganen (Reichspräsident und Reichstag) zu bestimmen. Das entsprechende gilt von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Man hat im Art. 45 Abs. 3 Weim.Verfassung und im Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG die Formulierung des Art. 11 Abs. 3 Reichsverfassung 1871 ("Gegenstände der Reichs"- bzw. "Bundesgesetzgebung") insoweit übernommen, ohne zu bedenken, daß nunmehr für die völkerrechtlichen Verträge, die in Landesrecht eingriffen, keine parlamentarische Zustimmung vorgesehen ist. Dieses- aus dem Wortlaut des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG folgende - Ergebnis ist unbefriedigend, da nach demokratischen Grundsätzen eine Änderung des Rechts nur mit Zustimmung des Volkes oder der Volksvertretung vorgenommen werden darf: denn Volk und Volksvertretung haben durch Recht die Freiheit zu wahren. Dieser fundamentale Grundsatz der Demokratie führte allgemein in allen freiheitlichen Verfassungen zu dem Zustimmungs-Vorbehalt der Volksvertretung, wie wir ihn heute im Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG finden. Er gebietet eine analoge Anwendung des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG auf völkerrechtliche Verträge, die Gegenstände der Landesgesetzgebung regeln. Denn es gibt keinen sachlichen Grund, der es rechtfertigt, diese Verträge - im Unterschied zu den Verträgen, die Gegenstände der Bundesgesetzgebung zum Inhalt haben - nicht von einer Zustimmung der Volksvertretung abhängig zu machen. Mit Recht wurde unter der Weimarer Verfassung und wird heute die Ansicht vertreten, daß der Gegenbegriff zur "Reichsgesetzgebung" im Art. 45 Abs. 3 Weimarer Verfassung und zur "Bundesgesetzgebung" im Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht "Landesgesetzgebung" sondern "Verwaltung" ist. Die analoge Anwendung des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG auf "Gegenstände der Landesgesetzgebung" wird schließlich auch dadurch gestützt, daß im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates beantragt war, im Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG die Zustimmung zu Verträgen nicht auf "Gegenstände der Bundesgesetzgebung" zu beschränken, sondern schlechthin auf "Gegenstände der Gesetzgebung" zu beziehen; "andernfalls könnte durch außerstaatliche Verträge unmittelbar in die Landesgesetzgebung eingegriffen werden". Der Allgemeine Redaktionsausschuß berücksichtigte bei der Neufassung des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG diesen Antrag

4. Die nicht verteilten Rechte und Fflichten der Länder und des Bundes 171 jedoch nicht, offenbar ohne genaue Prüfung0 - Grewe meint: aus Unachtsamkeit -, so daß die jetzige Fassung vom Hauptausschuß und vom Plenum angenommen wurde. Die Sinnlosigkeit des jetzigen Wortlauts rechtfertigt die analoge Anwendung auf "Gegenstände der Landesgesetzgebung". Da völkerrechtliche Verträge, auch wenn sie Gegenstände der Landesgesetzgebung regeln, grundsätzlich vom Bunde abgeschlossen werden, sind die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes auch für die Erteilung der Zustimmung zuständig, (abgesehen vom Fall des Art. 32 Abs. 3 GG). 4. Abschnitt: Die nicht verteilten Rechte und Pflichten der Länder und des Bundes Das Grundgesetz regelt die Aufteilung der staatlichen Befugnisse und Aufgaben unter Bund und Ländern. Ein Bund aber besteht nicht bloß in dieser Verteilung, sondern vorgegeben sind die unverteilten Kompetenzen und Pflichten, die sowohl dem Bunde wie den Ländern zustehen, weil sie Staaten eigen sind. Über sie sagt das Grundgesetz kaum etwas (ausgenommen Art. 35 GG): es regelt im allgemeinen nur solche Zuständigkeiten ausdrücklich, die nur vom Bunde oder nur von den Ländern ausgeübt werden können, nicht aber solche, die sowohl dem Bunde wie den Ländern zukommen, weil sie zur souveränen Gewalt gehören: so die typischen Rechte, die jedem Träger staatlicher Gewalt seinem Wesen und Sinn nach zustehen, wie Ehrenrechte, Wappen, Siegel, Verleihung von Orden und Auszeichnungen, Verleihung der Staatsangehörigkeit10, Erlaß von Strafen, die die eigenen Gerichte verhängten, die Regelung der eigenen Organisation einschließlich des Sitzes der Regierung (Bestimmung der Hauptstadt). Auch die Führung einer Flagge wird mit Recht nicht als verteilte Kompetenz angesehen; Art. 22 GG verbietet den Ländern nicht, Landesflaggen neben der Bundesflagge zu zeigen, da jeder Träger oder Mitträger einer staatlichen Gewalt zur Führung einer Flagge berechtigt ist. Bund sowohl wie Länder können Feiertage staatlich anerkennen (Art. 139 Weim.Verf.; Art. 140 GG). Auch kann der Bund für feierliche Anlässe des Bundes die Intonierung eines Nationalliedes regeln; den Ländern stehen entsprechende Rechte zur Bestimmung eines Landesliedes zu. Bund und Länder können ferner Rechte des Privatrechts ausüben, sofern es sich nicht um die Erfüllung staatlicher Aufgaben 8 Drucks. Nr. 631 vom 25. 2. 1949, und Nr. 751 vom 2. 5. 1949; vgl. Jhb. d. öff. Rechts, NF Bd. 1 (1951), S. 416. -Ausführlich zu diesen Fragen: Grewe, VVDStL Heft 12 (1954), S. 162 ff. 10 Vgl. Art. 6 Verf. d. Freistaates Bayern vom 2. Dez.1946.

VI. Der Bundesstaat

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handelt, die verteilt sein können und daher gemäß Art. 30 GG verteilt sind (wie der Betrieb von Rundfunk- und Fernseh-Anstalten)11 • 5. Abschnitt: Die Bundestreue Einheitlich steht die Ausübung jeder staatlichen Befugnis und die Erfüllung jeder staatlichen Aufgabe unter der typisch bündischen Pflicht zur Bundestreue und zum bundesfreundlichen Verhalten, die im Wesen eines Bundes li-egt: sie stellt über das bloße gesellschaftliche Nebeneinander hinaus die Einung (im deutsch-rechtlichen Sinne) und Einheit des gemeinsamen Wirkens, den Bund, her. Diese Rechtspflicht ist in einem Bunde jeder Verfassung immanent und der KompetenzVerteilung vorgegeben. Länder und Bund dürfen sich nicht einander in der Wahrnehmung ihrer Rechte hindern. So darf der Bund bei der Ausübung der auswärtigen Gewalt nur im Gesamtinteresse die Interessen von Ländern schmälern; umgekehrt sind die Länder verpflichtet, Opfer, auch territorialer Art, zu bringen, wenn es gilt, den Bestand der Bundesrepublik zu retten (z. B. in einem erzwungenen Friedensvertrag). Die Länder müssen auch eine Neugliederung des Bundes nach Art. 29 GG hinnehmen. Mitglieder einer Landesregierung dürfen nicht durch Reden oder auf andere Weise die Beziehungen des Bundes zu einem fremden Staate derart gefährden, daß dadurch schädliche Auswirkungen für den Bund entstehen, also der Auswärtige Dienst (im Sinne des Art. 87 Abs. 1 GG) gestört wird. Ein Land darf auch nicht dulden, daß Repräsentanten der Gemeinden, die seiner Aufsicht unterstehen, in Bundeskompetenzen eingreifen; dazu würde auch eine Gefährdung der auswärtigen Beziehungen gehören. Jedes Land muß ferner bei seiner Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung, soweit sie das Gesamtgefüge integrieren, Rücksicht auf die Ordnung anderer Länder und des Bundes, insbesondere auf das gesamte Finanzgefüge nehmen (z. B. bei der Regelung der Besoldung der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes). Entsprechende Pflichten hat auch der Bund gegenüber den Ländern. über die Wahrung der Kompetenzen hinaus schulden Bund und Länder einander nicht nur Rechts- und Amtshilfe (Art. 35 GG), sondern auch Unterstützung in besonderen Nöten, denen ein Land oder der Bund nicht Herr zu werden vermag (z. B. Finanzhilfe)12. Das Grundgesetz bringt diese allgemeine Pflicht in den Spezialvorschriften über den Polizeinotstand (Art. 91 GG) und Finanzausgleich u BVerfG. E. 12, 205 (246).

Vgl. zu allem: BVerfG. E. 8, 122 (138) ; 6, 309 (328, 361 f.), 4, 115 (140); 3, 52 (57); 12, 205 (239 f., 254 f.); 1, 117 (131). 12

6. Die Bundesaufsicht

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(Art. 107 Abs. 2 GG) zum Ausdruck; die Verpflichtung zur Katastrophenhilfe aber bestand bereits, als sie noch nicht im Grundgesetz (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) geregelt war; sie wurde bei der Flutkatastrophe an der Nordseeküste im Februar 1962 anerkannt und durchgeführt. Aus der Pflicht der Länder zur Bundestreue folgt insbesondere, daß die Länder die völkerrechtlichen Verträge des Bundes zu beachten haben, also auch die Verträge des Reiches, die nach Art. 123 Abs. 2 GG für die Bundesrepublik rechtsverbindlich sind. Jedes Land hat den Pflichten aus solchen Verträgen in seinem Gebiet und im Bereich seiner sachlichen Zuständigkeit nachzukommen; insoweit ist die Ermessensfreiheit des Bundes und der Länder durch Art. 123 Abs. 2 und soweit es sich um neue Verträge handelt- durch Art. 32 Abs. 1 GGeingeschränkt. Als Mitträger der souveränen Gewalt des Bundes ist jedes Land hierzu verpflichtet. Man darf nicht die völkerrechtliche Gültigkeit der Verträge von der innerstaatlichen trennen derart, daß die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes eine Verpflichtung der Länder, völkerrechtlichen Verträgen nachzukommen, ausschließen kann. Denn völkerrechtliche Verträge sind "self executing" im inneren Rechtl 3 , da nach Art. 25 GG der Grundsatz "pacta sunt servanda" Bestandteil des Bundesrechts ist und den Gesetzen vorgeht. Es würde dem Wesen des Bundes und der Bundestreue widersprechen, wenn seine Mitglieder die internationalen Beziehungen dadurch beeinträchtigen könnten, daß sie völkerrechtliche Verpflichtungen des Bundes nicht ausführen.

6. Abschnitt: Die Bundesaufsicht In den Formen der Bundesaufsicht (Art. 48 Abs. 3-5 GG) können die Länder vom Bunde angehalten werden "die Bundesgesetze dem geltenden Rechte gemäß" auszuführen. "Bundesgesetze" sind nicht nur die in den Formen des Grundgesetzes erlassenen Gesetze, sondern auch das Grundgesetz selbst, wie sich aus Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG und der traditionellen deutschen Rechtsauffassung ergibt. Auch die im Grundgesetz enthaltene Verpflichtung zur Bundestreue (die das bundesfreundliche Verhalten umfaßt) ist somit eine bundesgesetzliche Pflicht und deren Erfüllung ist Ausführung eines Bundesgesetzes gemäß Art. 84 Abs. 3 und 4 GG. Daß solche Pflichten von den Ländern zwar zu "beachten", aber nicht "auszuführen" seien (wie das Bundesverfassungsgericht meint), ist eine Unterscheidung ohne praktischen Sinn: Pflichten beachten heißt, sie ausführen. Das Grundgesetz über13

Oben Kap. IV, Abschn. 3. A. A. als hier: BVerfG. E. 6, 309 (338 ff., 361 ff.).

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VI. Der Bundesstaat

läßt den Ländern nicht bloß einen Raum zur freien Gestaltung, sondern legt ihnen in diesem Raum auch Rechtspflichten auf. Der gegenteilige Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts1• ergibt sich auch nicht daraus, daß das Grundgesetz die Regelung der Bundesaufsicht anders formuliert hat als die Reichsverfassungen von 1871 und 1919, d. h. eine sogenannte "selbständige" Aufsicht nicht aus dem Wortlaut des Art. 84 Abs. 3 und 4 GG abgelesen werden kann. Denn auch nach den Reichsverfassungen war die sogenannte "selbständige" Reichsaufsicht keineswegs selbständig (diese Bezeichunng war falsch), sondern war Aufsicht über die Ausführung der Reichsverfassung. Heinrich TTiepel, auf den das Bundesverfassungsgericht die Unterscheidung einer "selbständigen" Aufsicht von der abhängigen zurückführt, lehnte gerade diese Unterscheidung ab; er sagte: sie lasse sich "nicht mehr aufrecht erhalten". "Bei Lichte besehen ist die selbständige Aufsicht nichts anderes als ein kleiner Ausschnitt aus dem großen Kreise der abhängigen Aufsicht"; die selbständige Aufsicht sei "gerichtet auf die Erfüllung der Reichsverfassung selbst" 16• Es wäre widersinnig, wenn die Länder durch Bundesaufsicht zur Durchführung einfacher Bundesgesetze, nicht aber zur Durchführung des Grundgesetzes angehalten werden könnten. 7. Abschnitt: Die Koordinierung der Länder und des Bundes in Ermessensfragen

Bundestreue und bundesfreundliches Verhalten erfordern auch eine Koordinierung in Ermessensfragen, wenn die einheitliche Regelung einer Angelegenheit im Gesamtinteresse liegt. Sowohl die Länder, als auch Bund und Länder sind einander rechtlich verpflichtet, sich hierüber zu verständigen (z. B. über Schulfragen von allgemeiner Bedeutung, über die Anerkennung von Zeugnissen und Examina, über die Anerkennung von Disziplinarmaßnahmen, über Nacheile der Polizei und überhaupt über die nachbarliche Zusammenarbeit der Länder untereinander und zwischen Bund und Ländern). Aber die Mittel und die Gestaltung der Verständigung sind dem pflichtgemäßen Ermessen der Beteiligten überlassen. Unter der Reichsverfassung von 1871 war Preußen federführend für die Koordinierung. Auf seine Initiative ging die Einigung der verbündeten Staaten über eine einheitliche Orthographie (1901), über die Schultypen und die allgemeine Anerkennung der Reifeprüfung zurück. Diese Zuständigkeit ergab sich aus der führenden Rolle Preußens im u BVerfG. E. 6, 309 (328 f., 362) ; 8, 122 (130 ff.). 16

Heinrich Triepel, Die Reichsaufsicht (1917), S. 451.

7. Die Koordinierung der Länder und des Bundes in Ermessensfragen 175 Reich. Unter die Reichsverfassung von 1919 ging die Federführung in Fragen der Koordinierung auf das Reich über. So gaben der Reichsinnenminister und der Reichsarbeitsminister mit Zustimmung der Länder Richtlinien über die Zusammenarbeit der Länder auf den Gebieten der Berufsberatung und Schulen heraus. Heute überläßt man die Koordinierung im wesentlichen den Konferenzen der Länderminister und der Ministerpräsidenten. Nur gelegentlich haben der Bundestag und der Bundesinnenminister auf eine Koordinierung, insbesondere in Fragen der Schulen und Universitäten, hingewirkt. Man hat noch nicht erkannt, daß Koordinierung eine bündische Angelegenheit ist, die den Ländern und dem Bunde obliegt, also nicht verteilt, sondern den Verteilungsgrundsätzen des Grundgesetzes (Art. 30, 70, 83, 92) vorgegeben ist, weil sie (wie die Bundestreue) im Wesen des Bundes liegt. Die Initiative - der Vorschlag - sollte daher in erster Linie beim Bunde liegen, ohne die freie Entschließung der Länder zu beeinträchtigen. Die Einigung aber kann, wenn sie gesetzliche Voraussetzung für eine notwendige Regelung ist, eine Rechtspflicht sein, die aus der Bundestreue folgt; daher wäre ein "aus sachfremden Motiven erhobener ... Widerspruch" gegen einen Vorschlag "sachlich unerheblich"10•

n

BVerfG. E. 1, 299 (315 f.).

Siebentes Kapitel

Das Widerstandsrecht und der Staatsnotstand Jedes Grundgesetz, jede schriftlich fixierte Verfassung verstößt gegen die Zeit und Geschichtlichkeit des Daseins. Der Verstoß ist um so eklatanter, je mehr eine Verfassung vor Veränderung geschützt wird, sei es daß eine Veränderung besondere Formen, sei es daß sie qualifizierte Mehrheiten erfordert. Jede gesetzte Verfassung etabliert einen Zustand an Grundsätzen, Rechten und Mächten für die Zukunft ohne Rücksicht auf ihre Bewährung. Das Grundgesetz etabliert unter anderem das Eigentum als selbständiges Grundrecht, nicht bloß als "Mittel" der Freiheit!. Es etabliert auch- durch das parlamentarische Regierungssystem und die von Parlamenten bestimmte Wahl des Staatsoberhauptes - das tatsächliche Monopol der Parteien, die Politik zu gestalten, obwohl die Parteien keineswegs als Repräsentanten des Volkswillens angesehen werden und rechtlich bei dessen Bildung nur "mitzuwirken" haben (Art. 21 Abs. 1 GG). Die Kritik am bestehenden "System" oder "Establishment" ist jedoch nicht bloß ein Zeichen unserer Zeit. Die Kritik am Weimarer "System", in dem die demokratischen Parteien nicht mehr die Verantwortung für einen Kompromiß zur Regierungsbildung aufbrachten, ging nicht erst vom Nationalsozialismus aus; sie wurde von ihm nur ausgenutzt. Der Kritik am kapitalistischen "System" des ausgehenden 19. Jahrhunderts verschlossen sich die Konservativen und die Liberalen- entgegen ihrer eigenen deutschen Tradition (Fichte, Schleiermacher, Wilhelm v. Humboldt, Arndt, Jahn, Kleist, Fr. J. Stahl, v. Gagern, Gervinus) -; sie überließen den Kampf für soziale Gerechtigkeit im wesentlichen den marxistisch orientierten Sozialisten und blockierten damit eine rechtzeitige Ablösung der etablierten Mächte. Bleibend und konstituierend ist nur die Würde des Menschen, insbesondere der Sinn seiner Freiheit, Gerechtigkeit und Recht zu bewahren oder neu zu setzen. Die Kontingenz der politischen Tat kann den verfassungsrechtlichen Zustand in Frage stellen, zum Guten oder zum Bösen. Nicht eine gesetzte Verfassung ist "Constitution" der politischen Einheit des Volkes; sie gewährt nur eine relative Sicherheit von rela1

Oben Kap. III Abschn. 5 k.

VII. Das Widerstandsrecht und der Staatsnotstand

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tivem, zeitbedingtem Wert. Jede Verfassung muß daher bald geändert oder aufgehoben werden, oder sie wandelt sich durch Auslegung. Konstituierend sind die Menschen, die Freiheit und Macht für Gerechtigkeit und Recht einsetzen und damit die Verfassung bewähren und legitimieren, oder sie wandeln, oder eine neue gestalten durch politische Tat, die vom Volke approbiert wird im Vertrauen auf ihre Bewährung. Widerstand und Staatsnotstand offenbaren die Quellen politischer Legitimität: die Menschen, die für die bestehende Verfassung eintreten. Beide sind Rechte der Notwehr, die von rechtlichen Bindungen befreit, soweit es erforderlich ist, um einen gewaltsamen Angriff auf das Recht abzuwehren. Wer ausgebrochen ist aus der rechtsstaatliehen Ordnung, kann nicht immer durch eben diese Ordnung zurückgeholt werden. Widerstandsrecht ist ein "Notrecht zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung" 2 • Der Einzelne oder eine Gruppe nehmen repräsentativ für das Volk die Verteidigung des Rechtsstaates wahr. Im Staatsnotstand tun die legalen Repräsentanten des Rechtsstaats dasselbe: sie kämpfen für den Bestand des Staates und dessen Rechtsordnung. Beide Rechte setzen voraus, daß die Abwehr nicht mehr in den verfassungsmäßigen Formen erfolgen kann. Daher kann weder das Widerstandsrecht, noch das Recht des Staatsnotstandes an den gesetzten Normen gemessen und von ihnen legitimiert werden. BeideRechte sind als Rechte der Notwehr jeder Verfassung vorgegeben. Somit darf auch Abs. 4 des Art. 20 GG nicht durch Änderung des Grundgesetzes aufgehoben werden: jene Notwehrrechte liegen auf derselben Ebene wie die Würde des Menschen, die Menschenrechte und die Grundrechte, die Demokratie und die Gewaltenteilung (Art. 79 Abs. 3 GG).

Innerhalb einer wirksamen rechtsstaatliehen Verfassung wäre das Recht zum Widerstand ein Widerspruch. Denn sie bietet Gewähr dafür -soweit es im menschlichen Vermögen steht- daß eine rechtswidrig ausgeübte Gewalt unterbunden wird, und verbietet die Befolgung eines offensichtlich rechtswidrigen Befehls. Ob ein Unternehmen darauf aus,geht, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen (Art. 20 Abs. 4 GG), entscheiden die Gerichte, nicht der Einzelne. Haben Gerichte die Verfassungsmäßigkeit - etwa staatlicher Maßnahmen - rechtskräftig festgestellt, so hat niemand ein Recht zum Widerstand mit der Begründung, daß "andere Abhilfe nicht möglich ist" (Art. 20 Abs. 4 GG). Erst wenn die Gerichte nicht mehr das Recht zu wahren vermögen, also die rechtsstaatliche Verfassung insoweit nicht mehr besteht, können Recht und Pflicht zum Widerstande entstehen. Daher ist die zitierte Fassung des Art. 20 Abs. 4 GG unklar und kann in kritischen Situationen zu gefährlichen Mißdeutungen führen; die Formulierung müßte 2

BVerfG. E. 5, 85 (377).

12 Hamel

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VII. Das Widerstandsrecht und der Staatsnotstand

etwa lauten: "wenn die rechtsstaatliehen Gewalten zur verfassungsmäßigen Abwehr außerstande sind". Einer solchen Neufassung des Art. 20 Abs. 4 GG würde Art. 79 Abs. 3, der Art. 20 GG von der Verfassungsänderung ausnimmt, nicht entgegenstehen, da sie nur den Sinn - die Notwehr als letztes Mittel zur Verteidigung der Rechtsordnung - klarer zum Ausdruck brächte. Ein Widerstand gegen verfassungsmäßige Einrichtungen kann niemals mit Art. 20 Abs. 4 GG gerechtfertigt werden. Da z. B. der Ersatzdienst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Grundgesetz entspricht, ist ein Widerstand dagegen rechtlich unzulässig. Doch kann sich in der Zukunft enthüllen, daß die Verweigerung des Ersatzdienstes legitimer Widerstand gegen ein establishment der Gewissensnot ist - wenn etwa das Bundesverfassungsgericht seine Auslegung des Grundgesetzes ändert, oder das Volk von der Legitimität dieses Anliegens überzeugt wird und durch seine Repräsentanten eine Verfassungsänderung herbeiführt. - Das Entsprechende gilt allgemein vom Widerstand gegen die bestehende Ordnung. Nicht rechtswidrig ist das Unternehmen, die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes anzurufen und ihr die Möglichkeit zu geben, das bestehende Grundgesetz durch ein neues zu ersetzen, das den Veränderungen der Zeit gerecht wird3 • Gegen ein solches Unternehmen ist weder ein Widerstandsrecht, noch ein Recht zum Staatsnotstand gegeben. Denn das Grundgesetz selbst ist nur durch die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes legitim (vgl. die Präambel) und untersteht den Wandlungen des konstituierenden Volkswillens: es ist mit dem Volkswillen ein geschichtliches Phänomen. Eine Generation kann nicht allen zukünftigen Generationen die staatliche Lebensform vorschreiben. Nur die Würde des Menschen und die Gerechtigkeit, aus der seine Freiheit in der Gemeinschaft mit anderen Menschen hervorgeht, sind dem Menschen bleibend ein- und aufgegeben. Man hat sich bemüht, den Staatsnotstand durch positive Verfassungsbestimmungen zu regeln, um einen Mißbrauch der Macht zu verhindern. Nach dem Grundgesetz können gegen den inneren Feind grundsätzlich nur rechtsstaatliche Gewalten, insbesondere die Polizei, eingesetzt und die Streitkräfte nur "zur Unterstützung" der Polizei und des Bundesgrenzschutzes herangezogen werden (Art. 87 a Abs. 4 GG); alle rechtsstaatliehen Formen sind also zu wahren. Auch im Verteidigungsfalle gegen den äußeren Feind - dem Angriff auf das Bundesgebiet - bleiben grundsätzlich rechtsstaatliche, wenn auch gelok3

Oben Kap. II Abschn. 4.

VII. Das Widerstandsrecht und der Staatsnotstand

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kerte Bindungen bestehen. Dabei ist jedoch das Wesen des Staatsnotstandes verkannt: daß nämlich die rechtsstaatlich gelenkte Macht zur Verteidigung nicht ausreicht, d. h. nicht alle Maßnahmen zu ergreifen vermag, die zur Abwehr des Angriffs erforderlich sind. Die positive Regelung des Staatsnotstandes, die einem Macht-Mißbrauch vorbeugen soll, kann gerade die rettende Tat verhindern, insbesondere wenn die Regelung so kompliziert ist wie im Grundgesetz. Haben die rechtsstaatliehen Gewalten nicht die Freiheit und Macht den- inneren oder äußeren - Feind zu besiegen, so wird der "iibeTgesetzliche Notstand", der von allen gesetzlichen Bindungen befreit, heraufbeschworen. Denn auch im Wesen des Rechtsstaats liegt das Notwehrrecht beschlossen: daß zu seiner Verteidigung alle menschenwürdigen Mittel eingesetzt werden dürfen, die zwingend notwendig sind, um den Angriff gegen ihn und seine Rechtsordnung abzuwehren. Mit Recht zählt John Locke das Recht des Staatsnotstandes zur Prärogative. Reichen die rechtsstaatliehen Gewalten nicht aus, um einen inneren oder äußeren Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der ihr dienenden Staatsmacht abzuwehren, so geht die Pflicht zur Abwehr auf die Gewalt über, die für den Bestand des Ganzen die Verantwortung trägt und die drei Funktionen des Rechts in Gang setzt und erhält: die regierende Gewalt. Regieren ist der Motor jeder staatlichen Gewalt4 • Fällt einer der Repräsentanten, die an der regierenden Gewalt teilhaben (z. B. die Volksvertretung) aus, so haben die anderen Repräsentanten, die die Verantwortung für die Erhaltung des Ganzen tragen, die zwingend notwendigen Maßnahmen zur Verteidigung zu ergreifen. Wie im natürlichen Organismus, so wächst auch im politischen Organismus die Funktion eines versagenden Organs nach dem Gesetz der Kompensation den benachbarten Organen zu (wobei der Begriff "Organ" nur als Gleichnis und Bild auf verantwortliche Repräsentanten anwendbar ist). Denn in jedem Organ, das repräsentativ für das Volk handelt, ist die ganze Gemeinschaft des Volkes verkörpert und gegenwärtig. Das Grundgesetz kennt diesen Grundsatz der Kompensation nur für den Fall, daß untergeordnete Repräsentanten die regierenden Aufgaben der übergeordneten übernehmen, wenn diese außerstande sind, die notwendigen Maßnahmen der Verteidigung zu treffen (Art. 115 i GG). Dieser Grundsatz gilt jedoch allgemein im Verhältnis der politisch verantwortlichen Repräsentanten zueinander. Er gilt auch nicht bloß für die Verteidigung gegen einen inneren oder äußeren Feind, auf die sich die Notstands-Regelung des Grundgesetzes einseitig konzentriert, ohne die anderen - friedlichen - Fälle des Staatsnotstandes auch nur 4

Oben Kap. IV Abschn. 2.

12*

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VII. Das Widerstandsrecht und der Staatsnotstand

zu erkennen. Ist die Volksvertretung aufgelöst oder aus einem anderen Grunde außerstande, dringend notwendige Beschlüsse zu fassen, um schwere Schäden zu verhindern - z. B. einen für die Wirtschaftsordnung wesentlichen internationalen Handelsvertrag zu verlängern oder Kredite zu gewähren, um einem drohenden Zusammenbruch der Banken zu begegnen - so kann die Regierung diese unaufschiebbaren Maßnahmen allein treffen, auch wenn nach der Verfassung die Volksvertretung mitzuwirken hat; die Regierung hat sich jedoch nachträglich der Volksvertretung gegenüber zu verantworten und um Indemnität nachzusuchen, die zu gewähren ist, wenn die Maßnahmen unvermeidbar waren, um schwere Schäden vom Volke abzuwenden. Dieser Grundsatz ist nicht nur in England, sondern auch im demokratischen Deutschen Reich und im demokratischen Österreich in der Wirtschaftskrise, die 1931 aufbrach, praktisch angewendet worden. In allen Fällen des übergesetzlichen Notstandes ist die Legitimität auf die Zukunft gerichtet, nämlich darauf, daß die Entscheidung der verantwortlichen Repräsentanten - weil sie notwendig und unaufschiebbar war - von der Volksvertretung später approbiert wird. Die Regierung darf so lange die dringenden, unaufschiebbaren Beschlüsse ohne Mitwirkung der Volksvertretung fassen, als diese außerstande ist, eine unmittelbar bevorstehende schwere Gefahr abzuwenden. Aber die angeordneten Maßnahmen sind unverzüglich der Volksvertretung zur Genehmigung (oder Aufhebung) vorzulegen, wie es Art. 48 Abs. 3 Weimarer Verf. vorsah. Alle weitergehenden rechtsstaatliehen Regelungen des Staatsnotstandes hingegen sind, wenn eine Katastrophe droht oder hereinbricht, von relativem Wert, ja, sie können sinnlos werden, d. h. die eigene Macht so lähmen, daß der Rechsstaat untergeht. Das Recht zur Notwehr - der zwingend notwendigen Verteidigung - kann nicht ohne Gefahr eingeschränkt werden, weder für den Einzelnen, noch für die staatlichen Repräsentanten, die für den Bestand des Rechtsstaats die Verantwortung tragen. Jede positiv-rechtliche Regelung des Staatsnotstandes und des Widerstandes unterliegt diesem Wesen der Notwehr. Wird das im Staate verbundene Volk und seine rechtsstaatliche Willensmacht durch verfassungswidrig ausgeübte Gewalt bedroht, so hängt die Entscheidung nicht vom rechtlichen status, auch nicht von allgemeinen Rechtsprinzipien ab (das Gerechte kann nicht in allgemeinen Grundsätzen erfaßt werden). Sondern entscheidend für den Bestand von Recht und Freiheit ist die menschenwürdige Macht, die die Menschen im Kampfe für das gerechte Recht einsetzen (nur menschenwürdige Mittel sichern Menschenwürde und Freiheit). Unterliegen die Repräsentanten des Staates, so muß der bestehende Staat anderen Maßstäben und Grundsätzen des Rechts weichen, hinter denen ein

VII. Das Widerstandsrecht und der Staatsnotstand

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stärkerer persönlicher Einsatz steht und die sich zu bewähren haben. Staat und Recht stehen in der Geschichte. Nicht ein Rechtssystem,

auch nicht die freiheitliche demokratische Grundordnung eines Rechtsstaates bewahren den Menschen in seiner Freiheit, sondern dem Menschen ist aufgegeben, durch seine Freiheit und Macht Recht und Rechtsstaat gerecht zu gestalten und zu erhalten: er hat einen geschichtlichen Auftrag. Daß dabei die Gerechtigkeit ausreichend Macht zu Positivierung des Rechts hinter sich sammelt, um ein ungerechtes System zu verändern, ist nicht ein Gesetz der Geschichte, nicht eine prästabilierte Harmonie, geschieht auch nicht durch bloße Gewalt, sondern durch die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der Menschen, die für Gerechtigkeit und Liebe- Gottes Ordnung- eintreten. Gehen sie unter, so verfällt die Gesellschaft freier Menschen der Diktatur und Knechtschaft5 • Nur der gerechte Mensch bewahrt durch Recht und Rechtsstaat die Freiheit.

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Oben Kap. II Abschn. 12.