Deus Creator – Poeta Creator – Homo Creator: Reflexe schöpferischen Bewusstseins im »Wilhelm von Österreich« Johanns von Würzburg 9783412508821, 9783412507206

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Deus Creator – Poeta Creator – Homo Creator: Reflexe schöpferischen Bewusstseins im »Wilhelm von Österreich« Johanns von Würzburg
 9783412508821, 9783412507206

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ORDO Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit Herausgegeben von Ulrich Ernst, Christel Meier und Klaus Ridder Band 14

Sebastian Heuer

Deus creator – Poeta creator – Homo creator Reflexe schöpferischen Bewusstseins im „Wilhelm von Österreich“ Johanns von Würzburg

2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT

D 82 (Diss. RWTH Aachen University, 2015)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst GmbH, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50720-6

Für Hanna

Meinen Eltern Elke und Johannes

Im Gedenken an Jan Holz, der viel zu früh gestorben ist

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Jahr 2015 von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen als Dissertation angenommen und für die Druckfassung leicht gekürzt und verändert. Mein Dank gilt zuerst meiner Erstbetreuerin, Professor Dr. Silvia Schmitz, für die Anregung, Betreuung und kontinuierliche Unterstützung bei der Arbeit an meiner Dissertation. Ebenso danke ich meinem Zweitbetreuer, Professor Dr. Klaus Ridder, für die konstruktive Kritik und die Möglichkeit, meine Arbeit in Tübingen vorzustellen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Ältere Deutsche Literatur der RWTH Aachen danke ich für die Unterstützung und stets gute Zusammenarbeit. Für Anregungen danke ich insbesondere Privatdozent Dr. Thomas Neukirchen und Florian Führen, der meine Arbeit gewissenhaft lektorierte. Den Herausgebern der Reihe ordo, Professor Dr. Ulrich Ernst, Professor Dr. Christel Meier-Staubach und Professor Dr. Klaus Ridder danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe. Mein Dank gilt der Graduiertenförderung der RWTH Aachen für die Finanzierung meiner Arbeit an der Dissertation. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes danke ich für die ideelle Förderung während Studium und Promotion. Für die Druckkosten kommt der Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort auf, dem ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Ich danke meinen Freunden und meiner Familie. Meinen Eltern danke ich insbesondere dafür, dass sie mir das Studium ermöglicht und immer großes Vertrauen in mich gesetzt haben. Größter Dank gilt meiner Frau Hanna, die mich während der Arbeit an der Dissertation stets moralisch unterstützt und die Arbeit wiederholt lektoriert hat. Bonn, im Oktober 2016

Sebastian Heuer

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ziel der Untersuchung: Reflexe schöpferischen Bewusstseins . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Anrufungen des Erzählers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Christliche Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Gott als Höchster innerhalb der Hierarchie . . . . . . . . . . 1.1.2 Paradigmengebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Sprachliches Erfassen der Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Personifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Personifizierte Minne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Personifizierte Aventiure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Personifizierte Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Personifizierter Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Autoritäten und fingierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Hierarchisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Gott und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Minne und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Gott wird angerufen, Parklise greift ein . . . . . . . . . . . . . 1.5 Deus creator – Poeta creator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Personifikationen, der Erzähler und Gott . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Die poetologischen Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Poeta creator: Der Dichter – ein Schöpfer? . . . . . . . . . . .

37 37 41 53 68 70 70 80 95 96 103 109 110 112 123 131 131 134 145

Übertragene Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Theorien und Begriffe: Ein Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Tropen und Figuren in rhetorischem Verständnis . . . . . . 2.1.2 Das Erbe der antiken Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Rhetorik als Hilfswissenschaft der Bibel-Auslegung? . . . . 2.1.4 Gottes Wort und das Wort des Poeten . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Göttliche Setzung oder exegetische Willkür: Die Allegorie zwischen Erstarrung und Ausuferung . . . .

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2.1.6 Historizität von Metapherntheorien . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.7 Reden von Gott: Spekulative Theologie . . . . . . . . . . . . . 2.1.8 Zusammenfassung: Zur Funktion des Problemaufrisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Übertragene Rede im „Wilhelm von Österreich“ . . . . . . . . . . . 2.2.1 Gott und Minne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Schifffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Der Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Der Aventue re Hauptmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Das Reich des Joraffin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Poeta creator: Mehrfacher Schriftsinn und verbindliche Exegese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

205 210 218 219 220 225 241 261 283 305

Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1 Zum Verständnis des Begriffes „Natur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Natur im „Wilhelm von Österreich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Gott – Natur – Dichter – Handwerker . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Nachahmung der Natur: als ob es lebt . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Eingriffe in die Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Grenzen des Irdisch-Natürlichen: wunder . . . . . . . . . . . 3.2.5 Künstliche Welten am Rande des Bekannten . . . . . . . . . 3.3 Homo creator – Poeta creator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

310 327 329 332 338 343 354 372

Reflexe schöpferischen Bewusstseins: Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Ziel der Untersuchung: Reflexe schöpferischen Bewusstseins Fragt man im Kontext mittelalterlicher Literatur nach der schöpferischen Potenz des Menschen, so stößt man bis in die jüngste Forschung z. T. auf eine ablehnende Haltung. Noch immer ist Curtius’ Meinung wirksam, die „Wertung des Dichters als eines Schöpfers“ breche erst bei Goethe durch. 1 So wie der Sturm und Drang als Geburtsstunde des schöpferischen Dichters gilt, gilt mittelalterliche Literatur oft noch immer als auctoritas-zentriert. 2 Worstbrocks Diktum vom mittelalterlichen Dichter als Wiedererzähler 3 hat Schule gemacht. In den letzten Jahren geraten solche Positionen ins Wanken. Haug konstatiert, dass „künstlerische Kreativität“ ein „Anthropologikum“ sei, und setzt zugleich Blockaden von Seiten der Theologie voraus, gegen die sich mittelalterliche Dichter durchzusetzen hätten: Sie fälschten, lögen und verschleierten. „Man akzeptiert scheinbar die Blockaden, man übernimmt sogar die Begrifflichkeit der klerikalen Poetik, aber nur, um sie dann mehr oder weniger offen zu unterlaufen oder umzudeuten“. 4 Immer deutlicher stellt 1 C, Ernst Robert (1993): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl. Tübingen: Francke, S. 400. Im Folgenden zitiert als C (1993). 2 Vgl. L, Corinna (2004): Quelle als Konstrukt. In: Rathmann; Wegmann (Hrsg.): „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Berlin: Schmidt (Beihefte zur ZfdPh, 12), S. 209–240, hier S. 210. Im Folgenden zitiert als L (2004). 3 W, Franz Josef (1999): Wiedererzählen und Übersetzen. In: Walter Haug (Hrsg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen: Niemeyer (Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert, 16), S. 127–142, im Folgenden zitiert als W (1999). 4 H, Walter (2008): Die theologische Leugnung der menschlichen Kreativität und die Gegenzüge der mittelalterlichen Dichter. In: Schlesier; Trînca (Hrsg.): Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hildesheim: Weidmann, S. 73–87, hier S. 73ff. Im Folgenden zitiert als H (2008); vgl. auch H, Walter (2006): Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts. In: Gerd Dicke et al. (Hrsg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Berlin, New York: de Gruyter, S. 49–64, hier S. 53 f. Im Folgenden zitiert als H (2006); Haug, Walter: Innovation und Originalität. Kategoriale und literarhistorische Vorüberlegungen. In: ders.: Innovation und Originalität. Beiträge zum siebten Gespräch über Probleme der kulturgeschichtlich-literarischen Wende vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Tübingen: Niemeyer, S. 1–13.

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sich indes heraus, dass christliches Gedankengut Neues nicht nur blockiert, sondern es geradezu gefördert hat. Krolzik fragt, welche „Gedanken des christlichen Glaubens [. . . ] technische Innovationen erlaubt und gefördert“ hätten. 5 Die Tübinger Arbeitsgruppe des Graduiertenkollegs „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800). Transfers und Transformationen – Wege zur Wissensgesellschaft der Moderne“ formuliert als gemeinsame Arbeitshypothese, dass „gerade die Produktivität und Diskursivität des religiösen Wissens [. . . ] bereits im Europa der Vormoderne jene Institutionen und Konzepte etablierte, die den Weg zur modernen Wissensgesellschaft mit anbahnten“, und geht davon aus, dass „Transfer und Transformation religiösen Wissens [. . . ] wesentlich zur Dynamisierung und Ausdifferenzierung von Wissensfeldern“ beigetragen hätten. 6 Klein nimmt in den Blick, wie christliches Gedankengut in literaturästhetischen Zusammenhängen aufgenommen wird, und untersucht „die Konstruktion von Autorschaft mit Hilfe religiöser Deutungsmuster“. Ihr geht es „um die Autorisation des Dichters durch die Inspiration einer numinosen Macht“ und darum, „wie das Inspirationsmodell in seinen verschiedenen Varianten für die Konstitution von Autorschaft genutzt wird, an welche Voraussetzungen diese Entwürfe gebunden sind und welche Implikationen und Funktionen sie enthalten“. 7 Sie erkennt, dass man sich mit der Negierung von Originalitätsdenken im Mittelalter zu schnell festgelegt hat, und hinterfragt, „ob nicht auch Texte des lateinischen und deutschen Mittelalters ein auktoriales Selbstbewußtsein bezeugen, das auf Unabhängigkeit des schöpferischen Tuns von Traditionen, Konventionen und Gelehrsamkeit, genauer noch: auf einen

5 K, Udo (1993): Zur theologischen Legitimation von Innovationen vom 12. bis 16. Jahrhundert. In: Haug; Wachinger (Hrsg.): Innovation und Originalität. Beiträge zum siebten Gespräch über Probleme der kulturgeschichtlich-literarischen Wende vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Tübingen: Niemeyer, S. 35–52. Im Folgenden zitiert als K (1993). 6 H, Andreas (2013): Die Wissensgesellschaft der Vormoderne. Die Transfer- und Transformationsdynamik des „religiösen Wissens“. In: Ridder; Patzold (Hrsg.): Die Aktualität der Vormoderne: Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Berlin: Akademie-Verlag, S. 233–265. Im Folgenden zitiert als H (2013). 7 K, Dorothea (2006): Inspiration und Autorschaft. Ein Beitrag zur mediävistischen Autordebatte. In: DVjs 80, S. 55–96, hier S. 63; im Folgenden zitiert als K (2006).

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Autonomieanspruch zielt“. 8 Zuletzt haben Haupt 9 und Bauschke 10 direkt danach gefragt, ob nicht auch im Mittelalter der Dichter als ein Schöpfer bezeichnet werden könne. Das Ziel dieser Arbeit ist, in der Folge dieser neueren Ansätze Reflexe schöpferischen Bewusstseins zu untersuchen. Es soll dabei nicht darum gehen, eine konsistente und widerspruchsfreie Poetik abzuleiten, die etwa ausdrückt, was erst Jahrhunderte später die „Weihen der Theorie erhält“; 11 es soll vielmehr herausgearbeitet werden, wie theologische, philosophische und poetologische Reflexionen zusammengebracht werden, und damit ein Reflexionsraum eröffnen wird, innerhalb dessen der Status des Dichters verhandelt wird. Untersuchungsgegenstand ist der „Wilhelm von Österreich“ Johanns von Würzburg, 12 einer jener im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert entstandenen Versepen, die als „Minne- und Aventiureromane“, eine Verlegenheitslösung, 13 bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund der literaturgeschichtlich dominanten 8 K, Dorothea (2008): Zwischen Abhängigkeit und Autonomie: Inszenierungen inspirierter Autorschaft in der Literatur der Vormoderne. In: Schlesier; Trînca (Hrsg.): Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hildesheim: Weidmann, S. 15– 39, hier S. 17. Im Folgenden zitiert als K (2008). 9 H, Barbara (2013): meisterschaft des Dichters – Gottes meisterschaft? In: Wilhelm G. Busse (Hrsg.): Schöpfung: Varianten einer Weltsicht. Düsseldorf: düsseldorf university press (Studia humaniora, 46), S. 81–98, im Folgenden zitiert als H (2013). 10 B, Ricarda (2013): Der Dichter als Schöpfer. Zur Heiligkeit des Sprechens bei Konrad von Würzburg. In: Wilhelm G. Busse (Hrsg.): Schöpfung: Varianten einer Weltsicht. Düsseldorf: düsseldorf university press (Studia humaniora, 46), S. 99–116, im Folgenden zitiert als B (2013). 11 Diese Formulierung bemüht Kartschoke in Bezug auf Konrads von Würzburg Trojanerkrieg und die in der Forschung nicht unumstrittene Frage, ob Konrad in den Versen 118 ff. (der Vogel, der in den Zweigen wohnt und um den einzigen Lohn seines Liedes singt) seine autonome Künstlerschaft postuliere (K, Dieter (2000): Elfenbein und Nachtigall. Über die Schönheit der Literatur im Mittelalter. In: Brittnacher; Stoermer (Hrsg.): Der schöne Schein der Kunst und seine Schatten. Bielefeld: Aisthesis, S. 41–56, hier S. 56). 12 Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift. Herausgegeben von Ernst Regel. Dublin /Zürich: Weidmann 1970 (Reprint = Berlin 1906) (= Deutsche Texte des Mittelalters 3). Im Folgenden im Fließtext zitiert als WvÖ. Im WvÖ wird durchgängig von „Wildhelm“ gesprochen, der Name, insbesondere der Bestandteil der „wilde“ wird dezidiert hergeleitet (vgl. WvÖ, V. 555–567). In der Sekundärliteratur spricht auch Kiening (K, Christian (1993): Wer aigen mein die welt . . . Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Joachim Heinzle (Hrsg.): Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposium 1991. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 474–494. Im Folgenden zitiert als K (1993)) zuerst von „Wilhelm/Wildhelm“ (vgl. S. 477), im Folgenden durchgängig von „Wildhelm“. Der Protagonist wird daher in dieser Arbeit als „Wildhelm“ bezeichnet. 13 Vgl. R, Klaus (1997/1998): Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion. Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman „Reinfried von Braun-

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mittelhochdeutschen Klassik wurden diese Versepen in der älteren Forschung primär als epigonale Werke gesehen. In der jüngeren Forschung wird betont, dass in Texten des 13. und 14. Jahrhunderts Eigenes hervorgebracht wird und mitunter Konzepte verhandelt werden, die aus dem als mittelalterlich geltenden Kontext hinausweisen. 14 Zuletzt hat man den sogenannten Minne- und Aventiureromanen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt und ist verschiedenen Fragestellungen nachgegangen. 15 Besonders interessant macht diese Texte, dass sie sich nicht nur vormals gängigen Gattungseinteilungen, sondern auch den heute als überkommen geltenden Periodisierungen entziehen. Blumenberg hat gezeigt, dass der Begriff „Epoche“ problematisch ist und Epochengrenzen nicht statisch sind. 16 Jeder Fragehorizont findet denn auch seine eigenen Epochengrenzen. Das Bewusstsein einer Zäsur zwischen Antike, Mittelalter und Neuzeit geht bekanntlich auf Petrarca zurück, die Jahreszahlen eines Umbruches divergieren: Politisch soll das Jahr 1494, in dem Karl VIII. von Frankreich „zum ersten Male eine Koalition der Gegner zum Schutze des europäischen Gleichgewichtes ins Leben gerufen hatte, einen Epochenwandel“ markieren. 17 Als Amerika sich im Zuge des Unabhängigkeitskrieges

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schweig“, „Wilhelm von Österreich“, „Friedrich von Schwaben“. Berlin: de Gruyter, S. 1. Im Folgenden zitiert als R (1998). Vgl. zur Verlegenheitslösung zuletzt P, Christine (2013): Eine Verlegenheitslösung. Der „Minne- und Aventiureroman“ in der germanistischen Mediävistik. In: Baisch; Eming (Hrsg.): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin: Akademie Verlag, S. 41–70. Vgl. J, Johannes (1983): Das vierzehnte Jahrhundert – ein eigener literaturhistorischer Zeitabschnitt? In: Haug et al. (Hrsg.): Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter (Reihe Siegen, 45), S. 9–24, hier S. 9. Im Folgenden zitiert als J (1983); siehe auch D, Cora (1999): Minnerede, Roman und historia. Der „Wilhelm von Österreich“ Johanns von Würzburg. Tübingen: Niemeyer (Hermaea, 87), S. 1. Im Folgenden zitiert als D (1999). Vgl. hierzu die im Forschungsüberblick genannten jüngeren Titel. Zuletzt ist ein Sammelband erschienen, in dem die Gattung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird, vgl. B, Martin; E, Jutta (Hrsg.) (2013): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin: Akademie Verlag. Als ein Indiz für das gewachsene Forschungsinteresse kann man auch die jüngst begonnene Arbeit an einer nhd. Übersetzung des „Reinfried von Braunschweig“ sehen (vgl. die Ankündigung bei Mediaevum von Elisabeth Martschini (Universität Wien): http://www. mediaevum.de/forschen/projekt_anz.php?id=448, abgerufen am 12. 06. 2014). Vgl. B, Hans (2012): Die Legitimität der Neuzeit. 6. erneuerte Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 529–557 (Vierter Teil: Aspekte der Epochenschwelle; I Die Epochen des Epochenbegriffs). P, Ernst (1988): Auf der Suche nach dem Beginn der Neuzeit. Oder: Wesen und Schwinden der Feudalgesellschaft. In: Thomas Cramer (Hrsg.): Wege in die Neuzeit. München: Fink (Forschung zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 8), S. 9–26, hier S. 9.

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(1776–1783) von Europa lossagte, wurde ersichtlich, dass die sogenannte Entdeckung Amerikas 1492 epochale Veränderungen mit sich bringen sollte. Hegel und Ranke postulierten, dass das Jahr 1517 mit der Reformation einen einschneidenden Wandel markiere. 18„An wohlbegründeten Vorschlägen, die traditionelle Epochengrenze ‚um 1500‘ zu verschieben [. . . ], hat es nicht gefehlt“: 19 So endet etwa das Mittelalter für Ohly „erst bei Goethe.“ 20 Neben den zeitlichen Epochengrenzen finden verschiedene Fragehorizonte auch verschiedene Antworten bei dem Versuch zu definieren, was genuin mittelalterlich und neuzeitlich ist. Eine ideengeschichtliche Unterscheidung sieht das Mittelalter „als eine Epoche der Einheit und Geschlossenheit, die Neuzeit hingegen als eine Epoche, die durch die zunehmende Pluralisierung von Wertvorstellungen und Lebensformen charakterisiert ist“. 21 Ein weiterer Parameter sei der „Übergang von der theologisch bestimmten älteren Naturdeutung zur modernen naturwissenschaftlich geprägten Naturauffassung“. 22„Das kontemplative, rezeptive Verhältnis des erkennenden Subjekts zur Natur [geht über] in ein produktives“. 23 Die Natur wandele sich vom „vehiculum actionis Dei“ zum „vehiculum actionis hominis“. 24 Die Wiederentdeckung der Antike ab dem 12. Jahrhundert stellt Philosophen und Theologen vor neue Aufgaben. Es wird wichtig, den Wahrheitswert der Antike

18 Vgl. ebd. 19 C, Thomas (1988): Über Perspektive in Texten des 13. Jahrhunderts – oder: wann beginnt in der Literatur die Neuzeit? In: Thomas Cramer (Hrsg.): Wege in die Neuzeit. München: Fink (Forschung zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 8), S. 100–121, hier S. 7. 20 O, Friedrich (1977): Synagoge und Ecclesia. In: ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, S. 312–337, hier S. 336. Im Folgenden zitiert als O (1977). 21 K, Ingrid (1999): Erzählen an einer Epochenschwelle. Boccacio und die deutsche Novellistik im 15. Jahrhundert. In: Walter Haug (Hrsg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen: Niemeyer (Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert, 16), S. 164–186, hier S. 165. Im Folgenden zitiert als K (1999). 22 H, Frank-Rutger (1988): Naturwissenschaft und Naturvergleich in der italienischen Lyrik des 13. Jahrhunderts. In: Thomas Cramer (Hrsg.): Wege in die Neuzeit. München: Fink (Forschung zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 8), S. 27–61, hier S. 27. 23 K, Christoph (2003): Zeichen – Ordnung – Gesetz: Zum Naturverständnis in der mittelalterlichen Philosophie. In: Peter Dilg (Hrsg.): Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen; Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001. Berlin: Akademie Verlag, S. 33–49, hier S. 41. Im Folgenden zitiert als K (2003). 24 N, Heribert M. (1969): Die Umwandlung der mittelalterlichen Naturvorstellung. Ihre Ursachen und ihre wissenschaftsgeschichtlichen Folgen. In: Archiv für Begriffsgeschichte 13, S. 34–57, S. 47, im Folgenden zitiert als N (1969). Vgl. auch K (2003), S. 42.

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von einem christlichen Standpunkt aus zu begründen. 25 Antike Aussagen sollten als übertragen verstanden werden, weil es wichtig war zu zeigen, dass die antiken Philosophen einer christlichen Lehre nicht widersprachen. 26 Ein Spannungsfeld eröffnet sich, das sich zwischen den Polen Antike und Christentum, Auslegung der Heiligen Schrift und Auslegung profaner Literatur, antiker Naturgottheiten und der Natur als Buch Gottes aufspannt und die Stellung des Menschen in seinem Verhältnis zu Natur und Gott neu pointiert. Ein empirischer Befund, der „bemerkenswerte [. . . ] quantitative [. . . ] Verfall“ 27 der Gattung des höfischen Romans, macht die Annahme einer literaturtheoretischen Zäsur zwischen 13. und 14. Jahrhundert plausibel. Der Unterschied zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Erzählen wird an verschiedenen Parametern festgemacht. Der „hochmittelalterliche Romantyp Chrétienscher Prägung, in dem die Personen vorwiegend Funktionen des strukturellen Konzepts übernehmen“, wird unterschieden vom „neuzeitliche[n] Romantypus, der durch handelnde Individuen charakterisiert ist“. 28 Mittelalterliches Erzählen bewege sich in einem „vorgegebenen Ordnungsrahmen [. . . ], während in der Neuzeit das Erzählen ‚autonom‘ wird, sich von solcher Zweckgebundenheit und religiösen Sinnvorgaben löst“. 29 In jüngster Zeit tritt die Fragwürdigkeit solcher Periodisierungen immer deutlicher zutage. Die „überkommene Epochenimagination“ 30 weicht der Erkenntnis, dass Periodisierungen „in hohem Maße künstlich und willkürlich“ sind und entweder darauf abzielen, die Vergangenheit „aus der Perspektive der Defizienz“ zu betrachten, „um die eigene Gegenwart zu erhöhen“, oder das „tiefe Verlangen dokumentieren [. . . ], ein bestimmtes Zeitalter [. . . ] als Prokrustesbett und Saatboden der Moderne zu beanspruchen“. 31 Ein methodisches Vorgehen, das angesichts solcher Erkenntnisse angemessen ist, ist eines, „das sich dieser Dichotomisierung [von Mittelalter und Moderne] verweigert oder sich dieser zumindest bewusst bleibt und 25 Vgl. B, Henning (1971): Verhüllung („Integumentum“) als literarische Darstellungsform im Mittelalter. In: Miscellanea Mediaevalia, Bd. 8. Berlin: de Gruyter, S. 314– 339, hier S. 320. Im Folgenden zitiert als B (1971). 26 Vgl. B, Henning (1980): Mittelalterliche Hermeneutik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 177. Im Folgenden zitiert als B (1980). 27 C, Thomas (1983): Aspekte des höfischen Romans im 14. Jahrhundert. In: Haug et al. (Hrsg.): Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter (Reihe Siegen, 45), S. 208–220, hier S. 208. 28 R (1998), S. 12. 29 K (1999), S. 165 f. 30 H (2013), S. 242. 31 H, Jeffrey F.; Keller, Hildegard Elisabeth (2013): Bilder in der Kirche, im Herzen oder gar nirgends? Überlegungen zu Periodisierungen am Beispiel des Bilderstreits in der Frühen Neuzeit. In: Ridder; Patzold (Hrsg.): Die Aktualität der Vormoderne: Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Berlin: Akademie-Verlag, S. 19–43, hier S. 19 f.

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in ergebnisoffener und philologisch genauer, mikrologischer Deutung des Textes die Reichweite der Begriffe und Konzepte überprüft“ 32 und zum Ziel hat, „Kontinuitäten nicht auszublenden noch eine radikale Zäsur zwischen Mittelalter und Moderne zu behaupten“. 33 Der 1314 fertiggestellte WvÖ soll unter diesen Prämissen untersucht werden, da darin – wie zu zeigen sein wird – das Spannungsfeld von Gott – Natur – (Dichter –) Mensch, das in der Frage kulminiert, ob der Mensch sich als ein Schöpfer wahrnimmt, auf verschiedene Weise aufgenommen wird. Anders als bei Epen der hochhöfischen Klassik ist für den WvÖ keine französische Quelle auszumachen. Johann spielt indes virtuos mit der Fiktion von Quellen. Verschiedene Instanzen werden angerufen, sie möchten dem Erzähler die richtige Erzählung eingeben, den Figuren beistehen oder für die Wahrheit des Erzählten bürgen. Unter diesen Instanzen finden sich Heilige, Gott, die Natur, die Minne, Venus und Amor. Christliche Lehre tritt neben antike Vorstellungen. Als ein theologisch-philologisches Grenzphänomen ist auch die übertragene Rede im WvÖ zu verstehen. Die Grenze sprachlicher Darstellung von Immanenz und Transzendenz wird aufgeweicht, es wird mit der Möglichkeit eines vielfachen Schriftsinns kokettiert und gespielt; 34 durch Transfer und Transformation religiöser Schemata werden sprachtheoretische Positionen zum Ausdruck gebracht, die mithin als „modern“ gelten. Technik spielt wiederholt eine herausragende Rolle. Im Prolog allegorisiert der Erzähler die Wirkung seines Werkes mit der durch Quecksilber katalysierten Vergoldung von Silber und rekurriert auf alchemistisches Wissen; und damit auf einen Prozess, der heute naturwissenschaftlich-technisch genannt wird. Der von Minne und curiositas getriebene Protagonist wird mit Maschinen konfrontiert. Kampfmaschinen des Teufelssohns Merlin sowie dessen paradox in ihrer Funktionalität verkehrte Windmühlen werden vom Erzähler abgewertet, während ein Aufzug in einen künstlichen Himmel als kunstreich gepriesen wird. Immer wieder werden solche Stellen, in denen Technik thematisiert wird, zurückbezogen auf poetologische Fragestellungen. Anhand der drei Zugänge – Anrufungen des Erzählers, übertragene Rede, Natur und Naturveränderung – soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich im WvÖ ein schöpferisches Bewusstsein ausmachen lässt. Dabei sollen keine 32 B, Martin (2013): Alterität und Selbstfremdheit. Zur Kritik eines zentralen Interpretationsparadigmas in der germanistischen Mediävistik. In: Ridder; Patzold (Hrsg.): Die Aktualität der Vormoderne: Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Berlin: Akademie-Verlag, S. 185–206, hier S. 204. Im Folgenden zitiert als Baisch, Alterität. 33 Ebd., S. 205. 34 Damit ist nicht unterstellt, dass im WvÖ explizit gemacht würde, es gebe darin einen vierfachen Schriftsinn, wie es Dante im Brief an Cangrande für sein eigenes Werk in Anspruch nimmt. Vgl. hierzu S. 277 dieser Arbeit.

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Ergebnisse ausgeschlossen werden, die gängigen Periodisierungen oder fachlicher Grenzziehung widersprechen. Vielmehr soll vor dem Hintergrund poetologischer, philosophischer und theologischer Erkenntnisse durch textnahe Interpretation untersucht werden: Wird der Dichter, ja der Mensch im Allgemeinen, im WvÖ als gottgleicher Schöpfer gesehen? Bevor, diesen Gedanken präzisierend, Aufbau und Methode der Untersuchung dargelegt werden, soll zunächst ein Überblick zur Forschung zum WvÖ gegeben werden.

Forschungsstand In der ersten Ausgabe der Zeitschrift für Deutsches Altertum berichtet Julius Zacher 1884 von Handschriften des WvÖ im Haag und gibt den Inhalt wieder. 35 In der Literaturgeschichtsschreibung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (Goedeke, Vilmar, Wackernagel, Koberstein, Scherer, Krauß, Vogt; Golther, Nadler, Schneider) finden sich wenige, meist negative Bemerkungen zum WvÖ. 36 Prägend für die Rezeption ist das „furchtbare Strafgericht“ 37 von Gervinus, in dessen Folge der WvÖ als epigonal abgewertet wird. 38 Pfeiffer 39 vermutet, Johann habe den „Willehalm von Orlens“ wohl nachgeahmt. Röhricht 40 behandelt in einer Studie zu den „Deutschen auf den Kreuzzügen“ in einem Exkurs die im WvÖ genannten Kreuzzugsteilnehmer. Hirt 41 nimmt diesen Ansatz auf und fragt nach „[l]iterarisch-politischen Funktionalisierungen“ in mittelhochdeutschen Kreuzzugsdarstellungen. Strobl 42 zeigt Parallelstellen zu Gottfrieds Tristan aus der Stuttgarter und Wiener Handschrift des WvÖ auf, Herzog 43 setzt den WvÖ mit dem Sagenkreis von Flore und Blancheflur in Beziehung. 1906 erscheint die Aus35 Z, Julius (1841): Handschriften im Haag. In: ZfdA 1, S. 209–269. 36 Vgl. M, Eugen (1930): Studien zur Dichtung Johanns von Würzburg. Germanistische Studien 101. Berlin: Ebering, S. 11. Im Folgenden zitiert als M (1930). 37 Ebd., S. 10. 38 G, Georg Gottfried (1853): Geschichte der deutschen Dichtung. 4. gänzl. umgearb. Aufl. 5 Bde. Leipzig: Engelmann, S. 262, 265. 39 P, Franz (1867): Ein Zeugniss für Rudolf von Ems. In: Germania 12, S. 478 f. 40 R, Reinhold (1876): Die Deutschen auf den Kreuzzügen. In: ZfdPh 7, S. 125–174, 196–329. 41 H, Jens (2012): Literarisch-politische Funktionalisierungen. Eine Untersuchung mittelhochdeutscher Kreuzzugsdarstellungen. „Wilhelm von Wenden“, „Die Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwigs des Frommen von Thüringen“, „Wilhelm von Österreich“ und „Das Buch von Akkon“. Göppingen: Kümmerle. 42 S, M. (1880): Remicenzen aus Gotfrids Tristan. In: ZfdPh 11, S. 228–232. 43 H, Hans (1884): Die beiden Sagenkreise von Flore und Blancheflur. In: Germania 29, S. 137–228.

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gabe des WvÖ von Regel, die bis heute die einzige Ausgabe ist. Die Forschung wird davon nicht belebt. Ehrismann 44 behandelt knapp den Prolog, Mordhorst 45 erkennt in einer Studie zu Eugen von Bamberg als Erster Johann als Künstler an. Zwierzina 46 bezieht den WvÖ in seine Untersuchung zu Schwankungen der mittelhochdeutschen e-Laute mit ein. 47 Eine einzige Dissertation (Goehrke) 48 befasst sich im beginnenden 20. Jahrhundert mit dem WvÖ, in den 1930er Jahren sind es drei: Frenzel 49 versucht, anhand des WvÖ die Persönlichkeit Johanns zu rekonstruieren, Mayser 50 nimmt in den Blick, wie der Dichter Johann arbeitet, wie die Fäden der Handlung verknüpft werden und wie sich darin seine Kunst ausdrückt, bevor auch er versucht, die Persönlichkeit Johanns zu erfassen. Beckmann 51 untersucht den WvÖ sprachlich und textkritisch. Auch in den 1950er und 1960er Jahren wird der WvÖ kaum beachtet. Lediglich vier Dissertationen zum Thema werden verfasst, in denen v. a. der Stil Johanns in den Blick genommen wird (Bierbaum, 52 Schnuchel, 53 Rehbock, 54 Schoenebeck 55). In den 1970er Jahren findet fast ausschließlich die Prosaauflösung des Romans Beachtung. 56 In der Nachfolge eines Aufsatzes von Dietrich Huschenbett, in dem er versucht, in den artes amandi ein theoretisches Gerüst für den abenteuerlichen Minne-

44 E, Gustav (1908): Über Wolframs Ethik. In: ZfdA 49, S. 405–465. 45 M, Otto (1909): Eugen von Bamberg und die geblümte Rede. Diss. Berlin. Im Folgenden zitiert als M (1909). 46 Z, Konrad (1926): Schwankungen im Gebrauch der mhd. e-Laute. In: ZfdA 63, S. 1–19. 47 Vgl. zum vorangegangenen Abschnitt M (1930), S. 7–14. 48 G, Friedrich (1912): Die Überlieferung von Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich nebst einer Reimgrammatik. Berlin, Univ. Diss. 49 F, Eckart (1930): Studien zur Persönlichkeit Johanns von Würzburg. Diss. Berlin. Im Folgenden zitiert als F (1930). 50 M (1930). 51 B, Bernhard (1937): Sprachliche und textkritische Untersuchungen zu Johann von Würzburg. Diss. Berlin. 52 B, Hermann-Josef (1953): Der Stil Johanns von Würzburg in geschichtlicher Beleuchtung. Phil. Diss. masch., Marburg. Im Folgenden zitiert als B (1953). 53 S, Rudolf (1955): Ein Beitrag zum Erzähl- und Aufbaustil im „Wilhelm von Österreich“. Diss. Göttingen. Im Folgenden zitiert als S (1955). 54 R, Helmut (1963): Epischer Vorgang und Aufbaustil im „Wilhelm von Österreich“. Diss. Göttingen. Im Folgenden zitiert als R (1963). 55 S, Walter (1956): Der höfische Roman des Spätmittelalters in der Hand bürgerlicher Dichter. (Studien zur ‚Crône‘ zum ‚Apollonius von Tyrland‘ zum ‚Reinfrid von Braunschweig‘ und ‚Wilhelm von Österreich‘). Diss. Berlin. Im Folgenden zitiert als S (1956). 56 Vgl. exemplarisch S, Krishna Murari (1969): Vom Versepos zum Prosaroman. (Studien z. Prosaroman Wilhelm von Österreich). München: Verlag Uni-Druck.

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roman zu finden, 57 wird die Forschung zum WvÖ neu belebt. Dabei werden zwei Hauptrichtungen verfolgt. Zum einen wird nach Gattung und Gattungsverschmelzungen gefragt. Gattungshistorisch wird der WvÖ in den Kontext neuer literarischer Gattungen des 14. Jahrhunderts gestellt und nicht mehr allein vor dem Hintergrund der mittelhochdeutschen Klassik gesehen. 58 Zum anderen wird er im Rahmen ideengeschichtlicher Betrachtungen als Werk des Übergangs von Mittelalter zur Neuzeit gelesen. Albrecht Juergens 59 nennt 1990 als ein Hauptziel seiner häufig rezensierten (Rezensionen von Classen, 60 Scholz, 61 Bastert, 62 Vollmann-Profe, 63 Krumpholz 64 und Olberg 65) Dissertation, „forschendes Leseinteresse auf den bislang wenig beachteten ‚Wilhelm von Österreich‘ zu lenken“. 66 Seine Feststellung, der WvÖ biete eine „Fülle des Angebots [gelehrtes Wissen aus Minnetheorie, Naturkunde und Theologie, literarische Kenntnisse und historische Reminiszenzen]“, 67 spiegelt sich wider im Aufbau der Untersuchung, die verschiedene Aspekte verfolgt, deren Zusammengehörigkeit nicht immer ersichtlich ist. 68 Unter anderem erkennt Juergens im WvÖ ein arthurisches Doppelwegschema.

57 H, Dietrich (1983): Tradition und Theorie im Minne-Roman. Zum „Wilhelm von Österreich“ des Johann von Würzburg. In: Haug et al.(Hrsg.): Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter (Reihe Siegen, 45), S. 238–261. Im Folgenden zitiert als H (1983). 58 Ein Punkt, den auch schon Frenzel sieht. Vgl. F (1930), S. 110. 59 J, Albrecht (1990): „Wilhelm von Österreich“. Johanns von Würzburg „Historia Poetica“ von 1314 und Aufgabenstellungen einer narrativen Fürstenlehre. Bern [u. a.]: Lang (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, 21). Im Folgenden zitiert als J (1990). 60 C, Albrecht (1990): Juergens, Albrecht: Wilhelm von Österreich [Rezension]. In: Mediaevistik 3 (1990), S. 406–408. 61 S, Manfred Günter (1991): Juergens, Albrecht: Wilhelm von Österreich [Rezension]. In: ZfdA 120 (H.4), S. 468–473. Im Folgenden zitiert als S (1991). 62 B, Bernd (1992): Juergens, Albrecht: Wilhelm von Österreich [Rezension]. In: Arbitrium (H. 2), S. 172–177. 63 Vollmann-Profe, Gisela (1992): Juergens, Albrecht: Wilhelm von Österreich [Rezension]. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 114 (H. 2), S. 347–349. 64 K, Silvia (1993): Juergens, Albrecht: Wilhelm von Österreich [Rezension]. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 101 (H. 2/4), S. 476– 477. 65 O, Gabriele von (1993): Juergens, Albrecht: Wilhelm von Österreich [Rezension]. In: ZfG 3 (1993), S. 636–638. 66 J (1990), S. 3. 67 Ebd., S. 1. 68 Scholz konstatiert in seiner Rezension, dass Juergens für seine Dissertation besser den Titel „Studien zum Epigonischen und zu seiner Rezeption“ gewählt hätte (Scholz 1991, S. 473); vgl. auch D (1999), S. 6.

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Auch Huschenbett 69 versucht den Text strukturell in ein Schema einzupassen. Er deutet die Struktur des WvÖ als die siebenteilige Struktur des Minneromans. Albrecht Classen 70 sieht den WvÖ als den Schlusspunkt einer Reihe von Romanen, in denen die Kinderminne thematisiert und das Minnegespräch aus Wolframs „Titurel“ rezipiert wird. Wiederholt rücken die Liebesbriefe im WvÖ in den Blick der Forschung (Mayser, 71 Röcke, 72 Huber, 73 Muschick 74). Dabei wird v. a. das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, aber auch das Verhältnis von Roman und Brief in den Blick genommen. Dem Verhältnis von Historizität und Fiktionalität in Verbindung mit Studien zur Gattungsmischung gilt das Hauptforschungsinteresse zum WvÖ. Als eine Mischung von historischem, hagiographischem, allegorischem und Kreuzzugsroman deutet Scheremata 75 den Text und liest ihn somit zum ersten Mal als Gattungsmischung. Ebenbauer 76 konstatiert bei den Romanen des 13. Jahrhunderts eine Rückkehr in die Heilsgeschichtlichkeit 69 H, Dietrich (1993): Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich. In: Horst Brunner (Hrsg.): Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Stuttgart: Reclam, S. 412–435. 70 C, Albrecht (1993): Wolframs von Eschenbach Titurel-Fragmente und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Höhepunkte der höfischen Minnereden. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 37 (1993), S. 75–102. 71 M, Eugen (1935): Briefe im mittelhochdeutschen Epos. In: ZfdPh 59, S. 136–147. 72 R, Werner (1996): Liebe und Schrift. Deutungsmuster sozialer und literarischer Kommunikation im deutschen Liebes- und Reiseroman des 13. Jahrhunderts; (Konrad Fleck: Florio und Blanscheflur; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Röcke; Schaefer (Hrsg.): Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschamata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen: Narr, S. 85–108. 73 H, Christoph (2008): Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Mireille Schnyder (Hrsg.): Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Trends in Medieval Philology 13. Berlin, New York: de Gruyter, S. 125–145. 74 M, Martin (2012): Der Brief als Liebesgabe. Zur symbolischen Gestaltung der Briefvermittlung im Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg. In: Margreth Egidi (Hrsg.): Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin: Schmidt (Philologische Studien und Quellen, 240); Muschick, Martin (2013): Minne in Briefen. Studien zur Poetik des Briefwechsels in der Erzählliteratur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ. Diss. 2010. Heidelberg: Winter. 75 S, Reneé (1986): Historical, Hagiographic Romances? Late Courtly Hybrids. In: Heinen; Henderson (Hrsg.): Genres in Medieval German Literature. Göppingen: Kümmerle (GAG, 439), S. 93–102. 76 E, Alfred (1985): Das Dilemma mit der Wahrheit. Gedanken zum „historisierenden Roman“ des 13. Jahrhunderts. In: Christoph Gerhardt et al. (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Tübingen: Niemeyer, S. 52–71.

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entgegen der Geschichtslosigkeit der Artus-Romane, aber zugleich einen spielerischen und spekulativen Umgang mit der Geschichte. Dietl 77 zeigt, wie Johann von Würzburg „durch seinen sehr freien Umgang mit historischen und literarischen Vorlagen und durch seine ausgesprochen selbstbewußte Erzählhaltung sein Werk als ein fiktives präsentiert“. 78 Cieslik 79 sieht im WvÖ „auffallend viele Tendenzen epischer Literatur jener Zeit[, die sich] wie in einem Brennglas sammeln und sich dann in einem breiten Spektrum widersprüchlicher Erscheinungen dem Betrachter darbieten“. 80 In erster Linie sei die Geschichte ein Minneroman. Die häufige Erwähnung technischer Artefakte, von Allegorien und Personifikationen lasse eine „philosophische Tiefgründigkeit in der Anlage des Romans vermuten, die indessen nicht vorhanden“ 81 sei. Zwei Dissertationen (Dietl 82 und Schulz 83) und eine Habilitationsschrift (Ridder) 84 erscheinen unabhängig voneinander 85 und thematisieren den WvÖ als einen Text, der verschiedene Gattungen in sich verbindet. Dietl kritisiert in der Einleitung ihrer Dissertation, dass in den „Arbeiten über die historischen und fiktiven Elemente [. . . ] die Minnedidaxe und die Nähe zur Minnerede“ 86 unbeachtet blieben. Um diese Forschungslücke zu schließen, greift sie die Elemente Minnerede, Roman und historia im WvÖ auf und bezieht diese aufeinander. Sie klassifiziert den Text damit als Gattungsmischung: Johann zitiere das „traditionelle Romanschema nur an [. . . ], um es zu brechen, wie die Historie. Aus den Bruchstücken beider bildet er, in Verbindung mit den verschiedensten Minneredenelementen und -mustern, eine neue Form des Romans“. 87 Ziel des Romans sei eine Minnedidaxe verbunden mit einem Fürstenpreis. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Klaus Ridder in seiner Habilitationsschrift, die neben dem

77 D, Cora (1993): Du bist der aventüre fruht. Fiktionalität im Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg. In: Mertens; Wolfzettel (Hrsg.): Fiktionalität im Artusroman. Tübingen: Niemeyer, S. 171–184. Im Folgenden zitiert als D (1993). 78 D (1999), S. 6. 79 C, Karin (1990): Johann von Würzburgs „Wilhelm von Österreich“. Zum höfischen Roman im Spätmittelalter. In: Ergebnisse der XXII. und XXIII. Jahrestagung des Arbeitskreises Deutsche Literatur des Mittelalters, S. 95–101. Im Folgenden zitiert als C (1990). 80 C (1990), S. 95. 81 Ebd., S. 98. 82 D (1999). 83 S, Armin (2000): Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik. Zugl.: Diss 1999. Berlin: Schmidt (Philologische Studien und Quellen, 161). Im Folgenden zitiert als S (2000). 84 R (1998). 85 R (1998), D (1999) und S (2000) bedauern, dass die je anderen Texte in ihren Arbeiten keine Berücksichtigung mehr finden konnten. 86 D (1999), S. 6. 87 Ebd., S. 259.

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WvÖ den „Friedrich von Schwaben“ und den „Reinfried von Braunschweig“ in den Blick nimmt. Er untersucht an diesen Romanen das Verhältnis von Fiktion, Geschichte und literarischer Tradition und weist ihnen so ihren Platz in der „Fiktionalitäts-, Intertextualitäts- und [. . . ] Historizitätsdiskussion“ 88 zu. Das virtuose Spiel des Erzählers mit Quellenfiktionen, Instanzen und Publikum deutet Ridder als Zeichen eines sich „in statu nascendi“ befindenden Werkes, „dessen Entstehungsprozess er [der Erzähler] als Folge der direkten Auseinandersetzung zwischen Hörer und Erzähler suggeriert“. 89 Schulz untersucht den WvÖ neben dem „Willehalm von Orlens“, „Partonopier und Meliur“ und der „schönen Magelone“ auf deren „Hybridität“. Das Leitinteresse ist, „die einzelnen ‚Stimmen‘, die sich im spätmittelalterlichen Roman überlagern, zunächst herauszuhören und zu bestimmen, schließlich der Logik ihrer Kombination nachzuspüren und so Regeln des ‚nachklassischen‘ Erzählens zu rekonstruieren“. 90 Für den WvÖ konstatiert Schulz, dass dieser in hohem Maße „intertextuell konstituiert“ sei, dass aber die „Relationen zu anderen Texten für seinen Handlungshaushalt“ eine geringe Rolle spielten. Die literarische Tradition sei für den WvÖ ein „‚Motivbaukasten‘, dem fragmentierte Strukturzitate ohne weitergehende narrative Implikationen entnommen werden“. 91 Die jüngste Forschung widmet sich vermehrt der Gattung des „Minne- und Aventiureromans“ sowie den von Dietl untersuchten Minnereden. In einer übergreifenden Studie untersucht Herweg 92 im deutschen Roman um 1300 „Wege zur Verbindlichkeit“. Matter analysiert in der zuletzt abgeschlossenen Habilitationsschrift „Spielformen literarischer Bildung zwischen verbaler und visueller Vergegenwärtigung anhand von Minnereden und Minnebildern des deutschsprachigen Spätmittelalters“. 93 Zuletzt haben Baisch und Eming einen Sammelband zum europäischen Liebes- und Abenteuerroman herausgegeben. 94 In den Studien von

88 89 90 91 92

R (1998), S. 335. Ebd. , S. 89f.; ebenso S. 285–293. S (2000), S. 10. Ebd., S. 151. H, Mathias (2010): Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300. Wiesbaden: Reichert Verlag (Imagines medii aevi, 25). Im Folgenden zitiert als H (2010). 93 M, Stefan (2013): Reden von der Minne. Untersuchungen zu Spielformen literarischer Bildung zwischen verbaler und visueller Vergegenwärtigung anhand von Minnereden und Minnebildern des deutschsprachigen Mittelalters. Tübingen: Francke (Bibliotheca Germanica, 59). 94 B, Martin; Eming, Jutta (Hrsg.) (2013): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebesund Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin: Akademie Verlag.

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Meyer 95 und Baisch 96 wird der WvÖ explizit thematisiert. Während Meyer die Intrigen in den Blick nimmt, untersucht Baisch Phänomenologie, Funktionalität und Perspektiven von Brief und Briefwechsel. Vier Aufsätze (Vollmann-Profe, 97 Classen, Classen, 98 Kiening 99), eine Dissertation und eine Habilitationsschrift widmen sich ab den 1990er Jahren dem zweiten dominanten Forschungsfeld, den ideengeschichtlichen Fragestellungen. Vollmann–Profe fragt, was vom WvÖ und seinem Autor zu halten sei; sie versucht diese Frage zu beantworten, indem sie „vor dem Hintergrund der Romantradition untersucht [. . . ], wie Johann das Vorgefundene genützt hat“. 100 Sie kommt zu dem Schluss, dass der Autor „wie sein Held auf abenteuerlichen Pfaden unterwegs zum gleichen, wenn auch noch nicht genau definierbaren Ziel [ist]: einem neuen Menschen- und Weltbild, für das der moderne Subjekt-Begriff zunehmend Bedeutung gewann“. 101 Classen untersucht den „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach, den „Wilhelm von Wenden“ Ulrichs von Etzenbach und den WvÖ im Hinblick auf Toleranz. Kiening hat die drei Minne- und Aventiureromane des 14. Jahrhunderts im Blick. Deren „‚Modernität‘ zeigt sich nicht nur an der wachsenden Autonomie des Erzählens und der Vervielfachung von Verständnismöglichkeiten, sondern mindestens ebenso an dem je neuen Interferieren zwischen Traditionsgebundenheit und Innovationsversuch“. 102 Kiening sieht die drei Romane auf der Schwelle zweier Erzählparadigmen. Weder vertrauten sie sich „der radikalen literarischen Immanenz des ‚klassischen‘ höfischen Romans an“, noch hätten sie „die Grenze 95 M, Matthias (2013): Hintergangene und Hintergeher. Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich. In: Baisch; Eming (Hrsg.): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin: Akademie Verlag, S. 113–132. 96 B, Martin (2013): Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman. Phänomenologie – Funktionalität – Perspektiven. In: Baisch; Eming (Hrsg.): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin: Akademie Verlag, S. 193–206. 97 Vollmann-Profe, Gisela (1991): Johann von Würzburg, „Wilhelm von Österreich“. In: Haug; Wachinger (Hrsg.): Positionen des Romans im späten Mittelalter. Tübingen: Niemeyer, S. 123–135. Im Folgenden zitiert als V-P (1991). 98 C, Albrecht (1992): Emergence of tolerance: an unsuspected medieval phenomenon. Studies on Wolfram von Eschenbach’s Willehalm Ulrich von Etzenbach’s Wilhelm von Wenden and Johann von Würzburg’s Wilhelm von Österreich. In: Neophilologus 76, S. 586–599; Classen, Albrecht (1992): The heathen world in the Volksbuch Wilhelm von Österreich. An anthropological revision of the crusade epics. In: Neuphilologische Mitteilungen 93 (N. 2), S. 145–161. 99 K (1993). 100 Vollmann-Profe (1991), S. 134. 101 Ebd., S. 135. 102 K (1993), S. 493.

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zur autonomen Verweisfunktion neuzeitlicher Fiktion bereits überschritten“. 103 In ihrer 2004 erschienenen Dissertation nimmt Schneider Chiffren des Selbst in den Blick. 104 Sie widmet sich dafür neben dem WvÖ dem „Apollonius von Tyrland“ Heinrichs von Neustadt und interpretiert die Romane unter Zuhilfenahme der augustinischen Seelenkräfte intelligentia, memoria und voluntas. „Die Untersuchung geht der Frage nach, in welcher Form sich der nachklassische Roman – in der Auseinandersetzung mit dem Versroman der Zeit um 1200 – neuen Erzählstrategien und Fragestellungen öffnet. Im Zentrum der Analyse steht dabei die Suche nach dem Selbst“. 105 Schneider deutet die zentrale Aventiure des WvÖ „als die Entdeckung des eigenen Seelenraumes [. . . ], mit der Hauptaufgabe des Helden, den eigenen muotwillen [gedeutet als voluntas] zu bekämpfen“. 106 Im Helden sei dabei „ein aggressives, zerstörerisches Potential angelegt“; der Zweikampf erweise sich als „die entscheidende Metapher der Konfrontation mit dem Selbst“. 107 Schausten sucht 2006 im Rahmen ihrer Habilitationsschrift in exemplarischen Romanen des 14. bis 16. Jahrhunderts nach Identität und spezifischen Kodierungen von „Eigenem“ und „Anderem“. 108 Im zweiten Kapitel wird das „‚Andere‘ und die Form des spätmittelalterlichen Romans“ behandelt; der WvÖ wird dabei als Beispiel einer „symbolische[n] Ordnung der Biographie“ gewählt. 109 Egidi 110 untersucht in einem Aufsatz „Strukturen des Übergangs“ im WvÖ, Schindler 111 nimmt diesen

103 Ebd., S. 494. 104 S, Almut (2004): Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg „Wilhelm von Österreich“ und in Heinrichs von Neustadt „Apollonius von Tyrland“. Göttingen: V. u. R. (Palaestra, 321). Zugl.: Diss. Göttingen 2001. Im Folgenden zitiert als S (2004). 105 Ebd., S. 265. 106 Ebd., S. 266. 107 Ebd., S. 195. 108 S, Monika (2006): Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien, Köln, Weimar: Böhlau. Im Folgenden zitiert als S (2006). 109 Vgl. zum vorangegangenen Abschnitt den Forschungsüberblick bei S (2004), S. 24–26, der durch Titel nach 2004 ergänzt wurde. 110 E, Margreth (2004): Grenzüberschreitungen. Strukturen des Übergangs im „Wilhelm von Österreich“. In: Horst Brunner (Hrsg.): Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Wiesbaden: Reichert (Imagines medii aevi, 17), S. 89– 102. Im Folgenden zitiert als E (2004). 111 S, Andrea (2011): „von kristen und von haiden“. Die Ordnung der Welt in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. In: Ina Karg (Hrsg.): Europäisches Erbe des Mittelalters. Kulturelle Integration und Sinnvermittlung einst und jetzt: ausgewählte Beiträge der Sektion II „Europäisches Erbe“ des Deutschen Germanistentages 2010 in Freiburg /Br. Göttingen: V. u. R Unipress, S. 95–111. Im Folgenden zitiert als S (2011).

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Ansatz insofern auf, als sie anhand der Dichotomie von kristen und haiden die „Ordnung der Welt“ im WvÖ in den Blick nimmt. Abseits der skizzierten Hauptrichtungen der Forschung stehen vier Aufsätze, eine Monographie und eine Habilitationsschrift. Speckenbach betrachtet 2003 die „kosmologischen Aspekte im Wilhelm von Österreich“ und verbindet die Aspekte „Minne“ und „Aventiure“ mit Überlegungen zum Kosmos und zu dessen Darstellung. 112 Schmid nimmt die hybride Figur in den Blick 113 und untersucht im WvÖ die „Chimäre als ästhetische und anthropologische Metapher“. 114 Geisthardt analysiert 2009 die „Potenzialität des Monströsen“ und „die Einbindung des monströsen, devianten, hybriden Körpers in Kontexte des Verweisens“ in den Blick. 115 Sie zeigt am Beispiel des aventiure hauptman im WvÖ, „wie monströse Gestalten im poetologischen Diskurs eingesetzt werden“. 116 Ein umfangreiches Textkorpus der mittelhochdeutschen Erzählliteratur vom 12. bis zum 14. Jahrhundert untersucht Zimmermann 2011 bezüglich technischer Konstruktionen. Die selbstbeweglichen Automaten werden „klassifiziert und im Kontext des jeweiligen Einzeltextes mit Blick auf sein semantisch-ideologisches System näher beschrieben“. 117 Zimmermann fokussiert im WvÖ die „Feuer speienden mechanischen Drachen“ 118 sowie die „kosmologische Thronautomatik“. 119 Dem Anspruch, diese 112 S, Klaus (2003): Kosmologische Aspekte im Wilhelm von Österreich. In: Miedema; Suntrup (Hrsg.): Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Bern [u. a.]: Lang, S. 249–262. Im Folgenden zitiert als S (2003). 113 S, Elisabeth (2002): Die hybride Figur. In: Wiesinger et al. (Hrsg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Bern [u. a.]: Lang (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A, Kongressberichte, 57), S. 141–147, im Folgenden zitiert als S (2002). 114 S, Elisabeth (2004): Johanns von Würzburg „Wilhelm von Österreich“. Die Chimäre als ästhetische und anthropologische Metapher. In: Horst Brunner (Hrsg.): Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Wiesbaden: Reichert (Imagines medii aevi, 17), S. 67–85, hier S. 70 f. Im Folgenden zitiert als S (2004). 115 G, Constanze (2009): Die Potenzialität des Monströsen. Zum medialen Verhältnis von impliziter Poetik und Text im Wilhelm von Österreich von Johann von Würzburg. In: Gunther Gebhard et al. (Hrsg.): Von Monstern und Menschen. Bielefeld: Transcript (Kultur- und Medientheorie), S. 31–46, hier S. 31. Im Folgenden zitiert als G (2009). 116 Ebd., S. 32. 117 Z, Martin (2011): Technische Meisterkonstruktionen – dämonisches Zauberwerk: der Automat in der mittelhochdeutschen Literatur. Berlin: Weidler (Studium Litterarum, 20), hier S. 14. Im Folgenden zitiert als Z (2011). 118 Ebd., S. 43–45 119 Ebd., S. 345–250

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beiden Konstruktionen in Bezug auf das „semantisch-ideologische[ ] System“ des WvÖ zu beschreiben, wird Zimmermann nur bedingt gerecht. Die besondere Rolle der Anrufungen des Erzählers im WvÖ ist in der Forschung gesehen worden, ohne dass ihr eine umfassendere Untersuchung zugekommen und die Funktion vollends erfasst worden ist. 120 Die Allegorie und die Natur im Bezugshorizont mittelalterlich-antiker Zeichensysteme werden für den WvÖ nicht näher behandelt. Der Begriff der Allegorie wird in der Sekundärliteratur zum WvÖ oft genannt. Selten gehen die Arbeiten darüber hinaus, Phänomene zu benennen; z. T. wird ein modernes Allegorieverständnis vorausgesetzt, das dem mittelalterlichen Verständnis nicht entspricht. 121 Die These Cramers, die „Welt des Abenteuers“ werde im WvÖ „grundsätzlich zur Allegorie erklärt und damit [ihrer] Autonomie beraubt“, 122 wird von Ridder und Dietl entkräftet. 123 Eine systematische Betrachtung der Bildspender im Horizont einer Zeichentheorie, die neben den Ursprüngen allegorischen Denkens auch das Aufbrechen konventioneller Schemata in den Blick nimmt, findet indes nicht statt. Beobachtungen zur Natur bleiben vereinzelt; es entzündet sich keine Forschungsdebatte. Schon Frenzel hat 1930 konstatiert, dass das Wort Natur im WvÖ auffallend häufig verwendet werde, 124 dass der Natur eine besondere Rolle zufalle und dass deren Verständnis auf Alanus ab Insulis zurückgehe. Er selbst geht dem Einfluss des Alanus nicht weiter nach, hält dies aber für lohnenswert. Ebenso sieht er den engen Zusammenhang von Gott, Natur und Minne. 125 Es ist wohl dem fragwürdigen Ansatz Frenzels geschuldet, auf der Grundlage des WvÖ eine Persönlichkeit Johanns von Würzburg rekonstruieren zu wollen, dass seine Arbeit keine große Resonanz erfuhr und die von ihm aufgeworfenen Fragen nicht weiter verfolgt wurden. 126 Ohne Frenzel zu erwähnen, streift Bierbaum die personifizierte Natur im WvÖ und sieht, dass sie gleichberechtigt neben die Minne tritt. 127 In einer Fußnote entwickelt er knapp den Gedanken, dass Johann in einem engen

120 Vgl. die Einleitung zu Kapitel 1, S. 32 ff. 121 Vgl. hierzu z. B. die Ausführungen Bierbaums zur Allegorie. Er verwendet bewusst das Allegorieverständnis seiner Zeit und macht selbst darauf aufmerksam, dass dieses Verständnis mittelalterlichem Verständnis nicht entspricht (vgl. B (1953), S. 99). 122 C, Thomas (1986): Solus creator est deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Daphnis 15, S. 261–276, hier S. 268. Im Folgenden zitiert als C (1986). 123 R (1998), S. 288 ff.; D (1999), S. 122. 124 Vgl. F (1930), S. 52 ff. 125 Vgl. ebd., S. 94. 126 Vgl. beispielsweise die Rezension von Heiligendorf, in der die Dissertationen von Frenzel und Mayser in den Blick genommen werden. Das Urteil über Frenzel ist vernichtend (Heiligendorff, W. (1932): Neue Studien zu Johann v. Würzburg. In: ZfdPh 57). 127 Vgl. B (1953), S. 92 f.

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Begriffsverständnis die Natur als „natürliche, geschlechtliche Leidenschaft personifiziert“ und dabei insbesondere Schriften des Bernhardus Silvestris aufnehme. Ein Abschnitt widmet er zuvor der aus dem Bereich der Natur inspirierten Metaphorik im WvÖ, führt aber beide Aspekte nicht zusammen. 128 Natur und Naturgesetzlichkeit werden in der jungen Forschung über den WvÖ lediglich im Kontext der Minne beachtet. 129 Vögel widmet sich 1990 in seiner Dissertation über den „Reinfried von Braunschweig“ dem „Naturkundlichen“. 130 Dabei bleibt er jedoch verhaftet in konventionellen Schemata. Er fragt, „ob auch die Natur der dichterischen Welt spreche“, 131 und bejaht diese Frage am Schluss seiner Untersuchung. Er skizziert zu Beginn der Arbeit die unumstößliche Determiniertheit der Natur durch Gott, betont den sensus spiritualis der res und die Bedeutung der Bibelexegese. 132 Mit einer Aufgeklärtheit des Autors sei nicht zu rechnen; eines Autors, „dem die bezeichenheit der Welt (die noch eine Gottgeschaffenene war) ganz selbstverständlich sein mußte“. 133 Huber untersucht in seiner 1988 erschienenen Habilitationsschrift „Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen“ Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, nicht jedoch Johann von Würzburg. 134 Frauenlobs Œuvre untersucht er im Hinblick auf Natur und Schöpfungsmächte. Die Untersuchung beschränkt sich auf Frauenlob, mithin auf Lyrik, und die Arbeiten des Alanus ab Insulis. Natur, Gott und Naturwissenschaft im Spannungsfeld der Epochengrenze von Mittelalter zu Neuzeit werden in Bezug auf die italienische Lyrik im 13. Jahrhundert von H (1988) thematisiert. Ziel dieser Studie ist es, die skizzierten Forschungslücken zu schließen, indem neue Aspekte herausgearbeitet und mit vorliegenden, den Fragehorizont erhellenden Erkenntnissen zusammengeführt werden.

128 Vgl. ebd., S. 15–62. 129 Vgl. z. B. R (1998), S. 21 ff., 103 f. 130 V, Herfried (1990): Naturkundliches im „Reinfried von Braunschweig“. Zugl.: München, Univ, Diss. 1988. Bern [u. a.]: Lang (Mikrokosmos, 24). Im Folgenden zitiert als V (1990). 131 Ebd., S. 162. 132 Vgl. ebd., S. 17. 133 Ebd., S. 162. 134 H, Christoph (1988): Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen: Niemeyer. Vgl. hierzu auch die oben genannte Forderung von Frenzel, dem Einfluss von Alanus auf das Naturverständnis im WvÖ nachzugehen.

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Aufbau und Methode der Untersuchung Drei Zugänge zu der Frage, wie das Spannungsfeld von göttlicher und menschlicher Schaffenskraft akzentuiert wird, werden gewählt, die jeweils in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Diese Kapitel werden im Folgenden genannt sowie die spezifischen methodischen Wege offengelegt. In Kapitel 1 soll der Erzähler untersucht werden. Auf der Grundlage der Analyse der Anrufungen des Erzählers an verschiedene Instanzen und darüber hinaus von poetologischen Passagen soll herausgearbeitet werden, welche Konzeption des Dichters im Text transportiert wird. Zunächst sollen Anrufungen des Erzählers an christliche Instanzen (Gebete) in den Blick genommen und gezeigt werden, dass Gott die höchste Instanz innerhalb eines hierarchischen Systems ist. Anhand der Untersuchung von Paradigmengebeten soll herausgestellt werden, wie theologische Schemata aufgenommen und so verändert werden, dass sie zu einem Reflexionsraum für die Frage werden, wie die Konzepte von Schöpfergott und Dichter zusammenhängen. Wiederholt übt sich der Erzähler darin, die Trinität und die innertrinitarischen Zusammenhänge sprachlich zu erfassen. Solche Passagen sollen Aufschluss darüber geben, wie im WvÖ mit einem der komplexesten christlichen Dogmen umgegangen wird, dessen sprachliche Erfassung in deutscher Sprache erst im Laufe des 13. Jahrhunderts möglich wurde. Immer wieder werden dabei das Verhältnis von Dichter und Schöpfergott sowie mögliche Analogien in den Blick genommen. Untersuchungen der Anrufungen des Erzählers an die Personifikationen von Minne, Aventue re, Natur und Tod sollen Aufschluss darüber geben, wie diese sich in die oben erwähnte Hierarchie einfügen. Nachdem auf der Grundlage der Analyse von genannten Autoritäten und fingierten Quellen der Umgang des Erzählers mit der Tradition ergründet wird, soll das hierarchische Verhältnis von Gott, Natur und Minne anhand von einschlägigen Passagen analysiert werden. Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse zur Hierarchie der Instanzen und des Erzählers werden poetologische Aussagen des WvÖ untersucht und die Ergebnisse beider Betrachtungen in Verbindung zueinander gebracht. Zuletzt werden die gesammelten Ergebnisse in den Kontext der Frage verordnet, ob der Dichter sich als ein Schöpfer versteht. Dazu wird in einem ersten Schritt skizziert, wie diese Frage in verschiedenen ideengeschichtlichen Kontexten bewertet worden ist und welche Implikationen damit einhergehen. In einem zweiten Schritt soll das Spezifische des WvÖ vor diesem Hintergrund herausgestellt werden. In Kapitel 2 soll übertragene Rede als philologisch-theologisches Grenzphänomen in den Blick genommen werden, um sich der Frage zu nähern, wie und mit welchen Implikationen theologische zeichentheoretische Reflexionen in volkssprachliches Erzählen transferiert und dabei transformiert werden. Zu untersuchen ist das Dynamisierungspotential solcher der Theologie entlehnter Diskurse

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in literarästhetischen Kontexten. Zunächst wird in einem Problemaufriss das weite Feld übertragener Sprache im Mittelalter umrissen. Es werden Tropen und Figuren in rhetorischem Verständnis in den Blick genommen; anschließend wird gezeigt, in welchen Feldern sich die Rhetorik ab dem 12. Jahrhundert weiterentwickelt. Aufbauend auf diesen Betrachtungen soll untersucht werden, inwiefern im Feld übertragener Rede theologische und philologische Bereiche einander beeinflussen. Es wird erstens in den Blick genommen, welchen Einfluss die Rhetorik auf die Auslegung der Bibel genommen hat. Zweitens werden die Dichotomie von göttlichem und poetischem Wort sowie der Gegensatz von göttlicher Setzung und exegetischer Willkür analysiert. Auf der Basis der Überlegungen Hübners sowie – als Reaktion darauf – Kragls zur Historizität von Metapherntheorien wird sodann die Substitutionstheorie der Metapher der Interaktionstheorie gegenübergestellt. Vor dem Hintergrund der von Hübner abweichenden These, dass es einen substanziellen Unterschied von übertragener Rede in transzendenten und immanenten Zusammenhängen nicht gibt, soll die spekulative Theologie skizziert werden, da angenommen wird, dass zeitgenössische Reflexionen über die sprachliche Darstellbarkeit Gottes einen wichtigen Beitrag leisten zum Verständnis auch von übertragener Rede in Profanliteratur. Abschließend soll eine kurze Zusammenfassung dazu dienen, die Bedeutung des Problemaufrisses für die Betrachtung übertragener Rede im WvÖ hervorzuheben. Im WvÖ werden aufbauend auf diesen Überlegungen zwei semantische Felder und drei Episoden behandelt, in denen übertragene Rede spezifisch verwandt wird: Es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Metaphorik für Gott und Minne untersucht sowie das (auch poetologisch mit Bedeutung aufgeladene) semantische Feld der Schifffahrt analysiert. Sodann werden drei Episoden in den Blick genommen, die in der Forschung wiederholt thematisiert worden sind und als Allegorien bezeichnet werden: der Prolog, die Begegnung Ryals mit dem Aventue re Hauptmann und die Joraffin-Episode. Die Ergebnisse werden neben dem oben skizzierten theoretischen Hintergrund, auf der Grundlage dessen oft vernachlässigte Tendenzen der Exegesetradition Berücksichtigung finden, auch in Verbindung zu anderen mittelhochdeutschen Texten gebracht. In Kapitel 3 sollen die Natur, die Wirkmöglichkeiten des Menschen in der Natur und die Grenzen des Natürlichen untersucht werden. Die Frage nach dem poeta creator wird ausgeweitet auf die Frage nach dem homo creator. Zunächst werden die Grundlagen und Spannungen mittelalterlichen Naturverständnisses skizziert. Vor diesem Hintergrund wird anhand von Einzelanalysen das Naturverständnis im WvÖ in den Blick genommen. Nachdem zuerst die Verwendung des Begriffes natur analysiert wird, soll anhand des Verbs wirken (∼creare) die Analogie von Gott, Natur, Dichter und Handwerker aufgezeigt werden. Die Nachahmung der Natur soll ebenso untersucht werden wie Eingriffe in die bestehende natura naturata. Anhand von wundern sollen die Grenzen des Irdisch-Natürlichen in den Blick

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genommen werden, um anschließend zu zeigen, dass ebenjene Grenzbereiche zu einem Raum werden, in dem künstliche Welten technisch erschaffen werden. Die drei gewählten Zugänge überschneiden sich zum Teil insofern, als einander entsprechende Textpassagen im Rahmen ihrer Untersuchung als Textgrundlage dienen. So weit wie möglich soll versucht werden, Wiederholungen dadurch zu vermeiden, dass der spezifische Blickwinkel der jeweiligen Betrachtung eingehalten und auf ergänzende Kapitel verwiesen wird. Ähnliches gilt für die zusammenführenden Betrachtungen. Um die Anrufungen des Erzählers im Kontext der historischen Beurteilung des poeta creator verorten zu können, wird diese schon im ersten Kapitel skizziert. In der jeweiligen Zusammenschau von Kapitel 2 und 3 wird daher auf dieses Kapitel zu verweisen sein. Punktuell werden die behandelten Passagen neben einem Abgleich mit den benannten theoretischen Hintergründen mit Passagen anderer mittelhochdeutscher Texte in Beziehung gesetzt. Die Ergebnisse basieren dabei stets auf einer textnahen Interpretation.

1 Die Anrufungen des Erzählers In der Forschung ist gesehen worden, dass dem Erzähler im WvÖ eine besondere Rolle zukommt. Die quantitative Häufung von Quellenberufungen und Anrufungen an Instanzen oder Musen 1 ist erkannt und benannt worden. Dietl zitiert die Verse 4469–4475 und 13.585–13.591 und konstatiert, dass Erzähleräußerungen wie diese [. . . ] sich im Werk immer wieder [finden]. Der Erzähler ruft Aventue re, Minne, Natur, Wîsheit, Gott und selbst Wolfram von Eschenbach als „Musen“ an und bittet sie um Hilfe beim Dichten. Häufig bezieht sich ein solcher Musenruf nur auf die angemessene Form der Dichtung und sagt somit nichts über die Wahrheit des Erzählten aus. 2

Dietl und Ridder deuten die häufigen Anrufungen von Instanzen als Kennzeichnung eines Werkes, das während des Erzählens erst entstehe. Dietl meint, Johann von Würzburg beschreibe sich „in der Rolle eines improvisierenden Dichters, um sich strikt gegen den Dichter abzugrenzen, der von einer festen Vorlage ausgeht“. 3 Ähnlich formuliert Ridder: Die Vorstellung einer prozeßhaften Rezeption des Werkes ist im WvÖ verknüpft mit der Fiktion, das Werk selbst entstehe in ständiger Auseinandersetzung mit den Hörern, mit den inspirierenden Instanzen (Frau Minne, Aventue re, Natur etc.) und den Figuren. Gegenstand der Apostrophen des Erzählers, der Personifikationen und auch der fingierten Dialoge sind häufig die Möglichkeit der unmittelbaren Fortsetzung der Erzählung. Der Erzähler lanciert die Vorstellung, er setze die Reaktionen der Angesprochenen auf das Werk unmittelbar in die Erzählung um, das Werk sei seiner Rezeption jeweils nur einen Schritt voraus und noch keinesfalls abgeschlossen. 4

Ridder nennt diese fingierte Haltung das „in statu nascendi“ sich befindende Werk. 5 Dass sich die Deutung der großen Anzahl an Anrufungen nicht erschöpft in der Vorstellung eines sich als improvisierend darstellenden Erzählers, zeigt sich nicht zuletzt an den Vorausdeutungen (vgl. WvÖ, V. 889–891, 10.530–10.535, 18.802–18.804). 6 Ein Erzähler, der folgende Handlungsabschnitte andeutet, zeigt, 1 Die Terminologie, mit der die Phänomene dieses Kapitels zu erfassen sind, wird auf den Seiten 35ff. erläutert. 2 D (1999), S. 94 f. 3 Ebd., S. 95. 4 R (1998), S. 279 f. 5 Ebd., S. 89f., 276 f., 285–293. 6 Zu den Vorausdeutungen siehe R (1963), S. 139–147. Siehe auch H (1983), S. 248.

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dass er die gesamte Handlung überblickt; dies konterkariert die Vorstellung der Improvisation. Dieser Bruch deutet an, dass sich eine tiefere Verstehensebene hinter den zahlreichen Anrufungen verbirgt. Dieser soll im Folgenden nachgegangen werden, indem die angerufenen Instanzen systematisch erfasst werden und eine Hierarchie abgeleitet wird, die das Verhältnis dieser Instanzen untereinander regelt. Es soll zudem die Frage geklärt werden, wie sich der Erzähler in diese Hierarchie einordnet. Schnuchel nimmt die verschiedenen Instanzen, die die Handlung im WvÖ bestimmen, in den Blick und hebt die „Marionettenhaftigkeit“ der Figuren 7 hervor. Seine Analyse geht von den Figuren aus. Rehbock verweist auf Schnuchels Darlegungen, ergänzt und vertieft sie: 8 Die Impulse der Handlung gehen im WvÖ durchweg von übermenschlichen Mächten aus. Die Figuren werden gejagt von der Minne, geführt von Gott, Aventiure, Sælde. Sie werden aber auch – was Schnuchel nicht beachtet [. . . ] – bestimmt von nichtpersonifizierten, objektiven geistigen Wesenheiten, wie z. B. „site“ (Melchinor), „triwe und wiplich art“ (Crispin V 13.172 f.; Belfant V 19074), die die Figuren zwanghaft („des twanc si triwe und wiplich art“ (V 19074) leiten. [. . . ] Gott als oberster „Fügender“, die personifizierten Mächte Minne, Aventiur, Sælde, Welt und die objektivierten geistigen Kräfte und Wesenheiten: sie alle bestimmen und lenken die Personen der Handlung, die tatsächlich bloße „Figuren“ sind. [. . . ] Die Motivation des Geschehens beruht also überall auf überpersönlichen Kräften und Mächten. Bezeichnend ist es, daß zugunsten dieser Motivation im WvÖ auch der Zufall weitgehend ausgeschaltet wird. [. . . ] Die lenkenden, leitenden Mächte treiben aber das Geschehen nicht in der Weise vorwärts, daß sie es aus ihrer eigenen Schwere hervorbrächten; an manchen Stellen zeigt sich, daß der Handlungsablauf selbst primär zu ihnen ist, daß auch sie nur funktional als Figuren in ihm verwandt sind. [. . . ] Die Linie der Handlung entfaltet sich nicht aus der Wesensgesetzlichkeit der lenkenden Mächte, sondern unterwirft sie sich und verletzt sie sogar dann und wann. 9

Der Blickwinkel meiner Analyse ist anders gewählt als bei Schnuchel und Rehbock. Es soll nicht in erster Linie beleuchtet werden, wie das Verhältnis von Figuren zu den die Handlung lenkenden Instanzen (Rehbock spricht hier von Mächten) akzentuiert ist, sondern gezeigt werden, wie die Hierarchie dieser Instanzen gestaltet ist und wie sich der Erzähler in diese einordnet. In dem Maße, in dem auf der Grundlage des Verhältnisses der Instanzen zu den Figuren deren Hierarchie rekonstruiert wird, spielt dieser Blickwinkel eine Rolle. Im Laufe der Argumentation wird auf die vorgestellten Thesen Rehbocks einzugehen sein.

7 S (1955), S. 5 ff., 117. 8 R (1963), S. 169 ff. 9 Ebd.

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Huschenbett sieht, dass die Forschung, die er überblickt, in ihrem Urteil dem WvÖ nicht gerecht wird, die „häufigen Anrufungen des Dichters oder handelnder Personen an Frau Minne, Frau Abenteuer und Frau Natur“ seien bloß „Traditionsgut“. 10 Er erkennt einen Zusammenhang „zwischen den Personifikationen und dem Romangeschehen“, den bis dato allein Schnuchel gesehen habe, jedoch „nur für die Beurteilung des Erzählstils und die These der Doppelverfasserschaft“ auswerte. 11 Huschenbett zeigt einen Bezug zu den artes amandi auf und beschreibt den genannten Zusammenhang kurz: Den unter dem Stern Venus geborenen Helden nimmt Frau Minne in ihren Dienst (V. 662 f.), läßt ihn erziehen, auch in artibus und philosophie (V. 642 f.), so daß der Knappe lussam (V. 665) über alle Tugenden verfügt und zur Vollkommenheit nichts fehlt bis auf eine qual in seinem Herzen (V. 651). Solchermaßen disponiert, können Frau Minne und ihr Sohn Amor den Helden durch Vorzeigen des Traumbildes der Heldin endgültig in ihr vancnuste (V. 687) nehmen. Nach der Ersetzung des Traumbildes durch den anplik (V. 1380) und der Entstehung der Kinderminne treten freilich Komplikationen auf. Frau Melde tritt auf den Plan (V. 1462) mit der Folge, daß sich die Kinder nicht mehr sehen dürfen (Trennung durch die Eltern). Das empört Frau Natur, die ihr Recht beeinträchtigt sieht und Frau Minne um Rat fragt (V. 1892 f., vgl. 1629, 1909). Diese empfiehlt Briefe zu schreiben. 12

Huschenbetts Analyse zeigt, dass den Personifikationen eine besondere Funktion zukommt. Diese erfasst er, wie sich zeigen wird, nicht in all ihren Nuancen. Zudem beleuchtet er nicht, welchen Platz der Erzähler dabei für sich in Anspruch nimmt. Wie auch Schnuchel und Rehbock untersucht Huschenbett das Verhältnis der Personifikationen zur Handlung, sodass er die Relation vom Erzähler zu diesen Personifikationen kaum in den Blick nimmt. Die Instanzen, die im WvÖ vom Erzähler und von anderen Figuren angerufen werden und die für die aufzuzeigende Hierarchie von Bedeutung sind, gehören drei Kategorien an: Zu unterscheiden sind erstens die christlichen Instanzen Maria und Gott (auch als Vater, Sohn, Heiliger Geist), zweitens Personifikationen der Minne, der Aventue re, der Kunst, der Witze, des Todes, der Weisheit und der Natur, 13 und drittens realhistorische Personen (Wolfram von Eschenbach, 14 der Evangelist 10 H (1983), S. 244. Zu der Tatsache, dass eine Frau Natur im WvÖ nicht angesprochen wird, siehe unten, S. 36 ff. 11 Ebd., S. 244. 12 Ebd., S. 244. 13 Daneben die von Rehbock gezeigten „nichtpersonifizierten, objektiven geistigen Wesenheiten“, die jedoch für die gestellte Fragestellung nicht relevant sind, da der Erzähler sich nicht direkt mit ihnen auseinandersetzt. 14 Gottfried von Straßburg wird von Wildhelm angerufen und wird daher hier nicht aufgeführt.

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St. Johann, 15 Aristoteles, Sokrates, Avicenna) sowie Beteuerungen des Erzählers, sich auf diu rede oder diu schrift zu beziehen. Es ergibt sich ein Nebeneinander verschiedener Instanzen, denen je eigene Wirkungsbereiche und -möglichkeiten zuerkannt werden. Diese sollen im Folgenden einzeln aufgeführt werden. Besonders wird dabei auf die christlichen Instanzen sowie auf die Personifikation von Minne, Aventue re, Natur und Tod eingegangen, da diese zum einen quantitativ herausstechen und zum anderen für die Untersuchung schöpferischen Bewusstseins besonders relevant sind.

Die adäquate Terminologie Die Wahl eines adäquaten Begriffes, der vrau Minne, vrau Aventue re, die Natue re, Gott, Maria, den Heilgen Johannes, Wolfram von Eschenbach, buo ch etc. subsumiert, erweist sich als schwierig. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass in der Forschung kein einheitlicher Begriff verwendet wird. So spricht z. B. Rehbock von „übermenschlichen Mächten“, „überpersönlichen Mächten und Kräften“ und „lenkenden, leitenden Mächten“, 16 Dietl konstatiert, der Erzähler rufe „Musen“ an 17 – wohl bewusst setzt sie dies in Anfühungszeichen – und Ridder spricht von den „inspirierenden Instanzen“. 18 Jeder Begriff deckt eine Nuance der Funktion ab, die die aufgezählten Anrufungen erfüllen. Spricht man von Musen oder inspirierenden Instanzen, so wird die Bitte des Erzählers um Inspiration und Hilfe erfasst, die im WvÖ eine große Rolle spielt, wie im Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden soll. Die Begriffe zielen dabei auf das Verhältnis des Erzählers zu seinen Musen/Instanzen ab. Die von Rehbock bemühten Substantive Macht und Kraft, die bezeichnenderweise nicht ohne eine attributive Bestimmung auskommen, betonen das Verhältnis von Kräften einer Metaebene zum epischen Personal. Rehbocks Blickwinkel weicht, wie oben gezeigt, von dem Blickwinkel dieser Arbeit ab, sodass eine Übernahme der Begriffe Rehbocks nicht sinnvoll ist. Es soll vielmehr Ridders Begriff der „Instanz“ übernommen werden. Zum einen ist dieser Begriff neutral und vermeidet eine Vorabinterpretation. Zum anderen ist er kompatibel mit der Vorstellung einer Hierarchie, die die Beziehung der Instanzen untereinander sowie zum epischen Personal regelt. Wie im Folgenden gezeigt wird, verortet sich der 15 Dieser ist wohl zwischen realhistorischer Person und dem folgenden Punkt anzusiedeln. Aus mittelalterlicher Sicht ist St. Johann sicherlich eine realhistorische Person. Dass es sich dabei um den Evangelisten handelt, wird explizit gesagt in den Versen 188, 407 und 447. Ebenso wird dies deutlich daran, dass sein Grab in Ephesus liegt, dem Ort, an dem der Evangelist Johannes starb. 16 R (1963), S. 169 ff. 17 D (1999), S. 94 f. 18 R (1998), S. 279.

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Erzähler in der Hierarchie und steigt innerhalb derselben auf. Der Begriff der Instanz erlaubt es, diese Entwicklung darzustellen: Auch der Erzähler kann sinnvoll als Instanz, nicht aber als Muse oder Macht bezeichnet werden. Ohne der ausführlichen Diskussion der Begriffe „Allegorie“ und „Personifikation“ zu Beginn des zweiten Kapitels dieser Arbeit vorzugreifen, soll an dieser Stelle eine kurze Ausführung zu diesen Begriffen erfolgen, um zu begründen, warum minne, aventue re, natur und tot als Personifikationen bezeichnet werden. Eine herausragende Stellung nimmt vrau Aventiure bekanntlich im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach ein (vgl. Pz, V. 433, 7). Bumke nennt dies eine „Allegorie“. 19 In der Konkretisierung als vrau begegnen dem Rezipienten im WvÖ Minne und Aventue re, nicht jedoch eine Frau Natur, wie Huschenbett 20 und Ridder 21 nahelegen, wenn sie ebenso von Frau Natur sprechen. Der WvÖ weist keine Nennung einer vrau Natue re auf. Schnell versucht in seiner Studie „Causa amoris“ zwischen Allegorie und Personifikation zu differenzieren und spricht von der Schwierigkeit dieses Versuches. Er erwägt, auf die mittelalterliche Terminologie zurückzugreifen, konstatiert jedoch mit Verweis auf Meier, 22 dass diese „eher verwirrend als klärend“ sei. 23 Noch heute besteht keine vollständige Einigkeit in der Verwendung der Begriffe. Für dieses Kapitel seien die von Schnell genannten Umschreibungen 24 maßgebend, in denen er unterscheidet in – reine Personifikationen, die nur die im Begriff enthaltene Eigenschaft repräsentieren, – allegorische Personifikationen /allegorische Figuren, die im Zusammenspiel mit anderen Personifikationen und in der Handlung einen neuen Bezugshorizont eröffnen; in der Mehrdeutigkeit dieser Personifikation offenbart sich die Differenz zwischen allgemeiner Bezeichnung und konkret Dargestelltem, – mythische Personifikationen /mythologische Gestalten, die eine eigene, mythologische Vorgeschichte besitzen, aus eigenen, oft uneinsichtigen Motiven han19 B, Joachim (2004): Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 207. Im Folgenden zitiert als B (2004). Vgl. auch K (2006), S. 92ff. sowie Abschnitt 1.5, S. 131 ff. dieser Arbeit, in dem der Begriff der Muse ausführlicher betrachtet wird. 20 H (1983), S. 244. 21 R (1998), S. 22. 22 M, Christel (1976): Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen. In: Frühmittelalterliche Studien 10, S. 1–69, hier S. 3 f. und 23. Im Folgenden zitiert als M (1976). 23 S, Rüdiger (1985): Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern; München: Francke (Bibliotheca Germanica, 27), S. 351. Im Folgenden zitiert als S (1985). 24 Ebd., S. 358.

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deln, selbst Handlung in Gang bringen können und deren Wesen nicht in der vorgegebenen Bedeutung eines verkörperten Begriffs aufgehen. In Abschnitt 1.1 wird allgemein von Personifikationen gesprochen. Für die personifizierten Minne, Aventue re, Natur und Tod wird im Verlauf des jeweiligen Darstellungspunktes eruiert, welche Art von Personifikation vorliegt.

1.1 Christliche Instanzen Der Erzähler des WvÖ ruft die christlichen Instanzen Gott und Maria an. Er bittet dabei um das diesseitige und jenseitige Wohl Wildhelms, das der gesamten Christenheit sowie um Inspiration und Unterstützung bei seiner Dichtung. Um die Spezifika der Gebete sowie deren Funktion im WvÖ zu erfassen, werden diese im Folgenden auf der einen Seite vor dem Hintergrund mittelalterlicher Gebete in erzählender Literatur 25 und auf der anderen Seite unter besonderer Berücksichtigung des Sprachschatzes der sogenannten Deutschen Mystik 26 untersucht. Zunächst soll betrachtet werden, inwiefern Gott als Höchster innerhalb der Hierarchie der angerufenen Instanzen erscheint. Sodann werden Paradigmengebete im WvÖ untersucht, um anschließend zu zeigen, wie das Geheimnis der Trinität vom Erzähler sprachlich erfasst wird. Ziel des Abschnitts ist zu beleuchten, wie das Verhältnis von Gott und Dichter akzentuiert wird, welche theologischen Schemata in den profanen Text transferiert werden, um den Status des Dichters zu verhandeln, und welche Möglichkeiten sich dadurch eröffnen, dass der Erzähler die Potenzialität der Sprache, deren Innovationspotenzial weitreichend ausschöpft.

1.1.1 Gott als Höchster innerhalb der Hierarchie Gott ist konform zu christlichem Denken die oberste Instanz, die hierarchisch allen anderen Instanzen übergeordnet ist. Dies zeigt sich im WvÖ in den überaus häufigen Anrufungen des Erzählers, aber auch des epischen Personals, an Gott. 27 Bis auf wenige Formulierungen handelt es sich bei den Apostrophen um gängige Wendungen: Gott wird angerufen als Schöpfergott, wenn er „schepfer aller wunder“ 25 Hier werden v. a. die Legendenromane Rudolfs von Ems und Wolframs von Eschenbach berücksichtigt, die Eckart Conrad Lutz in seiner Studie untersucht. Vgl. L, Eckart Conrad (1984): Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters. Berlin, New York: de Gruyter. Im Folgenden zitiert als L (1984). 26 Wichtige Vertreter sind Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, David von Augsburg, Tauler, Seuse. 27 Dies sieht bereits Frenzel. Vgl. F (1930), S. 70. Er bemerkt die „Menge von Gebeten und gelegentlichen Stoßsäufzern“, die „sich in dem ganzen Gedicht verstreut“ finden.

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(WvÖ, V. 12.498), „schepfer aller dinge“ (WvÖ, V. 13.681) oder „wundrer aller wunder“ genannt wird. 28 Er wird als „Hœhster“ (WvÖ, V. 11.490) und „Altissimus“ (WvÖ, V. 10.783, 11.521, 11.638, 12.008, 14.319, 17.142, 18.403, 19.216) bezeichnet. Gottes Unendlichkeit wird betont, wenn es von ihm heißt, er sei „ie wesend und an ende“ (WvÖ, V. 1097), „alpha et o“ (WvÖ, V. 12.219) oder „an begin ân ende“ (WvÖ, V. 17.459). 29 Die genannten Formulierungen unterscheiden sich nicht von denen anderer mittelhochdeutscher Epen. 30 Eine spezifische Funktion kommt diesen Apostrophen im WvÖ insofern zu, als sie eingebettet sind in ein hierarchisches System. Wie im Laufe dieses Darstellungspunktes gezeigt wird, stellt sich der Erzähler zu Beginn als von den Instanzen abhängig dar, um sich im Laufe der Handlung von deren Willen unabhängig zu zeigen – mit Ausnahme der Abhängigkeit von Gott. Die formelhaften Wendungen erinnern immer wieder an die Hierarchie sowie an die Unerreichbarkeit Gottes. 31 Über den Rahmen konventioneller Wendungen hinaus gehen Formulierungen, die Gott explizit als Dichter darstellen. Wie später noch eingehend behandelt werden soll, macht der Erzähler die Analogie von sich und Gott deutlich, wenn er vom „schepfer aller aventue r“ (WvÖ, V. 2435) spricht oder von der Trinität weiß, sie könne „alles betihten“ (WvÖ, V. 11.601). 32

28 Vgl. ebd., S. 72, wo Frenzel schon das literarische Herkommen dieser Formulierungen betont. 29 Vgl. hierzu Frenzel, der auch die folgenden Stellen anführt: aller sache anegenge (V. 15.147); ân anbegin, ân ende (V. 12.213)(ebd., S. 72). 30 Vgl. L (1984), besonders die Kommentare zu den behandelten Texten. Beispiele aus dem „guoten Gerhart“ sind: alphâ et ô (V. 300), schepher (V. 301), ân urhab und ân endes kunft (V. 343); aus „Barlaam und Joaphat“: Alphâ et Ô (V. 1), ân urhap [. . . ] / ân anegenges begunst (V. 3f.); aus Wolframs „Willehalm“: schepfaere über alle geschaft (V. 3), âne urhap [. . . ] / ân ende (V. 4f.). 31 Rehbock macht auf eine Veränderung bezüglich der Bedeutung von christlichen Elementen innerhalb der Handlung aufmerksam. Während diese „im ersten Teil ganz der Kernhandlung untergeordnet“ seien und „auch der Gegensatz Christen-Heiden [. . . ] bedeutungslos für den Gang der Handlung“ bleibe, verändere sich dieses Verhältnis im zweiten Teil des Romans: „Seit dem großen Gebet für Wilhelm (V 10.424 ff.) [. . . ] treten Gebete für ihn und auch für die Christenheit immer mehr in den Vordergrund und nehmen an Umfang zu. Ferner wird seit dem Turnier zu Kandia der Gegensatz Christen-Heiden handlungsbedeutsam“ (R (1963), S. 62). Eine plausible Erklärung für die Zunahme von Gebeten ist die Überwindung der Instanzen durch den Erzähler. War er diesen zu Beginn noch untergeordnet, setzt er sich im Verlauf der Handlung über sie hinweg und apostrophiert in der zweiten Romanhälfte daher vornehmlich Gott, dem allein er sich damit unterstellt zeigt. 32 Vgl. die Ausführungen zum Paradigmengebet, Darstellungspunkt 1.1.2, S. 41 ff.

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Der Erzähler sieht sich in seinem Dichten als von der Inspiration 33 durch Gott abhängig, wie sich u. a. in den folgenden Versen zeigt: 34 nu schue ln wir vahen wider an die wilden aventue r: Got geb mir ler ze stue r, daz ich si so getihte daz si wise und rihte die lue te zu dem besten!

(WvÖ, V. 12.354–12.357)

Der Erzähler bittet Gott um stue re, 35 sodass er adäquat dichten kann. Die Bitte um Inspiration stellt den WvÖ in eine Traditionslinie mit dem „Rolandslied“, dem „Willehalm“ und – eingeschränkt – „Tristan und Isolde“. Haug sieht die „Legitimation von Neukonzeptionen über Inspiration“ als eine der Strategien an, die Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts anwenden, um trotz gegebener Barrieren Neues ausdrücken zu können. 36 Wolfram postuliere in seinem „Willehalm“ -Prolog „eine poetische Kreativität [. . . ], die sich unmittelbar dem Geist Gottes verdankt. Die göttliche Inspiration ist damit in kühner Verschiebung in ein gottgegebenes, natürliches menschliches Vermögen umgesetzt“. 37 Gottfried spiele gar „den antiken Musenruf und das christliche Dichtergebet in irritierender Weise ineinander“, wodurch die „Inspirationsphantasie“ letztlich zu einem „poetologischen Spiel“ werde. 38 Wie nun dieses Spiel im WvÖ aufgenommen wird, soll im Laufe dieser Arbeit geklärt werden. Die Abhängigkeit von der lenkenden Kraft Gottes zeigt sich auf den ersten Blick auch auf der Handlungsebene. Immer wieder scheint es, als könne Gott das Geschick des Personals der aventue re unmittelbar beeinflussen. 39 So bittet der Erzähler z. B. den „Got almæhtig“, er möge Ryals „vart andæhtig“ weisen (WvÖ, 33 Vgl. zum Thema Inspiration des Dichters Ohly, F (1993): Metaphern für die Inspiration. In: Euphorion 87, S. 119–171; L, Nikolaus (1994): Dichterische Inspiration? Überlegungen zu einem alten Topos und zur Frage der Entstehung von Texten. In: Axel Gellhaus (Hrsg.): Die Genese literarischer Texte. Unter Mitarbeit von Winfried Eckel, Diethelm Kaiser, Andreas Lohr-Jasperneite und Nikolaus Lohse. Würzburg: Königshausen u. Neumann, S. 287–309; H, Walter (2001): Wege der Befreiung von Autorität: Von der fingierten Quelle zur göttlichen Inspiration. In: Poag, Baldwin (Hrsg.): The construction of textual authority in German literature of the medieval and early modern periods. Chapel Hill: University of North Carolina Press, S. 31–48, im Folgenden zitiert als H (2001); K (2006); S/T (2008). 34 Weitere Passagen werden im Verlauf der Arbeit thematisiert. 35 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.2.1, S. 70 ff., v. a. S. 72 ff. 36 H (2008), S. 73–87, hier S. 73 ff., 81. Vgl. auch Abschnitt 1.5, S. 131 ff. dieser Arbeit. 37 H (2008), S. 82. 38 Ebd., S. 83. 39 Vgl. F (1930), S. 73; S (1955), S. 7; R (1963), S. 62.

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V. 3113f.), die Geburt der Kinder scheint von Gott hervorgerufen, 40 und auch die Rettung durch Parklise ist gedeutet worden als direktes Eingreifen Gottes. 41 Betrachtet man die Episoden genauer, in denen Gott das Schicksal der Figuren zu lenken scheint, so zeigt sich, dass Gott zwar vom Erzähler oder den Figuren selbst um Hilfe gebeten wird, dass aber oft zugleich andere Faktoren aufgeführt werden, die die erfahrene Unterstützung auf abweichende Weise erklären. 42 Für die Belgagan-Aventue re zeigt Rehbock, dass das Christliche im WvÖ wichtig sei, „aber doch nur ein Element unter anderen“. 43 Wildhelm werde nicht durch Gott gerettet, sondern durch seine tugent, mit deren Hilfe er die feuerfeste Rüstung gewonnen hat. 44 Rehbock folgert, die tugent sei „der Wert schlechthin im WvÖ, und Gott hat nur Bedeutung, insofern er ihre Quelle, ihr Schützer, ihr Ziel ist; Gott ist der ‚tugent‘ erzählerisch untergeordnet“. 45 Ich folge Rehbock insofern, als die Vermittlung von tugent das Hauptanliegen des WvÖ ist und christlich-missionarische Intentionen dahinter zurücktreten. Auch wird im WvÖ nicht zuerst ein Gottesrittertum propagiert. Erzähltechnisch tritt Gott somit in der Tat hinter die tugent zurück. Eine Erklärung dieser Beobachtung erschöpft sich allerdings nicht in dem von Rehbock Dargestellten. Die Ursache des Phänomens liegt auf einer abstrakteren Ebene. Gott ist, wie in den Apostrophen deutlich wird, das oberste Prinzip, der Schöpfer etc., greift jedoch nicht selbst in das Geschehen ein. 46 Wenn auch in den Gebeten ein Gott angesprochen wird, der Wunder schaffen kann (s. u.), ergeben sich der Fortgang der Handlung sowie einzelne Handlungsepisoden aus anderen Prinzipien. So 40 Vgl. R (1963), S. 62. Diese Perspektive erscheint in den Versen 10.511–10.525, einem Gebet des Erzählers. Hier wird der Pluralismus an Deutungsangeboten (siehe Darstellungspunkt 1.4.1, S. 110 ff.) der Vorgeschichte reduziert auf eine Erklärung: Der Mensch ruft den Heiligen an, der wiederum Gott anruft – Gottes Macht kann dann in die Geschicke der Menschen eingreifen. Im Gebet wird erneut Gott diese Macht zugestanden bzw. auf diese gehofft. Wie oben beschrieben, zeigt sich eine solche Macht im Verlauf der Handlung nicht. Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.4.1, S. 110 ff., in dem die Frage erörtert wird, inwiefern Gott die Geburt der Kinder bestimmt. 41 Vgl. zur These R (1963), S. 63. Diese These wird widerlegt im Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff. dieser Arbeit. 42 Bezüglich Gottes Urheberschaft an der Geburt Wildhelms und Aglyes verweise ich auf den Darstellungspunkt 1.4.1, S. 110 ff., zur Frage, ob durch das Handeln Parklises Gott wirkt, siehe Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff. Vgl. auch S. 90 ff. 43 R (1963), S. 64. 44 Vgl. ebd. 45 Ebd., S. 62–65. 46 Zu dieser Erkenntnis kommt Ratkowitsch in Bezug auf die „Cosmographia“ des Bernhardus Silvestris. Auch dort greift Gott nicht selbst in das Geschehen ein. R, Christine (1995): Die Cosmographia des Bernhardus Silvestris. Eine Theodizee. Wien, Köln, Weimar: Böhlau (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 6), S. 13 f. Im Folgenden zitiert als R (1995).

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ergibt sich an jenen Stellen, an denen Gott um Hilfe angerufen wird, eine Diskrepanz: Gott wird um Hilfe gebeten und in der Folge wird Hilfe gewährt, sodass die Handlung jeweils fortgeführt werden kann. Dabei greift Gott indes nicht selbst in die Handlung ein, auch wenn dies zunächst so scheint: Die Geburt der Kinder wird – zumindest wird diese Perspektive neben anderen entworfen – erklärt, ohne dass ein wundersames Eingreifen Gottes angenommen werden muss. Vor der Hinrichtung rettet Wildhelm Parklise, die Rettung im Feuergebirge ist auf die feuerfeste Rüstung zurückzuführen, die Wildhelm seiner bestandenen Tugendprobe verdankt. Es werden je – z. T. versteckt – Perspektiven eröffnet, die ohne transzendentes Eingreifen den Fortgang der Handlung erklären. 47 Gott erscheint als Instanz, die die Grundvoraussetzungen schafft, sodann jedoch lediglich vermittelt über hierarchisch untergeordnete Instanzen eingreift. 48

1.1.2 Paradigmengebete Manche der Gebete, 49 in denen sich der Erzähler an Gott wendet, sind Paradigmengebete, Gebete, die „im Wissen um den sich selbst treu bleibenden Gott diesen an bestimmte Heilstaten erinnern, die er in der Vergangenheit gewirkt hat, um ihn zu bitten, ähnliches auch in der [Gegenwart] zu tun“. 50 In der Liturgie heißen solche Gebete Anamnese (im weiteren Sinn) und bestehen aus drei Teilen: „lobpreisende[m] Ausrufen des Gottesnamens (Anaklese), Gedenken seiner Heilstaten (Anamnese) mit nachfolgender Bitte (Epiklese bzw. Interzessionen)“. 51 Ein Blick auf diese Gebete im WvÖ ist aufschlussreich, da mit ihnen eine Gebetstradition aufgegriffen wird, deren bekannteste Form die Erzählung ist, 52 die in französische und deutsche epische Texte Eingang gefunden hat 53 und die im WvÖ verknüpft wird mit der Bitte um Inspiration.

47 Damit ist gezeigt, dass z. B. Schoenebecks Formulierung unglücklich gewählt ist, der Erzähler greife mit einem Gebet ein (S (1965), S. 151). 48 Diese Argumentation widerlegt auch die These Frenzels, der in den häufigen Anrufungen Gottes den Geistlichen erkennen möchte, „der stets Gott im Munde zu führen gewohnt ist, auch in Situationen, wo es unserem Empfinden nicht mehr entspricht“ (F (1930), S. 72). 49 Grundlegend T, Christian (1989): Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York: de Gruyter (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, 18). 50 H, Andreas: Paradigmengebet. In: LfTuK 7, Sp. 1367. Vgl. auch L (1984), S. 138. 51 M, Hans Bernhard: Anamnese, Liturgisch. In: LfTuK 1, Sp. 592 f. 52 F, Heinz-Josef: Anamnese, biblisch. In: LfTuK 1, Sp. 590. 53 „Das altfranzösische und das mittelhochdeutsche Rolandslied bieten [. . . ] sehr klare Beispiele des Paradigmengebets“ (L (1984), S. 143).

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Eines der Gebete, in denen der Erzähler Gott um Hilfe für den Helden bittet, ist ein prototypisches Paradigmengebet und besteht aus Anaklese, Anamnese und Epiklese: Altimissimus der starke: der Noe uz der arke half, der helf auch disem

(WvÖ, V. 19.783–19.785)

Zuerst wird Gott ob seiner Stärke gepriesen, dann wird an die Rettung Noahs erinnert und schließlich wird folgernd die Rettung Wildhelms eingefordert. Betrachtet man die drei Verse isoliert, so wird dadurch zum einen, wie in jeder Anamnese, „die Raum und Zeit übergreifende Präsenz Gottes bezeug[t]“. 54 Zum andern wird der Stellenwert Wildhelms enorm aufgewertet, insofern implizit eine typologische Beziehung zwischen Noah und ihm unterstellt wird. Bezieht man jedoch den Kontext des Gebetes mit ein, so zeigt sich, dass die Anamnese an dieser Stelle formelhaft verwendet wird und neben dem Vertrauen auf Gott eine weitere Perspektive auf die Möglichkeit der Rettung Wildhelms eröffnet wird. Als das Gebet gesprochen wird, ist Wildhelm von den Angehörigen des Wildomis, den er getötet hat, festgesetzt worden und soll hingerichtet werden. Der Erzähler skizziert, wie er aus dieser Situation erlöst werden soll: die wile daz si bereiten sich, do fuo gt der fuo g maister ist, ain botschaft mit gar cluo gem list. Swer Got getruwet, der tuo t reht.

(WvÖ, V. 10.790–10.793)

Diese botschaft, durch die Wildhelm gerettet wird, ersinnt und überbringt jedoch Parklise, die mit Negromantie und dem Teufel in Verbindung gebracht wird (vgl. WvÖ, V. 19861 ff.). 55 So wird zumindest fragwürdig, ob die durch das Paradigmengebet entworfene Perspektive – Gott greife ein und rette Wildhelm – allein gültig ist. 56 Noch weitere Male bittet der Erzähler in anamnesegleichen Gebeten um das Wohlergehen Wildhelms: Ey, væterlicher Got! sit din gewalt und din gebot get ue ber alle sache, 54 F, Heinz-Josef: Anamnese, biblisch. In: LfTuK 1, Sp. 590. 55 Siehe hierzu Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff. 56 Vgl. zum Gegensatz zwischen der Bitte um Gottes Hilfe und dem Hilfegewähren durch Parklise R (1998), S. 283: „Erbittet der Erzähler am Beginn des Binnenprologs für seinen Helden in aussichtsloser Situation Gottes Hilfe, so gewährt der Autor ihm diese qua literarischer Kompetenz durch die Tochter eines Zauberers“.

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so hilf auch mit gemache Wildhelme dem kinde

(WvÖ, V. 931–935)

Wie in den Versen 19783–19735 beginnt das Gebet mit einer Anaklese (V. 931) und endet mit einer Epiklese (V. 934 f.). Die eigentliche Anamnese weicht jedoch vom Schema ab: Es wird kein konkretes heilsgeschichtliches Ereignis genannt, sondern abstrakt auf Gottes Macht verwiesen. 57 Die Begründung, zuversichtlich auf Gottes Hilfe hoffen zu können, 58 basiert denn hier auch nicht mehr auf der Nennung paradigmatischer Heilstaten. Zur Basis der Hoffnug auf Hilfe ist die Relation zwischen Gott und Wildhelm geworden, die Ausdruck findet darin, dass Gott als „ væterlich[ ]“ apostrophiert und Wildhelm „kinde“ genannt wird. Die begründete Zuversicht beruht hier auf einer inhaltlichen Verknüpfung von Anaklese und Epiklese. Ebendiese Verknüpfung, die eine direkte Verbindung von apostrophiertem Gott und Inhalt der Bitte herstellt und dadurch die Bitte plausibel macht, findet sich ebenfalls in Bitten des Erzählers um Inspiration. Wenn der Erzähler Gott um Unterstützung bei seiner Dichtung anruft, bemüht er Formulierungen, die sein eigenes Werk in Verbindung bringen zum Wirken Gottes. Die Verse 2435–2447 stellen eine Abwandlung des Paradigmengebets dar, bei dem der Erzähler neben Anaklese (V. 2435) und Epiklese (V. 2440–2447) als Anamnese (V. 2436–2439) eine selbst bereits erfahrene Hilfestellung Gottes nennt: Ey, schepfer aller aventiur, sit daz von diner lere stiur ich kunstloser tummer knab ein aventiur entworfen habe den sinnen min ze maisterlich, so gip auch lere mir daz ich die varwe dar gestriche diu niht schier erbliche von des sumers hitze, ich main der wisen witze, die mich mit iren zieren sinnen corrigieren, daz ich vor scham iht blaiche!

(WvÖ, V. 2435–2447)

Anaklese, Anamnese und Epiklese (Trennung im Zitat durch Querstriche gekennzeichnet) sind unmittelbar aufeinander bezogen; an die Stelle eines Ereignisses der 57 Diese abstrakten oder generalisierten Paradigmengebete finden sich ebenfalls in den Versen 12.493–12.499 und 13.681–13.730. 58 Vgl. H, Andreas: Paradigmengebet. In: LfTuK 7, Sp. 1367.

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Heilsgeschichte tritt die Erfahrung des Erzählers, bereits von Gott inspiriert worden zu sein. Die Analogie von Gott und Erzähler – eine spannungsreiche, im Laufe der Literaturgeschichte immer wieder neu akzentuierte Analogie, auf die noch einzugehen sein wird – wird dadurch verstärkt zum Ausdruck gebracht. Der Erzähler nennt in einer Anrufung um Inspiration Gott den „schepfer aller aventiur“ (WvÖ, V. 2435) und erwähnt kurz später auch die aventue re-Geschichte, die er selbst entworfen hat (WvÖ, V. 2438). Frenzel bezeichnet dies als eine „ungewöhnliche“ Anrede. 59 Dietl sieht in den Versen 2435–2444 verdeutlicht, „[w]ie sehr Form und Inhalt der Dichtung in seiner [des Erzählers] Verantwortung stehen“. Sie paraphrasiert die Verse: „Der Erzähler ist seinem Lehrmeister, dem ‚Schöpfer aller Aventue re‘, und das ist Gott, gefolgt, indem er den Plan zu einer âventiure, einem Roman, gefaßt hat“, und folgert: „Das heißt nichts anderes, als daß er sein Dichten als eine Nachahmung des Schöpfungsprozesses versteht“. 60 Bevor genauer darauf eingegangen werden soll, in welcher Relation das Werk des Dichters und Gottes Schöpfung zueinander stehen, soll zunächst eine weitere Stelle in den Blick genommen werden. Angelehnt an das Schema des Paradigmengebets bittet der Erzähler in einem späteren Gebet, in dem er zuvorderst um die sprachliche Erfassung der Trinität bemüht ist, 61 darum, dass der Gott, der alles kan betihten, der muo z min sinne rihten nach soe lher aventue r diu guo ter lere stue r geb allen den mit sinnen die triwe und ere minnen.

(WvÖ, V. 11.601–11.606)

Diese Bitte um Inspiration folgt dem Schema des Paradigmengebets: Zunächst wird auf eine Eigenschaft Gottes verwiesen, um darauf aufbauend um Hilfe zu bitten, nicht ohne mit den Schlagwörtern aventue r, lere, sinne sowie triwe und ere auf andere poetologische Passagen zu verweisen. Gottes Allmacht wird darauf enggeführt, dass er alles betihten könne. Wie in der Apostrophe Gottes als schepfer aller aventue r wird Gottes Handeln dabei als Handeln vorgestellt, das in Analogie zu verstehen ist zum Handeln eines Dichters: sei es in Form der inventio (betihten als ersinnen, sinnend schaffen), sei es als Einkleiden der Idee in Worte (betihten als schreiben, dichten; in Versen verfassen). 62 In der Bitte, die sinne möchten gerihtet werden, ist wohl die Bitte des Erzählers um stiure aufgenommen. 59 60 61 62

F (1930), S. 73. D (1999), S. 96. Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.1.3, S. 53 ff. Vgl. zur Wortbedeutung von betihten Lexer (1872 ff.), Bd. 1, Sp. 237; Mittelhochdeutsches Wörterbuch (1854–1866). Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke.

C I

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Mit den beiden genannten Formulierungen werden Aussagen über Gott und Dichter aktualisiert, die dem WvÖ zeitlich vorausgehen. Schon Augustinus nennt die Welt ein carmen, 63 doch wird diese Analogiebeziehung, folgt man Tigerstedt, keinesfalls zurückübertragen: But if Augustine certainly calls the world a poem, he never, as far as I know, calls God a poet. Still less does he call the poet, or the artist, a creator. To him, this would be blasphemous, for to create – to make something out of nothing – is the sole privilege of God. [. . . ] To Augustine, man, especially fallen man, can in no way be compared to God as a Creator. 64

Das heißt allerdings nicht, dass der Vergleich zwischen Künstler und Gott zur Zeit Augustins generell nicht möglich gewesen wäre; Macrobius findet in einer Analyse „Bezüge zwischen der Struktur der Aeneis und des Kosmos“ (divinum opus mundi; poeticum opus) 65 und erklärt zuletzt eine „Analogie zwischen dem Schaffen Vergils einerseits, dem der ‚Mutter Natur‘ (Natura parens) und des göttlichen Weltenbildners andererseits“ 66 (deus opifex; poeta); 67 dabei betont er freilich, dass Vergils Dichtung „ durch göttliche Eingebung zustande gekommen“ ist. Der Dichter erscheint hier als „ein höherer Mensch, wesensverwandt der Gottesnatur“. 68 Bei Ennodius von Pavia sei „diese Auffassung schon zur Phrase entartet“, wenn er „dem Dichter Faustus das Kompliment“ mache, er sei „quoddam cum hominum factore collegium: ille finxit ex nihilo, vos reparatis in melius“. 69 Tigerstedt meint, man müsse solch übertriebene Anerkennung nicht ernst nehmen, wie es Curtius tue: „Macrobius and Ennodius are speaking as rhetoricians or poets, not as theologicans or philosophers“. 70 Tigerstedt ist m. E. insofern zu widersprechen, als bei der

63

64 65 66 67 68 69 70

Ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Leipzig: Hirzel, Bd. 4, Sp. 36af., im Folgenden zitiert als BMZ. Und zwar in De musica, VI, 11, 29 (PL 34, Sp. 1179). Vgl. C (1993), S. 528, T, Eugène Napoleon (1968): The Poet as creator. Origins of a Metaphor. In: Comparative Literature Studies 5, S. 455–488, hier S. 467, im Folgenden zitiert als T (1968); während Curtius carmen mit „Lied“ übersetzt und darauf insistiert, dass nicht mit „Gedicht“ übersetzt werden dürfe, meint Tigerstedt, dass „[i]t does not really matter“, wie hier zu übersetzten sei und ohne Bedenken von „poem“ spricht; vgl. auch P, Götz (1986): Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln: DuMont, S. 100, im Folgenden zitiert als P (1986). Pochat spricht abweichend davon, Augustin vergleiche die Welt in De trinitate mit einem Gedicht. T (1968), S. 467 Vgl. ebd., S. 442. Curtius bezieht sich hierbei auf Macrobius’ Saturnalien, V 1, 19 f. C (1993), S. 404. Vgl. ebd., S. 442. Curtius bezieht sich hierbei auf Macrobius’ Saturnalien, V 2, 1. Ebd. Ebd., mit Verweis auf Hartel 534, 7 ff. T (1968), S. 468.

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Frage nach der Vergleichbarkeit von Gott und Dichter überhaupt nicht zwischen theologischer und philologischer Sicht getrennt werden kann, kommt es doch gerade auf die Interdependenz beider Bereiche an. Dem Problem, das Tigerstedt mit den Aussagen Macrobius’ und Ennodius’ vor dem Hintergrund des von Augustin Gesagten hat, ist dennoch beizukommen. Macrobius, ein „heidnischer Neuplatoniker“, 71 vergleicht den Dichter mit dem deus opifex, dem Demiurgen, nicht mit dem jüdisch-biblischen Gott, dem creator ex nihilo. 72 Ein Vergleich des Dichters mit dem creator ex nihilo hat andere und weitreichendere Implikationen, als der (augenscheinlich nicht unübliche) Vergleich des Dichters mit dem Demiurgen; die im Rahmen der Christianisierung sich vollziehende Veränderung des Gottesbildes bringt eine Barriere in Bezug auf den Vergleich von Dichter und Schöpfer mit sich, die der vorchristlichen Antike fremd sein muss. Spannungsreich wird es natürlich dann, wenn in christlicher Zeit neben biblischen Einflüssen auch antike Einflüsse wirksam werden (s. u.). Ennodius, der sich auf den creator ex nihilo bezieht, verweist denn auch auf die absolute Differenz zwischen diesem und dem allein zur perfectio superaddita befähigten Menschen. 73 Curtius macht darauf aufmerksam, dass Macrobius’ Auffassung eine „überraschende Strukturverwandtschaft mit der mittelalterlichen Auffassung der Poesie“ hat: „Er empfindet sich nicht mehr als Teilnehmer an einer lebendigen Literatur, sondern als Wahrer und Ausleger einer abgeschlossenen Tradition“. 74 Wie zu zeigen sein wird, unterscheiden sich die Reflexionen im WvÖ wesentlich von diesem Punkt: Reflexe schöpferischen Bewusstseins werden gerade in der Verhandlung des Erzählers über die Entstehung des eigenen Textes zum Ausdruck gebracht, nicht etwa mit Blick auf Vergangenes. In dem kurzen Vergleich von Macrobius und Ennodius ist bereits angeklungen, dass neben dem Einfluss des Neuplatonismus mit seinem demiurgischen Gottesbild andere Einflussfaktoren wirksam werden, die neue Impulse bezüglich der Frage setzen, wie sich der Mensch in Relation zu Gott wahrnimmt. Die jüdisch-christliche Tradition transportiert ein vom Demiurgen verschiedenes Gottesbild. Der Gott der Genesis erschafft die Welt ex nihilo; dies ist in der griechischen Antike nicht vorstellbar, da es dem antiken Grundsatz nihil ex nihilo fit widerspricht. 75 Während diese Idee der creatio ex nihilo die Sonderstellung Gottes und dessen voll71 C (1993), S. 441. 72 Diese Unterscheidung übersieht etwa auch Ratkowitsch, wenn sie konstatiert, die ähnliche Konzeption von Gott und Dichter als Schöpfer sei „nichts Neues oder Außergewöhnliches“, sondern finde sich „bereits im platonischen Timaios [. . . ], ebenso bei Vergil, Ecl. 6,62 f. [. . . ] [und bei] Ovid“ (R (1995), S. 13 f.). 73 Vgl. zur perfectio superaddita H (2006), S. 51; C (1986), S. 262. 74 C (1993), S. 442. 75 Vgl. L (1982), S. 163.

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kommene Andersartigkeit veranschaulicht, kann der Mensch aufgrund von Gen 1, 27, Galater 4,1–7 oder Korinther 3,18 auch für sich in Anspruch nehmen, das Ebenbild Gottes zu sein. 76 Der Mensch erhält eine „exzeptionelle Stellung [. . . ] innerhalb der Seinshierarchie“, „eine Position zwischen Gott und der übrigen Natur“. 77 Diese dem griechischen Denken völlig abgehende Sonder- und Vorrangstellung des Menschen gegenüber der Natur hat geistesgeschichtlich die größten Auswirkungen gehabt. Ohne sie wäre das Zustandekommen und die rapide Ausbreitung des mechanistischen Weltbildes und seiner Technik nicht denkbar gewesen. [. . . ] Allerdings wurden die Resultate der biblisch begründeten Botschaft nur verzögert wirksam, was mit der kirchlichen und politischen Verfassung der mittelalterlichen Welt zusammenhing. 78

Ein Aspekt dieser Verfassung manifestiert sich im zweiten Kapitel des IV. Konzils im Lateran (1215), in dem die Irrlehre Joachims von Fiore verworfen wird, die aus einer Abwehrhaltung heraus formuliert wird. Dies ist ein Aspekt, der sich v. a. gegen eine Gleichsetzung von Gott und Mensch und somit auch von Gott und Dichter richtet und im oben skizzierten Sinne Augustins die Aussage unmöglich macht, ohne gleichzeitige Relativierung zu behaupten, ein Dichter erschaffe in Analogie zu Gott: 79 quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda. Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, daß zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre (DH 806). 80 76 Vgl. etwa T (1968), S. 468; G, Karen (1995): Das Verständnis der Natur. Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München: Beck, S. 142. Im Folgenden zitiert als G (1995). 77 G (1995), S. 142. 78 Ebd., S. 144. 79 Vgl. hierzu auch C (1986), S. 263, der diese Abwehrhaltung für die Summa theologica Thomas’ von Aquin annimmt. 80 D, Heinrich (2005): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann. 40. Aufl. Freiburg, Basel, Wien: Herder, S. 361f. Im Folgenden zitiert als DH [Nr.]. Vgl. auch H, Walter (2003): Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Christoforo Landino: Der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott. In: ders. (Hrsg.): Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer, S. 538– 556, hier S. 544, im Folgenden zitiert als Haug, Nicolaus Cusanus; T (1968), S. 468.

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Zunächst steht ein solches Diktum einer Analogie von Gott und Dichter entgegen. Only Got could create out of nothing, as a number of writers in Latin and the vernaculars remind their readers. Medieval writers did not and, indeed, could not think of their work as creations. Instead they saw them as inventions. 81

Das heißt indes nicht, dass die Konzepte von Gott und Dichter, entgegen diesem Diktum – wie auch anderen 82 nicht dennoch aneinander angenähert werden. So stößt man denn zwischen Macrobius und Goethe – anders also als Curtius meint – 83 auf die Aussage, der Dichter sei ein Schöpfer, 84 allerdings auch dies zeitlich dem WvÖ nachgeordnet. Haug geht der Frage nach, wie die Blockade 85 durch das biblische Diktum, dass es nihil sub sole novum geben könne, durchbrochen werden konnte, und sieht einen entscheidenden Schritt bei Christoforo Landino. Der erste, der den Dichter als creator bezeichnet hat, scheint Christoforo Landino zu sein, der von 1458 an fast vierzig Jahre lang als Professor für Rhetorik und Poetik in Florenz wirkte. Überraschenderweise war dies kein spektakulärer Akt, der Aufsehen erregt hätte, vielmehr hat Landino die Metapher bedenkenlos verwendet und ihre Implikationen überhaupt nicht thematisiert. Auch ist er nicht konsequent verfahren, sondern die Idee des poetischen Schöpfertums wechselt bei ihm mit dem traditionellen Prinzip der Imitatio. Dieses mangelnde Problembewußtsein läßt vermuten, daß ein längerer Prozeß des Umdenkens im Hintergrund steht, in dessen Verlauf sich das theologisch Anstößige der Idee vom kreativen Menschen allmählich verloren hat. 86

Tigerstedt spricht gar davon, „how reluctant Landino is to admit that the poet does not create out of nothing und how he insists upon his semidevine status“. 87 Er macht plausibel, dass dieser Status des Dichters auch darauf zurückzuführen ist, dass Landino sich mit der Bedeutung des griechischen Begriffs poiew befasst hat. Landino nämlich stellt im Rahmen der Interpretation der Aeneis in den Disputationes Camaldulenses fest, 81 K, Douglas (1996) (Hrsg.): The medieval opus. Imitation. Rewriting, and Transmission in the French Tradition. Amsterdam, Atlanta: Rodopoi, S. 5 82 Zu nennen sind hier zuvorderst nihil sub sole novum – und solus creator est deus. Vgl. Haug, Nicolaus Cusanus, S. 538 ff. Vgl. hierzu auch Darstellungspunkt 1.5.3, S. 145 ff. dieser Arbeit. 83 Vgl. C (1993), S. 404. 84 Vgl. hierzu Abschnitt 1.5, S. 131 ff. dieser Arbeit, insbesondere Darstellungspunkt 1.5.3, S. 145ff. 85 Vgl. H, Nicolaus Cusanus, S. 538 ff; H (2006), S. 53 ff.; H (2008), S. 75 ff. 86 H, Nicolaus Cusanus, S. 541. Vgl. auch P (1986), S. 245; T (1968), S. 456ff. 87 T (1968), S. 459.

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that the Greeks called the poet poihthc from poiew, which means, „now to make something out of something, now to create out of nothing,“ as it is said of God in the Scripture: „In the beginning God created the heaven and the earth“. In this way, the linguistic ambiguity of poiew becomes an argument for elevating the poet to a middle station between God and man. 88

Tigerstedt fragt, woher Landino die Idee haben mochte, dass der Dichter nicht nur göttlich inspiriert, sondern gar „a sort of Creator, alike to the Divine Creator himself“ sei, und findet in Marsilio Ficino einen möglichen Ursprung. Dieser nenne weder den Dichter einen Schöpfer noch Gott einen Dichter noch die Welt ein Gedicht, entwickele aber Ideen „about the creative power of man und about his position between other creatures and God which are closely connected with Landino’s views and, indeed, form a background for them“. 89 Es sei plausibel, dass es eine enge Korrelation zwischen Ficinos Erhöhung des Menschen und Landinos Erhöhung des Poeten gebe. „In both cases, the aim is to make the subject of the exaltation as godlike as possible“. 90 Im Folgenden geht Tigerstedt der Frage nach, woher wiederum Ficino diese Ideen haben könne, und kommt auf die sogenannten „Hermetic writings“ zu sprechen. 91 Haug skizziert eine weitere mögliche Traditionslinie. Es scheint ihm, als sei Ficino in der „Idee vom eingeschränkten menschlichen Schöpfertum [. . . ] von Nicolaus Cusanus abhängig“: Der scheinbare Zwiespalt [kreativer Mensch – Imitatio, s. o.] ist beim Cusaner aber nicht nur offenkundig, sondern er wird auch diskutiert und begründend aufgehoben. So hält er zwar mit aller Entschiedenheit an der traditionellen Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Schaffen fest: nur Gott schafft aus dem Nichts, während der Mensch bei seiner Kunst auf vorgegebenes Material angewiesen ist. Aber er scheut sich trotzdem nicht, den Menschen als creator zu bezeichnen. Die Legitimation dafür ergibt sich aus einer Neukonzeption der Imago-Dei-Vorstellung. Wenn der Mensch ein Bild und Gleichnis Gottes ist, dann hat er auch Teil an der göttlichen Kreativität, ja, die Gottesebenbildlichkeit besteht wesentlich in der similitudo divini intellectus in creando. 92

Der Mensch kann diesem veränderten Imago-Dei-Verständnis zufolge „in dem nach Außen gerichteten Erkenntnisakt [. . . ] auch Bild des Schöpfergottes sein, und zwar insofern, als er in diesem Akt die Welt schöpferisch in seinem Geist entwirft“. Dieses Entwerfen sei kein völlig autonomer Akt, sondern ein „bloß abbildhaftes

88 89 90 91 92

Ebd. Ebd., S. 470. Ebd., S. 472. Vgl. ebd., S. 472f. H, Nicolaus Cusanus, S. 541.

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schöpferisches Entwerfen“; im Bereich der Kunst trete er „keineswegs in Gegensatz zum Prinzip der Imitatio“ auf, denn die Nachahmung der Natur versteht sich nicht mehr als Angleichung an den Gegenstand, sondern als produktiver Vorgang, der sich auf eigene Art in Analogie zum Erzeugungsprozeß der Natur vollzieht. Indem dieses menschliche Schöpfertum sich aber seiner Abbildhaftigkeit bewußt wird, stößt es auf die radikale Differenz, die damit nicht die Voraussetzung des Denkens ist und die Welt ausschließt wie bei Eckhart, sondern sich als das Ergebnis des auf die Welt gerichteten Erkennens einstellt. Und wenn der Mensch sich insgesamt als Bild Gottes versteht, dann soll dieses Verständnis wiederum dahin führen, diese Bildhaftigkeit als Differenz zu begreifen. 93

Vor diesem Hintergrund kann Nicolaus Cusanus „bedenkenlos“ vom Menschen als einem „secundus Deus“ sprechen: „Das schöpferische Denken ist kein usurpatorischer Akt, sondern zielt im Gegenteil darauf, die Grenze der menschlichen Schöpferkraft offenbar zu machen, jene Grenze, an der man sich auf Gottes radikal andere, seine absolute Schöpferkraft verwiesen sieht“. 94 Haug bringt auf den Punkt, wie das Verhältnis von Mensch und Gott bei Cusanus zwischen verschiedenen Polen changiert: Das mystische Konzept des Cusaners verhält sich also zur Tradition in sehr eigenartiger Weise: Auf der einen Seite läßt er das platonische Aufstiegsmodell, das über die Welt hinausführt, ebenso zurück wie die Ontologie Eckharts mit ihrer radikalen Differenz zwischen dem Endlichen und dem Ewigen, dies, um stattdessen eine weltzugewandte, aber transzendentale Imago Dei-Lehre zu entwickeln, die einen Spielraum eröffnet für das schöpferische Potential des Menschen. Auf der anderen Seite führt er dieses kreative Spiel jedoch an die Grenze der Analogie zum Schöpfertum Gottes, um dort dann sowohl die radikale Differenz Eckharts wie auch die neuplatonische Idee des Sprungs zurückzuholen. 95

Er konstatiert, dass dieses komplexe Konzept bei Ficino aufgenommen werde, sich aber anders als bei Cusanus „in einem neuplatonisch gesehenen hierarchischen Kosmos“ bewege. Der Aufstieg des menschlichen Geistes führe dabei, wie bei Cusanus, nicht zu Gott, es könne aber, anders als dort, zu einer Berührung kommen (attingere); „es ist also nicht mehr von einer radikalen Differenz die Rede“; wenn so die Analogie von Gott und Mensch „zur Berührung statt zur Differenz führt, [. . . ] ist das klare Similitudo-Konzept des Cusaners platonistisch aufgeweicht“, die Folgen seien „unabsehbar“: 96 93 94 95 96

Ebd., S. 547f. Ebd., S. 548f. Ebd., S. 553. Vgl. ebd., S. 555.

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Das menschliche Denken gewinnt eine größere Autonomie in einem größeren Zusammenhang; das schöpferische Moment kann sich in der Fiktion freispielen, das Gewicht des kreativen Tuns verlagert sich auf die Fantasie; das verschafft den Bereichen der Sprache und der Künste, den bislang nur dienenden Artes, eine bis dahin undenkbare Bedeutung. Und von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einer eigenständigen Ästhetik der Kreativität. 97

Vor diesem Hintergrund kann etwas genauer erfasst werden, wie in den oben zitierten Versen des WvÖ das Verhältnis von Dichter und Gott akzentuiert ist. Gott wird im WvÖ durchaus als ein Dichter vorgestellt. Daneben wird Gottes Wirken aber auch auf andere Weise erfasst; der Erzähler scheint betonen zu wollen, dass Gottes Wirken nicht alleine zu erfassen ist durch eine Analogie von Gott und Dichter: Neben der Apostrophe als schepfer aller aventiure und als derjenige, der alles kan betihten, erscheint Gott z. B. auch als „schepfer aller wunder“ (WvÖ, V. 12.493) oder „schepfer aller dinge“ (WvÖ, V. 13.681). 98 Die Analogie von Dichter und Schöpfergott wird vorsichtig ausgedrückt, die aventue re-Geschichte, die der Erzähler entworfen hat, ist „von diner lere stiur“ (WvÖ, V. 2436) entworfen, der Erzähler nennt sich selbst einen „kunstlose[n] tumme[n] knab[en]“ (WvÖ, V. 2436), und er klassifiziert die von ihm entworfene aventue re als „den sinnen min ze maisterlich“ (WvÖ, V. 2439): Dank göttlicher Inspiration 99 kann das entwerfen der eigenen aventue re analog verstanden werden zum Wirken Gottes; der Erzähler stilisiert sich, wie es bei Cusanus anklingt, als Teilhaber der göttlichen Kreativität. Es wird zu zeigen sein, wie dies mit der Vorstellung des inspirierten Dichters zusammengebracht werden kann. 100 Zweifelsohne ist dabei die absolute Differenz von Gott und Mensch nicht ausgeklammert; der Erzähler des WvÖ ist weit entfernt davon, für sich eine etwaige creatio ex nihilo in Anspruch zu nehmen. Wie bei Cusanus wird in der Analogie die Differenz mitartikuliert. Zugleich aber zielt der Erzähler des WvÖ auf einen weiteren Punkt ab. In der Apostrophe Gottes als „schepfer aller aventue r“ wird deutlich, dass Gott hierarchisch der personifizierten Aventue re übergeordnet ist. Die Tatsache, dass der Erzähler sich bei der Bitte um das Vermögen, gut dichten zu können, direkt an Gott wendet und hier nicht an die personifizierte Aventue re, zeigt, dass sich innerhalb der zweiten Hierarchieebene die Gewichte verschieben können. Der Dichter, der sich von der personifizierten Aventue re emanzipiert, bedarf ihrer Hilfe nicht mehr. Die Lehre Gottes ist dem Dichter direkt, ohne Mittler zugänglich. Dabei ist wohl auch an den Aufstieg des 97 Ebd., S. 555f. 98 F (1930) sieht in den Versen 13.681–13.730 die deutlichste Beziehung seiner Dichtung auf Gott (S. 73). 99 Vgl. hierzu v. a. Darstellungspunkt 1.5, S. 131 ff. 100 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.5, S. 131 ff.

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Menschen bei Meister Eckhart, Cusanus, Ficino und Landino zu denken. Wie der Mensch bei Ficino einen besonderen Stellenwert innerhalb der Schöpfung, wie der Dichter bei Landino eine herausragende Stellung vor anderen Menschen erhält, so beansprucht der Erzähler im WvÖ eine Mittelrolle zwischen Personifikationen und Gott. Wie zu zeigen sein wird, besteht eine besondere Leistung des WvÖ darin, diesen Aufstieg dynamisch zu erfassen. 101 In einem nächsten Schritt erbittet der Erzähler weitere Hilfe, wenn er den „schepfer aller aventiur“ auffordert: „so gip auch lere mir“ (WvÖ, V. 2440). Mit Hilfe dieser lere möchte der Erzähler „die varwe dar gestriche[n] / diu niht schier erbliche / von des sumers hitze, / ich main der wisen witze“ (WvÖ, V. 2441–2444). Nach der mit Gottes Hilfe geglückten inventio bittet er nachfolgend um eine gelungene elocutio. 102 Die „sumers hitze“ legt er als „der wisen witze“ aus – er möchte etwas schaffen, das dem Urteil der Weisen standhalten kann. Diese nämlich „corrigieren“ ihn „mit iren zieren sinnen“ (WvÖ, V. 2445f.). Durch die Wiederholung des Begriffes sin setzt der Erzähler seinen wenig meisterlichen Verstand in Opposition zu den zieren sinnen der Weisen. Ehe er auf die Handlung überleitet, identifiziert sich der Erzähler mit der Erzählung. Die Bitte um göttliche Inspiration ist von der Hoffnung getragen, nicht „vor scham [. . . ] blaiche[n]“ (WvÖ, V. 2447) zu müssen. 103 Das Verb, das in Vers 2442 bezogen wurde auf das Werk, wird hier bezogen auf den Erzähler: Wenn das Urteil der Weisen das Werk erbleichen lässt, erbleicht auch der Erzähler. Die Metaphorik enthält dabei einen logischen Fehler, erneut zeigt sich der ludisch-souveräne Umgang des Erzählers. Während die Hitze in der Tat Farbe ausbleicht, würde diese Hitze das Gesicht eines Menschen röten, nicht erbleichen lassen. So zeigt sich wohl implizit, dass die aufgezeigte Analogie von Erzähler und Erzähltem fehlgreift. 104 In der Zusammenschau der Ergebnisse zu den Paradigmengebeten zeichnet sich in dem souveränen Umgang mit einer theologischen Gebetstradition eine

101 Vgl. WvÖ, V. 11.600–11.606. Siehe hierzu auch S. 80 ff. und die dort platzierte Auseinandersetzung mit den Thesen Dietls. 102 D (1999), S. 96: „In dem Moment, in dem der Dichter seinen ‚Schöpfungsplan‘ ausführt, wählt er zugleich die angemessenen Farben, die colores rhetorici, für sein Werk. Nur diese, nicht der Inhalt der Dichtung, unterliegen der Kritik der wîsen, der großen Dichter“. 103 D (1999) zitiert auf S. 95 lediglich bis Vers 2444 und thematisiert diesen Aspekt folglich nicht. R (1998) nennt zwar auf den Seiten 328 f. den Vers 2447, führt diesen Gedanken jedoch ebenfalls nicht aus. Er bemüht die Stelle im Kontext der Berufungen auf die meister und sieht hier einen Bezug „auf die ethische Dimension des Werkes“. Die von Dietl erkannten Implikationen bez. der Analogie von Gott und Dichter entgehen Ridder hier. 104 Vgl. Darstellungspunkt 1.2.2, S. 80 ff.

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selbstbewusste Position des Erzählers ab. Der Erzähler nimmt die Form des Paradigmengebetes auf und transformiert sie in eine poetologische Reflexion: Er lässt auf der einen Seite ein prototypisches Paradigmengebet durch seinen Kontext ins Leere laufen bzw. lässt zumindest die im Gebet erbetene Hilfe durch Gottes Eingreifen nur neben anderen Formen der Hilfe gelten und stellt sich damit als bestimmenden Faktor über das Geschick des Protagonisten dar. Auf der anderen Seite verknüpft er das Paradigmengebet mit der Bitte um Inspiration und modifiziert es dabei so, dass seine eigene Leistung als Analogon zur Leistung Gottes erscheint. Während er auf diese Weise Gottes Einfluss auf Wildhelm in Frage stellt, erkennt er seine eigene Abhängigkeit von Gott unzweifelhaft an. Der Erzähler des WvÖ trennt damit den Bereich seiner eigenen Dichtung, dessen Schöpfer er ist, ab von der Lebenswirklichkeit, in der er abhängig ist von Gott und seiner Inspiration bedarf. Damit verweist er nachdrücklich auf seine eigene Vermittlungsleistung. Im Laufe der Arbeit soll die These, dass der Dichter im WvÖ als analog zum Schöpfergott schaffend, eingedenk der absoluten Differenz von Gott und Mensch, dargestellt wird, weiter erhärtet werden. Im folgenden Darstellungspunkt soll zunächst untersucht werden, wie es dem Erzähler gelingt, die Trinität sprachlich zu erfassen, um in einem weiteren Schritt das Dynamisierungspotenzial der Aufnahme solcher Reflexionen in einen volkssprachlichen Text in den Blick zu nehmen.

1.1.3 Sprachliches Erfassen der Trinität In den Gebeten spricht der Erzähler die Trinität oder eine ihrer Ausprägungen an 105 und versucht, das Geheimnis der Einheit in der Dreiheit zu erfassen und zu illustrieren. 106 Er wendet sich damit dem wohl komplexesten christlichen Dogma zu, dessen sprachliche Bewältigung in deutscher Sprache erst im Laufe des 13. Jahrhunderts möglich wurde. 107 Wie zu zeigen sein wird, geht der Autor des WvÖ

105 Einige Beispiele: „væterlicher Got“ (WvÖ, V. 931), „Alter vater, junger Christ“ (WvÖ, V. 1095), „Vater, Sun [. . . ] / mit dinem Gaist gedriet / namen!“ (WvÖ, V. 10.424 ff.), „Vater, Sun, din Gaist“ (10.438); „schepfer aller aventue r“ (WvÖ, V. 2435), „schepfer aller wunder“ (WvÖ, V. 12.498), „schepfer aller dinge“ (WvÖ, V. 13.681). Auch Liupolt ist die Trinität vertraut. Im Gebet an den Heiligen Johannes bittet er diesen, seinen Wunsch „gein der trintat“ vorzutragen, sodass „der goe tlich rat / mir gnade erzeige durch die dri / namen, den da wonet bi / aller mugent underbint“ (WvÖ, V. 207–211). 106 Vgl. F (1930), S. 70. 107 Vgl. R, Kurt (1984): Die trinitarische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik. In: Volker Mertens (Hrsg.): Kurt Ruh: Kleine Schriften. Bd. II. Scholastik und Mystik im Spätmittelalter. Berlin, New York: de Gruyter, S. 14–45, hier S. 19. Im Folgenden zitiert als R (1984).

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dabei souverän mit theologischen Erkenntnissen um, und zwar auf eine Weise, die die Potenzialität von Sprache aus theologischen Kontexten in den Bereich der Volkssprache transferiert und dadurch deren Innovationspotenzial fruchtbar macht. 108 In lateinischer Sprache ist das Dogma der Trinität im Symbolum Athanasii „nüchtern[ ]“ und „um Klarheit bemüht“ 109 formuliert: (3) Fides autem catholica haec est, ut unum Deum in trinitate et trinitatem in unitate veneremur, (4) neque confundentes personas, neque substantiam seperantes. (5) Alia est enim persona patris, alia filii, alia spiritus sancti: (6) Sed patris et filii et spiritus sancti una est divinitas, aequalis gloria, coaeterna maiestas. (7) Qualis pater, talis filius, talis et spiritus sanctus: (8) Increatus pater, increatus filius, increatus spiritus sanctus. 110

Um die Spezifika der trinitarischen Spekulation im WvÖ erfassen und die Funktion verstehen zu können, soll kurz skizziert werden, welchen Stellenwert die Trinität in anderen mittelhochdeutschen Versromanen hat. 111 Vor allem in Legendenromanen wird die Trinität in Prologgebeten genannt. In diesem Kontext wird immer wieder auf den Prolog des „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach verwiesen, in dem Gott apostrophiert wird als „dû drî unt doch einer“ (Willehalm, V. 1,2). 112 Wolfram bleibt hier „im Rahmen allgemeiner Formeln“. 113 Rudolf von Ems geht über die Nüchternheit des Symbolum Athanasii 114 und die Formelhaftigkeit des Willehalm-Prologs hinaus, wenn er im Gebet des Kaisers in „Der guote Gêrhart“ 115 die Dreiheit in der Einheit mit Hilfe des Verbs heften und des Nomens haft erfasst:

108 Vgl. hierzu v. a. Kapitel 2, S. 160 ff. dieser Arbeit. 109 L (1984), S. 195. 110 Zitiert nach den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, S. 28. Vgl. auch L (1984), S. 195, der darauf verweist, dass dieses Glaubensbekenntnis neben dem „Symbolum apostolorum“ und dem „symbolum constantinopolitanum“ im Mittelalter Geltung gehabt habe. 111 Nicht mehr berücksichtigt werden konnte die Habilitationsschrift von Anja Becker: Remetaphorisierungen. Der Heilige Geist in der deutschen Literatur des Mittelalters, Habil. Schrift. masch., München 2014. 112 Vgl. L (1984), S. 312. 113 R (1984), S. 20. Ruh nennt auch P 817, 13 ff. 114 Vgl. L (1984), S. 195. 115 Der guote Gêrhart von Rudolf von Ems. Herausgegeben von John A. Asher. 2., rev. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1971.

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die drî krefte hânt mit kraft geheftet sich in einen haft, des kraft mit solhen kreften stât daz nimmer mê sîn kraft zergât. (Der guote Gêrhart, V. 321–324) 116

Lutz meint richtig, Rudolf erwecke „den Eindruck einer schier unauflösbaren Verflechtung der Kräfte“ 117 und benutzt in seiner Analyse das Bildfeld, das im WvÖ explizit bemüht wird, um das Geheimnis der Trinität sprachlich zu erfassen. Der Erzähler des WvÖ nämlich weiß, dass in ihr drei Entitäten „in ain“ „geflohten“ (WvÖ, V. 10.439) bzw. „gestricket“ (WvÖ, V. 19536) sind. 118 Die Verwendung dieses Bildfeldes zur Erfassung der Trinität ist singulär. Geläufig ist es für die Beschreibung der (auch körperlichen) Verbindung von Liebenden. In fast identischer Wortwahl drückt Ryal in einem Brief seine Minne gegenüber Aglye aus (vgl. WvÖ, V. 6708f.). Auch im „Trojanischen Krieg“ werden Liebende als ineinander verflochten beschrieben (vgl. Troj. Krieg, V. 9142–9147; 29.374–29.377). Johann überträgt also ein im Kontext der Minne geläufiges Bild auf das Geheimnis der Einheit in der Dreiheit und findet damit eine Möglichkeit, dieses anschaulich darzustellen. Der Erzähler des WvÖ wendet dabei eine Strategie im Rahmen seiner Trinitätsspekulation an, die sonst bei descriptiones geläufig ist. Unfähigkeitsbeteuerungen, Unsagbarkeitstopoi, Bescheidenheitstopoi und die Mahnung, ein dummer Mensch solle von solchen Dingen nicht lange sprechen (vgl. WvÖ, V. 10.443–10.446), stehen der Erläuterung theologischer Geheimnisse (vgl. WvÖ, V. 10.446–10.457) gegenüber. Anders etwa als bei der Zelterbeschreibung im Erec (vgl. Erec, V. 7264ff.), der Unsagbarkeitstopoi vorangehen, um folgend die descriptio auszugestalten, bedeutet diese Strategie bezogen auf die Trinitätsspekulation ein qualitatives Mehr. Das poetologische Spiel, das bezogen auf die Zelterbeschreibung im Erec als Fiktionalitätssignal allgemein anerkannt ist, 119 wird ausgeweitet auf das wichtigste theologische Geheimnis: Während im Erec der Erklärung des Erzählers, niemand

116 Ebenso in V. 409–412: ditz ist diu drîvaltige kraft / diu sich mit kreften hât behaft / zuo dîner süezen gotheit. (Vgl. L (1984), S. 233). 117 L (1984), S. 195. 118 Die entsprechenden Verse lauten: „Vater, Sun und hailig Gaist, / in ain gestricket“ (WvÖ, V. 19535 f.) und „geflohten in ain ainic ich / di dri namen habnt sich“ (WvÖ, V. 10.439f.) – bezogen auf das Substantiv name sei auf die Parallelen im Gebet des Kaisers im „Guoten Gêrhart“ (V. 304 f.) und in „Barlaam und Josephat“ (V. 64 f.) hingewiesen. 119 Vgl. R, Klaus (2003): Die Fiktionalität des höfischen Romans im Horizont des Vollkommenen und Wunderbaren. In: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven. Tübingen: Niemeyer, S. 23–43, hier S. 29–33, im Folgenden zitiert als R (2003); H (2013), S. 93 ff. u. a.

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könne Pferd und Zelter beschreiben, ebendiese descriptio ausgestaltet wird, gibt der Erzähler im WvÖ vor, niemand könne die Trinität sprachlich erfassen, um darauf folgend eine sprachliche Form für sie zu finden. Dass ebendieses Geheimnis aufgenommen und verarbeitet wird, ist sicher nicht zufällig, eröffnet doch gerade die spekulative Mystik im Ringen um eine Sprache, die dem Göttlichen angemessen ist, einen Raum für sprachliche Kreativität. 120 Der Versuch, christliche Lehre erstens aus dem Lateinischen zu übersetzten und zweitens sprachlich die Geheimnisse des Glaubens zu erfassen, bedarf eines kreativen, innovativen Umgangs mit der deutschen Sprache. Den Mystikern gelingt dieser Umgang, und der Erzähler des WvÖ partizipiert an der Spekulation wichtiger christlicher Lehren und zeigt sich dabei kreativ. Es kristallisiert sich dabei eine spezifische Ausprägung jener „Konstruktion von Autorschaft mit Hilfe religiöser Deutungsmuster“ heraus, die laut Klein noch „nicht systematisch in Augenschein genommen ist“, 121 für die die Tübinger Arbeitsgruppe des Graduiertenkollegs „Religiöses Wissen im vormodernen Europa“ mit „Transfers und Transformationen religiösen Wissens“ vielversprechende Begriffe vorschlägt. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, eine komplette Systematik zu entwerfen. Im Rahmen der Frage, wie das Verhältnis von Gott und Dichter akzentuiert ist, spielt diese Konstruktion von Autorschaft wiewohl eine zentrale Rolle. In zwei Passagen, den Versen 11.587–11.602 sowie 14.301–14.327 setzt sich der Erzähler des WvÖ ausführlich mit der Trinität auseinander. Da im Folgenden auch strukturelle Besonderheiten der beiden Passagen aufgezeigt werden, sollen sie als Ganzes zitiert werden. Gedriet in ainem strange und auch in drie gange, ieglich tail gewaltic und doch ain valtic, puncte in ainem cirkel und ain ewig wirkel sin selbs und daz von im gat,

120 Haug geht davon aus, dass sich die mittelhochdeutschen Dichter gegen eine Barriere der Kirche durchsetzen müssen (vgl. H (2001); Haug, Walter (2006): Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. In: Gerd Dicke et. al (Hrsg.): Im Wortfeld des Textes. Berlin, New York: de Gruyter, S. 51. Im Folgenden zitiert als H (2006); H (2008)). Hier zeigt sich, dass durch Transfer und Transformation religiöser Schemata Kreativität erst ermöglicht wird (vgl. hierzu etwa K (1993), Ridder /P (2013), darin besonders H (2013)). Ähnlich ermöglicht ja erst das Zusammenkommen von antikem und christlichem Gedankengut die Idee des schöpferischen Menschen. Vgl. Abschnitt 1.5, S. 131ff. 121 K (2006), S. 63.

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des alten, jungen, gaistes, hat gewundert aelliu wunder, dest drilich sich doch under und in der magt wammen vielt, diu din geschaft was und doch wielt sines hohen zepters, in im selben, do ers alles kan betihten, der muo z min sinne rihten

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(WvÖ, V. 11.587–11.602)

Ich schlage die folgende syntaktische Struktur vor: A A1

Vers 11.587: Gedriet Vers 11.587–11.590

B C

Vers 91 Vers 92

C1 C2 C3

Vers 93: sins selb Vers 93: und daz von im gat Vers 94

C 3n C4 C 4a C 4b C 4bn1 C 4bn2 A2 D E

Gedriet ist Kopf zu A1 und A2 Die Verse bilden eine Einheit; Ineinander von Dreiheit und Einheit Mittelpunkt und Umkreis Wirkel ist Kopf für die folgenden Genitivfügungen C1–C4

Mit „hat“ in Vers 93 beginnt ein Nebensatz, bezogen auf C3 Vers 95 Nebensatz Vers 96 f.: des drilich [. . . ] vielt Ich folge hier den Hss. Gi, Ha, Hb und L und lese des statt dest. Vers 96 Vers 97 Von C 4b hängen zwei Nebensätze ab Vers 98 Nebensatz 1 Vers 99 Nebensatz 2 Vers 11.600: in im selben Bezieht sich auf „gedriet“ Vers 11.600 f.: do ers / alles kan Eigenschaft der Trinität, ersinnen / dichten zu betihten können Vers 11.602 Aus D folgende Bitte um Unterstützung bei der eigenen Dichtung (Art Paradigmengebet)

Tabelle 1.1: Quelle: Eigene Darstellung

In den ersten vier Versen des oben zitierten Gebets wird die Gleichzeitigkeit Gottes Dreiheit und Einheit umschrieben, die auch stilistisch veranschaulicht wird. So umrahmen die Aussagen von der Einheit (gedriet in ainem strange; und doch ain valtic) die der Dreiheit (und doch in drien gange / ieglich tail gewaltic), so-

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dass der Eindruck entsteht, die Dreiheit umschließe drei Einheiten. Es wird damit das Bild aufgegriffen, das durch die Verwendung der Verben flehten und stricken evoziert wird. Die Trinität wird erfasst als Einheit, deren drei Konstituenten erfassbar bleiben können. Im darauffolgenden Bild des Punktes in einem Kreis 122 wird zunächst die Einheit Gottes betont. Ein Kreis erlaubt keine Rückschlüsse auf die Einzelkonstituenten der Trinität, 123 vielmehr wird Gottes Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit in den Blick genommen. 124 Aufgenommen ist damit ein Bild, das in „ungemein zahlreichen Variationen [. . . ] in der Mystik aller Zeiten [. . . ] als Vergleichsobjekt oder als Metapherngut verwendet“ 125 wird. Verbreitet ist die Vorstellung Gottes als eines Kreises, dessen Umkreis (cirkel) nirgendwo und dessen Zentrum (puncte) überall sind; 126 es wird ein im Rahmen der „Deutschen Mystik“ wohl verbreitetes Bild zitiert, 127 dessen Hinweis auf die Unendlichkeit Gottes im nächsten Vers explizit ausgesprochen wird. Gott wird apostrophiert als „ewig wirkel“ – er ist das ewig Hervorbringende. 128 Vier Genitivfügungen sind Mitspieler des Kopfes wirkel: Die Trinität ist ewig Hervorbringende erstens ihrer selbst, zweitens dessen, was von ihr ausgeht, drittens der Einzelentitäten der Trinität und viertens der Dreiheit. Mit unterschiedlicher Nuancierung wird außer in Punkt 2 die Selbsthervorbringung der Trinität ausgedrückt 129 und damit die innertrinitarischen Vorgänge, das „Kernstück der Dreifaltigkeitslehre“, 130 denen sich

122 F (1930) bemerkt dieses Bild, konstatiert in einer Fußnote (S. 71, Fußnote 4), dass es im WvÖ häufig wiederkehre (die Angabe des Verses 16.466 ist falsch) und verweist auf L (1926), S. 157–159 (L, Grete (1966): Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg. Sonderausg., unveränd. reprograf. Nachdr. d. Ausg. München, 1926. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Im Folgenden zitiert als L (1966)). 123 Nicht unüblich ist, die Trinität als drei Kreise darzustellen, so z. B. bei Dante oder Seuse (vgl. LexMA 8 (2000), Sp. 1216–1218). 124 Vgl. E, Michael (1997): Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik. 2 Bde. Paderborn: Schöningh., hier Bd. II, S. 174. Im Folgenden zitiert als E (1997) I bzw. II; LexMA 8 (2000), Sp. 1216–1218. 125 L (1966), S. 157. 126 Vgl. E (1997) I, S. 49; Küper, Barbara (1986): Diskussionsbericht. In: Kurt Ruh (Hrsg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984. Stuttgart: Metzler, S. 527–536, hier S. 522; L (1966), S. 157–159 mit zahlreichen Beispielen aus mitteldochdeutschen Predigten aus dem Bereich der Mystik. 127 Zu beachten ist, dass ein Kreis um einen Punkt das alchemistische Zeichen für Gold ist. Hier wird womöglich das im Prolog ins Bild gebrachte Gold zitiert. 128 Auch diese Formulierung ist wohl singulär. Im Lexer wird als einzige Belegstelle der WvÖ angegeben. Vgl. Lexer, Matthias (1872–1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 3. Leipzig: Hirzel, Sp. 928. Im Folgenden zitiert als Lexer (1872 ff.). 129 Vgl. auch die Verse 1114 f.: „durch din niwe jugent, / da mit du hast gejunget dich!“. 130 R (1984), S. 20.

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die deutsche Sprache erst im 13. Jahrhundert zu nähern beginnt und das gerade in den Schriften der Mystik zur Entfaltung kommt. 131 Der Bezug der Trinität auf sich selbst und das Hervorbringen in sich selbst wird sodann erweitert auf die Jungfrau Maria. Syntaktisch dadurch eng zueinandergeführt, dass das Reflexivpronomen und Marias Mutterschoß als adverbiale Bestimmungen gemeinsames Subjekt (drilich) und Prädikat (valten) haben, wird die Nähe Marias zu der Trinität veranschaulicht. Dem Einhüllen der Trinität in den Mutterschoß Marias wird damit die Bedeutung beigemessen, die das Ineinanderfalten der Trinität in sich selbst hat. Wie in der tabellarischen Übersicht ersichtlich und wie für die Verse 11.587–11.590 gezeigt, wird auch hier die Verflechtung der Trinität (mit Maria) 132 durch die Syntax veranschaulicht. 133 Marias Beziehung zur Trinität wird sodann in ihrer Komplexität dargestellt; Maria ist Geschöpf der Trinität und hat doch Macht über deren Machtinsignien. 134 In Vers 11.600 wird mit der Präposition „in“ an Vers 11.587 angeknüpft. Erneut wird so auf die Referenz

131 Vgl. ebd., S. 29f.; E (1997) I, S. 166, 178 ff. Gerade David von Augsburg und Meister Eckhart zeigen großes Interesse an der innertrinitarischen Differenzierung. „Zum einen wird dem Werden der drei Personen in Gott über die Metaphern ûzbrechen, ûzmelzen, gân, ûzgân, gebern, giessen, vliessen die Bedeutung einer räumlichen Distanzierung gegeben. Indem andererseits im Sinne einer paradoxen Identität für die zweite und dritte trinitarische Person trotz ihrer Entfernung deren andauerndes inneblîben im Ursprung des göttlichen Vaters behauptet wird, wird gegen die räumlichen Merkmale der Bildlichkeit geltend gemacht, daß der innertrinitarische Prozeß keinen Fortschritt im Sinne einer Distanz zum Ausgangspunkt kennt [. . . ]: Gottes ‚înganc ist sîn ûzganc‘ [. . . ], ‚sin inneblîben ist sin ûzgebern‘“ (E (1997) I, S. 180). Aufschlussreich ist ein Blick auf Eckharts Schöpfungsbegriff, der ergänzt, dass Gott im Anfang alles „in sich selbst“ geschaffen hat, also ebenfalls auf die Selbstbezogenheit Gottes rekurriert – und damit gleichzeitig auf das allumfassende Wesen Gottes, insofern es außerhalb Gottes nichts gibt (vgl. L, Otto (2004): Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 318 f. Im Folgenden zitiert als L (2004)). „Die Menschwerdung Gottes als Paradigma von Selbstentäußerung ist das Werk der Trinität. Gott ist ein Prozeß des Gebärens und Geborenwerdens; Leben, das ständig sich mitteilt und in dieser Mitteilung bei sich bleibt“. L (2004), S. 345. Siehe auch Eckhart II, 340, 4: „got gebirt sich ûz in selben in sich selben und gebirt sich wider in sich“ (vgl. E (1997) I, S. 181). 132 In der Marienverehrung des Mittelalters gibt es die Vorstellung, Maria sei das 4. Element der Trinität (vgl. G, Marzena (1999): Das Bild Mariens in der deutschen Mystik des Mittelalters. Bern [u. a.]: Lang (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 29), S. 518. Im Folgenden zitiert als G (1999). 133 Ähnlich stellt Lutz für Rudolfs von Ems „Der guote Gêrhart“ fest, dass er „die Unbegreiflichkeit des göttlichen Wesens, der Verflechtung von Einheit und Dreiheit, bis in den Satzbau hinein Rechnung getragen“ hat (L (1984), S. 232). 134 Ebendieses Paradoxon wird ausgedrückt, wenn es von ihr heißt, dass sie „ze tohter und ze muo ter“ (WvÖ, V. 10.503 f.) geboren wurde.

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D A  E

der Trinität auf sich selbst hingewiesen – Gott ist verdreifacht in sich selbst –, ehe eine Eigenschaft Gottes genannt wird, auf der die Hoffnung des Erzählers basiert, Hilfe bei seinem Dichten zu erhalten: Der Gott, der „alles kan betihten, / der muo z min sinne rihten“. Welche Implikationen diese Engführung von Dichter und Gott hat und welche Traditionen damit aufgenommen sind, wurde im Darstellungspunkt 1.1.2 beleuchtet. Auch wurde bereits darauf verwiesen, dass das Gebet an die Form eines Paradigmengebetes angelehnt ist. 135 Es wurde indes noch nicht untersucht, welche Implikationen damit einhergehen, dass der Erzähler gleichsam als Folge der Erfassung der Trinität um Inspiration bei seiner eigenen Dichtung bittet. Auf den ersten Blick zeichnet sich kein verbindendes Moment von Trinitätsspekulation und Inspirationsbitte ab: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Um diese Frage zu beantworten, sei zum einen auf theologische Ansätze bei Meister Eckhart verwiesen. Zum anderen soll auf poetologische Passagen des WvÖ Bezug genommen werden, die bisher noch nicht thematisiert worden sind. 136 Nimmt man beides zusammen, so wird offenbar, wie Trinitätsspekulation und Inspirationsbitte miteinander zusammenhängen. Ein Schlüssel zum Verständnis der Verknüpfung von Trinitätsspekulation und Inspirationsbitte findet man bei Meister Eckhart, der „den innertrinitarischen Bereich und den Bereich der Seele identisch setzt“: „Der Vater gebiert seinen Sohn in der Seele ganz so wie in sich“. 137 Für Eckhart also gibt es eine Gottesgeburt in der Seele des Menschen, Gott und Seele sind eins: 138 Die Seele wird mit Gott eins und nicht vereint, d. h. es ist keine additive Einheit wie bei Dingen, bei der jedes doch seine Selbstständigkeit auch in der Zusammenstellung behält. Es ist auch keine Einheit der Gemeinschaft, bei der zwei Individualitäten zusammenkommen. Gott ist vielmehr so eins mit der Seele, daß er ihr nichts von sich vorenthalten kann, ohne selbst aufzuhören, Gott zu sein. 139

Der erste Schritt von der Trinitätsspekulation zur Bitte um Inspiration führt also mit Meister Eckhart von Gott zur Seele des Menschen. Wie aber hängt die Seele oder der Innenraum des Menschen mit der Inspiration zusammen? Dieser Zusammenhang wird im WvÖ an anderer Stelle wiederholt expliziert, wenn der 135 Vgl. S. 41ff. dieser Arbeit. 136 Diese werden ausführlich im Darstellungspunkt 1.5.2, S. 134 ff. in den Blick genommen. 137 L (2004), S. 346. Ein entsprechender Satz in einer Predigt Eckharts wurde übrigens als der Häresie verdächtig befunden (vgl. ebd.). Vgl. auch Haug, Nicolaus Cusanus, S. 544ff., der vermutet, dass Eckhart Einfluss auf Cusanus hat, der wiederum den Dichter einen creator nennt. Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.1.2, S. 41 ff. dieser Arbeit. 138 Vgl. K, Udo (2003): „Gottes Sein ist mein Leben“. Philosophische Brocken bei Meister Eckhart. Berlin, New York: de Gruyter, S. 25 ff. Im Folgenden zitiert als K (2003). 139 H, Rainer (1986): Trinität und Denken. Die Unterscheidung der Einheit von Gott und Mensch bei Meister Eckhart. Bern [u. a.]: Lang, S. 51.

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Erzähler darauf verweist, dass die aventue re-Geschichten in ihm selbst bereitliegen, dass also die Inspiration in ihm selbst liegt, eine Vorstellung, die es freilich auch in der Antike gibt: Aristoteles stellt fest, „die handwerklich-künstlerischen Schöpfungen [. . . ] würden von der Form in der Seele ihres Urhebers bestimmt“, 140 Cicero führt in Orator 2,7 f. aus, „jeder Künstler trage in seinem Innern eine Vorstellung des Schönen, nach welcher er seine Werke schaffe“. 141 Abweichend von der platonischen Vorstellung ist die Idee bei Aristoteles und Cicero also „aus dem transzendenten Bereich ins Innere des Künstlers verlegt. Durch eben diese Verlegung gelangt sie aber auch erst zur Möglichkeit, den schöpferischen Charakter der künstlerischen Leistung anzuerkennen“. 142 Der Erzähler des WvÖ spricht von den „rim“, die „min sin bedaht / in des hertzen slozzen“ (WvÖ, V. 126f.), „beslozzen“ seien aventue re-Geschichten „innerhalb des mundes tue r“ (WvÖ, V. 620–622), zwischenzeitig erklärt er, die innere Inspirationsquelle sei versiegt, „so ist ot mir des sinnes vaz“ (WvÖ, V. 1506) und stellt fast zum Ende der Erzählung fest: „in mir ist noch beslozzen / vil wilder aventue r“ (WvÖ, V. 19.478f.). 143 Erinnert sei an eine weitere Stelle bei Eckhart: Das vünkelîn der vernünfticheit, daz ist daz houbet in der sêle, daz heizet der „man“ der sêle und ist als vil als ein vünklin götlîcher natûre, ein götlich lieht, ein zein und ein îngedrücket bilde götlicher natûre. 144

Nimmt man die beiden Aspekte zusammen, dass (1.) Gott und Seele des Erzählers identisch sind und (2.) die Quelle der Inspiration im Erzähler selbst liegt, wird die göttliche Inspiration vorgestellt als Teilhabe des dichterischen Geistes am Göttlichen oder, anders gewendet, die Geburt des Göttlichen im Geist des Dichters. 145 Mit der Vorstellung der Identität von Gott und Seele kann Inspiration damit zugleich als transzendent und von innen kommend aufgefasst werden. Auf diese Weise ist stringent zu deuten, warum die sprachliche Erfassung der Trinität 140 W, Fritz (1957): Die antike Kunsttheorie und das Schöpferische. In: Museum Helveticum 14, S. 39–49, hier S. 41. 141 Ebd., S. 40. 142 Ebd., S. 41. 143 Vgl. Darstellungspunkt 1.5.2, S. 134 ff. 144 K (2003), S. 28; das Zitat entstammt Pr. 37: Vir meus servus tuus mortuus est, DW II, 211,1ff. 145 Haug konstatiert, dass bei Wolfram von Eschenbach „Gott wie in der Natur so auch im Innersten des Menschen [wirke], der dadurch zu seinem dichterischen Werk fähig wird“, und gibt zu bedenken, dass man von „der Idee des poeta creator [. . . ] jenes poetologische Konzept fernhalten [sollte], das dem Dichter über die göttliche Inspiration quasi-schöpferische Fähigkeiten zuschreibt“ (H (1993), S. 8, Anm. 20). Es ist m. E. zielführender, im Transfer religiöser Schemata nach Wurzeln des poeta creator zu suchen, als die Konzepte künstlich zu trennen.

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an der oben zitierten Stelle in direktem Zusammenhang steht mit der Bitte um Inspiration. Diese Art transzendentaler Inspiration wird leicht verändert ins Bild gebracht, wenn der Erzähler seine schue zzel in Marias kammer auffüllen möchte: Kue niginne, gammer! wis mich zu der kammer mit diner wishait slue zzel, daz mir gnaden schue zzel dar inne gefue llet werde, daz ich uf dirre erde sinne kunst so schepf daz mich iht beclepf der ewiclich tot da von!

(WvÖ, V. 14.409–14.417) 146

Für das Verständnis der schöpferischen Potenz hat dies weitreichende Konsequenzen. Wenn man nämlich mit Meister Eckhart davon ausgeht, dass Gott und Seele des Menschen eins sind, so ist zwischen Inspiration von außen und Inspiration von innen überhaupt nicht mehr zu trennen. Wenn der Erzähler des WvÖ also in Anspruch nimmt, in ihm lägen noch viele aventiuren bereit, hat das nichts mit der Genieästhetik gemein, wie man womöglich vermuten könnte. Sein dichterischer Entwurf kommt zwar aus ihm selbst, aber dadurch – da Gott und Seele eins sind bzw. dadurch, dass seine gnaden schue zzel in Marias kammer gefüllt worden ist – zugleich von Gott und stellt keine autonome Hervorbringung dar. 147 Wie oben gezeigt, hält dies den Erzähler indes nicht davon ab, den ludisch-souveränen Umgang mit Unfähigkeitsbeteuerungen, wie es ihn beispielsweise bei Hartman gibt, auf seine Trinitätsspekulation zu übertragen: Er weitet ein poetologisches Spiel auf ein christliches Dogma aus. In der zweiten Passage, in der das Geheimnis der Trinität in den Blick genommen wird, den Versen 14.301–14.327, wird die Spekulation über das Wesen der Trinität verbunden mit der aristotelischen Trias materie – forme – privatio und damit versucht, in der Naturphilosophie eine Erklärung für das Geheimnis der Trinität zu finden. 148 146 Vgl. S. 141ff. dieser Arbeit. 147 Vgl. Darstellungspunkt 1.1.2, S. 41 ff. sowie Darstellungspunkt 1.5.3, S. 145 ff. 148 Roling zeigt, dass der 1541 gestorbene Paulus Ritius (vgl. Roling, Bernd (2007): Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritius. Tübingen: Niemeyer, S. 1; im Folgenden zitiert als R (2007)), der, zunächst jüdischen Glaubens, zum Christentum konvertiert (vgl. S. 2.), die aristotelische Trias von materie, forme, privatio aufnimmt, um die Trinität zu erklären und sogar eine Analogie beider Trias aufzeigt (vgl. 262 ff.). In einer Fußnote stellt er fest, dass seit „der ‚natürlichen‘ Theologie des 12. Jahrhunderts [. . . ] versucht [wird], die innere Notwendigkeit der Trinität anhand eines Rückgriffs auf die Zusammensetzung der körperlichen Substanz zu belegen“. Als Beispiele

C I

Ach Got, was wirde hat din kraft gestempfet in sin selbs geschaft, daz nu von drien dingen kan zesamen bringen din ewig, sin natue rlich wesen: daz ist, als ich ez han gelesen, materie, forme, privacio. diu driu ain wesen machent so: diu materie geformet wirt, swaz der gestalt enbirt der im gefueget ist denne an, ditz merket wol ain wiser man daz ez denne ist beraubet: swer nu sin niht gelaubet, der vrage Aristotelem! ælliu dinc sint, des ich wæn, sus also erkennet, dar nach man ieglichs nennet. Altissime, sus hat din wesen ain gestalt im uz erlesen, daz uns den sinnen virret: din drivaltikait sich wirret in zirkels wise dar umme, daz hie min sinne tumme niht kunnen ergrunden, dins urspringes unden ze wit sint geflozzen.

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(WvÖ, V. 14.301–14.327)

Vergleicht man die Verse mit den Versen 11.587–11.602, so fällt das höhere Maß an Klarheit auf. Die Verse lassen sich deutlich in voneinander abgegrenzte Abschnitte einteilen. Syntaktische Einheiten stimmen überein mit den Versgrenzen. Zunächst wird das Thema des Gebets genannt, der Versuch einer Erklärung, dass in Jesus Christus natue rliche (menschliche) 149 und ewige (göttliche) Natur nennt er u. a. Alane de Lille und Nikolaus von Amiens und konstatiert, dass „in diesen Modellen jedoch die compago von Form und Materie als drittes Prinzip [gilt], und [. . . ] eine erkenntnistheoretische Begründung“ fehle (S. 262). 149 Wie genau dabei auf die Wahl der Begriffe geachtet wird, zeigt sich in Vers 14.305, in dem nicht menschlich wesen, sondern natue rlich wesen neben dem ewigen steht. Christus nämlich ist in theologischem Verständnis nicht menschliche Person. Er „hat bei seiner Inkarnation zwar die menschliche Natur, aber keine menschliche Person angenommen. ‚Mensche unde menscheit hât underscheit. Swenne man sprichet mensche, sô verstêt man eine persône; swenne man sprichet menscheit, sô verstet man aller menschen nâtûre. Die meister sprechent, waz nâtûre sî. Si ist ein dinc, daz wesen enpfâhen mac. Dar umbe einegete got

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D A  E

A B

Vers 14.301 f. 14.303–14.305

C D E F G H I

14.306–14.308 14.309–14.311 14.312 f. 14.314 f. 14.316–14.318 14.319–14.321 14.322–14.327

Form; Bildfeld des Stempelns Nebeneinander von göttlicher und menschlicher Natur in Gott – Sohn; Differenzierung durch Personalpronomina der zweiten und dritten Person Singular. Nennung der Trias materie, forme, privatio Erfassung der Trias in deutscher Sprache Bezug zum Rezipienten; Wortspiel mit lat. privatio Topische Affirmation der Aussage durch die Quelle Erkenntnistheoretischer Wert der Trias Bezug der Trias auf die göttliche Trinität Trinität; Verneinung, das Geheimnis der Trinität erfassen zu können; Fließ-Metaphorik

Tabelle 1.2: Quelle: Eigene Darstellung

miteinander verbunden sind. Der apostrophierte Got wird dafür gepriesen, dass seine kraft wirde in sin selbs geschaft gestempft hat. Erinnert sei daran, dass Meister Eckhart das „vünkelîn der vernünfticheit“ unter anderem „ein îngedrücket bilde götlicher natûre“ nennt. 150 Eine Metapher, mit Hilfe derer Eckhart die Seele sprachlich erfasst, wird hier bemüht, um die Trinität zu umschreiben. Erneut wird auf die konzeptionelle Übereinstimmung von Gott und Seele abgehoben. In der ursprünglichen Bedeutung von wirde wird das folgende Sprechen über die forme vorweggenommen. 151 Anders als in den Versen 11.587–11.602, in denen zuvorderst die Einheit der Dreiheit betont wurde, wird hier durch das „Subjekt-ObjektSchema“ zwischen Gott – Vater und Gott – Sohn differenziert. 152 Die Verwendung des Verbs stempfen, das ein in der mittelhochdeutschen Mystik oft verwandtes Bild-

die menscheit an sich unde niht einen menschen‘ (Pf. 250, 18 ff.) Christus nahm bei seiner Menschwerdung die ‚menscheit‘, die allen Menschen gemeinsame Natur, ‚niht einen menschen‘, ‚non personam hominis‘ an. Eckhart versteht also unter Natur nicht die individuelle, vollständige menschliche Natur, die selbst schon Hypostase wäre, sondern die allgemeine Wesenheit. Natura ist nicht ‚quod est‘, sondern ‚id quo aliquid est id quod est‘; sie ist etwas ‚daz wesen enpfâhen mac‘, selbst ohne Existenz, aber unmittelbares Korrelat der Existenz“ (Langer 2004, S. 346 f.). 150 S. o. mit Bezug auf K (2003), S. 28 und Pr. 37: Vir meus servus tuus mortuus est, DW II, 211,1 ff. 151 Vgl. L (1872 ff.), Bd. 3, Sp. 926. 152 Egerding zeigt dieses Schema anhand der Predigten Meister Eckharts. Bei bestimmten Verben „fungiert Gottvater [. . . ] als Hervorbringer im Unterschied zum Sohn als Hervorgebrachtem bzw. dem Hl. Geist, der von Vater und Sohn hervorgebracht wird“. (S. 180).

C I

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feld aufgreift, 153 zeigt die Differenz von aktivem Gott-Vater und passivem GottSohn. Unterstützt wird diese Differenz durch die Verwendung zweier unterschiedlicher Personalpronomina. Der Hervorbringer wird mit dem Personalpronomen der zweiten Person Singular (din), der passive Teil mit dem Personalpronomen der dritten Person Singular (sin) angesprochen. 154 Die Differenzierung mit Hilfe der Personalpronomina wird wiederholt und eindeutig in ihrem Bezug auf Gott-Vater und Gott-Sohn, wenn in Vers 14.305 „din ewig“ neben „sin natue rlich wesen“ gestellt wird. Freilich ist die Differenzierung der Trinität in Personen keine singuläre Erscheinung. Schon laut Athanasianum besteht die Trinität aus drei personae, jedoch nur aus einer substantia. 155 Die Analogie von trinitarischen und grammatischen personae, der die Unterscheidung in Gott-Vater und Gott-Sohn anhand von (grammatischer) zweiter und dritter Person zugrunde liegt, wird etwa von Notker Labeo (Teutonikus) 156 reflektiert: Und so heißen auch in der Grammatik „ich“, „du“, „er“ 3 Personen, weil nämlich mit ihnen alle Darstellungen und Unterschiede („discreationes“) sinnvoll ausgedrückt werden. So also ist entstanden und analogisch übertragen worden der Ausdruck der personarum auf die Beziehung der Verschiedenheit innerhalb der Heiligen Trinität. (Schriften 2, 640) 157

In der Differenzierung zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn auf Basis der Unterscheidung in grammatische zweite und dritte Person ist damit ein gelehrter Reflexionshorizont aufgenommen. Erneut erweist sich der Autor des WvÖ als äußerst gelehrt. Im Rahmen der Trinitätsspekulation verwundert zunächst nicht, dass „din ewig“ und „sin natue rlich wesen“ „von drien dingen“ zusammengebracht werden können. Speziell ist es indes, dass diese drei dinge nicht Vater, Sohn und Heiliger Geist sind, sondern materie, forme, privatio, die im zweiten Kapitel des Buches L in der Metaphysik des Aristoteles thematisiert werden. 158 Zwei topische Quellenberufungen innerhalb von zehn Versen sichern die Aussage ab und nennen richtig Aristoteles als Quelle. In den Versen 14.309–14.311 153 Vgl. G (1999), S. 348; E (1997) I, S. 185. 154 Regel vermerkt für V. 14.302: „din] sin?“. Wie gezeigt wurde, wird hier mit Bedacht in zweite und dritte Person unterschieden. Die Konjektur würde diese Differenzierung tilgen. 155 Vgl. B, Karl (1972): Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. 1: 800– 1197. München: Beck, S. 99. 156 Vgl. ebd., S. 97. 157 Zitiert nach ebd., S. 101. 158 Aristoteles: Metaphysik. Übersetzt und eingeleitet von Thomas Alexander Szlezák. Berlin: Akademieverlag (2003), S. 211. Dass damit implizit auch auf die göttliche Trinität verwiesen sein kann, zeigt sich bei Paulus Ritius (vgl. R (2007), S. 262 ff.).

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D A  E

wird die Begriffstrias knapp, aber korrekt erläutert, bevor in Vers 14.313 die Definition der Privation aus Vers 14.310 wiederholt wird. Nachdem die erkenntnistheoretische Dimension der vorgestellten aristotelischen Lehre in den Versen 14.316– 14.318 vorgestellt wird, 159 bindet der Erzähler diese Lehre zurück auf die Menschwerdung Gottes. 160 Unter Aufnahme der Differenzierung in Gott-Vater, der in der zweiten Person Singular (din, V. 14.319) angesprochen wird, und Gott-Sohn, über den in der dritten Person gesprochen wird (im, V. 14.320), wird mit Hilfe der vorgestellten Lehre, auf die die Fügung sus (V. 14.319) rekurriert, erklärt, dass das wesen des väterlichen Gottes ain gestalt für den menschgewordenen Gott auserwählt hat. Dass der menschliche Verstand diesen Prozess nicht vollends begreifen kann (vgl. WvÖ, V. 14.321 und 14.324 f.), wird in zwei Bildern ausgedrückt, die auch in mystischen Texten geläufig sind. Zum einen heißt es, dass „din drivaltikait sich wirret / in zirkels wise dar umme“ (WvÖ, V. 14.322f.). Zwei bereits thematisierte Bildbereiche werden aufgenommen und miteinander verknüpft. Das Verb wirren nimmt Bezug auf den Bildbereich des Flechtens und Strickens; durch die Verbindung mit der aufgenommenen Kreismetaphorik, die v. a. auf die Unendlichkeit Gottes abzielt, gewinnt das Bild an Dynamik. Der Prozess der Menschwerdung erscheint als zeitlos sich vollziehend. 161 Das Resultat dieses Prozesses ist eine Ummantelung des göttlichen Geheimnisses, sodass es für den Menschen nicht zu verstehen ist. Zum andern wird das in der Mystik verbreitete Bildfeld des Fließens aufgenommen: 162 „dins urspringes unden / ze wit sint geflozzen“ (V. 14.326f.). Zu den Versen 14.319–14.325 bemerkt Frenzel, dass es „geradezu als Zweck der Dreieinigkeit und ihres geheimnisvollen Ineinander betrachtet zu werden [scheint], daß der Mensch es nicht erkenne und begreife“. Es zeige sich ein „Ringen des rationalen und religiösen Denkens um ein Erfassen des religiösen Geheimnisses“. 163 Zu ergänzen ist, dass der Erzähler des WvÖ dabei auf die Sprache der sogenannten mittelhochdeutschen Mystik zurückgreift und sich an der Spekulation über das Wesen der Trinität beteiligt und sich dabei auf dem Niveau der Spekulationen

159 Rückblickend werden damit auch die Verse 13.698–13.703 verständlich. In ihnen wird ebenso die Verbindung von Naturphilosophie und Erkenntnis thematisiert: Got herre, mich niht lazzen / scholtu des entgelten. / swaz zuht und ere selten / minnet, daz verwazze! / alles dinc hat mazze, / swer ez ze reht mizzet (WvÖ, V. 13.698–13.703). 160 Vgl. zur Menschwerdung Christi auch die Verse 14.389–14.423 und 14.455 ff. 161 Langer zeigt , dass Eckhart die Zeitlosigkeit der göttlichen Schöpfung ähnlich formuliert: „Die Schöpfung ist vor der Zeit, über der Zeit, ohne Zeit [. . . ]. Als Werk Gottes ist sie ewig, als Resultat des Schöpfungsaktes zeitlich. Gott schuf nicht in der Vorzeit, sondern er schafft immer“ (L (2004), S. 320). 162 Vgl. R (1984), S. 29 f.; E (1997) I, S. 180. 163 F (1930), S. 72. Erneut schließt Frenzel aus diesen Beobachtungen, dass der Autor des WvÖ ein Geistlicher sein müsse.

C I

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Meister Eckharts, Seuses und Davids von Augsburg bewegt. Im Kontext solcher mystischer Argumentationsgänge sind denn auch Apostrophen und Passagen aus Gebeten des Erzählers im WvÖ zu verstehen, die auf den ersten Blick unverständlich sind. So verwundert es zunächst, wenn der Erzähler Attribute von GottVater und Gott-Sohn miteinander kombiniert: „Altissime, du herre Crist“ (WvÖ, V. 17.142); „ach, du væterlicher Crist“ (WvÖ, V. 12.802); „Jhesus Crist / ist aller sache urhap“ (WvÖ, V. 17.324 f.). Ebenso unverständlich ist, wenn er Maria gegenüber erklärt, ihre „geburt“ habe sie „ze tohter und ze muo ter“ „enpfahen“ (WvÖ, V. 10.503f.) 164 oder „muo ter, tohter, [. . . ] [und] sun“ zugleich bittet, „um din kint erwerben“ (WvÖ, V 12.216 f.). Die auf den ersten Blick verwirrende Kombination von Attributen des Vaters und Christi bzw. Doppelattribuierung Marias als Tochter und Mutter Gottes gewinnen an Plausibilität, wenn man sich eine Aussage Meister Eckharts vor Augen führt: „got gebirt sich ûz in selben in sich selben und gebirt sich wider in sich“ (II 340,4). 165 „Ausgangspunkt, Ort und Endpunkt des göttlichen Geschehens sind identisch. Der vom Vater hervorgebrachte göttliche Sohn wird selbst zum Vater und bringt den als Sohn hervor, der ihn selbst hervorgebracht hat“. 166 Die genannten Apostrophen, bei denen zwischen GottVater und Gott-Sohn nicht mehr eindeutig unterschieden wird, sind Reflexe des im WvÖ reflektierten Ineinanders der Dreiheit, die bei Eckhart auf den Punkt gebracht ist. Der Erzähler des WvÖ geht über die Trinität hinaus und überträgt die Verschmelzung der Kategorien auf Maria und stellt sie somit geradezu auf eine Stufe mit der Trinität. 167 Betrachtet man die Aussagen des Erzählers über die Trinität in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, dass er mit seinen eigenen Mitteln die Eigenarten der Trinität erfasst, die für wichtige Vertreter der mittelhochdeutschen Mystik ebenfalls von Bedeutung sind, und es gleichzeitig vermag, einen Bezug seiner Trinitätsspekulation zu der Frage nach dem Ursprung dichterischen Schaffens herzustellen. Es gelingt ihm, das paradoxe Nebeneinander der Einheit (besonders in den Versen 11.587–11.602) und Dreiheit Gottes ins Bild zu bringen, 168 und er bewegt sich dabei auf einem hohen theologischen wie sprachlichen Niveau.

164 165 166 167

Vgl. auch WvÖ, V. 11.598 f. Zitiert nach E (1997) I, S. 181. E (1997) I, S. 181. Schon Frenzel bemerkt die Wertschätzung Marias im WvÖ. Ihn ergreife „die Frauenverehrung des Mittelalters vorzüglich“ (F (1930), S. 73 f.). Auf die Vorstellung, Maria sei das 4. Element der Trinität, wurde bereits hingewiesen (vgl. G (1999), S. 518). 168 Vgl. dazu E (1997) I, S. 179 f.

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D A  E

1.1.4 Maria In den Gebeten des Erzählers spielt Maria 169 neben der Trinität die herausragende Rolle. 170 Wie bereits gezeigt, wird die Bedeutung Mariens für die Menschwerdung Gottes betont und das Geheimnis der Menschwerdung, die Doppelexistenz Christi als Gott und Mensch über die Person Maria erfasst: dest drilich sich [. . . ] [. . . ] in der magt wammen vielt, diu din geschaft was und doch wielt sines hohen zepters

(WvÖ, V. 11.596–11.599)

Maria ist zugleich Geschöpf der Trinität und hat doch Macht über deren Machtinsignien. Die oben ausgeführte innertrinitarische Differenzierung durch die Verwendung der Personalpronomina der zweiten und dritten Person Singular hat dabei Bestand. Maria ist Geschöpf des in der zweiten Person angesprochenen Schöpfergottes und hat Macht über das zepter 171 des in der dritten Person angesprochenen Gott-Sohnes. Ebendies wird ausgedrückt, wenn es von ihr heißt, dass sie „durh [ihre] geburt ze tohter und ze muo ter“ (WvÖ, V. 10.503f.) enpfahen worden ist. Sie ist sowohl Tochter des Gott-Vaters als auch Mutter des Gott-Sohnes und damit zugleich Mutter und Tochter der Trinität. Die besondere Bedeutung Mariens wird deutlich, wenn ihre Geburt in Verbindung gebracht wird mit der Erlösung von dem Bösen: „ir geburt entsliezzen / uns kan von hellebanden!“ (WvÖ, 10.459f.). 172 Schon ihre Geburt (nicht erst die Geburt Christi) wird damit zur Erlösungstat. Die zentrale typologische Reihung bilden im WvÖ – anders als beispielsweise im „Guoten Gerhart“, in dem in den Versen 413–416 an Adam erinnert wird 173 – entsprechend Eva und Maria (vgl. WvÖ, V. 14.389ff.; 19.519ff.). Im Vergleich der beiden Texte wird im WvÖ das Weibliche betont. 174

169 Insgesamt wird der Name fünfmal genannt, viermal im Rahmen eines Gebetes in den Versen 10.462–10.510, einmal im Epiloggebet. 170 Vgl. F (1930), S. 73 ff. 171 Vgl. in diesem Zusammenhang, dass Maria als Königin angerufen wird (vgl. WvÖ, V. 10.466, 14.409, 19532). 172 Sie vermag die Christenheit vor dem Teufel zu bewahren (vgl. WvÖ, V. 10.469–10.471). 173 Vgl. L (1984), S. 218. 174 Dies zeigt sich auch, wenn der Erzähler Maria mant. Lutz macht darauf aufmerksam, dass die manunge bezeichnend für das Paradigmengebet ist. Er verweist dabei auf Gebete, in denen Gott gemant wird (vgl. L (1984), S. 144). Auch dies wendet der Erzähler des WvÖ auf das Weibliche.

C I

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Die Bedeutung, die der Erzähler Maria beimisst, ist insofern aufschlussreich, als auch Maria um Hilfe beim Dichten gebeten wird. Er bittet sie um „rehte[ ] sinne“ (WvÖ, V. 10.468) und erhofft von ihr die Legitimation für seinen Text: Maria, hab ich iht gesait, oder sage ich fue rbaz ihtes so weltlichen getihtes daz sue nde mue ge raitzen, dar umm mich niht erbaitzen nu la des hellen grien grif!

(WvÖ, V. 10.472–10.477)

Darüber hinaus bringt der Erzähler die Verbindung Marias mit seiner Kompetenz zu dichten in zwei Bildfeldern zum Ausdruck. Zum einen erwähnt er eine kammer Mariens, in der er Gnade zu finden wünscht, die es ihm erlaubt, Kunst zu schaffen, die ihn vor dem ewigen Tod rettet (vgl. WvÖ, V. 14.409–14.417). 175 Zum andern wählt er das Metaphernfeld des Schiffes: 176 din gruntloser gnaden schif 177 la floe zzen mich uf soe lch getiht da mit ich dinen gnaden niht enpfremde und dines kindes!

(WvÖ, V. 10.478–10.481)

Der Erzähler stilisiert sich zum Steuermann des Schiffes und bittet darum, diese Verantwortung so nutzen zu können, dass er sich nicht von der Gnade Marias und Christi entfernt. Dabei ist er sich seiner Hilfsbedürftigkeit bewusst, wenn er in den folgenden, das Metaphernfeld aufgreifenden Versen um guten Wind bittet: swaz sælicliches windes min segel da zuo mue zzen han, daz la an diner bærmde stan

(WvÖ, V. 10.481–10.483)

Noch einmal wird die Metapher des Schiffes aufgenommen, als der Erzähler von einem Gebet zur Handlung überleitet: Nu lazzet vliezzen in den runst daz schif, daz richs getihtes kunst geladen hat zewirde!

(WvÖ, V. 14.341–14.343)

Der weitere Verlauf der Handlung wird ins Bild des Schiffes gebracht, das zurück in den Fluss geglitten ist. Dieses Schiff ist beladen mit „richs getihtes kunst“, und der Erzähler gesteht, auf diesen Fundus zurückgreifen zu wollen: 175 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.5.2, S. 141. 176 Im Sinne Quintilians kann hier von einer Allegorie gesprochen werden. 177 S (1965) erkennt hier wie in Vers 10.437 den Sprachschatz der Mystik (S. 151).

70

D A  E

daz wær wol min begirde daz ich der dar uz kue nd gesteln, daz ich herzogen Wildhelm zu dem turnay rust

(WvÖ, V. 14.344–14.347)

In provozierender Antithese steht dabei die Bitte um Gnade auf der einen Seite und die Erwägung zu stehlen auf der anderen. Die Ernsthaftigkeit der Bitte um gnadenhafte Hilfe Marias wird humoristisch gebrochen. Der Erzähler hebt die Bedeutung Marias für die Menschwerdung Gottes hervor, sie erscheint dabei nahezu als viertes Glied der Trinität. Auf diese Weise theologisch aufgewertet, haben die Bitten des Erzählers, Maria möge ihn in seiner Dichtung unterstützen, Gewicht. Die Hoffnung auf Inspiration durch Maria wird vorsichtig gebrochen, wenn erwogen wird, das Schiff (ihrer Gnade) zu berauben. Damit wird in der Schwebe gehalten, inwiefern die Bitte um Inspiration ernst aufgefasst oder formelhaft gebraucht wird.

1.2 Personifikationen Neben göttlichen Instanzen ruft der Erzähler auch die Personifikationen von Minne, Aventue re, Natur und Tod an. Wie zu zeigen sein wird, sind diese zusammen mit den göttlichen Instanzen in einem hierarchischen System zusammengefügt, in das sich auch der Erzäher verortet. Im Folgenden sollen die genannten Personifikationen zum einen in ihrer Stellung innerhalb der Hierarchie erfasst werden; zum anderen soll untersucht werden, welche poetologischen Implikationen dem Verhältnis von Erzähler und jeweiliger Personifikation eingeschrieben sind.

1.2.1 Personifizierte Minne Die Minne ist in der mittelalterlichen Literatur bekanntlich einer der herausragendsten Themenkomplexe. Sie hat nicht nur eine eigene Gattung, den Minnesang, hervorgebracht und wird in diesem Kontext zum Reflexionsraum für Poetologie, sondern wird auch in epischen Texten thematisiert und reflektiert. Nicht selten tritt dabei eine personifizierte Minne auf. Die Bedeutung des Themenkomplexes Minne ist in der Forschung für den WvÖ gesehen worden. 178 Im Folgenden soll die personifizierte Minne, mit der sich der Erzähler des WvÖ im Rahmen der Handlung auseinandersetzt, in den Blick genommen werden, um topische Charakteristika der Minne von einem spezifischen Aufgreifen des Themenkomplexes zu unterscheiden, der im WvÖ bestimmend ist. Besonders soll dabei gezeigt werden, 178 Hierbei wohl besonders prägnant ist D (1999).

P

71

wie die Auseinandersetzung des Erzählers mit der personifizierten Minne zu einem Reflexionsraum für Poetologie wird. Die Minne ist innerhalb der Instanzennhierarchie des WvÖ auf der zweiten Ebene einzuordnen. Ihr übergeordnet ist Gott. 179 Venus 180, Amor und Cupido werden dargestellt als Instanzen, die der Minne unterstehen. So wird – vermittelt über Cupido – von der Minne verhindert, dass sich Minne zwischen Walwan und Aglye entwickelt; er, „der Minne kint“, „fue get [. . . ] daz underbint “ (WvÖ, V. 2617f.). Explizit werden die geziucnue sse (Zeugen) Venus, Amor und Cupido (vgl. WvÖ, V. 3020 f.) genannt, „die warn bi dem rat also, / da mit wir so verainet sin“ (WvÖ, V. 3022 f.). Als Aglye über den Vogelfänger erfährt, dass Ryal ihn getroffen hat, wird sie „gebænket und gejagt / von der Minne sus und so. / Venus, Amor, Cupido / ir gemue te genomen fue r“ (WvÖ, V. 6952–6954). Vermittelt über ihre Boten kann die Minne im Menschen innere Unruhe erzeugen. Die hierarchisch geordnete Zusammengehörigkeit von Minne und Gott wird explizit gemacht. Gott ist „schepfer aller wunder“ und „wundrer aller wunder“ (WvÖ, V. 12.493, 17.209) und damit der Minne übergeordnet, die auch „richiu wunder“ „fue gen“ (WvÖ, V. 7375) kann. Vorsichtig angedeutet wird diese Analogie, wenn Minne die Kämpfer Ryal und Joraffin nach einer heftig geführten Tjost wieder erweckt. Es heißt, dass „die herren mit der andaht / diu von der Minne sue zze draht / in ainem senften smacke“ „gelabt“ wurden (WvÖ, V. 3730–3733). Zum einen klingt die topische Vorstellung an, dass die Liebe, bzw. das Denken an die Geliebte, die Kampfkraft steigern kann. Zum anderen wird durch die Verwendung des Verbs dræhen die Macht der Minne in die Nähe gerückt zur göttlichen Macht, die dem Menschen den Lebensatem einhaucht. Zum Schluss der Erzählung wird eine neue Art der Minne offenbar, dadurch dass Gott und Minne sprachlich zueinander enggeführt werden. Die gotlich minne wird genannt. Zum ersten Mal wird die Verbindung des Substantivs minne mit dem Adjektiv gotlich verwendet, als Heiden missioniert werden. Diese werden aufgefordert: „Lat vliezzen in iwer sinne / gelauben, gotlich minne“ (WvÖ, V. 17.331f.). Als des „hailigen gaistes zunder“ Agrant entzündet, erhält „goe tlich [. . . ] minne / in hertzen und in sinne“ (WvÖ, V. 18.174–18.178) Einlass. Im abschließenden Gebet erbittet der Erzähler diese „goe tlich minne“ (WvÖ, V. 19.516) auch für sich. Auf diese Weise wird die Minne „der Religion angenähert“. 181 Nicht nur, daß wie in den Briefen für die Geliebte christliche Metaphern gebraucht werden, nicht nur, daß als Helfer Wilhelms Minne (Aglye) und Gott in einem Atem-

179 Vgl. Darstellungspunkt 1.1.1, S. 37 ff. 180 Dabei wird nicht immer klar zwischen Frau Venus und Frau Minne unterschieden. 181 R (1963), S. 63.

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D A  E

zug genannt werden, wie z. B. schon im Joraffinkampf (V 3686 ff.) oder im Merlinkampf (V 11.910, 12.100 ff.); vielmehr werden im Turnier zu Kandia und in der großen Schlacht beide Bereiche aufs engste vermengt, und darüberhinaus mißt der Erzähler schließlich den Frauen eine – nicht nur metaphorisch – erlösende, engeloder Maria-gleiche Bedeutung bei. Ich verweise nur auf die Stellen V 15.308 ff. und 17.389 ff. 182

Der Erzähler des WvÖ wendet zwei Strategien an, um über die Auseinandersetzung mit der personifizierten Minne einen Reflexionsraum für Poetologie zu eröffnen und damit Minne und poetologische Reflexion zu verknüpfen. Erstens lässt er Aglye und Ryal im Rahmen der ausgetauschten Liebesbriefe die Minne um Unterstützung beim Verfassen und Austauschen dieser Briefe bitten, um diese Bitten fortan selbst zu übernehmen und letztlich in einer poetologischen Reflexion münden zu lassen. 183 Zweitens zitiert er die topische Dichotomie von liebe unde laide an. Er weitet sie auf den gesamten Text aus und erhebt sie zum grundsätzlichen Prinzip der Textkonstitution. Aglye und Ryal bitten die Minne um Unterstützung beim Verfassen ihrer Briefe. Ihr wird eine poetische Kompetenz zugestanden. In einem von Ryals Briefen wünscht dieser sich, so dichten zu können wie Gottfried von Straßburg (vgl. WvÖ, V. 2062–2069). Im Bewusstsein, dies nicht zu vermögen, erläutert er, wie er dennoch gut dichten kann; sein Ziel ist, rain zu schreiben: doch wil ich ir mit engen siben ze dienst min getihte reden, swa diu wort grob keden, daz die bliben in dem sibe. sid ich nu gern rain schribe, dar zuo mir, Minne, stiure gip! wirt ez ze grob durch daz sip, ich riter ez durch den bue tel.

(WvÖ, V. 2070–2077)

Er beschreibt den mechanischen Prozess des Siebens, mit Hilfe dessen er die groben Worte ausschließen kann. Sofern ein Sieb diesen Ansprüchen nicht genügt, ritert er es mit Hilfe des bue tels (siebt er mit dem Beutelsieb). Das Bild erklärt auf der bildlichen Ebene, wie reine Worte i. S. v. mechanisch fein zustande kommen. Wie das Bild übertragen werden kann auf den Schreibprozess, wird hingegen nicht erläutert. Die Minne wird angerufen, stiure zu geben. Die Semantik des Begriffes stiure reicht von Stütze über Unterstützung, Hilfe, Gabe, Beitrag (helfen) bis zu

182 Ebd. 183 Vgl. hierzu die im Forschungsüberblick genannte Literatur zu Briefen im WvÖ.

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Steuerruder (lenken, leiten). 184 Im Kontext der Verse 2,5ff. des „Parzival“ ist der Begriff kontrovers diskutiert worden: 185 ouch erkante ich nie sô wîsen man, ern möhte gerne künde hân, welher stiure disiu mære gernt.

Gegen Kratz und Schweikle, die unter stiure „das verstehen, was das Werk vom Rezipienten fordert“, interpretiert Haug das Substantiv als Steuerung. Vers 2,7 übersetzt er „ganz wörtlich [. . . ]: in welche Richtung man sein Verstehen zu wenden hat. Wenn die wîsen also nach stiure und lêre fragen, so meinen sie damit Verständnishilfe und Sinnvorgabe“. 186 Ebenso versteht Schmitz stiure im „Alexander“ Rudolfs von Ems. 187 Im WvÖ ist das Substantiv entscheidend anders konnotiert. Es wird nicht im Kontext der Werkrezeption sondern der -produktion genannt. Für das Verfassen des Briefes erbittet Ryal von der personifizierten Minne stiure. Der Erzähler des WvÖ bittet ebenfalls um stiure. Dezidiert beschreibt der Erzähler, inwiefern die Minne Aglye bei einem ihrer Briefe unterstützt hat. Einen Brief an Ryal hat sie geschriben und getihtet, mit vliezze in rimen gerihtet nach der Minne kunst und ir hertzen gunst, dar zuo si guo ter wille twanc!

(WvÖ, V. 2986–2991) 188

Intentionaler Ursprung des Briefes ist der „guo te wille“, unterstützend bei der Ausführung des Schreibprozesses sind der „Minne kunst und ir [Aglye und Ryal] hertzen gunst“, die hier gleichrangig nebeneinanderstehen. Auffallend ist die detaillierte Beschreibung des Schreibprozesses, der differenziert wird in Schreiben, Dichten und in Reime fassen. Dabei bleibt offen, ob alle drei Teilaspekte nach der Minne kunst geschaffen werden oder ob dies lediglich für das Reimen gilt. Gerade im letztgenannten Verständnis erscheint die von Minne vermittelte Kunst als 184 Vgl. L (1872 ff.), Bd. 2, Sp. 1202 ff. 185 Vgl. H, Walter (1992): Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 164, Anm. 14. Im Folgenden zitiert als H (1992). Siehe hierzu auch S, Günther: Stiure und lêre. Zum „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. In: ZfdA 106 (1977), S. 183–199. 186 H (1992), S. 164, Anm. 14. 187 Vgl. S, Silvia (1999): Die „Autorität“ des mittelalterlichen Autors im Spannungsfeld von Literatur und Überlieferung. In: Fohrmann et al. (Hrsg.): Autorität der /in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Bd. 2. Aisthesis: Bielefeld, S. 465–483, hier S. 473 f. Im Folgenden zitiert als S (1999). 188 Auf die nämliche Weise wird die Minne in den Versen 6991 ff. dargestellt.

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artifizielles Mittel und Minne damit erneut als Antagonistin der wilde mære vermittelnden Natur. 189 Die Funktion der Minne, Ideengeberin und Unterstützerin bei Schreibprozessen zu sein, wird nicht reduziert auf die Figurenebene. Als Ryal seine Not beklagt, in einem Brief nicht die richtigen Worte zu finden, beklagt der Erzähler seine eigene Defizienz des Dichtens (vgl. WvÖ, V. 6689–6694) und betont damit die poetische Kompetenz der personifizierten Minne. 190 So wird die Minne zusammen mit der Aventue re vom Erzähler angerufen, damit sie ihn dabei unterstützt, die Erzählung adäquat wiederzugeben. Beide sollen seinen „sinnen tummen“ „stue re“ geben, sodass er „ab wegen krummen / wise hie die rihte / Ryalen mit getihte / uf lœblich getæt!“ (WvÖ, V. 4470–4475). Im Folgenden wird der Minne das Attribut zugeordnet, „stæt“ zu sein und sich auszuzeichnen durch „ir stiur“ (WvÖ, V. 4476f.) Es wird plausibel gemacht, dass sie, die sich durch „stiure“ auszeichnet, diese weitergeben kann. Zuletzt wird die personifizierte Minne in Verbindung gebracht mit dem erzähltechnisch motivierten Spannungsmoment der Erzählung. Als Wildhelm bei dem Kampf mit Merlin verletzt wird und wie tot am Boden liegt (vgl. WvÖ, V. 12.088– 12.099; 12.120f.), ruft der Erzähler die Minne an: owe, Minne, wie ist din rat so sue zze an dem anvange! wie kan dins endes zange durch koe rder sue zze wue rgen!

(WvÖ, V. 12.110–12.113)

Im Gegensatz zu dem anfänglich angenehmen Rat der Minne verweist der Erzähler auf die nun sich zeigende wue rgende zange. Diese Dichotomie kann zunächst als topisches liebe–laid -Motiv gelesen werden. Die Platzierung der Anrufung an die spannungsgeladene Stelle des Merlinkampfes sowie die Fügung durch koerder legt eine tiefere Sinnebene nahe. Die Zange würgt um des koerders (Lockspeise) Willen, und dies ist das Moment der Gefahr, unter der Wildhelm leiden muss. Er leidet, damit die Spannung aufrechterhalten wird; gelockt wird der Rezipient. Die Verantwortung, den intentionalen Ursprung dieses Spannungsmomentes, schreibt der Erzähler der Minne zu, die damit zur Urheberin dieser Erzähltechnik stilisiert wird. Wiederholt greift die Minne in die Handlung ein. 191 Vor allem ermöglicht sie immer wieder durch ihren Rat, dass die Briefe ausgetauscht werden können, die 189 Diese Dichotomie wird gebrochen, wenn Natur aller kue nste maisterin genannt wird. 190 Wenn er selbst, der eine höhere Autorität genießt als das epische Personal, die Minne um Rat bittet, wertet dies die Minne auf. 191 Vgl. dazu R (1998), S. 100: „Als Personifikationen wirken Minne und Aventue re auch direkt in die Handlung hinein und lassen den Weg des Helden in hohem Maße als schicksalsbestimmt erscheinen“.

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Ryal und Aglye einander schreiben, um trotz des Sprechverbotes miteinander kommunizieren zu können. 192 So gibt sie Aglye die Idee ein, Ryal einen Brief mit Hilfe eines Vogels zu überbringen (vgl. WvÖ, V. 7089–7120). Ein Brief Ryals soll Aglye mit Hilfe eines Falken erreichen. Um in den Besitz dieses Briefes zu kommen, bindet sie eine Taube an eine Lanze und lässt diese von dem Falken erjagen, sodass sie den Falken – und mit ihm den Brief – zu sich ziehen kann (vgl. WvÖ, V. 7368–7409). Als Beweggrund, die Taube zu opfern, nennt der Erzähler „der Minne luo der“ (WvÖ, V. 7372). Die (Ver-)Lockung der Minne treibt Aglye zu dem Verhalten. Die Verantwortung für das Opfer liegt nicht bei Aglye. In einem kurzen Exkurs macht der Erzähler deutlich, dass die Idee auf die Minne zurückgeht: Ey Minne! was list du kanst! dem du der hohen wirde ganst, dem fue gestu richiu wunder!

(WvÖ, V. 7373–7375)

Besonders signifikant ist das Ballspiel von Aglye und Ryal, bei dem sie heimlich einander einen Ball zukommen lassen, in dem Briefe eingenäht sind. Auffordernd, fast kokett, fragt der Erzähler vrawe Minne, wie der Ball beim ersten Wurf Ryal erreichen soll (vgl. WvÖ, V. 2942–2945), und skizziert sodann das Eingreifen der Minne: zehant wart von der Minne rain manic auge do verspant mit netz, untz in die hant Ryal des balles wurf enpfie

(WvÖ, V. 2946–2949)

Sie ermöglicht erneut, dass ein Brief ausgetauscht werden kann. Wenig später wird aufgeklärt, warum die Minne stets unterstützend bei der Formulierung und der Sendung der Briefe behilflich ist. Die Briefe sind ihre Geschosse, ihre Waffen, mit deren Hilfe sie ihren Willen durchsetzt. Die Boten der Briefe werden somit zu Handlangern ihres Willens: 193 Als Wildhelm einen Brief Aglyens öffnet, „diu Minne braht im do ain schoz / mit des brieves worten / daz im an allen orten / in dem libe ue bte ich“ (WvÖ, V. 7530–7533). „Die ‚boten‘ der Minne, d. h. die Briefe, sollen die Liebe in der Trennung der ‚huote‘ bewahren [. . . ]. Diese Funktion behalten die Briefe des weiteren im gesteigerten Maße bei“. 194 Dabei zeigt sich

192 Vgl. zu der Bedeutung der ausgetauschten Briefe Darstellungspunkt 1.4.2, S. 112 ff. 193 D (1999), S. 199 macht darauf aufmerksam, dass die Minne auch in Johanns von Konstanz „Minnelehre“ zum Briefeschreiben rät. Vgl. hierzu auch K, J; L, L (2013): Handbuch Minnereden. 2 Bde. Berlin [u. a.]: de Gruyter. Im Folgenden zitiert als Handbuch Minnereden 2013. 194 R (1963), S. 38 f.

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die Macht der Minne. Sie ist imstande, durch bloße Worte eine körperliche Reaktion hervorzurufen, die adäquat allein durch die Kampfmetapher des Geschosses ausgedrückt werden kann. Frau Minne ist die einzige Instanz, die sich direkt an den Erzähler wendet. Als dieser sie für Aglyes Liebesschmerz verantwortlich macht (vgl. WvÖ, V. 6526– 6529), antwortet die personifizierte Minne und zitiert die topische Vereinigung von liebe und laide: „ane bluo ge lute sag ich dir swer liep wil han, da muo z auch laid under gan“

(WvÖ, V. 6530–6532)

Das Gebot der Minne, demnach Liebe ohne Leid nicht existieren kann, ist unvermeidlich und muss auch die Erzählung lenken. Auf zwei Ebenen wird die Macht der Minne verhandelt. Zum einen wird reflektiert, dass die Minne den Menschen – und so auch dem epischen Personal – Leid bringen kann. Zum anderen ist sie verantwortlich für den Gang der Erzählung. Erneut geriert sich dabei der Erzähler ohne Verantwortung für die Erzählung. Die Spannung, die daraus erwächst, dass er sich an anderer Stelle wiederholt in ebendieser Verantwortung stilisiert, offenbart einen ironischen – und damit souveränen – Umgang mit der Frage, wer den Lauf der Erzählung bestimmt. Dieser ludisch-souveräne Umgang wird an anderer Stelle noch komplexer ausgeführt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, sind im Rahmen der Verhandlung darüber, wer für den Fortgang der Handlung verantwortlich ist, nicht nur Erzähler und personifizierte Minne involviert, sondern auch Wildhelm. Die Grenze von epischem Personal und handlungslenkenden Instanzen wird partiell aufgelöst, indem nicht nur die Instanzen das epische Personal ansprechen, sondern diese den Instanzen sogar antworten. Aglye wird Wildomis versprochen. Der Erzähler ist darüber recht verzweifelt und macht, nachdem er den Tod für Wildhelm und Aglye als einzigen Ausweg heraufbeschworen hat (vgl. WvÖ, V. 9068 f.), 195 Frau Minne Vorwürfe: ach, waz jamers schraien macht ir, vrau Minne! ich bin iu in dem sinne ietzunt also reht vint. [. . . ] welt ir noch me laides tuo n, zwischen mir und iu kain suo n wirt nymmer mere.

195 Vgl. Darstellungspunkt 1.2.4, S. 96 ff.

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schol Aglye diu here werden ainem andern man dem si ir liebe niht engan, pfi! so sit ir ungenæm. in ist doch baiden widerzæm ælliu liebe diu ie wart; iedwederz des andern zart trut in sinem bilde: welt ir die machen wilde ain ander, daz stat iu niht wol; nieman iu fue rbaz dienen schol.

(WvÖ, V. 9070–9096)

Erneut setzt sich die Minne diesen Vorwürfen des Erzählers zur Wehr: Diu Minne sprach: ‚wes zihstu mich? lieber Diepreht, wie schol ich hie die grozzen clage erwern?

(WvÖ, V. 9097 f.)

Sie weist die Verantwortung für das Geschehen von sich. Was könne sie dafür, dass Agrant und Melchinor sich einig seien, dass ihre Kinder einander versprochen werden sollten (vgl. WvÖ, V. 9100–9104): an der selben geschiht han ich kain schulde

(WvÖ, V. 9105 f.)

Und dennoch weiß sie einen Rat: ez mue ste zwair rosse sprunge mit ainer tyost wenden!

(WvÖ, V. 9116 f.)

Eine Tjost soll einen Ausweg bieten; und in der Tat rüstet sich die zusammengekommene Hochzeitsgesellschaft sogleich zum festlichen Tjostieren (vgl. WvÖ, V. 9142–9157). Gleichsam als hätte der Erzähler verstanden, worauf der Rat der Minne hinausläuft – dass nämlich Wildhelm Wildomis bei einer Tjost tötet –, fragt er verzweifelt, wo denn Wildhelm sei – denn ohne ihn wird Wildomis wohl nicht getötet: ach wa ist nu der gehue r Wildhelme von Österrich? Wa bistu nu? Man wil hie dich enterben alles des du hast. Swie du nu Aglyen last zuo legen Wildomise, so werdent dine prise in jamers hol gesenket, ob ez hie niht bedenket mænlich kraft oder din sin.

(WvÖ, V. 9158–9167)

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Der Erzähler fordert Wildhelm auf zu handeln, so wie es die Minne vorausgedeutet hat. In diesem Moment weist er der Figur die Verantwortung für das weitere Geschehen zu. Wildhelm antwortet dem Erzähler (!), geht dezidiert auf dessen Frage ein, erklärt, „on alle witz“ zu sein, und fragt, was er denn bedenken solle (vgl. WvÖ, V. 9168–9169). Er sieht keine Möglichkeit zu verhindern, dass Aglye von Wildomis beschlafen wird. Er ist nicht vor Ort, weil er nicht ertragen könnte, dies mit eigenen Augen anzusehen: schol ich mit augen sehen an daz man min liep aim andern man legt zuo , ach ach owe!

(WvÖ, V. 9171–9173)

In der Folge wendet sich Wildhelm der Minne zu: ach, sue zziu Minne, du wis mich armen wie ich schue l leben! den rat muo stu mir balde geben, wiltu sterben wenden.

(WvÖ, V. 9180–9183)

Wie zuvor der Erzähler meint auch er, dass die personifizierte Minne für einen guten Fortgang der Handlung sorgen müsse. Und tatsächlich antwortet die Minne auch ihm. Es wird mit der Vorstellung gespielt, dass Wildhelm an den Verhandlungen von Erzähler und Minne beteiligt sei. Nicht nur wird so getan, als vernehme Wildhelm, eine epische Figur, das, was Minne und Erzähler, Instanzen der Metaebene, ihm sagen, auch ist es ihm möglich, ihnen zu antworten: Die Ebenen von discours und histoire sind hier partiell zusammengebracht. Wildhelm löst sich aus dem Rahmen des epischen Personals, ähnlich wie der Erzähler sich aus dem Rahmen der Personifikationshierarchien löst. Im Rahmen der in der Einleitung skizzierten Dichotomisierung von Mittelalter und Neuzeit könnte man hierin jene Entwicklung erahnen, in deren Folge mittelalterliches Erzählen von neuzeitlichem abgelöst wird. Jenes bewege sich in einem „vorgegebenen Ordnungsrahmen [. . . ], während in der Neuzeit das Erzählen ‚autonom‘ wird, sich von solcher Zweckgebundenheit und religiösen Sinnvorgaben löst und psychologisch differenzierte, individuierende Formen der Figurenzeichnung entwickelt“. 196 Versucht man sich von solchen Zuschreibungen zu lösen, bleibt festzustellen, dass sich Wildhelm, zumindest an dieser Stelle, nicht durch „Marionettenhaftigkeit“ auszeichnet, wie Schnuchel für das epische Personal des WvÖ konstatiert. 197 Ganz vorsichtig wird der Freiraum, den der Erzähler für sich in Anspruch nimmt, auf die Handlungsebene übertragen; partiell verselbstständigt sich die Figur Wildhelm. Es ist damit eine Erzählhaltung angedeutet, die sich etwa auch in Kunderas „Die 196 K (1999), S. 165 f. 197 Vgl. S (1955), S. 5 ff., 117.

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Unsterblichkeit“ findet, wenn die Figur Agnes, eine nachdrücklich als fiktiv gekennzeichnete Figur, 198 im zweiten Kapitel des ersten Teils auf den Erzähler zu reagieren und sich dessen Verfügungsgewalt zu entziehen scheint: Als ich aufwache, ist es schon fast halb neun, und ich stelle mir Agnes vor. [. . . ] Dann steht sie auf. [. . . ] Jetzt steht sie direkt vor dem Bett, und ich sehe sie zum ersten Mal nackt, Agnes, die Heldin meines Romans. Ich kann die Augen nicht von dieser schönen Frau abwenden, und sie, sie geht, als spüre sie meinen Blick, ins Nebenzimmer, um sich anzuziehen. 199

Versucht man eine Interpretation, die ohne die Annahme von Epochengrenzen auskommt, so bleibt zu konstatieren, dass die textnahe Interpretation des Textes aus dem 14. Jahrhundert eine Erzählhaltung zutage treten lässt, die auch einen Text des 20. Jahrhunderts bestimmt. Die Minne rät indes, was sie so gerne rät: Wildhelm soll einen Brief schreiben und sich außerdem mænlich gehaben; dabei müsse er auch darauf gefasst sein zu scheitern (vgl. WvÖ, V. 9184–9196). Wildhelm befolgt die Anweisungen der Minne, schreibt einen Brief, bereitet sich vor (vgl. WvÖ, V. 9197); Aglye und Wildhelm tauschen die Briefe – auch Aglye hat in der Zwischenzeit einen Brief verfasst (vgl. WvÖ, V. 9263–9268) –, nachdem sie einander erkannt und miteinander gesprochen haben (vgl. WvÖ, V. 9606 ff.), und zuletzt tötet Wildhelm Wildomis bei der Tjost, woraufhin er gefangen genommen und in die Stadt geführt wird (vgl. WvÖ, V. 10.246–10.295). Die Gefangennahme, die für Wildhelm größte Gefahr bedeutet, immerhin soll er wenig später hingerichtet werden, nimmt der Erzähler erneut zum Anlass, sich bei der personifizierten Minne zu beschweren: Ach jamer und truren! ay Minne, wie din suren nach lieb laide hecket! din lieb hat laid bedecket an menschlichem kunne: swer ietzunt lebt in wunne, der hat nu we und ach.

(WvÖ, V. 10.301–10.307)

Aus der Sicht des Erzählers erweist sich der Rat der Minne, eine Tjost könne das Problem lösen, als schlecht. Denn obwohl der Widersacher getötet wurde, können zu diesem Zeitpunkt Wildhelm und Aglye nicht zueinanderfinden. Fast resignierend erkennt er nun, dass das liep-laide-Gesetz universellen Anspruch zu haben 198 „Und vor mir tauchte das Wort Agnes auf. Ich habe nie eine Frau mit diesem Namen gekannt“ (Kundera, Milan (1990): Die Unsterblichkeit. Aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth. München, Wien: Hanser, S. 10). 199 Ebd., S. 13.

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scheint. Vollends universellen Charakter wird diesem Gesetz gegen Ende der Erzählung zugesprochen, wenn der Erzähler es nicht mehr der Minne, sondern dem Schöpfergott selbst zuschreibt: Altissimus der schuo f dis so: ietz laide und denn vro, also stet der welt lauf.

(WvÖ, V. 18.403–18.405)

Diese Ausweitung des liep-laide-Gesetzes, das fortan im Rahmen der Erzählung universellen Anspruch hat, wird auch auf der Figurenebene vollzogen, wenn Ryal dem Aventue re Hauptmann mit der Dichotomie von liep und laide das topische Charakteristikum der Minne zuschreibt. 200 Dieses Verhältnis von Minne und Aventue re bzw. die Verallgemeinerung der minnetopischen Dichotomie berührt eine These Rehbocks sowie eine sich darauf beziehende These Dietls. Rehbock konstatiert, die Welt des WvÖ sei „im Handlungsverlauf ein Rad, dessen Bewegung immer heftiger wird und über immer größere Höhen zur Katastrophe treibt“, 201 während die Helden vollkommen entwicklungslos blieben und die Liebe „ganz ‚innerlich‘, ganz ungefährdet, ganz statisch“ 202 sei. Dietl argumentiert gegen Rehbock und benennt richtig, dass „der Wechsel von liep und leit der Minne nicht gegenüber[steht], sondern [. . . ] zu ihrem Wesen“ gehört. Dieser Wechsel sei „zum Strukturprinzip des Romans geworden, versinnbildlicht im Rad der Fortuna“, das bezeichnenderweise „im allegorischen Reich der Minne“ steht. 203 Die aufgeführten Ergebnisse, nicht zuletzt die Tatsache, dass Ryal dem Aventue re Hauptmann das topische Charakteristikum der Minne zuschreibt, stützen Dietls These.

1.2.2 Personifizierte Aventiure Die seit Wolframs von Eschenbach „Parzival“ bekannte personifizierte Frau Aventiure ist im WvÖ erweitert durch einen aventue re hauptman und einen Bracken, der nach aventue ren sucht. Der Erzähler setzt sich mit Frau Aventue re auseinander und verhandelt mit ihr über den Fortgang der Erzählung, sie ist Teil der Metaebene. Als ihr Pendant sind auf der Ebene des epischen Personals der aventue re hauptman und der Bracke als Konstruktionsallegorien angelegt und damit deutlich als Werk des Autors gekennzeichnet. Wiederholt ruft der Erzähler Frau Aventue re an und erzeugt einen Reflexionsraum, indem er in diesen Anrufungen Fragen der poetischen Realisation der 200 201 202 203

Vgl. S. 87ff. und Darstellungspunkt 2.2.4, S. 261 ff. R (1963), S. 29. Ebd. D (1999), S. 239.

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Erzählung verhandelt. Schon Dietl hat die Spannung dieses Reflexionsraumes erkannt und einen Gegensatz darin gesehen, dass der Erzähler sich an mancher Stelle als „Schöpfer der âventiure“ 204 ausgibt, an anderer Stelle vorgibt, unter einer sehr starken Lenkung der Âventiure zu stehen. Wenn Âventiure ihn mahnt, er solle die Erzählung nicht unnötig in die Länge ziehen (V 17.706 f.), oder wenn umgekehrt er Frau Âventiure auffordert, die Geschichte weiterzutreiben (V 18.805–18.807), ändert dies aber nichts daran, daß er die Erzählung in der Hand hat. Selbst als er bekennt, daß Âventiure es wolle, daß er den jungen Wilhelm aus Wien vertreibe, kann der Erzähler dieser jedoch den Eid abverlangen, daß sie dem Helden jederzeit beistehe (V 889–895). Der Erzähler ist nie das machtlose Werkzeug der diktierenden Âventiure. 205

Dietl nennt einige wichtige Passagen, ihre Deutung bringt das Verhältnis von Erzähler und Instanz jedoch nicht auf den Punkt. Wie im Folgenden gezeigt wird, zeichnet sich in diesem Verhältnis eine Entwicklung ab. In den ersten Anrufungen des Erzählers an Frau Aventue re ist eine klare Hierarchie zu erkennen. 206 Wenn es dem Erzähler auch gelingt, ihr Zugeständnisse bezüglich der Handlung abzugewinnen (vgl. WvÖ 892–895), bestimmt sie doch die Geschicke des Helden vorher: sit daz ir welt daz ich den kue nftigen helt verweis in daz ellende, so bietet uf die hende

(WvÖ, V. 889–892)

An der Grundrichtung der Erzählung, die den künftigen Helden in die Fremde führt, kann der Erzähler nichts ausrichten. Frau Aventue re gibt vor, der Erzähler führt aus, welche Richtung die Erzählung einnimmt. Durch die Verwendung des Adjektivs kue nftig wird zum einen deutlich, dass Wildhelm noch nicht der Held der Geschichte ist, sondern sich noch zu bewähren hat. Zum anderen zeigt sich, dass die Tatsache, dass er dieser Held wird, vorausbestimmt ist. Erzähltechnisch ist dies eine Vorausdeutung, die in diesem Kontext zugleich die Determinierung des Verlaufes durch die Instanz zeigt, der sich der Erzähler nicht entziehen kann. Dieser zeigt, dass er nicht erzählen kann, was er möchte, sondern gebunden ist an die Weisung der Instanz. 204 Ebd., S. 96. Auf die Formulierung, der Erzähler sehe sich als Schöpfer, soll am Ende dieses Kapitels eingegangen werden. 205 Ebd., S. 97. 206 Dieses hierarchische Verhältnis zwischen Erzähler und Frau Aventiure herrscht auch in Wolframs „Parzival“, wie K (2006), S. 93 überzeugend herausstellt. Erneut also ist im WvÖ etwas aufgenommen und fortgeführt, was es in der vorausgegangenen Literatur gegeben hat.

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Dreimal bittet der Erzähler die personifizierte Aventue re um Unterstützung bei der Darstellung konkreter Handlungsabschnitte und bemüht dabei Worte des Wortfeldes stue re. 207 Als Melchinor ein großes Heer herangeführt hat, bittet der Erzähler sie um Rat: Nu dar, vrau Aventue r! gebt helf und rat ze stue r wie ich Wildhelms von Östrich gedenk daz sin wirde sich in haidenscheft erschelle!

(WvÖ, V. 6225–6229)

Sie soll ihm helfen und raten, wie Wildhelm bei den Heiden bekannt werden kann – er soll sich in der Fremde bewähren. Selbstbewusst insistiert der Erzähler dabei auf seiner eigenen Vermittlungsleistung, indem er nicht um die Bewährung Wildhelms bittet, sondern um Unterstützung bei deren Darstellung. Ebenso wird sie vom Erzähler konsultiert, als dieser Senebor und sein Reich ins Werk setzt. Nu dar, vrau Aventue r! gebt sinne mir stue re wie ich den besinde in des rich die winde machent berhaft diu pfert!

(WvÖ, V. 7761–7765)

Auch als Wildhelm im Turnier für Aglye gewinnen möchte, erbittet der Erzähler von Frau Aventue re „sinne, lere, stue r“, um „den claren jungen / nu mit getihtes zungen / nach ritterschaft“ (WvÖ, V. 13.587–13.589) zu führen. Die schon bekannte Folge zeigt sich: Mit Hilfe der Instanz greift der Erzähler in die Geschicke der Figuren ein. Metaebene und Figurenebene werden verbunden vom Erzähler, die Autorität der Instanz wird dabei nicht in Frage gestellt. Die Bitte um stiure erweist sich auch gegenüber der personifizierten Aventue re als zentral. 208 Eine Interpretationshilfe dieses Begriffes liefert der Dialog zwischen Aventue re Hauptmann und Ryal. 209 Dort nämlich verspricht der Aventue re Hauptmann Ryal, ihm den Bracken „ze stue r“ zu geben (WvÖ, V. 3402). Er selbst erläutert, welchen Dienst der Bracke leisten kann, und erhellt damit, was hier mit stiure gemeint ist: swenne du wilt aventue re jagen, so scholt du ez vor dem bracken sagen und scholt im gue tlich grue zzen, da lazze in mit den fue zzen her ab zu der erden! 207 Vgl. dazu auch Darstellungspunkt 1.2.1, S. 70 ff. 208 Vgl. die Ausführungen zum Begriff stiure auf S. 72 ff. 209 Vgl. S. 87ff. dieser Arbeit.

(WvÖ, V. 3419–3423)

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Stiure bildet damit ein Spektrum von Hilfe bis Führung ab. Wenige Verse später, in denen der Aventue re Hauptmann ausführt, warum der Bracke aventue re-Geschichten jagt, zeigt sich in der Verwendung des Begriffes eine weitere Nuance: reht als ein vederspil das gert, sus gert er aventue re: min kunst im git ze stue re daz er si wist durch ælliu lant.

(WvÖ, V. 3368–3371)

Die Wendung „ze stue re geben“ heißt hier wohl „ermöglichen“. Seine Darstellung sichert der Erzähler bei der Instanz ab. Als er das fingierte Publikum wissen lässt, dass im Folgenden wunderlich geschiht zu hören sein werden, bittet er Frau Aventue re, ihn nichts sagen zu lassen, das ihr widerspricht (vgl. WvÖ, V. 6379–6381). Zum einen verdeutlicht er damit seine Verpflichtung ihr gegenüber. Sie, nicht er bestimmt, was richtig ist. Zum anderen gibt er dadurch auch seine Verantwortung an sie ab. Auffallend ist, dass gerade an einer Stelle, die wunderlich geschiht thematisiert, die personifizierte Aventue re angerufen wird. Kurz bevor Frau Aventue re direkt angesprochen wird, erwägt der Erzähler, sie „mit hulden“ zu strafen, weil sie „zwen werde kuenge sich / so gitlich liez ermue rden“ (WvÖ, V. 8212–8215). Das Paradox, mit hulden zu strafen, drückt wohl das ambivalente Verhältnis des Erzählers zu seiner Instanz aus. Zwar heißt er nicht jeden der von ihr vorgeschriebenen Schritte gut, jedoch hat er keine Macht, nicht diesen Schritten gemäß zu erzählen. Der Erzähler stilisiert sich als Jäger von aventue ren im Auftrag der Instanz. Nachdem er mit Verweis auf die schrift vom Tod zweier Könige berichtet hat (vgl. WvÖ, V. 8238f.), gibt er zu bedenken, dass er erst jetzt von strites not (WvÖ, V. 8240) sprechen wird und ruft sodann Frau Aventue re an: Vrau Aventue r! sit daz ir wellt die unmuo zze mir fue gen daz ich fue rbaz jage iu der aventue re sage, so doe rft ich wol me sinne.

(WvÖ, V. 8241–8245)

Das Bild des aventue re-Geschichten jagenden Erzählers ist eine Remineszenz an das Bild des über den Bracken vermittelt jagenden Wildhelm. Der Erzähler jagt hier explizit für Frau Aventue re 210 und erklärt im Folgenden seine Defizienz. Er fragt entsprechend, wie er anfangen soll, weiter zu erzählen, was den Protagonisten noch bevorsteht (vgl. WvÖ, V. 8246–8249); er erklärt, dass er nicht über die notwendigen sinne verfüge. Vollständig resigniert er jedoch nicht, sondern verspricht, „doch 210 Vgl. auch S (2004), S. 194.

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[. . . ] guo ten willen dar“ (WvÖ, V. 8251) zu geben, und feuert die Figuren der Erzählung an (vgl. WvÖ, V. 8252). Erschien es bis dahin so, als sei die Instanz dem Erzähler hierarchisch eindeutig übergeordnet, dynamisiert sich dieses Verhältnis beginnend mit den Versen 15.671ff. Der Erzähler versucht nun, den Verlauf der Handlung zu verhandeln, und hinterfragt den Willen der Instanz sowie deren Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit und damit deren Autorität, die zuvor noch unumstößlich erschien. vrau Aventuer, wes baitet ir? seht ir niht, hertz und gir unsinnet, sam ez wue t?

(WvÖ, V. 15.671–15.673)

Erzähler und Instanz beginnen, über Länge und Verlauf der Handlung zu streiten. Nach ausführlicher Beschreibung der Heere, die in der finalen Schlacht aufeinandertreffen, wirft der Erzähler Frau Aventue re vor, ihn „zelange enthalten“ zu haben, [. . . ] so daz ich des tiursten han vergezzen der ertrich hat besezzen, ich main Wildhelmen den fue rsten, der wol mit getue rsten not kund durch er liden.

(WvÖ, V. 17.349–17.355)

Es zeigt sich, dass er die Beschreibung der Heere gegen den eigenen Willen so ausführlich gestaltet hat und dass er alleine dem Helden der Erzählung seine volle Aufmerksamkeit schenken möchte. In den Verse 17.706f. hält umgekehrt die personifizierte Aventue re den Erzähler an zu schweigen und wirft ihm vor, „du wild ez lengen“. 211 Gegen Ende der Erzählung kehrt sich das anfängliche hierarchische Verhältnis von Erzähler und Instanz um, wenn er nun ihr befiehlt, diu lob richer mær zu jagen: Vrau Aventue r, sit niht laz! jaget aber fue rbaz diu lob richer mær!

(WvÖ, V. 18.805–18.807)

Das Unvermeidbare ist angedeutet und soll von der Instanz selbst ausgeführt werden. Sie selbst soll aktiv handeln. Das Aufgreifen der Jagdmetaphorik, die in den Versen 8241–8245 noch die Unterordnung des Erzählers verdeutlicht hat, macht den Wechsel des hierarchischen Verhältnisses besonders deutlich. Wenige Verse später wird der Erzählung eine Eigendynamik zugestanden, wenn es heißt, dass „nu wellent sich diu mær / enden mit jamers swær“ (WvÖ, V. 18.841f.), und daraufhin von der Einhornjagd berichtet wird. Subjekt des Satzes sind diu mær, sodass 211 Vgl. D (1999), S. 97, die V. 17.706 f. als Beispiel nennt, das zeigt, dass der Erzähler vorgibt, unter starker Lenkung der Instanz zu befinden.

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sowohl Instanz als auch Erzähler für diese von jeder Verantwortung losgesprochen sind. Bei dem oben zitierten Argumentationsgang Dietls verwundert zunächst die gemeinsame Nennung der Verse 17.706 f. und 18.805ff., um zu belegen, dass der Erzähler vorgibt, von der Aventue re gelenkt zu sein und zugleich die Erzählung in der Hand zu haben. Vielmehr zeigen die genannten Verse das jeweilige Extrem: Die Verse 17.706f. drücken eine Dominanz der Instanz aus, die Verse 18.805ff. zeigen den Handlungsspielraum des Erzählers. Das Verhältnis von Erzähler und personifizierter Aventue re changiert zwischen diesen Extremen, es wird um Kompetenzen gerungen. Dabei zeichnet sich eine klare Entwicklung ab. Zeigt der Erzähler sich zu Beginn des Textes noch als vom Willen der vrau Aventue re abhängig 212, erhebt er sich am Ende über sie. Es zeichnet sich ab, dass die Kompetenz des Erzählers im Laufe der Erzählung an Gewicht gewinnt zu Ungunsten der personifizierten Aventue re. Innerhalb dieser Verse kehrt sich das hierarchische Verhältnis von Instanz und Erzähler um. Davon bleibt Gott auf der obersten Hierarchieebene unberührt. War ihm zunächst Frau Aventue re unterstellt, von der wiederum der Erzähler abhängig war, stilisiert sich der Erzähler nun als von Gott direkt abhängig. Auf der untersten Ebene der Hierarchie stehen die handelnden Figuren, sie sind den Einflüssen der ihnen übergeordneten Instanzen unterworfen. Auf einer zweiten Ebene befinden sich u. a. Frau Aventue r und der Erzähler, hier wird – wie gezeigt – um Nuancen gerungen. Ihnen übergeordnet, auf einer dritten Ebene, ist Gott. Das Verhältnis von erster und zweiter Ebene ist so gestaltet, dass die Entitäten der zweiten Ebene die Geschicke der Entitäten der ersten bestimmen können. Egal, ob die personifizierte Aventue re über den Erzähler bestimmt oder umgekehrt, beide können über die Figuren bestimmen. So ist der von Dietl herausgestellte Gegensatz aufgelöst: Der Erzähler kann sowohl unter dem Einfluss von Frau Aventue re stehen als auch als Meister des Schicksals der Figuren erscheinen. Gestützt wird diese Annahme von der Tatsache, dass der Erzähler sich wiederholt als Vermittler positioniert. 213 Er nimmt diese Rolle für sich in Anspruch. Wenn er sich im Verlauf der Handlung von der personifizierten Aventue re emanzipiert, tangiert dies fast ausschließlich das hierarchische Verhältnis innerhalb der zweiten Ebene. Aus der Perspektive der Figuren ist es weder ersichtlich, noch relevant, welche Instanz die Handlung leitet. 212 Vgl. zu dem komplex gestalteten Abhängigkeitsverhältnis des Erzählers zu den personifizierten Minne und Natur das Abschnitt 1.4, S. 109 ff. Dort wird gezeigt, dass der Erzähler sich zwar dem Willen der Instanzen fügt, daneben aber selbstbewusst seine eigene, davon abweichende Meinung äußert. 213 Vgl. den Anfang dieses Abschnitts, S. 80 ff. sowie Abschnitt 1.4, S. 109 ff. Dass Vermittlungsprozesse eine herausragende Rolle im WvÖ spielen, zeigt sich ebenso bei den christlichen Instanzen, vgl. Abschnitt 1.1, S. 37 ff.

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D A  E

Ausgehend von den Versen 2435 ff. (schepfer aller aventiur . . . ) nimmt Dietl das Verhältnis von personifizierter Aventue re und Gott in den Blick. 214 Sie sieht das Bewusstsein des Dichters, er erschaffe Materie und Form der Erzählung [. . . ] in Nachahmung des Schöpfers. Indem Johann mit der ihn inspirierenden Âventiure argumentiert und verhandelt, spielt er mit der Vorstellung eines göttlich inspirierten Schreibers, widerspricht ihr aber zugleich: Schon die Inspiration durch Âventiure statt durch Gott ironisiert die Wahrheitsbeteuerungen auf der Basis der Inspiration: Gott, d. h. der Wahrheit an sich, wird die personifizierte fiktionale Erzählung gegenübergestellt. 215

Gemäß dieser Argumentation nennt Dietl den Erzähler „Schöpfer der âventiure“ 216. Die Analogie von Erzähler und Gott ist m. E. komplexer. Das veranschlagte Konstrukt einer hierarchischen Ordnung erlaubt es, personifizierte Aventue re und Gott nicht als Gegenüberstellungen zu sehen, sondern als Entitäten einer Hierarchie. Gott steht an erster Stelle dieser Hierarchie, ihm untergeordnet, neben anderen, ist die personifizierte Aventue re. Während Gottes Autorität unangetastet bleibt, kann der Erzähler die Autorität von Frau Aventue re in Frage stellen, nicht jedoch Gott als oberstes Prinzip. Der Erzähler hofft darauf, dass er – in Analogie zur Natur, die im Auftrag Gottes Leben erschafft – von Gott die Legitimation erhält, seine eigene aventue re-Geschichte zu erschaffen. Dabei tritt er nicht in Konkurrenz zu Gott, sondern in Konkurrenz zu den diesem untergeordneten Instanzen Minne, Natur und Aventue re. In diesem Sinne kann man, wie Dietl, davon sprechen, dass der Dichter „in Nachahmung des Schöpfers“ erschafft; dabei wird jedoch nicht zuerst die Ähnlichkeit des Dichters zu Gott betont, sondern vielmehr die Emanzipation des Dichters von der personifizierten Aventue re. Zuletzt wird er diese überwinden, wenn er ihr vorgibt, aventue ren zu jagen, und damit in der Hierarchie aufrücken. Man geht sicher nicht fehl, dabei an all die im Mittelalter geläufigen christlichen Aufstiegsentwürfe 217 zu denken. Wie der Mensch bei Ficino einen besonderen Stellenwert innerhalb der Schöpfung, wie der Dichter bei Landino eine herausragende Stellung vor anderen Menschen erhält, so beansprucht der Erzähler im WvÖ eine Mittelrolle zwischen Personifikationen und Gott. 218 Die Annahme einer Hierarchie statt einer Gegenüberstellung legen auch die Begebenheiten der Begegnung Ryals mit dem Aventue re Hauptmann nahe, bei der zunächst

214 215 216 217 218

Vgl. D (1999), S. 95. Vgl. hierzu auch Darstellungspunkt 1.1.1, S. 37 ff. D (1999), S. 99. Ebd., S. 96. Vgl. etwa Haug, Nicolaus Cusanus, S. 544 f. Vgl. Darstellungspunkt 1.1.2, S. 41 ff.

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in der Schwebe gehalten wird, ob Ryal zwischen Aventue re Hauptmann und Gott unterscheiden kann. 219 Nachdem der Erzähler Gott gebeten hat, Ryal den rechten Weg zu weisen (vgl. WvÖ, V. 3113f.), begegnet dieser dem Aventue re Hauptmann. 220 Dieser ist ein „ungehue ren / gestalt, der doch gehue re was“ (WvÖ, V. 3136f.), „solt in ein maister male / er hiezze ein wunderlich gestalt“ (WvÖ, V. 3142f.). Es folgt eine descriptio der Gestalt. Die Darstellung, die hypothetisch angenommen wird für einen Maler, wird geleistet vom Erzähler (vgl. WvÖ, V. 3144–3159). 221 Ryal möchte erfahren, wer oder was diese Gestalt ist. Wenn er fragt, ob sie es sei, „diu manigen bringet umme den lip, / umme werden ruo m durch zartiu wip“ (WvÖ, V. 3332– 3334), spricht er Frau Aventue re implizit die Macht zu, über Leben und Tod zu entscheiden; sie ist das Prinzip, demnach Helden das Leben um „zartiu wip“ willen verlieren. Die Nähe der die personifizierte Aventue re hier auszeichnenden Eigenschaften zur Minne ist offensichtlich und wird zentral, wenn Ryal folgert, „so kanstu fue gen liep und lait“ (WvÖ, V. 3335), insofern die Dichotomie von liep und laide topisches Charakteristikum der Minne ist. 222 Das Konzept „Minne“ wird übertragen auf die personifizierte Aventue re, die Bereiche werden vermischt. Ähnlich kommt es zu Überschneidungen von Konzepten, wenn dem Aventue re Hauptmann innerhalb des Dialoges eine Rolle zugesprochen wird, die ihr Analogon in der Welt in Gott findet. Mit dieser Analogie wird gespielt. Im Dialog nennt der Aventue re Hauptmann Ryal „der aventue re fruht“, „zu aventue r geborn“ (WvÖ, V. 3188 f.) und „der aventue re kint“ (WvÖ, V. 3414). Auf der einen Seite wird so betont, dass Ryals Existenz beschränkt auf die aventue rensage ist; er ist das Produkt derselben, Teil dieser Schöpfung. 223 Auf der anderen Seite beziehen sich Ryal, Aventue re Hauptmann und Erzähler auf Gott. Ryal bittet den Aventue re Hauptmann, ihn „durch minen Got“ (WvÖ, V. 3338) in seinen Dienst zu nehmen, der Aventue re Hauptmann weiß, dass niemand Ryal übertreffen kann, „sit dich Got hat her getragen“ (WvÖ, V. 3391), und der Erzähler berichtet davon, dass der Aventue re Hauptmann den Bracken bittet, „Gotes kint [zu] bewarn“ (WvÖ,V. 3416). Ryals Existenz changiert zwischen den Polen, der aventue re 219 Vgl. bez. der Vorstellung Gottes als schepfer aller aventue re und zur Analogie von Schöpfergott und dichterischem Schöpfertum Abschnitt 1.1, S. 37 ff. 220 Dem Aventue re Hauptmann als Allegorie ist ein eigener Darstellungspunkt gewidmet, siehe Darstellungspunkt 2.2.4, S. 261 ff. 221 Ausführlich wird diese Stelle in Darstellungspunkt 2.2.4, S. 261 ff. behandelt. 222 So auch im WvÖ der Minne zugeordnet. Als der Erzähler fragt, warum die Minne Aglye leiden lässt, antwortet diese: „swer liep wil han, / da muo z auch laid under gan“ (WvÖ, V. 6531f.). 223 Vgl. hierzu D (1999), S. 96: „Als Schöpfer der Âventiure ist der Erzähler den handelnden Figuren gegenüber der Meister ihres Schicksals“.

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D A  E

Sprecher

Kennzeichnung des SW

Vers

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Ryal AH Ryal AH Ryal AH Ryal Ryal AH Ryal AH

3164 3174 3182 3185 3194 3196 3209 3214 3246 3248 3253

12

Ryal

er sprach Er sprach Ryal der sprach der wunderliche sprach zehant Ryal sprach beschaidenlich er sprach Er sprach er sprach er sprach er sprach Do sprach der wunderlich gestalt Der zart wol gehue re / sprach

13

Erzähler



3346

14 15

AH Ryal

der man sprach Er sprach

3364 3373

16 17

AH AH

sprach der aventue re man er sprach

3389 3392

18

AH

er sprach

3408

19

Erzähler



3414

20 21 22

AH Ryal (Ryal)

der man sprach sprach Ryal do mit den gedanken

3418 3452 3434

Inhalt d. wörtl. Rede

du vrage (3206) Got, schepfer miner! min lieber vriunt

3331 f. (Verhalten des Bracken) (Ryal bittet Gott um den Bracken) den wil ich geben dir ze stue r (3402)

Tabelle 1.3: Quelle: Eigene Darstellung

kint, eine res ficta, und Gotes kint, eine res facta, zu sein. Dieses Spannungsfeld wird ausgereizt. Die Sprecherwechsel (SW) innerhalb des Dialoges werden jeweils vom Erzähler markiert. Trotz dieser Markierungen ist der Sprecherwechsel z. T. nur auf der Grundlage des Inhalts zu eruieren, da in zehn von zwanzig Fällen das Personalpronomen „er“, das sowohl auf Ryal als auch auf den Aventue re Hauptmann referieren kann, den fortan Sprechenden bezeichnet. Eine Zuordnung wird dadurch erschwert, dass aufeinanderfolgende Fügungen, die einen Sprecherwechsel

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anzeigen können, dies nicht in jedem Fall auch tun. Um den folgenden Argumentationsgang übersichtlich zu gestalten, sind die Sprecherwechsel tabellarisch aufgeführt. 224 Bis auf die Ausnahmen 13 225 und 19, in denen der Erzähler über mehrere Verse zu Wort kommt, folgt in diesem Dialog von den Kennzeichnungen des Sprecherwechsels eingeleitete wörtliche Rede auf wörtliche Rede. Der regelmäßige Wechsel der Sprecher wird dabei an zwei Stellen durchbrochen: 7 und 8 leiten wörtliche Rede Ryals ein, 16 bis 20 die des Aventue re Hauptmanns. Im Umfeld beider strukturell hervorgehobener Stellen wendet sich Ryal an Gott. Ohne gesonderte Kennzeichnung sind so in den Dialog zwei Gebete eingebunden. Erstens ruft Ryal Gott an (7), nachdem der Aventue re Hauptmann ihn aufforderte zu fragen (6). Formal ist die Unterbrechung des Dialogs nicht gekennzeichnet, sodass ein Moment der Irritation darin besteht, dass es zunächst so scheint, als spreche Ryal seinen Dialogpartner als Got, schepfer miner an. Zweitens übergibt der Aventue re Hauptmann Ryal den Bracken (17), nachdem dieser Gott darum gebeten hat, dass ihm der Bracke zu eigen werde (15). Der Aventue re Hauptmann erfüllt Ryal also den Wunsch, den er an Gott gerichtet hat. Die strukturelle Hervorhebung der beiden Stellen lässt das Moment der Irritation kalkuliert erscheinen. Der Erzähler spielt hier mit der Vorstellung, dass der Aventue re Hauptmann für Ryal als Gott bzw. Schöpfer erscheint. Insofern der Aventue re Hauptman eine Konstruktionsallegorie ist, erklärt der Erzähler damit implizit seine Urheberschaft in Bezug auf Ryal. Dieser Aspekt, der zunächst beschränkt ist auf die Figur Wildhelm, wird in den Versen 15.347–15.357 ausgeweitet. In einem kurzen Exkurs erklärt der Erzähler, dass das bisher Erzählte so von der Aventue re vorher gedacht worden war: Nu dar! swaz ie wart hie gesait, daz ist gar alles hin gelait, ez werde denne vollebraht des Aventue r gedaht hat von anegenge her. alrerst sich bluo men schol ditz mær. der Aventue r anker haft nu erst gewinnet: hie mit kraft wurtzeln sich der erste wil. nu her! hie ritterliches spil erst wirt erhaben. nu wol her!

(WvÖ, V. 15.347–15.357) 226

224 Die Groß- und Kleinschreibung ist in der Tabelle gemäß der Edition eingehalten. 225 Die Zählung bezieht sich wie die folgenden auf die Tabelle. 226 Vgl. zu dieser Stelle auch F (1930), S. 90 f.

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Die Implikationen, die bereits dadurch angedeutet sind, dass der Erzähler als „Schöpfer“ der Konstruktionsallegorie „Aventue re Hauptmann“ gelten kann, werden deutlicher. Die personifizierte Aventue re hat die Erzählung als Ganzes erdacht; da, wie oben gezeigt, der Erzähler der personifizierten Aventue re im Verlauf der Erzählung hierarchisch übergeordnet wird, erklärt dieser somit implizit seine Autorschaft. Im Folgenden soll auf den Bracken eingegangen werden, den der Aventue re Hauptmann Ryal mit auf den Weg gibt. Zunächst soll kurz auf die literarische Tradition des Bracken Bezug genommen werden, bevor darauf aufbauend am Beispiel des Bracken gezeigt werden soll, wie Teile der Handlung des WvÖ überdeterminiert 227 sind. Damit ist gemeint, dass verschiedene Instanzen, denen eine Lenkung des Geschehens zugestanden wird, gleichrangig eine einzige Handlungssequenz bestimmen und damit uneindeutig wird, auf welche Instanz diese Lenkung zurückzuführen ist. Dass mit dem Bracken im WvÖ ein Motiv der literarischen Tradition aufgenommen wird, ist in der Forschung erkannt und benannt worden. Dietl verweist darauf, dass auch in „Vom Mai“ (Brandis 198) der Erzähler von einem Hund geführt wird. 228 Juergens konstatiert, dass die enge Nachbarschaft von bracke und fürst, die im WvÖ im Namen des Bracken zusammengeführt ist, aus dem „Jüngeren Titurel“ übernommen sei. 229 Schon Bierbaum erinnert der Bracke im WvÖ „sehr an den im Titurel, besonders im Jüngeren Titurel, wo es Strophe 1264 heißt: ‚ich wil dir volgen, war du wilt, da vind ich aventüre‘“. Das Auftreten des Bracken sei „offensichtlich [. . . ] von daher angeregt“. 230 Es spricht sicherlich nichts gegen die Annahme, dass der Bracke vom Bracken im „Jüngeren Titurel“ inspiriert ist. Es lohnt aber ein genauerer Blick auf den Kontext, in dem dem Bracken auch dort „‚Aventue re‘-weisende Funktion“ 231 zugesprochen wird. Bekanntlich ist der Bracke im „Jüngeren Tiruel“ zuvorderst der 227 Den Begriff verwendet S (2000), S. 148, der davon spricht, dass die Schlacht zwischen Christen und Heiden „[i]ntertextuell [. . . ] völlig überdeterminiert“ sei. Ich übernehme den Begriff an dieser Stelle, verwende ihn jedoch nicht intertextuell, sondern intratextuell. Vgl. hierzu auch E (2004), S. 95 ff., die bezogen auf die Cetus- (und Parklise-) Episode konstatiert, „die Verbindung des Zufallsprinzips mit einer auffälligen Verkettung kausaler Zusammenhänge“ (S. 95) sei konstitutiv, und an die „Verknüpfung mehrerer Kausalzusammenhänge“ (S. 97) erinnert sowie von der „Relativierung bzw. vollständige[n] Aufhebung des Zufallsprinzips durch eine Kausalitätenkette“ (ebd.) spricht. 228 Vgl. D (1999), S. 149. 229 Vgl. J (1990), S. 298 f. 230 B (1956), S. 101 f. Bierbaums Strophenangabe bezieht sich offensichtlich auf Wolfram von Eschenbach, Werke. Herausgegeben von Karl Lachmann. 6. Ausg. Berlin und Leipzig 1930. 231 R (1963), S. 171.

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Träger des Halsbandes, dessen Inschrift Sigune nicht zu Ende lesen kann, da der Bracke fortläuft. Später wird der entlaufene Hund von König Teanglis von Theserat gefunden. 232 Nu reit der kunic von Theserat er chom do an di richen stat. di schrift zu lesene was er kunst sunder, er daht im: dirre vremde brief Dem bracken wider umb daz seil wider uf di vart so lief er geil. war du wilt. da vind ich aventiure. sus kerte nach dem bracken

in dem walde jagende. brack und seil daz was im wol behagende. ist zu gesant durch aventiure wunder. (JT 1296) 233 die kelen kund er winden. er daht: ich will dir volgen und ervinden, Teanglis verwapent, der gehiure. (JT 1297) 234

Die Funktion, die der Bracke im WvÖ (scheinbar) 235 erfüllt, ist also – wie Bierbaum feststellt – auch im JT angelegt; die Funktion im JT basiert jedoch auf einem gewichtigen Defizit des Königs: Er kann nicht lesen. „Der illiterale König ist der höfisch-männliche Normalfall: Ihm ist dieser vremde brief ein Wunder, ein Ereignis, das – aus seiner Sicht – nicht der Decodierung des Textuellen bedarf“. 236 Setzt man die Kenntnis des JT bei Produktion oder Rezeption des WvÖ voraus und liest den Bracken im WvÖ vor der Folie des Bracken im JT, so findet alleine die Funktion, die der illiterale König dem Bracken zuschreibt, nämlich Aventue ren zu finden – das Seilproblem fällt dabei weg –, Eingang in den WvÖ. Was dort ein auf Analphabetismus beruhendes Missverstehen des Bracken und damit im Kontext der Handlung problematische Reduktion ist, wird im WvÖ zum Normalfall: Im WvÖ gibt es überhaupt kein mit einer Inschrift versehenes Brackenseil mehr. Doch auch im JT ist dieses Verständnis des Bracken nicht singulär. Kragl hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch Tschinotulander zwischenzeitig das Seilproblem aus den Augen verliert: „Mit seinen blutstropfenszeneartigen Tjosten gegen die ArtusRitter vergisst Tschinotulander das Seilproblem und wird, für wenige Strophen, zum Aventiure-Ritter – kämpft um seiner amie willen (Str. 1334)“. 237 Im Bracken, den Ryal erhält, ist damit eine Verstehensweise des Bracken aufgenommen, die im 232 Eine inhaltliche Übersicht über die Brackenseilhandlung im „Jüngeren Titurel“ gibt K, Florian (2010): Klarifunkel. Oder: Warum beim „Jüngeren Titurel“ der Teufel nicht im Detail steckt. In: Baisch et al.: Der JT zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk. Göttingen: V. u. R. unipress, S. 139–182, hier S. 140 ff. Im Folgenden zitiert als K (2010). 235 Siehe hierzu die weiteren Ausführungen zur Überdeterminierung. 236 Ebd. 237 K (2010), S. 144 f. Eine interessante Parallele von Tschinotulander und Ryal ist, dass Tschinotulander als Aventue re-Ritter andere Ritter erschlägt, so wie Wildhelm seine Wi-

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JT zwar angelegt ist, aber eben auf einer Reduktion beruht. Nicht auszuschließen ist, dass die Entwicklung des Bracken im WvÖ auf ebendiese Verstehensweise zurückzuführen ist. Ob nämlich der Bracke im WvÖ die Funktion erfüllt, die der Aventue re Hauptmann Ryal verspricht, ist weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick erscheint. Auf dem Weg nach Belgagan wird der Weg des Helden von verschiedenen Faktoren vorherbestimmt. Die von Wildhelm zu bestehende Aventue re erläutert Parklise wiederholt; kurz bevor er das Gebirge erreicht, wird Gott noch einmal um Hilfe gebeten, das Verlangen nach Aglye leitet ihn; außerdem wird zusätzlich der Bracke Fürst erwähnt. Gegenüber Melchinor hat Parklise den Plan offenbart, demnach Wildhelm von Merlin umgebracht werden soll (vgl. WvÖ, V. 11.044–11.095). Sie fordert außerdem, dass Wildhelm Waffen, Pferd und Rüstung wieder erhält – ihre Forderung wird erfüllt (vgl. WvÖ, V. 11.143–11.167). Schon hier wird auf den Kampf, den Wildhelm bestehen soll, vorausgedeutet. Würde Wildhelm zu einer Hinrichtung geführt, bräuchte er seine Kampfausrüstung nicht. Wildhelm erkennt schon früh den Charakter des Bevorstehenden als Aventue re. Als Parklise ihn vor die Wahl stellt, mit ihr zu kommen oder zu sterben (vgl. WvÖ, V. 11.204f.), erklärt er, „mit tusent scharn / vehten [zu wollen], e ich stue rbe“ (WvÖ, V. 11.206f.). Er ahnt, dass ein schwerer Kampf bevorsteht, den er lieber begehen wird als unbewaffnet hingerichtet zu werden. Als er sich mit Parklise auf den Weg gemacht hat, erklärt diese ihm zunächst flüchtig (vgl. WvÖ, V. 11.232–11.281), dann dezidiert (vgl. WvÖ, V. 11.423–11.510) den Charakter der Aufgaben, die sie ihm zugedacht hat. Dabei erklärt sie auch die geographischen Begebenheiten – von nun an weiß Wildhelm, wohin er reiten muss und nimmt die Aventue re in der Art eines Minneritters an: „durch wiplich ere prises ruo n / erwirb ich gern, swa ich kan“ (WvÖ, V. 11.280f.). Nachdem sich Wildhelm und Parklise gemeinsam auf den Weg in Richtung Belgagan gemacht haben (WvÖ, V. 11.282: „sus kerten si gæn Belgagan“), spricht der Erzähler explizit davon, dass Wildhelm sich auf Aventue re-Fahrt befindet: nu wil ich wider uf die sla mich aber wider rihten und abentue r betihten von Wildhelm dem fue rsten der da gæn waldes hue rsten kert mit Parklysen, der schoe nen und der wisen

(WvÖ, V. 11.336–11.342)

dersacher ermordet. Ein systematischer Vergleich der beiden Texte wäre sicherlich für verschiedenste Fragestellungen lohnend.

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Erneut wird betont, dass Parklise Wildhelm begleitet – dies auch zu dem Zeitpunkt, als Parklise ihn verlassen wird: er wolt in grozzer herte aventue r sich fue gen. dennoch sach man die cluo gen Parclysen bi im sweben. si sprach: ‚ich muo z dir geben hie laider min urlauben.‘

(WvÖ, V. 11.356–11.361)

Es wird nicht explizit genannt, dass Parklise Wildhelm den Weg weist; plausibel ist es zweifelsohne. Die aventue re steht fest, das epische Personal, insbesondere der Held und das Publikum kennen sie genau; auch der Ort der aventue re ist bekannt. Nach einem Exkurs wendet der Erzähler den Blick der Rezipienten auf die Handlung: hey, nu siht man den recken keren gæn der aventue re: Altissimi des Hoe hsten stue re muo z im helfe senden! aber in ellenden nach Aglyen lieb er wart. vor im der brack uf sin vart kert nach aventue r: die vand er ungehue r.

(WvÖ, V. 11.636–11.644)

Neben der oben skizzierten Richtungsweisung durch Parklise nennt der Erzähler zunächst Altissimus und Aglye als bestimmende Faktoren, die helfen sollen, dass die Aventue re bestanden wird. Dann taucht der Bracke Fürst auf, der Wildhelm hilft, aventue ren zu finden; diese eine aventue re ist aber bereits gefunden. Der Bracke wird nach der ersten Reise als bloßes Anhängsel Wilhelms beibehalten; wenn dann und wann, wie bei der zweiten Reise Wilhelms, dem Dichter seine alte Funktion einfällt (V 11.642 ff.), so hat sie gar keinen Sinn mehr, und V 12964 ff., bei der letzten Erwähnung, merkt man, wie sich der Dichter gerade noch einmal im letzten Moment an ihn erinnert. 238

Juergens verweist auf „das erste Aktivwerden des Hundes“, als er „jene ‚Aventue re‘ der Befreiung einer ‚magt‘, welche seine ‚elevatio‘ in das Astrolabium bewirken wird 238 R (1963), S. 173. Zuvor fragt Rehbock, „[w]arum [. . . ] der ‚bracke‘ nur für eine kurze Strecke ‚Aventue re‘-weisende Funktion [hat] und [. . . ] in späteren ‚Aventue ren‘ ein bloßer Hund [ist]“ (S. 171).

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D A  E

(3449ff.)“ initiiert. 239 Hier hat er noch die Funktion, die ihm bei seinem ersten Erscheinen zugesprochen wurde. Juergens Folgerung, die „spezifizierende ‚virtus‘“ des Bracken sei, jederzeit „aventiuren“ aufspüren zu können, geht hinter Rehbocks Analyse zurück. Was Juergens veranschlagt für die Funktion des Bracken, kann daher nur für den ersten Teil des Textes gelten: Die funktionale Begründung des „bracken Fuerst“ besteht darin, stellvertretend für das Prinzip der „Aventue re“ als ein Movens zu wirken, das den Protagonisten von Bewährungs- situation zu Bewährungssituation führt; er stellt eine Konkretisierung der institutionalisierten Suche dar. Damit ist die Gewinnung des Wertestatus des Protagonisten durchsichtig gemacht als Ergebnis eines Weges zur angemessenen Interpretation der Anforderungen von „ritterschefte“. 240

Die Funktion des Bracken ist spätestens in Belgagan obsolet geworden, er ist hier überflüssig. Gestützt wird diese Argumentation von der Tatsache, dass der Bracke Wildhelm nicht in das Gebirge begleitet. Nachdem Wildhelm Merlin besiegt hat, heißt es von ihm: der brack in dem walde die wile sich het begangen, durch des fiures strangen moht er komen niht zu in.

(WvÖ, V. 12.970–73) 241

Die Präsenz des Bracken hat in Bezug auf das Finden der Aventue re keinen Mehrwert mehr. In der Überdeterminierung wie in dem Verlust der inhärenten Funktion des Bracken zeigt sich, dass Instanzen, die die Handlung scheinbar bestimmen, auf diese Funktion hin detaillierter betrachtet werden müssen. Der Erzähler setzt bewusst verschiedene die Handlung determinierende Instanzen ein und führt deren Funktion damit ad absurdum. Es werden verschiedene Deutungsmöglichkeiten auf die Frage angeboten, wer Wildhelm auf seinem Weg führt. Da diese Deutungsmöglichkeiten gleichwertig nebeneinander stehen, ist es für den Rezipienten unmöglich, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu finden. Die Interpretation des Bracken hat Einfluss auf eine These Dietls, die Schneider aufgreift und weiterführt. Dietl zeigt, dass Aventue r Hauptmann und Bracke für Wildhelm einen Spiegel darstellen: 239 J (1990), S. 298 f. 240 Ebd., S. 402f. 241 Vgl. S (2004), S. 100. Schneider erklärt kurz zuvor, dass sich Wildhelm bei dieser Aventue re wie auch beim Joraffin-Feuergebirge vom Bracken leiten lässt, und führt Vers 11.642 als Beleg an (S. 99). Diese Funktion wird hier m. E. nicht deutlich. Zu der interessanten Parallelisierung von Joraffin-Episode und der Episode im Gebirge von Belgagan vgl. S (2004), S. 99 ff., D (1993), S. 179, R (1963), S. 72.

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Auf seine Frage nach dem hauptman oder dem Bracken erhält Wilhelm jeweils eine Erläuterung zu seinem eigenen Wesen; er tritt hier gleichsam vor einen Spiegel: Er ist der aus der âventiure für die âventiure Geborene und begegnet der Personifikation der âventiure, das heißt er begegnet seinem eigenen Wesen: Sein nach âventiure strebendes Herz spiegelt sich in dem Hund, der später als ein Âventiurenspürhund gedeutet wird (V 3368 f.). 242

Schneider nennt den Hund darauf aufbauend die „Canifikation des Herzen“. Sie liest die gesamte Joraffin-Episode als „Entdeckung des menschlichen Innenraumes“: 243 Auch das Reich Joraffins ist nur durch ein Tor zu erreichen. Mit dem Hund als einer „Canifikation des Herzen“, der auf der Suche nach Aventiure selbst das Tor des Herzen durchquert, sind damit verschiedene Bilder aufeinandergelegt, die sich nicht zur Deckung bringen lassen, die aber additiv auf die Entdeckung des menschlichen Innenraumes als ein zentrales Thema des Textes verweisen. 244

Mit dem oben dargelegten Gedankengang gelten diese Analysen lediglich für die Joraffin-Episode und zu fragen ist, inwiefern es plausibel ist, im Bracken die Canifikation Wildhelms Herzen zu sehen, wenn diese Funktion später wegfällt. Zu beleuchten wäre, wie in diesem Fall beispielsweise gedeutet werden könnte, dass der Bracke Wildhelm beim Belgagan-Abenteuer nicht begleitet.

1.2.3 Personifizierte Natur Eine Schlüsselstelle in Bezug auf die Attribute, die der personifizierten Natur zugesprochen werden, sind die Verse 3495–3501, in denen der Erzähler sie bittet, sie möge ihn bei seinem Schreibprozess unterstützen: Eya aller kunst maisterin, nu stiur mir die sinne min zu disen wilden mæren! hilf mir die rede ahbæren und der sage figur! ich main dich, Natur: du kanst vil wiser lere.

Die Natur wird angerufen als die Herrin über alle Künste; von ihr erhofft sich der Erzähler Hilfe bei der adäquaten Darstellung der Erzählung und explizit der „sage 242 D (1999), S. 149. 243 S (2004), S. 85. 244 Ebd.

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figur“. 245 Diese sowie die rede möchte der Erzähler ahbæren, angesehen machen. Die Bitte ist auf die Wirkung des Werkes bezogen. Wie in den Anrufungen an andere Instanzen bittet der Erzähler darum, dass seine sinne gestiurt werden. Apostrophiert wird dabei eine mit schöpferischer Kraft ausgestattete Natur, eine Natura Naturans, deren Schaffenskraft der Dichter für die Produktion seines Werkes für sich in Anspruch nimmt. Die so gezeichnete Natur ist das Vorbild des Dichters, gerade dadurch, dass er ihr Kompetenzen im Bereich der Kunst zuspricht. Natura Naturata und Kunst werden zueinander enggeführt. Dies ist keinesfalls gewöhnlich und wird entsprechend vom Erzähler durch eine Retardatio in Szene gesetzt: Erst fünf Verse nach der Apostrophe als aller kunst maisterin wird klar, dass die Natur gemeint ist. Zum einen bedürfte es dieser Erklärung nicht, wenn es sich bei der Natur als Herrin der Künste um einen Topos handelte, zum andern wäre die rhetorische Figur der Retardatio vollkommen wirkungslos, wenn dies so wäre. Die Begründung, gerade die Natur um Hilfe zu bitten, wird nach Auflösung der Spannung geliefert. Die Natur kann den Erzähler unterstützen, da sie „vil wiser lere“ vermag. Sie ist gebildet – und dies steht in Opposition zu Natur i. S. v. Natürlichkeit. Zugleich wird betont, dass es der Hilfe der Natur bedarf, da von „wilden mæren“ zu berichten ist. Diese sind Bestandteil einer topisch natürlichen Welt i. S. v. nicht künstlich gebändigt. Die „wilden mæren“ gehören womöglich einer unkultivierten Natura Naturata an, deren dichterische Umsetzung schwierig ist, aber mit Hilfe der Natura Naturans geschafft werden kann. Besonders aufschlussreich ist das Verhältnis der personifizierten Natur zu Gott und personifizierter Minne, das im Abschnitt „Hierarchisierungen“ beleuchtet wird. 246 Verwiesen sei auch auf Kapitel 3 247.

1.2.4 Personifizierter Tod Der Tod berührt einen zentralen Aspekt dieser Arbeit. Er ist auf der rein irdischen Ebene der Antagonist zu den Instanzen, die Schöpfung hervorbringen, und dies ist zuvorderst die Natur. Im philosophischen Diskurs herrscht die Bedeutung des Todes als Ende des Irdischen vor. Der Tod als „corruptio“ wird gesehen „als ein mit der org. Natur gegebenes und verwobenes Phänomen [. . . ]. Entstehen, Wachsen und Vergehen der Lebenswesen sind naturhafte Vorgänge, von denen es

245 Interessant ist hier die begriffliche Analogie zum Prolog: „Wol dir menschlich figur, swa du bist der Natur“. 246 Abschnitt 1.4, S. 109 ff. 247 Siehe S. 310ff.

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keine Ausnahme gibt“. 248 Bezieht man die transzendente Welt des mittelalterlichchristlichen Denkens mit in die Überlegung ein, erscheint der Tod als „Durchgangsstadium zu einer anderen Existenz und zugleich als Wartezustand auf das endgültige richtende Jüngste Gericht“. 249 Diese Einstellung zum Tod unterscheidet mittelalterliches Denken vom Denken anderer Perioden 250 und berührt eine zentrale Debatte in der Forschung zum WvÖ. Der Tod Wildhelms nämlich ist „immer wieder als ein ungewöhnliches Romanende hervorgehoben und kontrovers diskutiert worden“. 251 Von Figuren und Erzähler wird der Tod in der zweiten Person Singular angesprochen, einmal von Aglye als her Tot apostrophiert. Nirgends wird eine äußere Gestalt des Todes beschrieben, jedoch kann in die Entstehungszeit des WvÖ auf eine Tradition ikonographischer Darstellungen des Todes zurückgegriffen werden. 252 „Eine eigentliche Personifikation tritt vereinzelt [. . . ] ab dem frühen 11. Jh. auf“. 253 Als „eigene Macht, als handelnde Persönlichkeit“ ist der Tod in Literatur und Kunst seit dem Ausgang des Hochmittelalters präsent, Darstellungen nehmen als Folge der Erfahrung mit den großen Pestepidemien zu, die zeitlich nach dem WvÖ zu datieren sind. 254 Für die Entstehungszeit des WvÖ kann so die Kenntnis des personifizierten Todes angenommen werden, der Höhepunkt von dessen Darstellung ist noch nicht erreicht. Als Aglye die Eltern belauscht und vernimmt, dass sie die Ehe mit Walwan wird vollziehen müssen, spricht sie den Tod an und bittet ihn, ihr Leben zu beenden (vgl. WvÖ, V. 2354 f.). Sie führt weiter aus, dass, ehe ihr Ryal auf diese Weise genommen werde, man ihr Haupt vom Körper trennen müsste (vgl. WvÖ, V. 2356–2359). Zwar spricht sie den Tod selbst an, er möge ihr Leben beenden, zugleich zeigt sie aber das Bewusstsein, dass der Tod dies nicht selbst vollbringt, sondern dass er Helfer benötigt. 255 Wenige Verse später reflektiert der Erzähler die Macht des Todes und inszeniert ihn als Antagonisten von Minne und Natur. Zunächst wird die Verbundenheit von

248 Zimmermann: Tod, Sterben, III: Philosophie. In: LexMA 8 (2000), Sp. 828 f. Hier soll die komplexe Frage danach, ob und inwiefern die Seele des Individuums den Tod überdauert, ausgeklammert werden. Vgl. dazu ebd. 249 Daxelmüller: Tod, Sterben, V. Volkskunde. In: LexMA 8 (2000), Sp. 832–834. 250 Vgl. Dinzelbacher: Tod, Sterben, IV. Sozial-und Mentalitätsgeschichte. In: LexMA 8 (2000), Sp. 829–831, hier 829. 251 S (2004), S. 186 f. Ausführliche bibliographische Angaben finden sich dort. 252 Vgl. G-T: Tod, Sterben, Ikonographien. In LexMA 8 (2000), Sp. 834 f. 253 Ebd., Sp. 834. 254 Vgl. ebd. 834f. 255 In den Versen 5446 f. macht Aglye erneut den Tod persönlich dafür verantwortlich, dass sie noch lebt: „owe, Tot, daz du mich last / leben ain stunde!?“

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Aglye und Ryal topisch ausgeführt. Die beiden sind zwei Körper und besitzen ein einziges, gemeinsames Herz: 256 Aglye und auch Ryal, daz sint die zwen libe. ob ich die warheit schribe, so wont den liben wandels vri niht wan ain ainic hertze bi

(WvÖ, V. 2376–2380)

Dieses Bild deutet der Erzähler und erklärt, wie es zu verstehen ist: als wie, daz sue lt ir merken eben: ir sin, ir muo t, ir wille, ir leben ist ane sunderunge, da von alhie min zunge bi in niur ain hertze zelt; wan iegliches hat erwelt daz ander zuo einer aigenschaft

(WvÖ, V. 2381–2387)

Schon Vers 2381 macht deutlich, dass die vorangegangenen Worte übertragen zu verstehen sind. 257 Die proprietates haben zur Wahl der Metapher geführt (produktionsästhetisch) sowie die Auslegung (rezeptionsästhetisch) ermöglicht. Sie werden gebildet von der Gemeinsamkeit von sin, muo t, wille und leben und der Tatsache, dass beide Herzen das jeweils andere zum Eigentum erwählt haben. Der Erzähler stellt es als seine Entscheidung und Leistung heraus, aufgrund dieser Eigenschaften die Metapher gewählt zu haben. Damit macht er zugleich klar, dass er selbst die Bedeutung der von ihm gewählten Metapher bestimmt. Im Anschluss fragt er rhetorisch: „waz moe hte han die kraft / daz uz dem ainen machte zwai, / wan des Todes haia hay?“ (WvÖ, V. 2388–2390). Die topische Metapher des einen gemeinsamen Herzens zweier Liebender wird aufgenommen und ins Gegenteil verkehrt. Sehr deutlich wird der Tod durch die Wahl der Metaphorik in Opposition gestellt zu der verbindenden Kraft der Minne. Während diese aus zwei Herzen eins macht, vermag allein der Tod, aus einem Herzen wieder zwei zu machen 258. Mit dieser Vorstellung wird am Ende der Erzählung gespielt. Als 256 Vgl. zum Herzen auch Ertzdorff, Xenja von (1962): Das „Herz“ in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur. In: PBB 84, S. 249–301 und Ertzdorff, Xenja von (1965): Die Dame im Herzen und das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs „Herz“ in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts. In: ZfdPh 84, S. 6–46. 257 Hier wird die Metapher erst genannt und dann ausgelegt, es liegt also ein Pendant zur allegoria permixta vor. 258 Diese Metapher wird aufgenommen, als Wildhelm in höchster Not gegen Merlin kämpfen muss. Als dieser auf den Plan tritt, macht der Erzähler deutlich, dass sich Aglyes Herz spalten würde, wenn sie um diese große Gefahr wüsste (vgl. WvÖ, V. 11.924 f.).

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Wildhelm tot ist, klagt Aglye ihr Leid, und der Erzähler wertet es als ein großes Wunder, „daz ir daz hertz niht entzwai / spielt“ (WvÖ, V. 19.106f.). Aglye möchte vielmehr ihr Herz mit dem Herzen Wildhelms verbinden, d. h. sie versucht, die Metapher der vereinigten Liebe (zwei Körper und ein Herz) ins Faktische zu übertragen. Doch obwohl sie ihre Brust so stark an die des Geliebten drückt, dass ihr Herz aufhört zu schlagen, gelingt dies nicht. Am Schluss liegt sie „mit herzten [. . . ] an hertzen tot“ (vgl. WvÖ, V. 19191–19219). Die Herzen haben sich nicht verbunden zu einem gemeinsamen. Die Macht des Todes, ein gemeinsames Herz in zwei zu teilen, kann Aglye nicht überwinden, sondern findet im Versuch, dies zu tun, selbst den Tod. Die tragische Pointe besteht in der Aussage, dass das Einssein von zweien im Bereich des Irdischen nicht konkret, sondern nur übertragen funktionieren kann. Implizit gestaltet sich der Tod auch als Antagonist der Natur, war es doch v. a. ihre Initiative, die Aglye und Ryal zueinanderbrachte, ihren Geschlechtstrieb weckte und die Liebe in ihnen entfachte. 259 An anderer Stelle wird die Natur als „Herrin über Leben und Tod (v. 13.800)“ 260 dargestellt. Es ist wohl nicht endgültig zu entscheiden, ob in Vers 13.800 (die wil Natur in leben lat) ausgedrückt wird, dass die Natur dem Tod übergeordnet ist und so als Antagonist ausfällt. Präziser wäre davon zu sprechen, dass sie hier dargestellt wird als Herrin über das Leben, die leben lässt. Anders als Gott, der explizit als Herr über den Tod apostrophiert wird, 261 wird sie hier nicht in Verbindung gebracht mit dem Tod, sondern ausschließlich mit dem Leben. Als Ryal in das Gestirn des Vergil-Sessels emporgehoben ist, fürchtet er sich davor zu sterben und stellt fest, dass ihn „nu betullet / hat der tot mit listen hie“ (WvÖ, V. 5160f.). Er schreibt seine missliche Lage der Intention des Todes zu. Ähnlich wird der Tod klassifiziert, als Aglye fürchtet, Ryal könne im Kampf fallen. Sie fragt: „her Tot, wend iwer lue re / minen man hie sterben?“ (WvÖ, V. 8104f.), und betont damit die Intentionalität des Todes sowie dessen Hinterlist. Als auch Herzog Liupolt und die Herzogin durch die Nachricht von dem Tod ihres Sohnes sterben (vgl. WvÖ, V. 19426–19429), macht der Erzähler den Tod verantwortlich für das erfahrene Leid: „owe, Tot, was du hast pin / gestiftet hie von triwen“ (WvÖ, V. 19430f.). Darüber, dass Aglye nach erfolgreicher Verhinderung der Eheschließung mit Walwan Wildomis heiraten soll, ist der Erzähler so enttäuscht, dass er den Tod für Aglye und Ryal herbeisehnt: „wa Tot? nu zuo ! lat iln / iur kraft nach den zwaien“ (WvÖ, V. 9068f.). Dabei werden zudem Gott, Herz und Minne angesprochen. 259 Vgl. Darstellungspunkt 1.4.2, S. 112 ff. 260 F (1930), S. 53. 261 Vgl. WvÖ, V. 9876 f., siehe unten.

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Gott wird angerufen, sich der beiden zu erbarmen. Der Erzähler fordert sodann das Herz auf, sich spalten zu lassen, und rekurriert damit auf das gezeigte Antagonistenpaar Tod und Minne. Die Minne wird folgerichtig danach apostrophiert. Der Erzähler wirft ihr vor, für die prekäre Situation verantwortlich zu sein, und gibt an, der Minne von nun an „vint“ zu sein. Sofern die Minne noch mehr Leid zulässt, kann es zwischen ihr und dem Erzähler keine Sonne mehr geben (vgl. WvÖ, V. 9062–9096). Die Antagonisten Minne und Tod werden auch hier als solche vorgestellt, anders als zuvor wird der Tod herbeigesehnt und die Minne beschuldigt. Dieser wird Raum zugestanden, sich zu verteidigen. In 34 Versen verteidigt sie sich (vgl. WvÖ, V. 9097–9130). 262 Wildhelm sieht sich dem Tod nahe und akzeptiert sein Los: „swa der tot mir si beschert, / da pflege Got des endes!“ (WvÖ, V. 9876f.). Er spricht nicht den Tod als Personifikation an, sondern apostrophiert Gott als Herrn über den Tod. Gott vermag über das Ende des Lebens zu bestimmen. 263 Wie auch zuvor stellt sich dies aus Aglyes Sicht anders dar. Sie klagt: „mir wil der Tot das leben steln“ (WvÖ, V. 9958). 264 Für sie ist der Tod handelnde Instanz; eine ihm übergeordnete Instanz zeichnet sich dabei nicht ab. Auch Wildhelm apostrophiert den Tod als Personifikation: „ach, Tot, was du nu tribes / mit mir ungetriwer spil: / swie gern ich durch sie sterben wil, / so lastu michs niht enden“ (WvÖ, V. 11.194–11.197). Dabei drückt er seine paradoxe Situation als Minneritter aus. Als solcher würde er gerne für seine Dame in den Tod gehen; zugleich möchte er aber auch überleben, um sie wiedersehen zu können. Der nächstliegende Antagonist des Todes ist das Leben, der auch im WvÖ als solcher eingeführt wird (vgl. WvÖ, V. 10.576ff.). Als Wildhelm tot ist, möchte Aglye die Leiche berühren: „ich muo z in toten rue rn, / oder der tot rue rt mich“ (WvÖ, V. 19.166 f.). Erneut erscheint der Tod als Personifikation. 265 Der Ausweg, den Aglyes Worte in Aussicht stellen – dass sie nicht sterben wird, wenn sie den Toten berühren darf –, erfüllt sich nicht. Gerade dadurch, dass sie ihre Brust zu stark an seine presst, findet sie den Tod (vgl. WvÖ, V. 19191– 19219). 266 Dabei wird die Metaphorik aufgenommen, die zuvor die Gegensätzlichkeit von Liebe und Tod ausgedrückt hat. 262 Vgl. Darstellungspunkt 1.2.1, S. 70 ff. 263 Dies wird ebenso deutlich in den Versen 10.584 f., in denen Wildhelm klagt: „ach Got, wiltu entane / mich vræuden und libes“. 264 Ebenso Königin Crispin: „do der tot vom leben schiet / minen bruo der Soladin“ (WvÖ, V. 13.324f.). 265 An dieser Stelle greift wohl Bloomfields grammatisches Kennzeichen, Personifikationen lägen vor, wenn sie in Verbindung gebracht würden mit „verbs which are normally only used of living creatures“ (B (1970), S. 246–248. Vgl. auch S (1985), S. 353). 266 Zu intertextuellen Verweisen Aglyes Todes vgl. R (1998), S. 120–125, S (2000), S. 149.

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daz claid so ob ir brust blanc zerraiz und druckt ir zarte brust in die wunden mit gelust so ser daz sin ir hertz enpfant. in dem libe mit todes bant vristen sich wolt daz leben, da von si dem hertzen geben so vil wart der hitze groz, gaist und bluo t so vil dar floz daz daz hertz sin bewegen vor ir kraft niht moht regen, daz het der jamer in gesmogen. sus si Wildhelm dem herzogen mit herzten lag an hertzen tot.

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(WvÖ, V. 19196–19209)

Aglye möchte ihr Herz mit dem Herzen Wildhelms verbinden, d. h. sie versucht, die Metapher der vereinigten Liebe (zwei Körper und ein Herz) ins Faktische zu übertragen. Doch obwohl sie ihre Brust so stark an die des Geliebten drückt, dass ihr Herz aufhört zu schlagen, gelingt dies nicht. Am Schluss liegt sie „mit herzten [. . . ] an hertzen tot“. Die Herzen haben sich nicht verbunden zu einem gemeinsamen. Die Macht des Todes, ein gemeinsames Herz in zwei zu teilen, kann Aglye nicht überwinden, sondern findet im Versuch dies zu tun selbst den Tod. 267 Diese Erkenntnis steht im Widerspruch zu Dietls These, Wildhelms Sterben stehe „für das Erlangen der höchsten und letzten Stufe der Minne“. 268 Neben der Tatsache, dass Wildhelms Tod zuvorderst eine Folge seiner „überzogene[n] curiositas“ 269 ist, die dieser These widerspricht, macht der Erzähler deutlich, dass Aglyes Minne den Tod nicht überwinden kann. Tod und Minne bleiben bis zum Schluss Antagonisten. 270 Während der Liebestod auf diese Weise verwissenschaftlicht ist, fehlt es nicht an Verweisen auf ein jenseitiges Fortbestehen der Liebe zwischen Wildhelm und Aglye:

267 Der Tod Aglyes stellt sich somit komplexer dar, als dass sie, wie S (1956), S. 154 meint, den Tod „durch liebe“ erleide. 268 D (1999), S. 237. 269 K (1993), S. 481. 270 Für diese Trennung spricht auch, dass die „extreme Abweichung“, der Tod des Helden, vom „Minneroman-Schema aus [. . . ] nicht zu erklären“ sei (S (2000), S. 149); Ridder verweist auf die „geradezu naturwissenschaftliche Beschreibung des Vorgangs“, durch den der „Nimbus des Liebestodes“ zerstört werde, „so daß dieser sich für den Hörer /Leser als ein historisch-naturhaftes Geschehen darstellt“ (R (1998), S. 122). Vgl. auch Abschnitt 3.2, S. 327 ff.

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durch liebe nieman nu den tot lidet: daz wil ich Got clagen daz man von valscher triwe sagen nu muo z, der diu welt pfligt. solhe triuwe nider ligt der disiu zwai gepflegete habn: des mue zz Altissimus si laben mit ewiger spise.

(WvÖ, V. 19.210–19.217)

Das Leben im Jenseits erscheint hier nicht als das Ziel des diesseitigen Lebens, sondern als tröstender Ersatz für das verlorene Leben. Dabei spielt die triwe eine entscheidende Rolle. Der Erzähler bedauert, dass mit dem Tod der beiden die wahre Treue von der Welt verschwindet – eine laudatio temporis acti –, und sieht in dieser Treue zugleich den Grund dafür, dass ihnen Gottes Ewigkeit zuteil wird. Neben der göttlichen Ewigkeit erwähnt der Erzähler eine weitere Möglichkeit, die ein Fortbestehen der Protagonisten sowie deren exemplarische Treue gewährleistet. Er fordert, dass „man ir nach prise / ymmer hie gedencken“ solle (WvÖ. V. 19.218f.). Zum einen wird damit die christliche Tradition aufgenommen, der Toten zu gedenken. Zum andern lassen sich die Verse poetologisch lesen; dies wird gestützt durch die Verse 14.409–14.417. 271 Der Erzähler rekurriert auf seine eigene Leistung, die ermöglicht, das Schicksal seiner Figuren in Form der Erzählung weiterzugeben und somit vor dem Vergessen zu bewahren. Der Wert der eigenen Leistung ist umso höher zu bewerten, wenn man bedenkt, dass Wildhelm „ein fiktionales Glied eines historischen Geschlechts, eingeschoben zwischen Vater und Sohn“, 272 ist. Die Existenz Wildhelms ist eine Erfindung des Dichters, mit seinem Tod – besonders auch mit dem zeitlich naheliegenden und logisch verknüpften Tod von Liupolt und seiner Gemahlin – ist die nichtfiktionale Realität wiederhergestellt. Somit ist Wildhelms Tod nicht nur auf der Handlungsebene selbst bedingt und aufgeladen durch die Motive Jagdopfer, Minnetod, politischer Mord und Sühne für eine begangene Tat 273 sowie überzogene curiositas 274, sondern v. a. erzähltechnisch notwendig, damit Fiktionales und Historisches letztlich getrennt werden: Mit Wildhelms Tod ist die historisch verbürgte Genealogie, in die er als fiktionales Glied eingefügt worden ist, wiederhergestellt. Wenn nun der Tod des Protagonistenpaares notwendig ist, erweisen sich die Klagen des Erzählers als vorgespielt. Obwohl er den personifizierten Tod verantwortlich macht und anklagt für den Tod der beiden, bestimmt er letztendlich auch über ihn. 271 272 273 274

Vgl. S. 141ff. dieser Arbeit. D (1993), S. 173. Vgl. S (2004), S. 191. Vgl. K (1993), S. 481.

A   Q

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1.3 Autoritäten und fingierte Quellen Es ist allgemein bekannt, dass dem Rezipienten mittelhochdeutscher Literatur Quellenberufungen geradezu entgegensprudeln. 275 An die mündliche und schriftliche Tradition wird auch vom Erzähler des WvÖ immer wieder erinnert. Zum einen werden dabei namentlich Autoritäten genannt. 276 Zum anderen wird auf zunächst nicht näher spezifizierte Texte verwiesen, von denen der Erzähler vorgibt, sie als Quellen benutzt zu haben. 277 Auf sie soll später eingegangen werden. Zweimal innerhalb von 30 Versen ruft der Erzähler Wolfram von Eschenbach 278 an. Wolfram wird als kundiger Dichter gepriesen und dessen Können mit der eigenen Unzulänglichkeit verglichen. Dabei bestimmt den Erzähler der Wunsch, es dem Vorbild nachtun zu können: Ach, du werder Wolfran von Eschanbach, besinter man, moe ht dich min sin erlangen!

(WvÖ, V. 14.517–14.519)

Du werder Eschenbacher, la dins getihtes wiger durch mines herzen stad gan! ich main die sinne die ich han, die sint gar ungelenkig: niht lenger wil ich wenkik an der abentue r sin

(WvÖ, V. 14.545–14.551)

Juergens erachtet es als sicher, dass Johann den Wolfram zugeschriebenen „Jüngeren Titurel“ kenne 279, er sieht ihn gar als Exegeten dieses Textes. 280 Die Funktion der Nennung Tschionatulanders sieht Juergens darin, „auf Intensität und Deutungshorizont der Kampfhandlungen Wilhelms hinzuweisen“. Dies bedeute, „daß in der Turniersituation, die hier thematisiert ist, die Fragestellung nach der soteriologischen Dimension ritterlichen Kämpfens im Sinne des ‚Jüngeren Titurel‘ zu vergegenwärtigen“ sei. 281 Natürlich ist Juergens Recht zu geben in der These, dass mit der Nennung von Figuren anderer Texte Diskurse derselben übertragen werden

275 Vgl. L (2004), S. 209. Die gelungene Metapher ist dort zu lesen. 276 Vgl. J (1990), S. 262–310. 277 Vgl. hierzu R (1998), S. 285 f., 314 f.; D (1999), S. 107 f.; S (2004), S. 124f. 278 Siehe hierzu insbesondere J (1990), S. 298–304. 279 Vgl. J (1990), S. 298. Vergleiche zum Motiv des Bracken S. 90 ff. dieser Arbeit. Dort wird beleuchtet, inwiefern der Bracke im WvÖ vom Bracken im JT inspiriert ist. 280 Vgl. ebd., S. 299. 281 Ebd., S. 301.

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D A  E

auf den neuen Text. Darüber hinaus dienen die Nennung und der Preis zweier Figuren aus Wolframs Werk – neben Tschionatulander (WvÖ, V. 14.525) wird auch Gardivias (WvÖ, V. 14.520) genannt – als Folie für den Topos der Überbietung. Im Nachhinein nämlich werden die beiden mit Wildhelm verglichen: ainer noch der ander hat nie von wibe baz getan an der gewirt Osterman, des dise abentue r sin

(WvÖ, V. 14.526–14.529)

Dieses vergleichende Lob Wildhelms – an nimmt den Komparativ baz auf; noch deutlicher wird dies in allen Handschriften außer G, die den (denne) schreiben – revidiert die zuvor getroffene Aussage, poetisch mit dem großen Vorbild nicht mithalten zu können. Wildhelm zeichnet sich vor diesen Helden aus, und damit implizit auch der Dichter, der ihn erschuf, vor dem Dichter der anderen. Autoritäten aus der Schrifttradition bürgen für die Darstellung von wunderlichen Einzelheiten. In die Beschaffenheit der Schöpfung Gottes als „materie, forme, privatio“ (14.307) vermag „Aristoteles“ Einblick zu gewähren [. . . ]. „Plimius“ bürgt für zutreffende Auskunft über den Salamander (4008). „Socrates“ (11.949) schafft Voraussetzungen für die Glaubwürdigkeit eines Tieres „fortaspinat“ (11.967), das durch „Avincenna“ (11.959) zusätzlich beglaubigt wird [. . . ]. Sowohl „Virgilius“ (4905, 4965 u. ö.) als auch „Dedelus“ (10.896) werden im Sinne eines ‚artifex‘ mit teils magischer Kompetenz eingeführt. 282

Juergens erwägt, die Nennung von Autoritäten könne gedeutet werden „als Strategie zur Verifikation des aufgefächerten, meist naturkundlichen Wissens“, gibt aber zu bedenken, dass die „abgesicherten Gegenstände [. . . ], meist ‚res compositae‘, die aus Versatzstücken verschiedenster Provenienz kompiliert wurden, [. . . ] Gegenstände von fraglicher Glaubwürdigkeit“ seien, denen zugleich „hohe strukturelle Bedeutsamkeit“ zukomme. Er erkennt im „Zitieren von Autoritäten im Vorfeld der Einführung von ‚res‘ [. . . ] eine Signalfunktion für die Bedeutsamkeit der durch diese beglaubigten ‚res‘“. 283 Darüber hinaus werden m. E., gerade durch die auch von Juergens benannten „demonstrative[n] Gesten“, die die „Konfrontation mit den ‚mirabilia mundi‘ respektive ‚mirabilia dei‘“ vorbereiten (vgl. WvÖ, V. 12.660; 11.948), 284 die Quellenberufungen ironisiert. 285 282 283 284 285

Ebd., S. 263. Ebd., S. 265f. Ebd., S. 266, Fußnote 8. Vgl. hierzu auch L (2004), v. a. S. 211–217, in denen die „produktions- und rezeptionsästhetischen Voraussetzungen und Bedingtheiten des Quellenbegriffs mittelalterlicher Literaturproduzenten rekapituliert“ werden (Zitat, S. 211).

A   Q

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Wie bereits erwähnt, beruft der Erzähler sich auf Quellen, die er nicht näher benennt. Solche Quellenberufungen kommen im WvÖ äußerst häufig vor. 286 Im Folgenden soll eine Übersicht über einige Quellenberufungen gegeben werden, um die große Anzahl sowie die von Ridder konstatierten „stilistische[n] Varianten“ 287 vor Augen zu führen. Sechsundzwanzigmal gibt der Erzähler vor, das Dargestellte wiederzugeben, „als ich las“. Neunzehnmal gibt er dabei keine konkrete Quelle an, sondern fügt lediglich die Formulierung „als ich las“ ein (vgl. WvÖ, V. 1088, 3856, 4496, 4928, 6088, 9314, 10.880, 11.994, 12.346, 14.140, 14.368, 14.480, 14.628, 16.572, 16.668, 16.785, 16.904, 16.966, 17.138), dreimal wird die Formulierung auf die „warheit“ bezogen (vgl. WvÖ, V. 277, 16.610, 19.138), einmal heißt es, er habe die Inhalte „geschriben gelesen“ (vgl. WvÖ, V. 3599), einmal wird als Medium ein „altes buo ch“ genannt (vgl. WvÖ, V. 10.862), einmal „diu schrift“ (vgl. WvÖ, V. 3150) und einmal „dise rede“ (vgl. WvÖ, V. 6041). Die Formulierung, etwas so „geschriben gevunden“ zu haben, wie es der Erzähler wiedergibt, wird fünfmal verwendet (2261, 3578 f., 12.212, 18.513), einmal spezifiziert, etwas „in latine“ vorgefunden zu haben (19.563). Leicht abgewandelt wird einmal gesagt, „als ez geschriben stat“ (16.581), einmal „als ich geschriben las“ (3599). In Vers 11.949 heißt es, „es schribt der maister Socrates“. Dreizehnmal zeigt der Erzähler mit einem Verweis auf „diu rede“ eine Quelle seiner Erzählung an (vgl. WvÖ, V. 43, 569, 1022, 1188, 1194, 1268, 1365, 2253, 4484, 4501, 4626, 4936, 6041). Davon wird elfmal in teils leichter Variation die Formulierung „als (uns) diu rede sait“ verwendet, in Vers 1188 „tet diu rede mir bekant“, in Vers 6041 heißt es: „für war ich diese rede las“. In Vers 2253 ist „diu rede“ spezifiziert durch das Adjektiv „guo t“. Auffällig ist, dass Bezüge auf die nicht näher spezifizierte „rede“ auf das erste Drittel des Textes beschränkt sind. Auf das gesamte Epos verteilt sind 19 Berufungen auf „diu schrift“ (vgl. WvÖ, V. 954, 989, 1071, 1089, 3150, 6026, 6103, 6200, 7576, 8238, 12.873, 13.631, 13.838, 16.573, 16.746, 16.808, 16.863, 16.872, 16.977). Die Formulierungen sind weniger einheitlich als bei der „rede“. Verwiesen wird auf ein nicht näher spezifiziertes „buo ch“ (1913, 1994), ein Aventue r-Buch (3579, 7845), das oben erwähnte „alte buo ch“ (10.862), „diu buch“ (11.988, 14.187), „das ander buch ‚de anima‘“ von Aristoteles (15.139), „diu buch der warheit“ (16.981) und der „maister buo ch“ (18.117).

286 Vgl. D (1999), S. 108. Sie vergleicht die von Bierbaum, S. 147 genannte Zahl von 81 Berufungen im WvÖ mit Zahlen, die Blumenröder (Blumenröder, A (1922): Die Quellenberufungen in der mittelhochdeutschen Dichtung. Diss. (masch.), Marburg, S. 13–19) für andere mittelhochdeutsche Texte ermittelt. 287 R (1998), S. 315. Ridder listet dort Textstellen auf, in denen buo ch, schrift und geschiht als Verweis auf die Quelle genannt werden.

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D A  E

Das Urteil der neuen Forschung über die Quellenberufungen im WvÖ ist einhellig, wenn auch in der Akzentuierung leicht verschieden. Für Dietl zeigen sie „gerade nicht den Anspruch auf historische Wahrheit, sondern ironisier[en] ihn und dien[en] damit als Fiktionalitätssignal“. 288 Ridder sieht in ihnen „ein allgemeines Legitimationsinteresse“ verdeutlicht, „dem allerdings auch ironische Implikationen in keiner Weise fremd sind“. 289 Er macht auf die kontextabhängige Ausprägung der Quellenberufungen aufmerksam: Auffällig ist aber, daß sich die Quellenberufungen [. . . ] in den Teilen des Werkes, die der Tradition des Minne- und Aventiureromans stärker verpflichtet sind, von denjenigen unterscheidet, für die die historische Überlieferung von größerer Bedeutung ist. Im ersten Textbereich legitimiert der Erzähler aventiurehaftes, allegorisches und fabulös-phantastisches Geschehen durch den Bezug auf das buo ch (v. 3579, 7845), die sage (v. 5001, 5314, 7695, 9268, 18.307), die geschiht (v. 16.584) und die schrift (v. 13.631) der aventue r. Das Kreuzzugsgeschehen des zweiten Werkteiles ist durch den Verweis auf das buo ch (v. 16.981, 18.116 f.) und die (ge)schrift (v. 16.573, 16.863) der warheit als historischer Überlieferung nahestehendes Erzählgeschehen deutlich davon abgesetzt. Diese Verweise konzentrieren sich besonders auf erzählte Geschichte, in der der österreichische Herzog Leopold die herausragende Rolle spielt. 290

Wie Dietl herausstellt, wird die Funktion der Quellenberufungen vor dem Hintergrund des Epiloges eindeutig, 291 in dem der Erzähler Agrant als denjenigen vorstellt, der die Vorlage des WvÖ in lateinischer Sprache hat aufschreiben lassen. ich Hanns der schribær dis aventue r ahtbær ich in latine geschriben vant. von Zyzya kue nc Agrant hiez si also beschriben.

(WvÖ, V. 19561–19565)

Diese „offensichtliche Quellenfiktion“ 292 „ist leicht zu durchschauen, ja wohl nur als Ironisierung der epischen Tradition fingierter Quellenangaben zu verstehen“. 293 Deutlicher noch als der wolframsche Kyot, den Haug eine „Maske der Fiktion“ 288 D (1999), S. 108. Dietl weist im Übrigen auch nach, dass im WvÖ die drei Akte der Fiktionalität nach Iser erfüllt sind (vgl. ebd., S. 122). 289 R (1998), S. 315. 290 Ebd. Vgl. auch die weiteren Ausführungen Ridders zur Legitimation der Fiktion und Wahrheit. 291 Vgl. D (1999), S. 108. 292 Ebd., S. 107. 293 R (1998), S. 285 mit Verweis auf S, Manfred Günter (1987): Zum Verhältnis von Mäzen, Autor und Publikum im 14. und 15. Jahrhundert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 82 f., im Folgenden zitiert als S (1987).

A   Q

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nennt, 294 ist der Verweis auf Agrant in diesem Zusammenhang ein Signal für Fiktionalität. 295 Der Erzähler stilisiert sich zum Übersetzer seiner eigenen Figur und eröffnet damit die Perspektive, sein Werk sei nur noch allein von ihm abhängig und somit – selbstreferenziell 296 – losgelöst von Quellen und Tradition. Wie Dietl richtig konstatiert, wird dabei mit der Vorstellung eines Augenzeugenberichtes gespielt, 297 wird doch in den oben zitierten Versen zumindest die Möglichkeit artikuliert, Agrant hätte das aufschreiben lassen, was er selbst erlebt habe. 298 Mit der Augenzeugenschaft ist eine der zentralen mittelalterlichen Glaubwürdigkeitsbekundungen aufgenommen: Neben den wesentlichen Stilmerkmalen, Kürze, Luzidität und Wahrscheinlichkeit, diente vor allem die Berufung auf Augenzeugen als grundlegendes Prinzip, Glaubwürdigkeit und Faktizität des Erzählten zu garantieren. Da diese unmittelbare Augenzeugenschaft von den mittelalterlichen Geschichtsschreibern bzw. -dichtern kaum vorgewiesen werden konnte, rückte an die Stelle der eigenen adtestatio rei visae die Berufung auf Gewährsmänner, die selbst Augenzeugen waren oder sich wiederum auf die auctoritas eines anderen berufen konnten, so daß sich „die Perspektive des Historienlesers“ durchsetzte. Wie die Berufung auf schriftliche Quellen und Vorlagen verlor auch die adtestatio rei visae ihre beglaubigende Funktion nicht, sondern wurde zu einer in der Erzähltradition verankerten Wahrheitsbekundung. „Geborgte“ Augenzeugenschaft und Quellenberufung verweisen so auf die der historia immanente Verbindung von re gestae und memoria rerum gestarum, indem durch den Verweis auf schriftliche Quellen, in denen das Geschehene bereits von Augenzeugen oder von in ihrer Folge stehenden auctoritates konserviert wurde, die Erinnerung an Vergangenes lebendig bleibt und für das „Hier und Jetzt“ dienstbar wird. 299

Der WvÖ ist bekanntlich nicht der erste mittelhochdeutsche Text, in dem dieses Schema des Augenzeugenberichts aufgenommen und ad absurdum geführt wird. Es ist Legion, dass die Aufforderung des Erzählers im „Erec“ an den Rezipienten, die von ihm benannten Wunder des Meeres selbst zu schauen (vgl. Erec, V. 7623–7934), als Fiktionalitätssignal zu lesen ist. 300 Raumann hat systematisch 294 H (2001), S. 38. 295 Vgl. die genannten Stellen bei Dietl und Ridder. 296 So wie Frau Aventiur bereits im „Parzival“ (vgl. H (2001), S. 38); siehe auch Darstellungspunkt 1.2.2, S. 80 ff. 297 Vgl. D (1999), S. 107. 298 Dass Agrant die Geschichte hiez [. . . ] also beschriben, kann auch gelesen werden als Verweis auf sein Mäzenatentum; nicht unbedingt muss hier ein Hinweis auf seine Augenzeugenschaft gegeben sein. 299 R, Rachel (2010): Fictio und historia in den Artus-Romanen Hartmanns von Aue und im „Prosa-Lancelot“. Zugl.: Aachen, Techn. Hochsch., Diss. 2008. Tübingen [u. a.]: Francke (Bibliotheca Germanica, 57), S. 100 f., im Folgenden zitiert als R (2010). 300 Vgl. exemplarisch H (2013), S. 97.

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D A  E

das Verhältnis von historia und ficito in den Artusromanen Hartmanns untersucht und u. a. gezeigt, dass der Erzähler im „Erec“ „das Thema Augenzeugenschaft ad absurdum führt“. 301 Sie setzt sich dabei mit Knapps Auffassung auseinander, dass „das literarische Spiel mit dem Augenzeugentopos [. . . ] über den [. . . ] fiktionalen Status eines Werkes“ nichts aussage, und widerspricht ihr. „Gerade im Umgang mit den traditionell zur Wahrheits- und Faktizitätsbekundung bemühten narrativen Elementen kann ein mögliches Signal für die Bewußtmachung des fiktionalen Status des Werkes erkannt werden“; es seien „gerade die traditionellen Beglaubigungselemente“, die „eine geeignete Grundlage“ darstellten, „anhand derer der Fiktionalitäts- respektive Historizitätsstatus des Erzählten reflektiert werden kann“. 302 In Bezug auf den WvÖ kommt Dietl zu einem ähnlichen Schluss, wenn sie auf Kern verweist, der einer „Wahrheitsbeteuerung, die eine Romanfigur als Zeugen anführt, wie etwa in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘, Str. 5239–5241, einen zweifelhaften Wert“ beimesse. Solche Wahrheitsbeteuerungen könnten „die Wahrheit des Erzählten nur innerhalb des Romans, für die Romanfiguren, nicht aber für das Publikum bestätigen“. 303 Denkt man die Möglichkeit zu Ende, Agrant werde hier als Augenzeuge vorgestellt, so wären alle Passagen über Agrant autobiographisch. Dabei wird humoristisch mit den Perspektiven gespielt. Wäre der von Agrant in Auftrag gegebene Text die (einzige) Quelle des Autors des WvÖ, so müsste dieser aus vielen Berichten von Einzelheiten erfahren. Agrant selbst nämlich ist nur bei einem Bruchteil der Handlung zugegen. Im Epilog wird Agrant in seiner Bedeutung aufgewertet; sein Leben, das zuvor in Beziehung gesetzt worden war zum Heiligen Paulus, wird nun wichtig. Nachdem die letzte Schlacht aus Sicht der Heiden verloren ist, berichtet der Erzähler von einem Wunder: ach Got, wie ist din bekeren so balde ergangen, swenn du wilt! daz schain an Paulus, den bevilt nie christentuo mes aht. nu hoe rt wie volbraht hie Got sin goe tlich wunder: sins hailigen gaistes zunder entzunt den kue nc Agrant daz er sel, muo t enbrant in goe tlich war minne in hertzen und in sinne. (WvÖ, V. 18.168–18.178) 301 R (2010), S. 128. 302 Ebd., S. 127. 303 Ebd., S. 107f. mit Bezug auf K, Peter (1993): Leugnen und Bewußtmachen der Fiktionalität im deutschen Artusroman. In: Mertens; Wolfzettel (Hrsg.): Fiktionalität im Artusroman. Tübingen: Niemeyer, S. 11–28, hier S. 18 und 28.

H

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Wie der biblische Paulus, der sein christenfeindliches Leben als Saulus aufgibt und fortan ein vorbildliches christliches Leben führt, 304 wird Agrant vom Heiligen Geist erfasst und verehrt von nun an den christlichen Gott. Er erinnert sich plötzlich auch an seine Pilgerfahrt, die er zusammen mit Liupolt unternommen hatte, und erkennt, dass er damals schon die Macht des christlichen Gottes hätte anerkennen müssen (vgl. WvÖ, V. 18.188–18.201). Zuletzt empfängt er die Taufe, die er erbittet (vgl. WvÖ, V. 18.207 f.), zusammen mit Senebor, Crispin und zwölftausend Mann (vgl. WvÖ, V. 18.209–18.215). Der Erzähler gibt also vor, Agrant, der paulusgleich Bekehrte, sei Auftraggeber seiner Quelle. In der Figur Agrant wird damit etwas Fiktionales in Verbindung gebracht mit Heiligem, heilsgeschichtliches Wissen wird für eine poetologische Reflexion fruchtbar gemacht. Darüber hinaus ist Agrant „in den bekannten Stammbaum des Gralsgeschlechts neu eingefügt worden“ und herrscht über ein Reich, das „in die authentische Geographie der arabischen Welt eingeschoben ist“. 305 Er – ein Typos Pauli; außerdem Mitglied der Gralsfamilie und Herrscher über ein reales Reich – verbindet in sich Gralssage, Heilsgewissheit und Historia; mit der Behauptung, Agrant sei der Auftraggeber der Quelle für den WvÖ, deutet der Erzähler diese Stoffe als Bestandteile des WvÖ an, aus denen dieser sich zusammensetzt. Die offensichtliche Quellenfiktion hat somit möglicherweise einen wahren Kern 306 und spiegelt den „kompilatorischen Produktionsmodus des Textes“ 307 wider. Agrant als Quelle ist dabei zugleich deutlich als Fiktionalitätssignal durchschaubar, wie oben dargestellt, sodass Fiktionalität und Kompilation des Textes nebeneinander Bestand haben.

1.4 Hierarchisierungen In Abschnitt 1.2 308 wurde der Begriff der „allegorischen Personifikation“ vorgestellt. Eine allegorische Personifikation liegt vor, wenn eine Personifikation im Zusammenspiel mit anderen Personifikationen und in der Handlung einen neuen Bezugshorizont eröffnet. Ob die oben dargestellten Personifikationen im Sinne die-

304 Vgl. Apostelgeschichte des Lukas: Apg. 9,3 ff. Vgl. zu Paulus im WvÖ auch J (1990), S. 283. In mittelhochdeutscher Literatur z. B. auch erwähnt in „Barlaam und Josephat“, V. 3059; Saulus z. B. im „Silvester“, V. 1802. 305 D (1999), S. 107. 306 So wie Kyot möglicherweise auch einen wahren Kern in sich birgt. Bei beiden ist dabei ein Aspekt der Gral. Vgl. B (2004), S. 246 f. 307 R (1998), S. 288. 308 Vgl. S. 70ff.

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D A  E

ser Begriffsdefinition allegorisch sind, kann sich demnach nur zeigen, wenn deren Verhältnis zueinander in den Blick genommen wird. Im Bezug auf die untersuchten Personifikationen ergeben sich zwei Schwierigkeiten. Zum einen interagieren sie nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Erzähler und mit Gott. Zum andern sind sie nicht Teil der Haupthandlung, sondern Teil einer Metaebene und greifen bisweilen in die Handlung ein. Passgenau ist daher das Phänomen der Hierarchien im WvÖ mit Hilfe des Begriffes „allegorische Personifikation“ nicht zu erfassen. In den einzelnen Darstellungspunkten zu den Personifikationen von Minne, Aventue re, Natur und Tod wurden bereits Interaktionen derselben nachgewiesen. Im Folgenden soll das Verhältnis von Gott und Natur sowie von Minne und Natur anhand von Passagen untersucht werden, die solche Interaktionen explizit behandeln. Diese sind besonders aufschlussreich für das Erkennen einer Hierarchie der Instanzen. Ein Schwerpunkt soll dabei auf der personifizierten Natur liegen.

1.4.1 Gott und Natur Nachdem Leopold von der Pilgerfahrt zurück nach Österreich gekommen ist, erläutert der Erzähler den Zusammenhang von Gottes Macht, Pilgerfahrt und der Erfüllung des Wunsches der Herrscher (Leopold und Agrant) nach Erben. Den „wisen“ (WvÖ, V. 523), die erkennen sollen, „wie Got daz guot sterken / kan und daz arge linden“ (WvÖ, V. 524 f.), präsentiert der Erzähler als Beweis die „kinden“ (WvÖ, V. 526) und führt neben der Macht Gottes den Einfluss des Heiligen Johannes an, der Leopold und Agrant mit Hilfe vieler Gebete bei ihrer Bitte um Erben unterstützt hat (vgl. WvÖ, V. 527–531). Explizit wird die Schwangerschaft auf „gotes kraft“ (WvÖ, V. 352) zurückgeführt: auch fuo gt do diu gotes kraft dem heiden durch den christen, daz zu den selben vristen die vrawen wurden swanger

(WvÖ, V. 532–535)

Gott bewirkt (hier durch scheinbar direktes Eingreifen) die Schwangerschaft der beiden Frauen, als Vermittler fungiert der Heilige Johannes. Die Macht des christlichen Gottes wirkt dabei vermittelt über den Christen Leopold auch für den Heiden Agrant. Als die Königin den Sohn nach seinem Vater benennen möchte, besteht Leopold auf dem Namen „Wildhalm“ (WvÖ, V. 561), da dieser widerspiegelt, dass der Sohn „von hoher gnaden komen“ (WvÖ, V. 557) ist und Leopold zur Erreichung des Ziels „vil wilder vert vest“ (WvÖ, V. 559) auf sich genommen hat. Pointiert drückt er aus, dass „Got selber in uns [. . . ] gegeben“ (WvÖ, V. 566) hat. Der Ursprung des Lebens ist Gott.

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H

Ein Meister geht „an daz firmament“ (WvÖ, V. 572f.) und sagt Wildhelm eine gute Zukunft voraus. Dabei nennt er auch den Planeten Venus, unter dem die Geburt steht. 309 Als der Erzähler in der Folge von der Geburt Aglyes berichtet, nennt er nicht mehr Gott selbst als Schöpfer, sondern die Personifikationen von Wunsch und Natur: der Wunsch und diu Natur gewue rkent hant so meisterlich sin werdes bilde, also daz ich noch nieman kan gemezzen daz dan iht si vergezzen so tiur so umm ein cleiniu gruz.

(WvÖ, V. 602–607)

In der Personifikation des Wunsches wird der Beweggrund aufgenommen, der zur Pilgerfahrt des Heiden zu einem christlichen Heiligen geführt hat: der Wunsch, einen Erben zu erhalten. Natur und Wunsch wird hier gemeinsam die Kraft zugesprochen, das „bild“ der Aglye „gewue rkt“ zu haben. Als Wildhelm auf dem Baum Bethelium, der von dem riesigen Wal getragen wird, an die Küste des Heidenlandes gelangt und somit in der Fremde ist, leitet der Erzähler den kommenden Abschnitt ein: „nu hoe rt vremdiu mær sagen!“ (WvÖ, V. 1094). Bevor jedoch von vremdiu mær (zunächst von „marschalk Wigrich“ WvÖ, V. 1116) berichtet wird, folgt dieser Einleitung ein Gebet, in dem Gott-Vater (Alter vater) und Gott-Sohn (junger Christ) apostrophiert werden (vgl. WvÖ, V. 1095). Gott werden dabei die Charakteristika zuerkannt, „stark almæhtic“ (WvÖ, V. 1096), „ie wesend und an ende“ (WvÖ, V. 1097) zu sein. Gott „zwing[t] mit krefte / des firmamentes ummeswaif“ (WvÖ, V. 1102f.) In seiner „maht reif“ geht „des abrundes ende“ (WvÖ, V. 1104f.). Gottes Sein ist ohne Anfang und ohne Ende; das Ende, das er bereiten kann, gilt nicht für ihn. Gott wird abschließend gebeten, die gesamte Christenheit im Allgemeinen vor dem Elend zu behüten sowie Wildhelm im Konkreten „uz der ærbait“ zu helfen (vgl. WvÖ, V. 1106–1111). Direkt angesprochen werden in diesem Zusammenhang Gottes Reinheit, seine Kraft und seine Jugend, durch die Gott sich selbst verjüngt hat: Du reiner Got gedriet, hilf im mit diner mugent durch din niwe jugent, da mit du hast gejue nget dich!

(WvÖ, V. 1112–1115)

War zu Beginn von Vater und Sohn die Rede, wird nun die gesamte Trinität angesprochen, ohne dass dabei der Heilige Geist explizit genannt würde. 310 Die zu 309 In den folgenden Versen werden das Firmament, polis antartico, planeten geschaft, kindes kraft in Beziehung zueinander gesetzt. 310 Vgl. auch F (1930), S. 73.

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D A  E

Beginn des Gebets relevante Dichotomie von Gott-Vater und Gott-Sohn ist die von Jung und Alt – der Heilige Geist ist in dieser Kategorisierung nicht zu erfassen. Aufgenommen am Ende des Gebets wird die „niwe jugent“, mit der Gott sich „gejue nget“ hat; es wird verwiesen auf die Inkarnation des alttestamentarischen Gottes als Mensch. Zugleich wird eine zentrale Wirkungsweise Gottes gezeigt. Er ist imstande, sich selbst zu verjüngen – er kann sich selbst verändern. „Sich jüngen“ kann auch „gebären“ bedeuten, sodass abgehoben wird auf Gottes Vermögen, sich selbst zu gebären – sich selbst zu erschaffen. Gott ist, wie schon zu Beginn des Gebetes deutlich wird, „ie wesend“: Er ist das oberste Prinzip, das Erste, das, was nicht von anderer Instanz erschaffen ist. Der personifizierten Natur wird ihr Platz im Verhältnis zu Gott zugewiesen. ie wesend und an ende, sit daz in diner hende alles daz besunder stat daz diu Natur gewue rket hat von diner meisterschefte

(WvÖ, V. 1097–1101)

In Gottes Hand steht das, was die Natur „von [s]iner meisterschefte“ 311 „gewue rket“ hat. Wie schon in Vers 603 wird der Natur die Macht zugestanden zu „wue rken“. Sie hat schaffende Kraft, die jedoch eingeschränkt ist durch die Macht Gottes. Zusammen mit der Aussage, Gott „zwing[e] mit krefte / des firmamentes ummeswaif“ (V. 1102f.), ergibt sich folgende Hierarchie: Gott beherrscht den Lauf der Gestirne, räumlich unter diesen befindet sich der Machtbereich der Natur, die in relativer Autonomie geschaffen hat, was sodann in Gottes Hand liegt. Die Natur wird zur „Alleswirkerin im Auftrage Gottes, ja sie ist Herrin über Leben und Tod (v. 13.800)“. 312

1.4.2 Minne und Natur Ryal wird von Wigrich zum Hofe Agrants gebracht. Nachdem er dort empfangen wurde und Agrant sich bereit erklärte, ihn aufzunehmen wie einen Sohn, „wart er vaste senende sich / nach sines bildes angesiht“ (WvÖ, V. 1362f.). In räumlicher Nähe zu Aglye und in zeitlicher Nähe des ersten Zusammentreffens steigert sich das Sehnen. Nachdem sie erscheint und ihn willkommen heißt, nennt er sie zum Schein „schwesterlin“ (vgl. WvÖ, V. 1378 ff.). 313 Der Erzähler resümiert das erste Treffen: 311 Zum Begriff der meisterschefte bei Konrad von Würzburg siehe zuletzt B (2013). 312 F (1930), S. 53. 313 Dass Ryal aus Kalkül und zum Schein Aglye als seine Schwester bezeichnet, übersieht R (1998), wenn er bemerkt, dass in dieser Bezeichnung die „Problematik des BruderSchwester-Inzests [. . . ] in zurückhaltender Form präsent“ sei (S. 105). Er bemerkt we-

H

diu minne sunder schaiden ir hertze do zesamen war also crefticlichen gar daz ein ewig vriuntschaft an in wuohs mit wernder kraft

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(WvÖ, V. 1396–1400)

Charakterisierendes Attribut der Beziehung ist die „ewig vriuntschaft“. Die Unschuld der Kinder wird scheinbar ebenso betont, wenn es heißt: „Aglye und Ryal, / die ze Twingen uf dem sal / vriuntlich kinthait spilten“ (WvÖ, V. 1465–1467), und man übersetzt i. S. v. „ein kindliches Spiel miteinander pflegen“. Eine andere Lesart eröffnet eine weitere Bedeutungsebene. Wenn die Kindheit lediglich gespielt wird, so bliebe zu fragen, was sich hinter dem gespielten (und so aufgesetzten) Verhalten verbirgt. Diese Lesart gewinnt an Plausibilität, wenn man bedenkt, dass Ryal nur zum Schein Aglye „schwesterlin“ nennt. Es wird in der Schwebe gehalten, ob die kindlich unschuldige Naivität der beiden sie bestimmt oder diese Naivität gespielt ist und sich eine schon erwachsenere Beziehung zwischen ihnen abzeichnet. Auch wenn Ryal Aglye ein zweites Mal „schwesterlin“ nennt (vgl. WvÖ, V. 1554f.), wird diese Schwebe aufrechtgehalten. Schneider hinterfragt an dieser Stelle, „ob die Anrede an die Geliebte als Schwester bereits Inzest-Thematik aufrufen muß“, wie Ridder erwägt, und verweist darauf, dass auch „im Erec des Chrétien de Troyes [. . . ] Erec seine Ehefrau Enide als seine Schwester“ anspricht. 314 Hier ist diese Thematik anders aufgegriffen. Ryal durchschaut die Bedingungen, an die seine Nähe zu Aglye geknüpft ist, und gibt sich brüderlich. Seine eigentliche Zuneigung Aglye gegenüber ist dies nicht. In der Schwebe gehalten wird auch die Bedeutung der Küsse, die die beiden austauschen, 315 sowie die Gespräche, in denen sie sich darüber verständigen, was Minne sei (vgl. WvÖ, V. 1526–1611) 316. Der Erzähler richtet über das Verhalten

nig später, dass, „[b]efragt man den Eingang des WvÖ nach Hinweisen auf das tragische Schicksal des Paares, [. . . ] neben der Venusgeburt sicher auch das Inzest-Thema zu diskutieren“ sei (S. 106, mit Verweis auf J (1990), S. 342, Anmerkung 4). Er kommt zu dem Schluss, dass beide Aspekte keine „befriedigende Erklärung“ böten. Die Erklärung hingegen, dass Ryal zum Schein Aglye als Schwester annimmt, um sich äußerlich in das von Agrant bestimmte Schema einzupassen, ist m. E. recht befriedigend. Nicht unplausibel ist, dass eine Wiederholung dieser Ansprache während des kindlichen Minnegespräches (S (2004), S. 115) ironisch zu verstehen ist. 314 S (2004), S. 115 (Fußnote 129). 315 „[S]us slaichens ein ander dar / die kuesse in ir muende“ und „zehant der Minne ein zuendel / ir hertze do enbrande“ (WvÖ, V. 1478–1481). 316 Zur Reflexion des Phänomens der Kinderminne im Dialog der Kinder vgl. R (1998), S. 22; S (2004), S. 114 ff.

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D A  E

eindeutig. Er betont das verwandtschaftliche Band und spricht von „Aglye und ir[m] bruoder“ (WvÖ, V. 1616). Deren „triben“ wertet er als „tumheit vil“ (WvÖ, V. 1616f.) und kündigt an, darüber nun nicht länger sprechen zu wollen (vgl. WvÖ, V. 1618). Stattdessen sei es Zeit, „an den rehten ernst [zu] treten“. (WvÖ, V. 1619). Mit dieser Ankündigung leitet der Erzähler in eine poetologische Reflexion ein. Er erklärt: „Minne und Natur hant mich gebeten, / ich sue lle gar vlizzeclichen sagen / von den kue nsten die sie tragen“ (WvÖ, V. 1620–1622). Hier erscheinen die personifizierten Minne und Natur als Instanzen, die den Dichter anhalten zu dichten, sie legitimieren sein Tun. Der Dichter ist das „Sprachrohr“ 317 der beiden Instanzen, es obliegt ihm zu vermitteln, welche Fertigkeiten sie auszeichnen. In verklausulierter Wendung an das Publikum wiederholt der Erzähler, dass Natur und Minne den Ursprung seines Dichtens darstellen. Anders als in den vorhergehenden Versen wird nun die Natur zuerst genannt, das von den Instanzen Aufgetragene wird spezifiziert. Der Dichter soll Tugend vermitteln. Die in der bisherigen Forschung hervorgehobene Trias „Minne, Aventue r, Tugend“ 318 aus dem Prolog wird hier aufgenommen. Dort wird sowohl die rezeptive als auch die produktive Seite dieser Trias betont, d. h. hervorgehoben, dass sowohl der Rezipient eine Liebe zu Minne, Aventue r und Tugend haben muss (vgl. WvÖ, V. 131ff.), um der Dichtung folgen zu können, als auch der Dichter versucht, „daz minne und aventiur / von mir würde getihtet / und tugende dar in gephlihtet“ (WvÖ, V. 146–148). Anders wird hier die Trias lediglich geltend gemacht für den Rezipienten. Nu dar! swes hertze hugende minne, aventiur, tugende von Natur trute und boese rede vernute, der biet her das or sin

(WvÖ, V. 1623–1627)

Signifikant ist die Fügung „von Natur“. Sie kann zum einen adverbial sein und bedeuten, dass es der Liebe zur Trias „von Natur aus“ bedarf, in Opposition zu einer Liebe, von der es möglich ist, sie sich anzueignen. Zum anderen kann Natur Substantiv sein. In diesem Fall wäre die Trias spezifiziert auf Trias von Natur. In jedem Fall wird Natur in Verbindung gebracht mit der Trias. Auf der Seite der Produktion ersetzt Natur gar Aventue re:

317 R (1998) nennt diesen Begriff im Kontext der Anrufung von kunst und witze (S. 279). Er verweist dabei auf J (1990), S. 318, der die Metapher vom Fließen der Rede aus der Röhre des Mundes in Bezug setzt zum Vergoldungsprozess. 318 Vgl. exemplarisch D (1999), S. 122; R (1998), S. 18 f.

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H

so hoe rt er die zungen min visieren uf der tugent slat, als Natur mich gebeten hat und auch diu Minne andæhtic.

(WvÖ, V. 1628–31) 319

Waren zuvor die Inhalte der Fabel (= Literalsinn) auf Aventue re und Minne festgeschrieben worden, durch die Tugend transportiert werden soll (mittels dessen Tugend als allegorischer Sinn vermittelt wird), wird nun abgehoben auf die Instanzen, die den Dichter bitten, Tugend zu vermitteln – und damit auf eine Art Intentionalität verwiesen. Bevor auf die Ebene der Figuren übergeleitet wird, betont der Erzähler die Macht von Minne und Natur und expliziert die Bedeutung dieser Macht für die Dichtung: „si beidiu sint so mæhtic / daz wol von in ze sagen ist“ (WvÖ, V. 1632 f.). So wird auf poetologischer Ebene erklärt, warum der Dichter dem Wunsch der beiden Folge leistet. Zugleich wird die Interpretation der folgenden Passage, die zeigt, wie Minne und Natur auf die ihre Liebe entdeckenden Kinder wirken, in eine bestimmte Richtung gelenkt. Der Rezipient weiß, dass die folgenden Ausführungen zu Minne und Natur positiv ausfallen werden, und außerdem, dass deren Machtfülle eine andere Darstellung nicht erlaubt. So ist auch plausibel gemacht, dass die Ausführungen über Minne und Natur sowie die Bewertung des reifenden geschlechtlichen Verhältnisses von Aglye und Ryal hier in anderer Weise bewertet werden als noch in den Versen 1616f., in denen der Erzähler das verwandtschaftliche Band betont und das Verhalten der Kinder als Dummheit abwertet. 320 Fortan ist er gelenkt vom Willen der Instanzen, dem „rehten ernst“ (WvÖ, V. 1619), seine eigene Meinung tritt zurück. 321 Im Folgenden skizziert der Erzähler, wie die kindliche Liebe der geschlechtlichen Liebe weicht. 322 Dabei diskutiert er, welche Anteile Minne und Natur an dieser Reifung haben 319 D (1999), S. 196 zitiert die Verse und konstatiert, dass die „Darstellung der kue nste von Minne und Natur [. . . ] ein Ausdruck der tugent“ sei, geht aber darüber hinaus nicht auf das Verhältnis von Minne, Aventue re und Natur in Bezug auf die tugent ein. 320 Auch dies macht plausibel, dass Ryal zuvor Aglye zweimal als seine Schwester bezeichnet. 321 In Anbetracht dessen erscheint Schoenebecks Interpretation der Verse 1660 ff. ein wenig undifferenziert, wenn er erklärt, dort werde „die Ansicht des Dichters über die berechtigte natürliche Forderung der Minne nach geschlechtlicher Erfüllung [. . . ] deutlich“ (S (1956), S. 42). 322 Vgl. R (1998), der mit Verweis auf die Verse 1636–1650 das von Minne und Natur zu überwindende Problem darin sieht, wie Kindheit und Minne miteinander zu vereinbaren seien. Vgl. ebenso D (1999), S. 196 ff., die erkennt, dass in diesem Minnedialog die „anfängliche Frage Aglies, waz minne si (V 1462 f.), [. . . ] in zwei Schritten beantwortet“ werde: „Die beiden Kinder erfahren zuerst Minne und fragen nach ihrem Wesen, das sie bisher nur erahnten oder dem Hörensagen entnehmen konnten; dann geraten sie unter den Einfluß der Natur, und das Gespräch wird zu einer Werbung um natue rlich minne“. Vgl. auch S (2004), S. 126 ff.

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D A  E

und wie sie eingreifen, als Agrant sich einer geschlechtlichen Beziehung von Aglye und Ryal entgegenstellt. Die Begriffe Minne und Natur sowie die entsprechenden Personifikationen und Machtbereiche werden voneinander abgegrenzt und ineinander verwoben. Das Heranreifen geschlechtlicher Liebe wird dabei von Anfang an dargestellt als eine Folge gemeinschaftlichen Wirkens von Minne und Natur. Der Erzähler berichtet, wie diu sue zze Minne hie mit der Natur ze rate gie in maniger fue rbedæhtikeit, wie den kinden abgeleit der strengen minne bue rde und wie in ginret wue rde Naturlich minne geræte mit rehter minne tæte die noch die sue zzen minne frumt.

(WvÖ, V. 1637–1645)

Die Kombination des Adjektivs „[n]aturlich“ mit dem Substantiv „minne“ wird in den folgenden Versen oft wiederholt und meint geschlechtliche Liebe. 323 Diese Art der Liebe, die bekannt ist, „swa man zu liebem wibe kumt / und auch daz wip zu liebem man“ (WvÖ, V. 1646 f.), „was den kinden unbekant“ (WvÖ, V. 1651) bis „mit lust der sue zzen minnen bluo t / het ir samen gerert / diesen kinden gehert / in hertzen und in sinnen“ (WvÖ, V. 1656–1659). Pointiert fasst der Erzähler diese Entwicklung zusammen, 324 ehe er das Dargestellte leicht variiert erneut ausdrückt. Urheberin der aufkommenden Liebe ist die Minne, die Natur taucht lediglich auf in adverbialer Fügung und ihre Regung als Effekt des Eingreifens der Minne. Agly und Ryal die lebten in ir andaht, biz es diu minne dar zu braht daz ir gemue te wart bewegt und sich diu Nature regt liplich in dem sinne nach Naturlicher minne

(WvÖ, V. 1662–1668)

Das Grundschema ist beibehalten, demnach zunächst ein Vorzustand beschrieben wird, bevor die Minne eingreift, und sodann die Veränderung, die das Eingreifen der Minne mit sich bringt. Eine Lesart der oben erwähnten adverbialen 323 Vgl. allgemein G, Klaus (1999): Natûre ist der ander got. Zur Bedeutung von „natûre“ im Mittelalter. In: Robertshaw; Wolf (Hrsg.): Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Tübingen: Niemeyer, S. 3–17, hier S. 9f (im Folgenden zitiert als G (1999)); bezogen auf den WvÖ F (1930), S. 91; S (1985), S. 309 f.; R (1998), S. 104. 324 „[D]iu craft der sue zzen minnen / behuo p natue rlich die wal“(WvÖ, V. 1660 f.).

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Fügung wird explizit gemacht. Minne ist ausschlaggebende Urheberin, die Natur folgt ihrem Befehl, 325 sie „bedarf [. . . ] der Unterstützung der Natur im Sinne der entwicklungsbedingten Voraussetzungen einer auch sexuellen Beziehung“. 326 Die Zusammenführung der Begriffe in der Fügung „Naturliche [. . . ] minne“ wird wiederholt. Nach einer Apostrophe an das Publikum wird zum dritten Mal die Entwicklung von kindlicher zu geschlechtlicher Liebe, erneut leicht variiert, dargestellt. Ryal und Agly die lebten fue r sich nach ir sit: der vil sue zzen minne trit banten in die sinne. auch was natue rlich minne in vremde von ir kinthait, biz Natur und minne gerait ir tage dar biz uf daz zil daz natue rlich minne spil in mue glich was ze spilen. diu sue zze minne in zilen natue rlich wart die rehten trift

(WvÖ, V. 1678–1689)

Es ist nicht eindeutig festzumachen, ob die Verse 1678–1681 sich auf den Zustand vor dem Erwachen der geschlechtlichen Liebe beziehen oder auf die Zeit danach. Liest man sie in Verbindung mit den Versen 1682f. als Vorzustand, so wird hier eine Differenzierung getroffen zwischen Minne und natue rlicher Minne. Auch die vorgeschlechtliche Minne vermag, ihnen die Sinne zu binden, setzt sich aber von der geschlechtlichen ab. Markant ist, dass im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Darstellungen Natur und Minne als Urheberinnen gleichrangig nebeneinanderstehen. Ohnehin fällt die Häufung an Begriffen aus den Wortfeldern „minne“ und „Natur“ auf. Die Metaphorik des Spiels fällt ins Auge. Es wird eine Metapher bemüht, um den Übergang von einem Zustand 1 (kindliches Gebaren) zu einem Zustand 2 (geschlechtliche Reife) zu illustrieren, der dem Wirklichkeitsbereich von Zustand 1 (kindliches Spiel) entstammt.

325 S (2004), S. 116 f. stellt fest, dass „[n]ach dem Zusammentreffen der Kinder [. . . ] Natur die Minne [lenkt] und [. . . ] sie zur Entfaltung [bringt], so daß Natur und Minne in einen Dialog treten und zu einer natue rlich minne (V. 1682) verschmelzen“. Sie zitiert dabei die Verse 1637–1643, die gegen ihre These eindeutig das gemeinschaftliche Wirken der beiden Instanzen zeigen (S. o.), und verweist auf die Verse 1662–1668, die vielmehr zeigen, dass Minne bestimmend ist. Vgl. zu diesen Versen auch R (1963), S. 31. 326 R (1998), S. 104.

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Ridder liest in der Fügung der „natue rlichen Minne“ eine doppelte Bedeutung. Diese bestehe zum einen „in der Vorstellung, daß Planeten die Natur des Menschen bestimmen und Menschen mit einander entsprechender Natur dadurch in ihrer Liebesbeziehung lebenslang determiniert sind“. Entsprechend stellt Ridder fest, dass „[d]urch die gleiche Planetenkonstellation bei ihrer Geburt [. . . ] beide Kinder einander ‚von Natur‘“ aus lieben. 327 Auch S (2004) sieht in „der gleichzeitigen Geburt unter dem Stern der Venus“ ein „Wirken der Natur gegeben, das sich mit seinem übernatürlichen Anfang dem Einfluß des Menschen entzieht, sich aber zugleich der wissenschaftlichen Betrachtung öffnet“. 328 Die Abhängigkeit der Planeten von der Macht der personifizierten Natur wird im WvÖ jedoch nicht nahegelegt. Vielmehr wird darauf insistiert, dass der Umlauf des Firmamentes in Gottes Macht liegt. 329 „Zum anderen ist im WvÖ wie auch im RvB [„Reinfried von Braunschweig“ ] der ‚Übergang von der Minne-Liebe zur Natura-Liebe‘ [zu] beobachten“, insofern „‚Natur als Liebesursache‘ wohl im Sinne von ‚Geschlechtsreife‘ und ‚Geschlechtstrieb‘ [zu] verstehen“ sei 330. Dieser Aspekt deckt sich mit der Erkenntnis, dass natue rliche minne die geschlechtliche Liebe meint (S. o.). Als Agrant ein Gespräch belauscht, in dem sich Aglye und Ryal verständigen, in der Nacht nackt beieinander liegen zu wollen, um aus der „magt“ (WvÖ, V. 1739) ein „wip“ (WvÖ, V. 1738) zu machen (vgl. WvÖ, V. 1718–1770) und damit herauszufinden, „wa von diu liebe mue ge komen“ (WvÖ, V. 1725) 331, interveniert er und beschließt, dass Aglye sich fortan „in also guo ter huo t“ befinden solle, „daz si hie noch dort / zu einander nymmer wort / gesprechen fuer die stunde nu“ (WvÖ, V. 1800– 1804). Das Gefahrenpotenzial, das Agrant nebst seiner Frau für die Reinheit ihrer Tochter ausmacht, liegt in den Worten, die die beiden wechseln. Der Versuch der Intervention zeigt, dass sie denken, die Reifung des Geschlechtstriebes und dessen Auslebung verhindern zu können durch das Verbot des Dialoges – das Wort wird hier in einem enormen Maße in seiner Wirkungsmöglichkeit aufgewertet. Die Auswirkungen, die dieses Verbot hat, legen nahe, dass die „rede“ hier übertragen verstanden werden kann. Dadurch, dass die Königin ihre Tochter bewacht, kann Ryal nicht „zuo siner rede komen“ (WvÖ, V. 1813); darunter leiden sie sehr. Grund der Trennung war das belauschte Gespräch, in dem verhandelt wurde, beieinander zu liegen. „Zuo siner rede komen“ meint also hier „Geschlechtlichkeit ausleben“, das 327 Ebd. 328 S (2004), S. 115 f. 329 Ebd., S. 116 verweist in Fußnote 131 darauf, dass G (1999), zeigt, „[i]n welcher Weise Natur und Schöpfergott zusammenstehen“, ohne die skizzierte Konstellation zu thematisieren. 330 S (1985), S. 309; vgl. hierzu auch F (1930), S. 91, 94; S (1956), S. 41. 331 Ryal nennt also „liebe“, was der Erzähler „natue rliche minne“ nennt.

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vollziehen, was in jener Unterhaltung zum Ausdruck gekommen war. In ebendieser Spannung gehalten wird auch die Bitte des Erzählers an die Minne, die Protagonisten aus ihrer Lage zu befreien: Geheret minne, nu rate zuo ! der Natur helfe tuo , wan si ir muo tet hin zu dir! ir ist gewert ir wille, ir gir die si gefuo get hat; nu hilf und rat mit diner sue zzen maisterschaft, also daz der Natur kraft iht dorre zwischen diesen zwain, die trutschaft komen ue ber ain also vriuntlichen sint! ich main Aglyen daz kint und Ryalen den jungen: die sint nu gedrungen mit huo t von einander hin!

(WvÖ,V.1815–1829)

Deutlich tritt zutage, dass die Reifung des Geschlechtstriebes eine von Minne und Natur gemeinschaftlich getragene Aufgabe ist. Minne soll der Natur helfen, so wie sie ihr. Hier ist es primär der Wille der Natur, Aglye und Ryal zusammenzuführen, die Intention geht von ihr aus. In einer Naturmetapher drückt der Erzähler die Gefahr aus, die Agrants Verbot mit sich bringt: Die Kraft der Natur zwischen den beiden droht zu dorren. In der Benennung Aglyes als „kint“ und Ryals als „junge[ ]“ scheint die oben benannte Sichtweise des Erzählers durch, der nur unter dem Druck der so starken Instanzen ihnen folgend die geschlechtliche Reifung gutheißt; für ihn sind die zwei noch Kinder. Die personifizierte Minne antwortet auf die Bitte des Erzählers: ‚dar uf kan ich ainen sin‘, sprach die Minne wise, ‚daz hainlich und lise kue ndent mine boten dar beidiu ir hertz, ir willen gar und wie ir gemue te stat!‘

(WvÖ, V. 1830–1835)

Sie kündigt an, ihre Boten zu schicken, sodass diese den beiden heimlich und leise in das Geschehen eingreifen können. Der Erzähler befindet diesen Rat für gut (vgl. WvÖ, V. 1835–1837). Während in der direkten Rede der Minne zum Ausdruck kommt, welchen Beitrag sie leisten kann, um Aglye und Ryal zueinanderzuführen, zeigt der Erzähler, welche Macht die Natur hat. Mit topischer (erotischer) Naturmetaphorik leitet er die folgende Szene ein:

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auch was des sue zzen mayen bluo t zu der selben zit so stark daz sich in villen niht verbak deheiner slaht bluo me: er bluo t in gantzem ruo me

(WvÖ, V. 1838–1842)

Die frühlingshafte Landschaft mit den topischen Implikationen wird beschrieben (vgl. WvÖ, V. 1843–1859) und das Liebespaar in dieser Landschaft in Szene gesetzt: Ryal und Aglye in ir huo t kerten uz in des sue zzen meyen hus

(WvÖ, V. 1860–1862)

Der Auslebung ihrer Triebe steht gewiss die „huo t“ entgegen, zudem wird das Ausgehen in das Haus des Mai seines allegorischen Sinnes entzogen, wenn der Erzähler (wohl ironisch) festlegt, er meine „den hag vor Twingen“ (WvÖ, V. 1862). Er lenkt mit Nachdruck auf den Literalsinn. Unter strenger Aufsicht ist es den beiden erlaubt, sich einen Ball zuzuwerfen (vgl. WvÖ, V. 1874–1883). Dieses Ballspiel wird verglichen mit dem Ausdrucksvermögen eines Stummen: „reht alsam ein stummer muo z / betue ten, der niht sprechen kan“ (WvÖ, V. 1878 f.). Das Verbot wird durch das Spiel zu kompensieren versucht. Dabei wird die Defizienz dieses Kompensationsversuches deutlich, die den Protagonisten nicht bewusst zu sein scheint. Sie nämlich zeigten ihre Liebschaft auf der Plaine mit dem Ball, der mit manchem Jubel hin und her geworfen wurde (vgl. WvÖ, V. 1880–1883). Der Erzähler hingegen konstatiert, dass „noch dorret der Nature stan“ (WvÖ, V. 1884). Zum einen wird die Defizienz des Versuches betont, durch das Ballspiel das Sprechverbot zu kompensieren. Zum anderen wird hier die Metapher aufgegriffen, die schon in Vers 1823 verwendet wurde. So wird hier angeknüpft an die oben skizzierte Spannung von Erzähler und Instanzen. Die Metapher wird aufgenommen und weitergeführt: in welle denne erlue hten diu Minne und auch erfue hten die habe da er inne stat, so fulet er: daz ist kain rat.

(WvÖ, V. 1885–1888)

Angesprochen und zugleich verneint wird, dass die Minne dem Verdorren des Stammes entgegenwirken kann; erwogen wird, dass sich dies durch „erlue hten“ des Stammes und „erfue hten“ des Wurzelbodens, in dem er steht, vollzieht. Beides spielt auf literaler Ebene auf die Komponenten an, die nötig sind, damit Pflanzen wachsen: Licht und Wasser. Die Minne erscheint als Instanz, die die Natura (Naturans) pflegt wie ein Gärtner. Dieses Verhalten jedoch klassifiziert der Erzähler als nicht geeignet und stellt fest, dass der Stamm als Folge faulen würde. In der Logik dieser

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Metapher ist für das Faulen das Wasser verantwortlich; das (Sonnen-)Licht allein würde die Trockenheit des Stammes vorantreiben, diesen aber nicht faulen lassen. So scheint es, dass v. a. die zweite Komponente, das Gießen, hier ausgeschlossen werden soll. Markanterweise bietet sich für das „erfue hten“ kein allegorischer Sinn an, für das „erlue hten“ hingegen wohl. 332 Der Stamm der Natur zwischen Aglye und Ryal soll erweckt werden. Dies steht in bemerkenswerter Analogie zu der Eingebung, in die Bälle Briefe einzunähen: Die Minne „gab do ze sinne / Aglyen und Ryal, / so si wurfen den bal / [. . . ] / daz sie darin in briefe schriben / und si dar inne vernaten“ (WvÖ, V. 1888–1903). Sie erleuchtet die beiden, gibt ihnen die Idee ein. Es wird in der Schwebe gehalten, wie die Gärtner–Metapher verstanden werden kann. Diskutiert wird, ob Minne die geschaffene Natur zu pflegen vermag – und dies wird abgelehnt. Für das hierarchische Verhältnis von Minne und Natur lässt die Stelle keine eindeutigen Schlüsse zu. In sentenzhafter Verallgemeinerung abstrahiert der Erzähler vom konkreten Fall: Er wiser, niht er tummer, der sinen vriunt in kummer ane schaden bue zze!

(WvÖ, V. 1889–1891)

Er macht damit, gewendet auf den konkreten Fall, deutlich, dass die Minne der Natur zu helfen hat. Implizit stellt er die beiden Instanzen dar als einander freundschaftlich gesonnen. Das Verb bue zzen (aufnehmen) rekurriert, insofern auf den Stamm bezogen, auf die Gärtner-Metapher. So scheint hier der Rat durch, besser den noch jungen Trieb nicht zu gießen, sondern aufzuheben. Wie zuvor betont der Erzähler, dass er eine geschlechtliche Reife der Protagonisten als verfrüht ansieht. In der Folge wird das allgemein Dargestellte bezogen auf Minne und Natur. sam tet diu Minne sue zze, an die diu Nature gert helf: der wart sie gewert an der selben stunde.

(WvÖ, V. 1892–1895)

Die Natur ist die Bittstellerin; die Bitte wird von der Minne erhört. Dies wird, ehe die Briefe genannt werden, vom Erzähler zusammengefasst: daz was ein hovelichiu kunst, die diu Minne fuo gt alsus: Amor und Venus durch die Natur taten daz

(WvÖ, V. 1906–1909)

332 Möglich ist, dass hier die Nennung des Verbs erliuhten im „Parzival“, V. 434,2 aufgenommen ist; wie K (2006), S. 93 überzeugend nachgewiesen hat, wird damit auf Inspiration gegründete Autorschaft deklariert. Womöglich ist auch dieser Kontext an dieser Stelle mitzudenken.

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Die zuvor genannten Boten der Minne werden direkt genannt. Explizit erklärt der Erzähler, dass Minne hauptsächliches Agens ist. Vermittelt über die Boten wird hier eine Relation von Natur und Minne ausgedrückt. Amor und Venus sind die Boten der Minne, handeln somit in ihrem Auftrag. Welche Hierarchie zu veranschlagen ist, hängt ab von der Verstehensweise der Präposition „durch“. Übersetzt man mit „um . . . willen“, so wird betont, dass der Natur geholfen wird (wie zuvor auch). Übersetzt man „durch“ in der Konnotation der neuhochdeutschen Präposition „durch“, so handeln die Boten vermittelt durch die Natur. Es ergäbe sich eine andere Art der Abhängigkeit der Natur von der Minne. Das Adjektiv „hovelich“ betont die höfische Sphäre der Minne – ihr Wirken ist künstlich und setzt sich somit ab vom Wirken der Natur. Die Betonung der Natur, das Abwendenwollen des Verdorrens, die Aufnahme von Natur- und Maitopik legen nahe, die gesamte Passage übertragen zu verstehen. Die zuvor dreimal explizit gemachte Dichotomie von Vorgeschlechtlichkeit und Nachgeschlechtlichkeit wird im Vernähen der Briefe in den Ball ein viertes Mal ausgedrückt: Erzwungene Ungeschlechtlichkeit ist das Spiel mit dem Ball, Geschlechtlichkeit wird ausgedrückt in dem Ballspiel, das als Übergabe von Briefen genutzt wird. Das Ballspiel wird funktionalisiert, um ein anderes als das bloße Spiel zu ermöglichen, und steht damit in Analogie zur Funktionalität der Minne, für Fortpflanzung zu sorgen. Dabei gilt es zu beachten, dass Meinung des Erzählers und Intention der Instanzen hier auseinanderzugehen scheinen. Aglyes Mutter möchte nicht, dass Walwan und Aglye die Ehe vollziehen. Sie findet, dass dies noch zu früh sei, da ihre Tochter noch „gar kindisch“ (WvÖ, V. 2337) ist. Ihre Meinung stimmt mit der (in den Hintergrund tretenden) Meinung des Erzählers überein. Als Parklise Wildhelm von ihrer Herrin Crispin von Belgagan berichtet, nennt sie Venus, Natur und wunsche als Instanzen, die Crispin ausmachen: Venus der Minne stern riht si, do si wart geborn, diu Natur hat si uz erkorn: sie ist nach dem wunsche gemalt.

(WvÖ, V. 11.476–11.479)

Regel gibt als Übersetzung für „rihten“ in diesem Kontext „beherrschen“ an. Seitdem sie geboren wurde, beherrscht Venus sie. Die Natur hat sie ausgewählt und nach dem wunsche ist sie gemalt. 333 Die Natur erscheint als Instanz, die Entscheidungen trifft, die zeitlich vor der Geburt liegen. Sie setzt die Geschöpfe in einer bestimmten Ordnung ein. Crispin im Konkreten ist nach dem Plan des wunsches 333 So werden hier Venus, Natur sowie der Wunsch als Urheber genannt, nicht allein Natur und wunsch, wie Frenzel annimmt (vgl. F (1930), S. 52).

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gestaltet – der wunsch gibt einen Plan dessen, was die Natur ausführt. Nach der Geburt bestimmt Venus, und vermittelt über sie die Minne, die Geschicke der Geschöpfe. Auf die Minne als Instanz der Verbindung rekurriert Aglye in einem Brief an Ryal. Sie ist sicher, dass „der Minne rat / dich und mich niht schaiden lat / von einander“ (WvÖ, V. 3009–3011). Die Minne „hat nu uz uns zwain / gemachet ain ainig ain“ (WvÖ, V. 3017 f.). Gemeinschaft spendende Instanz ist aus Aglyes Sicht ausschließlich die Minne, die Natur spielt auf der Figurenebene keine Rolle. 334 Zum einen kann dies bedeuten, dass die Natur in dieser Funktion allein auf der abstrakteren Erzählerebene reflektiert wird. Zum anderen ist es möglich, dass aus der Sicht der jungfräulichen Aglye Körperlichkeit eine nur untergeordnete Rolle spielt. 335 Dies wird bestätigt, wenn nach der Verlobungsformel („du bist ich und ich bin du“, WvÖ, V. 3019) und der Nennung des mitgesandten Ringes (vgl. WvÖ, V. 3024) Aglye in Aussicht stellt, Ryals „dirn“ zu sein, während er ihr „kneht“ sein wird und somit „diu suze stunde kumt / daz diu minne werde gefrumt“ (WvÖ, V. 3030–3032). Das Vokabular ist von dem des Erzählers verschieden. Entweder bedeutet „minne frumen“ für Aglye nicht primär etwas Körperliches oder sie meint das, was der Erzähler mit natue rlicher Minne auszudrücken pflegt.

1.4.3 Gott wird angerufen, Parklise greift ein Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, die bei der Untersuchung des Bracken aufgeworfen worden ist: Wer oder was determiniert im WvÖ die Handlung? Rehbock skizziert eine Hierarchie von „Linie der Handlung“, „überpersönlichen Kräften“ und den Figuren: Die Motivation des Geschehens beruht also überall auf überpersönlichen Kräften und Mächten. Bezeichnend ist es, daß zugunsten dieser Motivation im WvÖ auch der Zufall weitgehend ausgeschaltet wird. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der ersten Reise Wilhelms, wo ein „zufälliger“ Charakter der Begegnung direkt zu erwarten wäre. Dagegen tritt Wilhelm gleich zu Beginn der „aventue r hauptman“ entgegen, der ihn absichtlich aufsucht (V 3180 f.); er schenkt ihm den Bracken, der als Vertreter der Macht Aventue re Wilhelm zu seinen Begegnungen führt. Die lenkenden, leitenden Mächte treiben aber das Geschehen nicht in der Weise vorwärts, daß sie es aus ihrer eigenen Schwere hervorbrächten; an manchen Stellen zeigt sich, daß der Handlungsablauf selbst primär zu ihnen ist, daß auch sie nur funktional als Figuren in ihm verwandt sind. Warum erfüllt Gott Agrants Wallfahrtsbitte, wo er doch vorauswis-

334 Vgl. Darstellungspunkt 1.4.2, S. 112 ff. 335 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.4.2, S. 112 ff.

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D A  E

sen muß, daß Agrant sein Gelöbnis (V 430 ff.) nicht erfüllen wird? Warum hat der „bracke“ nur für eine kurze Strecke „Aventue re“ -weisende Funktion und ist in späteren „Aventue ren“ ein bloßer Hund? [. . . ] Wir sehen: Die Linie der Handlung entfaltet sich nicht aus der Wesensgesetzlichkeit der lenkenden Mächte, sondern unterwirft sie sich und verletzt sie sogar dann und wann. 336

Als Wildhelm von den Angehörigen des Wildomis, den er getötet hat, festgesetzt wird und hingerichtet werden soll, betet der Erzähler zu der Trinität und zu Maria (vgl. WvÖ, V. 10.424–10.537). 337 Dabei nimmt er die „wunder“ Gottes (WvÖ, V. 10.427) und dessen „grundlosiu barmikait“ (WvÖ, V. 10.437) in den Blick und bittet Maria, die Christen „vor des tiuvels rat“ (WvÖ, V. 10.469) zu beschützen. Im zweiten Teil des Gebets (WvÖ, V. 10.511–10.537) rekurriert der Erzähler auf die Handlung und bittet für Wildhelm und Aglye. Er macht auf die prekäre Situation Wildhelms aufmerksam und zeigt, dass diese auch eine Gefahr für Aglye darstellt: „wann Wildhelmes toeten / sterbet auch Aglyen“ (WvÖ, V. 10.524f.). Er deutet voraus, dass Aglye sich taufen lassen wird (vgl. WvÖ, V. 10.530ff.) und hinterfragt die Sinnhaftigkeit ihres potenziellen Todes: „wirstu der sele beraubet, / wie zimt daz diner grozen maht?“(WvÖ, V. 10.536f.). Recht respektlos fordert er Gott auf, Wildhelm zu retten. Kurz zuvor bittet er, „durch die gnade niht entswich / disen zwain in den noe ten“ (WvÖ, V. 10.522f.). Gott wird gebeten, in die Handlung einzugreifen, um die Protagonisten zu retten. Durch das einleitende Gebet, das nicht konkret die Helden in den Blick nimmt, wird die Rettung auf eine heilsgeschichtliche Dimension gehoben. Explizit wird Maria gebeten, den Einfluss des Teufels auf die Menschen zu verhindern. Ein weiteres Mal macht der Erzähler deutlich, dass er ein direktes Eingreifen Gottes erwartet. ich wil ze lange biten, man wirt Wildhelmen tœten, im helfe denne uz nœten Altissimus der starke: der Noe uz der arke half, der helf auch disem!

(WvÖ, V. 10.780–10.785) 338

Metaebene und Handlungsebene voneinander klar trennend deutet der Erzähler voraus, dass und wie der f˚ug maister in die Handlung eingreifen wird, während die Könige darüber beraten, wie man Wildhelm töten solle.

336 R (1963), S. 171. 337 Siehe dazu auch Abschnitt 1.1, S. 37 ff. 338 Interessant ist, dass Gottes Hilfe im Kontext der Sintflut auf das Helfen uz der arke beschränkt ist.

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die wile daz si beriten sich, so fuo gt der fuo g maister ist, ain botschaft mit gar cluo gem list

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(WvÖ, V. 10.790–10.792)

Ob Gott dieser f˚ug maister ist, ist sicher streitbar. Gerade das Attribut, liste zu kennen, passt nicht zum sonst sich herauskristallisierenden Gottesbild im WvÖ. 339 Es schließt sich ein Exkurs an, in dem ausgeführt wird, dass, „swer Got getruwet, der t˚ut reht“ (WvÖ, V. 10.793; der Exkurs endet in V. 10.860). Durch diese Folge wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten so geleitet, dass mit dem f˚ug maister Gott assoziiert wird; diese Folge ist logisch: Der f˚ug maister wacht über das Schicksal des Helden – wer auf Gott vertraut, der handelt recht. Für die zweite Romanhälfte stellt Rehbock fest, dass „Wilhelm immer mehr zum Gottesritter“ wird, und führt die Rettung durch Parklise an, um zu zeigen, dass hier Gott in Wildhelms Weg eingreift: Schon die Rettung durch Parklise ist ausdrücklich Gottes Werk um Wilhelms „tugent“ willen (V 10.793 ff.); diese Rettung führt ihn zum Kampf gegen des Teufels Sohn, gegen eine widergöttliche Macht also, und dieser Kampf kann nur mit Gottes Hilfe bestanden werden (V 11.638 ff., V 11.760 ff., 12.008 ff., 12.100 ff., 12.202 ff., 12.225 ff.), wenn auch der Frauendienst wesentliches Motiv des Kampfes bleibt. 340

Doch auch Parklise steht auf der Seite dieser widergöttlichen Macht. Es ist wenig plausibel, wie im Folgenden gezeigt wird, dass Parklise im Auftrag Gottes handelt. Es ist nicht Gott, der direkt eingreift, oder ein Engel, der im Auftrag Gottes handelt, sondern Parklise, die den Helden rettet. Deren Biographie sowie die Umstände, die zu dieser Rettung führen, sind alles andere als christlich. An den Exkurs schließt sich der Bericht über den „wise[n] maister“ Dedelus an, von dem der Erzähler „an ainem alten b˚uch“ gelesen haben möchte (vgl. WvÖ, V. 10.861– 10.863). Dedelus zeichnet sich besonders dadurch aus, „daz er in nigramanci was / der best, (fue r war wizzet daz!) / der ainer ie uf erden wart“ (WvÖ, V. 10.865– 10.867). 341 Wildhelms Retterin Parklise ist dessen Tochter (vgl. WvÖ, V. 10.867), die dieser „niht betrogen / het mit der swartzen buo che kunst“ (WvÖ, V. 10.876f.), sodass „si was zu der selben stunde / von nigromanci diu best erkant / die man 339 Vgl. R (1963), S. 196, der mit Verweis auf V. 1700 ff. darauf aufmerksam macht, dass die Welt abgewertet werde, weil sie „listig“ sei. Vgl. auch Darstellungspunkt 1.1.1, S. 37ff. 340 R (1963), S. 63. 341 F (1930), S. 48: „Eine große Vorliebe des Dichters ist auch die Astronomie, allerdings nicht in wissenschaftlicher Form. [. . . ] Dagegen zeigt der die typische Abneigung des Theologen gegen nichtgöttliche und deshalb leicht heidnisch-teuflische Einflüsse, wenn er sich mehrfach misstrauisch, wenngleich bewundernd über die nigromanci, die schwarze Kunst, ausspricht, so etwa V. 4908/9, 4978.“

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under dem hymel vant“ (WvÖ, V. 10.906–10.908). Parklise reitet „ainen grifen“, „in swelch lant si wolt, / vliegend ers uf im dolt, / wan sin von jugende het erzogen“ (WvÖ, V. 10.873–10.875). Sie dient Crispin von Belgagan, deren Reich nur fliegend verlassen oder besucht werden kann (vgl. WvÖ, V. 10.880–10.886) 342. Nachdem der Erzähler erklärt, nicht mehr von den Wundern zu berichten, die Parklise umgeben, da es sonst „ze lanc“ würde, treibt er die skizzierte Opposition zum christlichen Gott auf die Spitze: ir grifen der tiuvel vor swanc in aines grifen gestalt: er schain als ain zuhter alt, da von der grif nah im vlog; an der zuht er in betrog: er wand er het in uz gebruo t, er tet als noch manic vogel tuo t der sinem vater vliuget nach. Swa der juncvraun hin was gach, dar hiez si vor den tiuvel varn: kainen weg getorst er sparn vor der kunst die si kunde [nigromanci] (WvÖ, V. 10.894–10.905)

Ihre Kenntnisse in der schwarzen Kunst erlauben ihr, den Teufel zu lenken, dem wiederum der Greif, auf dem sie reitet, folgt. 343 Der Teufel berichtet ihr von der Schlacht, in der Wildhelm Wildomis tötet. Parklise fliegt dorthin, um zu sehen, ob sie einen Kämpfer findet, der ihre Herrin vom Teufelssohn Merlin befreien kann (vgl. WvÖ, V. 10.922–10.933). Sie weiß, dass bei diesem Kampf die besten Ritter der Welt aufeinandertreffen, und erhofft, unter ihnen den potenziellen Retter Crispins zu finden. Aus der Luft „si sach alles daz da geschach“ (WvÖ, V. 10.942), „auch [. . . ] daz / Wildhelm den kunec erstach“ (WvÖ, V. 10.940f.), und möchte Wildhelm für ihre Pläne gewinnen (vgl. WvÖ, V. 10.943–10.945). Mit einer List bewirkt sie, dass Melchinor ihr Wildhelm überstellt: Sie legt einen Brief vor, in dem sie vorgibt, von Mahmet gesandt worden zu sein, der für Wildhelm den Tod durch den Teufelssohn Merlin vorgesehen habe (vgl. WvÖ, V. 10.983–11.203) 344. 342 Von den Gründen für diese Grenze erfahren wir in den Versen 11.432 ff. Der Teufel, den Wildhelm besiegen wird, ist dafür verantwortlich. 343 Der Teufel betrügt den Greifen an seiner zuht. Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 3.2, S. 327ff. 344 In einer Fußnote erwähnt R (1998) die Verse 11.082 f. und verweist darauf, dass Parklise als Teil ihrer List die Vorstellung einsetzt, sie schreibe im Auftrag Gottes – sie erscheint somit als Pendant des Erzählers, der „als Dialogpartner, aber auch als Schreiber der diktierenden Musen“ auftritt (S. 286). Auf S. 112 f. stellt Ridder Parklises Brief im Kon-

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Als der König sich nach Beratungen mit den anderen Königen entschieden hat, dem Willen des Gottes nachzukommen, stellt Parklise Wildhelm vor die Wahl: „hier sterben oder mit mir varn!“ (WvÖ, V. 11.205), woraufhin Wildhelm sich ihr anschließt und sie in Richtung Belgagan aufbrechen. 345 Der Inhalt des Briefes ist weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick erscheint. Parklise übergibt den von ihr geschriebenen Brief und gibt vor, dass er von Mahmet durch sie gesandt worden sei (vgl. WvÖ, V. 11.010–11.031). Dabei sagt sie nichts über den Inhalt des Briefs, sie unterstreicht nur seine Autorität [. . . ]. Dies vermittelt den getäuschten Heiden noch mehr den Eindruck, eine Botschaft direkt von Mahmet zu erhalten, die sich so persönlich an sie richte, daß die Botin selbst den Inhalt vermutlich nicht kenne (V 11.118 f.). 346

Der König öffnet den Brief (vgl. WvÖ, V. 11.033) und liest ihn „erschrocken“ (WvÖ, V. 11042); der Erzähler betont, dass er „die waren getat sach / die niemen west wan er und sie“ (WvÖ, V. 11.034 f.), und gibt darauf vor, dem Publikum „alles daz dar an was“ (WvÖ, V. 11.041) zu berichten. Wie auch in den Briefen, die Wildhelm und Aglye einander zusenden, markiert der Erzähler Beginn und Ende des Briefes, den er wörtlich wiederzugeben vorgibt (S. o.), in verklausulierter Form. 347 Dieser Inhalt macht jedoch weder plausibel, dass Melchinor erschrickt, noch, dass der Erzähler darauf hinweist, dass nur er und Parklise von dem Inhalt text der Frage dar, ob Wildhelm des Mordes an Wildomis schuldig ist. Parklise führt an, dass ein Mord im Kontext einer Tjost nicht möglich ist, und stellt heraus, dass Melchinor sich selbst schuldig macht, wenn er Wildhelm hinrichten lässt. Vgl. auch D (1993), S. 176f. u. 180. „Für Johanns Publikum ist damit der – positiv bewertete (V. 1164 f.) – unwahre Brief Parklises, der, indem er Wilhelm das Leben schenkt, die weitere Erzählung erst ermöglicht, eine literarische Fiktion“ (S. 177); „[D]adurch, daß der Brief Parklises im Zentrum des Romans steht und geradezu als ein Modell des gesamten Werkes verstanden werden kann, wird dem Publikum die Fiktionalität des Romans deutlich vor Augen geführt“ (S. 180). Den fiktionalen Aspekt der Parklise-Handlung betont auch VP (1991). Dort werde „mit der Fiktion in der Fiktion gespielt“. Der Reiz ergebe sich dabei „nicht zuletzt aus dem unterschiedlichen Wissensstand des Helden, seiner Mitspieler und des Publikums“ (S. 132). 345 S (2004) beschreibt, dass die Aventue re von Belgagan „von außen“ an Wildhelm herangetragen wird (S. 97), und zeigt den Bezug zum Wigalois: „Damit wird eine der klassischen Ausgangssituationen des Artusromans evoziert, wie sie etwa im Wigalois erzählt wird“. Die „zu bestehende Aventue re ist als eine klassische Befreiungsaventue re konstruiert, deren Ziel im Gewinn von Dame und Reich liegt“ (S. 98 f.). Wie Schneider zeigt, sehen auch S (2000), S. 138 f., S. 144 sowie J (1990), S. 20–26 die Parallele zum Wigalois. 346 D (1999), S. 91. 347 „Sus huo p der brief von erst sich an“ (WvÖ, V. 11.043) und „Hie mit swaig daz brievelin“ (WvÖ, V. 11.095).

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des Briefes wissen und Melchinor seinen Fürsten den Brief nicht zeigt, sondern lediglich betue tet (vgl. WvÖ, V. 11.097). Was der Erzähler wiedergibt, scheint dem zu entsprechen, was Melchinor an seine Fürsten weitergibt. So weiß der Rezipient zwar, dass der Brief eine Fälschung ist, 348 über den Inhalt des Briefes erfährt er an dieser Stelle jedoch ebenso wenig wie die Fürsten am Hofe des Königs. Dietl deutet die Verse anders und betont, dass die Heiden durch den Brief getäuscht werden. „Der Brief ist also aus wahren Elementen zusammengesetzt; der Wahrheit widerspricht nur die Berufung auf Mahmet – eine Verfasserfiktion, welche die Moslems nicht durchschauen, und nur deshalb werden sie durch den Brief betrogen (V 11.392–11.395)“. 349 Was Dietl generalisiert auf die Moslems, gilt allein für die Fürsten, nicht für Melchinor. Lediglich er und Parklise sind Wissende der ganzen Wahrheit (S. o.). Diese, der eigentliche Inhalt (oder der zusätzliche Inhalt, der den Fürsten vorenthalten wird) des Briefes ist intimer, wir erfahren davon wenige Verse zuvor: ain insigel stempfen si [Parklise] balde hiez den tiuvel da und gebot im iesa daz er ir sait mit warhait, do der von Marroch von huse rait und ze naht bi sinem wibe lac, was er mit ir biz an den tac begienc, „daz la wizzen mich! dar umm,“ sprach si, „so wil ich dich dest minr mue n“. der tiuvel wart do lue n vor zorn als ein merrint, doch muo st er ir an underbint sagen alle die getat. die schoe n Parklise sich da hat gewarnt tynten und birmit: alle wege des pflag ir sit daz si ez fuo rt mit ir: [. . . ] mit ir hant si an daz brievelin schraip daz ir der tiuvel da het gesaut, ie sa si daz brievelin besloz

(WvÖ, V. 10.946–10.969)

Der Brief enthält eine Beschreibung dessen, was König Melchinor des Nachts zu Bette mit seiner Frau macht; er ist nicht allein und eindeutig, wie Dietl konstatiert, 348 Vgl. D (1999), S. 91. 349 Ebd., S. 92. Vgl. dazu V-P (1991), S. 132.

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„auf der Grundlage dessen geschrieben, was ihr der Teufel von der Unterhaltung Melchinors mit seiner Frau wahrheitsgetreu berichtet hat“. 350 Über den genauen Inhalt wird der Rezipient im Ungewissen gelassen – auch Wildhelm erfährt nicht den kompletten Inhalt des Briefes. Die Verse 11.381–11.383, die Dietl nennt, um zu zeigen, dass der Brief allein auf der Grundlage der Unterhaltung von Melchinor mit seiner Frau gefertigt wurde, 351 sind die Worte Parklises zu Wildhelm, als sie ihm erklärt, wie sie ihn gerettet hat. 352 Das, was Parklise Wildhelm offenlegt, entspricht nicht genau den wahren Begebenheiten. Die von Parklise an Wildhelm gerichteten Verse 11.381–11.383 entsprechen nicht exakt den oben zitierten Versen 10.946–10.969, in denen der Erzähler zu Wort kommt. 353 Auch Wildhelm wird im Dunkeln gelassen. Der Brief ist ein Druckmittel bzw. ein Beweis dafür, dass der Brief von einer höheren Macht in Auftrag gegeben wurde. Denn nur eine höhere Macht ist imstande, davon zu berichten, was in der Abgeschiedenheit des ehelichen Bettes vor sich geht. Ob die Unterhaltung von Melchinor mit seiner Frau die Vorlage für die Worte darstellt, die Melchinor dazu bewegen, Wildhelm Parklise zu übergeben, bleibt spekulativ: Was in der Nacht gesprochen worden ist, wissen wir nicht, aber vermutlich entstammen dieser Quelle der Gedanke, daß ein ungerechtes Urteil die Ehre Melchinors beflecken würde (V 11.066), die Hoffnung, daß Wildomis’ Seele von Mahmet gekrönt werde (V 11.070–11.077), und eventuell auch der Wunsch, daß Mahmet eine Entscheidung herbeiführe. Auch die Aussage, daß Wilhelm mit Teufelssohn Merlin kämpfen müsse (V 11.060–11.065), ist nicht der „lügnerischen“ Phantasie Parklises entsprungen, sondern ist wahr. Wie der Leser schon weiß (V 10.926 f.), ist das genau der Grund, weshalb sie Wilhelm rettet: Sie hat ihn dazu erwählt, diese Aufgabe zu erfüllen. 354

Wie bereits erwähnt, bleibt der genaue Inhalt des Briefes im Dunkeln – er ist im Übrigen auch nicht relevant. Relevant und bemerkenswert ist, dass Beobachtungen des Teufels ausgegeben werden als Beweis für die Urheberschaft des Gottes Mahmet. Die Diskrepanz von eigentlichem Ursprung in Teufel und schwarzer Magie und Erklärung durch göttliche Macht wird auch nahegelegt, als Parklise bei Melchinor und den anderen Königen landet. Diese fragen, ob Parklise „ain engel“, „ain 350 D (1999), S. 91 f. Sehr schön führt Dietl hingegen aus, dass Parklise den Brief nach der warhait fertigt und es sich daher um eine imitatio handelt (vgl. S. 92). Sie führt außerdem das Verhältnis von Fiktion und Lüge aus. 351 Vgl. ebd., S. 92. 352 „[W]as der kue nc hat gesait / des nahtes siner wirtinne“ (WvÖ, V. 11.382). 353 Dabei lässt der Erzähler auch offen, ob er selbst genau weiß, was Melchinor „mit [seiner Frau] biz an den tac / begienc“ (WvÖ, V. 10.951 f.). Das Anzügliche wird nicht ausgesprochen. 354 D (1999), S. 92.

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wip“ oder „ain goe tinne“ sei (vgl. WvÖ, V. 11.005–11.007). Sie vermuten keine schwarzen Künste. Diese Diskrepanz bestimmt das Bild, das im Kontext der Rettung Wildhelms erzeugt wird. Der Erzähler erbittet für ihn Gottes Hilfe, gerettet wird er von Parklise, die mit dem Teufel im Bunde ist, sich auf Negromantie versteht und sich der Autorität des Gottes Mahmet bedient. Dabei sind sich Erzähler und Wildhelm in ihrem Urteil über die Situation Parklises einig. Beide kritisieren deren Nähe zum Teufel. Der Erzähler distanziert sich von der Negromantie sowie von der Nähe Parklises zum Teufel: kue nd ich nu guo t getiht, daz woe lt ich ir lihen gern, ir kunst wil ich niht lern: swer tiuveln vil getruwet und uf regenbogen buwet, zejungst er ie beschalket wirt, ob sin sin ez niht verbirt.

(WvÖ, V. 10.976–10.982) 355

Nachdem Parklise Wildhelm erklärt, wie sie ihn gerettet hat (vgl. WvÖ, V. 11.370– 11.404), 356 bedauert dieser, dass sie mit dem Teufel im Bunde ist. Er stellt die Antithese von Parklises großer „ainikait“ und der Tatsache, dass mit ihr der Teufel vert, heraus und schließt, „ain engel scholt sin iur genoz“ (vgl. WvÖ, V. 11.405– 11.422). Wildhelm drückt sein persönliches Bedauern über Parklises Lage aus und erbittet Gottes Erbarmen für diese:

355 D (1999) macht eine aufschlussreiche Parallele von Parklises Brief und seiner Entstehung mit dem Erzählverfahren deutlich, das der Erzähler offenlegt:„Parklises Zusammenfügen wahrer Elemente unter einer Verfasserfiktion zu einem Brief, in dem auch wieder, wie in den Liebesbriefen, der personifizierte Brief als sprechendes Ich distanzierend zwischen Brieftext und Briefsteller einschaltet [sic!] ist, wird als eine Schreibkunst bezeichnet, die ähnlich wie bei den Liebesbriefen, mit der Tätigkeit des Romanautors oder -erzählers verglichen wird: Als Parklise den Brief schreibt, fügt der Erzähler hinzu: [V 10.976 f.]. Der Erzähler erklärt sich mit Parklise solidarisch, betont aber sogleich einen Unterschied: Mit Negromantie wolle er nichts zu schaffen haben (V 10.978–10.982). Er, so kann man schließen, dichtet vielleicht in ähnlicher Weise wie Parklise, doch das negative Element, die Täuschung, entfällt. Das heißt, daß das dichterische Verfahren bei Johann und Parklise das gleiche ist, doch die Rezeption, die durch den Text intendiert wird, ist eine andere. Parklise lügt; Johann hingegen will, daß seine Leser oder Hörer erkennen, daß seine Dichtung unwahr ist: er fingiert (S. 92 f.).“ 356 Sie erklärt, sich auf Nigromantie zu verstehen, und erläutert, wie sie fliegen kann. Außerdem berichtet sie, dass der Inhalt des Briefes war, „was der kue nc hat gesait / des nahtes siner wirtinne“ (WvÖ, V. 11.382). Sie erläutert dabei auch die oben gezeigte Diskrepanz: „swaz ich dem kue nge von Marroch sait, / daz erfuo r der tiuvel mir:/er want daz sins gotes gir / Mahmet im ez het erboten“ (WvÖ, V. 11.392–11.395).

Deus creator – Poeta creator

daz sich zu iu gesellet der tiuvel hat, daz ist mir lait. ist ez ain tiuvel daz iuch trait, daz mue zz Got erbarmen.

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(WvÖ, V. 11.414–11.417)

Dabei stellt er Wirkungszusammenhänge dar, die den tatsächlichen widersprechen. Der Gerettete möchte seine Retterin aus den Umständen befreien, die seine Rettung erst ermöglicht haben. Sein Leben verdankt Wildhelm nicht zuletzt den schwarzen Künsten Parklises sowie deren Bund mit dem Teufel. Er erbittet für Parklise Gottes Erbarmen – jenes Erbarmen, das der Erzähler für Wildhelm erbittet, kurz bevor er von Parklise gerettet wird. Auch Aglye sieht in der Rettung Wildhelms ein Eingreifen der Götter: die gote dir uz noe ten helfen, dar du bist gevarn, und mue zzen dir lib und sele bewarn

(WvÖ, V. 11.302–11.304)

Die Handlung indes akzentuiert dieses Urteil anders. Die Rettungstat Parklises mit all den genannten Implikationen gewährt ihren Fortgang. Gott selbst hat nicht eingegriffen und ohne die schwarzen Künste Parklises wäre Wildhelm getötet worden und die Handlung an ihrem Ende angelangt. Parklise argumentiert in diesem Sinne, wenn sie selbstbewusst erklärt: „ob dihz genue get, / so han ich dich mit witzen erlost“ (WvÖ, V. 11.232 f.).

1.5 Deus creator – Poeta creator Zunächst werden im Folgenden die Ergebnisse zu den Anrufungen des Erzählers zusammengefasst. In einem zweiten Schritt werden diese Ergebnisse in Beziehung gesetzt zu den poetologischen Passagen des WvÖ. Zuletzt sollen die Ergebnisse im Horizont der Frage verortet werden, die im Darstellungspunkt 1.1.2 bereits aufgeworfen wurde, wie nämlich der Status des poeta creator in verschiedenen Jahrhunderten bewertet worden ist.

1.5.1 Personifikationen, der Erzähler und Gott Dass dem Erzähler im WvÖ und seinen überaus häufigen Anrufungen eine besondere Rolle zukommt, ist in der Forschung bereits erkannt und benannt worden. Anhand einer systematischen Analyse dieser Anrufungen konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass sich ein hierarchisches System ableiten lässt. Auf der untersten Ebene der Hierarchie stehen die handelnden Figuren, sie sind den Einflüssen der ihnen übergeordneten Instanzen unterworfen. Auf einer zweiten Ebene befinden

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sich Frau Aventue r, Frau Minne und die personifizierte Natur, als ihnen untergeordnet stilisiert sich zunächst der Erzähler. Ihnen übergeordnet, auf einer dritten Ebene, ist Gott. Das Verhältnis von Gott zu den ihm untergeordneten Instanzen wird teils explizit, teils implizit beleuchtet. Explizit werden Natur und Gott zueinander in Beziehung gesetzt. Auch das Verhältnis zur Aventue re wird expliziert: Gott ist schepfer aller aventue re (WvÖ, V. 2435). Aventue re Hauptmann und Gott werden zueinander enggeführt: Die aventue re erscheint als Mikrokosmos analog zur göttlichen Schöpfung als Makrokosmos. Die Minne wird implizit mit Gott in Beziehung gesetzt. Sie kann den fast toten Kämpfern Lebensatem einhauchen (WvÖ, V. 3730ff.) – hier wird vorsichtig eine Analogie von Minne und Gott angedeutet. Gott ist schepfer aller wunder (WvÖ, V. 12.493) und wundrer aller wunder (WvÖ, V. 17.209) – auch die Minne kann Wunder fue gen (WvÖ, V. 7373ff.). Gott hat die Welt so geschaffen, dass Gutes sich mit Leid abwechselt (WvÖ, V. 18.403ff.). Die Minne bewirkt dies ebenso (WvÖ, V. 10.306f.). Mit Ausnahme von Venus, Amor und Cupido ist das Verhältnis Gottes zu antiken Göttern klar christozentrisch dargestellt. Die Götter erscheinen lediglich als Sterne am Firmament, 357 dessen Umlauf Gott mit seiner Macht bewegt (vgl. WvÖ, V. 1102f.). Die antiken Götter können auf diese Weise genannt werden, ohne dass sie in Konkurrenz zum christlichen Gott treten. Ausführlich wird im WvÖ reflektiert, wie sich Schöpfung vollzieht. Die Reifung des Geschlechtstriebes, konkretisiert an Ryal und Aglye, wird dargestellt als gemeinsames Werk der Minne und der Natur. Das Verhältnis von erster und zweiter Ebene ist so gestaltet, dass die Entitäten der zweiten Ebene die Geschicke der Entitäten der ersten bestimmen können. Egal, ob die personifizierte Aventue re über den Erzähler bestimmt oder umgekehrt, beide können über die Figuren bestimmen. Der Erzähler kann somit zugleich von Gott inspiriert sein, unter dem Einfluss von Frau Aventue re stehen, als auch als Meister des Schicksals der Figuren erscheinen. Gestützt wird diese Annahme von der Tatsache, dass der Erzähler sich wiederholt als Vermittler positioniert. Er nimmt diese Rolle für sich in Anspruch. Im Laufe der Handlung skizziert der Erzähler seinen Aufstieg innerhalb der Hierarchie. Während er zunächst erklärt, dass die Macht der Instanzen Minne und Natur so groß sei, dass er so dichten müsse, dass es ihrem Willen entspricht, äußert er ihnen gegenüber auch seine eigene Meinung, die bisweilen von der Meinung der Instanzen abweicht. Er untergräbt damit deren Autorität, wie auch die der personifizierten Aventue re. Mit dieser diskutiert er über den richtigen Verlauf der Erzählung und kritisiert sie. Gegen Ende des Epos kehrt sich das hierarchische Verhältnis von Erzähler und personifizierter Aventue re um. Während Gottes Autorität unangetastet bleibt, kann der Erzähler die Autorität von Frau Aventue re in Frage

357 Venus sowohl als Stern als auch als Instanz.

Deus creator – Poeta creator

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stellen, nicht jedoch Gott als oberstes Prinzip. Der Erzähler hofft darauf, dass er – in Analogie zur Natur, die im Auftrag Gottes Leben erschafft – von Gott die Legitimation erhält, seine eigene aventue re-Geschichte zu erschaffen. Dabei tritt er nicht in Konkurrenz zu Gott, sondern in Konkurrenz zu den diesem untergeordneten Instanzen Minne, Natur und Aventue re. Wenn der Erzähler des WvÖ eine Mittelrolle zwischen Personifikationen und Gott beansprucht, wird damit ein Aufstieg beschrieben, der im Mittelalter in anderen Kontexten durchaus geläufig ist: Bei Ficino erhält der Mensch einen besonderen Stellenwert innerhalb der Schöpfung, bei Landino hat der Dichter eine herausragende Stellung vor anderen Menschen. An verschiedenen Stellen ist die Handlung überdeterminiert. Der Erzähler setzt bewusst verschiedene, die Handlung determinierende Instanzen ein und führt deren Funktion damit ad absurdum. Es werden verschiedene Deutungsmöglichkeiten auf die Frage angeboten, wer Wildhelm auf seinem Weg führt. Da diese Deutungsmöglichkeiten gleichwertig nebeneinander stehen, ist es für den Rezipienten unmöglich, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu finden. Auch die Macht Gottes, in das Geschick der Protagonisten einzugreifen, wird damit womöglich implizit in Frage gestellt. Während der Erzähler nämlich Gottes Einfluss auf das epische Personal kritisch hinterfragt, erkennt er seine eigene Abhängigkeit von Gott an. Er trennt seine eigene Dichtung, dessen Schöpfer er ist, von der Lebenswirklichkeit, in der er abhängig ist von Gott und seiner Inspiration bedarf, und drückt damit seine eigene Vermittlungsleistung aus. Nicht unerwähnt sei an dieser Stelle, dass sich dabei das epische Personal nicht allein als lebloser Spielball des Erzählers erweist. Vielmehr partizipiert auch Wildhelm an der Verhandlung über den Fortgang der Dichtung. Neben diesen Ergebnissen zum hierarchischen System der Instanzen wurde anhand der Anrufungen in den Blick genommen, inwiefern das Wirken Gottes und des Dichters miteinander zusammenhängen. Der Erzähler ruft im Laufe der Handlung neben Frau Minne, Frau Aventue re und der personifizierten Natur auch Gott und Maria an, sie möchten ihn bei seiner Dichtung unterstützen. Allen Instanzen wird somit eine poetische Kompetenz zugestanden. Auffallend häufig bittet der Erzähler um stiure bzw. darum, dass seine Sinne gestiurt werden. Die Semantik reicht von Stütze über Unterstützung, Hilfe, Gabe, Beitrag (helfen) bis zu Steuerruder (lenken, leiten). Die Untersuchung von Paradigmengebeten ergab, dass der Erzähler souverän mit einer theologischen Gebetstradition umgeht. Es zeichnet sich eine selbstbewusste Position des Erzählers ab, wenn er die Form des Paradigmengebetes aufnimmt und in eine poetologische Reflexion transformiert: Er lässt auf der einen Seite ein prototypisches Paradigmengebet durch seinen Kontext ins Leere laufen bzw. lässt zumindest die im Gebet erbetene Hilfe durch Gottes Eingreifen nur neben anderen Formen der Hilfe gelten und stellt sich damit als bestimmenden

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Faktor über das Geschick des Protagonisten dar; er verknüpft das Paradigmengebet mit der Bitte um Inspiration und modifiziert es dabei so, dass seine eigene Leistung als Analogon zur Leistung Gottes erscheint. Solche Transfers und Transformationen finden auch im Bereich der Trinitätsspekulation statt. Mit der Inkarnation Gottes durch Maria und der Trinität werden im WvÖ zentrale christliche Dogmen sprachlich erfasst. Der Autor des WvÖ geht souverän mit theologischen Erkenntnissen um, und zwar auf eine Weise, die die Potenzialität von Sprache, deren Innovationspotenzial weitreichend ausschöpft und auf poetologische Fragestellungen überträgt. Es wird dabei ein breites Spektrum gelehrten Wissens aktualisiert, etwa die aristotelische Lehre von materie, forme, privatio oder mystische Spekulationen, darüber hinaus werden auch andere Kontexte einbezogen. So erfasst der Erzähler die Trinität mit Hilfe eines Metaphernfeldes, das sonst für (körperliche) Minne bemüht wird, oder wendet im Rahmen seiner Trinitätsspekulation eine Strategie an, die sonst bei descriptiones geläufig ist: Auf eine Unsagbarkeitsbeteuerung folgt die Beschreibung. Ein poetologisches Spiel wird somit übertragen auf einen theologischen Kontext.

1.5.2 Die poetologischen Aussagen Der Erzähler des WvÖ reflektiert in einer Reihe von Passagen sein eigenes Dichten anhand von Bildern, die er entwirft. Der Forschung sind wichtige solcher poetologischen Aussagen nicht verborgen geblieben, 358 von denen wohl die Bilder der Feuervergoldung, des stupfelmans sowie das des Zwerges auf dem Rücken des Riesen die herausragendsten sind. Auch ist versucht worden, die poetologischen Aussagen in ihrer Gesamtheit zu deuten. So erkennt Ridder, dass der „literarische Schaffensprozeß [. . . ] als eine pendelnde Bewegung zwischen den Polen literarische Tradition, Publikum und Autorkompetenz vorgestellt [ist], deren literarische Zielform das stetig wachsende Werk darstellt“. 359 Unter Anführung einer bisher kaum beachteten Passage, den Versen 14.409–14.417, 360 sollen im Folgenden die (explizit) poetologischen Aussagen 361 in Beziehung gesetzt werden zu den Ergebnissen der Betrachtung der Hierarchie von Instanzen und Erzähler.

358 Vgl. exemplarisch H (1983), S. 154; J (1990), S. 254–261; K (1993), S. 490 f.; R (1998), S. 328 ff.; D (1999), S. 99 ff. 359 R (1998), S. 331. 360 Einzig Frenzel erwähnt die Stelle. Vgl. F (1930), S. 74. 361 Explizit seien solche Aussagen genannt, in denen sich der Erzähler unmittelbar poetologisch äußert – in Abgrenzung zu den im vorangegangenen Kapitel rekonstruierten Aussagen auf der Grundlage des Verhältnisses von Erzähler, Figuren und Instanzen.

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Wie anhand des Verhältnisses von Erzähler zu den Instanzen gezeigt werden konnte, durchläuft der Erzähler eine Entwicklung. Zeigt er sich zunächst als von den Instanzen beeinflusst, erweist er sich zum Schluss als von ihnen weitgehend emanzipiert. Die Reflexionen gelten folgerichtig mit zunehmendem Fortgang der Erzählung mehr christlichen Elementen. Die Tatsache, dass sich die Gebete in der zweiten Romanhälfte häufen, 362 deckt sich mit der Beobachtung, dass sich der Erzähler von den mittleren Instanzen emanzipiert. Mit fortschreitender Handlung etabliert er sich zwischen diesen und wendet sich fortan vordergründig selbst an die höchsten Instanzen. Auch die explizit poetologischen Aussagen spiegeln einen Dynamisierungsprozess innerhalb des Werkes wider, 363 innerhalb dessen sich das im Text transportierte Selbstverständnis verändert von einem Nachahmer traditionellen Erzählens hin zu einem göttlich inspirierten, eingeschränkt autonom Handelnden. Nach dem Prolog, der vor rede, eröffnet der Erzähler seinen Plan: nach dirre vor rede gat guo tiu sage, der si bevaht mit rim, als si min sin bedaht in des hertzen slozzen; iedoch sol unverdrozzen min zunge lenken wilde sage von maniger tugende bejage.

(WvÖ, V. 124–130)

Zunächst erklärt der Erzähler sich in diesen Versen selbstbewusst als den Ursprung der „sage“ oder der „rim“, die oder den sein „sin“ „in des hertzen slozzen“ erdacht hat. Syntaktisch ist nicht zu klären, ob das Personalpronomen „si“ bezogen ist auf „sage“ oder „rim“ (Plural). Entweder das eine oder das andere ist verborgen im Herzen und damit in Opposition gestellt zu dem, was die „zunge lenken“ soll. So ist das eigene Herz als Ursprung zwar angesprochen, durch die Tatsache, dass dies Herz ein Schloss ist, sogleich aber als Inspirationsquelle für die Erzählung ausgeschlossen. Eine Alternative wird nur wenige Verse später vorgestellt, wenn der Erzähler „kunst und witze“ (WvÖ, V. 131) mit der Bitte um Inspiration anruft. Im Folgenden negiert der Erzähler wiederholt, dass er „kunst, witz und sin / in dem hertzen“ hat, 364 und schließt damit die zuvor eröffnete Perspektive. Die eigene Defizienz erklärt er sodann in einem Bild:

362 Wie schon Rehbock feststellt. Vgl. R (1963), S. 62, 170, 245 f. 363 Ridder verweist in Hinblick auf das „Moment des noch künstlerisch Unreifen“ auf einen „Prozeßgedanken“ (R (1998), S. 332). 364 Ebenso in Vers 150.

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nu sint die sinne mir ze fruo geflogen von dem neste

(WvÖ, V. 152 f.)

Der sin zu dichten wird hier in das Bild von Vogeljungen gebracht, die das Nest des Dichters zu früh verlassen, sodass sie für dessen Dichtung nicht mehr behilflich sein können. „Dieses durch seine Verwendung im Prolog hervorgehobene Bild ist wohl als gewollter Kontrast zu den die Spätzeitlichkeit betonenden späteren Metaphern zu sehen“. 365 Entgegen dieser Aussage betont der Erzähler, dass seines mundes tue r noch weitere aventue re-Geschichten bereithält: hie bi lit noch beslozzen innerhalb des mundes tue r aventue r, die so her fue r nemen ainen senften fluz

(WvÖ, V. 620–623)

Schon hier wird mit zwei Konzepten gespielt: dem Herzen als Inspirationsquelle und dem Mund als ausführendem Organ. Beide Konzepte werden wiederholt aufgenommen. Das Bild, das die oben erwähnte Spätzeitlichkeit besonders betont, ist die Metapher des „stupfelmans“, die nicht isoliert aufgeführt wird, sondern sich fügt in einen Erklärungszusammenhang. Zunächst werden die Komponenten „hertz“ und „zunge“ der Verse 124 ff. aufgenommen. Erschienen in diesen Versen diese beiden Komponenten noch als sich ausschließende Alternativen, zeigt sich nun eine Verbindung. 366 mit warheit ich daz spriche daz daz hertze min bechort daz diu zunge sue zziu wort da von ze rimen flæhte und die so wol fue rbræhte daz mich die maister pristen.

(WvÖ, V. 1488–1493)

Das Herz ist nicht länger ein Schloss, sondern es öffnet sich und „bechort“, d. h. es schmeckt. Die semantische Nähe des Verbs bekorn zum Geschmacksorgan Zunge 365 R (1998), S. 332. Die Metapher wird in einem Brief Aglyes aufgenommen. Als sie fürchten muss, von Ryal getrennt zu werden, drückt sie ihre Trauer aus:

in mines hertzen neste wirt nymmer vogel mer erzogen: mir ist der welt pris enpflogen! swenne ich dich nimer mag gehaben, so muoz man mich nach dir begraben.

(WvÖ, V. 9866–9870)

Der welt pris, der enpflogen ist, wird zur Erziehung der Vögel im Herzen kontrastiert. 366 Grammatisch zeigt sich dies daran, dass, anders als in Vers 128, an dieser Stelle keine adversative Konjunktion vorliegt.

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ist wohl größer als die zum Herzen. Zuvor war unklar, wer die Reime hervorbringen soll, hier ist diese Aufgabe der Zunge zugeordnet. Der Erzähler erhofft sich – v. a. für die Performanz dieser Reime – das Lob der Meister. Im Folgenden macht der Erzähler auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die sich daraus ergibt, dass vor ihm die Weisesten bereits gedichtet haben: nu hant vor mir die wisten den kern geloe set uz den vesen, des muo z ich uz en hælmen lesen min tihten als ein stupfelman, der blue glich nach hin slichen kan, swaz in da sprue ch entrise, daz min zunge unwise samen und fue ge.

(WvÖ, V. 1494–1501)

In der Metapher des Ährennachlesers wird ausgedrückt, dass sich der Erzähler einer Tradition gegenübersieht, die Wesentliches bereits hervorgebracht hat. Ihm selbst bleibt, auf dem bereits abgeernteten Feld nach sprue chen zu suchen, die den Vertretern der Tradition entfallen sind. Diese soll seine Zunge sammeln und zusammenfügen. Die „Einschätzung der eigenen artistischen Kompetenz“ erfährt eine „gravierende Relativierung“. 367 Juergens bezieht die Metapher des Ährenfeldes auf die Rhetorik. Es drücke aus, daß die Möglichkeiten, die die Rhetorik bereitstellt und mittels derer ‚inventio‘ gezeigt werden kann, erschöpft seien; originale Artikulation ist hier nicht mehr möglich, da das Medium poetischer Sprache keine Möglichkeiten mehr offenhält. Dies klingt nach dem Bewußtsein einer historischen Situation, in der es objektiv nicht mehr möglich ist, einen unverbrauchten, angemessenen Ausdruck für die thematisierten Sachverhalte zu finden. 368

Diese Perspektive wird vollends verworfen, wenn die Zunge, die das „samen und fue ge[n]“ soll, was die Meister übriggelassen haben, „liben“ möchte, plötzlich „hinket“ und „laz“ ist: kue nd ich rimen clue ge, die wolt ich gerne schriben. nu wil min zunge liben, diu hinket und ist da bi laz:

(WvÖ, V. 1502–1505)

Das Selbstverständnis des Erzählers als Ährennachleser wird damit negiert, da das notwendige Instrument für die Nachlese, die Zunge, ihre Arbeit nicht mehr verrichtet. Die traditionelle Inspirationsquelle ist leer: 367 J (1990), S. 254. 368 Ebd., S. 255. Juergens fährt fort mit den Versen 1506–1509; siehe dazu unten.

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so ist ot mir des sinnes vaz der vremden funde niwe die zu so grozzer triwe fue gen und gezemen; doch kan ich ez niht benemen minen tummen sinnen, ich mue zz von den minnen sprechen die tumplich augten kintlichen sich.

(WvÖ, V. 1506–1514)

In den Versen 1512–1514 wird die Kritik an Minne und Natur aufgenommen, die der Erzähler in der Auseinandersetzung um die geschlechtliche Reifung Aglyes und Ryals geäußert hatte. 369 Diese Auseinandersetzung wird verbunden mit der expliziten poetologischen Reflexion. Gegen die These, die Bilder des Ährennachlesers und des Zungenlahmen drückten das „Gefühl epigonischer Unterlegenheit“ aus, wendet Juergens ein, dass „der Akzent dieser Äußerung auf einer sprachtheoretischen Überlegung liegt und daß der Hinweis auf die spätzeitliche Situation eher funktionale Bedeutung hat“. Er gibt zu bedenken, dass die Bilder „die virtuose Einbettung einer Unsagbarkeitsformel“ darstellen, und sieht in den Versen 1510f. eine „Wende in der Argumentation [. . . ]. Aus der Defensive vehementer Unfähigkeitsbeteuerungen wird eine Legitimation des spezifischen Sprechens des Erzählers“. Dieses spezifische Sprechen, die „Unsagbarkeit“ von minne, sieht er darin begründet, „daß die Sprechenden Kinder sind“ 370: „Die ‚tumpheit‘ des Erzählenden deckt sich mit der ‚tumpheit‘ derer, von denen erzählt wird“. 371 Ridder akzentuiert in seiner Analyse der Bilder anders: Das Bild des Ährenlesers hebt auf den Gesichtspunkt des Sammelns ab, im Zusammenhang poetologischer Reflexion ist damit die Kompilation literarischer Tradition angesprochen. Der Zungenlahme setzt die Vorstellung der Muse, die aus dem Mund des Erzählers spricht bzw. ihn die Märe aufschreiben läßt, voraus. 372

Juergens ist insofern zu widersprechen, als die tumpheit des Erzählers lediglich vorgespielt ist. Dieser gibt vor, seine Erzählung nicht adäquat wiedergeben zu können, 369 Vgl. Darstellungspunkt 1.4.2, S. 112 ff. 370 J (1990), S. 256 f. 371 Ebd., S. 259. Vgl. zu diesem Kontext, abstrahiert vom WvÖ, auch R-F, Timo (2001): Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. JHS. In: ZfdPh 120 (1), S. 1–23 und ders. (2003): Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, hier v. a. Kapitel 4. 372 R (1998), S. 332.

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de facto jedoch erzählt er sie. Eine weitere Schwäche in der Argumentation ist die Einengung auf die Minnereden. In der Zusammenschau der poetologischen Aussagen wird vielmehr das Erzählen allgemein reflektiert, nicht allein das Erzählen über minne. Ridder liefert eine gewichtige Interpretation, die Anknüpfungspunkte des poetologischen Konzeptes im WvÖ zu Senceca und Hugo von St. Victor offenbart. Seneca vergleicht die Tätigkeit des Dichters mit der Arbeit der Bienen. Der Dichter solle die Bienen [. . . ] nachahmen, die umherfliegen, die zur Honiggewinnung geeigneten Blüten aussaugen und danach das, was sie herangebracht haben, ordnen, auf Waben verteilen und, wie unser Vergil sagt: „flüssigen Honig anhäufen und mit süßem Nektar die Zelle füllen“. 373

Auf ebendiesen Aspekt – der durchaus auf die „eigenständig-produktive“ Arbeit des Dichters abzielt 374 – verweist Hugo von St. Victor, wenn er das opus artificis imitantis des Menschen von opus Dei und opus naturae unterscheidet und definiert: „Das Werk des Künstlers besteht darin, Getrenntes zu verbinden oder Verbundenes zu trennen“. 375 Die Metaphorik des Ährennachlesers erschöpft sich jedoch auch nicht dem von Ridder genannten Aspekt des Sammelns und Kompilierens. Neben der von Ridder entworfenen Perspektive, das abgeerntete Feld nach möglichen Resten abzusuchen, scheint hier als Lösung auf, sich ein neues Inspirationsfeld zu suchen. Der Bruch in der Argumentation, den Juergens ausmacht, 376 setzt bereits in Vers 1502 ein. Die Tatsache, dass die Zunge lahmt und „des sinnes vaz“ leer ist, bringt deutlicher als das Bild des Ährennachlesers zum Ausdruck, dass die Tradition als Inspirationsquelle versiegt ist. Argumentativ notwendig wird 373 R, Alfons (1993): Das Konzept kreativer imitatio im Kontext der RenaissanceKunsttheorie. In: Haug; Wachinger (Hrsg.): Innovation und Originalität. Beiträge zum siebten Gespräch über Probleme der kulturgeschichtlich-literarischen Wende vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Tübingen: Niemeyer, S. 98–132, hier S. 108. Im Folgenden zitiert als R (1993). Reckermann bezieht sich auf Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, LXXXIV. 374 Vgl. ebd. 375 Opus artificis est, disgregata coniungere, vel coniuncta segregare. Hugo von St. Victor: Didascalicon, Buch 1, Kapitel 10. Edition: Hugo de Sancto Victore: Didascalicon de studio legendi et alia opuscula. Strassburg: Drucker des Henricus Ariminensis. Digitalisierte Ausgabe: Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek 2013, S. 32 (Digitale Sammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf ). Übersetzung: Hugo von St. Victor: Das Lehrbuch. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Joseph Freundgen. Paderborn: Schöningh 1896, S. 58 f. 376 Auch Ridder nennt die Verse 1510 ff. als die Stelle des entscheidenden Bruches: Die Tatsache, dass schon alles gesagt ist, und die Unfähigkeit des Erzählers zu dichten fangen „das schon mehrfach aufgefallene ‚Trotzdem‘ auf, das die Fortsetzung der Erzählung ermöglicht“ (R (1998), S. 329).

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auf den Status der Nachdichter verwiesen, um zu zeigen, dass dieser Status überwunden wird. Der Erzähler resigniert nicht, wie Juergens meint, im Bewusstsein von Unsagbarkeit, sondern verlässt die Tradition, und wird im weiteren Verlauf der Erzählung eine neue Perspektive entwerfen: göttliche Inspiration. 377 Auch ist in Rechnung zu stellen, dass der aventue re ein Attribut zugesprochen wird, das Erzähler in mittelhochdeutscher Literatur für ihre aventue re-Geschichten in Anspruch nehmen: Sie „ward al da genue wet“ (WvÖ, V. 4479). Damit ist „das programmatische Leitwort für die Neugestaltung überkommener Sujets“ 378 aufgenommen. Signifikant ist, dass in den folgenden Versen auf engstem Raum drei Quellenberufungen genannt werden 379, die den Handlungsablauf bezeugen sollen; sie stehen in scheinbarem Widerspruch zu der Aussage, die Erzählung zu erneuern; der WvÖ wird damit in dem bekannten Spannungsfeld von Tradition und Erneuerung verortet, das genutzt wird, um im Rahmen der Konventionen und Verbote das eigene Schaffen hervorzuheben. 380 Schon als der Erzähler Gott als „schepfer aller aventue r“ gebeten hat, ihn zu unterstützen, 381 erscheint Gott als Inspirationsquelle für die Dichtung. Noch deutlicher wird eine transzendente Inspiration in einer Apostrophe des Erzählers an Maria. Das Metaphernfeld eines (geschlossenen) Raumes, in dem Inspiration zu finden ist, wird aufgenommen. Weil die vom „sin“ „in des hertzen slozzen“ (WvÖ, V. 126f.) erdachte Erzählung nicht zur Verfügung steht, die Sinne dem Nest entflogen sind (vgl. WvÖ, V. 152 f.) und „des sinnes vaz“ leer ist (WvÖ, V. 1506f.), erhofft der Erzähler, aus Marias „gnaden schif“ (WvÖ, V. 10.478) „richs getihtes kunst“ (WvÖ, V. 14.342) „gesteln“ (WvÖ, V. 14.345) zu können 382 und später seine „gnaden schue zzel“ in Marias „kammer“ füllen zu können. Die verschiedenen Behältnisse stehen je für eine mögliche Inspirationsquelle. Das Herz ist eine Quelle, die im Dichter selbst ruht, das „vaz“ erweist sich aus dem Kontext als Quelle der literarischen Tradition und Marias Kammer ist eine transzendente Inspirati-

377 Damit ist m. E. erfasst, was bei Ridder noch recht vage „ethisch motiviertes Trotzdem“ (S. 329) heißt. Vgl. zum göttlich inspirierten Autor K (2006) und K (2008). 378 K (2008), S. 16. Im besonderen Fußnote 6, in der Beispiele genannt werden. 379 „[A]ls uns sait diu rede“ (WvÖ, V. 4484); „als ich las“ (WvÖ, V. 4496); „als uns diu rede sagt“ (WvÖ, V. 4501). 380 Vgl. zu diesem Themenkomplex die neueren Positionen in H (2001); H (2008); K (2008); S, Elisabeth (2008): Erfinden und Wiedererzählen. In: Schlesier; Trînca (Hrsg.): Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hildesheim: Weidmann, S. 41–55. Im Folgenden zitiert als S (2008). 381 Vgl. S. 80ff. und die dort platzierte Auseinandersetzung mit den Thesen Dietls; vgl. auch Darstellungspunkt 1.1.1, S. 37 ff.; siehe auch R (1998), S. 328. 382 Vgl. Darstellungspunkt 1.1.4, S. 68 ff.

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onsquelle. 383 Der Bildspender der Kammer überbietet die anderen Bildspender in seiner Größe und zeigt damit die herausragende Wertschätzung des Göttlichen. 384 Kue niginne, gammer! wis mich zu der kammer mit diner wishait slue zzel, daz mir gnaden schue zzel dar inne gefue llet werde, daz ich uf dirre erde sinne kunst so schepf daz mich iht beclepf der ewiclich tot da von!

(WvÖ, V. 14.409–14.417)

Es gibt eine Kammer, deren Schlüssel Marias Weisheit ist. Der Erzähler möchte seine Gnadenschüssel in dieser Kammer füllen, 385 damit er diesseitig soviel sinne kunst schepfen 386 kann, sodass er den ewigen Tod nicht sterben muss. Mit Marias Hilfe, mit ihrer Gnade möchte der Erzähler /Dichter ein Werk schaffen, das ihn vor dem Vergessen bewahrt. Aufschlussreich ist ein Vergleich mit Thomas von Aquin. Die Frage, wie ein Künstler „die Idee von Ereignissen, die nie stattgefunden haben und die er doch zu einer fiktiven Geschichte erdichtet oder die Idee eines Ungeheuers, das in der Realität nicht existiert“, erfindet, beantwortet er mit einem Verweis auf die „Phantasie oder Einbildungskraft“, die „er eine Art Schatzkammer der durch die Sinne empfangenen Formen“ nennt: 387 383 Vgl. hierzu auch C (1993), S. 89. 384 Damit erfüllen die Bilder dieser Gefäße eine ähnliche poetologische Funktion wie die Metapher von Kern und Schale, die, wie R (1998) zeigt, verwendet wird, „um das Verhältnis des eigenen zu den Werken der literarischen Leitbilder zu umschreiben. Die Metapher ist nicht mehr auf das Innen und Außen, auf die tiefere Wahrheit und die Textoberfläche eines einzelnen Werkes, sondern auf die Entwicklungsgeschichte eines Werktyps bezogen. Das Bild faßt die Unüberbietbarkeit eines literarischen Ideals, sucht in gewisser Weise aber auch – in gebührender Distanz davon – den literarischen Ort des späten Autors zu bestimmen“ (S. 329). Die Textstellen, die das Bild von Kern und Schale aufnehmen, „fügen sich dem Zusammenhang der zentralen Problemstellung der Erzählreflexion im WvÖ ein: der Reflexion des Verhältnisses zur literarischen Tradition, der Rezeptionsbedingungen des Werkes sowie des Verhältnisses von poetischer Ausdrucksform und ethischer Bedeutungsdimension“ (S. 331). 385 Das Bild der Schüssel, die mit dem Inhalt der Kammer gefüllt werden soll, spiegelt das Verhältnis wider, das in der Apostrophe Gottes als schepfer aller aventue r ausgedrückt wird. Hier wie dort erhofft der Erzähler einen kleinen Bruchteil des Göttlichen. Vgl. S. 80 ff. dieser Arbeit. 386 Dies ist die einzige Nennung im gesamten Text. 387 K, Henri Adrien (1992): Artificialia und naturalia nach Wilhelm von Ockham. Wandlungen in dem Begriff der Unterscheidung zwischen Kunst und Natur. In: Speer; Zimmermann (Hrsg.): Mensch und Natur im Mittelalter (2). Berlin: de Gruyter (Miscellanea

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Ad harum autem formarum retentionem aut conservationem ordinatur phantasia, sive imaginatio, quae idem sunt, est enim phantasia sive imaginatio quasi thesaurus quidam formarum per sensum acceptarum. Ad apprehendendum autem intentiones quae per sensum non accipiuntur, ordinatur vis aestimativa. Ad conservandum autem eas, vis memorativa, quae est thesaurus quidam huiusmodi intentionum. 388

Zentraler lateinischer Begriff ist hier thesaurus, den Krop richtig mit Schatzkammer wiedergibt. Nimmt man an, dass der lateinische Begriff, wie er bei Thomas zu finden ist, im WvÖ ins Deutsche übertragen worden ist, so wäre das erneut ein Indiz dafür, wie gelehrt der Autor des WvÖ ist. Kurz nach einer Autornennung (vgl. WvÖ, V. 15.103) nimmt der Erzähler das Bild der aus dem Nest geflogenen Sinne auf und wendet es ins Positive. Wa kunst? wa muo t? wa hertzen sin? vliegent uz und holt gewin, der wisen maister kunst!

(WvÖ, V. 15.111–15.113)

Hatte er in Vers 152 f. noch konstatiert, dass ihm die Sinne aus dem Nest geflogen seien, schickt er nun kunst, muo t und hertzen sin zum Flug aus, um gewin in Form der wisen maister kunst einzuholen. Als Quelle für das eigene Dichten wird die Tradition erwogen; 389 dies zieht den Unmut mancher Rezipienten auf sich. Nach einer Unfähigkeitsbeteuerung (vgl. WvÖ, V. 15.114–15.118) rekurriert der Erzähler auf jene, die wähnen, „daz tihten niht so rich / si als ez gewesen si“ (WvÖ, V. 15.119– 15.121), und erklärt, dass „den wonet lue tzel kunst bi“ (WvÖ, V. 15.122). Den mangelnden Kunstverstand jener, die die Leistung der moderni 390 nicht anerkennen, belegt der Erzähler anhand des Bildes des Zwergen auf der Schulter des Riesen (vgl. WvÖ, V. 15.123–15.139), 391 das er dem Meister Demestius zuschreibt, dessen Auslegung er zurückführt auf das Buch „de anima“. Die Bitte um Inspiration

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389 390

391

Mediaevalia, 21,2), S. 952–964, hier 956 mit Verweis auf Summa theologiae I q. 78 a. 4. Im Folgenden zitiert als Krop (1992). Sancti Thomae de Aquino Summa Theologiae. Textum Leoninum Romae 1888 editum ac automato translatum a Roberto Busa SJ in taenias magneticas denuo recognovit Enrique Alarcón atque instruxit, Iª q. 78 a. 4 co. In dieser Metapher spiegelt sich auch die Arbeitsweise des Autors als Sammler und v. a. Kompilator, wie es Ridder wiederholt darstellt (vgl. R (1998), S. 287, 294 f., 334). „Dieser Gedanke eines geschichtlichen Fortschritts von Literatur, der in der Schule von Chartres in der Auseinandersetzung über das Verhältnis von antiqui und moderni von Bedeutung war, ist auch der volkssprachlichen Literatur [. . . ] nicht fremd“ (R (1998), S. 223). Vgl. zum Bild des Zwergen auf den Schultern des Riesen im WvÖ F (1930), S. 59 f., der darauf verweist, dass das Bild wohl Bernhard von Chartres zuzuschreiben ist und von Johannes von Salisbury überliefert wurde. Er verweist auf Metalogicus lib. III cap. 4 (PL 199, p 900 C), wo Johannes seinen Lehrer Bernhard als den Urheber des Bildes benennt; vgl. auch H (1983), S. 254; J (1990), S. 305–310; R (1998),

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bei Maria hat zur Folge, dass der Erzähler wieder selbstbewusst auftritt und seine eigene Leistung hervorhebt. Nimmt man die Bilder des stupfelmans und das des Zwergen auf den Schultern des Riesen zusammen in den Blick, so ergibt sich ein paradoxer Sachverhalt. Das Bild des gut tausend Verse früher vorgestellten stupfelmans bringt „drastisch ein Bewußtsein sprachlicher Unfähigkeit zum Ausdruck: die glücklich gewählten, eindringlichen Bilder konterkarieren ihre vorgebliche Aussageabsicht“. 392 Im Bild des Zwergen wird hingegen „künstlerisches Selbstbewußtsein“ 393 zum Ausdruck gebracht; im Gegensatz zum Bild des stupfelmans, das wohl auf Johann selbst zurückgeht, hat das Bild vom Zwergen auf den Schultern des Riesen eine lange literarische Tradition. Immerhin schreibt es bereits Johannes von Salisbury seinem Lehrer Bernhard zu. Der Erzähler drückt also die eigene sprachliche Unfähigkeit aus mit Hilfe selbstgewählter, adäquater Bilder; um die eigene sprachliche Fähigkeit auszudrücken, bemüht er hingegen eine Metapher, die es bereits gibt, auf die er also keinen originären Anspruch erheben kann: Er spielt mit dem Spannungsfeld von Tradition und Innovation im Kontext künstlerischen Wertes. An wenigen Stellen soll im Folgenden kurz skizziert werden, dass das Bild des Zwerges auf den Schultern des Riesen im WvÖ in der Tat poetisch umgesetzt wird. Wiederholt werden Schemata aufgenommen, die aus vorangegangenen literarischen Texten oder anderen Kontexten stammen, und potenziert. So wird Frau Aventiure, die es etwa in Wolframs „Parzival“ schon gibt, im WvÖ verdreifacht. Neben ihr selbst gibt es den Aventue re Hauptmann und den Bracken; die Personifikationen werden in ein hierarchisches System zusammengefügt, dem Gott vorsteht; das Schema des Paradigmengebetes wird aufgenommen und so variiert, dass die Analogie von Gott und Dichter zum Ausdruck kommt; ein aus der Minne geläufiges Bildfeld wird übertragen auf die sprachliche Erfassung der Trinität; das poetische Spiel, einer gelungenen descriptio eine Unsagbarkeitsbeteuerung voranzustellen, wird übertragen auf die Trinität. Diese wenigen Beispiele mögen genügen. Es sei darauf verwiesen, dass sich dieses Verfahren mit einem Verfahren deckt, das jüngst Schmitz überzeugend für Dantes Commedia in Abgrenzung zu Vergil gezeigt hat. Sie weist nach, S. 333f.; D (1999), S. 110 f.; siehe zu diesem Bild im „Anticlaudian“ des Alanus ab Insulis und dessen Verbindung mit den Konzepten Inspiration und Ingenium K (2008), S. 32ff. Vgl. generell auch M, Robert King (1965): On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript. New York: The Free Press; in deutscher Übersetzung: Ders. (1983): Auf den Schultern von Riesen: ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 392 J (1990), S. 256. Vgl. auch S. 254, wo Juergens feststellt, dass „gravierende Relativierungen der Einschätzung der eigenen artistischen Kompetenz [. . . ] zu einer Unfähigkeitsbeteuerung komponiert werden“. 393 R (1998), S. 333.

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dass „sich dichterische Neuschöpfungen beim Wettstreit mit einem Vorgänger der Wiederholung poetischer Verfahren verdanken, also gleiche oder zumindest ähnliche Prinzipien bei der Hervorbringung von Neuem mehrfach wirksam werden können“, 394 nicht ohne zu betonen, dass „sich Dantes Verfahren als ungleich komplexer als das Vergils“ erweist 395 und gerade in „dieser Komplexitätssteigerung [. . . ] das unerhört Neue“ liege. 396 Zum Schluss nimmt der Erzähler des WvÖ eine bereits im Prolog entworfene, dann aber zunächst verworfene Perspektive wieder auf: „in mir ist noch beslozzen / vil wilder aventue r“ (WvÖ, V. 19478 f.). Auch im Prolog gibt der Erzähler vor, er habe „die âventiure in seinem Innersten erdacht“, 397 der Ort der Inspiration liegt in ihm selbst. Stehen wir also am Ende wieder am Anfang? Die Antwort darauf ist nein. Zwischenzeitlich erfahren wir, dass er seine schue zzel in Marias kammer gefüllt hat. Das Herz oder die Seele als Inspirationsquelle ist somit letztlich göttlich. 398 Zuletzt führt der Erzähler die Quellenberufung ad absurdum, wenn er vorgibt, die soeben vollendete aventue re-Geschichte „in latine geschriben“ gefunden zu haben, so wie sie „von Zyzya kue nc Agrant / hiez [. . . ] beschrieben“ (WvÖ, V. 19563– 19565). 399 Er stellt somit die Erzählung als ein Werk dar, das losgelöst ist von Quellen und Tradition. Die offensichtliche Fiktion des Erzählers, seine Quelle sei eine Figur der Erzählung, 400 schließt das Werk am Ende ab, autonomisiert es und erfüllt damit die Funktion, die auch der Tod Wildhelms insofern erfüllt, als er „ein fiktionales Glied eines historischen Geschlechts, eingeschoben zwischen Vater und Sohn“ ist. 401

394 395 396 397 398

S (2014), S. 219. Ebd., S. 223. Ebd., S. 225. D (1999), S. 107. Vgl. Darstellungspunkt 1.1.3, S. 53 ff., v. a. S. 60 ff. Vgl. zum Seelenfunken etwa SC, Uta (2004): Einführung in die mittelalterliche Mystik. Stuttgart: Reclam, S. 123 ff. Zu denken wäre hier sicher auch an die Vorstellung des homo interior. 399 Vgl. Abschnitt 1.3, S. 106 ff. dieser Arbeit. 400 Vgl. S (1987), S. 82 f.; R (1998), S. 285 f.; D (1999), S. 107 f.; S (2004), S. 124 f. 401 D (1993), S. 173. Vgl. zur Zusammenführung der Gedanken D (1999), S. 107 f., die die Autonomisierung jedoch nicht explizit macht.

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1.5.3 Poeta creator: Der Dichter – ein Schöpfer? Die Vorstellung eines poeta creator, eines Dichters /Autors als „unabhängige[n] literarische[n] Schöpfer[s]“, ist eine Vorstellung, die im Allgemeinen der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts zugesprochen wird. 402 Vermittelt über Herder beeinflusst Shaftesbury, der den Dichter 1711 als „second Maker: a just Prometheus, under Jove“ 403 sieht, den Sturm und Drang. 404 Den jungen Goethe, dessen „Dichtergenie in seinem menschenformenden Werk mit Gott rivalisiert“, 405 beeinflussen neben Shaftesbury Young, Lessing und Shakespeare: Dazu [zu Shaftesburys ästhetische Ideen] tritt die Wirkung des Essays Conjectures on Orignial Composition von Eduard Young aus dem Jahre 1759, in dem der Dichter aufgefordert wird, von seinem schöpferischen Genie, das in göttlicher Begeisterung seiner inneren Natur, nicht irgendwelchen Regeln folge, Gebrauch zu machen und sich so in die Höhen der Freiheit zu erheben. In Anlehnung auch an Lessings Lehre, daß das Genie die Gesetze nicht von außen empfange, sondern in sich trage, daß es schaffend neue Gesetze hervorbringe und sich in ihm die Natur selber erweitere, sowie in der Bewunderung für den seit den 50er-Jahren des 18. Jahrhunderts entdeckten und als Sinnbild des genialen Dichters begriffenen Shakespeare formte sich damals der Begriff des Genies als des Inbegriffs der schöpferischen Kraft des dichtenden Individuums, welches nicht mehr auf die Nachahmung der Wirklichkeit angewiesen ist, sondern aus der Fülle seines eigenen Wesens mit Notwendigkeit und ganzheitlich wie eine zweite Natur schafft. 406

Goethe vergleicht zunächst Shakespeare in der 1771 gehaltenen Rede Zum Shakespeares-Tag mit Prometheus, Herder nennt ihn 1772 Genie und Schöpfer, ehe in Goethes 1774 verfasster Ode Prometheus „der antike Halbgott als mythischer Prototyp des eigenen dichterischen Genies gesehen ist“. 407 402 R, Klaus (1998): Die Inszenierung des Autors im „Reinfried von Braunschweig“. Intertextualität im späthöfischen Roman. In: Andersen et al.: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Tübingen: Niemeyer, S. 239–254, hier S. 239; L (1982), S. 170; 172. Vgl. hierzu auch H (2013), S. 88 f. in Auseinandersetzung mit Curtius’ These, nach Macrobius werde die Idee des Dichters als gottes-analoger Schöpfer erst wieder im Sturm und Drang greifbar (C (1993), S. 404). 403 Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1, 1737, 207); zitiert nach L (1982), S. 168. Vgl. auch T (1968), S. 455 f. 404 Vgl. L (1982), S. 170. 405 Ebd., S. 172. 406 Ebd., S. 170. 407 Ebd., S. 170f. Bemerkenswert ist die Analogie von Herders Beurteilung zu Shakespeare und Ridders Analyse zum WvÖ. Herder schreibt über Shakespeare: „Er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen zusammen“.

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Die Forschung ist der Frage nachgegangen, inwiefern sich die von der Genieästhetik geäußerte Vorstellung des dichterisch-schöpfenden Menschen bereits in der Antike findet. 408 Aus diesem Problemfeld, dessen Komplexität nicht zuletzt auf der Übertragung von Begriffen aus dem Griechischen in das Lateinische und schließlich in die Volkssprachen basiert, sei ein für diese Arbeit besonders erhellender Aspekt aufgegriffen: Die Idee des dichterischen Schöpfers im Sinne eines creator ex nihilo gibt es in der griechischen Antike nicht, da diese dem antiken Grundsatz nihil ex nihilo fit widerspricht. 409 Die Aöden trugen Gedichte vor, die andere „gemacht“ hatten. Diese Textverfertiger hießen nun „Macher“ im engeren Sinne. poihthc poihthc bezeichnet den „Urheber des Werkes“ und entspricht also dem Begriff des „Komponisten“ im Gegensatz zum „ausführenden“ Musiker. Bei Isokrates heißt pepoihmenoc pepoihmenoc „künstlich“; der Verfasser von geschriebenen Kunstreden logwn poihthc. Wer poihsic mit „Schöpfung“ übersetzt, trägt in die griechische Anschauung etwas Fremdes hinein: die jüdisch-christliche Schöpfungslehre. Wenn wir den Dichter einen Schöpfer nennen, verwenden wir eine theologische Metapher. Die griechischen Wörter für Dichtung und Dichter haben eine technologische, nicht eine metaphysische oder gar religiöse Bedeutung. Dabei hat kein Volk stärker als das griechische das Göttliche in der Dichtung empfunden. Aber dies göttliche Element ist – eben weil göttlich – ein außer und über dem Menschen Wesendes, das als Muse, als Gott, als göttlicher Wahn in ihn einbricht und ihn erfüllt. Ihre metaphysische Würde empfängt die Dichtung nicht von der Subjektivität des Dichters, sondern von einer übermenschlichen Instanz. 410

Wie in Darstellungspunkt 1.1.2 skizziert, sind in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie sowohl neuplatonische als auch biblische Ansätze in Bezug auf die Analogie von Schöpfer und Dichter wirksam. Wie Haug, Tigerstedts Überlegungen aufnehmend, glaubhaft darlegt, ist die wohl erste Benennung des Dichters als creator bei Landino beeinflusst von Ficino, auf den wiederum Cusanus Einfluss gehabt zu haben scheint. Haug macht plausibel, dass es vor Landino die Idee einer Analogie von Schöpfergott und Mensch bzw. Dichter gegeben haben muss, freilich

408 Vgl. etwa ebd.; S, Rolf (1994): Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 409 Vgl. L (1982), S. 163. Diese Prämisse kontextualisiert auch Ratkowitschs Urteil über Lomperis, in dem sie deren These verwirft, in der „Cosmographia“ des Bernhardus Silvestris gehe es in erster Linie um den Verweis auf die ähnliche Konzeption von Gott und Dichter als Schöpfer. Ratkowitsch meint, dies sei „nichts Neues oder Außergewöhnliches“, sondern finde sich „bereits im platonischen Timaios [. . . ], ebenso bei Vergil, Ecl. 6,62 f. [. . . ] [und bei] Ovid“ (R (1995), S. 13 f.). 410 C (1993), S. 155 f. Auf diese Stelle wird bei Sperduti verwiesen, auf den L (1982), S. 161 verweist.

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immer unter der Prämisse der absoluten Differenz. 411 Neben solchen verhaltenen Inszenierungen der Dichter als Schöpfer 412 stilisieren sich mittelalterliche Autoren – aufgrund des Fehlens einer Poetik volkssprachlicher Literatur müssen diese Selbstbilder aus den literarischen Werken selbst rekonstruiert werden 413 – in einer Reihe von anderen Rollen. Sie setzen sich in Szene als Handwerker 414, als Nachahmer 415 oder als Inspirierte 416. Die Aspekte Handwerk und Nachahmung sollen in Kapitel 3 417 näher in den Blick genommen werden, Inspiration und Schöpfung in diesem Kapitel – die beiden letztgenannten Aspekte berühren im Kern das Spannungsfeld von antiker Philosophie und christlicher Glaubenslehre. Antike und christliches Mittelalter verbindet die Vorstellung von auf Inspiration begründeten Schreibprozessen. Der antik-heidnische Musenanruf ist dabei Vorläufer der Invocatio Dei. Beide Konzepte gründen „auf der Einsicht, daß die 411 Vgl. S. 41ff. dieser Arbeit. 412 Zu dieser Frage vgl. C (1986); L (1982); T (1968); K, Dieter (1985): Nihil sub sole novum? Zur Auslegungsgeschichte von Eccl. 1,10. In: Christoph Gerhardt et al. (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein in der deutschen Literatur des MittelalterS. Tübinger Colloquium 1983. Tübingen: Niemeyer, S. 175–188, im Folgenden zitiert als K (1985); zuletzt H (2013) und B (2013). 413 Vgl. dazu die Reflexionen Obermaiers (1999) zu Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von „Dichtung über Dichtung“ in lyrischen Texten (O, Sabine (1999): Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von „Dichtung über Dichtung“ als Schlüssel für eine Poetik mittelhochdeutscher Lyrik. Eine Skizze. In: Cramer; Kasten (Hrsg.): Mittelalterliche Lyrik: Probleme der Poetik. Berlin: Schmidt (Philologische Studien und Quellen, 154), S. 11–32.). 414 Siehe hierzu H, Patricia (1997): Poeta faber. Der Handwerks-Dichter bei Frauenlob; Texte, Übersetzungen, Textkritik, Kommentar und Metapherninterpretationen. Erlangen: Palm u. Enke, die den Handwerker-Dichter bei Frauelob thematisiert; O, Sabine (1995): Von Nachtigallen und Handwerkern. „Dichtung über Dichtung“ in Minnesang und Sangspruchdichtung. Tübingen: Niemeyer (Hermaea, 75), im Folgenden zitiert als O (1995); O, Sabine (2000): Der Dichter als Handwerker. In: ZfdPh 119 (Sonderheft), im Folgenden zitiert als O (2000). 415 Das Spannungsfeld von „Finden und Erfinden“ behandeln K, Rüdiger (1992): Zwischen Finden und Erfinden. Mittelalterliche Autoren und ihr Stoff. In: Ingold; Wunderlich (Hrsg.): Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, S. 43–59, der v. a. die soziokulturellen Verhältnisse der Autoren in diesem Fragehorizont erörtert, und F, Northrop (1980): Creation and Recreation. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press. Lange Zeit mit vermeintlich „kanonischer Bedeutung“ (S (2008), S. 41) steht Worstbrocks Ansatz, vgl. W (1999); in kritischer Auseinandersetzung: S (2008). Zur Bedeutung der inventio in diesem Zusammenhang vgl. S, Silvia (2007): Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im „Eneas“ Heinrichs von Veldeke. Tübingen: Niemeyer, im Folgenden zitiert als S (2007); auch S (1999). 416 Vgl. hierzu die Arbeiten von K (2006) und (2008). 417 Vgl. S. 310ff.

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Fähigkeit des Dichtens göttlichen Ursprungs ist und damit die normale Erfahrung übersteigt“. Die antiken Autoritäten mit ihren Musenanrufen fungieren zum einen als „rhetorische Lizenzen“. Zum anderen werden „die Musen [. . . ] als Ausdruck einer heidnischen Haltung zurückgewiesen [. . . ]; der Musenanruf wird programmatisch durch den Anruf an Gott oder die Dreifaltigkeit oder auch an einen Heiligen ersetzt“. 418 Häufig werden diese Anrufungen „zu umfangreichen Gebeten mit Schöpferpreis u. a. erweitert, welche die vom Inspirationsschema vorgegebene Distanz zwischen begabendem Gott und empfangenden Menschen festschreiben, wenn nicht gar vergrößern“. 419 Bezogen auf die Idee eines poeta creator ist das Christentum zugleich Wegbereiter und Gegner. Auf der einen Seite ist die Idee des poeta creator – wie oben gezeigt – erst möglich auf dem Boden jüdisch-christlicher Schöpfungslehre. Auf der anderen Seite widerspricht der christliche Glauben dieser Idee vehement. Zwei biblische Theoreme bestimmten den theologischen Diskurs: die göttliche creatio ex nihilo aus der Genesis 420 und der Spruch des Salomon nihil sub sole novum. 421 Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen und am siebten Tag geruht, weil die Schöpfung vollendet war. Da sie vollkommen ist, kann es unter der Sonne nichts Neues geben. Augustinus folgert: solus creator est deus. 422 Darauf basierend formuliert Thomas von Aquin in der Summa theologica 423 die „im Mittelalter ausführlichste und am systematischsten durchdachte Theorie des Erschaffens“ 424: Das entscheidende Kriterium für einen Schöpfungsakt ist die creatio ex nihilo, die „Entstehung von etwas substantiell Neuem“ 425. Der Mensch kann nur aus bereits Vorhandenem etwas herstellen, er ist factor. 426 In einer vollkommenen Schöpfung gibt es „keinen freien Raum mehr für den schöpferischen Akt des Künstlers, da bereits alles geschaffen ist. Der Begriff der Schöpfung ist [. . . ] an die Absolutheit des Seins gebunden und nicht anwendbar auf irgendeine partikuläre Hervorbringung“ 427. Nur Gott kann daher Schöpfer sein; dem Menschen wird allenfalls eine perfectio superaddita zugebilligt: 428 „[D]as Zugeständnis, der Künstler könne schöpferisch tätig 418 H (2001), S. 34. 419 K (2008), S. 22. 420 Vgl. hierzu auch K, Manfred; L, Ludger (2009): Genesis – Poiesis. Der biblische Schöpfungsbericht in Literatur und Kunst. Heidelberg: Winter (Wissenschaft und Kunst, 9). 421 Vgl. K (1985). 422 Vgl. H (2006); in ähnlicher Form wiedergegeben in H (2008). 423 Quaestio 45, Artikel 1,2 und 5. Vgl. C (1986), S. 261. 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Vgl. H (2006), S. 51. 427 C (1986), S. 262. 428 Vgl. ebd.

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sein, würde zumindest implizit eine Einschränkung der absoluten Theonomie der Schöpfung bedeuten; es wäre zugleich auch das Zugeständnis, daß gottgeschaffenes Sein ergänzbar ist durch ein vom Künstler geschaffenes“. 429 Zusammenfassend stellt Haug die Implikationen heraus, die mit der Lehre des Thomas einhergehen: Das Neue ist tabu oder teuflisch; die Idee der schöpferischen Erfindung, der poetischen Einbildungskraft ist auch von daher blockiert. [. . . ] Mit der Schöpfung und der Inkarnation ist die Wahrheit festgelegt. Es gibt keine neuen Wahrheiten. Die Darstellung der Welt und der Geschichte im Wort kann nur das Ziel haben, die vorgegebene Wahrheit aufzudecken, d. h. die Bücher der Heilsgeschichte und der Natur nachzuerzählen und zu deuten, was jedoch, da das menschliche Verstehen verdunkelt ist, der göttlichen Inspiration bedarf. Ein imaginärer Weltentwurf mit einem eigenständigen Sinnpotenzial ist theoretisch ausgeschlossen. 430

Aus verschiedenen Gründen ist eine Untersuchung des schöpferischen Selbstbildes mittelalterlicher Dichter dennoch nicht obsolet. Neben biblischen Aussagen, die Kreativität und Schöpfertum des Menschen explizit ausschließen, gibt es – wie im Darstellungspunkt 1.1.2 ausgeführt – auch die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit (Imago Dei) des Menschen. Eingedenk der absoluten Differenz von Schöpfer und Geschöpf, wie sie im IV. Lateranum (1215) zum Ausdruck gebracht ist, nimmt Cusanus sie zum Anlass, den Menschen einen creator zu nennen; für ihn besteht die Gottesebenbildlichkeit gerade in der similitudo divini intellectus in creando. Während die Gottesebenbildlichkeit des Menschen noch bei Cusanus nicht ohne absolute Differenz zu denken ist, scheint es bei Ficino und Landino zu einer Aufweichung des Konzeptes zu kommen, sodass die Analogie von Mensch und Gott nicht mehr zur Differenz, sondern zur Berührung führt. 431 Ein weiterer Grund ist, dass schon Thomas von Aquin aus einer Abwehrhaltung heraus schreibt. 432 Als er die Summa theologica verfasst, „ist bereits in vielen Bereichen des Denkens und der Erfahrung die Abgeschlossenheit, die perfectio, des alten Weltbildes aufgelöst, hat sich, wenn auch erst vage, die Ahnung eingestellt, daß es terrae incognitae gibt“. 433 Gegen Köhler sieht Cramer im höfischen Roman nicht, dass „deren Autoren die Autonomie des Schöpfertums für sich in Anspruch genommen hätten“, sondern konstatiert das Gegenteil. Das Befolgen von festgeschriebenen Mustern, die Quellenberufungen, wiederkehrende Ortsnamen, die „Stereotypie des Personals“ sowie die „Berufung auf Artus als einer 429 430 431 432 433

Ebd., S. 263. H (2006), S. 52. Vgl. S. 41ff. dieser Arbeit. Vgl. C (1986), S. 263. Ebd.

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historischen Figur“ zeigten, dass sich die Dichter „weniger als Weltenschöpfer denn als Weltendeuter“ verstünden. Der hochmittelalterliche Dichter sei daher „noch kein Rivale Gottes“. 434 Bis hin zu Dantes Commedia negiert Cramer, dass der Dichter im Sinne Thomas von Aquin ein Schöpfer sei. Die Dichtung werde zu Allegorie und als solche könne sie nicht autonom sein: 435 [W]enn der Begriff des Schöpferischen in der Kunst die Autonomie des schöpferischen Subjekts ebenso voraussetzt wie die Autonomie des Geschaffenen, so kann ein allegorischer Raum niemals im thomistischen Sinne Schöpfung sein, denn er ist per definitionem „uneigentlich“: das Zeichen impliziert immer den Rückbezug auf das Bezeichnete. 436

Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts sieht Cramer über drei Jahrhunderte hinweg „die Bindung des utopischen Denkens an die Allegorie“ als Zeichen für „die widersprüchliche Situation der Autoren“. Zwar sei die „Theonomie des Weltbildes soweit relativiert, daß sich potentielle Freiräume für schöpferische Autonomie öffnen. Die Erfahrung dieser Relativität ist jedoch nicht stark genug, daß die Autoren die damit verbundene potentielle Gottähnlichkeit akzeptieren könnten“. 437 Haug erkennt bei den mittelalterlichen Dichtern eine größere Freiheit. Er konstatiert, dass „kreative Fantasie“ ein „anthropologisches Universale“ sei, geht jedoch davon aus, dass dabei Blockaden von Seiten der Theologie überwunden werden müssten. Die Dichter fälschten, lögen und verschleierten. Nahezu die „gesamte Begrifflichkeit der [. . . ] blockierenden Diskurse“ 438 werde aufgenommen. Man akzeptiere sie, „aber nur, um sie dann mehr oder weniger offen zu unterlaufen oder umzudeuten“. Die Dichter spielten „mit ihren Verfälschungen“ und überwänden damit „die Blockaden, durch die diese Verfälschungen erzwungen worden“ seien. So gelinge ihnen dennoch, „das zu vermitteln, was nicht sein darf“. 439 Haug unterscheidet fünf Strategien mittelalterlicher Autoren, mit deren Hilfe sie die ihnen gesetzten Blockaden zu überwinden versuchen:

434 435 436 437

Ebd., S. 264f. Vgl. ebd., S. 266. Ebd., S. 266. Ebd., S. 268. Die Rolle der Allegorie wird in Kapitel 2 dieser Arbeit, S. 160 ff., ausführlich behandelt. Auf S. 271 sieht Cramer in der Berufung auf die Natur den Weg eingeschlagen, auf dem die Theonomie letztlich preisgegeben wird. Die Rolle der Natur in diesem Zusammenhang wird in Kapitel 3 dieser Arbeit, S. 310 ff., thematisiert. 438 H (2006), S. 53 ff. Neben der oben skizzierten Blockade auf der Grundlage von Augustin und Thomas nennt er als weitere die „Bindung der Wahrheit an das Faktische“ (H (2008), S. 75 ff.). 439 Ebd., S. 54f.

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1. 2. 3. 4. 5.

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Neues als Altes verkaufen Beglaubigungen fingieren Faktische Wahrheit vortäuschen Neukonzeptionen über angebliche Inspiration legitimieren Einer Erfindung Lehrhaftigkeit im Sinne des argumentum unterstellen. 440

In den letzten Jahren ist denn auch die Überzeugung, mittelalterliche Autoren nähmen sich bloß als Wiedererzähler und Übersetzer wahr, revidiert worden. 441 Haug kommt bezogen auf die „Dichter der neuen vulgärsprachlichen Literatur des 12./13. Jahrhunderts“ zu dem Schluss, dass sie es jedoch nicht vermochten, „eine Theorie und mit ihr eine Begrifflichkeit zu entwerfen, die ihre Entdeckung der Fiktionalität angemessen hätte zum Ausdruck bringen können“. 442 Als den einzigen Weg, „das Neue zum Bewußtsein zu bringen“, macht er die oben genannten Strategien aus, die er zusammenfasst als die Strategie, „die traditionelle Begrifflichkeit zu übernehmen und sie ins Leere laufen zu lassen“. 443 Haugs Thesen markieren einen wichtigen Schritt in der Forschung, die fortan Kreativität, Schöpfertum u. Ä. für das Mittelalter nicht länger kategorisch verneint. Es greift indes zu kurz, der Theologie alleine die Rolle des Blockierenden zuzuweisen, ermöglicht sie doch gerade auch Innovation. Für den Bereich technischer Innovationen fragt Krolzik, welche „Gedanken des christlichen Glaubens [. . . ] technische Innovationen erlaubt und gefördert“ haben, und macht „drei Vorstellungskomplexe der westlichen Theologie“ aus, aus denen theologische Begründungen technischer Innovationen erwachsen. 444 Erstens habe „die christliche Überzeugung, daß zwischen Anfang und Ende der Welt eine Entwicklung in der Geschichte stattfinden muß“, 445 dazu beigetragen, dass Neuerungen legitimiert, ja geradezu gefördert worden seien: „Als im 12. und 13. Jahrhundert durch Joachim [von Floris] das eschatologische Wirken des Geistes in den Vordergrund trat, gewann das Wirken des Christen für die Verwirklichung der neuen Welt mitten in der alten eine außerordentliche Bedeutung“. 446 Zweitens spiele die Bewertung der Handarbeit eine Rolle. Während diese in der Antike als „Sklavenarbeit“ gegolten

440 Ebd., S. 77. Auf den folgenden Seiten werden diese Strategien erläutert. 441 Zu dem Wandel der Forschungsmeinung über das Selbstverständnis der mittelalterlichen Autoren siehe den Sammelband Schlesier /Trînca (2008); besonders hervorheben möchte ich S (2008), in dem sie die 1999 von Worstbrock geäußerten Überlegungen zum Wiedererzählen und Übersetzen in Frage stellt. 442 H (2008), S. 87. 443 Ebd. 444 K (1993), S. 36. 445 Ebd., S. 37. 446 Ebd., S. 39.

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habe, sei sie im frühen Christentum aufgewertet worden. 447 Für Augustin sei die Arbeit gar „Fortsetzung des göttlichen Schöpfungswerkes. Sie ist dem Menschen vor aller Sünde als Naturtrieb eingepflanzt“. 448 Unter solchen Prämissen „konnte die Technik gedeihen und einen neuen Stellenwert erreichen“. 449 Drittens sei die im Christentum betonte besondere Stellung des Menschen in der Natur von Bedeutung. 450 Die Tübinger Arbeitsgruppe des Graduiertenkollegs „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800). Transfers und Transformationen – Wege zur Wissensgesellschaft der Moderne“ geht davon aus, dass „Transfer und Transformation religiösen Wissens [. . . ] wesentlich zur Dynamisierung und Ausdifferenzierung von Wissensfeldern“ beigetragen hätten. 451 Religiöses Wissen habe „um 1800 allenthalben eine schlechte Presse“ gehabt und habe infolgedessen in dem Ruf gestanden, „der Entwicklung der modernen Wissensgesellschaft geradezu im Wege zu stehen“. Um das Potenzial religiösen Wissens adäquat erfassen zu können, müsse es aber gerade nicht um „konkrete dogmatische, rituelle oder ethische Gehalte“ gehen. Es müsse stattdessen in den Blick genommen werden, dass „sich religiöses Wissen als ein permanenter komplexer Aushandlungsprozess, der die Diskursivität des Wissens als solche begründen half“, realisiere: 452 Das religiöse Wissen der europäischen Vormoderne ist also sowohl generativ als auch wirkungsgeschichtlich als permanenter Transfer- und Transformationsprozess von Vorprägungen, Zuschreibungen, Handlungsoptionen und nachgehenden Deutungen zu analysieren. 453

Das Christentum habe vor der Aufgabe gestanden, „das als von Gott geoffenbart aufgefasste Wissen in ihre eigene Lebenswelt zu integrieren, um es als Reflexionsraum und Handlungsgrundlage aktuell zu halten“. Als Produkt solcher „fortwährenden Adaptationen“ sei religiöses Wissen „ im Prozess dynamisch und umstritten“. 454 Im Umfeld der sogenannten Schule von Chartres wird die Ambilvalenz christlichen Denkens in Bezug auf die Legitimierung schöpferischer Potenz des Menschen deutlich. Dort zeigt sich eine aufschlussreiche Reaktion auf die Erfahrung der Einschränkung der absoluten Theonomie, die Cramer als Grundvoraussetzung für die 447 448 449 450 451 452 453 454

Vgl. ebd., S. 40 f. Ebd., S. 41. Ebd., S. 44. Vgl. ebd. S. 46 ff. Vgl. auch Abschnitt 3.1, S. 310 ff. dieser Arbeit. H (2013), S. 248. Ebd. ,S. 253f. Ebd., S. 255. Ebd., S. 258. Vgl. hierzu etwa auch P (2006), S. 10 ff.

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Erkenntnis sieht, „daß Schöpfung nicht definitiv abgeschlossen sei“. 455 Während auf der einen Seite die antiken Musen ersetzt werden durch göttliche Instanzen, antike Gottheiten als Himmelskörper der christlich-göttlichen Macht unterstellt werden, werden auf der anderen Seite im Rahmen des später Theodizee genannten Fragehorizontes Schöpfungsinstanzen eingeführt, die Teile der Schöpfung übernehmen und damit Gott von der Verantwortung für die Unvollkommenheit der Welt entlasten. 456 Wilhelm von Conches etwa läßt Gott bloß die vier Elemente schaffen, die Ausgestaltung der Schöpfung allerdings und die Fortpflanzung sind das Werk der Natur (Phil. mundi 1, 21 f.). Ausdrücklich verweist Wilhelm in seinem Kommentar zu Boethius, Cons. 3 metr. 9 (ed. J. M. Parent 1938, 127 f.) darauf, daß er damit keineswegs Gott die Schöpfung absprechen wolle. [. . . ] Wie gefährlich solche Äußerungen waren, zeigen die heftigen Angriffe seitens Wilhelms von St.- Thierry, der Wilhelm von Conches nicht bloß Materialismus vorwarf, sondern Manichäismus, nach dem der gute Gott die Seele des Menschen schafft, der princeps tenebrarum dagegen den Leib: Wilhelm schrieb ja niedrigeren Wesen, den aus Feuer bestehenden Sternen, die er in platonischen Sinn als animalia rationalia bezeichnete, mittelbar durch Drehung und Erhitzung von Luft und Wasser die Schaffung der Lebewesen, auch des menschlichen Leibes, zu (Phil. mundi 1, 16 ff.) und behauptete bezüglich des ersten Menschenpaares, die Schaffung Evas aus Adams Rippe sei metaphorisch zu verstehen: Eva sei aus dem Lehm neben Adam entstanden, d. h. beide seien letztlich ein Werk der Natur. Diese Äußerungen tragen Züge eines gemäßigten Manichäismus, der damals gerade in Frankreich weit verbreitet war und lehrte, Gott habe die Materie und die menschliche Seele geschaffen, das Prinzip des Bösen die Elemente geordnet und den Leib Adams und Evas geformt. Die Vorwürfe Wilhelms von St.-Thierry waren der Grund, weshalb Wilhelm von Conches seine Lehre im Dragmaticon teilweise abschwächte, seine Deutung der Erschaffung Evas gänzlich widerrief. 457

Auch bei Thierry von Chartres vollenden „niedrigere Mächte“ die Schöpfung. Wie bei Wilhelm von Conches sind diese Mächte „noch immer rein physikalische Instrumente Gottes, durch die der Schöpfer mehr oder weniger direkt wirkt“. 458 Einen entscheidenden Schritt sieht Ratkowitsch bei Bernhardus Silvestris. Sie liest dessen „Cosmographia“ als Alternative zur Genesis-Exegese in Kommentarform und als Theodizee. Bernhard löse sich „von der Exegese der Genesis in Kommentarform“ und setze sich dadurch „zugleich von seinem Lehrer Thierry“ ab. Er finde eine „andere Art der Darstellung, in der nun tatsächlich personifizierte niedrigere göttliche Potenzen, zwar mit Gottes Zustimmung, aber doch selbstständig schaf455 456 457 458

C (1986), S. 263. Vgl. R (1995), S. 16 f., 22, 28. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 17.

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fen“. Das Resultat sei, dass „die Verantwortung für die Unvollkommenheit des Makro- und Mikrokosmos nicht mehr auf Gott selbst“ laste: 459 Was die göttliche Schöpfung betrifft, wird Gott von Bernhard demnach insofern exkulpiert, als nicht er persönlich die Welt schafft, sondern aus ihm heraustretende Hypostasen, die zwar ebenfalls göttlich sind, aber – qua gezeugt – weniger vollkommen und kosmosimmanent. Je weiter die Schöpfung fortschreitet, desto niedriger werden diese Potenzen: daher trifft beim Menschen der Mangel am stärksten zutage. 460

In der neuen Form der Auseinandersetzung mit der „Frage nach der Ursache für die Schwächen des Menschen“, der „Wahl eines anderen literarischen Genus“, dem Mythos, sieht Ratkowitsch einen entscheidenden Vorteil für Bernhard: Er entgeht der Gefahr, des Manichäismus angeklagt zu werden, wie es Wilhelm von Conches, der in „Traktaten und Kommentaren [. . . ] Neuplatonisches mit Christlichem zu harmonisieren trachtet“, erfahren hatte. Erst der „Mythos gestattete es, sich selbst Auffassungen, die als nicht der Orthodoxie entsprechend interpretiert werden konnten [. . . ] [,] anzunähern, ohne daß man – wie im Traktat – gezwungen war, diese exakt auszuformulieren und klar Stellung zu beziehen“. 461 Die Einführung von Schöpfungsinstanzen weist eine Tendenz auf, die bereits für die Idee des schöpferisch tätigen Menschen ausgemacht wurde. Diese Vorstellung war auf der einen Seite bekämpft, auf der anderen Seite war sie durch christlich-jüdische Philosophie erst möglich geworden. Analog erstarken in dem Versuch, Gottes Verantwortung für die unvollkommene Welt zu negieren, Instanzen, die das Christentums schon früh zu überwinden versucht. So ist z. B. die personifizierte, heidnische Natur während des gesamten Mittelalters der Polemik der Theologen ausgesetzt. 462 Im Fragehorizont der Schöpfung stehen also antike und christliche Elemente spannungsreich aufs Engste zusammen. Dabei erweist sich christliches Gedankengut zugleich als Wegbereiter und Gegner von Innovationen. Die im „Parzival“ eingesetzte Frau Aventiure, die am Beginn des neunten Buches in einen Dialog mit dem Erzähler tritt, ist im Kontext dieses Fragehorizontes zu verstehen. Sie ist als Loslösung vom traditionellen christlichen Inspirationsschema bereits gesehen worden; dabei wurde jedoch die Verknüpfung zum Vorläufer der christlichen Inspiration nicht explizit herausgestellt. Klein hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der Forschung zum „Parzival“ Konsens darüber bestehe,

459 460 461 462

Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 22. Vgl. C (1993), S. 117 f.

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dass Wolframs Frau Aventiure „als die personifizierte Erzählung anzusehen“ sei. In der vorherrschenden Entscheidung, diese Passage humoristisch zu lesen, werde jedoch „eine entscheidende Dimension des Dialogs übersehen“. Wolfram zitiere „in diesem Dialog traditionelle Inspirationsvorstellungen an, um sie für ein ganz neues Konzept von Autorschaft fruchtbar zu machen“. 463 Durch Untersuchungen der „Metapher vom Wohnen im Herzen“ 464 und „sprachlicher Indizien“ 465 belegt Klein diese These und kommt zu dem Schluss, dass „die Aventiure zur Personifikation des dichterischen Ingeniums“ wird und dadurch „das Konzept einer Autorschaft“ formuliert ist, „die eine säkulare Form der Inspiration mit einem emphatischen Autonomieanspruch verbindet“. 466 Haug betont die Selbstreferenzialität dieser Passage und konstatiert, dass am Anfang des neunten Buches des „Parzival“ an „die Stelle der überirdischen Instanz [. . . ] die Dichtung“ trete. „Der Dichter hypostasiert seine Dichtung zur Trägerin ihrer eigenen Wahrheit“, sodass Frau Aventiure identisch sei mit Kyot: Sie würden zu „Masken derselben Autorität“, und das ist die Fiktion. 467 Der Erzähler im WvÖ bittet im Laufe der Erzählung verschiedene Instanzen um Hilfe bei seiner Dichtung. Dabei zeichnet sich eine Hierarchie ab, die Gott an oberster Stelle und ihm untergeordnet die Personifikationen der Minne, der Natur, der Aventue re und des Todes sieht. Mit Ausnahme des Todes, der als Antagonist der übrigen Instanzen auftritt, sind die Instanzen schöpferisch tätig. Zum einen gilt dies in Bezug auf die Entstehung des Werkes. Zum anderen wird für Gott, Minne und Natur diskutiert, inwiefern sie teilhaben an der geschlechtlichen Reife von Aglye und Ryal und somit verantwortlich sind für die Fortpflanzung. Das Zusammenspiel aller Instanzen erhellt die Funktion der einzelnen; dies konnte besonders deutlich im Abschnitt 1.4 gezeigt werden, 468 sodass in der Terminologie Schnells von allegorischen Personifikationen gesprochen werden kann. Mit dem System an Personifikationen erweist sich der WvÖ auf den ersten Blick als ein Kind seines Jahrhunderts, verdient doch das 14. Jahrhundert „wie 463 K (2006), S. 92. 464 Ebd. mit Verweis auf O, Friedrich (1970): Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen: Gedenkschrift für William Foerste. In: ders. (Hrsg.): Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 128–155, hier S. 129. 465 K (2006), S. 93. 466 Ebd., S. 94. Klein nimmt diese Argumentation in K (2008), S. 35–37 auf. 467 H (2001), S. 38. Auf den Seiten 41 ff. macht Haug deutlich, dass Gottfrieds Konzeption in ebendiese Richtung weist, und spekuliert, dass dieser so „allergisch auf Wolfram“ reagiere, „weil er ihm von einem gegensätzlichen Ausgangspunkt her im letzten doch sehr nahe kommt. Es gibt hier wie dort keine autoritativen Vorgaben mehr, es bleibt nur noch das Wagnis des Erzählens selbst“. 468 S. 109ff.

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kaum ein anderes vorher oder danach, das Jahrhundert der Allegorie genannt zu werden“. 469 Erinnert sei an Konrads von Ammenhausen „Schachzabelbuch“, Hadamers von Laber „Jagd“ , die „Minneburg“ oder die „Pilgerfahrt des träumenden Mönches“; an Dantes „Comedia“, 470 den „Roman de la rose“ von Guillaume de Lorris/Jean de Meun, die früheren „De Planctu Naturae“ und „Anticlaudianus de Antirufino“ des Alanus ab Insulis, die „Cosmographia“ des Bernhardus Silvestris. Schon für die vier genannten deutschen Allegorien des 14. Jahrhunderts macht Glier neben darin transportierten kollektiven Normen 471 und der darin vertretenen Rolle der Vernunft 472 Freiräume der Fantasie aus. 473 Im Vergleich mit den genannten Texten weist der WvÖ einen signifikanten Unterschied auf: Das System der Personifikationen ist darin nicht auf der Ebene der Haupthandlung angesiedelt, sondern ist Teil einer Metaebene, auf der sich der Erzähler mit diesem System auseinandersetzt. Es wird damit zum Reflexionsraum für die Frage, ob der Dichter ein Schöpfer ist. Die Konzeption eines Reflexionsraumes, der in der Tradition von Anrufungen um Inspiration steht, erweist sich als äußerst fruchtbar für die Frage nach dem schöpferischen Selbstverständnis des Dichters. Schon die Bitte um Inspiration stellt ein Spannungsfeld von antik-heidnischem und christlichem Gedankengut dar, deren Zusammenwirken die Vorstellung eines poeta creator neu pointiert. Schöpfungsinstanzen, die im Zuge der Christianisierung durch Gott ersetzt wurden, gewinnen im Zuge der Theodizee im Umfeld der Schule von Chartres an Gewicht. Nicht um den Schöpfergott in Frage zu stellen, sondern um dessen Verantwortung für die unvollkommene Welt negieren zu können, setzt z. B. Bernhardus Silvestris niedere Schöpfungsinstanzen ein. In diesem Sinne ist der WvÖ als Analogon zur „Cosmographia“ zu verstehen, die die Erschaffung der Welt in den Blick nimmt, während im WvÖ die Erschaffung eines Kunstwerkes reflektiert wird. Christliches Gedankengut erweist sich dabei als ambivalent. Zum einen widerspricht es dem Selbstverständnis eines Dichters als gottgleich, zum anderen ist es die Voraussetzung für diese Vorstellung. Wenn der Erzähler im WvÖ für sich den Status eines „poeta creator“ – ein Status, der im Rahmen der Arbeit noch präziser zu erfassen sein wird – in Anspruch nimmt, dann nicht, um die Überwindung der Grenze zwischen Dichter und Gott, sondern deren Analogie aufzuzeigen. Johann nimmt das Konzept der Wolfram´schen Frau Aventiure auf und generiert daraus einen komplexen Zusammenhang. Er verdreifacht nicht nur Frau 469 G, Ingeborg (1989): Allegorien des 14. Jahrhunderts: Normen, Vernunft, Phantasie. In: Poag; Fox (Hrsg.): Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200–1500. Tübingen: Francke, S. 133–146, hier S. 133. 470 Vgl. ebd., S. 133 f. 471 Vgl. ebd., S. 135 ff. 472 Vgl. ebd., S. 139 ff. 473 Vgl. ebd., S. 142.

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Aventiure in Frau Aventue re, Aventue re Hauptmann 474 und Bracken, sondern ergänzt u. a. Frau Minne, die personifizierte Natur sowie göttliche Instanzen. Die Hierarchie, die dabei entworfen wird, erlaubt es Johann, einen dynamischen Aufstieg im Selbstverständnis des Dichters als Schöpfer zu skizzieren, ohne dabei die Autorität Gottes direkt in Frage zu stellen. Während sich der Erzähler zu Beginn als von den Instanzen abhängig zeigt, die Gott unterstellt sind, stellt er sie im Laufe der Erzählung in Frage und nimmt letztlich einen ihnen hierarchisch übergeordneten Platz ein. In dieser Systematik stellt er sich somit letztlich als alleine Gottes Macht unterstellt dar. An verschiedenen Stellen analogisiert er das Wirken Gottes mit seinem eigenen Wirken, betont aber stets dessen umfassendere Macht. Die Autonomie und Selbstreferenz, die Klein und Huber an Wolframs Frau Aventiur festmachen, zeigt sich im WvÖ an der kyotgleichen Quellenfiktion, die als Quelle einer Vorlage Agrant nennt, 475 sowie an der Gesamtkonzeption des WvÖ, die Wildhelm als „ein fiktionales Glied eines historischen Geschlechts, eingeschoben zwischen Vater und Sohn“, 476 in Szene setzt. Wildhelms Tod erweist sich in diesem Kontext als notwendig. Der WvÖ weist damit Tendenzen auf, die bei Ficino zutage treten, bei Scaliger ausgedrückt werden. 477 Anders als die den Sturm und Drang beeinflussende Vorstellung Shaftesburys, der den Dichter als „second Maker: a just Prometheus, under Jove“ 478 sieht und damit auf die antike Mythologie zurückgreift, reflektiert Johann das Spannungsfeld von christlichem und antik-heidnischem Denken, um den Stellenwert des Dichters zu bestimmen. So wie Shaftesbury auf Zeus besteht, erscheint Gott im WvÖ bis zum Schluss als oberstes Prinzip. Wiederholt wird die Perspektive angedeutet, dass die aventue re-Geschichten im Erzähler selbst bereitliegen, dass also die Inspiration in ihm selbst liegt. Ausgehend von der Vorstellung äußerer Inspiration ist die Inspirationskraft in den Menschen selbst verlagert. Diese „Inspiration von innen“ gilt als zentral für die Genieästhetik, es hat sie freilich bereits in der Antike gegeben. 479 Eine besondere Nuance erfährt der im WvÖ zum Ausdruck gebrachte poeta creator dadurch, dass Seele und Gott in eins gesetzt werden. Wie

474 Wie komplex dieser ist, wird im Darstellungspunkt 2.2.4, S. 261 ff. dargestellt. 475 Die Quellenberufungen sind Quellenfiktionen. Dies zeigt markant der Verweis auf König Agrant von Zyzya als Urheber der lateinischen Vorlage des Epos, die ein in der ersten Person Singular sprechender Schreiber Hanns ins Deutsche übertragen zu haben vorgibt (vgl. WvÖ, V. 19561–19568). Vgl. hierzu R (1998), S. 285 f.; D (1999), S. 107. Vgl. auch Abschnitt 1.3, S. 106 ff. dieser Arbeit. 476 D (1993), S. 173. 477 Vgl. T (1968), S. 456. 478 Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1, 1737, 207; zitiert nach L (1982), S. 168). 479 Vgl. S. 61 dieser Arbeit.

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im Darstellungspunkt 1.1.3 gezeigt, spielt im WvÖ die Identität von Seele und Gott eine entscheidende Rolle – zwischen Inspiration von innen und Inspiration von außen kann im eigentlichen Sinn nicht mehr getrennt werden, die Verlagerung der Inspiration in den Dichter ist entscheidend anders konnotiert als etwa in der Genieästhetik: 480 Durch Transfer und Transformation theologischer Diskurse in poetologische Reflexionen wird im WvÖ der Dichter in Analogie zu Gott durchaus als ein Schöpfer dargestellt. Dabei ist auch ein relativer Autonomieanspruch des Dichters im WvÖ nicht gänzlich ausgeschlossen. Es zeigt sich immer wieder, dass der Handlungsverlauf nicht eindeutig vom Lenken Gottes bestimmt ist. Vielmehr wird damit gespielt, verschiedene Determinanten anzuzitieren und offenzulassen, welche die bestimmende ist. Während der Erzähler auf diese Weise Gottes Einfluss auf das epische Personal kritisch hinterfragt, erkennt er seine eigene Abhängigkeit von Gott unzweifelhaft an. Er trennt damit den Bereich seiner eigenen Dichtung, dessen Schöpfer er ist, ab von der Lebenswirklichkeit, in der er abhängig ist von Gott und seiner Inspiration bedarf. Seine eigene Vermittlungsleistung rückt er so in den Vordergrund. Dieses Verfahren deckt sich mit der Vielfalt an Perspektiven auf Determinierung und Verlauf der Handlung. Es zeigt sich, dass Erzähler und episches Personal unterschiedliche Bilder der Instanzen sowie deren Machtbereiche und Hierarchien entwerfen. Diese erweisen sich in der Zusammenschau des Werkes somit als nicht stringent: Der WvÖ entwirft verschiedene Perspektiven auf Gott, Minne, Aventue re und Natur. Diese Beobachtung weist Parallelen zu Thesen von Ridder, Schulz und Schneider bezüglich des Erzählers, der Figur Wildhelms sowie des Werkes als Ganzes auf. Ridder erkennt eine „Pluralität der Erzähleridentitäten“ und einen „ständige[n] sprunghafte[n] Wechsel der Erzählebene“ als „die wesentlichen Merkmale der fiktionsimmanenten Erzählinstanz“. 481 Schulz stellt fest, der WvÖ sei stellenweise „völlig mit Bedeutung überfrachtet“, 482 durch Überlagerungen werde jedweder Sinn dezentriert. Es verwundere daher nicht, „daß das Deutungsangebot des Erzählers sich darauf beschränkt, über ein unergründliches Schicksal zu klagen“. 483 Zu dem Tod des Protagonisten formuliert Schneider, dass sich dieser in „der Vielzahl seiner Korrespondenzen innerhalb des Textes, aber auch seiner intertextuellen Verweise [. . . ] nicht auf einen einzigen Begründungszusammenhang zurückführen“ lässt, sondern 480 Vgl. S. 53ff., v. a. S. 60 ff. 481 R (1998), S. 290. Ridder leitet dies von den Allegorien des Feuergebirges ab und widerspricht Cramer, der meint, die Welt des Abenteuers werde im WvÖ „grundsätzlich zur Allegorie erklärt und damit [ihrer] Autonomie beraubt“ (C (1986), S. 268). Vgl. zu den hier vorgestellten Thesen v. a. Kapitel 2, S. 160 ff. dieser Arbeit. 482 S (2000), S. 148. 483 Ebd., S. 149. Schulz setzt sich hier mit dem Verhältnis von Narration und Allegorie auseinander. Siehe hierzu Kapitel 2, S. 160 ff. dieser Arbeit.

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sich präsentiert „als eine Überlagerung unterschiedlicher Motivationen“ und damit zusammenführt, „was die Figurenkonstruktion Wilhelms durchweg bestimmt“. 484 Was zu Erzähler, Wildhelm und WvÖ in der Forschung bereits gezeigt wurde, gilt auch für das Verhältnis von Erzähler und epischem Personal zu den Instanzen. In den folgenden Kapiteln sollen die bisherigen Ergebnisse auf der Grundlage zweier Zugänge vertieft und erweitert werden. Bevor die Frage nach dem poeta creator erweitert wird auf die Frage nach dem homo creator, soll zunächst anhand von übertragener Rede gezeigt werden, wie auf der Ebene der Sprache die Grenze von Geistlichem und Profanem aufbricht und damit ein Raum für Kreativität eröffnet wird.

484 S (2004), S. 187 mit Verweisen auf R (1998), S. 120–125 und S (2000), S. 149. Im weiteren Verlauf diskutiert Schneider die Bezüge Wildhelms Todes zum Nibelungenlied.

2 Übertragene Rede Ziel des zweiten Kapitels ist, die Gestaltung übertragener Rede 1 im WvÖ zu untersuchen und für die Frage fruchtbar zu machen, inwiefern darin das Selbstverständnis des Dichters zum Ausdruck kommt, Schöpfer zu sein. Bevor einzelne Passagen übertragener Rede untersucht werden, soll zunächst das Spannungsfeld übertragener Rede im Mittelalter als theologisch-philologischer Grenzbereich in den Blick genommen werden.

2.1 Theorien und Begriffe: Ein Problemaufriss Befasst man sich mit übertragener Rede im Mittelalter, so bewegt man sich auf einem philologisch-theologischen Grenzgebiet. Spannungsreich stehen Auffassungen über die Sprache zusammen, die mitunter auseinander hervorgehen. Eine abgeschlossene detaillierte Darstellung ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Vielmehr sollen zentrale Aspekte und Horizonte erhellt werden, die für eine Interpretation übertragener Rede unerlässlich sind. Die vorhandenen Spannungen (z. B. uneinheitliche und unklare Begrifflichkeiten; historischer Wandel von Begriffsverständnissen) sollen dabei nicht aufgelöst, sondern dargestellt und für eine Interpretation des WvÖ fruchtbar gemacht werden. Ein zentraler Aspekt dabei ist zu untersuchen, inwiefern die Analyse des Bereichs übertragener Rede Antworten auf die Frage zu finden hilft, ob der Erzähler sich als Schöpfer stilisiert. Um das Phänomen übertragene Rede im 14. Jahrhundert aus der zeitgenössischen Perspektive zu verstehen, soll zunächst der zeitgenössische theoretische Hintergrund rekonstruiert werden. Dabei sind die Fragen leitend, was im 14. Jahrhundert unter „übertragener Rede“ zu verstehen ist und welche Quellen darüber Auskunft geben. In Ermangelung volkssprachlicher Poetiken – Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey von 1624 ist bekanntlich die erste Poetik in deutscher Sprache – müssen andere Quellen erschlossen werden. Fragen zur Poetik werden in den 1 Der Begriff der „übertragenen Rede“ wird hier benutzt, weil er innerhalb der Tropenlehre eine Vielzahl an Begriffen subsumiert, darunter Metapher und Allegorie. Das Problem der Wahl dieses Begriffes spiegelt das Erkenntnisinteresse sowie den methodischen Gang dieses Kapitels wider. Auf der einen Seite ist er, der Tropentheorie entstammend, historisch adäquat. Auf der anderen Seite erlaubt er nicht, eben weil er aus der Tropentheorie entstammt, Metaphern und Allegorien zu benennen, die nicht der Tropentheorie gemäß funktionieren. Ziel dieses einführenden Abschnitts ist, die Schwierigkeiten und einen methodisch gangbaren Weg zu skizzieren.

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literarischen Texten – in sogenannten poetologischen Passagen – selbst behandelt. Auch der WvÖ weist solche Passagen auf. 2 Rhetoriken, Poetiken und verwandte Texte 3 sind im Mittelalter in lateinischer Sprache verfasst. Auf ihrer Grundlage kann in erster Annäherung dargestellt werden, was unter übertragener Rede zu verstehen ist. 4 Im Folgenden wird zunächst das mittelalterliche Tropensystem in rhetorischem Verständnis vorgestellt, insbesondere die Tropen Metapher, Metonymie, Synekdoche und Allegorie. Sodann soll dargestellt werden, inwiefern rhetorisches Wissen in ars poetica, ars dictaminis und ars praedicandi weitergegeben wird und welche neuen Impulse durch diese artes in Bezug auf übertragene Rede gegeben werden. Ausgehend von diesen Feldern wird die Frage untersucht, welchen Einfluss die Rhetorik – direkt und indirekt – auf die Allegorese der Bibel genommen hat. Zwei Spannungsfelder werden untersucht: die Dichotomie von göttlichem und poetischem Wort sowie der Gegensatz von göttlicher Setzung und exegetischer Willkür. Auf der Basis der Überlegungen Hübners sowie – als Reaktion darauf – Kragls zur Historizität von Metapherntheorien wird sodann die Substitutionstheorie der Metapher der Interaktionstheorie gegenübergestellt. Vor dem Hintergrund der von Hübner abweichenden These, dass es einen substanziellen Unterschied von übertragener Rede in transzendenten und immanenten Zusammenhängen nicht gibt, soll die spekulative Theologie skizziert werden, da angenommen wird, dass zeitgenössische Reflexionen über die sprachliche Darstellbarkeit Gottes einen wichtigen Beitrag leisten zum Verständnis auch von übertragener Rede in Profanliteratur. Abschließend soll eine kurze Zusammenfassung dazu dienen, die Bedeutung des Problemaufrisses für die Betrachtung übertragener Rede im WvÖ hervorzuheben. 5

2 Vgl. Darstellungspunkt 1.5.2, S. 134 ff. 3 Artes versificandi, artes dictandi, Metriken, Rhythmiken, Kommentare antiker Rhetoriken, selbstständige Colores-Lehren, artes praedicandi und artes notoriae. Vgl. etwa Worstbrock, Franz Josef; Klaes, Monika; L-G, Jutta (1992): Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis um 1200. München: Fink (Münstersche Mittelalter-Schriften 66), S. IX. Im Folgenden zitiert als W /K /L (1992). 4 Kelly macht darauf aufmerksam, dass die lateinischen Poetiken nicht als oberflächliche Interpretationshilfen für die Interpretation mittelalterlicher Texte benutzt werden sollten, wiewohl sie wichtige Anhaltspunkte widerspiegeln, wie zeitgenössische Autoren über literarische Aspekte nachgedacht haben (vgl. K, Douglas (1991): The arts of poetry and prose. Turnhout: Brepols, S. 138. Es ist daher legitim und plausibel, Rhetoriken, Poetiken und verwandte Texte als Interpretationshorizont heranzuziehen. Ähnlich argumentiert S (2007), S. 219. 5 Eine Einführung in das mittelalterliche Verständnis der Allegorie setzt auch Blank seinen Überlegungen zur Minneallegorie voran. Dort wird mehr Wert auf eine Systematik denn auf die zahlreichen Spannungen und Interdependenzen gelegt. Eine vergleichende Lektüre ist lohnend. B, Walter (1970): Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion

162

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2.1.1 Tropen und Figuren in rhetorischem Verständnis In der Antike werden Kenntnisse von übertragener Rede in den Rhetoriken übermittelt. Die erste Blütezeit der Rhetorik ist die griechische Antike. Von dort gelangt das Wissen im 2. Jahrhundert vor Christus nach Rom, wo sich die paradoxe Situation ergibt, dass die Rhetorik durch die Schulen immer größere Verbreitung findet, in der Praxis jedoch nur noch von wenigen Personen in ausgewählten Kontexten angewendet wird. Aufgrund der weitverbreiteten Kenntnis der Rhetorik ist sie in der gesamten lateinischen Literatur präsent 6, und auch im Mittelalter hat die Rhetorik eine nicht zu überschätzende Bedeutung in vielen Bereichen. Dabei wirkte Aristoteles 7 – dem Mittelalter weitgehend unbekannt – weitaus weniger stark als Ciceros De inventione 8 und De oratore, 9 Quintilians Institutio oratoria 10 und die besonders zu betonende „Rhetorica ad Herennium“ 11, die im Mittelalter und in der Renaissance als Autorität galt. 12 In diesen rhetorischen Lehrbüchern werden fünf

6

7 8

9 10

11

12

einer spätmittelalterlichen Dichtungsform. Stuttgart: Metzler (Germanistische Abhandlungen 34). Im Folgenden zitiert als B (1970). Vgl. V, Brian (2008): Mächtige Worte – Antike Rhetorik und europäische Literatur. Unter Mitarbeit von Sabine Köllmann. Berlin: Lit Verlag Dr. W. Hopf (Ars Rhetorica, 20), S. 22f. mit Verweisen auf K, George (1980): Classical Rhetoric and its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times. Chapel Hill, PUP, S. 2; C (1948), C, Martin Lowther (1953): Rhetoric at Rome. A Historical Survey. London: Routledge; D’A, J. F. (1931): Roman Literary Theory and Criticism. New York, London: Russel and Russel; und B, Stanley Frederic (1977): Education in Ancient Rome: From the elder Cato to the younger Pliny. London: Methuen. Vickers im Folgenden zitiert als V (2008). Vgl. hierzu auch A, Erich (1938): Figura. In: Archivum Romanicum 22, S. 436–489. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Stuttgart: Reclam 1999. Cicero, Marcus Tullius: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. Lateinisch–deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein. Zürich: Oldenbourg Akademieverlag 1998. Cicero, Marcus Tullius: Über den Redner. De oratore. Lateinisch und Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Harald Merklin. 2. Aufl. Stuttgart: Reclam 1981. Quintilianus, Marcus Fabius: Institutio Oratoria. Ausbildung des Redners. Lateinisch / Deutsch. Zwölf Bücher. 2 Teile. 3., gegenüber der 2. unveränderten Aufl. Darmstadt 1995 (Texte zur Forschung, 2 und 3). Im Folgenden im Fließtext zitiert als „Inst. orat“. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch–deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein. München; Zürich: Artemis und Winkler 1994. Im Folgenden im Fließtext zitiert als „Rhetorica ad Herennium“; vgl. W, Hilkert (2008): Einführung in die germanistische Mediävistik. 7. durchgesehene Aufl. München: Beck, S. 118. Im Folgenden zitiert als W (2008). Vgl. C (1993), S. 75.

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Bearbeitungsphasen der Rede (partes artis) unterschieden, 13 Fragen zur sprachlichen Gestaltung, der Lehre vom Stil also, werden in der elocutio thematisiert. 14 Die Tropen und Figuren werden in den Rhetoriken unter dem Kapitel „Schmuck“ (ornatus) behandelt, als weitere virtutes elocutionis sind Sprachrichtigkeit (latinitas), Klarheit (perspicuitas) und Angemessenheit (aptum) zu beachten. 15 Eine traditionelle Definition der Tropen gibt, basierend auf Donat, Alkuin; sie wird auch bei Hugo von St. Victor übernommen: „tropus est dictio translata a propria significatione ad non propriam similitudinem, ornatus necessitatisve causa (PL 101, Sp. 858)“. 16 Weddige definiert die Tropen als Austausch von „Texteinheiten als semantische Einheiten gegen andere [. . . ], wobei ein tertium comparationis die Brücke bildet“. Wenn er konstatiert, es bestehe „eine Ähnlichkeit (similitudo) zwischen dem Abbildenden und Abgebildeten“, unterschlägt er eine Differenzierung, die Krewitt bezogen auf die Tropen der Rhetorica ad Herennium vornimmt. Ordnet man diese nach den Übertragungskategorien der Stoa, so kommen der similitudo zu: Translatio, Permutatio und [. . . ] Nominatio; der vicinitas gehören an: Pronominatio, Denominatio und Intellectio. Eine Übertragung per contrarium scheint die Quelle des Auctor nicht gekannt zu haben, doch findet sich eine Remineszenz in der permutatio ex contrario. 17

Krewitt also nennt mit den Übertragungskategorien der Stoa, similitudo (Ähnlichkeit), vicinitas (Nachbarschaft) und per contrarium (Gegensatz), drei verschiedene Kategorien, mit denen die Tropen klassifiziert werden können, die Weddige unter die eine Kategorie der similitudo subsumiert. Die Anzahl der Tropen sowie die Benennung mit lateinischen oder griechischen Begriffen 18 differiert je nach Tradition. Während die Rhetorica ad Herennium genauso wie die auf sie gestützten Rhetoriken die zehn – mit lateinischen Begriffen benannten – Tropen Nominatio, Pronominatio, Denominatio, Circumitio, Trans-

13 Das grundsätzliche Schema der Rhetorik wird dabei nicht verändert (vgl. C (1993), S. 77). 14 Vgl. etwa V (2008), S. 81. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. K, Ulrich (1971): Metapher und tropische Rede in der Auffassung des Mittelalters. Ratingen [u. a.]: Henn (Mittellateinisches Jahrbuch, Beiheft 7), S. 170 und 198. Im Folgenden zitiert als K (1971). 17 Ebd., S. 27. 18 „Wo die Anzahl der Tropen zehn nicht übersteigt und diese mit lateinischen Namen bezeichnet werden, ist mit dem Einfluß der ‚Herennius-Rhetorik‘ zu rechnen; erscheinen die griechischen Termini, so geht die Tradition über Donat zurück auf Quintilian; sie kennen dreizehn (vierzehn) Tropen“ (ebd., S. 24 f.).

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gressio, Superlatio, Intellectio, Abusio, Translatio und Permutatio unterscheidet 19, listet Quintilian vierzehn Tropen mit griechischen Begriffen (Metapher, Synekdoche, Metonymie, Antonomasie, Onomatopoeia, Katachrese, Metalempse, Epitheton, Allegorie, Aenigma, Ironie, Periphrase, Hyperbaton, Hyperbel) 20, Donat dreizehn (metaphora, catachresis, metalepsis, metonymia, antonomasia, synecdoche, onomatopoeia, periphrasis, hyperbaton, hyperbole, allegoria, homoeosis [und epitheton]) 21. Unter die Tropen werden somit auch sprachliche Mittel subsumiert, „bei denen keine Übertragung vorliegt, [. . . ] doch läßt sich annehmen, daß im Wesentlichen die Translatio als Grundtypus des Tropus angesehen wird“. 22 An dieser Stelle ist auf eine begriffliche Vermengung aufmerksam zu machen. Wie in der Definition der Tropen gezeigt wurde, wird als wesentliches Merkmal die dictio translata bestimmt, sodass ein Tropus, die translatio (lateinisch für metaphora), in seinem Namen das Definitionskriterium aller Tropen trägt. Metapher kann in der klassischen Rhetorik denn auch im engen Sinne eine einzige Trope oder die Tropen insgesamt meinen. 23 In dieser Arbeit soll ein enger Begriff von Metapher verwendet werden. Im Folgenden sollen die vier Tropen Metapher, Allegorie, Synekdoche und Metonymie näher erläutert werden. Dabei wird zunächst die Metapher vorgestellt, sodann werden vergleichend die weiteren drei Tropen in den Blick genommen. In klassisch rhetorischem Verständnis wird bei der Metapher ein Wort auf Grundlage einer Ähnlichkeit (similitudo) durch ein anderes ersetzt: in totum autem metaphora brevior est similitudo eoque distat quod illa comparatur rei, quam volumus exprimere, haec pro ipsa re dicitur (Inst. orat. VIII 6,8). 24

Ganz ähnlich heißt es in der Rhetorica ad Herennium:

19 Vgl. ebd., S. 26. 20 Vgl. ebd., S. 58. 21 Vgl.ebd., S. 87. Die Zahl 13 wird auch übernommen von Beda (vgl. ebd., S. 160), von diesem von Alexander de Villa-Dei (vgl. ebd., S. 200). 22 Ebd., S. 58. 23 Vgl. S, Christian (1991): Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie. Freiburg: Alber, S. 58. Im Folgenden zitiert als S (1991). In Fußnote 18 führt er aus: „Aristoteles hat in der Poetik (Poet 1457 b 6– 9) den weiten Metaphernbegriff; die Rhetorik hat einen wesentlich engeren (cf. Rhet. 1406 b 20–23); bei Tryphon findet sich schon die Metapher als Sondertrope (cf. Spengel (1854– 1894) vol. III, 189). Cicero, De or. 167 unterscheidet zwischen ‚translatio‘ (Metapher) und ‚traductio/immutatio‘ (Metonymie /Synekdoche), deutlich Orator 27, 92; maßgebend für den engen Metaphernbegriff die Definition bei Quintilian, Inst. orat. 8, 6, 8; cf. auch L (1960) § 558“. 24 Vgl. K (1971), S. 60.

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Translatio est, cum verbum in quandam rem transferetur ex alia re, quod propter similitudinem recte videbitur posse transferri (Rhetorica ad Herennium, IV, 45).

In der Rhetorica ad Herennium werden der Metapher die sechs Funktionen Anschaulichkeit, Kürze, Vermeidung anstößigen Ausdrucks, Bedeutungssteigerung oder -minderung und Redeschmuck zuerkannt (vgl. Rhetorica ad Herennium IV, 45). 25 Rolf widmet in seiner Monographie zu Metapherntheorien drei Abschnitte dem antiken Verständnis der Metapher und macht auf eine Differenzierung innerhalb oft zusammengefasster Theorien aufmerksam. Während er in Aristoteles einen Vertreter der Analogietheorie der Metapher 26 sieht, ist Cicero für ihn ein Vertreter der Vergleichstheorie 27 und Quintilian der Substitutionstheorie 28. Wie die Definition der Metapher in der Poetik des Aristoteles zu verstehen ist, hängt entscheidend von der Übersetzung ab: 29 „Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes, das [eigentlich] der Name für etwas anderes ist“. 30 „Die Metapher ist die Anwendung eines fremden Wortes“. 31„Eine metaphorá ist das Herantragen eines anderswohin gehörigen Wortes“. 32 Indes unumstritten ist die Unterscheidung Aristoteles’ in vier Arten der Metapher: Die Übertragung (in der Übersetzung Schmitts) findet statt „entweder von der Gattung auf die Art oder von

25 Vgl. auch ebd., S. 28. In der Rhetorica heißt es im Wortlaut: Ea utimur rei ante oculos ponendae causa, sic: „Hic Italiam tumultus expergefecit terrore subito“. Brevitatis causa, sic: „Recens adventus exercitus extinxit subito civitatem“. Obscenitatis vitandae causa, sic: „Cuius mater cottidianis nuptiis delectetur“. Augendi causa, sic: „Nullius maeror et calamitas istius explere inimicitias et nefariam crudelitatem saturare potuit“. Minuendi causa, sic: „Magno se praedicat auxilio fuisse, quia paululum in rebus difficillimis aspiravit“. Ornandi causa, sic: „Aliquando rei publicae rationes, quae malitia nocentium exaruerunt, virtute optimatium revirdescent“. Translationem pudentem dicunt esse oportere, ut cum ratione in consimilem rem transeat, ne sine dilectu temere et cupide videatur in dissimilem transcurrisse (Rhetorica ad Herennium, IV, 45). 26 Vgl. R, Eckard (2005): Metapherntheorien. Typologie, Darstellung, Bibliographie. Berlin: de Gruyter (De-Gruyter-Lexikon), S. 77 ff. Im Folgenden zitiert als R (2005). 27 Vgl. ebd., S. 21ff. 28 Vgl. ebd., S. 93ff. 29 Vgl. ebd., S. 22f. 30 Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Oldenbourg Akademieverlag 2011, S. 29. Im Folgenden zitiert als Aristoteles (2011). 31 L, Hans-Heinrich (1983): Was bezeichnet der herkömmliche Begriff „Metapher“ (1967). In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Wege der Forschung, 389), S. 340–355, hier S. 344. Vgl. R (2005), S. 23. 32 C, Hans Georg (1997): Der Löwe Achill. Überlegungen anläßlich der Metaphernlehre des Aristoteles. In: Beate Czapla et al. (Hrsg.): Vir Bonus Dicendi Peritus. Festschrift für Alfons Weische zum 65. Geburtstag. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag, S. 39–48, hier S. 39. Vgl. R (2005), S. 23.

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der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine [andere] Art oder gemäß einer Analogie“. 33 Die ersten beiden Arten der aristotelischen metaphorá sind nach späterer Terminologie keine Metaphern, sondern Synekdochen (Lausberg [Handbuch der literarischen Rhetorik] 1990: § 572 ff.). Die dritte Art erfaßt [. . . ] die Metaphern, die auf einer einstelligen Analogie beruhen, die vierte schließlich erfaßt die Metaphern, die auf einer zweistelligen Analogie beruhen. 34

Dass die aristotelische Metapherntheorie keine Vergleichstheorie ist, hat damit zu tun, dass nicht die Metapher als ein Vergleich, sondern der Vergleich als eine Metapher aufgefasst wird. Der Vergleich ist bei Aristoteles der Metapher untergeordnet, 35 die Metapher ist Genus, das Gleichnis die Spezies. 36 Bei Cicero wird dieses Verhältnis umgekehrt, das Gleichnis wird als Genus, die Metapher als Spezies betrachtet 37: „Similitudinis est ad verbum unum contracta brevitas“ (De orat. III, 157). 38 Den Schritt von der Vergleichstheorie zur Substitutionstheorie leistet Quintilian, der zunächst die Metapher als brevior similitudo definiert, jedoch fortfährt: „eoque distat quod illa comparatur rei quam volumus exprimere, haec pro ipsa re dicitur. Comparatio est cum dico fecisse quid hominem ‚ut leonem‘, tralatio cum dico de homine ‚leo est‘“. 39 Wie Rolf greife ich an dieser Stelle auf die Übersetzung Donald Russells zurück: In general terms, Metaphor is a shortened form of Simile; the difference is that in Simile something is compared with the thing we wish to describe, while in Metaphor one thing is substituted for the other. It is a comparison when I say that a man acted ‚like a lion‘ , a Metaphor when I say of a man ‚he is a lion‘. 40

Um den Unterschied zwischen Substitutionstheorie und Vergleichstheorie zu verdeutlichen, bezieht sich Rolf auf Black. Dieser formuliert: Der Hauptunterschied zwischen einer Substitutionstheorie [. . . ] und ihrer Sonderform, die ich Vergleichstheorie genannt habe, läßt sich an dem gängigen Beispiel 33 A (2011), S. 29. 34 C, Hans Georg (2002): Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede. Berlin: de Gruyter, S. 108. Vgl. R (2005), S. 30 f. 35 Vgl. R (2005), S. 29. 36 Vgl. ebd., S. 31. 37 Vgl. ebd., S. 31. 38 Vgl. W, Harald (1980): Metapher. In: HWBPh, Bd. 5, S. 1179–1186, hier S. 1179f., der übersetzt: „Sie [die Metapher] ist die auf ein einziges Wort zusammengedrängte Kurzform eines Gleichnisses“; vgl. auch R (2005), S. 31. 39 Q (2001), S. 428. Vgl. R (2005), S. 32. 40 Q (2001), S. 429. Vgl. R (2005), S. 32.

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‚Richard ist ein Löwe‘ erläutern. In der ersten Auffassung bedeutet der Satz ungefähr dasselbe wie ‚Richard ist tapfer‘; in der zweiten ungefähr dasselbe wie ‚Richard ist wie ein Löwe (durch seine Tapferkeit)‘, wo die Worte in Klammern zwar für das Verständnis vorausgesetzt, aber nicht explizit gesagt werden. Die zweite Übersetzung wie auch die erste unterstellt, daß die metaphorische Aussage für ein wörtliches Äquivalent steht. Die Vergleichstheorie liefert freilich eine ausführlichere Paraphrase, sofern sie die ursprüngliche Aussage sowohl als Aussage über Löwen als auch über Richard interpretiert. 41

Mit den genannten drei Metapherntheorien ist das überaus weite Spektrum dieser Theorien nicht abgedeckt. An dieser Stelle ist lediglich das Metaphernverständnis der Rhetoriken von Interesse. Weitere Metapherntheorien werden neben der Reflexion zur Historizität von Metapherntheorien im Darstellungspunkt 2.1.6 42 vorgestellt. Aus zwei Gründen soll auf die beiden Tropen Metonymie (denominatio) und Synekdoche (intellectio) näher eingegangen werden. Erstens sollen die spezifischen Differenzen zur Metapher im engeren Sinne aufgezeigt werden, um deutlich zu machen, dass mit Metapher nicht alle Tropen gemeint sind. Zweitens gibt es Thesen, die an den beiden Tropen Anschluss finden. So ist die Synekdoche aufschlussreich in Bezug auf den Begriff des tertium comparationis; von der „groupe m“ wurde die Metapher als doppelte Synekdoche beschrieben 43, ein Ansatz, den Strub aufnimmt. 44 Reflexionen über die Möglichkeit, mittels Sprache Gott zu erfassen, setzen z. T. bei der tropischen Metonymie an. 45 Im Gegensatz zur Metapher wird bei Metonymie und Synekdoche ein Wort durch ein Wort ersetzt, das benachbart ist (vicinitas, nicht similitudo). Bei der Metonymie sind die Bereiche der Übertragung real miteinander verflochten, zum Beispiel durch Ursache – Wirkung – Beziehung oder das Verhältnis von Gefäß und Inhalt. 46 In der Definition der Herennius-Rhetorik heißt es von der denominatio: Denominatio est, quae ab rebus propinquis et finitimis trahit orationem, qua possit intellegi res, quae non suo vocabulo sit appellata (Rhetorica ad Herennium IV, 43).

41 B, Max (1954)/(1983): Die Metapher. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Wege der Forschung, 389), S. 55–79, hier S. 67. Vgl. R (2005), S. 21. 42 Vgl. S. 205ff. dieser Arbeit. 43 D, Jacques (1974): Allgemeine Rhetorik. Herausgegeben und übersetzt von Armin Schütz. München: Fink (Uni-Taschenbücher, 128 [franz. Original: Rhétorique générale par le groupe m, Paris 1970]), S. 152–199. 44 Vgl. S (1991), S. 310 ff., besonders S. 316 ff. 45 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 2.1.7, S. 210 ff. 46 Vgl. K (1971), S. 33.

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Bei der intellectio werden pars und totum vertauscht: cum res tota parva de parte cognoscitur aut de toto pars (Rhetorica ad Herennium IV, 44).

Zuletzt soll auf die Allegorie (permutatio) im rhetorischen Verständnis eingegangen werden. In der Herennius-Rhetorik ist die permutatio definiert als „oratio aliud verbis aliud sententia demonstrans“ (Rhetorica ad Herennium IV, 46) und spiegelt damit Quintilians Allegorieformel (aliud verbis aliud sensu ostendit (Inst. orat. VIII, 6, 44)) wider, 47 die sich auch bei Isidor von Sevilla findet. Dieser definiert die Allegorie als „alieniloquium. Aliud enim sonat, et aliud intellegitur“ (Etym. I, 37, 22). 48 In der Rhetorica ad Herennium wird die permutatio in drei partes eingeteilt: „Ea dividitur in tres partes: similitudinem, argumentum, contrarium“ (Rhetorica ad Herennium IV, 46). Von der permutatio per similitudinem 49 wird gesprochen, „cum translationes plures frequenter ponuntur a simili oratione ductae“ (Rhetorica ad Herennium IV, 46). Zwischen permutatio und translatio wird also, wie auch bei Quintilian, der für bestimmte Allegorien 50 definiert: allegoria facit continua metaphora (Inst. orat. IX, 2, 46), rein quantitativ unterschieden. 51 Die permutatio kann laut Herennius-Rhetorik darüber hinaus per argumentum erscheinen, „cum a persona aut loco aut re aliqua similitudo augendi aut minuendi causa ducitur“ (Rhetorica ad Herennium IV, 46). 52 Als Figur entspricht sie damit „dem Tropus der Metapher augendi minuendive causa. – Ex contrario verwendet ist die Permutatio der Ironie gleichzusetzen, welche später allgemein als species allegoriae verstanden wurde“. 53 Quintilian, der die Allegorie als inversio, „d. h. als bloße Differenz, bisweilen auch Kontrarität von Wort und Sinn“ 54 definiert, unterscheidet in Inst. Orat. VIII, 6, 47 zwei Arten von Allegorie: Der apertis permixta allegoria, der „zum leichteren Verständnis mit ‚eigentlich‘ [. . . ] gebrauchten [. . . ] Worten“ gemischten Allegorie, 47 Vgl. R (2005), S. 57. 48 Isidori Hispalensis Episcopi: Etymologiarum sive originum libri XX. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. M. Lindsay. Oxford University Press 1911. Vgl. Weddige (2008), S. 107. 49 Krewitt bezeichnet diese als die „Grundform“. Vgl. K (1971), S. 28. 50 Vgl. dazu die unten thematisierte Unterscheidung von apertis permixta allegoria und tota allegoria. 51 Vgl. W (2008), S. 107. 52 Krewitt sieht hierin keine eigene Figur, sondern „eine für jede Art der Permutatio mögliche Realisierungsform“. Man könne sie als „Vossianische Antonomasie“ auffassen (K (1971), S. 28). 53 Ebd., S. 28f. 54 F, Wiebke (1992): Allegorie, Allegorese. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 335 f. Im Folgenden zitiert als F (1992).

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steht die tota allegoria entgegen, eine „gänzliche[ ] Allegorie“, bei der eine solche Verständnishilfe nicht vorliegt und die daher dunkler ist. 55 Die tota allegoria setzt Quintilian „einerseits dem nicht vom Redner erklärten exemplum gleich, andererseits dem eigentlich (als Verstoß gegen das ‚dilucide dicere‘) fehlerhaften, doch bei Dichtern gebräuchlichen Rätsel“ (vgl. Inst. Orat. VIII, 6, 52). 56 Besonderes Interesse hat Quintilian an der apertis permixta allegoria, für die allein gilt, dass sie zumeist aus metaphorae continuae gebildet wird (vgl. Inst. Orat. VIII, 6, 47f.). Nicht alle Allegorien also müssen für Quintilian aus fortgesetzten Übertragungen bestehen, die schönsten jedoch sind für ihn die, in denen sie mit Metapher und Vergleich verbunden sind (vgl. Inst. Orat. VIII, 6, 49). 57 Die zentrale Frage, auf die die Rhetorik eine andere Antwort findet als moderne Theorien, 58 ist, ob Metapher und Allegorie qualitativ zu unterscheiden sind. Wie gezeigt, unterscheiden die Rhetoriken Allegorie und Metapher nicht qualitativ, sondern lediglich quantitativ. Es kommt sogar zu begrifflicher Vermischung. So übersetzt Cicero (De orat. III, 38, 155) den griechischen Begriff allhgoria mit translatio, 59 mit dem Begriff also, den die Herennius-Rhetorik für metafora setzt. Für Egerding unterscheiden sich Allegorie und Metapher qualitativ voneinander: Während es sich bei der Allegorie um einen Text handelt, der wörtlich und allegorisch zu verstehen ist, bei dem also zwei Diskurse, Vorder- und Hintersinn, nebeneinander existieren, kann der Sinn einer metaphorischen Aussage nur gefunden werden, wenn man die wörtliche Ebene verläßt und durch eine metaphorische Interpretation die logische Absurdität auf der wörtlichen Ebene der Aussage reduziert. 60

Auch Kurz sieht einen substanziellen Unterschied zwischen Allegorie und Metapher. Während für ihn bei der Allegorie „ein Bedeutungssprung“ vorliegt, macht die Metapher „eine Bedeutungsverschmelzung“ aus. 61

55 Ebd., Sp. 336. Siehe auch Kurz, Gerhard (1979): Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie. In: Walter Haug (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion, Wolfenbüttel, [7. bis 10. September] 1978. Stuttgart: Metzler, S. 12–24, hier S. 15. 56 F (1992), Sp. 336. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. K, Erich (1979): Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit. In: Walter Haug (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion, Wolfenbüttel, [7. bis 10. September] 1978. Stuttgart: Metzler, S. 388–404, hier S. 388. Im Folgenden zitiert als K (1979); B (1970), S. 7ff.; K (1971), S. 28 f.; M (1976), S. 37 ff. 59 Vgl. W (2008), S. 107. 60 E (1997) I, S. 33. Ebenso schätzt dies S (1991), S. 227 ff. ein. 61 K, Gerhard (2004): Metapher, Allegorie, Symbol. 5. Aufl. Göttingen: V. u. R., S. 36. Im Folgenden zitiert als K (2004).

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Die Metapher ist metaphorisch eindeutig, wobei die zugrundeliegenden wörtlichen Bedeutungen mitartikuliert und mitgewußt werden [. . . ]. Die zugrundeliegende wörtliche Bedeutung hat nicht den Status einer anderen Bedeutung. Die Allegorie hingegen ist zweideutig, sie hat eine und noch eine andere Bedeutung. 62

Allegorie und Aenigma bei Augustin Auf die Frage nach der Vereinbarkeit der Allegoriebegriffe von Rhetorik und christlicher Hermeneutik soll im Darstellungspunkt 2.1.3 63 eingegangen werden. An dieser Stelle sei kurz auf Augustins Kategorisierung von Allegorie und Aenigma verwiesen. In De trinitate (PL 42, Sp. 819 ff.) kommt er im Zusammenhang mit den Tropen auf Gal 4,24 zu sprechen, 64 die einzige Nennung des Begriffes „Allegorie“ in der Bibel. 65 Wie bei Aristoteles und Cicero in Bezug auf Metapher und Gleichnis 66 bestimmt Augustin das Verhältnis von Tropus, Allegorie und Aenigma als Fortschreiten von der Gattung zur Art: „huius autem tropi, id est allegoriae, plures sunt species, in quibus est etiam quod dicitur aenigma“ (De Trinitate XV, IX, 15/PL 42, Sp. 1068). 67 Das Aenigma ist also eine Art der Gattung Allegorie, die wiederum der übergeordneten Kategorie des Tropus zuzuordnen ist. Augustin macht deutlich, welche Implikationen dies hat („ita omne aenigma allegoria est, non omnis allegoria aenigma est“ (De Trinitate XV, IX, 15/PL 42, Sp. 1068) 68), und bestimmt dann das Aenigma als „obscura allegoria“ (De Trinitate XV, IX, 15/PL 42, Sp. 1069). 69

2.1.2 Das Erbe der antiken Rhetorik Während das „Kerngeschäft“ der Rhetorik, die Lehre vom öffentlichen Reden also, schon in der römischen Antike an Bedeutung verloren hatte, bleibt rhetorisches Grundwissen bis in die Renaissance erhalten. Zum einen liegt dies daran, dass auch im Mittelalter die Rhetorik, verankert in den septem artes liberales, Grundbestandteil der Schulbildung ist. Zum andern diversifiziert sich die Rhetorik in Teilgebiete, die im Mittelalter praktisch angewendet werden und dadurch rhetori-

62 63 64 65 66 67 68 69

Ebd. Siehe S. 184 dieser Arbeit. Vgl. K (1971), S. 132 f. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. S. 166 dieser Arbeit. Vgl. K (1971), S. 133. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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sches Grundwissen weitergeben und weiterentwickeln: artes poeticae, ars dictaminis und ars praedicandi. 70 Die mittelalterlichen Poetiken haben Vorläufer in der Antike. „Aus dem antiken Griechenland ist nur die A[rs poetica] des Aristoteles 71 erhalten“, die viele dunkle Stellen enthält 72 und deren Ideen im Mittelalter lediglich wirksam wurden „durch einen entstellten Kommentar des arabischen Philosophen Averoes, der 1256 von Hermannus Alemannus ins Lateinische übersetzt wurde“. 73 Die lateinische Übersetzung der Poetik durch Wilhelm von Moerbeke von 1278 nämlich blieb weitgehend unbekannt. 74 Weitaus prägender für das Mittelalter ist die Ars poetica des Horaz, 75 die von dem Aristoteles-Schüler Neoptolemos beeinflusst zu sein scheint, wenngleich Horaz’ Werk sich von dem aristotelischen stark unterscheidet, „denn die philosophische Struktur des Griechen fehlt dem Römer“. 76 Vielmehr zeigt die Ars poetica des Horaz „in allen Punkten den Einfluß der Rhetorik“. 77 Im Gegensatz zur aristotelischen Poetik wurde die Ars poetica des Horaz im Mittelalter direkt rezipiert, „regelmäßig gelesen und kommentiert. Sie war eine der Hauptquellen für die Artes versificatoriae oder ‚Artes poetriae‘ des 12. und 13. Jh.“. 78 Bis zum 12. Jahrhundert, in dem neue Dichtungslehren aufkommen, ist die Ars poetica des Horaz die „einzige poetologische Schrift, die sich ausdrücklich als solche zu erkennen“ gibt. 79 In Abgrenzung zu den neu aufkommenden Poeti-

70 Vgl. M (1974); zur ars poetica desweiteren S (2007), S. 219 f.; K, Paul (1980): Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, bes. S. 83 ff., im Folgenden zitiert als K (1980); K (1992): Ars poetica. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1048 ff.; zur ars dictaminis W, Franz Josef (1981): Die Antikerezeption in der mittelalterlichen und der humanistischen ars dictandi. In: August Buck (Hrsg.): Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance; Vorträge gehalten . . . in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel vom 2.–5. September 1978. Hamburg: Hauswedell (1), S. 187–207, im Folgenden zitiert als W (1981); W/K /L (1992); C (1992): Ars dictandi, dictaminis. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1040 ff.; K (1980), S. 72 f.; zur ars praedicandi R (1992): Ars praedicandi. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 10.64 ff. 71 A (2011). 72 K (1992): Ars poetica. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1049. 73 Ebd., Sp. 1053. 74 Vgl. ebd. 75 Q. Horati Flacci qvi vvlgo vocatvr liber de are poetica. In: C. O. Brink: Horace on Poetry. 3 Bde. Bd. 2: The „Ars poetica“. Cambridge 1971, S. 55–72. 76 K (1992): Ars poetica. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1051. 77 Ebd., Sp. 1052. 78 Ebd., Sp. 1053. 79 K (1980), S. 41.

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ken, im Speziellen der Poetria nova des Galfrid von Vinsauf, wird sie Poetria vetus oder Antiqua poetria genannt. 80 Die älteste erhaltene der neuen Poetiken ist die Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme (entstanden vor 1175), 81 gefolgt von der bereits genannten Poetria Nova Galfrids (um 1200), 82 auf den vielleicht auch das Documentum de modo et arte dictandi et versificandi 83 zurückgeht. Der Laborintus Eberhards von Bremen/ des Deutschen wird auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert, 84 Gervasius’ von Melkley Ars poetica auf die Zeit zwischen 1215 und 1216, 85 die sogenannte Parisiana poetria von Johannes von Garlandia auf ca. 1220. 86 In Bezug auf das Feld übertragener Rede sowie die Überlegungen zu Reflexen schöpferischen Bewusstseins sind die Poetria Nova sowie das Documentum Galfrids von Vinsauf, die Ars poetica des Gervasius von Melkley und die Parisiana Poetria des Johannes von Garlandia besonders aufschlussreich. 87 Galfrids Poetria nova ist seit dem 13. Jahrhundert weit verbreitet, die Hauptquellen sind die herkömm-

80 Vgl. ebd. Klopsch nennt an dieser Stelle Johannnes de Garlandia als Autor der Poetria nova; auf S. 127 richtig Galfrid von Vinsauf. Ebenso etwa F, Edmond (1971): Les arts poétiques du 12e [douzième] et du 13e [treizième] siècle: recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge. Paris: Librairie Honoré Champion (im Folgenden zitiert als F (1971)), S. 27–33; M (1974), S. 131. 81 Vgl. F (1971), S. 1 ff., bes. S. 13, Text auf S. 109–193; M (1974), S. 135; K (1980), S. 121; S (2007), S. 219. Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik wird die Ars versificatoria (vgl. K (1992): Ars versificatoria. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1071–1080) als eigener Punkt aufgeführt, inhaltlich ähnelt der Artikel Abhandlungen zur Ars poetica. U. a. werden bei Kelly Matthäus von Vendôme, Galfred von Vinsalvo und Johannes von Garlandia genannt (vgl. Sp. 1071 f.). 82 Text bei F (1971), S. 197–262. Vgl. M (1974), S. 135 (hier wird 1208–13 datiert), S. 170ff.; K (1980), S. 127 ff.; S (2007), S. 219. 83 Vgl. F (1971), S. 23, Text auf S. 265–320; M (1974), S. 135, 172; W (1999), S. 137, Anm. 34; S (2007), S. 219. 84 Text bei F (1971), S. 337–377. Vgl. M (1974), S. 135 (er spricht von Eberhard the German); K (1980), S. 138; S (2007), S. 220 (sie spricht von Eberhard dem Deutschen). 85 Gervais von Melkley: Ars poetica. Kritische Ausg. von Hans-Jürgen Gräbener. Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1965 (Forschungen zur romanischen Philologie, H. 17). Vgl. F (1971), S. 328 ff.; M (1974), S. 135, 162 u. ö.; K (1980), S. 140; S (2007), S. 220. 86 The Parisiana Poetria of John of Garland. Ed. with Introduction, Translation, and Notes by Traugott Lawler. New Haven: Yale University Press 1974. Vgl. F (1971), S. 378 ff.; M (1974), S. 135 (nennt den Namen De arte prosayca, metrica, et rithmica und datiert auf nach 1229), S. 177 ff.; K (1980), S. 147 (um die Mitte des 13. Jahrhunderts); S (2007), S. 220. 87 Vgl. zur Auswahl dieser drei auch K (1992): Ars versificatoria. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 10.71f.

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lichen Lehrbücher der Rhetorik. 88 Galfrid handelt denn auch die stilistischen Schmuckformen gemäß der verbreitetsten Rhetorik, der Rhetorica ad Herennium, ab. 89 Dabei führt er jedoch eine entscheidende Änderung ein: Im Gegensatz zur Unterscheidung der Herennius-Rhetorik in Wort- und Sinnfiguren differenziert Galfrid nach ornatus diffilis und facilis. 90 Unter den schwierigen Schmuckformen, dem Ornatus difficilis (765–1093), behandelt er die Tropen als diejenigen Figuren, deren Wesen in der Setzung eines anderen Ausdruckes als des herkömmlichen, die Sache exakt bezeichnenden, liegt. Dabei folgt er inhaltlich der Rhet. Her., [. . . ] unterteilt sie allerdings in zwei Gruppen, deren erste unter der Bezeichnung transsumptio [. . . ] die gewichtigeren und schwierigeren zusammenfaßt: (1) die Metapher (translatio), (2) die Allegorie (permutatio), (3) die Verwendung eines Appellativums statt des Eigennamens (Antonomasie, pronominatio), (4) die Neuschöpfung eines Wortes für einen bislang nicht oder nicht treffend genug bezeichneten Sachverhalt (nominatio). 91

Denominatio, superlatio, intellectio, abusio und transgressio behandelt Galfrid unter weiteren Tropen leichteren Gewichts (pretio leviore (V. 957; die genannten Tropen V. 965ff.)). 92 In der Folge werden die Stilmittel behandelt, die dem ornatus facilis angehören (10.94ff.). Bei diesen behalten die Wörter ihre angestammte Bedeutung. 93 Das Besondere an Galfrids Werk liegt neben der starken Orientierung an der Rhetorik und den einschlägigen antiken Lehrbüchern v. a. in der rationalen und systematischen Ordnung des Stoffes, wie sie sich in den die Disposition bestimmenden Zweierpaaren äußert. [. . . ] Daneben steht als weiteres Charakteristikum die Betonung des Gegensatzes zwischen Innen und Außen, zwischen Gedanken und Verhüllung in der Dichtung, der die besondere Neigung zur uneigentlichen Redeweise der Tropen und damit zum Ornatus difficilis begünstigt. Beide Eigenschaften kamen dem Verständnis des Mittelalters entgegen und haben den Erfolg von Galfrids Lehrschriften ermöglicht. 94

88 Vgl. K (1980), S. 127 f. 89 Aus Rhetorica ad Herennium IV 16–69, vgl. K (1980), S. 133. 90 Vgl. ebd. Siehe auch K (1992), Sp. 1076; M (1974), S. 172 f.; F (1971), S. 195f. Die Termini ornatus facilis und ornatus difficilis gehen auf Faral zurück und sind in der Forschung üblich. In der Poetria nova spricht Galfrid von modus gravitatis und planis (V. 1095 – K (1980) spricht von V. 1100). Im documentum benutzt Galfrid die Termini ornata facilite und ornata difficultate (II, 3, 1/II, 3, 103; vgl. hierzu K (1980), S. 132 und M (1974), S. 172. 91 K (1980), S. 132 f. 92 Vgl. ebd., S. 133, dieser gibt V. 962 an, bei Faral jedoch der angegebene Vers. 93 Vgl. ebd. 94 Ebd., S. 137f.

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Die Hauptquellen des Johannes von Garlandia sind laut Klopsch Ciceros De inventione, die Ars des Horaz sowie das Werk Galfrids von Vinsauf, 95 Lawler sieht nicht De inventione, sondern die Herennius-Rhetorik als eine der drei Hauptquellen an. 96 Dabei betont Lawler, dass es geradezu unmöglich sei, alle Quellen zu nennen, auf die Johannes zurückgreift. „To unravel all the sources of this complicated work would mean to write the hole history of rhetoric and literary criticism in the Middle Ages“. 97 Der Text biete wenig Eigenes an, seine Originalität liege vielmehr in seiner Totalität. 98 Es erscheint daher auch plausibel, dass der Text vieles beschreibt, „that is commonplace“. Dies betrifft auch die Passagen, in denen übertragene Rede behandelt wird. So sei z. B. Kapitel 6, das von rhetorischen Figuren und Tropen handelt, „standard fare“. 99 Klopsch konstatiert, dass dieses Kapitel „einfach strukturiert“ und sein „wesentlichster Bestandteil [. . . ] eine mit kurzen Beispielversen erläuterte Aufreihung der Wort- und Satzfiguren nach Rhet. Her. IV 16–69 (6, 71–393)“ sei. Wie für Galfrid liege „der Sinn dieser rhetorischen Figuren in der Möglichkeit, einen Stoff nach Belieben [. . . ] zu erweitern oder zu straffen“. 100 Dort heißt es, dass der „Ausgleich zwischen Materie und Stil [. . . ] durch die beiden Arten des Ornatus“ erfolgt: 101 Ars de Difficili Ornatu. Set si materia fuerit leuis, possumus eam reddere grauem et autenticam hiis nouem, que sunt: proprietas pro subiecto; materia pro materiato; consequens pro antecedente; pars pro toto; totum pro parte; causa pro causato; continens pro contento; genus pro specie, et e contrario. Quorum exempla in hoc dictamine reperientur, aliquo magistro conquerente episcopo de violenta manuum iniectione (Parisiana Poetria II, 44–50). Ad Difficilem Materiam Alleuiandam. Materiam difficilem possumus reddere leuem et planam uitando ix predicta, que sunt proprietas pro subiecto, materia pro materiato, etc. (Parisiana Poetria II, 124–126). 102

Im fünften Kapitel, in dem zunächst von Fehlern die Rede ist, werden für diese Arbeit aufschlussreiche Aspekte angesprochen. Es werden sechs Arten von Fehlern in der Dichtung genannt, die dritte Art ist „das Ausarten der Kürze (brevitas) in Dunkelheit (obscuritas)“. 103 95 96 97 98 99 100 101 102 103

Vgl. ebd., S. 147. Vgl. L (1974), S. XV. Ebd. Vgl. ebd., S. XVI. Ebd., S. XVII. K (1980), S. 159. Dieses Verfahren wird im zweiten Kapitel eingehender behandelt. Ebd., S. 150. Vgl. auch ebd. K (1980), S. 153.

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De Tercio Uicio Uitando. Item species recti est breuiter dicere pro loco et pro tempore; sed fit aliquando declinatio in vicium, quando propter breuitatem obscuri sumus in dicendo; ad quod uiium excludendum, eligenda sunt uerba manifestancia materiam (Parisiana Poetria V, 34–37).

Galfrid von Vinsauf und ihm folgend Johannes von Garlandia übertragen die rhetorischen Stilmittel auf die Dichtung. Die dabei getroffene Unterscheidung in ornatus difficilis und facilis rückt Metapher und Allegorie nahe zueinander, insofern beide als ornatus difficilis gelten; wie bei den oben vorgestellten Rhetoriken wird zwischen beiden quantitativ unterschieden. Das Verständnis der einzelnen rhetorischen Mittel bleibt dabei im Vergleich zu den oben genannten Rhetoriken unverändert. Wenn auch die Ars poetica des Gervasius von Melkley wenige Jahre vor der Parisiana Poetria verfasst wurde, vollzieht sich bei Gervasius ein Umbruch, der bei Johannes von Garlandia keine Berücksichtigung findet. War auch noch bei ihm der rhetorische Lehrstoff kumulativ gereiht, löst Gervasius diese Reihung „durch eine durchgreifende dialektische Gliederung [ab], die auf einem neuen Prinzip der Betrachtung des Verhältnisses von Sprache und Sache beruht“. 104 Er „legt als erstes Gliederungsprinzip die mehr oder minder große Übereinstimmung der künstlerischen Sprachrealisierung eines Gegenstandes mit der unkünstlerischen, nur der grammatischen Norm und der proprietas verborum entsprechenden Realisierung, zugrunde. Er erhält so die Kategorien der idemptitas, similitudo und contrarietas“. 105 Dabei sind nicht die Begriffe neu, sondern „nur ihre Anwendung als Grundkategorien der Figurenlehre“. 106 Die ars poetica in der Edition von Gräbener 107 besteht aus drei Teilen: 1. regule communes cuilibet sermonis generi, 2. regule versibus speciales und 3. dictamen prosaicum. Der erste, den Großteil des Gesamtwerkes umfassende Abschnitt ist in sechs Teile gegliedert, deren erste drei der oben vorgestellten Trias (idemptitas, similitudo, contrarietas) entsprechen. Für den Bereich übertragener Rede sind die Unterkapitel similitudo und contrarietas aufschlussreich. Den Bereich der similitudo unterteilt Gervasius in die Bereiche assumptio, transumptio und omiosis (vgl. Ars poetica, 89, 1–4). Folgende Konzeption und Terminologie liegen Gervasius’ Darstellung zugrunde: 1. ein Wort (dictio) setzt sich zusammen aus dem Wortkörper (signifiant): vox und der Bedeutung (signifié): significatio. Der Terminus für bezeichnen ist significare; 2. die significatio ist mit der vox von vornherein verbunden (primaria institutione); 104 105 106 107

Ebd., S. 146f. Vgl. dort auch S. 140 f. G (1965), S. XXXVI. Ebd., S. XXXVII mit Belegen der Begriffe bei Cicero und in der Herennius-Rhetorik. Vgl. dort S. VI–XI.

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3. neben der significatio kann eine vox eine grammatische Sekundärbedeutung haben (Futur z. B.): consignificatio. Das entsprechende Verb heißt consignificare; 4. Neben dem Normalfall, in dem einer vox eine significatio zugeordnet ist, gibt es Fälle, in denen eine vox ohne significatio auftritt; Daraus ergeben sich die folgenden Möglichkeiten: 1. eine vox ohne significatio kann mit einer significatio versehen werden (assumptio vocis non significative); 2. eine vox mit significatio kann mit einer zusätzlichen consignificatio versehen werden (assumptio vocis significative); 3. eine vox mit significatio kann eine neue significatio erhalten (Metapher). 108

Auf der Grundlage dieser drei Möglichkeiten unterscheidet Gervasius zwischen assumptio, die die Modi umfasst, „nach denen einer vox ohne significatio oder ohne consignificatio durch Schöpfungsakt des Dichters eine significatio bzw. consignificatio gegeben wird“, 109 und transumptio, die die Figuren umfasst, „in denen die significatio einer vox oder die Gesamtsignificatio eines Satzes durch eine andere substituiert wird“. 110 Die omiosis ist anders als assumptio und transumptio „nicht durch linguistische Kategorien, sondern durch ihren Argumentationswert bestimmt“. 111 Aufschlussreich in Bezug auf die assumptio ist, dass „das neue Kompositum vox + significatio bzw. (vox + significatio) + consignificatio als Neuschöpfung verstanden [wird] und nicht als Ableitung“, wenngleich Gervasius die terminologische Trennung von invenire (Neuschöpfung) und extorquere (Ableitung) nicht streng durchhält. 112 Unterschieden wird in assumptio vocis non significative (Ars poetica 89,17–104,17), neun verschiedene Fälle, bei denen „ein Wortkörper (vox) mit einer Bedeutung (significatio) gefüllt“ wird, 113 und assumptio vocis significative (Ars poetica 105,1–107,19), drei verschiedene Fälle, bei denen einer „vox, die bereits eine significatio hat, eine andere oder zweite Bedeutung gegeben“ wird. 114 Damit ist aber nicht eine transumptio gemeint, sondern z. B. ein „Substantiv, das nur im Singular vorkommt [. . . ], in anderer Bedeutung im Plural gebraucht“ wird. 115 Gemäß der Substitutionstheorie wird bei der transumptio „die significatio einer vox oder die Gesamtsignificatio eines Satzes durch eine an108 109 110 111 112 113 114 115

G, S. LXXXVIf. Ebd., S. LXXXVII. Ebd., S. XCI. Ebd., S. XCVIII. Ebd., S. LXXXVII. Ebd., S. LXXXVII. Ebd., S. XC. Ebd.

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dere substituiert“. 116 Dabei wird differenziert in transumptio vocis (Metapher) und transumptio orationis (Allegorie) (Ars poetica 109, 1–140,23). 117 Gervasius listet zwei Arten von Metaphern auf, die metaphora absoluta, für die er Fälle gemäß der Wortarten differenziert, und respectiva transumptio, bei deren Bespielen eigentlich „nicht zwei sich entsprechende Wörter übertragen [werden], sondern der Satz“. 118 Die transumptio orationis (Ars poetica 141,1–150,6) unterteilt Gervasius in antismos, der dem Schmuck oder der Argumentation dient, und enigma, das er als „außerhalb der Literatur stehende Spielerei“ verwirft. 119 Die Figur des antismos wird weiter in die drei Arten per apparentiam (Ars poetica 142,6), equipollentiam (Ars poetica 146,4) und per alterius rei similitudinem (Ars poetica 147,13) differenziert. Unter der transumptio orationis per apparentiam thematisiert Gervasius auch das „Vorkommen heidnischer Jenseitsvorstellungen in der christlichen Literatur“. Dieses beruhe auf „einer doppelten Übertragung“. Während die Griechen „den Tatbestand des Todes falsch als Arbeit der Parzen“ erkennen, benutzt der christliche Autor „die Vorstellung von den Parzen, um den tatsächlich zugrunde liegenden Sachverhalt zu bezeichnen (144,6)“. 120 Damit wird gleichzeitig die Verwendung heidnischer Vorstellungen in der christlichen Literatur gerechtfertigt; als übertragener Ausdruck stellen sie den wahren Sachverhalt vor, während sie proprie falsch wären. Gervasius erwähnt die Möglichkeit der proprieInterpretation, will sich aber damit nicht beschäftigen (144,15) 121.

Die contrarietas unterteilt Gervasius in Allegorie und Enthymem. Die verschiedenen Figuren der Allegorie übernimmt er wörtlich von Donat, zur Darstellung des Enthymem beruft er sich auf Cicero. 122 Galfrid und Gervasius ist gemeinsam, dass in ihren Werken die platonische Weltsicht transportiert wird. So erscheint bei Galfrid das „poetisch-rhetorische[ ] Schaffen als handwerklich-demiurgische Tätigkeit“, die Vorstellung herrscht vor, dass, vom „geistigen Feuer erweicht, [. . . ] sich der wächserne Stoff von der Hand des inneren Menschen dehnen oder pressen“ lässt. 123 Für Gervasius besteht die Schönheit des Kunstwerks [. . . ] in der gegenseitigen Durchdringung und dem rechten Verhältnis von Einheit und Vielfalt (uniformitas et diversitas). Damit aber ist eine

116 117 118 119 120 121 122 123

Ebd., S. XCI. Vgl. ebd. Ebd., S. XCII–XCIV. Ebd., S. XCVI. Ebd., S. XCVIf. Ebd., S. XCVII. Vgl. ebd., S. XCIXf. K (1980), S. 129.

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platonische Weltsicht, der Dualismus von Einheit des Schöpfers und Vielheit des Geschaffenen, speziell auf die Wortkunst angewandt. 124

Unter ars dictaminis oder dictandi versteht man die „ mittelalterlichen Lehrschriften, die der zweck- und kunstgerechten Abfassung von Briefen gelten, Briefen zwischen Amtsträgern und Institutionen wie auch der persönlichen Korrespondenz“. 125 Sie entstehen auf dem Boden der „seit dem späten 11. Jahrhundert sich vollziehende[n] Evolution der pragmatischen Schriftlichkeit, die, ausgehend von der römischen Kurie und den oberitalienischen Städten, den europäischen Gesellschaften dauerhafte Veränderungen in der Struktur und den Formen ihrer Kommunikation“ erbringt, 126 „ist deren Symptom und Faktor“. 127 Zu dieser Zeit kommt es zu einer „beträchtlichen Vermehrung des Urkunden- und Briefwesens bei Kaiser und Papst“, fürstliche und kommunale Kanzleien breiten sich aus, Schriftlichkeit wird auch in den Feldern wichtig, „denen ehedem mündliches Handeln genügte“ und die sich neu herauskristallisierenden „Felder rechtlicher und geschäftlicher Praxis“ bedürfen schriftlicher Dokumente. 128 Kurz: Der Bedarf an spezifischen schriftlichen Dokumenten und Personen, die diese herstellen können, nimmt rasant zu. „Ihre primäre Anwendung hatte die Ars dictandi im Bereich der Kanzlei, und sie diente der Unterrichtung und Heranbildung der neuen Gruppe berufsmäßiger Dictatores, Notare, Sekretäre, derer die Kanzleien im Maße ihrer Verbreitung und ihres inneren Ausbaus zunehmend bedurften“. 129 Die Herausbildung der ars dictandi gilt als spezifisch mittelalterliches Phänomen, 130 wenn sie auch vom 12. bis ins 18. Jahrhundert Geltung hatte. Die Zahl an Traktaten und Handschriften ist sehr groß. Worstbrock spricht von „einer nicht abreißenden Kette immer neuer Traktate, deren Zahl in die Hunderte geht“, später von „nahezu 500 Traktaten“; W, K und L (1992), die 45 Texte von 19 Autoren in ihr Repertorium aufnehmen, sprechen von Hunderten von Texten und gut 3000 Handschriften. 131 Als erste ars dictandi gilt das liber dictaminum 124 Ebd., S. 143. 125 W/K/L (1992), S. IX. Vgl. auch Camargo, M. (1992): Ars dictandi / dictaminis. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1040–1046, hier Sp. 1040. „Man bevorzugte ‚ars dictaminis‘ als Terminus für die Disziplin und ‚ars dictandi‘ [. . . ] für das Lehrbuch“. 126 W (1981), S. 188. 127 W/K /L (1992), S. X. 128 W (1981), S. 188. 129 W/K /L (1992), S. X. 130 Vgl. M (1974), S. 194; W (1981), S. 187. 131 W (1981), S. 187, 198; W /K /L (1992), S. IX; bei Murphy werden acht Werke, „the most significant writers and their work“ (S. 210), genannt, Camargo, M. (1992): Ars dictandi /dictaminis. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1040–1046, nennt neun weitere Autoren (vgl. Sp. 1043 f.).

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des Mönchs Alberich von Montecassino von 1080 132, dessen Rezeption „seit etwa 1115 konkurrierende eigene Entwürfe [. . . ] stimuliert zu haben“ scheint. 133 Bei Alberich werden „Schreiben und Sprechen, Brief und Rede“ gleichgesetzt, sodass „der Aufbau des Briefes – von der hinzukommenden Salutatio (III 5) abgesehen – als Explikation der rhetorischen Disposition der Rede in Exordium, Narratio, Argumentatio und Conclusio“ dargestellt wird. 134 Auch in der „klassischen Fassung“ der Gliederung eines Briefes in den Bologneser Rationes dictandi spiegelt sich der Einfluss der rhetorischen Disposition wider: salutatio (Gruß), captatio benevolentiae (exordium – Werben um die Gunst des Lesers), narratio (Darlegung der Tatsachen), petitio (Ersuchen um Handlung), conclusio (Abschluss). 135 Ebenso unverkennbar aber stellt die Briefdisposition doch einen anderen Funktionszusammenhang dar als die rhetorische Dispositio: Brief und Rede gehorchen verschiedener Zielsetzung. Während die Rede die auf den status causae abgestimmte Beweisführung Überzeugung zu schaffen und daher in der Argumentatio ihr unverzichtliches Zentrum hat, steht in der Dispositio des Briefes seiner regelmäßig ersten Aufgabe entsprechend, ein Begehren erfolgreich vorzutragen, zu bitten, zu befehlen, zu drohen, zu raten, zu tadeln usf., [. . . ] anstelle der Argumentatio die Petitio. 136

Die ars dictandi hat zunächst keine eigene Lehre des Stils entwickelt. 137 Alberichs Stillehre z. B. stellt „eine ohne zusätzliche Kriterien vermittelte Auswahl aus dem als universell betrachteten Inventar der rhetorischen Elocutio dar“. 138 Auch in den anderen Schriften werden die rhetorischen Figuren aus den Rhetoriken, vorzugsweise aus der Rhetorica ad Herennium übernommen. 139 Die ars dictaminis hat gar „maßgeblichen Anteil“ an der „unvergleichlichen Verbreitung der Figurenlehre“ der Herennius-Rhetorik. 140 Dabei werden auch Neuerungen auf dem Gebiet der Rhetorik berücksichtigt. „Die von Galfrid ausgearbeiteten Gestaltungsweisen der 132 Vgl. W (1981), S. 188 f. W /K /L (1992), S. X; Camargo, M. (1992): Ars dictandi /dictaminis. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1040–1046, hier Sp. 1042; M (1974), S. 205. 133 W/K /L (1992), S. X. Außer in Italien, wo ab ca. 1200 die artes dictaminis vorwiegend von Laien produziert werden, werden sie auch im 13. Jahrhundert fast ausschließlich von Geistlichen verfasst. Vgl. ebd. 134 W (1981), S. 189. 135 Vgl. ebd., S. 190; Camargo, M. (1992): Ars dictandi /dictaminis. In: HWBRh, Bd. 1, Sp. 1040–1046, hier Sp. 1040 f. 136 W (1981), S. 190. Die Differenz der Funktion wird dort noch ausführlicher dargelegt. 137 Vgl. ebd., S. 191. 138 Ebd., S. 189. 139 K (1980) konstatiert, die artes dictmanis würden „durch Verdünnung der Rhetoriklehrbücher hergestellt“ (S. 72). 140 W (1981), S. 191.

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Diletatio und Abbreviatio und die des Duplex ornatus wurden [. . . ] fast ohne Verzug übernommen“. 141 Mit dem beginnenden 13. Jahrhundert hält die Rhetorik in einen weiteren Bereich Einzug. Im Gegensatz zu den Predigern vor 1200, die „offenbar ohne eine theoretisch gestützte Lehre auskamen, entstand in den Jahren 1200–1220 eine eigene Rhetorik des Predigens, Ars praedicatoria genannt, die eine von Murphy so bezeichnete ‚homiletic revolution‘ in Bewegung setzte“. 142 Fortan entsteht eine Vielzahl an Predigttheorien, die in hohem Maße von der Rhetorik beeinflusst sind: „[W]ithin twenty years of 1200 a whole new rhetoric of preaching leaped into prominence, unleashing hundreds of theoretical manuals written all over Europe during the next three centuries“. 143 Murphy konstatiert, dass die Frage wohl offenbleiben muss, wie dieser enorme Anstieg an theoretischer Literatur und v. a. die Geschwindigkeit, in der er sich entwickelt, zu erklären sind. 144 Caplan vermutet als Ursachen die Verbreitung des Mystizismus sowie die Entstehung der Scholastik, auch Charland macht auf den Einfluss der Scholastik aufmerksam. 145 Roberts führt die zeitliche Parallele einiger Entwicklungen an, die in einem kausalen Zusammenhang mit dem Aufkommen der ars praedicandi stehen könnten: Die Bedeutung der öffentlichen Predigt nimmt im 13. Jahrhundert zu, Städte, Handel, Schulen und Universitäten blühen auf, die Kirche führt Kreuzzüge und Papst Innozenz III. ist selbst ein „berühmter Prediger“. Die „große Wirksamkeit [der Predigt] als Instrument nicht nur gegen kirchliche Feinde, sondern auch bei der Gewinnung öffentlicher Unterstützung für Reformen“ wird erkannt. 146 Murphy unterscheidet drei Phasen in der Geschichte der Predigttheorie. Die erste Phase stelle Christus selbst dar. „His own preaching, clearly based on a conscious appreciation of certain rhetorical objectives, shows certain patterns which became models for later theorists; in addition, the Synoptic Gospel report statement of Christ which can only be called preceptive; Paul follows him closely“. 147 Die zweite Phase macht Murphy an fünf Autoren fest. Neben De Doctrina christiana Augustins aus dem Jahre 426 erscheinen bis zum 13. Jahrhundert lediglich vier weitere Schriften, in denen die Theorie der Predigt thematisiert wird: Papst Gregors Cura pastoralis aus dem Jahre 591, die institutione clericorum des Hrabanus Maurus (819), Guiberts von Nogent Liber quo ordine sermo fierei debeat ( 1084)

141 142 143 144 145 146 147

Ebd., S. 193. R (1992), Sp. 1067. M (1974), S. 310. Vgl. ebd. Vgl. R (1992), Sp. 1067. Ebd., Sp. 1065 f. M (1974), S. 275.

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und De arte praedicatoria des Alanus ab Insulis. 148 Diese Autoren – in der Aufzählung auf S. 309 erwähnt Murphy Hrabanus Maurus nicht mehr – „could by any stretch of the imagination be called theorists of preaching“. 149 Bis hin zu Alanus wird von den Autoren nicht in Erwägung gezogen, „that the ancient ars rhetorica could serve as a theory of preaching“, 150 eine Tatsache, die nicht an der Unkenntnis der antiken Rhetorik gelegen haben kann, sondern eine freie Entscheidung der Kirche war. 151 Roberts betont, dass die Praxis der Predigt vor 1200v. a. monastisch und klerikal orientiert war und sich erst nach 1200 zu einer Form entwickelte, „die zunehmend den Bedürfnissen eines öffentlichen Publikums entgegenkam“ 152, und gibt damit einen nicht unplausiblen Grund für diesen Wandel, der in die dritte Phase der Predigttheorie überleitet. Die dritte Phase der Predigttheorie „begins in the first half of the thirteenth century with the comparatively sudden appearance of a fully development theory of ‚thematic‘ preaching. More than three hundred treatises still survive from this phase, which lasted into the Reformation“. 153 Als Schlüsselautoren für diesen rapiden Wandel, der eine standardisierte Form des Predigens hervorbrachte 154, führt Murphy „Alexander of Ashby, Thomas Chabham [of Salisbury], Richard of Thetford, Jean de la Rochelle, and William of Auvergne“ 155 an. Die später entstandene (1322) Forma praedicandi des Robert von Basevorn führt er als Handschrift an, „which almost perfectly embodies the entire movement“. 156 Wichtige Autoren, die die Entwicklung vorangetrieben haben, in deren Folge sich die „einfache[ ] patristische[ ] Homilie zur komplexen Predigt des hohen und späten Mittelalters“ entwickelt, sind Alexander of Ashby und Thomas von Salisbury. 157 Aus den Texten dieser beiden Autoren sollen Aspekte benannt werden, die für die im Rahmen dieser Arbeit behandelten Fragen von Bedeutung sind. Alexander von Ashby formuliert in seiner kurzen Schrift De modo praedicandi „a theory of organization coupled with ideas on division and proof that were to become standard within the next few decades“. 158 Anders als Alanus ab Insulis beschäftigt sich Alexander ausschließlich mit der Form des Predigens und nicht mit 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158

Vgl. ebd. Ebd., S. 309. Ebd., S. 309f. Vgl. ebd. R (1992), Sp. 1065. M (1974), S. 275 f. Vgl. ebd., S. 275 f., 310. Ebd., S. 310. Ebd., S. 276, 343 ff. R (1992), Sp. 1065. M (1974), S. 314.

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dem Inhalt. Er ist nach Augustin der erste Autor, der auf diese Art und Weise verfährt. 159 Besonders wichtig ist seine (im Vergleich mit Alanus) neue These, dass es eine Standardform des Predigens gebe, und man infolgedessen annehmen kann, „that there is a stabilized and presumably well-accepted ‚mode‘ to be followed“, während noch Alanus zugegeben hatte, dass über das Predigen bis dato wenig geschrieben worden sei. „Alexander’s acceptance of the concept should be compared to that of the Italien dictatores a century earlier, who quickly adopted the ‚approved format‘ of the ars dictaminis, which then remained standard during the next three centuries“. 160 Besonderes Augenmerk legt Alexander auf die Aufteilung (divisio) der Predigt. Dabei ist die Verbindung von Aufteilung und Beleg wichtig: 161 Alexander proposes that each ‚member‘ (membrum) set out as a divided part should be followed immediately by a proof. This is a radical departure from standard Ciceronian rhetorical doctrine, which makes proof a seperate part of the speech plan. [. . . ] In other words, the insertion of proofs one by one under the subdivisions would actually result in a three-part sermon with the subdivisions acting as a scaffolding from which all the proofs would depend. The net effect is a series of mini-sermons, each complete with its own proposition [. . . ] and its own proofs, yet relating to the original theme because all the divisions and subdivisions have been derived from it. 162

Murphy erwägt, dass diese Argumentation auf die Rhetorica ad Herennium zurückgeht. Dort wird im zweiten Buch konstatiert, dass das beste Argument aus fünf Elementen bestehe (Proposition, Argument, Beleg, Schmuck, Zusammenfassung), „in other words, that each argument should be regarded as a mini-speech with its own self-contained plan of arrangement“. Während also Details voneinander verschieden seien, sei das Konzept identisch. 163 Die Summa de arte praedicandi des Thomas von Salisbury hält Murphy für noch wichtiger als die Schrift Alexanders, um die Entwicklung der Predigt zu verfolgen. 164 Die summa besteht aus zwei ungleichen Teilen. Im ersten Teil (1– 74), der in ähnlicher Form auch in der Zeit von Gregor hätte geschrieben werden können, 165 werden allgemeine Fragen behandelt. 166 U. a. wird der vierfache Schriftsinn thematisiert:

159 160 161 162 163 164 165 166

Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 315. Ebd., S. 315f. Ebd., S. 316. Ebd., S. 317. Vgl. ebd., S. 321. Ebd., S. 319.

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In the first part of the Summa Thomas argues that just as physics provides the rationale of bodily things, so ethics and logic deal with the spiritual things. Ethics and logic are parts of philosophy. Theology, like philosophy, uses “significations” drawn from words. But of the four types of significations, the literal or historical sense belongs particularly to philosophy and theology; the other three – tropological, allegorical, and anagogical – belong to the study of sacred Scripture. The literal sense derives signification from a thing (res), whereas the other three derive them from a locution (vocum). Locutions involve verbal accounts of things in fables, arguments, or true accounts of events. Analogy and metaphor are two modes useful in educing significations through words; analogy is subsumed under grammar and dialectic, while metaphor falls under rhetoric. 167

Im zweiten Teil wird behandelt, „what Thomas calls ‚those things necessary to be considered in artistic preaching.‘“ Thomas leitet diesen Teil ein mit dem Versprechen „ to compare preaching with the orations of rhetoric and with the works (orationes) of the poets“. 168 Er zeigt in der Folge Parallelen im Aufbau von poetischen Texten sowie rhetorischen Reden mit Predigten. Im Vergleich poetischer Texte mit Predigten verweist er dabei v. a. auf die Invokation, die auch in poetischen Texten zu finden ist: Thomas adds that poets also arrange their poems into three parts: proposition, invocation, and narration. In this preachers are like poets, for they first propose a theme (thema) from which they derive the text of the sermon. Then they pray for the help of God in reaching hearers. Then they „expose“ the theme in the form of narration. The practice of invocation is found in antiquity too [. . . ] and it is the custom of certain religions (in modern times) to ask divine aid. We are accustomed, he says, to invoke divine aid for important reasons in the university. So if even the pagan philosophers invoke the divine aid to make their hearers attentive and willing to learn, how much more so should we do so who have the divine word to transmit! We seek the salvation of both hearers and readers. Thomas concludes the first section by pointing out that the invocation will ensure that God’s word, and not the preacher’s arrogance, will come forth; this is important because, as Augustine shows, God’s message is a joyful one – the „happy ending“ of the cosmic poets, in other words. 169

Da Redner ihre Reden anders strukturierten als Poeten ihre Texte, sei es einfacher, die Beziehungen von Rede und Predigt zu zeigen als die von Predigt und poetischem Text: „Rhetoric“, he states, „is the art of speaking for the sake of persuading“. Therefore the whole intention of the preacher ought to be that he persuade men to good conduct 167 Ebd., S. 320. 168 Ebd., S. 321; vgl. auch S. 317. 169 Ebd., S. 321f.

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and dissuade them from bad conduct; thus the end of the orator and the end of the preacher are the same. „Therefore the doctrine of the orator is absolutely necessary to carry out the office of a preacher“. This is the first explicit statement of the kind since Augustine. [. . . ] Even though the concepts of Cicero and the Pseudo-Cicero are so similar that it is difficult in most cases to determine the exact source of Thomas’s ideas, nevertheless some of the definitions are taken verbatim from the Rhetorica ad Herennium. There is nothing in the Summa inconsistent with the notion that Thomas may have used that book as his sole source. 170

Thomas zielt dabei darauf ab, dass für Predigten wie für Reden die Aufteilung von großer Bedeutung sei. Er führt dafür zwei Argumente an. Zum einen sei eine Aufteilung wichtig, damit die Zuhörer den Prediger verstehen könnten. Zum anderen sei sie natürlich, insofern auch Augustin und andere Autoren ihre Bücher stets in Kapitel unterteilten, und ohnehin alle Dinge in Genus und Spezies unterteilt seien. Jeder Teil der Predigt solle dabei durch eine schriftliche Quelle abgesichert sein, wobei Thomas davor warnt, diese Quellen zu detailliert anzugeben. 171 Es reiche aus, „to say ‚as in Augustine‘ or ‚as Gregory says‘, without naming author and book and chapter“. 172

2.1.3 Rhetorik als Hilfswissenschaft der Bibel-Auslegung? Die „babylonische Begriffsverwirrung auf [dem] [. . . ] theologisch-philologischen Grenzgebiet“ 173 liegt nicht zuletzt in der Tatsache begründet, dass rhetorische Termini und Termini der Bibelhermeneutik einander begrifflich entsprechen, oft jedoch nicht das Selbe meinen. Während auf der einen Seite der Begriff allegoria sowohl tropisch verstanden werden als auch theologisch den „geistigen Sinn“ meinen kann, 174 vertreten „Hilarius, Ambrosius und Gregor der Große, erst recht aber die griechischen Väter, sowie die meisten kirchlichen Autoren des Mittelalters die

170 Ebd., S. 322. 171 Vgl. ebd., S. 324. 172 Ebd. Hier also findet sich eine Anweisung für das, was – wenngleich in negativer Ausprägung – Nietzsche anklagt. Vgl. hierzu Darstellungspunkt 2.1.5, S. 195 dieser Arbeit. 173 K (1971), S. 108. 174 Vgl. ebd. Siehe dort auch S. 105 f. Krewitt verweist dort auf Hieronymus, der allegoria im Sinne des Apostels Paulus gleichsetzt mit der intelligentia spiritualis. „Bei Hieronymus also schon beginnen sich die terminologischen Aussagen zu verwirren. Nicht nur allegorice figurata und allegorice accipienda werden allegoria genannt, was grammatisch vollkommen korrekt ist, sondern auch der geistige Sinn selber, der erst von den Schleiern der Allegorie befreit werden muß, wird als allegoria bezeichnet; das ist von nun an theologisches Idiom“ (ebd.).

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dualistische Auffassung des ‚Allegorismus‘“, demnach zwischen Bibel und Profanliteratur streng getrennt wird. Rhetorik und Grammatik fungieren dieser Auffassung zufolge allein als Hilfsmittel zur Auslegung profaner Schriften, die Bibel enthalte keine Tropen und könne dementsprechend nicht mit Hilfe der Rhetoriken ausgelegt werden. 175 Während angenommen wird, dass der Sinn profaner Literatur „eindeutig oder durch Analogie zu erschließen“ sei, nimmt man von dem biblischen Sinn an, mehrdeutig zu sein. 176 Er zerfalle „in zwei Hälften [. . . ], die auf verschiedenen Wegen vom Menschen erschlossen werden müssen, weil ein Übergang von der sinnlichen zur geistigen nicht möglich ist“. 177 Bezogen auf biblische Texte kann strenggenommen von einer „sprachlichen Übertragung“ nicht ausgegangen werden. 178 Dem „Allegorismus“, der sich nach und nach durchsetzt, 179 stehen Hieronymus, Augustinus oder Cassiodor entgegen, die die ihnen bekannten „philologische[n] und hermeneutische[n] Disziplinen [. . . ] als ‚Hilfswissenschaften‘ übernehmen“, um die Bibel zu erforschen. 180 Die Bibel wird gelesen als „Wortkunstwerk wie jedes andere literarische Produkt“, sodass die „Artes bei der Erarbeitung des Textverständnisses“ angewendet werden können und die „textlichen Zeichen als eine Brücke zum Verständnis des unmittelbaren und [. . . ] eines vermittelten (höheren) Sinnes“ verstanden werden. 181 Dieser Einstellung der Hl. Schrift gegenüber [. . . ] ist eine Auffassung der religiösen Rede verwandt, die als neuplatonischer „Symbolismus“ oder als spekulative Mystik (Pseudo-Dionysius Areopagita, Johannes Scottus Eriugena oder die Mystiker von St. Victor in Paris) im Verstehen der Worte ein Mitverstehen eines über sie hinausweisenden Sinnes annahm. Symbolismus und Mystik sprechen gleichermaßen von sprachlichen Übertragungen oder sogar von Tropen und bedienen sich somit derselben Terminologie wie die von der klassischen Bildung (d. h. von Grammatik und Rhetorik) her kommenden kirchlichen Schriftsteller. 182

Die beiden Positionen, die Krewitt als „Allegorismus“ und „Symbolismus“ bezeichnet, „durchdringen sich“ in der Praxis „ je nach ihrer literarischen oder schulmäßigen Abhängigkeit mehr oder weniger stark“. 183 Die Durchdringung beider 175 Ebd., S. 100f. 176 Ebd., S. 101. 177 G, Hans Hermann (1937): Literarästhetik des europäischen Mittelalters: Wolfram, Rosenroman, Chaucer, Dante. Bochum-Langendreer: Poeppinghaus, S. 122. Vgl. K (1971), S. 101. 178 K (1971), S. 101. 179 Vgl. ebd. 180 Ebd., S. 99. 181 Ebd., S. 100. 182 Ebd. 183 Ebd., S. 101.

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Positionen ist auch bedingt durch die Abhängigkeit biblischer Auslegung von vorhergehenden Exegesepraktiken. Neben Rhetorik und Grammatik hatte sich im Anschluß an die Homerkritik schon früh die Allegorese herausgebildet, die auf dem Hintergrund des neuen Weltverständnisses die Mythologie umzudeuten suchte. Besonders die Stoa hat dieses hermeneutische Verfahren entwickelt, das durch Vermittlung des hellenistischen Judentums auf das Alte Testament übertragen, schließlich in die christlichen Theologenschulen, besonders Alexandria, übergegangen ist. Neben Alexandria, wo mit Vorrang die allegorisch-mystische Interpretation gepflegt wurde, ging es der Schule von Antiochia mehr um eine grammatisch-historische Erklärung der Hl. Schrift. 184

Kleinschmidt sieht die antike Rhetorik durch die Patristik hermeneutisch auf die Bibel umgesetzt und damit die „kommunikative Funktion der Allegorie grundlegend“ erweitert. „Ihr Grundcharakter als Stilfigur wird zurückgedrängt. Sie rückt in die Rolle eines auf Textgestaltung und -verständnis insgesamt übergreifenden modus dicendi ein“. 185 In der „Übernahme allegorischer Darstellungsformen“ in der volkssprachlichen Dichtung des 13. Jahrhunderts sieht Kleinschmidt einen „emanzipatorische[n] Prozeß [. . . ], der auf Aneignung des kirchlich verwalteten Bildungsprimats durch Übernahme der einschlägigen Ausdrucksweisen hinauslief“. 186 Die Allegorie wird aus der rhetorischen Praxis in christlicher Tradition aufgewertet und erneut für den Bereich der Profanliteratur fruchtbar gemacht. Die „Allegorese [. . . ] war zur ‚maßgebenden Methode der Auslegung‘ [Curtius 442] für nichtchristliche wie christliche Literatur geworden“. 187 In Hieronymus verbindet sich die grammatisch-rhetorische Sprachlehre der antiken Schultradition mit den Erkenntnissen und Auffassungen der frühchristlichen Bibelhermeneutik, wie sie im wesentlichen die Kirchenväter des Ostens vorgebildet hatten. Die biblische Theologie hat im Westen von Hieronymus an die Artes, und von ihnen natürlich besonders Grammatik und Rhetorik, wie zu sehen war, in den Dienst der Bibelauslegung gestellt; dasselbe gilt für Augustinus, den bedeutendsten der lateinischen Kirchenväter, und Cassiodor, Isidor, Beda und viele andere sind ihnen darin gefolgt. Nicht zuletzt durch diesen Umstand ist auch die Lehre von den Tropen, vor allem die Auffassung der Allegorie, lebendig erhalten und weiter gepflegt worden. 188

184 185 186 187 188

Ebd., S. 99. K (1979), S. 388 f. Ebd., S. 389. K (1971), S. 101. Ebd., S. 109.

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2.1.4 Gottes Wort und das Wort des Poeten Neben der wechselseitigen Durchdringung der Termini für übertragene Rede in Bibel und Profanliteratur hat es Bestrebungen gegeben, beide Bereiche auch begrifflich voneinander zu trennen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung Augustins in allegoria in verbis und allegoria in facto verwiesen. Im Alten Testament heißt es von Abraham, dass er zwei Söhne hat, Ismael von der Magd Hagar und Isaak von der Freien Sara (Gen 16,1–21,21). Im Galaterbrief 4,24 nimmt der Apostel Paulus dies auf und bemerkt, die Geburt der Söhne bedeute „per allegoriam dicta“ die beiden Testamente: scriptum est enim quoniam Abraham duos filios habuit unum de ancilla et unum de libera / sed qui de ancilla secundum carnem natus est qui autem de libera per repromissionem / quae sunt per allegoriam dicta haec enim sunt duo testamenta unum quidem a monte Sina in servitutem generans quae est Agar /Sina enim mons est in Arabia qui coniunctus est ei quae nunc est Hierusalem et servit cum filiis eius / illa autem quae sursum est Hierusalem libera est quae est mater nostra (Gal 4,22–26).

Augustin, der wie seine Zeitgenossen rhetorisch gebildet ist, erkennt in dem, was Paulus allegoria nennt 189, das rhetorische Verständnis des Begriffes nicht wieder und sieht sich veranlasst, eine Unterscheidung zu treffen: sed ubi allegoriam nominavit Apostulos non in verbis eam reperit, sed in facto, cum e duobus filiis Abrahae, uno de acilla, altero de libera quod non dictum sed etiam factum fuit, duo Testamenta intelligenda monstravit. (Augustinus, De Trinitate, 15, 9, 15 (PL 42, Sp. 1069)) 190

Zum „Ausgangspunkt für die patristische Exegese“ wurde somit das „nach dem Urteil der Kirchenväter höchst eigenwillige Allegorieverständnis des Paulus, das sich zur Allegoriedefinition der Rhetorik querstellt“. 191 Kurz macht darauf aufmerksam, dass schon Augustin darauf verweise, dass er allein aus Zeitmangel die allegoria in factis nicht als eine allegoria in verbis ausgedrückt habe. Beide würden als signa translata behandelt, und es gebe letztlich 189 Im Übrigen ist dies die einzige Nennung des Begriffes allegoria in der Bibel. Vgl. K (1971), S. 105. 190 Vgl. ebd., S. 134, 164. 191 T, Bernhard (2000): Der verschwiegene Name – Hohelieddichtung, exegetischer Kommentar und Mystagogik bei San Juan de la Cruz im Kontext der spanischen Renaissance. In: Haug; Schneider-Lastin (Hrsg.): Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte: Kolloquium, Kloster Fischingen 1998. Tübingen: Niemeyer, S. 773–800, S. 785. Im Folgenden zitiert als T (2000).

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„keinen hermeneutischen Unterschied zwischen der Allegorie der Poeten und der der Theologen“. 192 Beda entwickelt dann die Unterscheidung Augustins weiter: Die Allegorie kann in Erscheinung treten aliquando factis (Gal 4,24), aliquando verbis (solummodo): virga de radice Jesse (Is 11,1), aliquando factis simul et verbis una eademque res allegorice significatur. Das heißt, ein und dasselbe Phänomen kann an verschiedenen Stellen einmal Ding-Allegorie, einmal Wort-Allegorie sein. 193 Beide Arten der Allegorie können „figürlich“ verschiedene Bedeutungsweisen besitzen. Die allegoria operis (facti resp. historiae) setzt als tatsächlich geschehen angenommene Wirklichkeiten der Geschichte voraus, die allegoria verbi ist als bildliche Fiktion in bloß verbaler Existenz der Literatur verstanden. 194

Hier erscheint also als ausschlaggebender Unterschied der beiden Arten der Allegorie der Status des Literalsinnes. Bei Bernhardus Silvestris findet sich dieser Gedanke ebenfalls; er bringt die Gegenüberstellung von fabula und argumentum in Verbindung mit der Trennung von allegoria und integumentum: Figura . . . est oratio quam involucrum dicere solent. Hec autem bipartita est: partimur namque eam in allegoriam et integumentum. Est autem allegoria oratio sub historica narratione verum et ab exteriori diversum involvens intellectum, ut de lucta Iacob (Gen 33,24–30). Integumentum vero est oratio sub fabulosa narratione verum claudens intellectum, ut de Orpheo. Nam et ibi historia et hic fabula misterium habent occultum, quod alias discutiendum erit. Allegoria quidem divine pagine, integumentum vero philosophice competit. 195

Im 12. Jahrhundert war es wichtig geworden, den Wahrheitswert der Antike von einem christlichen Standpunkt aus zu begründen. 196 Im Rahmen dieser Reflexion werden die Begriffe involucrum und integumentum zu wirklichen Termini. 197 Antike Aussagen sollten als übertragen verstanden werden, weil es wichtig war zu 192 Diskussionsbericht von Vollmann-Profe zum ersten Tag des Wolfenbütteler Symposiums in H (1979): Formen und Funktionen der Allegorie, S. 167–181, hier S. 167. Im Folgenden zitiert als V-P (1979). 193 Gegen Gn 37,28 (Verkauf Josefs: Ding-Allegorie) steht Mt 27,9 (Preis für den Verrat Jesu: Wort-Allegorie); ebenso 1 Rg 16,12 sq. (David rufus et pulcher aspectu) gegen Cant 5,10 (dilectus meus candidus et rubicundus). 194 K (1971), S. 164. 195 Bernhardus Silvestris in einem Kommentar zu Martianus Capella. Proben dieses Kommentares bei Jeauneau, Edouard: Notice sur l’école de Chartres. In: Studi Medievali, 3a serie, V, 2, 1964, S. 1–45. Vgl. B (1980), S. 169. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch die Meinung von Kurz im Diskussionsbericht von Vollmann-Profe (1979), S. 167. 196 Vgl. B (1971), S. 320. Solche Begründungen des Wahrheitswertes der Antike von einem christlichen Standpunkt aus findet man z. B. bei Abaelard und der Schule von Chartres (vgl. ebd.). 197 Ebd., S. 320.

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zeigen, dass die antiken Philosophen einer christlichen Lehre nicht widersprachen. Die Philosophen hätten wie die alttestamentarischen Propheten „verhüllt gesprochen, um Geheimnisse wie Gott oder die Unsterblichkeit der Seele nicht zu profanieren“. 198 Der Systematik des Bernhard zufolge ist figura ein Oberbegriff für verhüllte Wahrheit (involucrum), den sowohl die Heilige Schrift als auch die antiken Schriften aufweisen. „In der Heiligen Schrift [. . . ] wird die gemeinte Wahrheit in wirkliches Geschehen (sub historica narratione) gehüllt, in der antiken Mythologie dagegen in eine fiktive oder fiktionshaltige Erzählung (sub narratione fabulosa)“. 199 Der Begriff der Allegorie gilt allein für die Heilige Schrift und nicht für profane Literatur. 200 Der Unterschied von allegoria und integumentum ist die Tatsache, dass bei der allegoria eine res eine zweite Bedeutung haben kann. 201 „[E]inen Zweitsinn dieser Art kennt die (‚weltliche‘) Literatur nicht. Ihr Zweitsinn (‚sensus secundus‘) kommt dadurch zustande, daß das Gesagte seine Wahrheit durch den Bezug auf ein anderes empfängt; er verbleibt aber im Rahmen des ‚sensus litteralis‘“. 202 Die Scholastik benutzt den Begriff der Parabel (parabolischer Sinn), um „Aussagen der Literatur, die einen Zweitsinn enthalten, von dem allegorischen Zweitsinn der heiligen Schrift zu unterscheiden“. 203 Die Unterscheidung der Begriffe wird jedoch

198 B (1980), S. 177. 199 Ebd., S. 170. 200 Vgl. ebd., S. 170. Auch bei „Johannes von Garlandia handelt es sich bei der ‚allegoria‘ um eine Wahrheit, die in eine (wirkliche) Geschichte gekleidet ist (‚veritas in versibus historiae palliata‘), beim ‚integumentum‘ (verhüllender Sageweise weltlicher Dichtung) um eine Wahrheit, die in eine Erfindung gekleidet ist (‚veritas in specie fabulae palliata‘)“ (Johannes von Garlandia: Poetria. Herausgegeben von G. Mari (Romanische Forschungen XIII, 1902, S. 883ff., hier S. 928. Vgl. B (1971), S. 318). 201 Vgl. B (1971), S. 318. 202 Ebd. 203 Ebd.; so auch Thomas von Aquin: Dieser „sagt in seiner Summa theologica ausdrücklich vom ‚sensus parabolicus‘ (Pars prima, quaestio I, art. 10): ‚. . . sensus parabolicus sub litterati continetur: nam per voces significatur aliquid proprie, et aliquid figurative, nec est litteralis sensus ipsa figura, sed id quod est figuratum.‘ (Thomas von Aquin: Summa theologiae. Cura et studio sac. Petri Caramello sacrae theologiae et philosophiae doctoris. Cum textu ex recensione leonina. Herausgegeben von Laurentius Oddone. Marietti 1820 (1952), S. 9). Der parabolische Sinn als Zweitsinn bedeutet eine figürliche Sprechweise, die im Bereich der Sprache und der natürlichen Erkenntnis verharrt. Er stellt eine Ergänzungsform, keine Ersatzform (im Sinne der biblischen Allegorie) dar. Danach sollte nach der Auffassung des Mittelalters der Begriff ‚Allegorie‘ bzw. ‚allegorisch‘ nichtreligiöser Literatur ferngehalten und durch den Begriff ‚parabolisch‘ ersetzt werden“. (B (1971), S. 318).

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nicht konsequent verfolgt. Gerade integumentum und allegoria werden nicht einheitlich verwendet, sie können z. T. synonym verstanden werden. 204 Die Definition von integumentum und allegoria mit Hilfe der Unterscheidung von fabula und historia ist zu finden in den Integumenti Ovidii des Johannes von Garlandia: Est sermo fictus tibi fabula vel quia celat, Vel quia delectat, vel quod utrumque facit. Res est historia magnatibus ordine gesta Scriptaque venturis commemoranda viris. Clauditur historico sermo velamine verus, Ad populi mores allegoria tibi. Fabula voce tenus tibi palliat integumentum, Clause doctrine res tibi vera latet. 205

Eine „prinzipielle Unterscheidung“ wird hier, wie Meier konstatiert, „weder zwischen fabula und historia, noch zwischen allegoria und integumentum getroffen“. 206 Quer zu der Unterscheidung von biblischer und poetischer Allegorie (bzw. Allegorie und Integumentum) auf der Grundlage des Status des Literalsinns, wie sie besonders bei Bernhardus Silvestris zum Ausdruck kommt, stellt sich die Auslegung des Hoheliedes. Seit alters her weisen ja sämtliche patristische Kommentatoren die als häretische verurteilte Auffassung des Theodor von Mopsuestia zurück, dem Hohelied liege eine buchstäbliche historia im Sinne einer wirklich geschehenen Liebesgeschichte zwischen Salomon und einer ägyptischen Königstochter zugrunde, und es müsse darum aus dem Kanon der biblischen Schriften ausgeschlossen werden. In der orthodoxen Auslegung von Juden wie Christen wird vielmehr die littera, der buchstäbliche Text, stets als eine reine Fiktion betrachtet, die ohne historischen Wahrheitsanspruch sei und nur auf einen übertragen gemeinten sensus spiritualis zu verweisen habe. Hieraus geht hervor, daß die Allegorie im Hohelied von besonderer Art ist und keineswegs gleichgesetzt werden darf mit jenem Allegoriebegriff, wie man ihn den geschichtlichen Büchern der Bibel zuschrieb und wie er vor allem von der antiochenischen Theologenschule in Auseinandersetzung mit Origenes und den Alexandrinern entwickelt worden war. 207

204 M (1976), S. 20; Walter Blank meint, „‚Allegorie‘ [sei] im Mittelalter der Oberbegriff für alles, was geistige Auslegung sowie uneigentliche Redeweise umfaßt [sic!]“ (B (1970), S. 39.). Vgl. M (1976), S. 23. 205 Giovanni di Garlandia, Integumentua Ovidii. Poemetto inedito del secolo XIII, hrsg. von Fausto Ghisalberti (Testi e documenti inediti o rari 2) Messina – Milano: Casa Editrice Giuseppe Principato 1933, S. 39 f. (Verse 55 ff.). Vgl. M (1976), S. 12, B (1980), S. 178. 206 M (1976), S. 12. 207 T (2000), S. 784 f.

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Die oben vorgestellte Unterscheidung in allegoria in facto und allegoria in verbis wird auch aufgegriffen von Dante, der im Brief an Cangrande unterscheidet in allegoria dei poeti und allegoria dei theologi. Auf der einen Seite definiert er, dass die Anwendung des vierfachen Schriftsinnes allein auf die allegoria dei theologi anwendbar sei, erwägt aber auf der anderen Seite eine vierfache Lesart seines eigenen Werkes, zumindest des „Paradiso“. 208 In der Forschung wird versucht, die Unterscheidung von poetischer und theologischer Allegorie zu erfassen als den Unterschied von Metapher und Allegorie: Die patristische exegetische Theorie unterscheidet zwischen der allegoria in factis, damit ist die typologische Allegorie gemeint, und der allegoria in verbis, damit ist die Allegorie der Poeten gemeint. Hier ändert sich die Bedeutung, in der allegoria in factis bleibt sie erhalten. Überblickt man die – durchaus nicht einheitlichen – Bestimmungen, dann kann man diese Unterscheidung reformulieren. Die allegoria in factis bezieht zwei Ereignisse („factis“) der Heilsgeschichte aufeinander. Text (Typus) und Praetext (Antitypus) stehen in einem typologischen Verhältnis zueinander. Sie stehen in einem von Gott gewollten Erfüllungsverhältnis. Die allegoria in verbis entspricht der Metapher. Bildspender und Bildempfänger stehen nicht in einem notwendigen Verhältnis, sondern werden aufeinander bezogen kraft der Imagination. 209

208 Vgl. – in kritischer Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Dante-Forschung – L, Otfried (1999): Allegorese und Philologie. Überlegungen zum Problem des mehrfachen Schriftsinns in Dantes „Commedia“. Stuttgart: F. Steiner Verlag (Text und Kontext, 14), S. 1–19, bes. S. 12–14 und die dort aufgeführten Fußnoten. Textausgaben des Briefes sind herausgegeben worden von Cecchini (Italienisch) oder Rickling (Lateinisch – Deutsch): Dante Alighieri: Das Schreiben an Cangrande della Scalla: lateinisch – deutsch. Herausgegeben von Thomas Ricklin. Hamburg: Meiner 1993; Dante Alighieri: Epistola a Cangrande. Herausgegeben von Enzo Cecchini. Florenz: Giunti 1995. Vgl. auch L, Manfred (1985): Zur Konzeption der Allegorie in Dantes Convivio und im Brief an Cangrande della Scala. In: Baum; Hirdt (Hrsg.): Dante Alighieri. In memoriam Hermann Gmelin. Tübingen, S. 169–190, bes. 180–188. Siehe auch S, Silvia (2014): Stimmen aus dem Jenseits. Prophetie und Autorschaft im Zuge fortschreitender aemulatio. In: Meier; Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung. Berlin: Akademie-Verlag, S. 207–226. Siehe auch S, Gisela (2009): Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit. Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen. Berlin: Duncker und Humblot, S. 194 ff. 209 K (2004), S. 47. Vgl. exemplarisch auch die oben zitierten Unterscheidungen von Metapher und Allegorie von Kurz und Egerding mit Singletons Unterscheidung in theologische Allegorie als „allegory of this and that“ und poetische Allegorie als „allegory of this for that“ (Singleton, Charles S. (1954): Two Kinds of Allegory. In: ders. (Hrsg.): Dante Studies. Bd. 1: Commedia. Elements of Structure. 2 Bde. Cambridge: Harvard University Press, S. 84–98, hier S. 89). Im Folgenden zitiert als S (1954).

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Die vorgestellten dichotomen Paare werden damit in eins gesetzt. 210 Im Folgenden soll näher auf die angesprochene Gegenüberstellung von fabula und historia – ergänzt durch das argumentum – eingegangen werden.

Exkurs: Integumentum im Kontext von historia, fabula und argumentum Peter Abaelard schreibt in der Theologica christiana (PL 178, Sp. 1113–1328), dass „die antiken Philosophen, wie die Propheten des alten Bundes, christliche Wahrheiten ausgesprochen haben, als Geheimnis in das Gewand eines ‚involucrum‘ gehüllt“. 211 Wilhelm von Conches spricht „in seinen Erklärungen zu Juvenal, zur Consolatio philosophiae des Boethius und zu Platos Timaeus von ‚integumentum‘ als Darstellungesweise der Antike“. 212 Beide Traditionen vereinen sich bei Bernhardus Silvestris [. . . ]. Er definiert „integumentum“ als eine Darstellungsweise, die in einer erfundenen Geschichte einen wahren Sinn verhüllt (Riedel, S. 3): „Integumentum est genus demonstrationis sub fabulosa narratione veritatis involvens intellectum, unde et involucrum dicitur“. 213

Die fabulosa narratione verweist auf die „Quelle seiner Auffassung“ 214: Macrobius. In seinem Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis war Macrobius auf die Frage eingegangen, ob es den Philosophen als Vertretern der Wahrheit gestattet sei, Fabeln zu verwenden (I,2). Damit gab er den Überlegungen über Wahrheit und Erfindung einen lange wirkenden Anstoß [. . . ]. Die antike Rhetorik unterschied bei einer Erzählung („narratio“) drei Möglichkeiten: 1. „fabula“, 2. „historia“, 3. „argumentum“ (Auctor ad Herennium I 7, 13; Cicero, De inventione I 19, 27). Eine „fabula“ ist eine reine Erfindung, die weder wahren noch der Wahrheit ähnlichen Inhalt hat. [. . . ] „Historia“ ist ein Geschehen aus der Vergangenheit [. . . ]. „Argumentum“ ist eine Geschichte, die zwar erfunden ist, aber hätte geschehen können und darin einer wahren Geschichte ähnlich ist. [. . . ] Die Unterscheidung zwischen „fabula“, „historia“ und

210 Dabei wird im Übrigen unterschlagen, dass auch der Kern der allegoria in factis, nämlich die Typologie, schon früh Einzug in den Bereich außerhalb der Bibel erhalten hat. Vgl. dazu etwa die Dreiteilung in biblische, halbbiblische und außerbiblische Typologie bei O (1977), S. 330. Vgl. auch Weddige (2008), S. 81 ff., bes. S. 83. 211 B (1971), S. 321. 212 Ebd. 213 Ebd., S. 321. Zitiert wird hier aus R, Wilhelm (1924): Commentum super sex libros Eneidos Virgilii. Dissertation, Greifswald, S. 3. Im Folgenden zitiert als R (1924). 214 E, S. 322.

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„argumentum“ wird im Mittelalter überall da wiederholt, wo es auf die Unterscheidung zwischen Erfindung und Wahrheit ankommt. 215

In dem Somnium Scipionis I, 2, 17 sagt Macrobius, dass die Philosophen wüssten, dass die Natur eine Entblößung ihrer selbst hasse: „[G]enau so wie sie sich vor der Betrachtung roher Menschen bewahrt, indem sie sich in bunte Gewänder hüllt, gerade so wünscht sie, daß verständige Menschen ihre Geheimnisse nur in der Form von Fabeln besprechen“. 216 Die Frage, ob die lateinische integumentumTheorie Verbindungen zu den volkssprachigen âventiure-Romanen aufweist 217, ist in der Forschung breit diskutiert worden. Die Diskussion entfaltet sich v. a. an den Versen 1079–1162 des „Welschen Gastes“ von Thomasin von Zerklaere. 218 In der Debatte zwischen Huber und Knapp 219 geht es um die Frage, ob die âventiureRomane zwei Bedeutungsschichten aufweisen und so nützlich sein können sowohl für „ein kint“ (wG 1080) als auch für solche, „die ze sinne komen sint“ (wG 1081). Angelpunkt der Diskussion ist das Verständnis von „aventiure mære“ (wG 1115). Huber versteht darunter die „Oberfläche des erzählten Handlungsverlaufs“. 220 Nur an dieser soll der zu Verstand gekommene Leser nicht den Tag vergeuden (vgl. wG 1114). „Das vürbaz verstên (v. 1113, vgl. 1091) fordert so nicht unbedingt einen anderen Text“. 221 215 E, S. 322; im Mittelalter hat v. a. Isidor von Sevilla dieser Dreigliederung Geltung verschafft. Vgl. Haug, Walter: Die Poetologie der vulgärsprachlichen Dichtung des 12. Jahrhunderts. In: Wolfram-Studien 16 (2000), S. 70–83, hier S. 72. Im Folgenden zitiert als H (2000). Vgl. hierzu auch die Poetiken des 13. Jahrhunderts, in denen die Trias historia, fabula, argumentum thematisiert wird, etwa Johannes von Garlandia, Parisiana Poetria (vgl. K (1980), S. 155 f.). 216 D, Peter (1975): Eine Theorie über fabula und imago im 12. Jahrhundert. In: Fromm et al.(Hrsg.): Verbum et Signum. Bd. 2. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zur Semantik und Sinntradition im Mittelalter. München: Fink, S. 161–176, hier S. 170. 217 Die Debatte leitet dabei über in die Fiktionalitätsdebatte. Diese wird hier nicht weiter skizziert, da sie nicht im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht. 218 Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. v. H. Rückert, Neudruck. de Gruyter: Berlin 1965. Zitiert im Fließtext als wG. 219 Siehe dazu exemplarisch Huber, Christoph: Höfischer Roman als Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere. In: ZfdA 115 (1986), S. 79–100. Im Folgenden zitiert als H (1986); Huber, Christoph: Zur mittelalterlichen Roman-Hermeneutik: Noch einmal Thomasin von Zerklaere und das Integumentum. In: Volker Honemann et al. (Hrsg.): German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Festschrift Roy Wisbey. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 27–38; Knapp, Fritz Peter: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und eine Nachwort. Heidelberg: Winter 1997 (besonders S. 65–74). Im Folgenden zitiert als K (1997). 220 H (1986), S. 92. 221 Ebd.

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die âventiure sint gekleit dicke mit lüge harte schône: diu lüge ist ir gezierde krône. ich schilt die âventiure niht von der âventiure rât, wan si bezeichenunge hât der zuht unde der wârheit: daz wâr man mit lüge kleit.

(wG 1118–1126)

Nach Huber entspricht die âventiure mære der lüge, die die âventiure, der die wârheit entspricht, kleidet. Somit ist mit der komprimierten Darstellung der „wesentlichen Komponenten des Integumentum“ 222 in Vers 1126 der höfische Roman als Integumentum charakterisiert. Thomasin umschreibt nun den Inhalt eines integumentalen âventiure-Verstehens gleich dreimal. Zunächst verlangt er von einem gebildeten Erwachsenen: er sol volgen (1) der zuht lêre und sinne unde wârheit (v. 1116 f.). Eben dies kann er in einer vertieften âventiure-Lektüre finden, wan sie bezeichenunge hât (2) der zuht unde der wârheit (v. 1124 f.). Und weiter: sint die âventiur niht wâr, si bezeichnen doch vil dar (3) waz ein ieglîch man tuon sol der nâch vrümkeit wil leben wol (v. 1131–34). 223

Knapp widerspricht Huber. Zum einen konstatiert er, dass das von Huber veranschlagte Verständnis von mære im Satz „ist er lügenære, / sô sint danne sîniu mære / gar ungenæme“ (wG 1157–1159) eine Tautologie erzeuge. Zum anderen macht er „unaufhebbare Widersprüche in Thomasins Argumentation“ aus, wenn man von zwei Möglichkeiten der Rezeption ausgehe (einer oberflächlichen und einer vertieften). 224 Diese Widersprüche könnten beseitigt werden, wenn man Hubers Zweischichtenmodell aufgibt und statt dessen die beiden von Thomasin streng getrennten, von Huber aber dennoch zusammengeworfenen Begriffe auseinanderhält: (1) der zuht lêre und sinne unde wârheit und (2) die bezeichenunge der zuht unde der wârheit, d. h. also veritas und significatio veritatis. Ihnen entsprechen eben doch verschiedene Texte. 225

Eine wichtige Reflexion des Wahrheitsbegriffs liefert Haug: Seit dem Beginn der Reflexion über Wahrheit bei Platon und Aristoteles sei eine „fundamentale Unklarheit“ 226 festzustellen. Es werde mit einem „doppelten Wahrheitsbegriff gearbeitet“ 227. Der Terminus Wahrheit kann erstens auf das „Faktische im Hinblick darauf 222 223 224 225 226 227

Ebd. Ebd., S. 94. Vgl. K (1997), S. 72 f. E, S. 73. H (2000), S. 72. Ebd.

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bezogen [sein], wie es dargeboten wird. Hier meint Wahrheit also die Übereinstimmung zwischen dem Wort und dem, was tatsächlich ist oder sich ereignet hat. Der Gegenbegriff ist die Lüge“. 228 Zweitens „meint Wahrheit den Sinn, den die Darstellung vermittelt. Das Faktische ist an sich ja sinnlos, es gewinnt seine Wahrheit oder eine Wahrheit erst in der deutenden Darstellung. Hier ist der Gegenbegriff das Zufällige, das Zusammenhanglose, das Sinnwidrige“. 229 Weder in der antiken noch in der darauf basierenden mittelalterlichen Dichtungstheorie werde die Differenz dieser beiden Wahrheitsbegriffe beachtet. „Wenn man von der Wahrheit des Historisch-Faktischen spricht, so wird nicht bedacht, daß damit eine andere Wahrheit gemeint ist als jene, die in der Vermittlung eines Sinns besteht“. 230

2.1.5 Göttliche Setzung oder exegetische Willkür: Die Allegorie zwischen Erstarrung und Ausuferung Dass die Allegorie immer wieder neu bewertet worden ist und einem ausgeprägten historischen Begriffswandel unterliegt, ist hinlänglich bekannt. Angesichts des vergleichsweise langen Zeitraumes, der zwischen der Entstehung des untersuchten Textes (vermutlich 1314) und der Interpretation (heute) liegt, gilt es offenzulegen, welche Implikationen das begriffliche Instrumentarium hat, mit dessen Hilfe der Text untersucht wird. Bei dem Begriff Allegorie ist das besonders spannungsreich, da unter ihm Heterogenes, bisweilen Widersprüchliches verstanden worden ist. Besonders ist die Dichotomie von Erstarrung und Ausuferung, die Einzug gehalten hat in das Begriffsverständnis der „Allegorie“, zentral für die in dieser Arbeit verfolgten Frage nach Reflexen schöpferischen Bewusstseins. Soll die „Allegorie“ als Parameter für die Beurteilung dieser Frage herangezogen werden, so muss zunächst offengelegt werden, was die Allegorie ausmacht. Ohne hier alle verschiedenen Strömungen des Verständnisses und der Bewertung der Allegorie über die Jahrhunderte hinweg im Detail darlegen zu wollen, 231 seien doch wichtige Wegmarken skizziert. Es soll nicht darum gehen, aus der Vielzahl der Begriffsverständnisse ein einziges herauszugreifen und dieses zur Interpretationsgrundlage für den Text zu erklären. Vielmehr soll ein Abgleich dieser Verständnisse mit den Ergebnissen einer textnahen Interpretation fruchtbar gemacht werden. Auf der einen Seite soll verhindert werden, dass ein einseitig gefärbtes Allegorieverständnis Ergebnisse vorweg 228 229 230 231

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. dazu exemplarisch F (1992), Sp. 330–393; Haug, Walter (Hrsg.) (1979): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion, Wolfenbüttel, [7. bis 10. September] 1978. Stuttgart: Metzler; die Texte Meiers aus den 1970er Jahren; vgl. auch Haselstein, Ulla (Hrsg.): Allegorie. DFG-Symposium 2014. Berlin, Boston: De Gruyter 2016.

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ausschließt. Auf der anderen Seite ist darauf zu achten, historisch adäquat zu analysieren. 232 Historische Fehlschlüsse sollen dadurch verhindert werden, dass zum einen für Ansätze, von denen angenommen wird, dass sie sich als zielführend für die Interpretation mittelalterlicher übertragener Rede erweisen, Analoga im zeitgenössischen Verstehenshorizont aufgezeigt werden. Zum anderen verhindert die bereits erwähnte textnahe Interpretation solche Fehlschlüsse. Überblickt man die Begriffsgeschichte des Begriffes „Allegorie“, so fällt auf, dass häufig zwei verschiedene Verstehensweisen als zwei Pole einander gegenübergestellt werden. Entweder wird dabei die Allegorie als ein Pol einem alternativen Begriff (z. B. der Metapher, dem Symbol) 233 entgegengesetzt oder es werden zwei verschiedene Arten der Allegorie einander gegenübergestellt. Augustinus unterscheidet die allegoria in verbis von der allegoria in factis, Bernhardus Silvestris die biblische Allegorie von dem profanen Integumentum, Dante differenziert in Allegorie der Poeten und göttliche Allegorie, vermischt die Bereiche jedoch, wenn er im Brief an Cangrande eine Lesart seines Werkes nach dem vierfachen Schriftsinn erwägt, 234 wenig später setzt Boccacio Dantes Allegorie der theologischen Allegorie gleich. 235 Eine Wendung erfährt der vierfache Schriftsinn bei Luther. Für ihn, der den bekannten Merkvers zum vierfachen Schriftsinn als „Maxime vermessener Sophisten“ ansieht, besteht „der einfache, eindeutige Schriftsinn, den die Allegorie nach Gottes Willen im zeichenhaften Geschehen wunderbar erneuerte, neben dem er Sinnvielfalt nicht duldete“ im Faktum Christi und im Glauben an ihn. 236 In Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey ist die Darstellung der Figurenlehre und damit der Allegorie ausgelassen. 237 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind Erörterungen der Allegorie da präziser, wo sie „in manchen Poetiken nicht mehr unter elokutionellem Aspekt, sondern im Rahmen der Inventionslehre behandelt“ wird. 238 So trennt Roth „die allegorische von topischer Invention“ und sieht in der allegorischen eine „besonders poetische Art, Materie und Thema gedanklich zu erarbeiten“. 239 Mehrere Differenzierungen der Allegorie veranschlagt Weise. Er unterscheidet die freie, ganz vom Willen des Sprechers abhängende Allegorie von der fest gebundenen, die einem vorgegebenen Bild folgte, die ad hoc zum Gegenstand erfundene ‚Allegoria prima‘ und die für einen anderen Gegenstand erfundene ‚secunda‘ sowie

232 233 234 235 236 237 238 239

Zur historischen Adäquatheit siehe Darstellungspunkt 2.1.6, S. 205 ff. Haselstein (2016). Vgl. hierzu Darstellungspunkt 2.1.4, S. 187 ff. Vgl. F (1992), Sp. 349. Ebd., Sp. 353 f. Ebd., Sp. 365. Ebd. Ebd.

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die ‚Allegoria simplex‘, die nur eine Sache anspräche, und die ‚composita‘, die verschiedene Signifikanten verbände 240.

Winckelmann unterscheidet „eine höhere“, in der „ein geheimer Sinn“ liegt, von einer „gemeineren“ Allegorie, zu der „Bilder von bekannterer Bedeutung“ zählen. 241 Die Allegorie ist für Herder ein neu verstandenes Kriterium allen Dichtens und Name für die ihm unüberwindliche Divergenz des poetisch beschriebenen Phantasiebilds und der Sache, die es darstellt. 242 Schlegel sieht in ihr alle Poesie, Kunst und alles Schöne vereint, „weil sie wie Religion und Philosophie das Unendliche zum Gegenstand haben“. 243 Goethe hingegen ist der Allegorie gegenüber negativ eingestellt. Bekanntlich hat er sie zu Gunsten des Symbols abgelehnt: Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben anzusprechen sei. Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. (Goethe, Maximen und Reflexionen 1112 f.) 244

Diese Definition prägt mitunter bis heute die Einschätzung der Allegorie, die fortan bisweilen als ästhetisch minderwertig gilt. Gegenüber dem Postulat eines ästhetisch autonomen, intransitiven Kunstwerks wurde die Allegorie als eine heteronome, subalterne Zweckform verworfen: sie hat ihren Zweck nicht in sich, sondern außer sich. Die innere Zweckmäßigkeit des Kunstwerks wurde gedacht nach dem Modell organischer Einheiten. Die Allegorie erschien dagegen als mechanisch, starr, leblos, „frostig“ (Hegel). 245

Cramer argumentiert mit ebendiesem Allegorieverständnis, wenn er konstatiert, im WvÖ werde „die Welt des Abenteuers, jener Bereich, in dem der schöpferische Autor Welt entwerfen könnte, grundsätzlich zur Allegorie erklärt und damit seiner Autonomie beraubt“. Er meint, die „Liste der literarischen Weltentwürfe, die sich 240 Ebd., Sp. 367. 241 W, J. J. (1756; ND 1962): Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Stuttgart: Göschen, S. 140. Vgl. F (1992), Sp. 373. 242 Vgl. ebd., Sp. 375. 243 Ebd., Sp. 376. 244 Goethe: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur Literatur II: Aufsätze zur Weltliteratur. Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Siegfried Seidel. Berlin und Weimar: Aufbau 1972, S. 638 (Berliner Ausgabe). 245 K (2004), S. 56 f.

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an die Allegorie binden, ließe sich fast beliebig vermehren“, das utopische Denken sei an die Allegorie gebunden, worin sich die „widersprüchliche Situation der Autoren“ zeige: 246 [S]eit der Mitte des 12. Jahrhunderts ist die Theonomie des Weltbildes soweit relativiert, daß sich potentielle Freiräume für schöpferische Autonomie öffnen. Die Erfahrung dieser Relativität ist jedoch nicht stark genug, daß die Autoren die damit verbundene potentielle Gottähnlichkeit akzeptieren könnten. 247

Der einzige Bereich, in dem die Autoren „Schöpfertum [. . . ] entfalten“ können, „ohne in unmittelbare Kollision mit der dinglichen Schöpfung zu geraten“, sei die Sprache. 248 Cramer sieht die „Bindung“ an die Allegorie also als Gegensatz zu den Begriffen „Autonomie“, „Gottähnlichkeit“ und „Schöpfertum“. Dagegen lässt sich feststellen, dass das rhetorische Allegorieverständnis durch christliches Denken angereichert wird, und möglicherweise erst durch diese Kombination – Rhetorik verbunden mit genetischem Schöpfungsglauben – das Bewusstsein der Autoren entstehen kann, Schöpfer zu sein. Bei Bernhardi wird, was Goethe in Allegorie und Symbol getrennt hat, wieder zusammengeführt. „Sein Allegoriebegriff teilte das Moment der Vernünftigkeit mit dem Goethes, das Universale, ewig Menschliche jedoch mit dessen Symbolbegriff; Bernhardi zog die Termini wieder zusammen und beließ der Allegorie zudem etwas von ihrer rhetorischen Kontur“. 249 Hegel nennt die „bloße“ Allegorie „frostig und kahl“, 250 würdigt jedoch in seiner späteren Religionsphilosophie „die Gott vorstellende Bildrede und damit die Allegorie [. . . ] als des göttlichen Geistes gänzliche, natürliche und begriffsmäßige Offenbarung in freilich unangemessener, uneigentlich sinnengebundener Form“. 251 Nietzsche übernimmt in seiner Vorlesung über antike Rhetorik (1872/73) den Allegoriebegriff nach Cicero und Quintilian, 252 beleuchtet in der Morgenröte jedoch kritisch die allegoria in facto aus rezeptionsästhetischer Sicht und verurteilt die exegetische Praxis, also die Allegorese biblischer Texte durch die Philologie des Christentums. 253 Pongs kennt verschiedene Allego246 C (1986), S. 268. Vgl. auch C, Thomas (1983): Aspekte des höfischen Romans im 14. Jahrhundert. In: Haug et al. (Hrsg.): Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter (Reihe Siegen, 45), S. 208–220, hier S. 214 f. Vgl. dazu auch R (1998), S. 289. 247 C (1986), S. 268. 248 Ebd. 249 Ebd., Sp. 376 f. 250 Ebd., Sp. 377. 251 Ebd., Sp. 378. 252 Vgl. N, F.: On Rhetorik and Language, ed. S. L. Gilman et al. New York, Oxford: Oxford University Press 1989, S. 55, 63, 67; vgl. F (1992), Sp. 380. 253 Vgl. dazu die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel.

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rien, bei Brenato nennt er sie „verflacht“ und „dürr“, bei Rilke hingegen „genial“, „wahrhaft schöpferisch“. 254 Gadamer meint, die Allegorie brauche nicht frostig zu sein, sondern könne ebenso unausschöpflich sein. Wie Pongs zeigt er die von ihm konstatierten Eigenschaften der Allegorie an Einzelwerken, die Unausschöpflichkeit an Kafkas Werk. 255 Die Allegorie wird bei Benjamin und De Man neu gedacht und bedeutet, „indem sie das von ihr Präsentierte dementiert“. 256 Über fast tausend Jahre hinweg erscheinen immer wieder ähnliche Pole, die mit den Begriffen Ausuferung und Erstarrung, Polyvalenz und Eindeutigkeit zu erfassen sind. Wiederholt wird dabei einem Substitutionsverhältnis ein Verhältnis entgegengesetzt, das, weil in irgendeiner Weise göttlich, nicht auf der Grundlage einer einfachen Ersetzung funktioniert und daher vieldeutig ist – wobei die Vieldeutigkeit durch die Exegese qua Autorität wieder vereindeutigt werden soll. 257 Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele anführen, die in der dargestellten oder in ähnlicher Weise das differierende Begriffsverständnis vor Augen führen. Das, was zu zeigen war, sollte hinreichend klar geworden sein. Bevor mit Pfeiffer auf die Frage eingegangen wird, inwiefern der Aspekt der Ausuferung bzw. Mangel an Eindeutigkeit auch für den mittelalterlichen Verstehenshorizont von Bedeutung ist, sei auf Faktoren verwiesen, die das Selbstverständnis mittelalterlicher Autoren bestimmen. Es soll daran deutlich gemacht werden, dass Überlegungen zur Allegorese (Rezeption) ebenso bedeutsam sind wie zur Allegorie (Produktion). Erstens geben die lateinischen rhetorischen und poetischen Schriften direkte Anweisungen für die Produktion eines Textes. Zweitens stehen zahlreiche Texte als Vorbilder zur Verfügung, darunter die antiken Autoren, allegorische lateinische Literatur sowie volkssprachliche Dichtung, die mitunter in poetologischen Passagen auch Anweisungen enthält wie die lateinischsprachigen Lehrschriften. Drittens 254 P, H. (1960): Das Bild in der Dichtung. Bd. 1. Marburg: N. G. Elwert, S. 198, 254, 264. Vgl. F (1992), Sp. 383. 255 G, H.: Dichten und Deuten. In: Kleine Schriften II. Tübingen: Mohr 1967, S. 13. Vgl. F (1992), Sp. 385. 256 Aus der Ankündigung zum DFG-Symposium „Allegorie“ im Mai 2014 in Villa Vigoni, Italien. 257 Die bereits zitierte Hypothese Hübners, dass moderne Ansichten über das Verhältnis von Sprache und Welt Ähnlichkeiten aufweisen zu mittelalterlichen Ansichten über die Beziehung von Sprache und Gott, ließe sich präzisieren: Das synchrone Verhältnis von einer göttlichen und einer profanen Allegorie, wie sie von Augustin und auch noch von Hegel dargestellt wird, spiegelt sich wider in manchem diachron dargestellten Verhältnis von „alter“ und „moderner“ Allegorie. So lässt sich also die Frage nach der Modernität von mittelalterlichem Allegorieverständnis abändern in die Frage nach Momenten von „göttlicher Allegorie“ in profanen Texten. Im Sinne einer diachronen Progression könnte also von „moderner“ Allegorie nicht mehr gesprochen werden. Vgl. zu diesem Punkt die Ausführungen zu Metapherntheorien.

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gibt die Praxis der Exegese heiliger und auch profaner Texte Auskunft darüber, wie ein Text auszulegen, und damit implizit auch, wie ein solcher zu verfassen ist. So ist die „Auffassung, daß sogar heidnische Dichtung der Allegorese zugänglich war, ja, sie geradezu aufforderte, [. . . ] für das Selbstverständnis und die Schaffensweise mittelalterlicher Dichter von nicht zu unterschätzender Bedeutung“. 258 Es wird im Folgenden davon ausgegangen, dass Exegese als Umkehrfunktion von Produktionsregeln gelten kann und umgekehrt, sodass Regeln und Praxis der Exegese Rückschlüsse auf das produktive Selbstverständnis der Poeten erlauben, die mit diesen Regeln vertraut sind. 259 Die Exegesepraxis, die eine strenge Dichotomie von weltlicher und geistlicher Literatur aufweicht, kann als Anlass genommen werden, den eigenen Text mit einem Hintersinn auszustatten. Wenn Wert und Würde des Gedichtes in dem begründet sind, was an Gedanken unter dem Wortsinn verdeckt ist und auf hermeneutischen Wegen hervorgeholt werden kann, so ergibt sich für den mittelalterlichen Poeten die Veranlassung, wissenschaftliche, philosophische und theologische Sachverhalte und Spekulationen einerseits zu verhüllen, andererseits sinnlich erfaßbar zu machen, den Gedanken zu illustrieren. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem direkten Vorbild allegorischer Poesie, etwa der Psychomachia des Prudentius, und den durch die Praxis der Bibelallegorese gegebenen Anstößen. 260

Entscheidend ist, wie die dargestellten Faktoren zusammengebracht bzw. wie sie fruchtbar gemacht werden. Die zentrale Frage ist, ob das als starr empfundene rhetorische Konzept durch die Übernahme der Prinzipien der christlichen Hermeneutik ausgeweitet werden kann – eine Ausweitung, die sich in ähnlicher Weise im 17. Jahrhundert vollzieht, wenn die Allegorie nicht mehr als Teil der elocutio thematisiert wird, sondern der inventio, und die sich auch in Hübners Feststellung widerspiegelt, manche mittelalterlichen Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Gott hätten gewisse Ähnlichkeiten mit moderneren Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Welt. Der Pol Erstarrung wird von Goethe wirkungsmächtig vertreten (s. o.), den Pol der Ausuferung betont besonders drastisch Nietzsche in Bezug auf die christliche Hermeneutik:

258 K (1980), S. 105. 259 Ähnlich argumentiert auch Pfeiffer, wenn er konstatiert, dass sich das von ihm skizzierte hermeneutische Verfahren (siehe dazu genauer unten) „zu einem poetischen Prinzip umkehren“ lässt (P, Jens (2009): Dunkelheit und Licht. ‚Obscuritas‘ als hermeneutisches Problem und poetische Chance. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, NF 50 (2009), S. 9–42, im Folgenden zitiert als P (2009)). 260 K (1980), S. 105.

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Wie wenig das Christentum den Sinn für Redlichkeit und Gerechtigkeit erzieht, kann man ziemlich gut nach dem Charakter der Schriften seiner Gelehrten abschätzen: sie bringen ihre Mutmaßungen so dreist vor wie Dogmen und sind über der Auslegung einer Bibelstelle selten in einer redlichen Verlegenheit: Immer wieder heisst es, „ich habe Recht, denn es steht geschrieben – “ und nun folgt eine unverschämte Willkürlichkeit der Auslegung, dass ein Philologe, der es hört, mitten zwischen Ingrimm und Lachen stehen bleibt und sich immer wieder fragt: ist es möglich! ist diess ehrlich? Ist es auch nur anständig? – Was in dieser Hinsicht immer noch auf protestantischer Kanzel in Unredlichkeit verübt wird, wie plump der Prediger den Vortheil ausbeutet, dass ihm hier Niemand in’s Wort fällt, wie hier die Bibel gezwickt und gezwackt und die Kunst des Schlecht-Lesens dem Volke in aller Form beigebracht wird: das unterschätzt nur Der, welcher nie oder immer in die Kirche geht. Zuletzt aber: was soll man von den Nachwirkungen einer Religion erwarten, welche in den Jahrhunderten ihrer Begründung jenes unerhörte philologische Possenspiel um das alte Testament aufgeführt hat: ich meine den Versuch, das alte Testament den Juden unter dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte Nichts als christliche Lehren und gehöre den Christen als dem wahren Volke Israel: während die Juden es sich nur angemasst hätten. Und nun ergab man sich einer Wuth der Ausdeutung und Unterschiebung, welche unmöglich mit dem guten Gewissen verbunden gewesen sein kann: wie sehr auch die jüdischen Gelehrten protestirten; überall sollte im alten Testament von Christus und nur von Christus die Rede sein, überall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein Holz, eine Ruthe, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute diess eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz: selbst die Aufrichtung des Einhorns und der ehernen Schlange, selbst Moses, wenn er die Arme zum Gebet ausbreitet, ja selbst die Spiesse, an denen das Passahlamm gebraten wird, – alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes! Hat diess jemals Jemand geglaubt, der es behauptete? Man erwäge, dass die Kirche nicht davor erschrak, den Text der Septuaginta zu bereichern (z. B. bei Psalm 96, V. 10), um die eingeschmuggelte Stelle nachher im Sinne der christlichen Prophezeiung auszunützen. Man war eben im Kampfe und dachte an die Gegner, und nicht an die Redlichkeit. (Nietzsche, Morgenröte, Erstes Buch 84: Die Philologie des Christentums) 261

Pfeiffer meint, es sei wohl weniger wichtig, „was von der philologischen Qualität der Exegesen und der intellektuellen wie moralischen Integrität ihrer jeweiligen Vertreter zu halten ist“. Festzuhalten bleibe der „geradezu überwältigende[ ] Erfolg der Methode“ und als wichtigste Erkenntnis, „daß eben jene Hermeneutik ein ungemein flexibles und wirkungsvolles Instrumentarium bereithielt, das es ermöglichte, heterogenes Material zu amalgamieren und dem Text-Corpus der heiligen

261 Friedrich Nietzsche: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York: de Gruyter 1999, S. 79 f.

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Mutter Kirche einzuverleiben“. 262 Diese Sicht auf die Allegorie, im Besonderen auf die Allegorese, steht in deutlichem Widerspruch zu Goethes Einschätzung der Allegorie als erstarrt. Wie Pfeiffer einleuchtend herausstellt, findet sich der Gedankengang Nietzsches bereits in früher Zeit. Beachte man auch nur einen kleinen Teil der Kommentare und Glossen, die im Mittelalter zu heiligen und paganen Texten verfasst worden sind, so dränge sich der Eindruck auf, daß mittelalterliche Autoren ihre Arbeit und ihre Energie vornehmlich einer Aufgabe gewidmet haben, dem Bestreben nämlich, sich vor dem Hintergrund wechselnder theologischer und philosophischer Strömungen wieder und wieder des „rechten“ Verständnisses ihrer kanonischen Texte zu versichern und diese in ständig neuer Aneignung den jeweiligen intellektuellen und [. . . ] auch politischen Bedingungen anzupassen. 263

Ein Bewusstsein, dass mit diesem Verfahren eine gewisse Willkürlichkeit einherzugehen droht, gibt es bereits im Mittelalter. Adelard von Bath konstatiert in den quaestiones naturales, der Buchstabe sei eine Hure, die sich bald diesem bald jenem darbiete. 264 Alanus von Lille bescheinigt der Autorität eine wächserne Nase, die sich in alle Richtungen biegen lasse. 265 Entgegen solcher Nachweise, die zeigen, dass mittelalterliche Exegese keineswegs frei von Uneindeutigkeit ist, gilt die christliche Hermeneutik häufig als festgelegt auf einen einzigen Sinn, der mitunter aus heterogenen Texten abgeleitet werde. Hörisch z. B. meint, die eigentliche Aufgabe des vierfachen Schriftsinns ruht doch darin, auf die Einheitlichkeit eines monotheistisch verbürgten Sinns, auf ein ‚transzendentales Signifikat‘ zu verweisen, das alle dispersen Einzelsinne mit einem 262 P, Jens (2006): „Obscuritas“. Zum Problem der Dunkelheit in der mittelalterlichen Hermeneutik und Poetik. Habilitationsschrift. TU, Berlin, S. 9. Im Folgenden zitiert als P (2006). Vgl. neben P (2009) hierzu auch P, Jens (2008): „Verirrungen im Dickicht der Wörter“. Die Wälder der Ritter und der Wald Dantes. In: Elisabeth Vavra (Hrsg.): Der Wald im Mittelalter. Funktion – Nutzung – Deutung. Berlin: de Gruyter (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, 13 (H. 2)), S. 136–151. 263 Ebd., S. 10. 264 Vgl. H, Albrecht (1989): Littera meretrix. In: ZfdA 118, S. 131–164. 265 Abelard von Bath, Die quastiones naturales, hrsg. und untersucht von Martin Müller, Münster 1934. S. 12 [Beiträge zu Geschichte der Philosophie im Mittelalter XXXI, 2], Neuausgabe: ders. Conversations with his Nephew. On the same and the Different; Questions on Natural Science and on Birds, ed. and trasl. by Charles Burnett, Cambridge 1998, S. 104; Alanus de Insulis, Contra Haereticos libri quatuor (PL 210, col. 305–430, hier 333). Vgl. Peter von Moos: Das argumentative Exemplum und die ‚wächserne Nase‘ der Autorität im Mittelalter. In: Aerts; Gosman (Hrsg.) (1988): Exemplum et Similitudo. Alexander the Great and Other Heroes as Points of Reference in Medieval Literature. Groningen: Forsten, S. 55–84. Vgl. P (2006), S. 10.

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Pneuma, einem Geist, speist. Erforderlich wird eine solche Praxis der Sinndifferenzierung bei umso hartnäckigerer Behauptung eines grundlegenden Einheitssinnes, eines Geistes, wenn monotheistische Ansprüche alte rhizomatische Lust am Vielfachen bändigen wollen. 266

Oft werden ähnliche Formulierungen herangezogen, um die mittelalterliche Hermeneutik von der modernen abzugrenzen. 267 Es werden in solchen Einschätzungen also Verstehensweisen, die synchron existieren, als diachrone Entwicklung dargestellt und damit unterstellt, dass ein qualitativer Fortschritt vorliege. Dieser Aspekt zeigt sich auch in Bezug auf die Allegorie. 268 Blumenberg unterscheidet beispielsweise 1966 eine klassische von einer modernen Allegorie. Die klassische Allegorie zeichne aus, dass sie immer schon wisse, was sie darstelle, dass ihr Verweisungsbezug durch dieses Vorwissen Eindeutigkeit beanspruche und dass das Verständnis nicht ruhen dürfe, ehe es nicht diesen eindeutigen Bezug aufgedeckt habe. 269 Im Gegensatz dazu gehe die moderne Allegorie weder von einer abstrakten Formulierung eines Inhaltes aus noch tendiere sie auf eine solche Fassbarkeit. Zwar müsse die Möglichkeit ihrer Dechiffrierung immer im Hintergrund stehen, aber sie könne nicht realisiert werden, oder sie dürfe, ja sie müsse sogar Vieldeutigkeit zulassen, d. h. die Nichtkorrigierbarkeit einer jeweils gegebenen Deutung durch eine andere, evidentere. 270 Wie Pfeiffer richtig herausstellt, ist die zentrale Frage, wie Deutungen de facto abgesichert werden. Er stellt fest, dass dies nicht durch die Texte selbst geschieht, „sondern nur durch eine wie auch immer geartete außertextuelle Autorität“. Dabei kann der „die Hoheit über die Deutung von Texten beanspruchen [. . . ], der die Macht hat, sie als legitim oder illegitim, orthodox oder ketzerisch zu definieren“. 271 Aus produktionsästhetischer Perspektive heißt das, dass „Allegorien nur solange ‚eindeutig‘ sein können, solange sie durch Konvention oder Definition festgelegten Übersetzungsregeln die Korrelation des einen als Zeichen des anderen festlegen, um somit dessen vielbeschworene Arbitrarität zumindest zeitweilig zu konterkarieren“. 272 Wie die oben angeführten Beispiele von Adelard und Ala266 Jochen Hörisch (1988): Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 38. Vgl. auch P (2009), S. 13. 267 Vgl. P (2009), S. 13, Anmerkung 8. 268 Auch hier zeigt sich die Analogie von rezeptions- (Allegorese) und produktionsästhetischer (Allegorie) Sicht. 269 B, Hans (1966): Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes. In: ders. (2001): Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 112–119, hier S. 113. Im Folgenden zitiert als Blumenberg, Die essentielle Vieldeutigkeit. 270 Ebd., S. 113f. 271 P (2009), S. 17. Ausführungen v. a. in Anmerkung 21, S. 18. 272 P (2006), S. 159.

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nus zeigen, ist ein Fehlen einer solchen verbindlichen Autorität für die Allegorese denkbar. Mit Pfeiffer kann wohl davon ausgegangen werden, „daß die schon mittelalterlichen Autoren als exegetischer Wildwuchs erscheinende Auslegungs-Praxis gleichsam ein subversives Element ins Spiel bringt, das den Anspruch, die Suche nach Sinn ein für allemal stillzustellen, konterkariert“. 273 So scheint es mir in Antithese zur geläufigen Auffassung von mittelalterlicher Hermeneutik ein interessanterer und mehr versprechender Ansatz zu sein, die Fülle von Auslegungen als Hinweis auf einen „prekären“ Status von Texten zu betrachten – einen Status, in dem eben nicht der immer schon von vornherein feststehende Sinn unterstellt werden darf, sondern im Gegenteil die andauernde Arbeit an seiner Auslegung als die keineswegs mehr feste Grundlage des Verständnisses angesehen werden müßte. Texte sind mithin keineswegs selbst-verständlich – wenn sie es wären, hätte auf den immensen Aufwand der stets erneuerten Kommentare verzichtet werden können –, sondern geben ihren Sinn erst in der und durch die permanente Arbeit frei. 274

Auch für das Mittelalter gilt bereits, „daß die Allegorese sich einer strengen Reglementierung und Beschränkung der durch sie generierbaren Bedeutungen entzieht und daß gerade diese prinzipielle Unbestimmtheit zu ihrer ‚Natur‘ gehört“. 275 Nicht undenkbar ist es, dass sich dieses Bewusstsein auf zeitgenössische Autoren profaner Literatur und deren Selbstverständnis auswirkt. Die Untersuchung des Primärtextes wird zu zeigen haben, ob dieses Bewusstsein nachzuweisen ist. Unzweifelhaft werden im orthodoxen Verständnis alle durch die christliche Exegese ausgelegten Texte „so gelesen, als ob sie für christliche Rezipienten geschrieben wären“. 276 Mit diesem „als ob“ ist freilich die Distanz einer Meta-Ebene gewahrt, auf der sich die antiken und mittelalterlichen Verfechter allegorischer Deutungen keinesfalls bewegen. Für sie verhält es sich vielmehr so, daß die Texte für sie geschrieben worden sind. Dies kann auf Teile der antiken Literatur zutreffen, muß jedoch für die Bibel gelten, für deren Auslegung es die zentrale Grundvoraussetzung ist, daß es eben der eine Autor des einen Buches gewesen war, der seiner Christengemeinde überzeitlich gültige Glaubens-Wahrheiten zu offenbaren beabsichtigte – möglicherweise nicht überall ohne weiteres zugänglich, aber doch immerhin so, daß der, der wußte, wonach er zu suchen hatte, fündig werden konnte. 277

Pfeiffer nimmt die oben zitierte Unterscheidung Blumenbergs zum Anlass zu fragen, wo Dante zu verorten wäre, und skizziert zwei Pole: 273 274 275 276 277

Ebd., S. 11. Ebd., S. 11f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 21. Ebd.

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Wird man für ihn auf einem (imaginären) Nullpunkt insistieren wollen, an dem der Autor als Schöpfer und auctoritas die Eindeutigkeit von Text und Deutung garantieren könnte? Oder wird man auch hier davon ausgehen müssen, „daß der [poetische] Gedanke endgültig und irreversibel Gegenstand geworden ist, daß er für jeden Rezipienten etwas anderes und eigenes bedeuten wird, daß er endgültig aus der Eindeutigkeit seiner Herkunft verlorengegangen ist in die Vieldeutigkeit einer ihm immanenten Geschichte“? 278

Aus produktionsästhetischer Sicht spiegeln die beiden Pole sich wider in der oben erwähnten Unterscheidung von allegoria in verbis und allegoria in factis, bzw. Metapher und Allegorie, wie sie Kurz (2004) vornimmt. Während in der Allegorie (respektive allegoria in factis) Typus und Antitypus „in einem von Gott gewollten Erfüllungsverhältnis“ stehen, das Verhältnis also als von Gott bestimmt gedacht ist, stehen bei der Metapher (respektive allegoria in verbis) „Bildspender und Bildempfänger [. . . ] nicht in einem notwendigen Verhältnis, sondern werden aufeinander bezogen kraft der Imagination“. 279 Die Unterscheidung beider Pole steht und fällt daher mit der Verbindlichkeit der Autorität für den einen Sinn der allegoria in factis. 280 Es wird zu untersuchen sein, wie sich der Erzähler des WvÖ in diesem Spannungsfeld verortet.

2.1.6 Historizität von Metapherntheorien Wie abrupt der Wechsel empfunden wird von der Behandlung von Allegorie und Allegorese zur Thematisierung der Metapher, hängt entscheidend davon ab, ob man eine (qualitative) Differenz von Allegorie und Metapher konstatiert – was abschließend nicht zu beantworten ist, sondern offenbleiben soll. Wenn im Folgenden von Metapherntheorien die Rede ist, so ist dies nicht losgelöst zu verstehen von den vorangegangenen Überlegungen zur Allegorie. Vielmehr soll ein weiterer Aspekt beleuchtet werden, der den Komplex der „übertragenen Rede“ erhellen soll. Zunächst bleibt dabei auch offen, ob die Überlegungen zu Metaphern übertragbar sind auf Allegorien. Gegen die verbreitete Überzeugung innerhalb der germanistischen Mediävistik, „der Fortschritt der Metapherntheorie“ ermögliche „bessere Einsichten in die

278 Ebd., S. 159, Zitat aus Blumenberg, Die essentielle Vieldeutigkeit, S. 113. 279 K (2004), S. 47. 280 Es ist eine Frage der Perspektive, ob Typus und Antitypus in einem von Gott gewollten Erfüllungsverhältnis stehen, wie Kurz es ausdrückt, oder ob dieses Verhältnis vom Exegeten gestiftet wird, wie es überspitzter bei Nietzsche zu lesen ist. Obliegt es dem Exegeten, den Sinn zu stiften, ist die Allegorie keineswegs erstarrt, sondern vielmehr bedeutungsoffen oder gar dynamisch.

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Funktionsweise aller Metaphern“, stellt Hübner die (bekanntlich nicht unumstrittene) These von der „Historizität von Metapherntheorien“ auf. 281 Mit Blick auf Wellbery 282 und Strub 283 postuliert er zwei „echte“ Paradigmenwechsel, „die eine historische Hermeneutik der Metapher berücksichtigen sollte“ 284 und infolge derer drei Paradigmen voneinander zu unterscheiden sind. Innerhalb eines Paradigmas sei eine Theorie „konsistent und erklärungsmächtig für Verwendungsweisen von Metaphern, die selbst aus ihm hervorgehen“ 285: Die Substitutionstheorie werde im 18. Jahrhundert durch die Bildtheorie der Metapher abgelöst, die wiederum im 20. Jahrhundert von der sprachanalytischen Interaktionstheorie ersetzt werde. „In beiden Fällen wurde das Verständnis von Metaphern nicht verbessert, sondern verändert“. 286 Hübner stellt zwei Kriterien vor, „nach denen man sich für die eine oder für die andere Metapherntheorie entscheiden kann“. Auf der einen Seite steht die „historische Gültigkeit der Basisparadigmen“. Die Interaktionstheorie wäre demnach anwendbar auf Metaphern ab dem 20. Jahrhundert, Metaphern bis zum 18. Jahrhundert wären erklärbar mit Hilfe der Substitutionstheorie. Die Interaktionstheorie könne auch auf solche Metaphern angewendet werden, „aber man konstruierte dabei automatisch einen modernen Gegenstand“. Auf der anderen Seite nennt Hübner die Ökonomieregel. Zum einen gebe es auch in der Moderne Metaphern, die erklärbar seien mit Hilfe der Substitutionstheorie. Zum andern „könnte man auch über Umstände nachdenken, unter denen ältere Metaphern mit der Substitutionstheorie nicht erfaßbar sind, sondern den Rückgriff auf die Interaktionstheorie nötig machen“. 287 Diese Umstände präzisiert er, wenn er einen Ausnahmefall nennt, bei dem für mittelalterliche Metaphern die Substi-

281 H, Gert (2004): Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien. In: Groos; Schiewer (Hrsg.): Kulturen des Manuskriptzeitalters. Universität Göttingen. Göttingen: V. u. R. Unipress (Transatlantische Studien zu Mittelalter und früher Neuzeit, 1), S. 113– 153. Im Folgenden zitiert als H (2004). 282 W, David E. (1999): Übertragen: Metapher und Metonymie. In: Bosse; Renner (Hrsg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau: Rombach. Vgl. etwa Kragl, der Wellberys These der historischen Parallelität zwischen Metapher und Metapherntheorie als „Behauptung“ bezeichnet (K, Florian (2008): Wie man in Furten ertrinkt und warum Herzen süß schmecken. Überlegungen zur Historizität der Metaphernpraxis am Beispiel von Herzmaere und Parzival. In: Euphorion 102, S. 289–330, hier S. 290. Im Folgenden zitiert als K (2008)). 283 S (1991). 284 H (2004), S. 116. 285 Ebd., S. 114 mit Verweis auf S (1991), S. 287–348 sowie S. 379–391 und S. 414– 436. 286 H (2004), S. 116 f. 287 Ebd., S. 15.

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tutionstheorie nicht ausreicht und der „dem zeitgenössischen Reflexionshorizont vertraut“ 288 war, nämlich metaphorische Aussagen über Gott: Die Bedeutung von metaphorischen Aussagen über Gott läßt sich nicht vom eigentlich Gemeinten her rekonstruieren, sondern allein vom metaphorischen Modell her. Das gilt freilich für Vergleiche und Allegorien ebenso wie für Metaphern. Hier benötigt man die Interaktionstheorie, und zwar gerade in ihrer extremsten Form, der Unähnlichkeitstheorie, weil die hergestellte Analogie keine Bedeutung substituiert, sondern eine Bedeutung konstituiert. Das liegt, etwas flapsig gesagt, daran, daß manche mittelalterlichen Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Gott gewisse Ähnlichkeiten mit moderneren Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Welt haben. Die Anwendung der Interaktionstheorie läßt sich jedenfalls in diesem Fall – aber nur in diesem – auch durch zeitgenössische Überlegungen rechtfertigen. Wohlgemerkt ist die Anwendung der Substitutionstheorie hier nicht etwa möglich, aber inadäquat, sondern gar nicht erst möglich. Wo man die Substitutionstheorie anwenden kann, ist sie dagegen auch adäquat. 289

Neben dem fruchtbaren Verweis darauf, dass es gewisse Ähnlichkeiten gibt zwischen mittelalterlichen Ansichten über das Verhältnis von Sprache und Gott und modernen Ansichten über das Verhältnis von Sprache und Welt, reduziert Hübner eine große Anzahl von Metapherntheorien 290 auf drei Theorien. 291 Kragl findet „Hübners Abriss einer Geschichte der Metapherntheorien [. . . ] plausibel und überzeugend“, seinen Leitfaden zur Interpretation von Metaphern „[e]inleuchtend [. . . ], wenn man Interesse an einem historisch ‚richtigen‘ (oder wenigstens: möglichen) Textverständnis hat“. Er stellt die Frage, wie die drei von Hübner genannten Theorien zueinanderstehen, und fest, dass diese Frage bei Hübner offenbleibt und nicht thematisiert wird. Mehr noch, man gewinne den Eindruck, dass die Theorien sich bei Hübner ausschlössen. Kragl formuliert in zwei Fragen seine Thesen, die er sodann anhand der auch von Hübner bemühten Parzival-Stelle (Pz 113,27–114,4) sowie am Herzemaere Konrads von Würzburg 292 prüft und weiterentwickelt: 288 Ebd., S. 137. 289 Ebd., S. 138. 290 Vgl. etwa R (2005), der 25 verschiedene Theorien voneinander unterscheidet und bemerkt, dass es sicher noch weitere gebe. Auf die Differenzierung dessen, was Hübner unter der Substitutionstheorie subsumiert, in Analogietheorie, Vergleichstheorie und Substitutionstheorie, wurde auf den Seiten 165 ff. verwiesen. 291 Diese Reduktion nennt auch Louis, vgl. dort S. 30. Vgl. dort auch S. 28–43, in denen Louis immer wieder auf Hübners Ansatz zu sprechen kommt und diesen bewertet (L, Felix (2012): Metaphorik und Dunkelheit im Parzival Wolframs von Eschenbach. Aachen: Verlagshaus Mainz GmbH). Im Folgenden zitiert als L (2012). 292 Kragl zitiert nach der Edition Schröders (Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Mit einem Nachwort von Ludwig Wolff. Herausgegeben von Edward Schröder. Bd. 1:

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Kann nicht die Interaktionstheorie in gewissem Sinne, nämlich als begriffliche Theorie, als Fortsetzung der Substitutionstheorie begriffen werden, die über die Ersetzung hinaus noch weitere semantische Prozesse einkalkuliert? Oder was wäre Unanständiges daran, bei der begrifflichen Argumentation der Substitutionstheorie dennoch auch ein Bild zu denken; oder ein ‚mentales Bild‘ als begriffliche Argumentation zu begreifen? 293

Bezogen auf Pz 113,27–114,4 kommt Kragl zu dem Schluss, dass „Polyvalenz und Paradoxie der Metapher“ eine große Rolle spielen. Dies bedeute nicht, dass man die Substitutionstheorie verwerfen müsse, vielmehr müsse man sich von der „Dogmatik und Schematik der Substitutionstheorie, wie sie Hübner einfordert“, trennen. Die Bedeutungen seien „keineswegs lexikalisch festgelegt“, stünden „nicht klar unterscheidbar nebeneinander“, sondern überlagerten einander und bildeten „gerade durch die Untrennbarkeit den ironischen oder irritierenden Effekt“. Je nach „regulativem Kontext“ verändere sich der Sinn der Metapher, und dies sei das, „was die Interaktionstheorie theoretisch zu fassen“ versuche: 294 Das Bild wechselt unablässig seine Perspektive, die einzelnen Elemente interagieren untereinander und interagieren mit dem Kontext, in dem sie stehen. Die Substitutionstheorie wird dann nicht obsolet, aber sie beschreibt nur einen, freilich sehr basalen, Aspekt der Parzival-Stelle. Und selbst wenn Bildtheorie und Interaktionstheorie um 1200 nicht geläufig waren, stellt sich die Frage, ob deren Funktion nicht doch von der Machart dieser Passage geradezu provoziert werden – ja, ob sie nicht sogar vielleicht bei der Konzeption dieser Passage mitgedacht wurden. 295

Beim Herzmaere nimmt Kragl v. a. das herz in den Blick. Dessen Begriffsverwendung sei zu Beginn „ziemlich konventionell“ 296, dann jedoch gingen metaphorisches und gegenständliches Herz ineinander über – dieser Übergang werde „immer wieder aufs Neue, nie aber konsequent vollzogen“. 297 Auch die Protagonisten seien sich der „Kombination zweier Sprachebenen [. . . ] voll bewusst“ 298, einer avanciere gar zu einer „quasi-auktorialen, mächtigen Instanz“ 299. Das Herzmaere fordere „einen hermeneutischen Zugriff, der von [dem] Literalsinn wegführt“, heraus, 300 „Signifikat und Signifikant drehen sich im Kreis (oder exakt: in einer Spirale).

293 294 295 296 297 298 299 300

Der Welt Lohn – Das Hermaere – Heinrich von Kempten. 8. Aufl. Zürich; Berlin: Weidmann 1967), bemerkt aber, dass diese heute kritisch gesehen wird. K (2008), S. 295. Ebd., S. 299. Ebd., S. 299. Ebd., S. 311. Ebd., S. 312f. Ebd., S. 315. Ebd., S. 318. Ebd., S. 323.

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Bedeutungen sind nicht länger festlegbar, der Zufall greift, auch im metaphorischen Diskurs, um sich“. 301 Kragl kommt zu dem Schluss, dass die Geschichte nicht beschränkt sei auf das „Ausagieren einer Liebeshandlung oder auf die Zurschaustellung einer oberflächlichen Liebesmetaphorik“. Seine These ist, dass das „semantische Problem des metaphorischen Sprechens anhand der Herzmetapher im Minnekontext“ demonstriert werde. Dies habe nicht mehr viel mit Rhetorik zu tun; „das scheinbar rhetorisch Banale – die Herzmetapher als Ornatus – erweist sich als epistemologische Krise“. Die Metaphernpraxis im Herzmaere, so konstatiert Kragl zum Schluss, lasse sich nicht nur nicht von der Substitutionstheorie einholen, sondern strapaziere „auch die konventionellen modernen Theoriemodelle“. 302 Aus den überzeugenden Ausführungen Kragls folgt, dass Metaphorik im Mittelalter über das rhetorische Verständnis (der Substitutionstheorie) weit hinausgehen kann. Wie er methodisch vorführt, geht es dabei nicht darum, einen modernen Metaphernbegriff auf mittelalterliche Texte anzuwenden, sondern textnah zu analysieren und zu sehen, wie weit die verschiedenen Metapherntheorien führen, v. a. aber, wo ihre Grenzen liegen. Diese Methode soll als Leitfaden für die Interpretation übertragener Rede im WvÖ dienen. Es kann damit sowohl dem Postulat historisch adäquaten Interpretierens entsprochen werden als auch die Menge an Phänomenen erfasst werden, für die das Mittelalter selbst, und insbesondere die Rhetorik, keine Begriffe zur Verfügung stellt. Schon Hübner schränkt die Gültigkeit der Substitutionstheorie für mittelalterliche Metaphern ein. Dabei besteht er nachdrücklich darauf, dass allein Metaphern für Gott eine Ausnahme darstellen und mit Hilfe der Unähnlichkeitstheorie zu erklären sind. Kragls und Hübners Argumentation unterscheiden sich also grundlegend darin, dass Kragl Hübners Einschränkung auch für andere Bereiche gelten lässt. Zum einen wird zu klären sein, ob es nicht möglicherweise Metaphern gibt, die für Gott und auch für andere Bereiche bemüht werden und wie mit solchen Metaphern zu verfahren ist. Zum andern drängt sich die Frage auf, warum in einem profanen Werk erstens der Versuch unternommen wird, die Trinität sprachlich zu erfassen, und zweitens Gott um Unterstützung bei dem Verfassen des profanen Werkes gebeten wird. Möglicherweise ist die Trennung von profan und religiös nicht so strikt, wie es beispielsweise die Unterscheidung in allegoria in verbis und allegoria in factis impliziert.

301 Ebd., S. 325. 302 Ebd., S. 329.

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2.1.7 Reden von Gott: Spekulative Theologie Wenn die Trennung von profan und religiös nicht so strikt ist und „manche mittelalterlichen Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Gott gewisse Ähnlichkeiten mit moderneren Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Welt haben“ 303, dann können zeitgenössische Reflexionen über die sprachliche Darstellbarkeit Gottes einen wichtigen Beitrag leisten zum Verständnis von übertragener Rede in Profanliteratur, die nicht allein erfassbar ist mit Hilfe der rhetorischen Termini. Im Folgenden sollen daher wichtige Grundzüge der spekulativen Theologie skizziert werden, die im Mittelalter wirksam waren. Dass Aussagen über Gott auf übertragene Rede angewiesen sind, ist zwar auch schon in vorchristlicher Zeit offenbar, „doch erst seit die christlichen Schriftsteller die Transzendenz zum Thema ihrer Aussagen machen, stellt sich das Problem der religiösen Rede in seiner vollen Rigorosität“. 304 Von Gott kann man nach christlich-spekulativem Verständnis – hier konkretisiert an Johannes Scotus Eriugena – auf drei Arten reden, wobei diese drei Arten als Stufen zu verstehen sind, auf denen der Mensch zur Erkenntnis der Transzendenz gelangen kann: 305 Die affirmativen 306 nominalen oder verbalen Prädikationen stellen sich als uneigentliche, d. h. übertragene Aussagen heraus: (I) . . . ut prius de eo iuxta cataphaticam, id est affirmationem, omnia sive nominaliter, sive verbaliter praedicemus, non tamen proprie, sed translative. Der Wahrheit näher kommen die Prädikationen, die aussagen, was Gott nicht ist; sie sind ohne Übertragungen möglich: 307 303 H (2004), S. 138. 304 K (1971), S. 457. 305 Vgl. zur Vorstellung dieser Stufenleiter im Werk des Pseudo-Dionysius Aeropagita, von dem Scotus beeinflusst ist, K (1971), S. 459; dort heißt es weiter: „Wenn diese bildliche Redeweise der Hl. Schrift vom Menschen ein aufsteigendes Bemühen verlangt, läßt sie sich andererseits als ein herablassendes Entgegenkommen der göttlichen Lehre verstehen, die damit der den Menschen angemessenen Erkenntnisweise gerecht wird“ (ebd., S. 460). 306 Dass „alle affirmativen Aussagen über Gott unpassend“ sind, hebt auch Alanus ab Insulis mit Blick auf Pseudo-Dionysius hervor; „denn sie drücken eine compositio aus, d. h. eine Art Zusammensetzung von Prädikat und Prädikatsträger. Da aber eine derartige ‚Inhärenz‘ von Gott nicht angenommen werden darf, da er sein eigenes Wesen ist (removetur a Deo quod ei per inhaerentiam non convenit), übernimmt Alanus den Grundsatz des Dionysius: Reg. XVLLL. Omnes affirmationes de Deo dictae incompactae, negationes vero verae“ (PL 210, Sp. 630. Vgl. K (1971), S. 506). 307 Vgl. zum Themenkomplex „negative Theologie“ H, Josef (1976): Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffs. München: Kösel, im Folgenden zitiert als H (1976); F, Kurt (2006): Docta ignarantia und negative Theologie. In: Beierwaltes; Senger (Hrsg.): Nicolai de Cusa. Opera Omnia. Sym-

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(II) deinde ut omnia, quae de eo praedicantur per cataphaticam, eum esse negemus per apophaticam, id est negationem, non tamen translative, sed proprie. Verius enim negatur Deus quid eorum, quae de eo praedicantur, esse quam affirmatur esse. Der dritte Weg der Aussagen über Gott ist die theologia superlativa, die die Transzendenz unserer Begriffe von Gott betont; sie vereint affirmative und negative Theologie auf einer höheren Ebene: (III) deinde super omne, quod de eo praedicatur, superessentialis natura, quae omnia creat et non creatur, superessentialiter superlaudanda est. 308

Auch in der Bibel gibt es drei Bezeichnungsweisen (drei Arten von Bildern) von Gott, die ontologisch gestuft sind. Pseudo-Dionysius Areopagita „beginnt mit der oberen Grenze der materiellen Welt. Die heiligen Schriften reden von Gott, indem sie von den ‚erhabenen Lichterscheinungen‘ ausgehen“. Die mittlere Gruppe bilden „sinnlich wahrnehmbare Gegenstände“ wie der Morgenstern, der „stella mystica“ genannt wird, da die Dinge zu mystischen Dingen werden. „Die dritte und letzte Gruppe schließlich umfaßt den weiten unteren Bereich der materiellen Welt“. Dabei kann aufgrund von spezifischer proprietates sogar „von Christus als von einem Wurm“ gesprochen werden. 309 Drei Gründe führt Pseudo-Dionysius an, die legitimieren, mittels solcher „unähnlicher Ähnlichkeit“ von Gott zu sprechen: 1. Das Göttliche wird dadurch vor dem „Unreinen“ geschützt, 2. die Gläubigen bleiben an den Bildern nicht hängen, als ob sie wahr wären; 3. die abweichenden Ähnlichkeiten aus dem niederen Bereich der materiellen Welt mit ihrem schwächsten Nachhall des Göttlichen sind wie die negativen Aussagen der unerreichbaren Erhabenheit Gottes mehr angemessen (als die nur scheinbar ähnlichen Ähnlichkeiten). 310 Auf die „unähnliche Ähnlichkeit“ soll später genauer eingegangen werden. Wie Dionysius kennt schon Augustin Zwecke für die göttliche Verschlüsselung der Offenbarung. Bei ihm sind die Überlegungen verknüpft mit dem Begriff der obscu-

posium zum Abschluss der Heidelberger Akademie-Ausgabe. Heidelberg, 11. und 12. Februar 2005. Heidelberg: Winter, S. 79–100. 308 K (1971), S. 475. Die lateinischen Zitate stammen aus Johannis Scoti De dicisione naturae I 76 (PL 122, Sp. 522). Hervorhebungen des Lateinischen durch Kursivschrift sowie Ergänzung der Satzzeichen gemäß PL 122, Sp. 522 durch SH. Alle Hervorhebungen, soweit nicht besonders gekennzeichnet, entstammen dem jeweiligen Original. 309 K (1971), S. 465–467. Johannes Scotus Eriugena folgt diesem ontologisch gestuften Dreischritt, wählt jedoch andere Begriffe (vgl. K (1971), S. 480 f.) Die Zitate stammen aus Johannis Scoti De dicisione naturae I 67 (PL 122, Sp. 511 f.). 310 K (1971), S. 470.

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ritas. 311 Aus rhetorischer Perspektive widerspricht die obscuritas dem Gebot der perspicuitas, 312 nichtsdestoweniger hat es „dunkle Stellen“ in Texten immer gegeben. 313 Haug etwa skizziert anhand von Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch und Maries de France Prolog zu ihren Lais, wie groß im Mittelalter das Interesse für das Prinzip der obscuritas war. 314 In der lateinisch-gelehrten Tradition sei dieses Interesse noch breiter zu belegen, etwa an dem Vorrang, den Johannes von Salisbury den negativen Exempla vor den positiven einräume, oder an der Argumentation Abelards, der feststellt, dass es nicht darum gehe, Lehrmeinungen der Autoritäten einfach zu übernehmen, sondern es darauf ankomme, in der Erkenntnis voranzuschreiten. 315 Scheinbare Unstimmigkeiten oder Widersprüche in der Überlieferung fördern die Fähigkeit zur Urteilsbildung, und er beruft sich dabei auf Augustinus. Damit ist die Brücke geschlagen vom dunklen Stil zur neuen Dialektik. Dunkelheit, Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit: all das sind Herausforderungen an den menschlichen Geist. Und je mehr dies gegenüber der Stilkunst betont wird, desto deutlicher steht dahinter eine erkenntniskritische Strategie: die Unklarheit soll durchstoßen werden, dies bald mehr im Sinne einer geistigen Übung und bald mehr im Sinne eines Erkenntnisgewinns. Der dunkle Stil ordnet sich damit ein in ein allgemeines Konzept fortschreitender Reflexion. 316

Ganz ähnlich kommt Pfeiffer zu dem Schluss, dass „im Abgrund der Allegorie [. . . ] die dialektische Bewegung besonders gewaltig“ braust. 317 Trotz der unverkennbaren Traditionslinie dürften, so Haug, Brechungen und Differenzierungen nicht übersehen werden. Durch „die Konfrontation zwischen der antiken Idee der literarischen Bildung und der christlichen Offenbarung“ sei es zu einem „radikalen Bruch“ gekommen. 318 311 Vgl. H, Walter (2003): Göttliches Geheimnis und dunkler Stil. In: ders. (Hrsg.): Die Wahrheit der Fiktion, S. 413–425, hier S. 418. Im Folgenden zitiert als H (2003). Der Aufsatz unter leicht abgewandeltem Titel war bereits 1998 erschienen. In: Aleida und Jan Assmann (Hrsg.): Schleier und Schwelle. Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung. München, S. 203–227. 312 Vgl. Darstellungspunkt 2.1.1, S. 162 ff. 313 Vgl. zu diesem weiten Themenkomplex etwa F, Manfred (1964): Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literaturästethischen Theorie der Antike. In: Wolfgang Iser (Hrsg.) (1966): Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. München: Fink (Poetik und Hermeneutik II), S. 47–72, hier S. 48; P (2006); L (2012). 314 Vgl. H (2003), S. 415. 315 Vgl. ebd., S. 416. 316 Ebd., S. 416. 317 P (2006), S. 83 f. 318 H (2003), S. 416.

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Bei dieser Konfrontation ist sowohl die antike Stillehre mit ihrer Korrespondenz von Stilhöhe und Gegenstandsklasse von der christlichen Ästhetik her in Frage gestellt worden wie auch die Rezeptionsstrategie, also die Anstachelung des Intellekts durch gewollte obscuritas, in eine veränderte Perspektive getreten. 319

Die klassisch-antike Ästhetik wandele sich „unter den radikal veränderten christlichen Prämissen“ in ein vollkommen anderes ästhetisches Konzept. Im Endergebnis wird dabei das antike Stilstufenprinzip „durch die Verbindung des Höchsten mit dem Niedrigsten“ zerstört. Darüber hinaus entwickelt sich eine „völlig umakzentuierte[ ] Ästhetik der Dunkelheit, die bis zur Rechtfertigung des Häßlichen und Grotesken gehen kann“. 320 Haug fasst den Zweck, den Augustin in der Verschlüsselung der göttlichen Offenbarung sieht, in vier Punkten zusammen: 1. obscuritas als geistiges Exercitium und Mittel gegen Langeweile – dies völlig im Sinne der klassischen Poetik; 2. obscuritas als Schutz der Offenbarung vor den Gottlosen – mit profanen Vorläufern des Arguments; 3. obscuritas als Herausforderung für den Stolz der Gebildeten und Mahnung zur Demut – dies als Umsturz der klassischen Stilstufenlehre; und 4. obscuritas als Aufforderung, durch die Oberfläche der Erscheinungen zur Wahrheit durchzustoßen – obscuritas also im Dienste christlicher Hermeneutik. 321 Um den erwähnten Begriff der proprietas im Kontext biblischer Aussagen von Gott bzw. der Bibelauslegung verständlich zu machen, soll im Folgenden exemplarisch die allegorische Interpretation (Allegorese) 322 der Bibel nach Hugo von St. Victor kurz skizziert werden. Sie kann als ein Beispiel der Überzeugung angesehen werden, dass mittelalterliche Auslegung „ein rational erklärtes, lehr- und lernbares Verfahren“ darstellt. „Mittelalterliche Auslegungsmethodik hat, diesem Grundsatz der Lehr- und Lernbarkeit folgend, wiederholt die wichtigsten Regeln der Allegorese

319 Ebd. 320 Ebd., S. 418 mit Verweisen auf T, Jacob (1968): Die Rechtfertigung des Häßlichen in urchristlicher Tradition. In: Hans Robert Jauss (Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste (Poetik und Hermeneutik III). München: Fink, S. 169–185; J, Hans Robert (1968): Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur. In: ders. (Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste (Poetik und Hermeneutik III). München: Fink, S. 143–168; zuvor nennt Haug in diesem Kontext auch A, Erich (1958): „Sermo humilis“. In: ders.: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern: Francke, S. 25–53. 321 Ebd. 322 Unter dem Begriff „Allegorie“ wird mitunter auch die Auslegung bzw. der ausgelegte Sinn verstanden. In dieser Arbeit soll strikt zwischen Allegorie und Allegorese getrennt werden.

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zusammengefasst“. 323 Eine res als Sinnträger oder Bedeutendes hat verschiedene Eigenschaften/Deutungsansätze (proprietates). Diese Eigenschaften führen zu verschiedenen Bedeutungen (significata). Der Adler z. B. hat die Eigenschaft, sich im Flug von der Erde zu erheben. Die Bedeutung eines Adlers ist daher die Fähigkeit zu hoher Einsicht. Der Löwe hat verschiedene Eigenschaften und bedeutet daher Verschiedenes: Er schläft mit offenen Augen und bedeutet daher Christus, er geht brüllend umher und sucht Menschen, die er verschlingen kann, und bedeutet dann den Teufel. 324 Alle möglichen Merkmale von bedeutungstragenden res können Proprietäten sein. Es gibt verschiedenartige Proprietäten: allgemeine oder besondere, per definitionem den Sinnträgern angehörende oder zufällige, von Natur gegebene oder durch den Gebrauch bedingte, mit einem Wort aussagbare oder einer zusammengesetzten Umschreibung bedürfende Kennzeichen. Zum Beispiel erhält ein Tisch seine Bedeutung danach, daß er Speisen trägt, vier Beine hat, aus bestimmten Holz gefertigt ist usf. 325

Schon dieses traditionelle Verständnis zeigt keine semiotische Geschlossenheit. Die Tatsache, dass eine res verschiedene Proprietäten aufweist, macht den Zeichenwert der res uneindeutig. Dieses Phänomen merkt Bernhard Silvestris in den Kommentaren zu Vergils Aeneis und zu Martianus Capella an: 326 Zeichenkomplexe, die als „Verhüllung“ (integumenta) verborgener Wahrheiten angelegt sind, haben wie die Zeichen der „zweiten Sprache“ einen semiotischen Pluralismus. [. . . ] Während Zeichen der Lautsprache in der Regel nur eine Referenz haben, können durch Laute vermittelte Zeichen innerhalb eines verhüllenden Zeichenkomplexes mehrere verschiedene Bezugsrichtungen erhalten. Das gilt nach Bernhard Silvestris für alle Texte mit verborgenem Sinn. 327

Zum einen gibt es die aequivocatio. Sie liegt vor, „wenn ein Name verschiedene Wesen bezeichnet“. 328 Sie „kann dadurch zustande kommen, daß in der Weise

323 M, Christel (1974): Das Problem der Qualitätenallegorese. In: Frühmittelalterliche Studien 8, S. 385–435, hier S. 385. Im Folgenden zitiert als M (1974). 324 Vgl. H (2003), S. 390 ff. 325 M (1974), S. 392. Es finden sich hier noch weitere Beispiele: Gold, Chalzedon, Sitzen. 326 Hier also geht es nun um integumenta, d. h. der Unterscheidung in allegorie und integumentum folgend, explizit nicht um die Heilige Schrift bzw. das Reden von Gott. Doch schon die typologische Deutung des antiken Textes durch Bernhard zeigt, dass die Grenzen durchaus nicht eindeutig zu ziehen sind. So ist es legitim, an dieser Stelle Überlegungen zum Integumentum zu formulieren. 327 B (1980), S. 267. 328 Ebd. mit einem Verweis zu Bernhard Silvestris’ Kommentar zu Vergil: idem nomen diversas designat naturas (R (1924), S. 9).

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einer rhetorischen Metonymie Ursache und Wirkung mit demselben Namen bezeichnet werden“. 329 Zum anderen gibt es die multivocatio. Sie liegt vor, „wenn mehrere verschiedene Zeichen für dasselbe stehen“, wie z. B. „wenn in Vergils Aeneis sowohl Jupiter wie Anchises Namen für den Schöpfer sein können“. 330 „Die Erscheinungen der ‚aequivocatio‘ und ‚multivocatio‘ erschweren natürlich die Findung des richtigen ‚Zweitwertes‘“. 331 Bernhardus Silvestris nennt drei Kriterien, die das Entschlüsseln eines integumentum vereinfachen: „die Etymologie, [. . . ] der sprachliche Zusammenhang, in dem ein Zeichen begegnet“. Eine „ ‚aequivocatio‘ kann schließlich dadurch geklärt werden, daß die verschiedenen Verbindungen beachtet werden, in denen Figuren begegnen“. 332 „Die Erklärung eines integumentum wird immer aus zwei Schritten bestehen: zunächst ist der Wortlaut der fabula zu verstehen, dann die veritas, die mit der fabula gemeint ist“. 333 Im Folgenden soll der oben erwähnte Aspekt der „unähnlichen Ähnlichkeit“ aufgenommen und ausgeführt werden. Nach Augustin gibt es eine zweite Sprache der Dinge. In der Schöpfung kann der Mensch Gott erkennen – ebenso wird in der Bibel, wie oben erwähnt, mittels „unähnlicher Ähnlichkeiten“ aus der materiellen Welt von Gott gesprochen. Vo-raussetzung für solches Erkennen ist, dass die „Grundlage aller Erkenntnisse und Aussagen über Gott [. . . ] die Analogie des Seienden [ist], dessen Ursache er ist:“ 334 Et haec recte de Deo dicimus et existentibus omnibus laudatur secundum omnium analogiam, quorum est causalis (De divinis nominibus VII (PL 122, Sp. 1155)). 335 Wie Krewitt herausstellt, entspricht die Metonymie dieser kausalen Beziehung. 336 Weil also eine kausale Beziehung 329 Ebd. „Mercurius“ kann die Redegabe des Menschen nach dem Planeten heißen, weil sie der Wirkung des Planeten verdankt wird. 330 Vgl. R (1924), S. 10. Vgl. B (1980), S. 267. 331 B (1980), S. 267. 332 Ebd., S. 268: „So kann Anchises, der Vater des Aeneas, als Vater verstanden werden, weil sein Name ‚celsa inhabitant ‘ bedeutet (wohl nach Fulgentius), was auf den Vater aller Menschen verweist. [. . . ] So steht Jupiter für den Schöpfer in der Verbindung ‚Jupiter omnipotens‘; für das Feuer als höchstes der Elemente, wenn es bei Vergil heißt: ‚a Jove principium‘; für die ‚anima mundi‘ in der Verbindung ‚Iovis omnia plena‘ [. . . ]. So ist Venus Zeichen der sinnlichen Lust in der Verbindung mit Vulkan; wenn aber zu lesen ist, daß aus der Verbindung von Venus mit Anchises Aeneas als Sohn hervorgeht, dann bezeichnet Venus in der zweiten Ordnung die ‚Harmonie der Welt‘, Anchises Gott und Aeneas den Geist des Menschen, der von Gott (Anchises) kommt und durch die Harmonie (per concordiam) in den Leib des Menschen eintritt“. 333 Ebd., S. 183. 334 K (1971), S. 472. 335 Vgl. ebd. Das Zitat dort jedoch ist nicht gemäß PL 122, Sp. 1155 wiedergegeben, da „haec“ fehlt. 336 Ebd. Vgl. auch S. 479: Johannes Scotus Eriugena verdeutlicht, dass auch die aristotelischen Kategorien bezogen auf die Unbegreiflichkeit Gottes versagen, und erwähnt bei der Ka-

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angenommen wird von Schöpfung und Schöpfer, kann auf der Grundlage der Schöpfung eine Aussage getroffen werden über den Schöpfer. Diese Annahme spiegelt sich wider in der dritten Gruppe der Nennungen Gottes in der Bibel durch Johannes Scotus, in der er „alle übrigen Erscheinungen der Natur“ nennt: „Elemente, atmosphärische und meteorologische Erscheinungen, Steine, Pflanzen, Tiere und de[n] Mensch[en]. Ihnen gemeinsam ist die vom Geschöpf auf den Schöpfer übertragene Bedeutung und figürliche Bezeichnung“. Es besteht die Gefahr, dass solche Bezeichnungen irrtümlich für eigentliche Bezeichnungen gehalten werden. Aus diesem Grund liegen „neben den genannten Übertragungen ex creatura, die die naturhafte Analogie der Schöpfung zu ihrem Verursacher aktualisieren, auch noch Übertragungen, die aus der Umkehr der natürlichen Ordnung Nennungen für Gott ableiten (ex natura contrariis)“. 337 Mitunter wird erwogen, dass eigentliche Aussagen von Gott möglich sind, da der Schöpfungsbericht „Ähnlichkeit und Abbildlichkeit dem Menschen mit Gott“ bezeugt. Schon Alanus ab Insulis beantwortet die Frage, ob sich „von daher eine Ähnlichkeit der Bezeichnung ableiten“ lasse, negativ. 338 Auf einem päpstlichen Konzil wird die Frage nach der Darstellbarkeit Gottes auf der Basis der Ähnlichkeit von Schöpfung und Schöpfer aufgegriffen. Im zweiten Kapitel des IV. Konzils im Lateran (1215), in dem die Irrlehre Joachims von Fiore verworfen wird, heißt es: quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda. Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, daß zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre. (DH 806) 339

tegorie ‚locus‘ die Metonymie. „Hier ist die Richtung der Argumentation von Johannes umgekehrt. Er geht aus von der uneigentlichen Rede von Gott, wenn von ihm aufgrund seiner Schöpfernatur Aussagen gemacht werden, und schließt von daher auf die Berechtigung der Sprache zur metonymischen Redeweise“ (ebd.). 337 Ebd., S. 480f. 338 Vgl. ebd., S. 502. „Indem Alanus vier Arten der similitudo unterscheidet – alia naturalis, alia ymaginaria, alia imitatoria, alia nuncupationis –, erkennt er nur bei der letzten eine Beziehung zwischen Gott und dem Menschen; aber auch bei dieser ist die Ähnlichkeit nur eine ‚unähnliche‘, d. h. wie schon Pseudo-Dionysius wiederholt bemerkt hatte, ist die ontologische Differenz von Schöpfer und Geschöpf immer zu berücksichtigen“ (K (1971), S. 503). 339 D, Heinrich (2005): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann. 40. Aufl. Freiburg; Basel; Wien: Herder, S. 361 f. Im Folgenden ohne Angaben der Seite zitiert als DH [Nr.]. Kursivschreibung SH.

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Die sprachliche Erfassbarkeit Gottes also muss qua Autorität des päpstlichen Konzils scheitern, da die Unähnlichkeit von Schöpfung und Schöpfer immer größer ist als deren Ähnlichkeit. „Gott ist in den Erscheinungen zwar präsent, aber in höherem Maß ist er jenseits von ihnen“. 340 Es wird in den kirchlichen Kanon aufgenommen, dass man „keine Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf voraussetzen“ darf, „ohne daß man sie nicht auch noch negieren und eine Unähnlichkeit ‚notieren‘ müßte“. 341 Damit geht in der „Formulierung des Laterankonzils [. . . ] negative Theologie in die traditionellen, katholisch-theologischen Lehrbücher“ ein. 342 Anselm von Canterbury stellt im 65. Kapitel des Monologions die Frage, wie sich die Unaussprechlichkeit Gottes zu der Tatsache verhält, dass von der Trinität gesprochen wurde. 343 Er nähert sich damit dem Problem, Gott mittels Sprache erfassen zu können, von Seiten der Sprache und kommt zu dem Ergebnis, dass es zwei verschiedene Aussageweisen der Sprachen gebe: Es könnte sein, daß die Worte, wenn sie zur Aussage über das höchste Wesen verwendet werden, das über aller Natur ist, einen anderen Sinn erhalten, als wenn sie über die Natur Aussagen machen; innerhalb des Naturbereichs wäre ihnen ein allgemeiner Sinn gemeinsam eigen, außerhalb, im übernatürlichen Bereich, hätte er keine Geltung mehr, und die Worte müßten in einem neuen, besonderen Sinn verstanden werden. [. . . ] Die Möglichkeiten der Sprache scheinen dem Menschen wohl gewisse Erkenntnisse zu gestatten, zugleich aber Einsicht in das Unbegreifliche zu versagen. [. . . ] Dieses Phänomen beruht auf der Möglichkeit der Sprache, uneigentlich zu bezeichnen, d. h. allegorisch zu reden, wie etwa im Rätsel. 344

Alanus ab Insulis nähert sich dem Verhältnis von Sprache und Gott und zeigt auf, „was die theologische Sprache von der gewöhnlichen Sprache, wo die Regeln Donats und Ciceros gelten, unterscheidet“. Ähnlich Anselm macht er darauf aufmerksam, dass in der Bibel „der Gegenstand der Aussagen die Möglichkeiten der Rede übersteigt und die Wörter oft einen neuen Sinn annehmen“. 345 Detailliert

340 H (2003), S. 421. 341 H (1976), S. 154. 342 Ebd. Es werden an dieser Stelle Monographien zur Rede vom unbekannten Gott und zur negativen Theologie genannt. 343 Vgl. K (1971), S. 483. Anselm v. Canterbury, Monologion- Lat.-dt. Ausgabe von P. Franciscus Salesius Schmitt O. S. B. Abtei Wimpfen, o. O. o. J. (Friedrich Formmann Verlag (Günther Holzboog), 1964). 344 K (1971), S. 483 ff. Die Textstellen von Anselm in der Edition von Schmitt auf S. 188f. 345 K (1971), S. 496. Siehe dazu bei Alanus, Dist. Prol. II (PL 210, Sp. 687).

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erörtert Alanus, warum die Sprache vor Gott versagen muss. 346 Jeder Name wird von der Form gegeben, „Wörter sind ursprünglich zur Bezeichnung der natürlichen Dinge eingesetzt, Gott aber entbehrt jeder Form. Es kann daher keinen Namen für Gott geben“. 347 Auch Hugo von St. Victor hat sich zu der Frage geäußert, wie durch die Sprache Gott erfasst werden kann, und ist zum Begriff des Symbols gelangt: „Symbolum est collatio formarum visibilium ad invisibilium demonstrationem“ (PL 175, Sp. 941). 348 Wenn also auf eine bestimmte Weise sichtbare Formen kombiniert werden, kann dadurch ein Unsichtbares veranschaulicht werden. Wodurch diese Kombination zustande kommen kann, wird an dieser Stelle nicht in den Blick genommen, doch dürfte es nicht allzu fern liegen, eine Parallele zu Bernhards von Clairvaux Vorstellung der vis unionis zu sehen, die eine cohaerentia rerum discohaerentium 349 ermöglicht. Als Analogon zur vis unionis kann dabei wohl die Inspiration durch den göttlichen Geist angenommen werden.

2.1.8 Zusammenfassung: Zur Funktion des Problemaufrisses Ziel des Problemaufrisses war, wichtige Grundzüge des Spannungsfeldes übertragener Rede im Mittelalter zu beleuchten. Zentrale Aspekte wurden benannt, an denen eine Interpretation der übertragenen Rede im WvÖ sinnvoll anknüpfen kann. Es wurde gezeigt, dass das Feld übertragener Rede im Mittelalter überaus facettenreich ist. Nicht nur die zeitgenössischen Diskurse, sondern auch die Sicht jüngerer Forschung auf das Mittelalter ist heterogen. Ein Begriff (z. B. Tropus, Metapher, Allegorie) kann Verschiedenes meinen, genauso wie verschiedene Begriffe ein ähnliches Phänomen beschreiben können. Hinzu kommt der historische Wandel der Begriffsverständnisse. Die vorgestellten Konzepte können nicht immer streng voneinander getrennt werden, sie gehen auseinander hervor und beeinflussen sich gegenseitig. Eine strikte Trennung von theologischer und poetischer Sprache liegt nicht vor, sondern beide Bereiche wirken aufeinander ein. Der Komplexität des Spannungsfeldes ist es geschuldet, dass in den vorhergehenden Kapiteln Begriffe und Konzepte, für die sich zahlreiche Zusammenhänge und Interdependenzen zeigen ließen, zunächst getrennt dargestellt wurden. In der Zu346 Dabei ist der Ausgangspunkt der Überlegungen die Unbegreiflichkeit Gottes. Vgl. dazu wie auch zum Begriff „balbutire“ K (1971), S. 498 f. 347 Ebd., S. 499. Vgl. dort auch S. 506. 348 Vgl. ebd., S. 486. 349 Die Möglichkeit, dass im Menschen die gegensätzlichen Einheiten Seele und Körper zusammenbleiben. Vgl. hierzu H, Wilhelm (1964): Die Anthropologie Bernhards von Clairvaux. Berlin: de Gruyter (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie, 7), S. 42ff. mit Nennung der einzelnen Quellen.

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sammenschau der einzelnen Kapitel mag die Komplexität dieser Interdependenzen hinreichend deutlich gemacht worden sein. Der Problemaufriss soll nicht dazu dienen, die darin enthaltenen Definitionen sklavisch anzunehmen und etwa Entsprechungen dieser Definitionen im WvÖ zu finden. Vielmehr soll untersucht werden, ob das Potenzial, das aus den aufgezeigten Spannungen erwächst, zur Entfaltung kommt. Die Hauptthese dabei ist, dass die Übertragung christlich-hermeneutischer Schemata auf den Bereich der Profanliteratur dazu führt, dass dort übertragene Rede in einem Verständnis verwendet wird, das sich nicht auf das reduzieren lässt, was mitunter als mittelalterlich gilt. In dieser These ist Haugs These präzisiert, mittelalterliche Dichter nähmen die „gesamte Begrifflichkeit der [. . . ] blockierenden Diskurse“ auf, um sie „mehr oder weniger offen zu unterlaufen oder umzudeuten“. 350 Christliches Denken, so restriktiv es an mancher Stelle auf auftreten mag, ermöglicht mitunter diese Diskurse erst: Das christliche Denken ist zugleich Gegner und Wegbereiter. 351 Ein durch die christliche Hermeneutik angereichertes rhetorisches Verständnis der Allegorie und der Transfer theologischen Verständnisses übertragener Rede in profane Kontexte erlaubt es, Gottes Werk und das Werk des Dichters als analoge Prozesse zu verstehen. Freilich ist dabei eine Sicht auf die christliche Hermeneutik zu veranschlagen, die sich von einer Gleichsetzung von Hermeneutik und Orthodoxie freimacht. Im Folgenden also wird an ausgewählten Passagen des WvÖ der Frage nachgegangen, wie übertragene Rede zu interpretieren ist und welche Implikationen damit verbunden sind.

2.2 Übertragene Rede im „Wilhelm von Österreich“ Nachdem der Hintergrund skizziert worden ist, vor dem übertragene Rede sinnvoll untersucht werden kann, soll im Folgenden ebendiese übertragene Rede im WvÖ anhand von zwei semantischen Feldern und drei Episoden in den Blick genommen werden. Zuerst wird übertragene Rede der semantischen Felder Gott und Minne unter besonderer Berücksichtigung von Gemeinsamkeiten und Überschneidungen untersucht. Sodann wird das semantische Feld der Schifffahrt ausgehend von einzelnen Metaphern bis hin zu ganzen Handlungszusammenhängen analysiert. Zuletzt werden drei Passagen untersucht, die in der Forschung immer wieder behandelt wurden und oft als Allegorien bezeichnet werden: der Prolog, die Begegnung Ryals mit dem Aventue re Hauptmann und die gesamte Joraffin-Episode.

350 H (2006), S. 53 ff. Vgl. auch Darstellungspunkt 1.5.3, S. 145 ff. 351 Vgl. Darstellungspunkt 1.5.3, S. 145 ff.

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2.2.1 Gott und Minne Wie im Darstellungspunkt „Reden von Gott: spekulative Theologie“ 352 deutlich wurde, gibt es im Mittelalter das Bewusstsein, dass von Gott – wenn überhaupt – nur mittels übertragener Rede etwas ausgesagt werden kann. Die Begriffe der Rhetorik greifen dabei zu kurz, übertragene Rede von Gott scheint einen anderen Stellenwert zu haben als übertragene Rede im Sinne der Rhetorik. 353 Hübner hat dies, wie im Darstellungspunkt „Historizität von Metapherntheorien“ dargestellt, 354 zum Anlass genommen, seine These einzuschränken, mittelalterliche Metaphern funktionierten allein auf der Grundlage des Paradigmas der Substitutionstheorie. Die Interpretation der Metaphern von Gott bedürfe auch im Mittelalter bereits der Interaktionstheorie. Ein interessanter Fall tritt ein, wenn vor dem Hintergrund dieser Prämisse Metaphern für den Bereich des Transzendenten übertragen werden auf Metaphern, die auf Immanentes rekurrieren; nicht zuletzt wird Hübners These, in der strikt zwischen Metaphern für Gott und sonstigen Metaphern getrennt wird, dadurch fragwürdig. Eine solche Übertragung findet im WvÖ in zwei Richtungen statt: Zum einen werden Metaphern aus dem Bereich des Transzendenten verwendet für den Bereich des Immanenten, zum anderen wird Metaphorik, mit der zunächst Irdisches ausgedrückt wird, verwendet für die übertragene Darstellung von Transzendentem. In den Briefen, die Aglye und Ryal austauschen, werden die „Anreden, die in der ‚Goldenen Schmiede‘ [Konrads] und in dem [ursprünglich Gotfrid zugesprochenen] ‚Marienlob‘ an die Gottesmutter gerichtet werden, [. . . ] an die Liebenden gerichtet“. 355 Ryal nennt Aglye „goe tinne mines libes“ (WvÖ, V. 2095), „min got“ (WvÖ, V. 6722) oder „du an begin“ (WvÖ, V. 6723). 356 Bierbaum macht auf Parallelen der letztgenannten Apostrophe mit Apostrophen an Maria im Marienpreis aufmerksam und folgert, die „Anreden mit ‚anbegin‘ bei Johann sind also ursprünglich religiöser Herkunft“. In diesem Sinne werden sie ebenso im WvÖ verwendet, wenn der Erzähler Gott apostrophiert mit den Worten „an anbegin an ende“ (WvÖ, V. 1213) oder „du anbegin an ende“ (WvÖ, V. 17.459). „Bei Johann werden also Gott und die Geliebte mit derselben Anrede-Bezeichnung bedacht“. 357 Einen Einfluss von Seiten der „Goldenen Schmiede“ und Frauenlob konstatierend, sieht Bierbaum in der Anrede Mariens als „zucker sue zziu lylye“ (WvÖ,

352 353 354 355 356 357

Darstellungspunkt 2.1.7, S. 210 ff. Vgl. etwa Darstellungspunkt 2.1.4, S. 187 ff. Darstellungspunkt 2.1.6, S. 205 ff. B (1953), S. 24. Beispiele werden dort auf den Seiten 25 ff. genannt. Ebenso in Vers 9830. Vgl. auch ebd., S. 26, 30. Ebd., S. 30.

Ü R  „W  Ö“

221

V. 19.518) Formulierungen Konrads und Frauenlobs zusammengezogen. Gegen Bierbaums Einschätzung wird auch in diesem Fall die Metapher für Göttliches angewendet auf den irdischen Bereich, 358 wenn Gaylet von Spangen einen „zucker sue zzen kus“ (WvÖ, V. 18.329) von Crispin erhält. Auch hier also liegt dieselbe Wortwahl vor. In der Übertragung der Attribute von Maria auf die Geliebte, mit der eine „Profanierung Mariens“ einhergehe, ist laut Bierbaum der Einfluß seiner Zeit erkenntlich. Ihr war es eigen, den Marienkult durch Übertragung althergebrachter Minnevorstellungen und -Situationen ins Weltliche zu kehren (umgekehrt auch, die in der Minnedichtung sich aussprechende Frauenverehrung ins Religiöse zu heben) und somit eine weltlich gefärbte Marienlyrik zu schaffen. 359

In der Verwendung der Apostrophe „anbegin“ für Gott und Geliebte sieht Bierbaum „einerseits die Diesseitigkeit und ästhetische Lebensansicht des Dichters, [. . . ] andererseits, daß die Anredeformeln nur äußerlich als Redeschmuck übernommenes Gut sind. Die ursprünglich religiöse Bedeutung ist verloren gegangen, somit ist keine eigentlich profanierende Absicht gegeben“. 360 Ob die religiöse Bedeutung verloren gegangen ist, ist m. E. spekulativ, die Frage, inwiefern Göttliches profaniert und /oder Irdisches erhöht wird, kann abschließend nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Festzuhalten bleibt die Vermischung beider Bereiche bzw. die Aufhebung von deren strikter Trennung. Die von Bierbaum beleuchteten Übertragungen von transzendenten Kontexten auf immanente stellen dabei nur eine Seite dar. Darüber hinaus werden auch in entgegengesetzter Richtung Metaphern aus dem Bereich der (körperlichen) Minne übertragen auf den Bereich der Transzendenz. Wie in vielen anderen mittelhochdeutschen Texten wird im WvÖ die Einheit zweier Liebender metaphorisch ausgedrückt. 361 In einem Brief an Aglye beschreibt Ryal, was die Minne mit ihnen gemacht hat: 358 Vgl. ebd., S. 38. 359 Ebd., S. 25. „Den eigentlichen Höhepunkt dieser Vermischungserscheinung bedeutet Heinrich von Meissen, genannt Frauenlob, bei dem in den Frauenlobsprüchen die Frau meistens in Anredeform, sogenannten Wortgruppenmetaphern und ‚Du-Hyperbeln‘, ins Absolute und Überirdische erhöht wird. Er wendet auf sie Bilder an, die sonst nur einer göttlichen Person gegeben wurden“ (ebd.). Vgl. auch K, Peter (1965): MariaFrouwe. Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide. München: Fink. 360 B (1953), S. 30. 361 Vgl. etwa Troj. Krieg, V. 9142–9147; 29.374–29.377; Bierbaum, der als weitere Beispiele im WvÖ die Verse 2691 f., 3017 f., 6728 f., 6732 ff., 2379 f., 6744 f., 7046 ff., 7504 ff., 10.014, 10.439f. (siehe zu diesen Versen unten) und 13.302 nennt, macht auf Parallelen bei Gotfrid von Straßburg und Rudolf von Ems aufmerksam. Vgl. B (1953), S. 67f.

222

Ü R

zwen gantz lib hat ain strik geflohten in ain ainic ain!

(WvÖ, V. 6708 f.)

Das Substantiv strik und das Verb flehten drücken übertragen die Einheit der beiden Liebenden, gestützt durch die Alliteration ain ainic ain, aus. Das Bild bleibt dabei abstrakt. Als die Verbindung von Aglye und Wildhelm allgemein akzeptiert ist, berichtet der Erzähler von der körperlichen Vereinigung der beiden: zwischen vier armen lagen zwen libe in ain gestricket, [. . . ] des wart ir baider triwe, diu ez da true tlich strickt. verworren si do schickt lindiu diehel, ærmel blanc; [. . . ] Wildhelm und diu cluo ge wurben da daz si enpfinc ain fruht, von der sit wird ergienc.

(WvÖ, V. 18.312–18.326)

Im Verb stricken wird das Nomen strik aufgenommen. Anders als in den Versen 6708f. bleibt das Bild hier jedoch nicht abstrakt, sondern wird durch die Nennung von Details (arme, diehel, ærmel) ins Konkrete gewendet. Auch die Folge, die Empfängnis der Leibesfrucht, ist konkret. 362 Die im Kontext der Minne geläufige Metapher, die hier auch konkret und in eindeutig sexueller Konnotation verwendet wird, wird auf das Geheimnis der Einheit in der Dreiheit übertragen. Hierin wird eine Möglichkeit gefunden, dieses anschaulich darzustellen: 363 geflohten in ain ainic ich die dri namen habnt sich

(WvÖ, V. 10.439); 364

Vater, Sun und hailig Gaist, in ain gestricket [. . . ]

(WvÖ, V. 19535 f.)

362 Auf der einen Seite erfüllt hier die Metapher stricken das Gebot, Erotisches nicht unverhüllt auszudrücken. Auf der anderen Seite macht der Kontext und die Nennung der Details die Metapher so eindeutig, dass von einer Verhüllung fast nicht mehr gesprochen werden kann. 363 Vgl. auch B (1953), S. 69. 364 Diese Verse listet Bierbaum als Beispiel für die Darstellung der Einheit von Liebenden auf. Vgl. dort S. 67.

Ü R  „W  Ö“

223

Auch wird diese Metapher neben Minnethematik und innertrinitarischen Zusammenhängen erweitert auf den Bereich der Bekehrung. Als sich viele Heiden entschließen zu konvertieren, wählt der Erzähler erneut das Verb stricken: die e der cristen wider part warn, die wurden in ain gestricket mit dem taufe rain

(WvÖ, V. 18.230–18.232)

Wie im Darstellungspunkt 1.1.3 365 gezeigt, versucht der Erzähler wiederholt, das Geheimnis der Trinität und deren Gleichzeitigkeit von Einheit und Dreiheit zu ergründen. Diese Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander von Einheit und Teilen, kommt ebenso in einem Brief Ryals an Aglye in Bezug auf die Minne zum Ausdruck. Die Metapher auf der Grundlage der Verben stricken und flehten ist also auf der einen Seite von der Minne auf transzendente Zusammenhänge übertragen worden. Auf der anderen Seite wirken Reflexionen über die innertrinitarischen Zusammenhänge zurück auf das Minneverständnis. din wiplich gezemde hat zwai verborgen in ain, din wiplich wunne mir durchschain gantz brust und want sich umm uns zwai so daz ain ich uz uns baiden worden ist: ich din, du min bist! doch bin ich min und du din.

(WvÖ, V. 6728–6735)

Die Macht von „wiplich gezemde“ und „wiplich wunne“ wird als eine Kraft vorgestellt, die der vis unionis ähnlich ist. Sie kann zwei Entitäten zu einer einzigen verschmelzen. Der Abschnitt gipfelt in einer leicht variierten Version der topischen Verlobungsformel ich bin din, du bist min, die jedoch ergänzt wird um eine Umkehrung derselben: „doch bin ich min und du din“. Paradox nebeneinander stehen diese beiden Aussagen, so paradox, dass nicht alle Handschriften sie aufweisen. In der Heidelberger und der Stuttgarter Handschrift ist „bistu“ statt „bin ich“ und „bin ich“ statt „du“ gesetzt, sodass die Verse 6734f. zweimal dasselbe ausdrücken: ich din, du min bist! doch bistu min und bin ich din.

Die Paradoxie ist dadurch aufgehoben.

365 Siehe S. 53ff. dieser Arbeit.

224

Ü R

Im Folgenden wird die Dichotomie von Einheit und Teilen auf den Punkt gebracht. in ain, swie wir gesundert sin, ain figur unz beslozzen hat: swie verre mir din helfe stat, doch ist si helflich bi mir.

(WvÖ, V. 6736–6739)

Das Adjektiv „gesundert“ kann auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Auf der einen Seite wird ausgedrückt, dass Aglye und Ryal eine Einheit bilden und dennoch zwei gesonderte Entitäten darstellen, ebenso wie es der Erzähler darstellt in Bezug auf die Vielheit und Einheit der Trinität. Auf der anderen Seite rekurriert „gesundert“ konkret auf die Situation, in der Ryal und Aglye sich befinden: Sie sind die meiste Zeit des Tages räumlich voneinander getrennt und dürfen nicht miteinander sprechen, wenn sie sich sehen. Die Kraft der Minne liegt in diesem Sinne v. a. darin, die räumliche Distanz überbrücken zu können. 366 Glückt dies, so kann Aglye Ryal auch aus der Distanz zur Seite stehen. Die Einigkeit der beiden wird darüber hinaus vom Erzähler im bereits behandelten Bild des einen gemeinsamen Herzens zweier Liebender ausgedrückt. 367 Die Vermischung der Bereiche Minne und Transzendenz kann zunächst – wie z. B. bei Bierbaum – auf zwei Arten gedeutet werden. Auf der einen Seite wird der Bereich des Göttlichen profaniert, auf der anderen Seite wird die Minne bzw. die Geliebte nahezu ins Göttliche erhöht. Darüber hinaus ist auf eine wichtige Erkenntnis aufmerksam zu machen, die in einer solchen Deutung leicht übergangen wird: Die Grenze von Transzendenz und Immanenz wird hier aufgehoben. 368 Zeitgenössische Reflexionen über Sprache und sprachliche Darstellbarkeit von Gott werden übertragbar auf immanente Zusammenhänge: die Erkenntnisse der zeit366 Auf der Handlungsebene findet dies konkret statt durch den Austausch der Briefe, zu dem die personifizierte Minne rät. 367 Vgl. Darstellungspunkt 1.2.4, S. 96 ff. 368 Der Versuch, mittels aus dem Bereich der Minne bekannter Schemata metaphysische Zusammenhänge zu erfassen, ist auch für das Kreuzlied (z. B. bei Hartmann) vermutet worden, (vgl. K, Hugo (1968): Minnesang als Aufführungsform. Hartmanns Kreuzlied MF 218,5. In: Hans Fromm (Hrsg.) (1985): Der dt. Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Bd. 2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 226–237, hier S. 237), dem der WvÖ thematisch nahesteht. Das Ineinander von Transzendenz und Immanenz, Kreuzlieder als Kritik am Konzept der Hohen Minne und weitere Fragestellungen sind für das Kreuzlied in der Forschung thematisiert worden. Vgl. etwa auch O, Christa (1996): Minnedienst – Gottesdienst – Herrendienst. Zur Typologie des Kreuzliedes bei Hartmann von Aue. In: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloquium 1991. Herausgegeben Von Cyril Edwards. Tübingen: Niemeyer, S. 81–99.

Ü R  „W  Ö“

225

genössischen spekulativen Theologie können auch für die Interpretation profaner Texte fruchtbar gemacht werden. Mit Bedeutung aufgeladen wird das spannungsreiche Feld von Minne und Gott im WvÖ noch dadurch, dass das Verb flæhten auch im poetologischen Sinn verwendet wird: mir warheit ich das spriche daz daz hertze min bechort daz diu zunge sue ziu wort da von ze rimen flæhte

(WvÖ, V. 1488–1491)

Die Leistung des Erzählers, Worte zu Reimen flæhten zu können, wird formuliert und damit implizit die Gestaltung des Textes in Beziehung gesetzt zu den innertrinitarischen Zusammenhängen, insofern es ja von den Einheiten der Trinität auch heißt, sie seien miteinander verflochten.

2.2.2 Schifffahrt Die Schifffahrt ist eine seit der Antike überlieferte Metapher für den dichterischen Produktionsprozess und damit eine poetologische Metapher. 369 Neben weiteren Bedeutungszuordnungen wurde das Schiff gedeutet als Kirche Christi (Schiff der Christenheit). 370 Die Schifffahrt also steht im Spannungsverhältnis von (profaner) Literaturtheorie und christlich-allegorischer Auslegung – ein Spannungsverhältnis, das sich bezogen auf den WvÖ bereits als ungemein fruchtbar erwiesen hat. 371 Auch die Schifffahrt im WvÖ wird in dieses Spannungsfeld verortet. Schon Bierbaum stellt relevante Textstellen zusammen, kommt jedoch zu einem vernichtenden Urteil. Die Ausgestaltung der Textstellen schließe „sich den überkommenen Vorstellungen an“ und gebe „nur die Variation ein- und desselben Themas“. Vor allem zeigten sich „Anklänge an Konrad“ . Dass Bierbaum eine Verknüpfung von Poetologie und christlichem Gedanken vermutet, zeigt sich, wenn er konstatiert, dass sich „die überkommene Vorstellung vom Schiff der Christenheit“ darin zeige, 369 Vgl. D, Rudolf (1979): Des Dichters Schiffahrt. Struktur und Pragmatik einer poetologischen Allegorie. In: Walter Haug (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion, Wolfenbüttel [7. bis 10. September] 1978. Stuttgart: Metzler, S. 38–51, hier S. 38, im Folgenden zitiert als D (1979); B (1953), S. 71; C (1993), S. 138–141. Vgl. zur Schifffahrt im literarischen Kontext etwa auch B, Hans (1979): Schiffbruch mit Zuschauern. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main: Suhrkamp; aufschlussreiche Ergebnisse zur Schifffahrt in Hartmanns „Gregorius“ und Wolframs „Parzival“ auch bei L (2012), S. 283 ff. 370 Vgl. D (1979), S. 38; B (1953), S. 70. 371 Vgl. Darstellungspunkt 2.2.1, S. 220 ff.

226

Ü R

dass das „Epos einem Schiff verglichen wird“. Eine „profanierende Absicht“ liege dabei nicht vor, die Zeit habe an solchen „Vertauschungen keinen Anstoß“ genommen. 372 Wenn im Folgenden übertragene Rede aus dem Bereich der Schifffahrt in den Blick genommen wird, werden viele Textpassagen denen entsprechen, die auch Bierbaum bemüht. Die Ergebnisse werden von Bierbaums Ergebnissen abweichen, nicht zuletzt, da hier der Ansatz von Drux berücksichtigt werden kann, der sich kritisch mit Curtius 373 auseinandersetzt, 374 auf den die Ausführungen Bierbaums z. T. gestützt sind. Drux nimmt im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Curtius die Kritik an dessen Toposbegriff auf. So könnten „einige Einwände, die gegen seine Definition der Topoi als ‚Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind‘, erhoben wurden, auch gegen seine Konzeption einer historischen Metaphorik geltend gemacht werden“. 375 Wer sich nämlich mit der Feststellung begnügt, daß eine Metapher [. . . ] ein fester Bestandteil „der poetisch-rhetorischen Tradition“ ist, der aufgrund seines topischen Charakters einem literarisch bewanderten Autor jederzeit zur Verfügung steht, verfährt geradezu unhistorisch, weil er die konkrete Ausprägung eines tradierten Stilmittels /sprachlichen Ausdrucks im jeweiligen Textzusammenhang außer acht läßt und ebensowenig die ästhetischen und geschichtlichen Voraussetzungen seiner Aktualisierung wie die mit seinem Einsatz verbundenen Wirkintentionen berücksichtigt. 376

Drux untersucht fünf Textabschnitte, 377 um „Aufschluß über das sprachliche Erscheinungsbild einer Allegorie und ihre kommunikative Leistung zu erhalten“, seine Ergebnisse sollen am Ende dieses Kapitels mit den Ergebnissen zum WvÖ verglichen werden. Bezogen auf das eigene Dichten wird im WvÖ zum ersten Mal von einem Schiff in einem Gebet an Maria gesprochen. Maria wird gebeten, den Erzähler beim Verfassen seines Werkes zu unterstützen. 378 Dabei imaginiert sich der Erzähler als Steuermann:

372 B (1953), S. 70. Vgl. dort auch S. 71 f. Die Verse 10.471–10.481 werden auch genannt bei D (1993), S. 181, Anm. 17. 373 Vgl. C (1993), S. 138–141. 374 Vgl. D (1979), S. 38. 375 Ebd. 376 Ebd. 377 Vorrede zum zwölften Buch der Inst. orat. Quintilians (D (1979), S. 39 f.); Ovid, Tristien (D (1979), S. 40 f.); Alkuin, Versus de sanctis Euboricensis ecclesiae (D (1979), S. 42f.); Einleitung des Paradiso in Dantes Divina Commedia (D (1979), S. 43–46); Opitz, Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges (D (1979), S. 46 f.). 378 Vgl. dazu Darstellungspunkt 1.1.4, S. 68 ff.

Ü R  „W  Ö“

din gruntloser gnaden schif la floe zzen mich uf soe lch getiht da mit ich dinen gnaden niht enpfremde und dines kindes! swaz sælicliches windes min segel dar zuo mue zzen han, daz la an diner bærmde stan

227

(WvÖ, V. 10.472–10.483)

Der Erzähler zeigt sich in dieser fortgeführten Metapher zweifach von Maria abhängig. Erstens ist es ihr schif, das er zu lenken begehrt, zweitens erbittet er von ihr einen günstigen Wind. 379 Die Vorstellung des Dichters als Seefahrer wird hier also mitgedacht, das Hauptaugenmerk aber auf die Abhängigkeit von Maria sowie das Schiff gelegt. Sieht man in den Segeln eine Fortführung der Metapher des Schiffes, so fällt der Wechsel in der Wahl der Possessivpronomen auf. Während das Schiff mit dem Possessivpronomen der zweiten Person Singular (din) verknüpft ist, spricht der Erzähler mit dem Possessivpronomen der ersten Person Singular von seinen (min) Segeln. Hat der Steuermann also seine eigenen Segel mit auf ein fremdes Schiff gebracht? Ist hier von zwei verschiedenen Schiffen die Rede? Oder ist das Schiff in den Besitz des Erzählers übergegangen? Die Antworten auf diese Fragen müssen wohl offenbleiben, verschiedene Bedeutungen werden nebeneinander in der Schwebe gehalten. Das Ziel der Schifffahrt, das Signifikat des Ziels ist indes klar: ein so gestalteter Text, der Maria und Gott gefallen kann. Das Schiff, und mit ihm das Spiel mit der Vorstellung, dass der Erzähler nicht sein eigenes Schiff steuert bzw. das Lancieren mit der Idee zweier Schiffe, wird knapp viertausend Verse später wieder aufgenommen: Nu lazzet vliezzen in den runst daz schif, daz richs getihtes kunst geladen hat zewirde! daz wær wol min begirde daz ich der dar uz kue nd gesteln, daz ich herzogen Wildhelm zu dem turnay rust

(WvÖ, V. 14.341–14.347)

Im ersten Vers wird darauf verwiesen, dass die Handlung vorangetrieben wird. Erneut geht es dabei primär um das Schiff selbst bzw. hier um dessen Inhalt: Es hat getihtes kunst / geladen [. . . ] ze wirde. Im ersten Moment ist der Rezipient verleitet, diese Aussage als Eigenlob zu verstehen; das Schiff, das augenscheinlich die Produktion des eigenen Textes bedeutet, hält noch viel Substanz bereit. Ab Vers 14.344

379 Interessant ist hier die Parallele zu dem 1621 entstandenen Trostgedichte Opitz’, in dem in Vers 42 vom „Gnaden Wind“ die Rede ist.

228

Ü R

wird jedoch in Erinnerung gerufen, dass es hier nicht um das Schiff des Erzählers geht, sondern um Marias Schiff. Dieses ist voll von Künsten, dem Erzähler bleibt allein der Wunsch, aus diesem Fundus so viel gesteln zu können, dass er Wildhelm für das Turnier ausrüsten kann. Die topische Metapher der Schifffahrt bezogen auf die Produktion eines Textes schwingt auch hier mit, in erster Linie ist das Schiff aber eine potenzielle Quelle der Inspiration. Diese Idee des unendlichen göttlichen Fundus und der möglichen eigenen Leistung daneben machen zum einen die Verse 2435ff. deutlich. Dort apostrophiert der Erzähler Gott als „schepfer aller aventiur“ und lässt wissen, dass auch er eine solche aventue re verfasst habe. Diese allerdings sei „den sinnen min ze maisterlich“. 380 Zum anderen wird sie wenige Verse später auch bezogen auf Maria ausgeführt: Kue niginne, gammer! wis mich zu der kammer mit diner wishait slue zzel, daz mir gnaden schue zzel dar inne gefue llet werde, daz ich uf dirre erde sinne kunst so schepf daz mich iht beclepf der ewiclich tot da von!

(WvÖ, V. 14.409–14.417)

Was zuvor als (ironisch gebrochenes) Erwägen ausgedrückt ist, aus Marias „Gnadenschiff“ zu stehlen, wird nun formuliert als Bitte, seine schue zzel in Marias kammer füllen zu dürfen. 381 Das Bildfeld der Schifffahrt wird im Laufe der Handlung noch weitere Male zitiert, etwa wenn von „der Aventue r anker haft“ (WvÖ, V. 15.353) gesprochen wird. Diesem Feld benachbart ist der Bildbereich des Wassers, der häufig bemüht wird, so z. B. um nach einem Exkurs den Fortgang der Handlung zu kennzeichnen: nu dar! lat fue rbaz rinnen die aventue r in kunst bach!

(WvÖ, V. 16.028 f.)

Das Bild der Schifffahrt wird insofern ergänzt, als hier das Medium, in dem Schiffe sich bewegen, in den Blick genommen wird. Das Verb rinnen erlaubt zwei Verstehensweisen: Entweder fließt die aventue re in Form eines Schiffes auf einem Gewässer oder aber die aventue re selbst wird verstanden als Wasser, das in ein anderes fließt. Diese zweite Weise des Verständnisses kommt bei einer anderen Textstelle zum Tragen:

380 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 1.1.2, S. 41 ff. und 1.1.1, S. 37 ff. 381 Vgl. hierzu die Ausführungen im Darstellungspunkt 1.5.2, S. 141 ff.

Ü R  „W  Ö“

Du werder Eschenbacher, la dins getihtes wiger durch mines herzen stad gan!

229

(WvÖ, V. 14.545–14.5479)

In der Hoffnung auf Inspiration durch Wolfram wählt er für dessen Dichtkunst das Bild des wiger. Hier also stellt, was in den Versen 16.028f. mit angeklungen ist, das Gewässer den Text (bzw. dessen Produktion) dar. An dieses Verständnis in Verbindung mit der in den Versen 14.409–14.417 zum Vorschein kommenden Vorstellung von Inspiration knüpfen Formulierungen an, in denen Abstrakta sich ergießen oder fließen. Von Crispin heißt es, „ir wiplich genuht / giuzzt kraft in mænlich zuht“ (WvÖ, V. 11.485 f.), von Gottes Gnade, sie „giezze[ ] / [. . . ] gelue ck und ere“ (WvÖ, V. 12.206 f.); anknüpfend an mystischen Sprachgebrauch beklagt der Erzähler, dass er Gottes Wesen nicht ergründen könne, da „dins ursprings unden / ze wit sint geflozzen“ (WvÖ, V. 14.326 f.). Auf poetologischer Ebene ist nirgends von der Gefahr zu kentern oder dem Ertrinken die Rede. Diese Motive tauchen jedoch wiederholt auf der Handlungsebene auf. Kampfhandlungen werden ins Bild gesetzt als Bewegung des Kiels durch Fluten, wobei die Kraft gespeist ist vom Sturm: also sturm winde grozen kiel werfent durch der ue nde fluo t, sus Wildhelm mit dem rosse wuo t durch die punder krefticlich

(WvÖ, V. 8118–8121)

Die Übertragung ist eindeutig: So wie ein Sturm einen Kiel durch die Fluten treibt, so wütet Wildhelm durch die feindlichen Reihen, das Signifikant „Kiel“ steht für Wildhelm, das durchbrochene Wasser bedeutet das feindliche Heer. 382 Das Signifikant „Kiel“ kann aber auch den fallenden Krieger bezeichnen: daz er nider als ain kiel viel, den da winde zerren

(WvÖ, V. 11.798 f.)

Der Logik des Kenterns folgend wird der Tod von Kämpfern denn als Ertrinken geschildert. Hyperbolisch und paradox gewendet ertrinken sie dabei an ihrem eigenen Blut: es muo z in sinem bluo te da maniger noch ertrinken

(WvÖ, V. 6315 f.)

Hurta! von den hue rten alrerst in bluo tes fue rten

382 Jeweils in Nuancen noch anders gewendet in den Versen 12.072 f., 17.537 ff. oder 17.688 ff.

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Ü R

da maniger muo st ertrinken. die Sarrazin do sinken sah man gæn der erden.

(WvÖ, V. 18.031–18.035)

Die große Menge an Blut, auf der die Vorstellung basiert, im eigenen Blut zu ertrinken, wird an anderer Stelle in den Blick genommen. Die wutentbrannte Tötung Walwans durch Wildhelm wird äußert blutig beschrieben: von dem slage do zerspranc helm, wapen, blech, ringe, der slac sanc in die siten linge lunge, miltz do uz im viel, dar nach ain brunne bluo tes wiel uz hertz und uz adern, diu zunge im do wart ladern, daz haupt naigt er gein dem wasen. er sluo g im ab munt und nasen, daz brust bain er zerstuckt. der dritte slag do druckt lanchen dem ross enzwai (WvÖ, V. 8398–8409, Hervorhebung SH)

In der großen Schlacht regnet es Blut: ahy, wie man die degen sach in bluo tes regen durch die vinde waten!

(WvÖ, V. 17.679–17.681)

Hier klingt die Vorstellung des Kiels an, der durch die Fluten getrieben wird, wobei die Fluten die Feinde denotieren. Auch hier werden diese in das Bild eines flüssigen Mediums gebracht, insofern die Helden durch sie hindurch waten – eine Fortbewegung in seichtem Gewässer. Die Verknüpfung von Seefahrt, Kampf und Tod durch Ertrinken könnte von Wolfram beeinflusst sein und somit könnte dort ein Schlüssel zum Verständnis des Bildes gefunden werden, in seinem eigenen Blut zu ertrinken. Im Willehalm wird Haropînes suon erschlagen, dessen Helmzier ein Schiff ist. Der tödliche Schlag durchdringt Helm und Helmzier (vgl. Wh. 411,2ff.). Indem für Helmzier (zimiere) „Schiff“ gesetzt wird, erscheinen disparate Elemente (Schiff /Helm) in Art eines Zeugmas unifiziert. Von hier aus werden jetzt zwei gegensätzliche Zugehörigkeiten entwickelt: Zum Helm gehört der Ritter, zum Schiff gehört der Seemann, wenn es dann heißt: der clâre junge starke gast underm horse tôt belac. in die barken gienc der bluotes wâc:

Ü R  „W  Ö“

swer marnaer drinne waere gewesen, der möhte unsanfte sîn genesen

231

(Wh. 411,6–10)

Die Gegensätzlichkeit von Schmuck und Rüstung, Ornament und Mensch ist weitergeführt: Das Blut strömt aus dem Ritter heraus, strömt ins Schiff hinein, der Ritter verblutet, der metaphorische Seemann ertrinkt. Hier wird vielleicht durch Verschiebungstechnik das Gegenteil von befreiender Heiterkeit erreicht. Die Vorstellung vom ertrinkenden Seemann erspart zwar die vom verblutenden Ritter, aber das daraus entstehende Gelächter wird der Mißbilligung des Dichters verfallen: swâ sô werder tôte laege, / wer dâ lachens pflaege? (Wh. 445, 11–12). 383

Womöglich sind, wenn Johann die Kämpfer in ihrem eigenen Blut ertrinken lässt, Ritter und Seemann aus dem Willehalm gedanklich miteinander verknüpft. Das Motiv des Ertrinkens wird auch auf andere Weise übertragen verwendet. So wird damit beschrieben, wie unendlich groß der Schmerz sein kann. In der Darstellung des Schmerzes, den Aglye leidet, weil sie Wildomis heiraten soll, wird das Verb ertrenken innerhalb von vier Versen dreimal genannt: si tet reht als ain wilder hirs der sich vor hunden senket und in dem wage ertrenket: sus ertrunken ir die sinne, si wolt irs libes minne in jamers wage ertrenken. si wart dem tode wenken als der hase den winden: sus sah man ir geswinden.

(WvÖ, V. 9924–9932)

Bezogen auf den Bildspender noch gesteigert, wird dies aufgenommen, als davon die Rede ist, wie die dienstherren um Wildhelm trauern: die dienstherren man so sach uf dem grabe wue ten, des laides sintflue ten het si nah ertrenket.

(WvÖ, V. 19252–19255) 384

Auf der Handlungsebene spielt die Schifffahrt an zwei entscheidenden, handlungsinitiierenden Stellen eine herausragende Rolle. Hierbei kommt ein anderer Verste383 B, Karl (1983): Versuch über tote Witze bei W (1973). In: Karl Bertau (Hrsg.): Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte. München: Beck, S. 60–109, hier S. 82. 384 Die Arche als Rettung vor der Sintflut wird wenige Verse später vorgestellt. An dieser Stelle ist sie jedoch nicht mit Hoffnung konnotiert, sondern Wildhelms Tod wird als Zeichen dafür gelesen, dass die Erbsünde nicht getilgt wurde (vgl. WvÖ, V. 19256–19263). Vgl. hierzu auch Darstellungspunkt 1.1.2, S. 41 ff. Siehe zur Verbindung von Leid und Flut auch die Verse 5392–5401.

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henshorizont zum Tragen als der oben skizzierte Topos der Schifffahrt als Prozess des Dichtens. Nach Delumeau 385 stellt das Meer den mentalitätsgeschichlichen Angst- und Bedrohungsraum dar, für Kugler ist es „probates Medium der ‚geographische[n] Desorientierung‘ epischer Helden“. 386 Herweg differenziert diese Definitionen gemäß einer Aufteilung in einen „Eigenraum“ und einen Raum außerhalb von Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen – unter dem Eigenraum versteht er „die spätmittelalterlichen Kontakt- und Verdichtungszonen der Hanse im Norden und der großen Handels- und Pilgerrouten des Südens“ 387 – herrschen religiös, politisch und konstitutionell kompatible Ordnungsvorstellungen, bleibt die Fiktion weitgehend frei von überraschenden und unberechenbaren Zügen, implizieren selbst Meerfahrten nur virtuell gefahrvolle, tatsächlich kaum je als gefährlich dargestellte Passagen. Erst der Übertritt ins außerhalb gelegene Fremde setzt bisher unbekannte Risiken frei, gibt alteritären Ordnungen Raum und vollzieht sich mit großer Regelmäßigkeit unter den seit Homers ‚Odyssee‘ und Vergils ‚Aeneis‘ topischen Katastrophen, den episch wie enzyklopädisch so produktiven Schiffbrüchen und Irrfahrten. 388

Der Übertritt der angesprochenen Grenzen vom Innenraum in die Fremde wird im WvÖ geleistet. Auf den Reisen von Österreich in den Orient müssen Grenzen mit Hilfe von Schiffen überschritten werden. 389 Zum einen betrifft dies die Reise Liupolts nach Ephesus, zum anderen die Suche Wildhelms nach dem ihm eingegebenen Bild der Geliebten. Liupolt hat den Plan gefasst, zum Grab des Evangelisten Johannes nach Ephesus zu pilgern, um dort um einen Nachkommen zu bitten, den er bis dahin entbehrt. Um dorthin zu gelangen, reitet Liupolt nach Marsiliyen (WvÖ, V. 270) und lässt dort „beraiten ein galin“ (WvÖ, V. 273), das ihn über „des wilden meres fluo t“ (WvÖ, V. 275) mit Hilfe eines Lotsen (vgl. WvÖ, V. 277f.) nach Ephesus bringen soll. Die Gefahr, die von Reise und Meer ausgeht, wird wiederholt durch das Adjektiv wild, das auf das mer bezogen wird, präsent gemacht. An die knappe Beschreibung des Aufbruchs (vgl. WvÖ, V. 292) schließt sich denn auch sogleich die des Schiffbruchs an, der das Zusammentreffen von Liupolt und Agrant erst ermöglicht. Wie später seinen Sohn verschlägt es Liupolt nach Zyzya: 385 D, Jean (1985): Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Reinbeck: Rowohlt TB-V, S. 49–63. 386 K, Hartmut (1990): Zur literarischen Geographie des fernen Ostens im „Parzival“ und „Jüngeren Titurel“. In: Ja muz ich sunder riuwe sin. FS. Karl Stackmann, herausgegeben von Wolfgang Dinkelacker et al. Göttingen: V. u. R., S. 107–147, hier S. 125. 387 H (2010), S. 253. 388 Ebd. 389 Vgl. zum Thema der Grenzüberschreitung v. a. E (2004).

Ü R  „W  Ö“

Ob ich tihten kue nde, ich sait wie die ue nde daz galin brach und ue bervloz! Vil manigen val und stoz ez tuchende in den wællen nam; von norde ein sturm wint do kam und warf in hin gein Zyzya

233

(WvÖ, V. 293–299)

Im Gegensatz zu der Rückreise Liupolts und der Suche Wildhelms, bei denen der Reiseweg detailliert beschrieben wird, werden hier lediglich der Ausgangspunkt der Reise sowie der Zielort genannt. 390 Egidi sieht in dieser „äußerst knappe[n] Konkretisierung des Orientschemas, die auf ein bloßes Zitieren der Motive der gefährlichen Meerüberfahrt und des Sturms reduziert ist“, die „Toposhaftigkeit derart“ ausgestellt, „dass ihre Funktion weitgehend darin besteht, die Topoi als solche vorzuführen und die Rekurrenz von Grenzüberschreitungsszenarien zu annoncieren“. 391 Auch Herweg sieht bereits in der Seefahrt Liupolts ein Überbrücken einer Schwelle. Diesseits und jenseits dieser Schwelle wären die geographischen Begebenheiten mehr oder weniger schlüssig, die Schwelle selber jedoch sei ein „Bereich des Unerklärten und Unerklärbaren“, der „auch geographisch letztlich unbestimmt“ bleibe. 392 Das Moment des Unbestimmten wird dabei auch auf poetologischer Ebene reflektiert, insofern der Schiffbruch mit einer topischen Unfähigkeitsbeteuerung eingeleitet wird. Von Vers 298 – der Sturm kommt von norde und Liupolt ist von Westen nach Osten unterwegs – ist abgeleitet worden, dass Zyzya sich in Nordafrika befinden müsse. 393 M. E. geht die Frage nach der konkreten geographischen Lage hinter die referierten Erkenntnisse zurück, in denen der Kern der Episode erfasst ist. Ohnehin ist über geographische Einzelheiten umfassend spekuliert worden. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass der nord wind nicht von allen Handschriften verbürgt ist. Die Handschriften W und Wg schreiben norme statt norde. Es ist auch nicht „geographisch [. . . ] haltlos“, dass Liupolt auf dem

390 391 392 393

Vgl. auch S (2011), S. 97. E (2004), S. 92. H (2010), S. 259. Zuletzt dazu S (2011), S. 97, Anm. 15: „So wird König Agrant bei der großen Schlacht in der Aufzählung des Afrikanischen Kontingents genannt (V. 16.399 ff.). Über die geographische Verortung Zyzyas herrscht bislang keine Einigkeit. So verortet Schulz Zyzya ‚im fernen Asien‘ (Scholz 1987, S. 11), Mathias Herweg identifiziert das Reich wie schon Eugen Mayser (vgl. Mayser 1931, S. 75) mit Skythien und lehnt damit die von Dietl in Betracht gezogene Deutung als Kythera (vgl. Dietl 1999, S. 81, Anm. 78) ab, weist aber auch darauf hin, dass der ‚topographisch nachvollziehbar‘ beschriebene Weg am Schwarzen Meer endet und durch ‚Unerklärbare[s] wie einen Sturm oder den Fisch cetus das Bestimmbare verlassen wird‘ (vgl. Herweg 2010, S. 259)“.

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Weg von Wien nach Ephesus „auch Marseille passiert“. 394 Zwar gäbe es geographisch betrachtet direktere Wege von Wien nach Ephesus – und dieser Umstand zeigt sich auf einer zeitgenössischen Weltkarte 395 noch deutlicher als auf einer modernen – historisch ist ein Einschiffen in Marseille, um nach Ephesus zu gelangen, aber durchaus naheliegend, insofern dort zahlreiche Kreuzzüge beginnen, u. a. auch der für den WvÖ relevante fünfte Kreuzzug. 396 Die Wege von Zyzya nach Ephesus und zurück gelingen unter der Führung Agrants, dem die Gegend bekannt ist (vgl. WvÖ, V. 438–460). Diese Sachkenntnis gibt er Liupolt in Person des Greisen Gamis mit auf den Weg, der Liupolt den Weg weisen soll (vgl. WvÖ, V. 468–473). Explizit verliert durch den neuen Führer das Meer sein Gefahrenpotenzial, es ist nicht länger als wild charakterisiert, sondern es ist lediglich von „des meres fluo t“ die Rede (WvÖ, V. 479). Dank des Führers gestaltet sich die Rückfahrt nicht als Irrfahrt, sondern kann „detailliert und geographisch halbwegs nachvollziehbar geschildert“ werden 397: Die segel winde wurden guo t, so daz schier wart erkant Pannonia, daz windisch lant, daz an dem Ostermer da sich endet: uf dem selben strich komen sie gevarn zuo . Ditz was eines morgens vruo , da schiftens uz ze einer stat, diu haizzet Rumisalat, diu an der Rumanie lit. Si riten an der selben zit durch die wue sten Rumanie. Do sprach der werde vrie zu Gamis sinem gelaiten: ‚wir mue zzen uns arbaiten durch ditz wilde gevilde! Ditz land ist so wilde!‘

(WvÖ, V. 480–496)

Dabei zeigt sich nicht wie auf der Hinfahrt eine geographisch nicht bestimmbare „Schwelle“, sondern die geographischen Kenntnisse Liupolts und Gamis’ ergänzen

394 H (2010), S. 259, Anm. 903. 395 Vgl. etwa die Erbstorfer Weltkarte. 396 Vgl. zur Relevanz des 5. Kreuzzuges für den WvÖ D (1993), S. 173. Es ist m. E. jedenfalls plausibler, diesen historischen Hintergrund anzuführen, als „ein mißverstandenes Marsilie am Schwarzen Meer“ (H (2010), S. 259, Anm. 903) anzunehmen. 397 S (2011), S. 97. Vgl. auch K (1993), S. 479.

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sich. 398 In der Wüste Rumanie scheint Gamis sich nicht mehr auszukennen und Liupolt berichtet ihm davon, was ihnen bevorsteht. Dort, wo die geographischen Kenntnisse des einen aufhören, beginnen die des anderen. Werden auch die Gebiete Russland, Bulgarien und Niflant, die durchquert werden müssen, als wild bezeichnet, so können sie dennoch detailliert benannt werden. Es lohnt ein Seitenblick auf die Wälder der höfischen Romane, auf die die Löwenfüße des Aventue re hauptmans 399 rekurrieren. Treffend konstatiert Pfeiffer, dass sich das Verhältnis von holz und hof nicht als ein dialektisches beschreiben lasse. Vielmehr stünden beide Sphären einander in unaufhebbarem Widerspruch gegenüber und sollen im übrigen auch gar nicht zu einer irgend gearteten Synthesis, die ohnehin nur als erpreßte Versöhnung denkbar wäre, geführt werden. Im Gegenteil: ihr kreatives Potential schöpft die Konstellation aus der strengen Wahrung der Grenzen bei deutlich erkennbarem Wohlwollen für die Perspektive des ‚Guten‘. Es ist eine andere Welt und soll auch eine andere Welt bleiben, in der der Held sich zu bewähren haben wird. 400

Wie oben gezeigt, verhält sich die wilde im WvÖ anders, die Fremde bleibt nicht fremd, sondern wird in die Sphäre des Eigenen assimiliert. Neben ihrem Gefahrenpotenzial verliert die wilde damit auch, folgt man der Einschätzung Pfeiffers, ihr kreatives Potenzial. Gewendet auf die Handlung ist der vormals fremde Raum angeeignet und damit womöglich bereits vorausgedeutet, dass gegen Ende der Handlung der Orient christianisiert sein wird. Der entscheidende Punkt ist – und hier unterscheidet sich der WvÖ von den höfischen Romanen –, dass der angeeignete Raum eben nicht sein Erlebnis- und Gefahrenpotenzial einbüßt. Wildhelm wird den Raum für sich entdecken, der bei seinem Vater bereits das Attribut der wilde verloren hatte, und darin Aventue ren bestehen; nachdem die große Schlacht von den Christen gewonnen wurde, wird Wildhelm – auf quasi eigenem Hoheitsgebiet – ermordet. Die in den höfischen Romanen gültige Dichotomie von holz und hof ist zwei neuen Prinzipien gewichen. Zum einen ist auch der scheinbar assimilierte Raum voller Gefahren, es gibt innere Feinde. Zum andern ist das Prinzip der kollektiven Erfahrung abgelöst durch das der individuellen: Wildhelm muss den Raum individuell erobern, den sein Vater bereits entdeckt hatte. Der Plot der Handlung – Wildhelm bricht heimlich auf – sieht dabei vor, dass das Wissen um den geographischen Raum nicht vom Vater an den Sohn weitergegeben werden kann. Wildhelm muss seine eigenen Erfahrungen machen. 398 Die von Herweg konstatierten „Schwellen“ können also nicht nur „mechanisch überbrückt“ (S. 259) werden, sondern sich auch innerhalb eines Textes verschieben bzw. aufgelöst werden. 399 Vgl. Darstellungspunkt 2.2.4, S. 261 ff. 400 P (2006), S. 111.

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Wildhelm startet, um das ihm eingegebene Bild der Geliebten aufzuspüren, mit einem Schiff auf der Donau, auch er verzichtet dabei nicht auf einen Lotsen (vgl. WvÖ, V. 816f., 834 f.). Die Reiseroute wird nachvollziehbar beschrieben 401; sie führt zunächst in Richtung Ungarn (vgl. WvÖ, V. 900–903), dann „zu den Valven in Thartary / den die Walachen wonent by“ (WvÖ, V. 907f.), in „daz windisch rich“ (WvÖ, V. 909) und schließlich durch Pannonye, wo sich die Donau – korrekt beschrieben – in sieben Flüsse aufteilt (vgl. WvÖ, V. 914f.). Über „einen val“, den die Donau in das ostmer (Schwarzes Meer) nimmt (vgl. WvÖ, V. 923–927), gelangt Wildhelm mit seinen Begleitern in das Schwarze Meer (vgl. zusammenfassend WvÖ, V. 937–741). Was sich dann ereignet, ist von Kiening als „Übergang von Räumen realer Geographie in solche des Imaginären“ bezeichnet worden. Wie schon bei der Fahrt Liupolts werde der Weg von Wien bis zum Schwarzen Meer „präzise“ beschrieben, ab dort verwische er sich „im Kontinuum der Phantasie“. 402 Scholz konstatiert, an dieser Stelle nehme die Geschichte „eine erste Wendung ins Fabulös-Märchenhafte“. 403 Vor Tormenya 404 nämlich sehen Wildhelm und seine Männer eine Kogge, von der der Erzähler weiß, dass sie dem König von Zyzya frische Nahrung bringen soll (vgl. WvÖ, V. 944–947). Auf der Ebene des epischen Personals spielt diese Kogge vordergründig keine Rolle mehr, aus ihrer Perspektive zeigt sich lediglich ein hag, eine Insel im Meer (vgl. WvÖ, V. 987). Diese möchte Wildhelm besuchen, um zu rasten: zu sinen dienstmannen sprach er: ‚hoe rt was ich iu sage! wir sue llen ruo wen in dem hage daz dort lit vor uns in dem mer!‘

(WvÖ, V. 995–997)

Relevant ist hier die Diskrepanz zwischen dem Wissen des Erzählers und dem Wissen der Figuren; der Erzähler hält Informationen bereit, die eine kausale Kette 405 erkennbar werden lassen, für den Fortgang der Handlung ist es wichtig, dass Wildhelm unwissend bleibt. Der Erzähler weiß, dass die vermeintliche Insel der Riesenfisch Cetus ist. Er teilt dem Rezipienten zudem mit, dass Cetus der auf dem Weg nach Zyzya sich befindenden Kogge hinterherschwimmt (vgl. WvÖ, V. 947f., 966f.), und hält eine naturkundliche Begründung für den üppigen Bewuchs auf dem Rücken des Fisches bereit (vgl. WvÖ, V. 949–965). In den Gewässern vor 401 402 403 404

Vgl. F (1930), S. 51, H (2010), S. 259 f., S (2011), S. 97. K (1993), S. 479. S (1987), S. 16. Vgl. auch S (2011), S. 98. Regel – und ihm folgt F (1930), S. 51 – identifiziert Tormenya mit der sizilianischen Stadt Taormina. E (2004), S. 92 nimmt eine Hafenstadt am Schwarzen Meer an. S (2011), S. 98 folgt dieser Einschätzung. 405 Vgl. E (2004), S. 95–97.

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Tormenya rastet der Fisch just zu der Zeit, als Wildhelm diese erreicht (vgl. WvÖ, V. 970–974). Und aus der Perspektive Wildhelms zeigen sich allein ein hag sowie der Baum Bethelium, auf den Wildhelm zufährt und, wie oben bereits vorgestellt, dort rasten möchte (vgl. WvÖ, V. 984–993). Der Rücken des Fisches indes erweist sich als locus amoenus. 406 Der Duft des Baumes Bethelium sowie der guo ten crue ten lockt Wildhelm, der gar vermutet, auf dieser idyllischen Insel das zu finden, wonach er sucht: er sprach: ‚sölt ich hie true ten min wundern schones bilde, mir wue rde sorge wilde!‘

(WvÖ, V. 1008–1010)

Wildhelm allein betritt die Insel /den Fischrücken, dessen Bewuchs so stark ist, dass er durch bramen und durch dorne dringen muss, um zu dem in der Mitte der Insel sich befindenden Baum zu gelangen, von dem er einen Ast abbricht (vgl. WvÖ, V. 1016–1027). Was dann geschieht, ist, wie Egidi feststellt, „für den Rezipienten erwartbar“: 407 Cetus bewegt sich, nimmt seine Verfolgung des Schiffes Richtung Zyzya wieder auf und trennt somit Wildhelm von seinen Begleitern. 408 Diese werden von einem Nordwind 409 zurück nach Tormenya getrieben, von ihrem weiteren Schicksal weiß der Erzähler nichts und Wildhelm gelangt auf dem Rücken des Fisches bis nach Zyzya. Dort taucht der Fisch so weit ab, dass man nur noch den Baum sieht, an den sich Wildhelm klammert. So wird er von Wigrich gesehen, der ihn auf einem kleinen Boot rettet. In dem Moment, in dem Wildhelm das Boot Wigrichs betreten hat, taucht Cetus vollends unter und verschwindet. Wigrich beschließt, Wildhelm zum Hofe seines Herrn Agrant zu bringen, bei dem er als Bruder Aglyes erzogen werden soll (vgl. WvÖ, V. 1028–1254). Die Funktion des Umstandes, dass Wildhelm auf dem Rücken des Fisches nach Zyzya gelangt, ist verschieden interpretiert worden. Kiening sieht v. a. „Wildhelms 406 Vgl. E (2004), S. 92 f. 407 Ebd., S. 93. 408 „Die notwendige Trennung der beweglichen Figur von den unbeweglichen Statisten ist damit vollzogen“ (ebd.). 409 In der Forschung hat es große Verwirrung hervorgerufen, dass der Nordwind einmal nach Zyzya führt (in der Vorgeschichte) und einmal davon weg (vgl. etwa S (2011), S. 98). Herweg macht auf Parallelen in der geographischen Gestaltung des WvÖ mit der Weltchronik Rudolfs aufmerksam. In dieser gibt es zwei verschiedene Orte Cicia, „einerseits in Innerasien 2066, andererseits als Niederscythien/Cicia du nidir, 2209, nördlich der unteren Donau“. Herweg vermutet, dass Zyzya im WvÖ Cicia du nidir in der Weltchronik entspricht (H (2010), S. 261, Anm. 913). Warum sollte es nicht auch im WvÖ zwei verschiedene Zyzyas geben? Es kann durchaus plausibel angenommen werden, dass Zyzya ein großes Reich ist, Enklaven besitzt u. Ä. Ähnlich tauchen in der Erbstorfer Weltkarte zwei Inseln Kreta auf. Siehe auch die Überlegungen oben zu Vers 298.

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Auserwähltheit offenbart, bleiben doch die Diener zurück“. 410 Herweg sieht durch Cetus die Funktion erfüllt, die Schwelle von Eigenem und Fremden zu „bewältigen (und kaschieren)“. Den Mehrwert dieser „Modifikation“ – im Gegensatz zu einer herkömmlichen Seefahrt – sieht er darin, „das Irrationale des Übergangs naturkundlich zu rationalisieren“. 411 Für Schindler wird Zyzya durch die sich widersprechenden geographischen Angaben und die Fahrt Wildhelms auf Cetus „ in eine Art bestimmte Unbestimmtheit gerückt“. 412 Besonders differenziert betrachtet Egidi die „Fischinsel“. Nicht nur sei sie „ein locus amoenus in seiner klassischen Funktion als Ort einer potentiellen Liebesbegegnung – und damit auch als Ort einer Idylle“ 413, sie markiere auch eine „Grenzscheide“. 414 Egidi bezieht sich auf van Genneps Ausführungen zu Übergangsriten 415, wenn sie erwägt, dass sich Cetus „teilweise als eine jener ‚neutralen Zone[n]‘ des Übergangs in den rites de passage betrachten [lässt], die als isolierte, ausgelagerte Orte das räumliche Analogon zur Schwellenphase bilden“. 416 Als Argument, Cetus bzw. die Insel als einen eigenständigen Raum aufzufassen, führt sie an, „dass erzählt wird, wie Wilhelm sie zu Beginn betritt und am Ende der Reise wieder verlässt“. 417 Dabei ist – noch über den Doppelcharakter als Vehikel und Raum auf der Grenze hinaus – ihr Status ambivalent: Sie ist „neutraler“ Übergangsort und zugleich positiv konnotierter Ort einer möglichen Liebesbegegnung, mithin vorweggenommenes Ziel. Doch wird die im Text nur angedeutete Funktion der Insel als eigene Zone sowie der Meerüberfahrt als eine dritte, eine Schwellenphase, sofort wieder zurückgenommen und abgeschwächt zugunsten der Vorstellung der Grenze als Scheide: Wird doch der ephemere Status der „Insel“ stark hervorgehoben, insofern sie, bald nachdem Wilhelm sie betreten hat, aufhört, eine zu sein. Die Räumlichkeitsvorstellung einer Zwischenzone mit eigener, wenn auch geringer Ausdehnung tritt rasch zurück zugunsten eines 410 K (1993), S. 479. Vgl. dazu auch die oben zitierte Interpretation Egidis, Cetus leiste die notwendige Trennung „der beweglichen Figur von den unbeweglichen Statisten“ (E (2004), S. 93). 411 H (2010), S. 259 f. Cetus bezeichnet er als „ein biblisches (Ion 2) und enzyklopädisches ‚Faktum‘“. Bei Herweg finden sich Literaturverweise zur epischen Inszenierung des muslimischen Orients (vgl. ebd.). 412 S (2011), S. 98. Dort finden sich weitere Literaturangaben zur Geschichte des Motivs Cetus in Talmud, Physiologus, Brandan-Legende und Konrads von Megenberg Buch der Natur. 413 E (2004), S. 93. 414 Ebd., S. 95. 415 G, Arnold van (1999): Übergangsriten (Les rites de passages). Aus dem Französischen von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff. Mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt am Main /New York: Campus-Verlag. Im Folgenden zitiert als G (1999). 416 E (2004) mit Verweis auf van G (1999), S. 27. 417 Ebd.

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Raumes, dessen intradiegetische Funktion lediglich darin besteht, durchmessen zu werden, der also primär auf das Moment der Überschreitung verweist. Beide Strukturoptionen sind somit in einem dynamischen Verhältnis zueinander zu sehen. Die Beschreibung von Wilhelms Fahrt auf dem Fisch lässt sich noch präziser charakterisieren: Kennzeichnend ist zum einen die auch von Meerüberfahrten in anderen Erzähltexten bekannte Passivität des Helden, der zum Spielball des „Zufalls“ wird. [. . . ] Zweitens ist für die Episode die Verbindung des Zufallsprinzips mit einer auffälligen Verkettung kausaler Zusammenhänge (der Fisch schwimmt Richtung Zyzia, weil er einem Schiff folgt, das dorthin Kurs nimmt) konstitutiv, die zum Zufallsprinzip quer steht; zwischen beiden Motivationen entsteht eine gewisse Spannung. 418

Es zeigt sich, wie vielschichtig der Fisch Cetus und Wildhelms Überfahrt auf ihm in das Reich, in dem er seine Geliebte treffen wird, angelegt sind, nicht zuletzt darin, dass den referierten Interpretationen wohl sämtlich zuzustimmen ist. Und noch eine weitere Lesart bietet sich an. Kiening bringt auf den Punkt, was der Ort Mons Salvia für Wildhelm und Aglye bedeutet: er „erweist sich als nur momentane Oase inmitten von Heillosigkeit“ 419 – das von den beiden erfahrene Glück ist äußerst flüchtig und entspricht damit der Erscheinung der Insel Cetus. Cetus – genauer seine Oberfläche – wird damit lesbar als Allegorie der gesamten Handlung. Der Baum Bethelium wird dabei parallelisiert mit Aglye, er ist der Mittelpunkt der Insel, den Wildhelm erreichen möchte, um von ihm zu kosten. In der Tat vermutet dieser ja auch, auf der Insel das zu finden, wonach er sucht (vgl. WvÖ, V. 1008– 1010). Die bramen und dornen, die Wildhelm durchdringen muss, um zum Baum zu gelangen, bedeuten die zu bestehenden Aventiuren, tertium comparationis sind die wilde – die potenzielle Gefahr – sowie die Tatsache, dass Wildhelm das Hindernis überwindet. Das Verlassen der Insel sowie deren Verschwinden deutet in Verbindung mit der Namensänderung den Tod Wildhelms an. Als er Cetus verlässt, hört Wildhelm zwischenzeitlich auf zu existieren. Diese Allegorie nun, die gesamte Erzählung en miniature, bringt die Handlung in Schwung, indem sie den Übergang in die Fremde ermöglicht. Cetus ist also zugleich allegorisch zu verstehen und Teil der Haupthandlung. Abschließend sollen die Ergebnisse zur Schifffahrt im WvÖ zusammengefasst werden. Zunächst wurde gezeigt, dass das Bildfeld der Schifffahrt als poetologische Metapher aufgenommen wird. Dabei rückt jedoch die Gleichsetzung von Dichtung und Schifffahrt zu Gunsten einer Verknüpfung von poetologischer Reflexion 418 Ebd., S. 95f. Egidi führt im Folgenden aus, dass eine Parallele besteht zwischen der CetusEpisode und der Beschreibung Parklises, wie sie den Teufel lenkt, dem dann der von ihr gerittene Greif hinterherfliegt. Vgl. hierzu auch den Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff. dieser Arbeit. 419 K (1993), S. 479.

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und göttlicher Inspiration in den Hintergrund. Das Bildfeld der Schifffahrt wird dabei über das Schiff hinaus ausgebreitet. So werden beispielsweise der anker, der Wind, v. a. aber das Medium selbst – Wasser – ergänzt. Dabei fällt auf, dass die Signifikanten eines Bildfeldes für ein Signifikat variieren können: Mal denotiert das Signifikant schif den Text, mal das Signifikant wasser. Zuletzt wurden die für die Handlung relevanten Seeüberquerungen Liupolts und Wildhelms in den Blick genommen. Als besonders fruchtbar erwies sich dabei die Fahrt Wildhelms auf dem Rücken des Riesenfisches Cetus, für die neben Interpretationen aus der bisherigen Forschung eine allegorische Lesart als Gesamthandlung en miniature vorgeschlagen wurde. Bezogen auf die von ihm untersuchten Textabschnitte kommt Drux zu dem Schluss, dass die Schriftsteller, wenn sie „die durch die literarische Überlieferung vorgegebene Allegorie [der Schifffahrt] in ihr Werk eingebaut haben, [. . . ] sich ihre pragmatische Funktion eines Informationsmittels über eigene schriftstellerische Absichten und Schwierigkeiten zunutze“ machten. 420 Andererseits erfährt aber die Allegorie der dichterischen Schiffahrt in den verschiedenen Texten und mit den veränderten Kontexten deutliche Modifikationen: als „gemischte Allegorie“ verwendet sie Quintilian zur ansprechenden Information über seinen wissenschaftsgeschichtlichen Standort; in ihrer „reinen“, an den augusteischen Klassikern ausgerichteten Form stellt sie ein wirkungsvolles Mittel in Ovids Briefapologie dar; mit ihrer Hilfe verleiht Alkuin einer hagiographischen Episode Stringenz; polyfunktional verweist sie auf die semantische Vielschichtigkeit der Danteschen Canti; ihre hohe Rhetorizität deutet bei Opitz auf eine für den deutschen Sprachraum neue, an poetischen Normen orientierte Dichtungsweise hin. Insgesamt lassen sich die strukturellen Variationen derselben Allegorien nur pragmatisch erklären; sie resultieren aus den Intentionen der Autoren, die zu einem bestimmten Punkt der Zeit- und Geistesgeschichte relevant waren, ihren ästhetischen Vorstellungen und erkenntnistheoretischen Möglichkeiten. Die Untersuchung ihrer Pragmatik ist deshalb unabdingbar für die Darstellung der Allegorie im Rahmen einer historischen Metaphorik. 421

Diese Ergebnisse lassen sich auf den WvÖ übertragen. In der Tat setzt der Erzähler im WvÖ ganz eigene Akzente. Zum einen verknüpft er die poetologische Metapher der Schifffahrt mit dem Thema der Inspiration, zum anderen verbindet er darin poetologische Ebene und Handlungsebene, die sich dadurch gegenseitig durchdringen. Ein Reflex schöpferischen Bewusstseins zeigt sich dabei auf der rein poetologischen Ebene in der Auseinandersetzung mit der inspirierenden Instanz, und mehr noch in der Cetus-Episode. Cetus fungiert nicht nur als Schwellen420 D (1979), S. 48. 421 Ebd.

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element zwischen Orient und Okzident, sondern markiert zudem den Übergang verschiedener Verständnisebenen und ist auf verschiedene Weise auslegbar. Er erweist sich als dynamische, kaum in allen Bedeutungsnuancen und Verknüpfungen zu anderen Episoden erfassbare, vielschichtige Allegorie.

2.2.3 Der Prolog Die folgenden drei Passagen, der Prolog, der Aventue re Hauptmann sowie das Reich des Joraffin, sind zum einen umfangreich und zum anderen in der Forschung wiederholt untersucht worden. Den eigenen Überlegungen sollen daher jeweils eine inhaltliche Übersicht über die Episode sowie eine kurze Übersicht über den Forschungsstand zu der jeweiligen Passage vorangestellt werden. Zum Prolog hat Schnuchel einen Gliederungsvorschlag unterbreitet. 422 Dietl stellt ihren eigenen Überlegungen eine tabellarische Zusammenfassung des Prologs voran. 423 Beide Gliederungen fließen in die folgende Übersicht ein, weichen gerade im Hinblick auf Übersetzungen z. T. jedoch davon ab (siehe Tabelle). Frenzel nimmt die Feuervergoldung des Prologs in den Blick, um das „Verhältnis des Dichters zur Natur“ zu betrachten. Kurz gibt er die Schritte der Goldamalgamierung wieder und bemerkt, dass dieser Prozess „vollkommen richtig beschrieben“ ist. 424 An anderer Stelle erwähnt er die Nennung Trojas im Prolog und erwägt, der Dichter denke dabei an die Herstellung des Achill-Schildes. 425 Wieder später untersucht Frenzel den Begriff der beschaidenheit, die im Prolog als Personifikation auftritt. 426 Kurze Erwähnung findet die Feuervergoldung bei Bierbaum. 427 Schnuchel untersucht den Aufbau des Prologs und macht eine Dreiteilung aus: A (1–14, Anrede an tugendreiche Hörer), B (a: 15–50, die Darstellung des physikalischen Vorgangs der Amalgation; b: 51–82, die Übertragung der physikalischen Eigenschaften der Metalle auf die tugenthaften und tugentlosen; c: 83–123, der eigentliche Vergleich); kurze Überleitung (134–130); C (d: 131–142, Vortragen des thematischen Anliegens; e: 144–161, Ausdruck des Epigonenbewusstseins; f: 162–172: Bitte um Beistand bei den Musen Aventue re und Minne). Diese Dreigliederung spiegele sich auch in den Begriffen wider, wie Bierbaum an der Trias tugende, aventiur, minne (ebenso kunst, witz, sin) festmacht. 428 Erwähnung findet die „ständige Wiederholung des Wortstammes“ tugent, der 25 422 423 424 425 426 427 428

Vgl. S (1954), S. 106 f. Vgl. D (1999), S. 100. F (1930), S. 47. Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. B (1953), S. 61 f. S (1954), S. 106 f.

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Mal auftritt. 429 R (1963) untersucht den Inhalt der tugend im WvÖ und streift dabei die Verse des Prologs, in denen explizit von tugenden etwas ausgesagt wird. 430 V. 1–14 V. 15–19 V. 20–24 V. 25–47

V. 48–82 V. 83–119 V. 120–123

Tugend aus tugendhaften mæren für tugendhafte Rezipienten Tugend entweicht, wenn bei Tugendhaften Tugendlose sind Einführung der Metalle Gold und Quecksilber als Bilder für die Auseinandersetzung von Tugendlosen und Tugendhaften Feuervergoldung: Zusammenbringen von Gold und Quecksilber, um Silber zu vergolden; das Quecksilber verliert seine Eigenschaft, flüssig zu sein; das Gold verliert seine Farbe; durch Erhitzen verflüchtigt sich das Quecksilber und das Gold erhält seine Eigenschaften zurück Erste Auslegung Zweite Auslegung Konklusion: Vorübergehend siegt das, was das Quecksilber ausmacht, über das Gold

V. 124–130

Überleitung; Gegenüberstellung von guo ter und wilder sage

V. 131–133 V. 134–138 V. 139–143

Inspirationsbitte an kunst und witze cleinode Tugend, Aventue r, Minne Nur wer die wirde dieser cleinode richtig schätzt, kann von ihnen etwas sagen. Hypothetische Überlegung: hätte der Erzähler kunst, witz, sin, so würde er Minne und Aventue r dichten und in diese Tugend flechten Unfähigkeitsbeteuerung; das Herz ist so tump, dass es versucht, tugentlich von Aventue r und Minne zu sprechen Dieser Versuch kann nicht gelingen, wenn der Abschied von Minne und Aventue re gewählt wird. Vorstellen des einzulösenden Konzeptes: von geschihten / ein aventue r dihten

V. 144–151 V. 152–161 V. 162–169 V. 170–172

Tabelle 2.1: Quelle: Eigene Darstellung

Ausführlichere Untersuchungen zum Prolog sind bei Juergens zu finden. Zunächst nimmt er chronologisch die aufeinanderfolgenden Teile des Prologs in den Blick. Der erste Prologteil (V. 1–19) enthalte „ein Lob des Menschen in Bezug auf seine Fähigkeit, durch das Hören ‚virtutes‘ wahrzunehmen“. 431 Die Interpretation

429 Ebd., S. 107 mit Verweis auf M (1909), S. 111. 430 R (1963), S. 184 f. 431 J (1990), S. 312.

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von tugentlichen mæren würde vorgestellt als Leistung, die allein von tugentlichen Menschen geleistet werden könne: „‚tugentliche mæren‘ setzen den Hörer voraus, der dadurch zur ‚virtutes‘-Diskussion qualifiziert ist, daß er selbst jene ‚tugende‘ realisiert, über die gehandelt wird“. 432 Die anschließende Allegorie der Feuervergoldung und deren Allegorese liest Juergens als „Beweis dieser These bezüglich der Vermittlung von ‚virtutes‘ im kommunikativen Austausch von Erzähler und Hörer“. 433 Der beschriebene Ablauf der Vergoldung habe neben der „chemophysikalischen Dimension“ eine moralische Ebene. So kontrastiere die Flüchtigkeit des Quecksilbers, die „als ‚untugent‘ ausgelegt“ werde, „zur ‚tugent‘ des Goldes, dessen ‚mugent‘ durch die ‚stæte‘ abgesichert sei“. 434 In der „Feuerprobe“ sieht Juergens eine Anspielung des Leitmotivs Feuer. Die Auslegung der Feuervergoldung, die scheinbar aufgeht, stellt für ihn eine „explizite[ ] Sinndeutung“ dar, mit der der Erzähler dem Rezipienten „entgegenkommt“. 435 Die beiden Auslegungen seien dabei lesbar als zweite und dritte Sinnebene. Neben der „buchstäblichen Ebene der Vorgangsbeschreibung“ werde auf der zweiten Sinnebene, der Auslegung auf den Menschen, die Vergoldung „als Verfahren sittlicher und sozialer Werthebung demonstriert“; die dritte, moralische Ebene diene „als Konkretisierung der Bildlichkeit des Goldes mit Blick auf den Hörer“. 436 Dass der Erzähler dabei „zwischen Sinn- und Bedeutungsebene“ wechselt, entgeht Juergens nicht. 437 Die im Prolog eingeführte personifizierte beschaidenhait wird gedeutet als „Stellvertreterin der Erzählerinstanz“, unter deren Perspektive sich „die Relation von Prolog und Romanhandlung“ kläre: „Die Feuervergoldung ist Antizipation der Romanhandlung auf anderer Ebene. Dem Protagonisten [. . . ] entspricht das Element Gold. Wie das Gold amalgamiert wird, so wird der Protagonist mit Widrigkeiten konfrontiert“. 438 Im ersten Prologteil sieht Juergens dementsprechend das Programm vorgestellt, das sich im Laufe der Handlung entwickelt: Der Erzähler ist Herr über sein „mære“ und beherrscht auch die Komplikationen, die er zur Exemplifikation von „tugenden“ einführt. In diesem Sinne wird auch der historische Wahrheitsanspruch des Erzählten dem Anspruch untergeordnet, daß das Erzählte zur „bezzerunge“ des Hörers beitrage. 439

432 433 434 435 436 437 438 439

Ebd., S. 314. Ebd. Ebd., S. 315. Ebd., S. 319. Ebd., S. 319f. Ebd., S. 319, vgl. auch S. 323. Ebd., S. 324. Ebd.

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Bezüglich des zweiten Prologteils hebt Juergens tugende, aventue r, minne als inhaltliche Konstituenten hervor. Dieser „programmatischen Trias“ werde in den Begriffen kunst, witz, sin „eine zweite gegenübergestellt, welche die Qualifikation des Erzählers konstituiert“. 440 Dabei werde das Erzählen als Prozess vorgestellt. Der Erzähler baue die Fiktion auf, „der Hörer höre das Werk in statu nascendi, Abfassungszeit und Erzählzeit seien identisch“. Dabei werde die „Konstitution des ‚getiht‘ als Kompilation gekennzeichnet“. 441 Abgerundet werden die Untersuchungen zum Prolog mit Überlegungen zu dessen Modellfunktion, 442 zu möglichen Quellen 443 und zum didaktischen Anspruch von Literatur vor Johann. 444 Vollmann-Profe stellt die im Prolog genannten minne, aventue r, tugende heraus und sieht in der minne die führende Rolle dieser Trias. 445 Ridder erkennt im ersten Teil des Prologs „eine auffallende Variante der traditionellen Unterscheidung zwischen idealen und unerwünschten Rezipienten“ und eine Reflexion der „Kommunikationssituation des Werks“. Im zweiten Teil sieht auch er die Begriffe minne, aventue r, tugende im Zentrum. Von dieser Zweiteilung abstrahierend unterscheidet er „drei Argumentationskomplexe“. 446 Der erste Komplex ist das edel hertze, dessen Bezüge zum Tristan-Prolog Ridder herausstellt. 447 „Die gegebene Konzeption des edelen hertzen ermöglicht eine verstehende Rezeption, indem die Bereitschaft der Hörer, tugentliche mære aufzunehmen, diese zur Realisierung der virtutes anleitet“. 448 Den zweiten Argumentationskomplex sieht Ridder in der Feuervergoldung und ihrer Auslegung. Wie Juergens macht Ridder verschiedene Sinnebenen aus: Neben dem Bezug des Vergoldungsvorgangs auf den Menschen, der Eröffnung einer ethisch-moralischen Auslegungsebene [. . . ] und dem Einbezug des Kommunikationszusammenhanges [. . . ] schafft der Autor eine weitere Sinnebene seines Gleichnisses, indem er das rechte Sprechen fordert und die falsche rede kritisiert. 449

Zuletzt gewinne die Feuervergoldung in den Versen 124ff. eine poetologische Dimension. So wie das Quecksilber notwendig sei, um das Silber zu vergolden, bedürfe es „zur Umsetzung des Ideals der tugent eines Darstellungsprinzips“. 450 Den 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450

Ebd., S. 327. Ebd., S. 327f. Vgl. ebd., S. 328 f. Vgl. ebd., S. 329 ff. Vgl. ebd., S. 335 ff. Vgl. V-P (1991), S. 125 f. R (1998), S. 88. Vgl. ebd., S. 88 ff. Ebd., S. 90. Ebd., S. 92f. Ebd., S. 94.

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dritten Komplex bildet laut Ridder die Trias tugende, aventue r, minne als kompositorisches Prinzip. 451 Die Lehre sei im WvÖ „zum Leitprinzip des Erzählens über Aventiure und Minne geworden“. Dabei binde sich der Erzähler im Prolog nicht an die Protagonisten. Die „Lehrhaftigkeit“ präsentiere sich vielmehr „als Reflexion über die Wirkungsmöglichkeiten des Werkes, über die Vermittlung von Didaxe im Erzählprozeß und über die Möglichkeit einer lebensweltlichen Umsetzung literarischer Erfahrung“. 452 Dietl beginnt ihr Kapitel zur Literaturtheorie im WvÖ mit Überlegungen zum Prolog. Auf den ersten Blick sei er „nichts anderes als eine Invektive gegen die zeitgenössische Literatur, die verkehrte ethische Maßstäbe vertrete, und ein Ausdruck der Hoffnung auf Besserung der Literatur durch die beschaidenhait des Dichters“. 453 Zugleich aber zeige der Prolog, welchen Zweck der Erzähler der Literatur beimesse: „einen klaren Maßstab von Gut und Böse“ zu vermitteln. 454 Dabei stünden Minne, Aventue re und Tugend nicht „auf einer Ebene nebeneinander“, sondern es gehe darum, „Minne und âventiure darzustellen und auf tugent hin durchsichtig zu machen oder aber mit einer Tugendlehre zu verbinden“. 455 Zuletzt verbindet Dietl die Aussagen des Prologs mit der Konzeption des gesamten Textes, wenn sie den Roman „als Präsentation einer Tugendlehre“ liest. 456 Der Erzähler lehne „die historische Wahrheit als Wert ab [. . . ], zugunsten eines anderen Wertes [. . . ]. Dieser Wert ist die tugent -Lehre. In ihrem Dienst fingiert Johann, indem er wahre Elemente neu kombiniert“. 457 Schneider widmet der Tugend im Prolog ein eigenes Unterkapitel, 458 auf aventue r und minne kommt sie kurz zu sprechen. 459 Sie folgt Vollmann-Profe in der Einschätzung bezüglich der Trias minne, aventue r, tugend. In Vers 134 sieht sie eine „programmatische Äußerung [. . . ], mit der der Erzähler sein Erzählziel benennt“. Die Gefährdung der Tugend werde dadurch dargestellt, dass „das Verfahren der Feuervergoldung mittels des Quecksilbers explizit auf die Vorgänge von Entstehung und Verfälschung von Tugend“ gemünzt werde. Richtig stellt Schneider heraus, dass auf der Basis dieser Prologstelle der „Roman in der Forschung mehrfach als Entwicklung eines Tugendkonzeptes interpretiert worden“ ist. Nach einem kurzen Überblick über die so einzuordnenden Positionen von Juergens, Rid451 452 453 454 455 456 457 458 459

Vgl. ebd., S. 94ff. Ebd., S. 96. D (1999), S. 102. Ebd. Ebd., S. 103f. S (2004), S. 38. D (1999), S. 111. Vgl. S (2004), S. 37–39. Vgl. ebd., S. 73.

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der und Dietl stellt sie die Frage, „wie sich die Erzählung selbst zum Entwurf eines Tugendsystems verhält“. In der Folge untersucht sie diese Frage an verschiedenen Episoden. 460 Dabei stellt sie eine weitere mögliche Lesart des Prologs fest. „Vor dem Hintergrund der Tugendlehre von Kandia“ sei der Fokus des Prologs nicht mehr „alleine auf die Frage eines Tugendideals gerichtet“, sondern nehme zuerst die „menschlich figur in den Blick“. 461 Wenig später führt Schneider die Verse 159f. an, in denen der Erzähler sein Ziel beschreibe. Sie verweist an dieser Stelle auf die Tradition von Aventiure und Minne im Artus-Roman. Als „Doppelform“ würden diese „als dynamisches Konzept entfaltet: Nicht nur führt Aventiure zur Minne, und Minne stößt erneut Aventiure an, beide problematisieren sich auch gegenseitig“. 462 Wie oben schließen sich Kapitel an, in denen Aventiure und Minne im WvÖ in den Blick genommen werden. Im Folgenden werden die eigenen Überlegungen zum Prolog vorgestellt. Am Ende des Kapitels werden die Ergebnisse zusammengeführt. Die Auslegung der Bibel nach Hugo von St. Victor basiert auf den proprietates einer res, von denen die significationes abgeleitet werden. 463 Im Prolog wird dieser zeichentheoretische Hintergrund aktualisiert, wenn für das Bild der Goldamalgamierung verschiedene proprietates der Metalle 464 präsent gemacht werden. Der Ausgangspunkt für die Allegorie der Vergoldung von Silber ist die Dichotomie von Tugendhaften und Tugendlosen und die Feststellung, dass die Tugend entweicht, wenn Tugendlose bei Tugendhaften sind (vgl. WvÖ, V. 1–19); diese Feststellung möchte der Erzähler „mit dem golde raine / und mit der natur getat / die daz chocksilber hat“ beweisen (WvÖ, V. 20–24). Zunächst also wird durch den Kontext nahegelegt, das Gold mit den Tugendhaften gleichzusetzen, und das, was das Quecksilber ausmacht, mit den Tugendlosen. Diese Lesart wird in der Tat in der ersten Allegorese, in der der Erzähler die Allegorie in Bezug auf die lue te auslegt, bestätigt. Die „tugentrichen“ (WvÖ, V. 56) werden mit dem Gold verglichen (vgl. WvÖ, V. 60f.), die „tugentlosen“ mit dem Quecksilber (vgl. WvÖ, V. 66–69). Um diese Allegorese nachvollziehbar zu machen, ist zu fragen, welche proprietates 460 461 462 463 464

Ebd., S. 37–39. Ebd., S. 53. S (2004), S. 73. Vgl. Darstellungspunkt 2.1.7, S. 210 ff. Dass Quecksilber als Metall angesehen wird, ist nicht selbstverständlich. Lange galt Quecksilber in der Alchemie als einer der vier Geister, also als flüchtige Substanz. Erst im 14. Jahrhundert wurde es als Metall erkannt. Vgl. Haage, Bernhard D. (1996): Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder – von Zosimos bis Paracelsus. Zürich: Artemis u. Winkler, S. 38, im Folgenden zitiert als H (1996); siehe auch G, Wilhelm (1967): Die Alchemie im Mittelalter. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Paderborn 1938. Hildesheim: Georg Olms, im Folgenden zitiert als G (1967), S. 143 f.

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der beiden Metalle es nahelegen, dass sie für Tugendlose bzw. Tugendhafte stehen. Dem Gold auf der einen Seite wird zugesprochen, „rain“ (WvÖ, V. 22), „edel“ (WvÖ, V. 46) zu sein, seine Farbe ist „rot“ (WvÖ, V. 28), es wird mit „mugent“ (WvÖ, V. 47) und „wirde“ (WvÖ, V. 62, 123) assoziiert – bis auf die Farbe rot durchweg proprietates, aus denen sich das Abstraktum tugent leicht ableiten lässt. Das Quecksilber auf der anderen Seite ist „silber wis“ (WvÖ, V. 34), „hel“ (WvÖ, V. 68), v. a. aber ist es gekennzeichnet durch sein „ummevarn“ (WvÖ, V. 30), den „unstæten fluz“ (WvÖ, V. 74). Mangelnde stæte als defizitäres Charakteristikum kann durchaus in Verbindung gebracht werden mit untugent. 465 Nun geht es im ersten Teil des Prologs aber nicht bloß darum, Gold und Quecksilber miteinander zu vergleichen, sondern um den Vergleich der Vergoldung von Silber mit Hilfe von Quecksilber auf der einen Seite 466 mit dem Schwinden der tugent durch die Anwesenheit von tugentlosen lue ten auf der anderen. Dieses Moment des Schwindens ist das zentrale tertium comparationis, nur ist es nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Bringt man nämlich Gold und Quecksilber zusammen, büßen beide eine ihrer spezifischen Eigenschaften ein: 467 daz rot golt man da zestunt under daz choksilber lat, da von sin ummevarn gestat, 465 So wird in letztlich allen Ansätzen argumentiert. Bezogen auf die proprietates von Quecksilber sei auf die folgenden Ausführungen verwiesen. 466 Zu den technischen Details der Feuervergoldung sowie den diesbezüglichen Kenntnissen in Antike und Mittelalter siehe A, Kilian (1999): Im Feuer vergoldet. Geschichte und Technik der Feuervergoldung und der Amalgamversilberung. Stuttgart: Theiss (AdR-Schriftenreihe zur Restaurierung und Grabungstechnik, 4), im Folgenden zitiert als A (1999); Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk. Gesamtausgabe der Schrift „De diversis artibus“ in zwei Bänden. Herausgegeben von Erhard Brepohl. Bd. 2: Goldschmiedekunst. 2., überarb. Aufl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999 (empfehlenswert gerade wegen der anschaulichen Illustrationen der verschiedenen Werkzeuge, Techniken und Produkte), im Folgenden zitiert als B (1999); F, Robert (1993): Gold und Vergoldung bei Plinius dem Älteren. Gold und Vergoldung in der Naturalis Historia des Älteren Plinius und anderen antiken Texten mit Exkursen zu verschiedenen Einzelfragen: Naturalis Historia 33, 58–68; 33, 80–94; 33, 99– 100; 123; 125. Tübingen: Attempto Verlag (Werkheft Naturwissenschaft, 13).; GmelinInstitut (Hrsg.) (1950): Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie. System-Nummer 62: Gold. Lieferung 1. Geschichtliches. Bearbeiter dieses Teiles: Wilhelm Ganzenmüller. 8. Aufl. Weinheim: Verlag Chemie, im Folgenden zitiert als Gmelins Handbuch der Chemie; S, Hermann (1996): Goldschmiedekunst. 5000 Jahre Schmuck und Gerät. Stuttgart: Arnold; T, Presbyter (1933): Technik des Kunsthandwerks im zehnten Jahrhundert. Des Theophilus Presbyter Diversarium Artium Schedula. In Auswahl neu herausgegeben, übersetzt und erläutert von Wilhelm Theobald. Berlin: VDI-Verlag. 467 Dass auch das Quecksilber eine Eigenschaft verliert, erwähnt nur D (1999), S. 100.

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daz ez von natur pfliget; daz choksilber doch gesiget und ziuhet hin des goldes glis, daz wirt nach im silber wis; sin art im gar entwichet:

(WvÖ, V. 28–35)

Das Umhergehen des Quecksilbers also – wörtlich übersetzt – bleibt stehen. Es wird auf den Aggregatzustand des Metalls verwiesen, der beim reinen Quecksilber bei Raumtemperatur flüssig, beim Goldamalgam jedoch dickflüssig bzw. fest ist. In der Folge der Vermengung von Gold und Quecksilber verliert das Quecksilber seinen spezifischen, für Metalle bei Raumtemperatur singulären flüssigen Aggregatzustand. Diese Beobachtung entspricht dem physikalischen Verhalten der Metalle 468 und ist im zeitgenössischen naturkundlichen Wissen verbürgt. 469 Das Gold hingegen verliert seinen Glanz und nimmt die Farbe des Quecksilbers – dessen silber wis 470 – an. Während also das Gold seine positiv konnotierte Eigenschaft einbüßt, verliert das Quecksilber seine negative Eigenschaft, auf der Grundlage dessen es mit den tugentlosen verglichen wurde. 471 Doch gibt es eine qualitative Abstufung. Am Ende des ersten Prologteils nämlich deutet der Erzähler zusammenfassend: disiu rede hie betut, daz unwernde gesiget, des daz choksilber pfliget an des goldes wirde tat.

(WvÖ, V. 120–124)

468 Verwiesen sei auf A (1999) Replikationsversuche der Feuervergoldung: „Für die Feuervergoldungsversuche wurde durch Verreiben von reinem Gold (24 Karat) mit der fünffachen Gewichtsmenge Quecksilber (99,99 % , Fa. Aldrich) eine Amalgampaste hergestellt. Im Falle von Blattgold verbanden sich die beiden Metalle sofort unter Bildung von silberfarbenem Goldamalgam (Au2Hg). [. . . ] Bei der entstandenen Amalgampaste handelte es sich um eine Suspension von festem Au2Hg in überschüssigem flüssigem Quecksilber. Die Paste wurde durch teilweises Auspressen des Quecksilbers durch ein Leinentuch auf eine geeignete weiche, aber nicht zerfließende Konsistenz gebracht“ (S. 32). S (1996) spricht von einem „breiartige[n] Amalgam“ (S. 38). 469 Im Papyrus Leidensis X ist von einer „wachsartige[n] Masse“ die Rede (vgl. Gmelins Handbuch der Chemie, S. 38). Bei Theophilius Presbyter ist die Rede davon, das Amalgam mit dem Messer zu schneiden (vgl. B (1999), S. 94). 470 Die Farbe wird ebenso bei A (1999) beschrieben. Vgl. dort S. 32. 471 Nicht klar ist, warum dabei unterschieden wird in natur des Quecksilbers und art des Goldes. Vgl. auch die anderen Nennungen von natur und art im Prolog. Zu beiden Begriffen vgl. Schwietering: Natur und art. In: ZfdA 91 (1961/62), S. 108–137, hier S. 109 f. In Fußnote 2, S. 110 erwähnt er auch Veldeke, der das Wort ebenfalls meide. Im Folgenden zitiert als S (1961). Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.1, S. 310 ff. dieser Arbeit.

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Wenn die hier unspezifizierte Eigenschaft des Quecksilbers über das Gold obsiegt, so wiegt der Verlust des Goldes schwerer als der des Quecksilbers; der Glanz, die Farbe, die proprietas also, die sich als unbedeutend herausgestellt hat für die Auslegung der Metalle als Tugend bzw. Untugend, ist hier relevant bzw. die Fähigkeit des Quecksilbers, dem Gold seine entscheidende proprietas zu entziehen, nicht der Aggregatzustand. Dieser ist bedeutsam im nächsten Schritt der Feuervergoldung. Dem technischen Verfahren entsprechend beschreibt der Erzähler, dass das mit Goldamalgam bestrichene Silber im Feuer erhitzt wird und infolgedessen „daz choksilber da verbrint / und riuchet [. . . ] / dar ez sin nature jagt“, während das Gold „belibet da / in siner mugent als vor“ (WvÖ, V. 42–47). 472 Aufgrund der verschiedenen Flüchtigkeit von Quecksilber und Gold wird das Amalgam durch das Erhitzen wieder getrennt, eine Goldschicht bleibt auf dem Silber zurück, das Quecksilber hat sich verflüchtigt. Durch ein geeignetes Feuer also wird der vorübergehende Sieg des Quecksilbers aufgehoben und der ursprüngliche, positiv konnotierte Zustand des Goldes wiederhergestellt. In der zweiten Auslegung wird das Bild, insbesondere die Möglichkeit, zwei sich widersprechende Prinzipien voneinander zu trennen, übertragen auf boese (WvÖ, V. 107, 111), arge (WvÖ, V. 104, 108, 119) rede auf der einen Seite und geslaht (WvÖ, V. 107), gut (WvÖ, V. 118) tugentliche rede cluo g (WvÖ, V. 109) auf der anderen. Für den Fall, dass zwischen tugendhafter und tugendloser Rede nicht mehr zu trennen ist, kann ein Feuer, analog zur Trennung des Amalgams, die tugendlose Rede verschwinden lassen, sodass die tugendhafte Rede allein zurückbleibt (vgl. WvÖ, V. 90–119). Bevor auf die Frage eingegangen wird, welche Bedeutung in dieser Allegorie das Silber hat, das vergoldet werden soll, sei auf die vordergründige didaktische Grundkonzeption verwiesen, die im Prolog skizziert wird. Dass tugent und deren Vermittlung ein im Prolog verhandeltes Hauptanliegen sind, ist wohl unbestritten. 473 Weniger deutlich wurde hingegen in der bisherigen Forschung hervorgehoben, dass dieses Anliegen auf den ersten Blick doch recht eingeschränkt ist. Was sich bereits in den ersten Versen abzeichnet, wird in den Versen 50ff. besonders deutlich: Ez ist zwair hande lue te, als ich mit rede bedue te: den ainen den sint tugende bi, die andern die sint tugende vri 472 Nicht erwähnt wird dabei, dass das Gold nach der so erfolgten Vergoldung noch poliert werden muss, damit es wieder glänzt. Vor dem Polieren ist es matt. Vgl. etwa B (1999), S. 96. 473 Vgl. die im Forschungsbericht dargestellten Positionen.

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und nement kainr tugende war. die tugentrichen bietent dar ir ore, da man von tugenden list mit tugenthafter rede: in ist sanft gar und sint ir holt; die geliche ich uf daz golt

(WvÖ, V. 51–60)

Auf der einen Seite stehen die Tugendhaften, die sich auf die Rezeption von Tugend vermittelnden Texten einlassen, auf der anderen die Tugendlosen, die sich auch vor einer solchen Rezeption sperren. In dieser Konstellation ist es nicht möglich, Tugend zu verbreiten. 474 Lediglich wird darüber hinaus auf die Gefahr verwiesen, dass die Untugend die Tugend überdecken kann. Das zweifach beschriebene Feuer kann demzufolge nur die vormals Tugendhaften wieder tugendhaft machen, nicht jedoch die Tugendlosen. Insofern es nicht naheliegt, das Feuer als Chiffre für den Text zu lesen, bleibt die Frage, was dann der Anspruch der Dichtung ist. Das Zusammenbringen von Gold und Quecksilber, das als Bild für das Verhältnis von Tugendhaften und Tugendlosen eingeführt wird, hat eine Intention, nämlich die Vergoldung von Silber: „daz silber [. . . ] schol / werden rot“ (V. 37f.). Es liegt nicht fern, daraus den Anspruch der Dichtung abzuleiten: „Die Feuervergoldung wird als Verfahren sittlicher und sozialer Werthebung demonstriert“ 475 – und so die Dichtung. Diese Werthebung vollzieht sich durch das Aufbringen des Goldes: die gelich ich uf daz golt, da mit man daz silber frumt daz ez zu der wirde kumt daz man ez guldin namt und ez zu ritterlichem amt nue tzet von des goldes dach.

(WvÖ, V. 60–65)

Das Quecksilber ist für die beschriebene Art der Vergoldung ebenso wichtig. Ohne das Quecksilber ist die Feuervergoldung nicht möglich. die tugentlosen, eren swach, ze tugende laz, zu untugenden snel, uf daz choksilber hel mag ich wil gelichen, die diu valsche zunge decket: swie si nu verjage tugende wort, doch dringet ir gespitztes ort 474 Ähnlich konzipiert ist die christliche Gotteserkenntnis: Nur wer an Gott glaubt, kann ihn auch erkennen. Dies spiegelt sich bekanntlich auch im „Parzival“ wider. Nur ein getaufter Christ kann den Gral sehen. 475 J (1990), S. 319.

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mit stæt durch unstæten gruz; daz choksilber unstæten fluz hat, als ich bescheide iu baz.

251

(WvÖ, V. 66–75)

Zunächst wird, wie oben erwähnt, das Quecksilber als Bild für die Tugendlosen eingeführt. Die „valsche zunge decket“ diese (V. 70), eine ungewöhnliche Formulierung, die darauf verweist, dass die Tugendlosen hinter der valschen zunge verborgen sind. 476 Zwei Eigenschaften dieser zunge nennt der Erzähler. Zum einen jagt sie tugende wort in die Flucht – wie das Quecksilber die Farbe des Goldes verjagt–, zum andern dringet ir gespiztes ort. Die überdeckende zunge wird in der zweiten Exegese wieder aufgenommen. Dort heißt es, dass ein Tugendloser so lange seine tugendlose der tugendhaften Rede entgegensetzt, biz er daz sue zze kosen bringet in ein summe, daz man allumm und umme nimt mit gelichem muo t daz arge für daz guo t, und daz gemainliche schinet da geliche diu boe se rede und diu geslaht: wan diu arge hat bedaht die tugentlichen rede cluo g.

(WvÖ, V. 100–109)

Es wird ein Zustand erreicht, in dem diu boese rede und diu geslaht nicht mehr voneinander unterscheidbar sind. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass diu arge hat bedaht / die tugentlichen rede cluo g, oder, wie es zuvor geheißen hat, die zunge decket. Dieser Zustand spiegelt den Zustand des Amalgams wider. Auch dort sind Gold und Quecksilber ununterscheidbar geworden, sie beide haben eine spezifische Eigenschaft eingebüßt. Hier wird m. E. die Perspektive eröffnet, auch die Tugendlosen zu erreichen. Auch für sie sind diu boese rede und diu geslaht nicht mehr unterscheidbar, sie rezipieren das Amalgam. Geschickt flicht der Erzähler an dieser Stelle ein technisches Detail der Feuervergoldung ein, das auf der literalen Ebene unerwähnt geblieben ist, und bezieht damit die Allegorese zurück auf die Allegorie: In Vers 99f. wird ebenso wie Vers 109 f. darauf verwiesen, dass es einer bestimmten Menge boeser rede bedarf, ehe das Amalgam dem Feuer ausgesetzt wird. Hier wird,

476 Dietl übersetzt: „die sich hinter der Fassade ihrer valschen zunge verbergen“; sie bemerkt, dass der „Schreiber von G [. . . ] mit diesem Bild offensichtlich Schwierigkeiten [hat] und [. . . ] denkt schreibt“ (D (1999), S. 101).

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neben anderem, die simple technische Tatsache berücksichtigt, dass Goldamalgam aus einem Teil Gold und bis zu acht Teilen Quecksilber hergestellt wird. 477 iedoch wenne man do genuo g der boe sen rede gesait, zehant so kan Beschaidenhait, diu werde goltsmidinne, in kunstrichem sinne mit der tugende spachen ein solch viur machen, dar inne boe siu rede verswint

(WvÖ, V. 110–117)

Durch das Tugendfeuer der personifizierten beschaidenhait verschwindet die boesiu rede. Bildlich gesprochen werden damit die vergoldet, die mit dem Amalgam bestrichen wurden – und dies sind, da im Amalgam die entgegengesetzen Paare nicht zu unterscheiden sind, sowohl die, die Tugendhaftes, als auch die, die Tugendloses rezipieren wollen. Bisher ist nicht zufriedenstellend beantwortet worden, wie der Verweis auf Troja zu deuten ist. 478 Frenzel erwägt, dass auf „die Herstellung des Schildes des Achillus“ angespielt wird. 479 Juergens sieht die Möglichkeit eines Verweises auf eine besonders intensive Glut, wie die infolge des Brandes von Troja. 480 Neben dem Wortlaut des Textes, der dieser Deutung entgegensteht, 481 wäre eine intensive Glut für die Feuervergoldung überhaupt nicht sinnvoll. Gute Ergebnisse werden vielmehr bei gelinder Hitze erreicht, wie technisch nachgewiesen 482 und auch in alchemistischen Fachschriften weitergegeben wurde. 483 Ridder, der die entsprechenden Verse als Verweis darauf liest, dass „das Verfahren der Feuervergoldung vor Troja ersonnen worden sei“, schließt auch ein Scheinzitat nicht aus, „mit dem 477 Theophilius Presbyter gibt ein Gewichtsverhältnis von 1:8 an (vgl. B (1999), S. 89), wie es auch 400 Jahre später bei Cellini zu finden ist (vgl. ebd.); die Angaben sind auch zu finden in der Presbyter-Ausgabe von Theobald von 1933 (vgl. dort S. 86, 309, Anm. 3); Heraclius gibt ein Verhältnis von 1:7, Agricola von 1:6 (vgl. Gmelins Handbuch der Chemie, S. 73); A (1999) wählt bei seinen Reproduktionsversuchen ein Gewichtsverhältnis von 1:5 (S. 32). Wenn auch die genauen Angaben variieren, überwiegt der Gewichtsanteil des Quecksilbers immer deutlich den des Goldes. 478 Vgl. R (1998), S. 91 f. 479 F (1930), S. 64. 480 J (1990), S. 316, Anmerkung 6. 481 Vgl. R (1998), S. 92. 482 A (1999), S. 39: „Überhitzte Feuervergoldungen auf Silber verblassten, oder die goldene Farbe verschwand sogar vollständig. In der Praxis gaben [. . . ] möglichst niedrige Erhitzungstemperaturen (250–350 °C) die besten Ergebnisse“. 483 Vgl. etwa die Vergoldungsvorschrift bei Theophilius Presbyter (B (1999), S. 94 f.). Von einer besonders intensiven Glut ist dort nicht die Rede.

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der Autor eine literarische Tradition fingiert, um seine Argumentation zu perspektivieren und durch die Autorität einer – gerade deshalb nicht näher bezeichneten – Quelle abzusichern“. 484 Bisher unerwähnt ist die wohl erste Assoziation, die mit der lokalen Bestimmung vor Troye verbunden ist: das Trojanische Pferd. Dieses wurde vor Troye besint. Es ist nur ein kleiner Schritt, um Ridders Formulierung damit in Verbindung zu bringen. Nicht die Feuervergoldung im literalen Verständnis wurde vor Troja ersonnen, sondern die Möglichkeit, unentdeckt in einen Bereich einzudringen, der ohne List nicht zu erreichen ist. Einen solchen Bereich spiegelt die Vermittlung von Tugend bei den Tugendlosen wider. Das Amalgam ist gleichsam das Trojanische Pferd, mit dessen Hilfe auch die Tugendlosen vergoldet – d. h. tugendhaft gemacht – werden können. Auch werden Deutungsebenen explizit ausgeschlossen. Als ein solches Ausschließen können m. E. die Verse 74 ff. gelesen werden. Eingebettet in eine figura ethymologica 485 heißt es vom Quecksilber, dass es unstæten fluz hat (WvÖ, V. 74). Eingeleitet von der Sentenz als ich bescheide iu baz versichert der Erzähler darauffolgend, die Wahrheit zu sagen: spræch ich daz ez wære naz under sinem fluzze, die lue ge ich danne guzze uz mines mundes roe ren. nain, man sol von mir hoe ren war rede, tuo n ich reht! wan diu ist bi den wisen sleht.

(WvÖ, V. 76–82)

Die Frage, die sich aufdrängt, ist, warum der Erzähler erwägt zu behaupten, Quecksilber wære naz / under sinem fluzze, und dies als Lüge abzutun. 486 Bezieht sich naz i. S. v. flüssig auf den Aggregatzustand des reinen Quecksilbers, so wäre die Aussage schlicht falsch. Ist das Amalgam gemeint, so wäre die Aussage richtig, aber kein inhaltlicher Mehrwert mit ihr verbunden. 487 Eine weitere Möglichkeit, die Verse zu 484 R (1998), S. 92. Vgl. zu Troja im WvÖ auch K, Manfred (1998): Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik. Amsterdam, Atlanta: Rodopoi (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 135), S. 348 ff. Im Folgenden zitiert als K (1998). 485 Durch die figura ethymologica von stæte und unstæte wird eine proprietas der zunge in Verbindung gebracht mit einer proprietas des Quecksilbers. 486 Juergens meint, die Metapher vom Fließen der Rede aktualisiere den Bezug zum Vergoldungsprozess; die Bezeichnung des Mundes als roere bringe das flüssige Amalgam ins Bild (J (1990), S. 318). Gegen diese These spricht, dass das Amalgam nicht flüssig ist (vgl. dazu oben). 487 Vgl. zu dieser „unwiderlegbare[n] wie unwichtige[n] Feststellung“ V-P (1991), S. 132: Sie liest sie als Gegenpol zu den weiteren Wahrheitsbeteuerungen, die im-

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verstehen, ergibt sich, wenn man mit einbezieht, was im Mittelalter unter Quecksilber verstanden worden ist. Der Status des Quecksilbers nämlich ist keineswegs eindeutig, bekanntlich mischen sich Naturkunde und allegorisches Denken auch in der Alchemie. 488 Im Mittelalter ist nicht eindeutig, ob Quecksilber zu den Metallen oder zu den Geistern gezählt werden muss. In der auf den Araber Rhazes zurückgehenden Tradition werden die Stoffe unterschieden in 1. vier ‚Geister‘, d. h. flüchtige (volatile) Substanzen: – Quecksilber, Salmiak, Arsenik, Schwefel 2. sieben Körper, d. h. sieben dem Rhazes bekannte Metalle: – Gold, Silber, Kupfer, Zinn, Eisen, Blei, „Karesin“ 3. dreizehn Steine 4. sechs Atramente 5. sechs Borax-Arten 6. elf Salze 7. Nascentia, d. h. Ingredienzen aus Pflanzen 8. Viventia, d. h. Ingredienzen aus Tieren. 489 Im 14. Jahrhundert wurde Quecksilber als Metall erkannt. 490 Welche Bedeutungsebenen dem Quecksilber im Speziellen und den Metallen im Allgemeinen im mer „abenteuerlicher“ würden. Am Schluss sieht sie dabei die fingierte Quelle Agrant. Die so skizzierte Entwicklung habe einen „wohlkalkulierten Effekt: Das Ganze soll dem Publikum nachdrücklich als fiktional präsentiert werden und in den Rezipienten das Bewußtsein wachhalten, daß der Autor auch dort, wo er sich nicht als Erzählerfigur unübersehbar ins Spiel bringt, der Arrangeur des Ganzen ist“. 488 Grundlegend zur Alchemie im Mittelalter sind die folgenden Monographien: C, Victor (1928): Die chemische Zeichensprache einst und jetzt. Graz: Leykam; Haage (1996); H/W/K/H-N (Hrsg.) (2007): Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Fruher Neuzeit. Berlin: Schmidt (Grundlagen der Germanistik, 43); G, Wilhelm (1956): Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie. Weinheim: Verlag Chemie; G (1967); P /R-R/ S/B (Hrsg.) (1970): Alchimia. Ideologie und Technologie. München: Heinz Moos. Zur Verarbeitung alchemistischen Wissens in der mittelalterlichen Literatur siehe beispielsweise D, Burkhard (2000): Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen: Niemeyer (Studien zur deutschen Literatur, 154) oder H, Michael (2005): Die Alchemie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Ein Forschungsbericht über die deutsche alchemistische Fachliteratur des ausgehenden Mittelalters. BadenBaden: Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV-Schriften zur Medizingeschichte, 2). Im Folgenden zitiert als H (2005). 489 H (1996), S. 38–41. 490 Ebd., S. 38. Vgl. auch G (1967), S. 143 f.

255

Ü R  „W  Ö“

Kontext mittelalterlicher Vorstellungen der Entsprechung von Mikrokosmos und Makroskosmos zukommen können, lässt ein gut einhundert Jahre später als der WvÖ entstandener Text erahnen. Im Buch der Heiligen Dreifaltigkeit des Franziskus Ulmannus werden die Siebenzahlen zueinander in Beziehung gebracht: 491 Wunden

Planeten Metalle Farbe

Tugenden

Laster

Ev./Drf.

Elemente

Haupt Merkur (Dornenkrone)

Queck- weiß silber

Sanftmut

Zorn

Gott

Blut Christi

rechte Hand

Mars

Eisen

rot

Demut

Hochmut

Lukas

Feuer

linke Hand

Sonne

Gold

golden

Reinheit

Unreinheit Heiliger Geist

rechter Fuß

Saturn

Blei

schwarz Mäßigkeit

linker Fuß

Mond

Silber

blau

(Nächsten-) Neid Liebe

Jesus u. Maria

Seitenwunde (Lanze)

Jupiter

Zinn

grau

Keuschheit Wollust

Markus

Körper (Geißelung)

Venus

Kupfer

grün

Mildtätigkeit

Matthäus Wasser

Völlerei

Geiz

Johannes

Erde

Luft

Tabelle 2.2: Quelle: H (2005), S. 136.

Eine Erklärung dafür, dass in einem solchen Schema Quecksilber höherwertiger ist als Gold, gibt die Schwefel-Quecksilber-Theorie. Diese ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Weltbildes, dem zufolge alles Stoffliche aus den vier Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde besteht. Nach Aristoteles sind die Elemente aus jeweils zwei Eigenschaften zusammengesetzt. Feuer ist trocken und heiß, Luft heiß und feucht, Wasser feucht und kalt, Erde kalt und trocken. Feuer, Luft, Wasser und Erde – als Ideen, nicht als die konkret stofflichen Erscheinungen – bilden in je spezifischem Mischungsverhältnis alles Stoffliche. 492 Ein Zugang der Alchemie, Stoffe herzustellen, besteht daher darin, Stoffliches auf die vier Elemente zurückzuführen und sie im richtigen Verhältnis wieder zusammenzubringen. 493 Die Herstellung von Metallen ist von Anfang an ein besonderes Anliegen der Alchemisten. 494 In diesem Bereich bildet sich die Schwefel-Quecksilber-Theorie heraus. 491 Vgl. H (2005), S. 134–146, Tabelle auf S. 136. In der hier vorliegenden Tabelle wurde Evangelisten /Dreifaltigkeit aus Gründen der Übersichtlichkeit abgekürzt mit Ev./ Drf. 492 Vgl. G (1967), S. 130 f. 493 Vgl. ebd., S. 137. 494 Vgl. ebd., S. 136.

256

Ü R

In der arabischen Alchemie [. . . ] wird die Zusammensetzung aller Stoffe, also auch der Metalle, auf die beiden Prinzipien Schwefel (sulphur) und Quecksilber (mercurius), die ihrerseits aus den vier Elementen bestehen, zurückgeführt. Schwefel, das Prinzip des Brennbaren, bestehe aus Feuer und Luft, Quecksilber hingegen, das Prinzip des Schmelzbaren, aus Wasser und Erde. Es sind also nicht natürlicher Schwefel und natürliches Quecksilber gemeint. Die Schwefel-Quecksilber-Theorie beherrscht fortan die Alchemie und bekommt lediglich kurzfristig Konkurrenz von der Reinen Quecksilber-Theorie, die in Wirklichkeit nur eine Variante der Schwefel-Quecksilber-Theorie insofern ist, als sie annimmt, im Grundprinzip „Quecksilber“ sei dessen „Schwefel“ schon enthalten. 495

Im Rahmen der Schwefel-Quecksilber-Theorie sind die Alchemisten v. a. bestrebt, das richtige Verhältnis von Schwefel und Quecksilber zur Goldherstellung zu finden. Aufgrund der unzutreffenden theoretischen Basis blieb dieses Streben naturgemäß unerfüllt. 496 Wohl gerade deshalb blüht im Spätmittelalter die Metaphorik um die Vereinigung [. . . ] der beiden philosophischen Prinzipien. In der allgegenwärtigen animistischen Tradition [. . . ] wird der Schwefel (Sulphur) als Sol (Sonne), männlich, dem Element Feuer (heiß und trocken) verbunden dargestellt, das Quecksilber (Mercurius) als Luna (Mond), weiblich, dem Element Wasser (kalt und feucht) zugeordnet. Die Mixtio erscheint sexualistisch als Geschlechtsakt, Koitus [. . . ] . 497

Wenn der Erzähler im Prolog ausschließt, Quecksilber wære naz / under sinem fluzze, so schließt er aus, darin jenes übertragene Quecksilber aus der SchwefelQuecksilber-Theorie zu sehen. Die Abstufung von Gold und Quecksilber bleibt dadurch eindeutig; dies wäre nicht der Fall, wenn man im Quecksilber des Prologs ein nicht natürliches Quecksilber sähe. Dieses ist dem Gold kategorisch übergeordnet, der Kampf von Gold und Quecksilber 498 würde anders akzentuiert. Nichtsdestoweniger kommt die angesprochene Sinnebene in der Negation erst zum Ausdruck. Der Erzähler führt implizit vor, mit welchen Ebenen die Bedeutung eines einzigen Wortes angereichert werden kann.

495 H (1996), S. 28. Es finden sich dort noch weit ausführlichere Darstellungen. U. a. werden Belege angeführt, in denen Schwefel und Quecksilber mit Sonne und Mond, männlichem und weiblichem Prinzip in Verbindung gebracht werden (S. 29 f.). Aufschlussreich für das 13. und 14. Jahrhundert ist auch das Kapitel zu Geber latinus (S. 164 ff.). 496 Vgl. ebd., S. 29. 497 Ebd., S. 29f. 498 Vgl. zu diesem Kampf auch J (1990), S. 333, R (1998), S. 92.

Ü R  „W  Ö“

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Eine interessante Perspektive ergibt sich, wenn man in Rechnung stellt, dass Quecksilber als Merkur gelesen werden kann. 499 Die Besonderheiten des Quecksilbers, dessen flüssiger Aggregatzustand und seine Leichtflüchtigkeit, entsprechen der „mythologischen Identität“ des griechischen Gottes Hermes und dessen römischen Pendants Mercurius, der auch als Inbegriff des geheimen Wissens, u. a. in der Alchemie, gilt. 500 Hermes, dem ägyptischen Gott Thot gleichgesetzt, der als menschlicher Vermittler des göttlichen Wissens und der göttlichen Schrift gilt, ist der Gott des Wissens und des schnellen Handelns. 501 Wie oben gezeigt, kommt dem Quecksilber eine Vermittlungsfunktion zu, die aber nur im Verbund mit einem reinigenden Feuer zur Vermittlung von Tugend führt. Diese Vermittlungsfunktion wäre in der Entsprechung von Quecksilber mit Mercurius stimmig übereinzubringen; auch wäre damit die Thematik der göttlichen Inspiration bereits im Prolog anzitiert. 502 Wie gezeigt, werden Allegorie und Allegorese nicht strikt voneinander getrennt. Vielmehr werden auch in den Allegoresen Details des – literal zu verstehenden – Vergoldungsprozesses vermittelt, Argumentationslinien ziehen sich durch den gesamten Prolog. Nichtsdestoweniger legt es die Struktur des Prologs – insbesondere zwei Gelenkstellen – nahe, dass zwei Arten der Auslegung, zweiter und dritter Sinn, vorgestellt würden. 503 Die erste Auslegung bezieht sich auf die lue te: nu sliezzent uf der oren tor und hoe rnt dise betue ten! ich glich ez zu den lue ten.

(WvÖ, V. 48–50)

Neben der folgenden Auslegung von Gold und Quecksilber in Bezug auf lue te wird nachdrücklich auf den Prozess der Vergoldung verwiesen. Darüber hinaus wird mit der Idee gespielt, im Quecksilber jenes ideelle Quecksilber zu lesen. Noch weniger eindeutig wird in der Folge der zweiten Gelenkstelle ein einziger Sinn vorgestellt. Die Ankündigung ist eindeutig:

499 Vgl. dazu auch C, Victor (1928): Die chemische Zeichensprache einst und jetzt. Graz: Leykam, bes. S. 1 ff. Cordier macht plausibel, dass die Symbole für die bekannten Metalle aus der Astrologie übernommen wurden. So werden in der Alchemie Gold mit dem Symbol für Sonne (Kreis mit Punkt), Silber mit dem Symbol für Mond (Sichel), Kupfer mit Venus, Zinn mit Jupiter, Eisen mit Mars, Blei mit Saturn und eben Quecksilber mit Merkur bezeichnet. 500 Vgl. G. Jüttner: Mercurius. In: LexMA 6 (2000), Sp. 537. 501 Vgl. G. Jüttner: Hermes. In: LexMA 4 (2000), Sp. 2171. 502 Vgl. zur Inspiration v. a. Abschnitt 1.5.2ff. 503 Vgl. dazu die im Forschungsbericht genannte Literatur, insbesondere J (1990), S. 319f. sowie R (1998), S. 92 f.

258

Ü R

Nu merkent tugentrichen, wie ich wil gelichen iwer leben uf daz golt

(WvÖ, V. 83–85)

Zunächst wird im Folgenden die recht triviale und bereits zuvor angeklungene Aussage getroffen, dass der tugendreich ist, der Tugenden minnet (vgl. WvÖ, V. 86– 89). Es folgt die Ankündigung einer Allegorie in der Allegorese. Mit dem Verb bewærn, mit dem zuvor die Feuervergoldung als Allegorie für die vorgestellte Thematik eingeführt wurde (vgl. WvÖ, V. 20), werden die folgenden Ausführungen eingeleitet (vgl.WvÖ, V. 90 f.). Diese Ausführungen stellen eine detailliertere Beschreibung der Verse 1–19 dar, hier wie dort geht es um den Verlust der Tugend für den Fall, dass Tugendlose bei Tugendreichen sind. Anders als in den Anfangsversen wird in den Versen 92 ff. die Sprache als Medium betont. Es wird abgehoben auf die „vil tugenthaften / die gern von tugende claften“ und „de[n] tugendlose[n]“, der „hebt uf sin laster snallen / und sin gufter schallen“ (WvÖ, V. 93–98), es geht um „worte“ und „rede“ (vgl. WvÖ, V. 99–119). Die claffer werden dabei von den Tugendlosen abgehoben. Wie schon Regel in den Anmerkungen erwägt, ist „claften“ (WvÖ, V. 94) dritte Person Präteritum Plural Indikativ Aktiv des Verbs claffen und kann somit nur auf die tugenthaften (Pl., V. 93), nicht jedoch auf ein tugentloser (Sg., V. 92) bezogen sein. Anders stellt dies Juergens 504 dar. Wenn man trotzdem die von Juergens zusammengestellten negativen Konnotationen von claffen geltend macht, 505 so wäre schon an dieser Stelle die strenge Dichotomie von tugendhaft und tugendlos aufgehoben. Es wäre ein Makel der tugenthaften – deren claffen – vorgestellt, aufgrund dessen das Verschwinden der tugend erst möglich ist. Es sei auf eine Parallelführung zweier Textebenen verwiesen. Neben den oben vorgestellten verschiedenen Sinnebenen wird darüber hinaus chronologisch der Vergoldungsprozess nachvollzogen: Wird in den Versen 51–82v. a. auf die Eigenschaften der Metalle Gold und Quecksilber als einander gegenüberstehende Pole verwiesen, also auf den Zustand vor dem Zusammenbringen der Metalle, rekurrieren die Verse 83–109 auf das Verschwinden der Tugend in der Untugend, also den Prozessschritt des Zusammenbringens. In den Versen 110–119 wird der Schritt des Erhitzens im Feuer vorgestellt. Wiederholt geht es um Überdeckungen. Das Silber wird durch „des goldes dach“ (WvÖ, V. 65) erhöht, die „valsche zunge decket“ (WvÖ, V. 70); thematisiert wird, was sich „under sinem [des Quecksilbers] fluzze“ verbirgt (WvÖ, V. 76f.), „diu arge hat bedaht / die tugentlichen rede cluo g“ (WvÖ, V. 108f.). In der 504 J (1990), S. 320 f. R (1998), S. 93, übernimmt den Bezug, den Juergens setzt. Dietl setzt den m. E. nach richtigen, hier vorgestellten Bezug (vgl. D (1999), S. 101). 505 Vgl. J (1990), S. 320 f.

Ü R  „W  Ö“

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poetolgischen Lesart der Vergoldungsallegorie steht Gold für positiv konnotierte, tugenthafte rede, während das Quecksilber für die negativ konnotierte tugentlose rede steht. Der Rezipient wird im Silber ins Bild gebracht, das mit Hilfe des Goldamalgams vergoldet werden soll. Das Überdecken einer Sache durch eine andere ist in einem Fall positiv, in einem negativ. Welcher Deutungsebene ist also zu trauen? Ist die Oberfläche der wahre Sinn oder eine unter der Oberfläche liegende Schicht? Einen wichtigen Hinweis auf diese Frage liefert Pfeiffer. Er stellt die grundlegende Frage, „ob die Allegorese eigentlich als eine zentrifugale oder zentripetale Bewegung angesehen werden muß“. 506 Ist der Text, der sensus litteralis, der Ausgangspunkt einer nach „oben“ gerichteten Denkbewegung oder ist er selbst die Oberfläche, von der aus die Deutungsarbeit in immer tiefer liegende Schichten führt? Bemerkenswerterweise entsprechen beide Vorstellungen der mittelalterlichen Praxis oder [. . . ] den mittelalterlichen Praktiken. Deren vielleicht sinnenfälligster Niederschlag findet sich in den für die Textdeutung geprägten Metaphern, auf deren Reflexionspotential zu achten man spätestens seit Hans Blumenbergs 1960 erschienenen „Paradigmen zu einer Metaphorologie“ gelernt hat. 507

Als Beispiele für Metaphern, die vom Text weg streben, führt Pfeiffer Gebäudemetaphern, Erde und Wolken, Wurzel und Frucht, Körper und Seele, Buchstabe und Geist an. Für die nach Innen gerichtete Bewegung nennt er Nussschale und -kern, Ringe und Mark, Spelze und Korn und die „Deckmetaphorik“ nach Spitz. 508 Neben der Perspektive, dass tugenthafte und tugentlose rede nebeneinander stehen und bisweilen nicht voneinander zu trennen sind, wird mit dem Gedanken gespielt, dass diese beiden übereinanderstehen. Im Falle der Überdeckung der tugenthaften rede durch die tugentlose wird die Vorstellung der lügenhaften Oberfläche und dem wahren, sich darunter verbergenden Sinn wach. Die Vorstellung der Vergoldung, des oberflächlichen Aufbringens von Gold auf das Silber, das im Kern Silber bleibt, steht dem entgegen. Es ist ein im Prolog zentrales Problem, was von wem überdeckt wird, ohne dass dabei eine eindeutige Antwort gegeben würde. Vielmehr wird darauf aufmerksam gemacht, dass im Umgang mit verschiedenen Sinnebenen keine Eindeutigkeit zu erwarten ist. Fasst man die Ergebnisse der bisherigen Forschung mit den Ergebnissen dieser Arbeit zusammen, so zeichnet sich das folgende Bild ab: Es gibt verschiedene

506 P (2006), S. 152. 507 Ebd. 508 Ebd., S. 152ff.; vgl. hierzu S, Hans-Jörg (1972): Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München: Fink.

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Ü R

Ebenen der Auslegung, d. h. verschiedene Schriftsinne. Im Prolog werden verschiedene Argumentationslinien simultan nebeneinander geführt, von denen manche der Chronologie des Textes folgen, andere nicht. Dabei ist es nicht nur nicht möglich, alle Ebenen zu benennen, auch werden die verschiedenen Ebenen nicht strikt voneinander getrennt, sondern ineinander verwoben. Die Dynamik, die eine Metapher im Sinne der Interaktionstheorie erhält, wird dadurch noch gesteigert, dass im Text in Anlehnung und Variation der allegoria permixta Allegorie und Allegorese einander mit Bedeutung aufladen. Die Ebenen werden vermischt und die Auslegung erweist sich nicht als ein bloßes Substitut des Auszulegenden. Dadurch und durch Andeutungen werden Sinnebenen er-, aber auch verschlossen. Das Finden von Sinn wird problematisiert und die Bedeutung des Literalen erweist sich als uneindeutig. Über die Trias minne, aventiur, tugend ist vieles gesagt worden. Der Vollständigkeit halber seien einige Überlegungen zu dem zweiten Prologteil angeführt. Unmittelbarer als im ersten Prologteil kommt der Erzähler im zweiten darauf zu sprechen, worin er seine eigene Aufgabe sieht. War zuvor die personifizierte beschaidenhait als Instanz aufgeführt worden, die die vorgestellte Allegorie der Feuervergoldung als goltsmidinne initiiert, wird diese Allegorie im zweiten Prologteil nicht aufgenommen. Eingebettet in einer Unfähigkeitsbeteuerung beschreibt der Erzähler, was zu tun wäre, um einen adäquaten Text zu verfassen: het ich kunst, witz und sin in dem hertzen min zestiur, daz minne und aventiur von mir würde getihtet und tugende dar in gephlihtet uf daz aller beste, wær kunst in hertzen veste, da gæb ich guo ten willen zuo !

(WvÖ, V. 144–151)

Die unspezifische Beschreibung, von Minne und Aventue re etwas zu sagen, und dies mit Tugenden zu verbinden, legt kein konkretes poetisches Verfahren offen. Ebenso unspezifisch bleibt der Wunsch des Herzens: nu ist daz hertze mir so tump daz ez begirdig ist dar an daz ez uf getihtes wan wil minne und aventue r lagen und von in tugentlich sagen, so ez sich best kan verstan

(WvÖ, V. 156–161)

Als Unfähigkeitsbeteuerung ist die Diskreditierung des Herzens als tump zu lesen; und doch erscheint auch der beschriebene Versuch als unzulänglich. In ähnlicher Weise wie die Erwähnung der Tatsache, dass Quecksilber under sinem fluzze nicht

Ü R  „W  Ö“

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naz ist, macht der Erzähler deutlich, dass die Darstellung von Tugenden nicht gelingen kann, wenn er sich von den personifizierten Instanzen Minne und Aventue re verabschieden würde. des wirt aber niht getan, ich welle urlaubes muo ten zu den wisen guo ten, zu Aventue r, zu Minne;

(WvÖ, V. 162–165)

(Das (rekurriert auf die vorhergehenden Verse) wird aber nicht vollbracht, würde ich den Abschied von den weisen Guten, von Aventue r, von Minne, begehren wollen). 509

Durch die Negation eines sonst nicht angesprochenen Abschieds wird ebendieser Abschied erst erwähnt; analog wurde dies für die „Nässe“ des Quecksilbers gezeigt. Das entkräftete Argument wird in der Entkräftung erst ins Spiel gebracht. Nicht auszuschließen ist, dass bereits hier die im ersten Kapitel gezeigte Entwicklung angedeutet ist, an dessen Ende sich der Erzähler als den Instanzen hierarchisch übergeordnet stilisiert. In jedem Fall wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die beiden Instanzen gelenkt. 510

2.2.4 Der Aventue re Hauptmann Wie im vorhergehenden Darstellungspunkt sollen den eigenen Überlegungen eine inhaltliche Übersicht und ein kurzer Forschungsüberblick vorangestellt werden. Nachdem Ryal den Hof des Agrant verlassen muss, tritt er in die Welt der Aventue ren ein, indem er dem aventue re hauptman begegnet. 511 Inmitten eines locus amoenus (vgl. WvÖ, V. 3126–3135) 512 sieht Ryal einen „ungehue ren gestalt, der doch gehue re was“ (WvÖ, V. 3136 f.). Es folgt eine descriptio dieser gestalt durch den Erzähler: er was snel und da bi balt, mit menschen antlue tze, dar uf ein chrone nue tze 509 D (1999) übersetzt die Verse recht frei und ohne dabei Vers 162 mit einzubeziehen: „Ich will mich auf die Reise begeben zu den guten Weisen, zu Âventiure und Minne“ (S. 104). Die genauere Übersetzung widerspricht der von Dietl nicht, berücksichtigt aber die Negation des Abschieds, den Dietl als Wunsch zu reisen interpretiert. Grammatikalisch wird welle als Konjunktiv zu wellen, muo ten als Infinitiv aufgefasst. Muo ten steht mit Genitiv – urlaubes. Vgl. Lexer (1872 ff.), Bd. 1, Sp. 2242 ff. 510 Vgl. Kap. 1.4.2, S. 112 ff. 511 Ridder macht darauf aufmerksam, dass die Begegnung mit dem Aventue re Hauptmann die erste Aventiure ist (vgl. R (1998), S. 290). 512 Vgl. J (1990), S. 396, E (2004), S. 98.

262

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von ainem rubin was gemaht; sin augen warn struze slaht, der halz stark helfenbain im was, sus sagt diu schrift do ich ez las; im stuo nden an den ahseln sin zwen flue gel viderin, gevider daz was fltue cke; dar under schupen dicke stuont der lip nach visches art. so wunderlich kain man nie wart gesehen uf der erden hie: die fue zz damit der do gie, warn als eins wilden lewen fuo zz. Hervorhebungen SH) 513

(WvÖ, V. 3144–3159,

Weil das Pferd zunächst vor der gestalt scheut, bittet Ryal um Verzeihung, zügelt das Pferd und der Aventue re Hauptmann lässt Ryal wissen, seinetwillen dort zu sein. Er erklärt Ryal, „zu aventue r geborn“ zu sein, und ermutigt ihn, Fragen zu stellen (vgl. WvÖ, V. 3160–3208). Ryal folgt der Ermutigung und fragt nacheinander, was die verschiedenen Konstituenten zu bedeuten haben: Allgemein Complexione Krone Augen Hals Flügel Fischschuppen Löwenfüße

(V. 3214–3223) (V. 3224–3231) (V. 3232–3234) (V. 3235–3237) (V. 3238–3240) (V. 3241–3242) (V. 3243) (V. 3243–3244)

Der Aventue re Hauptmann macht Ryal darauf aufmerksam, dass eine Frage noch nicht gestellt wurde: er sprach: ‚hat denne mich din munt hie gevraget uf daz ort?‘

(WvÖ, V. 3246 f.)

Ryal erfragt den Namen seines Gegenübers, den das Publikum vom Erzähler bereits in Vers 3140 erfahren hat: er sprach: ‚ich muo z noch ein wort vragen, daz tu mir bekant! wie du mit namen sist genant, 513 In den folgenden Zitaten sind diese Begriffe der Übersicht wegen eingerückt vor die jeweilige Passage gesetzt.

Ü R  „W  Ö“

des scholt du beschaiden mich; min lieber vriunt, des vrage ich dich.‘

263

(WvÖ, V. 3248–3252)

In der Folge beantwortet der Aventue re Hauptmann nachdem er die Weisheit Ryals gelobt hat (vgl. WvÖ, V. 3254 f.), alle gestellten Fragen und legt damit seinen eigenen Körper allegorisch aus: Name Krone Augen Hals Flügel Fischschuppen Löwenfüße Complexione

(V. 3262–3263) (V. 3264–3269) (V. 3270–3273) (V. 3274–3283) (V. 3284–3287) (V. 3288–3291) (V. 3292–3297) (V. 3298–3330)

Die folgende Übersicht stellt die Attribute des Aventue re Hauptmanns aus der descriptio des Erzählers, die quaestiones Ryals sowie die Allegorese des Aventue re Hauptmann bezogen auf diese Attribute zusammen. descriptio (Erzähler) [name] menschen antlue tze chrone augen halz flue gel schupen fue zz

quaestio (Ryal)

Allegorese (AH) name

menschlich sinne complexione chrone augen kel vettachen schue ppen fue zz name

chrone augen kel flue ge schue pen fue zze complexione

Tabelle 2.3: Quelle: Eigene Darstellung

Im Anschluss an den Monolog, in dem der Aventue re Hauptmann sich selbst auslegt, übergibt er Ryal den bracken fue rst. Als Beispiel für die frühere Forschung kann Bierbaum genannt werden, der in seiner Dissertation von 1956 den aventue re hauptman erwähnt, die im WvÖ vorgestellten Attribute sowie deren Auslegung nennt. Der Bracke, den der aventue re

264

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hauptman Ryal schenkt, erinnert Bierbaum an den Bracken im „Jüngeren Titurel“. 514 Michel wähnt im aventue re hauptman eine Vorlage für das Titelkupfer des Simplicissimus. Er sei das „nackte Programm der âventiure, gefaßt in einer Personifikation“. 515 Im Vergleich mit dem Waldmenschen aus Hartmanns Iwein konstatiert Michel, dass Ryal im Gegensatz zu Kalogreant nicht wisse, was aventiure sei und der aventue re hauptman ihm „jene Eigenschaften spiegelbildlich vor Augen [stellt], über die er selbst verfügen sollte: nach Tugenden brennen, daß er nicht wankelmütig sein soll, daß er keine Strapazen zu Wasser und zu Land scheuen darf usw.“. 516 Neben einer Analyse der „ einzelnen semiotischen Bezüge zwischen Gliedmaßen (Signifiants) und Eigenschaften (Signifiés)“ nimmt er auch die complexione in den Blick. Vor allem macht er darauf aufmerksam, dass es Bezüge gibt von complexione zu den Tierbestandteilen. 517 Juergens verweist auf den „locus amoenus“, dessen Beschreibung dem Auftreten des aventue re hauptman vorausgeht und der „konventionell der Exposition“ gilt. Den aventue re hauptman, „in dessen Inszenierung und Auslegung sich Elemente der Konstruktionsallegorie mit denen der Körperallegorese verbinden“, sieht er in zwei Traditionen verwurzelt: einerseits in der Tradition, die auf Wolframs Frau Aventiure zurückgeht, andererseits in Hartmanns waltman. 518 Kurz skizziert Juergens in drei Unterkapiteln die „Kompositionselemente des ‚aventuer hauptman‘“, die „‚quaestio‘ der Erscheinung“ und die „Selbstallegorese des ‚aventuer hauptman‘“. 519

514 Vgl. B (1956), S. 101 f. 515 M, Paul (1986): Eine bisher unbeachtete Vorlage für das Titelkupfer des Simplicissimus: der abentüer hauptmann. In: Simpliciana 8, S. 97–109, hier S. 102. 516 Ebd., S. 102. Vgl. dort auch S. 105: Im WvÖ spiegelt „ die Personifikation des Prinzips ‚Abenteuer‘ die Eigenschaften [. . . ], die vom Prototyp des Abenteuer suchenden Helden verlangt werden“. 517 Vgl. ebd., S. 103 f. Zu ergänzen ist, dass Michel die Ausprägung der Übernahme von Attributen einschränkt: „Grimmelshausen hat vom Abenteuer-Konzept des Wilhelm von Österreich nur die Vieldimensionalität übernommen, nicht die Anschauung, daß der wahre Abenteurer Tugenden mitzubringen hat. [. . . ] Ikonographisch ist folgendes von Belang: Die Mischwesen, die R. Tarot aus C. Lycosthenes, C. Gessner und U. Aldrovandi beigebracht hat, ähnelt demjenigen des Titelkupfers viel stärker als der Hauptmann der Abenteuer. Aber nur formal, nicht hinsichtlich des Sinngehalts. Man wird annehmen müssen, daß Grimmelshausen im Kern die Figur des Prosaromans übernommen hat, während er sich bei der formalen Ausgestaltung der Traditionen der prodigia, ostenta ac monstra angeschlossen hat“ (ebd., S. 106). 518 Vgl. J (1990), S. 396 ff. 519 Vgl. ebd., S. 398–401.

Ü R  „W  Ö“

265

Ridder zählt neben dem aventue re hauptman die Feuerberg-Aventiure und „teilweise“ Parklises Rettungsaktion und Wildhelms Kampf gegen Merlin als Allegorien auf. Diese seien nicht, wie Cramer konstatiert, dadurch, dass sie an die Allegorie gebunden seien, ihrer Autonomie beraubt. Vielmehr verkörperten sie „Wechselhaftigkeit“ und „Zusammengesetztsein aus Verschiedenartigem“ und seien dadurch, dass der Erzähler diese „Eigenschaften [. . . ] nicht nur den Gegenständen der Erzählung, sondern auch seiner Erzählfigur zuteil werden läßt“, auch poetologisch zu deuten: 520 „Pluralität der Erzählidentitäten und der ständige sprunghafte Wechsel der Erzählebene sind die wesentlichen Kennzeichen der fiktionsimmanenten Erzählinstanz“. 521 In der Selbstauslegung des aventue re hauptman sei die „Totalität als Welt und als Erzählprinzip [. . . ] bereits präsent“, die Begegnung mit ihm stehe an „strukturell markanter Stelle“. 522 Auch Ridder verweist auf die Traditionslinie, die bei Wolframs Aventiure-Gespräch ihren Anfang nimmt. Während dort bereits darauf hingewiesen werde, „daß das Erzählmuster nicht mehr ungebrochen akzeptabel ist, sondern durch den Einsatz von Allegorie und Allegorese überformt werden muß“, 523 gehe Johann noch weiter und der aventuer hauptman und seine Auslegung können im WvÖ als Ausdrucksform der Reflexion und fiktionsbezogenen Visualisierung der nicht mehr selbstverständlichen Gattungskonstituente verstanden werden. Aus der Spezifik der Allegorie ergibt sich, daß hier parallel zur theoretischen Diskussion der Minne, die ja in dem Roman ebenfalls einen großen Raum einnimmt, nicht nur eine Verbildlichung des abstrakten Begriffs, sondern ansatzweise über die Kunstfigur der Allegorie auch eine Theoretisierung des Erzählprinzips Aventiure versucht wird. 524

In einem Aufsatz nimmt Schmid die „hybride Figur“ in den Blick. Diese habe „auch eine ästhetische Dimension. Das Monstrum ist der Ort, an dem der künstlerische Einfall zum Thema wird, die schöpferische Phantasie sich erproben will“. 525 Sie thematisiert das Verdikt des Horaz in der ars poetica und dessen Aufnahme in Spätantike 526 sowie durch Bernhard von Clairvaux. 527 In dessen Terminologie seien „Mannigfaltigkeit, Vielfalt, Reichhaltigkeit, Verschiedenartigkeit [. . . ] Gegenstand des Wohlgefallens“ und „damit Kategorien einer Ästhetik, wie sie der klassischen Kunstauffassung der horazischen ‚ars poetica‘, dem Postulat der Ein520 521 522 523 524 525 526 527

Vgl. R (1998), S. 298 f. Ebd., S. 290. Vgl. ebd. Ebd., S. 290f. Ebd., S. 291. S (2002), S. 141. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 142.

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heitlichkeit und Wahrscheinlichkeit, nicht ferner stehen könnten“. Es verwundere daher nicht, dass die Artus-Romane des 12. und 13. Jahrhunderts wie auch die Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts sich durch „die Lust an der Mischung von Gegenstandsbereichen, Erzählstoffen, literarischen Gattungen“ auszeichneten. 528 Dieser „Produktivität des Monster Typus“, der „Fülle künstlerischer Einfälle und Ideen“, stellt Schmid gegenüber, „daß auf Grund der christlichen Umformung der platonisch-aristotelischen Philosophie die Idee als eigenständige menschliche Leistung theoretisch unmöglich geworden ist“. 529 Nach einer Darstellung der Tradition des Syntagmas ungehiure: aventiure kommt Schmid auf den aventue re hauptman zu sprechen. Dieser sei eine „hybride Figur“ und werde „durch die Kategorie der diversitas spezifiziert“. In ihm scheine „kurioserweise die Erinnerung an das horazische Monstrum aufbewahrt zu sein“. Er nehme „die ganze natürliche Welt als [seinen] Lebensraum in Anspruch“, sein Erfinder stecke Distanzen ab: „[Z]um einen markiert er durch die Beschreibung von Aventiure in naturkundlichen Termini eine Verschiebung der Bildungsideale und zum anderen durch die Allegorisierung des Monstrums die Verschiebung des literarischen Geschmacks seit Cundries Zeiten“. 530 In einem zwei Jahre später erschienenen Aufsatz fragt Schmid „nach der poetologischen Qualität“ des aventue re hauptman. Legitimiert sieht sie diese Lesart darin, dass „aventue re im Wilhelm von Österreich des öfteren explizit als Angelegenheit der dichterischen Bemühung auftritt“. 531 Eine Parallele der Konstruktion des aventue re hauptman sei in den Sprüchen 99/100 Reinmars von Zweter gegeben. Wie dieser verschlüssele Johann „das gesuchte Konzept [. . . ] durch ein bestimmtes Set von Attributen der Person“. 532 Bei beiden bilde die „Signifikantenseite“ (die Körperteile) ein „heterogenes Konglomerat, während die Signifikate, alle als Metonymien eines einheitlichen moralischen Systems, die je in Frage stehende moralische Qualität plausibel“ motivierten. 533 Die tierischen Attribute stünden, so Schmid, in drei Deutungshorizonten: Sie bezeichneten „den Geltungsbereich der aventue re“ , die „Elemente, aus denen die Schöpfung gemacht ist“ und zuletzt werde ein „drittes Ordnungssystem“ mobilisiert, „[i]ndem sich diese Deutungskategorien auf die Temperamentenlehre beziehen“. 534

528 529 530 531 532 533 534

Ebd., S. 143. Ebd. Ebd., S. 146f. S (2004), S. 71. Ebd., S. 75. Ebd. Ebd., S. 76.

Ü R  „W  Ö“

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Die komposite Gestalt im „Wilhelm von Österreich“ erscheint aber nicht nur als hybrider Leib, sondern die Ordnung der Dinge, auf die sich Kopf, Leib und Naturell des Wesens beziehen – die Signifikate, nämlich: adliges Tugendsystem, Einteilung des Naturraums und Temperamentenlehre –, verhalten sich ähnlich inkongruent zueinander wie die Attribute auf der Ebene der Signifikanten. 535

Schmid macht auf die verschiedenen, seit der Antike überlieferten Zuordnungen aufmerksam, mittels derer beispielsweise Temperamente den Elementen oder Tieren zugeordnet sind. 536 Für die Vereinigung verschiedener Temperamente im aventue re hauptman erwägt sie, dass dadurch der „Begriff vom Menschen“ erweitert werde. 537 Abschließend deutet sie die Erscheinung des Aventue re Hauptmannes als den „kuriose[n] Fall [. . . ], daß ein Dichter versucht, das Prinzip der Erfindung durch eine von ihm selbst erfundene Kunstfigur zu illustrieren“. 538 Zuletzt fragt Schmid, wie die Allegorese des aventue re hauptman übertragen werden könne auf andere Allegorien im WvÖ. Sie kommt zu dem Schluss, dass der vierköpfige Vogel im Joraffin-Reich wie der aventue re hauptman ein „mehrfach funktionales System“ sei und sich der eine als „Gebrauchsanweisung“ des anderen erweise. 539 In seiner Untersuchung kosmologischer Aspekte im WvÖ geht Speckenbach dezidiert auf den Aventue re Hauptmann ein. Er zielt dabei auf die Relevanz der Humoralpathologie Galens im Kontext des „Lehrgespräches“ ab. Während Wildhelm nicht an der menschlichen Existenz des Gegenübers zweifele, was daran deutlich werde, dass er nach dessen complexione frage, werde in den Erklärungen des Hauptmanns deutlich, dass er kein Mensch sei. 540 Speckenbach geht auf die verschiedenen Deutungsansätze ein. Zusammenfassend kommt er zu dem Schluss, dass der Aventue re Hauptmann Merkmale vereinige, „die ihm menschliche Eigenschaften zusprechen, wie solche, die ihm menschliche Eigenschaften aberkennen bzw. diese übersteigern“. 541 Johann kombiniere dabei „die Deutungsverfahren aus den verschiedenen Traditionen der transzendierenden Bibelexegese und der philosophischen, ganz innerweltlich ausgerichteten Mikro-Makrokosmos-Spekulation“. 542 Geisthardt möchte am WvÖ zeigen, „wie monströse Gestalten im poetologischen Diskurs eingesetzt werden können“. 543 „Die besondere Form des mons535 536 537 538 539 540 541 542 543

Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 77f. Vgl. ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 85. S (2003), S. 256 f. Ebd., S. 260. Ebd., S. 261. G (2009), S. 32. Die Dissertation, die voraussichtlich die im Aufsatz genannten Aspekte ausführlicher behandelt, soll laut Angabe der Autorin 2013 erscheinen. Zum

268

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trösen Körpers, seine scheinbar kontingente Regellosigkeit, seine Hybridität und die Grenzüberschreitungen, die sich in ihm realisieren, werden in der Selbstauslegung der allegorischen Figur zu Chiffren für den Text“. 544 Der aventue re hauptman stehe „an der Schnittstelle zwischen Lektüre und Reflexion, zwischen Rezeption und Produktion“, als allegorische Figur sei er „in ein komplexes Netzwerk von Verweisen eingebunden, das sich nicht mit einfachen Zeichenkonzepten beschreiben“ lasse. 545 Die Vermittlung des aventue re hauptman von Text und Metatext sucht Geisthardt denn mit dem Medienbegriff nach Fritz Heider und Niklas Luhmann zu analysieren. Historisch adäquat sei dies, insofern „im geistigen Horizont der Entstehungszeit des Wilhelm von Österreich ähnliche Verweisfiguren bekannt“ seien – namentlich „im philosophisch-theologischen Spektrum des Mittelalters in der Negativen Theologie nach Pseudo-Dionysius Areopagita und Johannes Scotus Eriugena“ . 546 Geisthardt kommt zu dem Schluss, dass der Körper des aventue re hauptman „eine Chiffre für die Unfassbarkeit des ihn konstituierenden Prinzips“ sei. 547 In der Selbstallegorese werde der „metaliterarische Diskurs nur angerissen, wodurch der Text die Selbstallegorese semiotisch scheitern“ lasse. Die „ prozessuale Struktur des Mediums“ werde offengelegt und das „mediale Substrat“ gerate in den Blick. 548 Der „aventuer hauptman“ hat zwar eine Schlüsselposition für das Verständnis des literarischen Universums inne, aber er kann das poetologische Substrat des Textes nicht vollständig erschließen. Er fungiert in erster Linie als Marker für die Möglichkeiten der Erzählung. Ihm obliegt die Evokation medialer Reflexion. Er sorgt diesbezüglich für eine Sensibilität in der Rezeption, die es ermöglicht, auch in den weniger markanten Textpassagen das zugrunde liegende poetologische Prinzip nachzuvollziehen. 549

Im Folgenden werden die eigenen Überlegungen vorgestellt. Zunächst wird die Szene als Dialog betrachtet und gezeigt, dass dieser fehlschlägt. Danach wird die Frage untersucht, inwiefern der Aventue re Hauptmann mit Hilfe eines mehrfachen Schriftsinns ausgelegt werden kann.

544 545 546 547 548 549

Zeitpunkt der Vollendung dieser Arbeit war sie noch nicht zugänglich und konnte nicht berücksichtigt werden. Ebd., S. 33. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 44. Ebd. Ebd. Zu erwähnen sind noch E (2004) und M, Paul (2013): Spinnenfuss und Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Zürich: Theologischer Verlag, die beide den Aventue re Hauptmann erwähnen, jedoch keine über die hier dargestellten Aspekte hinausgehenden Punkte ergänzen.

Ü R  „W  Ö“

269

Nachdem der Erzähler den aventue re hauptman beschrieben hat, ist die Episode formal als ein Dialog zwischen aventue re hauptman und Ryal aufgebaut und erinnert an ein „Lehrgespräch zwischen Lehrer und Schüler mit Frage und Antwort“. 550 Dieser Dialog weist an verschiedenen Stellen Ungereimtheiten auf. Als Ryal wissen möchte, wer der aventue re hauptman sei (vgl. WvÖ, V. 3182f.), antwortet dieser mit einer Erklärung dessen, wer Ryal ist (vgl. WvÖ, V. 3185–3189). Dietl meint, der aventue re hauptman stelle einen Spiegel für Ryal dar, vor den dieser bei der Begegnung trete und somit seinem eigenen Wesen begegne. 551 Diese Deutung mag zunächst plausibel erscheinen, doch die Frage nach dem Wesen bzw. dem Namen des aventue re hauptman wird wenige Verse später aufgenommen. Nachdem Ryal Complexione und tierische Attribute seines Gegenübers erfragt hat, möchte dieser wissen, ob er nicht etwas (das Wichtigste) vergessen habe: er sprach: ‚hat denne mich din munt hie gevraget uf daz ort?‘

(WvÖ, V. 3246 f.)

Ryal weiß sofort, welche Frage fehlt, und möchte wissen, wie der aventue re hauptman heiße (vgl. WvÖ, V. 3250); diese Frage wird dann auch zuerst beantwortet (vgl. WvÖ, V. 3260–3263). Der aventue re hauptman möchte also eine Frage hören, die bereits gestellt wurde; 552 während es zu Beginn so scheint, als antworte der hauptman auf die Frage, wer er sei, mit der Antwort über Ryals Wesen, so gibt er nun Auskunft über sein eigenes Wesen und seinen eigenen Namen. Darüber hinaus lobt er Ryals Weisheit, die seinem jungen Alter nicht entspricht (vgl. WvÖ, V. 3254f.), augenscheinlich gerade wegen dieser (wiederholt) gestellten Frage. 553 Dietls These wird dadurch nicht fragwürdig, sondern es zeigt sich, dass das Vorden-Spiegel-Treten eine Deutungsebene neben anderen darstellt. Ryal muss dieselbe Frage zweimal stellen, um zwei verschiedene Antworten zu erhalten. Die Gegenfrage des aventue re hauptman fungiert dabei als Marker, um deutlich zu machen, dass an dieser Stelle eine besondere Art von Übertragung vorliegt. 554 550 S (2003), S. 256. 551 Vgl. D (1999), S. 149. 552 Ich gehe davon aus, dass die Frage „wer du sist“ (WvÖ, V. 3183) synonym zu verstehen ist zur Frage „wie du mit namen sist genant“ (WvÖ, V. 3250). Zwar kann zwischen beiden Fragen differenziert werden, doch bringt dies m. E. an dieser Stelle keine weiterführenden Erkenntnisse. Die Struktur der Episode ist demnach auch nicht so aufgebaut, wie Speckenbach konstatiert. Für ihn fragt Wildhelm zuerst nach den Temperamenten, dann nach den Körpermerkmalen und schließlich nach dem Namen. Der Aventue re Hauptmann antworte darauf spiegelbildlich (vgl. S (2003), S. 257, Anm. 23). 553 Möglich ist, dass hier an das Integumentum-Verständnis im welschen gast Thomasins von Zerklære angeknüpft wird. Vgl. dazu den Exkurs „Integumentum im Kontext von historiafabula-argumentum“ im Darstellungspunkt 2.1.4, S. 192 ff. 554 Vgl. zu dem Begriff „Marker“ G (2009), S. 44.

270

Ü R

Das erste, was Ryal dem aventue re hauptman gegenüber feststellt, ist, dass sein „antlue tz trait / menschlich geschefpde und figur“ (WvÖ, V. 3164), seine erste Frage zielt in diese Richtung (vgl. WvÖ, V. 3182). Durch das Erfragen der Complexione möchte er schließlich eruieren, wie das Äußere des hauptmans mit einem menschlichen Geist verbunden sein kann (vgl. WvÖ, V. 3219–3226). Dass ihn alle vier Complexione regieren, lässt der aventue re hauptman Ryal denn auch wissen; was das in Bezug auf die Frage bedeutet, ob er selbst menschlich sei, lässt er offen. Stattdessen bezieht er die vier Complexione, die ihn bestimmen, auf diejenigen, denen er helfen muss: so bin ich der do muo z gewern der vier complexione leben: diu nach aventue ren streben, den muo z ich undertænic wesen, si sin boe se oder uzerlesen an tugenden und an werdikait.

(WvÖ, V. 3322–3327)

Letztlich also antwortet er hier ähnlich wie nach dem vom Dietl konstatierten Schema. 555 Er wendet die Frage, die seinem Wesen gilt, auf etwas anderes; hier nicht wie oben auf Ryal, sondern allgemein auf alle, die „nach aventue ren streben“. Zum einen können dies – innertextlich – Helden sein, die auf Aventue refahrt gehen wollen. Zum anderen kann auch hier aventue re poetologisch verstanden werden, sodass Rezipienten von Aventue re (-Geschichten) gemeint sind. Schon in der Frage Ryals wird dabei deutlich gemacht, dass der Rezipient einen genaueren Blick auf den hauptman werfen soll. Dieser nämlich weiß: ez ist ein zaichen daz du gast in seltsænr wat.

(WvÖ, V. 3222 f.) 556

Solche Marker sind in der Episode sehr häufig. Immer wieder werden Verben eingesetzt, die kennzeichnen, dass die Erscheinung des aventue re hauptmans etwas übertragen bedeutet (vgl. WvÖ, V. 3235 (tue ten); 3241 (kunt machen); 3245 (machen kunt); 3251 (beschaiden); 3266 (betue ten); 3274 (besinnet); 3281 (betue ten); 3284 (betue ten); 3288 (betue ten); 3295 (wern); 3299 (beschaiden); 3306 (legen fue r); 3307 (Den sin ich dir erlue hte)). Neben den Versen 3222 stechen dabei die Verse 3306f. heraus, insofern dort in zwei aufeinanderfolgenden Versen davon die Rede ist, dass hier eine Übertragung zu leisten ist. An dieser markanten Stelle kommt ein weiterer Aspekt von Übertragung ins Spiel: Übersetzung. Der aventue re hauptman kündigt an, die von Ryal „in latinen“ erfragten Complexione „mit tue tscher rede legen fue r“ 555 Vgl. hierzu auch S (2003), S. 257. 556 Vgl. auch M (1986), S. 103: „Das heißt, er [Ryal] vermutet einen semiotischen Charakter in der Kompositgestalt“.

Ü R  „W  Ö“

271

(WvÖ, V. 3304–3306). Nun übersetzt er aber nichts, er überbrückt nicht die Differenz von lateinischer und deutscher Sprache. Die lateinischen Begriffe, nach denen Ryal fragt (sanguineus, colericus, flema, melancolie – vgl. WvÖ, V. 3227– 3229), nennt auch er (vgl. WvÖ, V. 3310–3318), allein deren Zusammensetzung (haiz, trucken, fue ht, kalt) benennt er in deutscher Sprache. In zwei Schritten also geht er vor, wie in den Versen 3306 f. angekündigt: Erst die Benennungen in deutscher Sprache, dann die Offenlegung einer weiteren Bedeutungsebene, die jedoch – wie oben gezeigt – nicht in der Beantwortung der Frage Ryals besteht. 557 Eine Frage bleibt: Warum benennt der Aventue re Hauptmann hier die Zusammensetzungen der Complexione, und dazu in deutscher Sprache? M. E. wird hier das Verfahren bloßgestellt, mit gelehrten Begriffen zu operieren, deren Bedeutung man nicht kennt; auf der Handlungsebene gilt dies Ryal, auf einer Metaebene dem Rezipienten. Der aventue re hauptman legt die Complexione im ersten Schritt nicht im eigentlichen Sinne aus, sondern gibt allein deren Definition an, wie sie in den Naturlehren der Zeit zu finden sind. Implizit unterstellt er damit Ryal (bzw. der Erzähler dem Publikum), diese nicht zu kennen. Die Ungereimtheiten in Verbindung mit dem wiederholten Verweis auf die Bedeutung der Worte machen deutlich, dass es hier um mehr geht als um den literalen Sinn. Wie in der Absurditätstheorie der Metapher oder in der christlich-mittelalterlichen Exegesespraxis, in der biblische Stellen, die literal unverständlich sind, übertragen verstanden werden, wird somit auf eine übertragene Bedeutung verwiesen. Zugleich werden verschiedene Bedeutungsebenen vorgeschlagen, die z. T. ins Leere laufen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Wie in der Tabelle auf S. 263 zu sehen ist, stimmt die Reihenfolge der Attribute chrone, augen, halz, flue gel, schupen und fue zz in descriptio des Erzählers, quaestiones Ryals und Allegorese des aventue re hauptman überein. Diese sollen zunächst in den Blick genommen werden, bevor in einem zweiten Schritt die Attribute thematisiert werden, die in der Reihenfolge voneinander abweichen bzw. nicht in allen drei Darstellungen vorkommen (name, menschen antlue tze, menschlich sinne, complexione). Die descriptio des aventue re hauptman erfolgt a capite ad calcem, 558 und dieser Reihenfolge folgen Ryals Fragen genauso wie die Selbstallegorese. Bei der Allegorese fällt zunächst auf, dass sich die Attribute auf verschiedene Verweissysteme beziehen. Schmid konstatiert, dass

557 Vgl. auch S (2003), S. 257. Er leitet aus den Versen 3302–3321 ab, dass der Aventue re Hauptmann kein Mensch sei. 558 S (2004), S. 72. Vgl. auch S (2003), S. 256: „Der hauptman wird entsprechend der rhetorischen Deskriptionspraxis von Kopf bis Fuß beschrieben“ (S. 256).

272

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die Ordnung der Dinge, auf die sich Kopf, Leib und Naturell des Wesens beziehen – die Signifikate, nämlich: adliges Tugendsystem, Einteilung des Naturraums und Temperamentenlehre –, [. . . ] sich ähnlich inkongruent zueinander [verhalten] wie die Attribute auf der Ebene der Signifikanten. 559

Die Krone, die hochgemue te bedeutet, wobei der Rubin als Bestandteil der Krone mit Hilfe der Edelsteinallegorese zu deuten ist; 560 die Augen, die auf tugend rekurrieren, wobei die Hitze der Straußenaugen anknüpft an die Tierallegorese im Physiologus, 561 und der Hals, der im Grunde genommen für stæte steht, beziehen sich auf Tugenden, deren Vermittlung im Prolog als für den Text zentral herausgestellt worden war (vgl. WvÖ, V. 131 ff., V. 146ff.; V. 1623–1627). Die Flügel werden ausgelegt als Zeichen für die Vermittlung der Aventue re an die Rezipienten. Dabei sind „Signifiant und Signifié über ein Zwischenglied verbunden: ‚manches Herz durchfliegen‘ ist eine Metapher, sie wird konkretisiert und ihr dann metonymisch ein typisches Tier zugeordnet“. 562 Fischschuppen und Löwenfüße sind – bedeutsam „aufgrund einer Metonymie [. . . ] (das typische Tier steht statt des Aufenthaltortes)“ 563 – Zeichen für den Aufenthaltsort der Aventue re und verweisen damit auf die Orte, an denen Aventue ren sich ereignen: Wasser und wildes Land. So glatt wie dargestellt, geht die Allegorese nicht auf. Speckenbach meint, die Auslegung von Krone und brennenden Augen scheine „ad hoc neu gebildet zu sein“. Gegen Michel, den Speckenbach nicht erwähnt, sowie Juergens und Ridder, die in den Straußenaugen einen Hinweis auf den uneingeschränkten Gesichtskreis der Aventiure erkennen, 564 konstatiert er, dass die Proprietäten des Rubins bei der Auslegung keine Rolle spielten, sondern „eher schon die Position der Krone auf dem Haupt“. Er gibt zu bedenken, dass die brennenden Augen des Straußes „in der Regel ad malam partem verstanden“ würden. 565 Auch die Allegorese von Hals und Flügeln ist nicht eindeutig. Zum elfenbeinfarbenen Hals bemerkt Michel, er trage „Bedeutung aufgrund der üblichen Qualitäten-Allegorese: das Material hat die Eigenschaft ‚weiß‘, deshalb bedeutet es die ‚Reinheit des Sinns‘“. 566 Inwiefern 559 560 561 562 563 564 565 566

S (2004), S. 77. Vgl. M (1986), S. 103. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. J (1990), S. 401; R (1998), S. 290. S (2003), S. 258. Ebd. Im Gegensatz zu den Straußenaugen problematisiert Speckenbach die Auslegung des weißen Halses nicht. Er unterscheidet zwischen „mandelfarbene[m] Hals“ und der „Festigkeit des Elfenbeins“ (vgl. S (2003), S. 258). Zu bedenken ist jedoch, dass diese Unterscheidung erst in der Allegorese eingebracht wird. In descriptio und quaestio bestimmt das Elfenbein sowohl Festigkeit als auch Farbe.

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aber bedeutet der Hals bzw. dessen Farbe die „Reinheit des Sinns“? Die Allegorese des Halses beantwortet diese Frage nur augenscheinlich und weist weitere Ungereimtheiten auf: auch wirt dir hier besinnet wa von min kel raine so stark von helfenbaine ist an mir geordiniert: swes muo t gecorrigiert ist vor allem wandel, der ist wiz alsam ein mandel; so betue tet, wilt duz merken, der helfenbain die sterken diu an der aventue re lit.

(WvÖ, V. 3274–3283)

Die Erklärung in den Versen 3278–3280 rekurriert zwar auch auf die Farbe Weiß, wie das Elfenbein und das Adjektiv raine, es wird jedoch ein anderer Bildspender – die mandel – bemüht. Während also in diesen Versen von der Weiße der Mandel gesprochen wird, wird in den umgebenden Versen genau wie in der descriptio des Erzählers von Elfenbein gesprochen. Eine triviale Erklärung wäre der Reimzwang, doch greift diese hier sicher zu kurz. Denn auch die Absenz von wandel, wahrscheinlich eine Umschreibung von stæ te, ist wohl nicht gleichzusetzen mit der sterken / diu an der aventue re lit. Ohnehin ist sterke sehr allgemein gehalten, sodass hier letztendlich über aventue ren nicht wirklich etwas ausgesagt wird. Vielmehr wird vorgeführt, dass die Allegorese ins Leere läuft. Drei weitere Aspekte erhärten diesen Befund. Zum ersten ist wohl der gewollt sperrige Reim geordiniert: gecorrigiert mit einem Augenzwinkern zu lesen. Zweitens ist Vers 3281 ein deutlicher Marker, der zu einer ironischen Lesart geradezu auffordert. Drittens konterkariert der von curiositas getriebene Held Wildhelm die Tugend, von wandel gecorrigiert zu sein. Auch die Allegorese der Flügel ist weniger klar, als man von einer Allegorese erwarten könnte. daz ich swebe wol enbor: ich fliuge durch maniges hertzen tor der vogel, lue te und tier.

(WvÖ, V. 3284–3287)

Die zentrale Irritation hat Geisthardt formuliert. Die Metapher müsse, „um verständlich zu werden, weiter ausgedeutet und das Paradox der gleichzeitigen Beschränkung und Universalisierung der Âventiuresuchenden erläutert werden“. Zudem bleibe unklar, warum „außer Menschen auch Vögel und Tiere als mögliche

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Rezipienten angesprochen werden“. 567 Auch diese Auslegung ist ironisch gebrochen. Im Gegensatz zu chrone, augen, halz, flue gel, schupen und fue zz weichen die drei Darstellungen (Erzähler, Ryal, Aventue re Hauptmann) bezogen auf name, menschen antlue tze, menschlich sinne und complexione voneinander ab. Zentrale Aspekte bezogen auf die Thematisierung des namen sowie die complexione wurden im Darstellungspunkt 2.2.4 herausgearbeitet. Darüber hinaus bietet es sich an, in der Temperamentenlehre einen weiteren Deutungshorizont für die tierischen Attribute zu sehen. Für diese Attribute macht Schmid drei Deutungsebenen aus. Sie bezieht sich auf Fischschuppen, Flügel und Löwenfüße, wenn sie feststellt, dass die tierischen Attribute des aventue re hauptman auf drei Weisen ausgelegt werden können. Erstens stehen sie „für Luft, Wasser und (wildes) Land und bezeichnen damit den Geltungsbereich der aventue re“. Zweitens stehen sie für die „Elemente, aus denen die Schöpfung gemacht ist“. Drittens kann auch das Ordnungssystem der Temperamentenlehre, das in der Frage Ryals ins Spiel gebracht wird, auf die Tierattribute bezogen werden. 568 Und in der Tat gibt es im Mittelalter Naturlehren, die vermittelt über die Elemente (Luft, Erde, Feuer, Wasser), die Tiere in die Temperamentenlehre integrieren. So ist der Löwe bereits in der Naturphilosophie des Wilhelm von Conches (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts) als cholerisches Tier belegt, während der Vogel als Tier der Lüfte und der Fisch als Geschöpf des Wassers (allerdings erst in ikonographischen Handbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts) dem sanguinischen bzw. dem phlegmatischen Temperament zugeordnet werden. Es scheint also immerhin möglich, die tierischen Signifikanten (Vogelflügel, Fischschuppen, Löwentatzen), doppelt zu denotieren. Zum einen als Metonymien für das Lebenselement der Kreatur, zum anderen als Repräsentanten der Säftelehre. 569

Anders als zuvor spricht Schmid hier von doppelter Denotation und unterschlägt damit eine der drei oben vorgestellten Ebenen. Doch auch die Metonymien enthalten insofern eine doppelte Bedeutung, als sie sowohl innerliterarisch (Elemente der aventue re) als auch außerliterarisch (Elemente der Schöpfung) verstanden werden können. Durch das Anzitieren der Complexione entsteht ein hochkomplexes Verweissystem, das über die hier genannten Aspekte noch hinausgehen kann. Beispielhaft sei auf den Artikel zur Humoralpathologie im Lexikon des Mittelalters verwiesen. Es findet sich dort die folgende Tabelle, in der verschiedene Entsprechungen aufgeführt sind:

567 G (2009), S. 36. 568 S (2004), S. 76 f. 569 Ebd., S. 77f. Vgl. auch M (1986), S. 103 f.

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elementa Elemente

aer Luft

ignis Feuer

terra Erde

aqua Wasser

qualitates

humores

calidum et humidum heiß und feucht sanguis

calidum et siccum heiß und trocken cholera

frigidum et siccum kalt und trocken melancholia

frigidum et humidum kalt und feucht phlegma

temperamenta

sangunicus

cholericus

melancholicus

phlegmaticus

membra Organ

cor Herz

hepar Leber

splen Milz

cerebrum Gehirn

colores Farben aetates Lebensalter

rubeus rot iuvenis Jugend

citrinus gelb vir Erwachsensein

niger schwarz senex Alter

albus weiß infans Kindheit

anni Jahreszeit

ver Frühling

aestas Sommer

autumnus Herbst

hiems Winter

genera

vir

planetae

Iupiter

mulier Mars

Saturnus

Luna

Tabelle 2.4: Quelle: Bergdolt; Keil: Humoralpathologie. In: LexMA 5 (2000), Sp. 211–213. Übersetzungen ergänzt von SH.

Theoretisch also wären alle diese Bezüge denkbar, die Aufladung mit Bedeutung wäre unendlich groß, gerade auch, weil eine Kontextdependenz den Sinn hier nicht einzuschränken vermag. Die von Schmid vorgeschlagenen Deutungsdimensionen werfen die Frage auf, ob die Allegoresen exemplarisch zu verstehen und auf die jeweils anderen Attribute zu übertragen sind. Wie oben dargestellt, werden lediglich die Füße und die Fischschuppen auf die Orte der Aventue ren bezogen. Strenggenommen würde also auch nur auf die Elemente Erde und Wasser verwiesen. In der Allegorese nicht erwähnt, von der descriptio aus betrachtet aber durchaus naheliegend ist, dass es auch Verweise auf die beiden übrigen Elemente gibt. Das Feuer wird präsent gemacht in den Augen, die brinnen (vgl. WvÖ, V. 3236); die Flügel können metonymisch – analog zu Schuppen und Füßen – für die Luft stehen. 570 Der Rezipient muss also rückwirkend das, was für Füße und Schuppen vorgeführt wurde, auch auf andere 570 Vgl. auch S (2003), S. 258 f. Speckenbach führt weiter aus, dass die Entsprechungen von Körperzonen und Elementen zu einer Mikrokosmosvorstellung führe, wie sie v. a. durch den Elucidarium des Honorius Augustodunensis bekannt geworden sei.

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Attribute beziehen. 571 Textimmanent ließen sich Bezüge zu allen vier Elementen finden. Zu Lande findet ein Hauptteil der Handlung statt, und so begegnet der aventue re hauptman Ryal zu Lande. Eine erste aventue re-hafte Episode spielt sich im Wasser ab, auch die Gewässer werden als wilde bezeichnet. Ryal wird auf dem Rücken des Riesenfisches Cetus bis ins heidnische Land getragen. 572 Die in der Allegorese nicht in den Blick genommenen Elemente (der Handlung) finden auf der Handlungsebene auch nur mit Einschränkung Entsprechungen. Die Luft als Handlungsraum spielt bezogen auf Parklise eine Rolle, die auf dem Greifen 573 fliegen kann; mit Hilfe des Vergilstuhls wird auch Wildhelm in den Himmel gehoben. Das „gebirge [. . . ] fiurin“ (WvÖ, V. 3520–3523) ist der Handlungsort, in dem das Element Feuer präsent gemacht wird. Das Feuer im Gebirge weicht jedoch markant von gewöhnlichem Feuer ab, insofern es „nieman brennet“ (WvÖ, V. 3823). Nichtsdestoweniger wird auch in diesem kalten Feuer naturkundliches Wissen zu gewöhnlichem Feuer aufrechterhalten. Joraffin trägt an Schild und Helm als Zeichen einen „viurin salamander“ (WvÖ, V. 3660, 3671f.), in der Schatzkammer, in die Joraffin Ryal führt, findet sich ein feuerfester Schild sowie ain kobertue r aus Feuersalamanderhaut (vgl. WvÖ, V. 3985–3995; 4000–4003), die der Erzähler zum Anlass nimmt, das naturkundliche Wissen des maister Plimius weiterzugeben: ‚ain kue nne in tieres wise gat, daz ander als ein wurm gestalt; si baide sint natue rlich kalt, ir wonunge ist in viure.‘

(WvÖ, V. 4010–4013)

Die naturkundliche Erklärung, warum der Feuersalamander im Feuer lebt, ist, dass er selbst von Natur aus kalt ist. Naturkundlich ist es also im Grunde genommen widersinnig, dass Joraffin, dessen Reich ja in kaltem Feuer brennt, ihn als Wappentier trägt. Auch leuchtet nicht ein, warum die feuerfeste Rüstung dort zu finden ist. Bezogen auf das Feuer als Handlungsort der Aventue re werden mehr Fragen aufgeworfen als geklärt. 574 Bedenkt man, dass es schon im Alten Testament von Gott heißt, er sei ein Feuer, das nicht verbrennt (2 Mos 3,2), weist der Feuerberg auch eine eschatologische Dimension auf. Dass die tierischen Attribute durch das Anzitieren der Complexione eine weitere Deutungsdimension erhalten könnten, hat Schmid gezeigt. Ebenso nahe liegen etwa Deutungen der Löwenfüße im Horizont adliger Herrschaftskultur, eine

571 Dieser Argumentationsgang liegt auch der Übertragung der Temperamentenlehre auf die tierischen Attribute zugrunde. 572 Vgl. hierzu auch Darstellungspunkt 2.2.2, S. 225 ff. 573 Im Übrigen eine komposite Gestalt wie der aventue re hauptman. 574 Vgl. dazu den Darstellungspunkt zum Feuergebirge (2.2.5), S. 283 ff.

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Parallelisierung von Krone und Löwe etc. Die vom aventue re hauptman ausgeführten Deutungsdimensionen werden somit jeweils als eine Möglichkeit unter vielen dargestellt. Ihre Auswahl wird damit nahezu willkürlich, zudem scheint jede Auslegung immer auch fragwürdig und in der Gefahr zu sein, ironisch gebrochen zu werden. Wie Speckenbach herausgearbeitet hat, werden dabei „Deutungsverfahren aus den verschiedenen Traditionen der transzendierenden Bibelexegese und der philosophischen, ganz innerweltlich ausgerichteten Mikro-Makrokosmos-Spekulation“ kombiniert. 575 Schmid bietet zuletzt eine Erklärung an, warum die Complexione im Zuge der Allegorese des aventue re hauptmans erwähnt werden. Sie stellt fest, dass es dabei, anders als beim waltman im Iwein, nicht darum geht, „die anthropologische Frage eindeutig zugunsten der Menschennatur zu entscheiden“. Sie stellt vorsichtig die These auf, dass es sich, „da diese ungeheure Gestalt menschliche und kreatürliche Anteile in sich vereinigt [. . . ], um eine Erweiterung des Begriffs vom Menschen“ handele. 576 Geisthardt erkennt die Problematik der „scheinbar so deutlichen Verweise“ und führt diese darauf zurück, dass „sie dem Denotat, einer impliziten Poetik, strukturell als Zeichen nicht gerecht werden können“. 577 Sie sollen dies m. E. auch nicht, sondern der Erzähler möchte dazu verführen, den aventue re hauptman mit Hilfe eines mehrfachen Schriftsinns auszulegen, und vorführen, wie willkürlich Allegorese ist, und damit das Konzept von Allegorie und Allegorese ironisch brechen. Die Allegorese erreicht keine Informationssicherheit 578, wie sie etwa das ursprüngliche Konzept der allegoria permixta nahelegt. Ich folge der Einschätzung Schmids und Geisthardts und lese den aventue re hauptman als poetologisches Konzept, als implizite Poetik für den WvÖ. Die Ergebnisse also gelten für den gesamten Text. Es wird mit einem mehrfachen Schriftsinn gespielt. Neben der von Schmid konstatierten These stellt auch dies Grundzüge dessen, was als mittelalterliches Gedankengut gilt, in Frage. Vielleicht kann man so weit gehen und im aventue re hauptman, bzw. in dem durch ihn vermittelten poetologischen Konzept ein Pendant zum berühmten Brief Dantes an Cangrande und der Erwägung einer Lesart profaner Literatur gemäß dem vierfachen Schriftsinn sehen. 579 Zwar wird im WvÖ ungleich dem Brief an Cangrande nirgends explizit gemacht, dass der Text in Parallelisierung zur Heiligen Schrift mit Hilfe des vierfachen Schriftsinns ausgelegt werden solle, wiederholt wird aber eine Auslegung im Sinne eines vielfachen Schriftsinns erwogen. Wenn etwa für den Aventue re Hauptmann verschiedene Re575 576 577 578 579

S (2003), S. 261. S (2004), S. 79. G (2009), S. 36 f. Vgl. zum Begriff D (1979), S. 39 f. Vgl. hierzu Darstellungspunkt 2.1.4, S. 187 ff.

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ferenzsysteme für eine Auslegung desselben benannt werden, wird er synchron auf verschiedenen Ebenen deutbar. Es ist gerade dieses Verfahren, das dem Verständnis des biblischen vierfachen Schriftsinns letztendlich zugrunde liegt. Dass die Parallelisierung von Dichter und Schöpfergott eine zentrale Rolle spielt und es gerade darauf ankommt, Interdependenzen theologischer, rhetorischer und poetologischer Reflexionen in den Blick zu nehmen, zeigt sich an einer überraschenden Ähnlichkeit des Aventue re Hauptmanns mit einer Allegorie in der neunten Vision Hildegards von Bingen; einer Ähnlichkeit, die wesentlich deutlicher ist als alle bisher in der Forschung vermuteten Verweise. 580 In der Vision werden zwei Gestalten, die personifizierte Weisheit und die personifizierte Allmacht Gottes, beschrieben. Von der zweiten dieser Gestalten (Allmacht) heißt es: Ganz oben an der Stelle ihres Hauptes erstrahlte sie in solcher Helligkeit ihres Glanzes, dass dieser Glanz mein Gesicht blendete. Mitten auf ihrem Leib erschien das Haupt eines Menschen mit grauen Haaren und einem Bart. Ihre Füße glichen den Pranken eines Löwen. Sie hatte auch sechs Flügel, von denen zwei von den Schultern nach oben gingen, sich zurückbogen und miteinander zusammenschlugen und die erwähnte Helligkeit bedeckten. Zwei Flügel erstreckten sich von der Schulter bis zum Scheitel des erwähnten Hauptes nach unten. Das letzte Flügelpaar reichte von den Hüften der Gestalt hinunter bis zu ihren Fußknöcheln und breitete sich etwas aus wie zum Fliegen. Der restliche Körper war ganz von Fischschuppen bedeckt, jedoch nicht von Vogelfedern. 581

Wenn auch Details voneinander abweichen (zwei statt sechs Flügel, das Antlitz auf dem Bauch), stimmen doch die Grundkonstituenten miteinander überein. Wo die Gestalt vor Glanz blendet, trägt der Aventue re Hauptmann die Rubinkrone, beide Gestalten haben Flügel, Löwenfüße und einen mit Fischschuppen bedeckten Leib. Die Selbstallegorese des Aventue re Hauptmanns findet ihre Entsprechung in der Deutung der Visionsgestalt. Deren Sinn bleibt nicht „hermetisch verschlossen, denn er kann dem Menschen [. . . ] durch Inspiration, wie sie in der offenbarenden Audition der göttlichen Stimme sich mitteilt, eröffnet werden, so daß eine gliederungsweise vorgenommene Dechiffrierung der monströsen Figur erfolgt“. 582 Während der Aventue re Hauptmann eine Allegorie des Prinzips der Aventue re ist, 580 Verwiesen sei auch auf die ikonographischen Traditionen beider Figuren. Die Ähnlichkeit der Darstellung ist groß. 581 Hildegard von Bingen: Das Buch vom Wirken Gottes. Liber Divinorum Operum. Herausgegeben von der Abtei St. Hildegard. Beuroner Kunstverlag 2012, S. 322. Die entsprechende Stelle in PL 197, Sp. 983 C. Im Folgenden zitiert als Hildegard von Bingen. 582 M, Christel (1994): Ut rebus apta sint verba. Überlegungen zu einer Poetik des Wunderbaren im Mittelalter. In: Dietrich Schmidtke (Hrsg.): Das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur. Göppingen: Kümmerle, S. 37–83, hier S. 41. Im Folgenden zitiert als M (1994).

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steht die Figur der Vision für Gott den Allmächtigen bzw. die Allmacht Gottes. 583 Dass Ryal den Aventue re Hauptmann zunächst mit Gott zu verwechseln scheint 584, ist vor diesem Hintergrund naheliegend. Die Auslegung der einzelnen Konstituenten weisen z. T. in eine ähnliche Richtung, z. T. weichen sie ab. Steht die Krone des Aventue re Hauptmanns für das hochgemue te, repräsentiert das leuchtende Haupt Erhabenheit. 585 Die Flügel der Gottesallegorie sind detailreicher gestaltet und erfahren eine ausführliche Auslegung. Vollkommen anders werden die Löwenfüße und die Fischschuppen gedeutet. Sie werden nicht als Metonymie ausgelegt, als Aufenthaltsort der Allegorie, sondern stehen dafür, „dass Gott seine Gottheit den Menschen, solange sie sterblich sind, verbirgt“ (Löwenfüße) 586 bzw. für die verborgene Heiligkeit des Gottessohnes (Fischschuppen). 587 Die Auslegung dieser Attribute wird im WvÖ profaniert und zugleich im oben skizzierten Sinn für die Reflexion über die Verbindlichkeit von Sinn fruchtbar gemacht. Dass auch die Figur in Hildegards Vision als Reflexion über die Möglichkeit der Darstellung des Göttlichen zu lesen ist, hat Meier gezeigt. Neben der beschriebenen zweiten Figur (Allmacht), die sie mit dem Monster aus der Horaz´schen Poetik vergleicht, nimmt sie die erste Figur der Vision (Weisheit) in den Blick, „die in schöner Menschform, reich gekleidet und mit wertvollem Schmuck ausgestattet“ , erscheint und für die Weisheit Gottes steht. 588 Die zwei bei Hildegard vorgefundenen gegensätzlichen Figuren des Schönen und Monströsen zum Hinweis auf die mirabilia divina repräsentieren nicht nur durch ihr Werk hindurch die möglichen Varianten, das göttliche Wunderbare in menschlicher Sprache und Darstellung zu erreichen und zu vermitteln, sondern sie sind weit vor ihr und noch lange nach ihr auf historisch genau beschreibbaren Wegen als zwei grundsätzliche Prinzipien dieser Leistung entwickelt, eingesetzt und reflektiert worden: die Steigerung des Natürlich-Vollkommenen einerseits und der Kontrast im Widernatürlichen andererseits. 589

Im Aventue re Hauptmann ist damit eine von zwei möglichen Formen, deren Tradition Meier ausführlich darlegt, der „Annäherung an das aptum“ aufgenommen, nämlich die „negative Annäherung“. 590 Dabei wird ein theologischer Diskurs übertragen auf einen poetologischen. 591 An die Stelle der Allmacht Gottes tritt im 583 584 585 586 587 588 589 590 591

Vgl. Hildegard von Bingen, S. 324; M (1994), S. 40. Vgl. S. 87ff. Vgl. Hildegard von Bingen, S. 324. Ebd., S. 325. Vgl. ebd., S. 326. M (1994), S. 42. Ebd., S. 45. Ebd. Vgl. hierzu insbesondere Darstellungspunkt 2.2.1, S. 220 ff.

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WvÖ die personifizierte Aventiure. In verallgemeinernder Schematik vergegenwärtigen das Horaz´sche Monster, die personfizierte Allmacht Gottes bei Hildegard und der Aventue re Hauptmann im WvÖ das, was für Allegorie und Allegorese im Spannungsfeld von antiker Rhetorik und christlicher Hermeneutik gezeigt wurde. Die Allegorie ist zunächst ein Stilmittel der Rhetorik, wird im Kontext christlicher Bibelexegese in ihrer Bedeutung aufgewertet und erhält als solche zuletzt wieder Einzug in profane Literatur. Ebenso kann man die oben vorgestellte Trias lesen: Das Horaz´sche Monster vergegenwärtigt eine rhetorische Grundregel. Als diese in Hildegards Vision aufgenommen wird, wird sie zugleich auch umgewertet. In dieser Veränderung wird sie in der Figur des Aventue re Hauptmanns in einen profanen Text aufgenommen. Dabei ist der gesamte Traditionsstrang, der in dieser Darstellung natürlich nicht umfänglich berücksichtigt ist, von Belang und hat Implikationen für die Interpretation des Aventue re Hauptmanns im Konkreten und von übertragener Rede im Allgemeinen. Die beiden Figuren sind in Hildegards Vision neben eine „abscheuliche rauchende Finsternis“ platziert, aus der „aus Schwefel und dichtem Dunkel gemischt, ein tiefschwarzes Feuer hervor“ quillt. 592 Es liegt nicht fern, auch darin eine Parallele zum WvÖ zu sehen, gelangt Ryal doch nach der Begegnung mit dem Aventue re Hauptmann in Joraffins Feuerreich, das von einem Höllengürtel umgeben ist. Es scheint fast so, als bewege Ryal sich an dieser Stelle durch eine Vision Hildegards. Anders als dort wird das Finden von Sinn problematisiert, kann man doch sicher davon ausgehen, dass Hildegards Deutungen qua Inspiration durch Gott Wahrheitswert beanspruchen. In diesem Punkt unterscheidet sich der WvÖ auch von anderen profanen Allegorien, die im Text selbst ausgelegt werden. Exemplarisch sei auf die Minnegrotte in Gottfrieds Tristan (Tristan, V. 16.679–16.772, 16.923– 17.099) 593 und das Minnekind in Johanns von Konstanz „Minnelehre“ 594 verwiesen. Ohne beide Passagen ausführlich besprechen zu können, soll an wenigen Stellen gezeigt werden, dass sich der Umgang mit Allegorie und Allegorese im WvÖ fundamental von diesen unterscheidet. Die Eigenschaften der Minnegrotte werden direkt auf die Eigenschaften der Minne bezogen, z. B. ist die Grotte „sinewel, wît, hôch und ûfreht, / snêwiz,

592 Hildegard von Bingen, S. 322 f. 593 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von F. Ranke mit Stellenkommentar und Nachwort hrsg. von Rüdiger Krohn, Bd. 2. Stuttgart: Reclam 1981, S. 408 ff. 594 Neueste Edition Huschenbett, Dietrich (Hrsg.): Die Minnelehre des Johann von Konstanz. Nach der Weingartner Liederhandschrift unter Berücksichtigung der übrigen Überlieferung. Wiesbaden: Reichert 2002. Vgl. Handbuch Minnereden 2013, S. 326 ff. Für die Idee, die Selbstallegorese des Minnekindes mit in meine Überlegungen einzubeziehen, danke ich Iulia Emilia Dorobantu.

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alumbe eben und sleht“ (Tristan, V. 16.747 f.) und deutet qua einfacher Übertragung auf Eigenschaften der Minne: si [diu fossiure] was, als ich iezuo dâ las, sinewel, wît, hôch und ûfreht, snêwiz, alumbe eben und sleht. diu sinewellen binnen daz ist einvalte an minnen. einvalte zimet der minne wol, diu âne winkel wesen sol. der winkel, der an minnen ist, daz ist âkust unde list. diu wîte deist der minnen craft, wan ir craft ist unendenhaft. diu hoehe deist der hôhe muot, der sich ûf in diu wolken tuot [. . . ] Diu want was wîz, eben unde sleht daz ist der durnehte reht. der wîze und ir einbaere schîn dern sol niht missemâlet sîn. an ir sol ouch kein arcwân weder bühel noch gruobe hân.

(Tristan, V. 16.928 ff.)

Die relevante Eigenschaft ist gleichzeitig tertium comparationis und wird an einigen Stellen erläutert: Zum Beispiel bedeutet die wîte der Grotte die craft, „wan ir craft ist unendenhaft“. Es ließen sich noch weitere Stellen anführen, der Punkt sollte hinreichend klar geworden sein. Die Allegorese beruht auf einer einfachen Übertragung und ist kohärent. Ebenso kohärent legt das Minnekind Cupido sich in Johanns von Konstanz „Minnelehre“ aus. C Traum: Allegorie und Begegnung mit Cupido (156–596): Der Sprecher schläft ein und betritt einen Locus amoenus (Blumen, Blüten, Früchte, Tiere in Paaren), dem dennoch ein Makel eigen ist: In seiner Mitte liegt ein roter Blutsee mit brennenden Ufern, daneben steht eine goldene, edelsteingeschmückte Säule, auf deren Spitze ein schönes, blondes Kind sitzt. Es trägt eine Krone, ist blind, nackt und trägt zwei rotgoldene Flügel. In der einen Hand hält es einen Speer, in der anderen eine brennende Fackel. Der Sprecher ist zunächst eingeschüchtert, fasst sich aber dann ein Herz (234 f. Sprichwort: ‚Man stirbt nur einmal‘) und grüßt das Kind. Das Kind weist den Sprecher zurecht mit der Begründung, es habe ihm abgeschworen. Aufgrund einer lateinischen Inschrift in der Krone erkennt der Sprecher, dass es sich um Cupido handelt, den Sohn der allgewaltigen Minne (Selbstnennung 277: Cupido suz hais ich, mit anschließender Etymologie 281: ein gelust der minne). Der Sprecher bittet Cupido um eine Erklärung von Gestalt und Attributen. Dieser verspricht lächelnd, auf Fragen

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Ü R

Auskunft zu geben. Im Frage-und-Antwort-Schema des klassischen Lehrgesprächs legt Cupido seine Attribute aus: Sein Gefieder (294–314) deutet auf die Schnelligkeit, mit der er die Herzen der Liebenden erobert (311–314: Könnte er nicht fliegen, würde er nicht einmal ein Drittel seines Pensums schaffen können). Sein Speer (315–348) weist darauf hin, dass er viele widerspenstige Menschen verwundet und damit bezwingt, sodass sie der Minne untertan werden. Die Fackel (349–378) dient ihm dazu, die Widerspenstigen zu entzünden (356–372: Einlassung zur leidbringenden Kraft des Feuers der Minne bzw. Frau Venus, die es geraten sein lässt, sich besser ihm – Cupido – zu ergeben). Die Blindheit (379–414), die angeboren ist, verweist darauf, dass die Minner oft blind lieben, d. h. nicht nach äußerer Schönheit urteilen, sondern hässlichen Liebespartnern verfallen. Die Nacktheit (415–466) verweist auf das höchste Glück der Liebenden im nackten Beieinanderliegen ohne Scham (424–465: Exempel vom paradiesähnlichen Garten, in welchem ein Paar alleine allen höfischen Vergnügungen nachgehen könnte, und der doch nichts wert ist verglichen mit dem nackten Beilager). Die goldene Säule (467–498) verweist auf die Notwendigkeit für Minner, über Geld als Lockmittel (476: luo der) zu verfügen. Ihre Zierde wird im Speziellen mit dem Aufwand an modischer Kleidung und Schmuck verglichen, den die Minner treiben. Das brennende Ufer (499–519) verweist auf die das Herz des Minners umschließende, verzehrende Kraft des Feuers der Minne. Die erhöhte Position auf der Säule (520–546) ist nicht mit Hochmut (523: hohfart) gleichzusetzen, sondern mit der Hochgestimmtheit, die der Liebende empfindet und die ihn emporträgt. Die Krone (547–567) verweist auf das Versprechen, dass getreue Diener von Minne und Cupido dereinst gekrönt werden. Die abschließende Frage nach dem Blutsee (568–596) beantwortet Cupido seufzend, indem er an das Blut erinnert, das als Folge ehebrecherischer Minne vergossen wird, und indem er den Sprecher ermahnt, seine Minne nur auf unverheiratete Mädchen zu richten. 595

Der formale Aufbau dieser Passage ist dem formalen Aufbau des Gesprächs zwischen Aventue re Hauptmann und Ryal gleich: In beiden Fällen handelt es sich um das klassische Frage-Antwort-Schema. Interessant ist die Ähnlichkeit der Flügelauslegung. Freilich ohne das irritierende Moment des Rezeptionskreises beim Aventue re Hauptmann (ich fliuge durch maniges hertzen tor / der vogel, lue te und tier, WvÖ, V. 3286f.) deuten die Flügel Cupidos darauf, dass er „die Herzen der Liebenden erobert“. Darüber hinaus wird, was in der Auslegung der Flügel des Aventue re Hauptmanns gänzlich fehlt, das konkrete Attribut der Schnelligkeit abgeleitet und dessen Notwendigkeit erläutert. Generell gehören die Attribute Cupidos kohärent einer Deutungsdimension an und rekurrieren auf Minnende, die Übertragung ist einfach. Das oben skizzierte Spiel mit Sinn und Sinnebenen, das die Allegorese des Aventue re Hauptmanns kennzeichnet, findet nicht statt.

595 Handbuch Minnereden 2013, S. 329.

Ü R  „W  Ö“

283

2.2.5 Das Reich des Joraffin Nachdem Ryal den Aventue re Hauptmann verlassen hat, reitet er, dem Bracken folgend, durch einen Wald (vgl. WvÖ, V. 3437ff.). Über eine Ebene nähert er sich der Stelle eines Gebirges, an der dieses „zesamen floz“. Dort befindet sich ein Tor, das sich verschließt als Ryal es passiert hat. Innen ist es dunkel und nebelig, laute Donnerschläge ertönen. Der Stimme des Bracken folgend reitet Ryal durch die Dunkelheit einem hellen Schein entgegen und erreicht ein „lant genue htic, daz schœn was und frue htic“ (WvÖ, V. 3513 f.) In der Mitte dieses Landes befindet sich ein brennendes Gebirge, das zahlreiche offene Tore hat (WvÖ, V. 3524f.). Das Feuer fürchtend reitet Ryal auf und ab, bis der Bracke zu einem Tor läuft, Ryal folgt ihm (WvÖ, V. 3532–3536). Aus dem Gebirge fließt ein Fluss, der ein Rad antreibt (WvÖ, V. 3547 ff.), ein vierköpfiger Vogel kommt aus dem brennenden Gebirge. Als der Vogel auf die Fragen Ryals nicht antwortet, versucht er, diesen zu wecken. Die Schreie des erwachten Vogels rufen Joraffin auf den Plan, mit dem sich Ryal tjostiert. Nachdem Ryal den Kampf gewonnen hat, betreten beide gemeinsam das Feuergebirge durch ein Tor (WvÖ, V. 3814–3819). Joraffin erläutert, dass das Feuer keine Verbrennungen hervorruft (WvÖ, V. 3820–3829). Im Feuergebirge gehen sie durch einen ersten Saal (WvÖ, V. 3830 3855), einen zweiten Saal (WvÖ, V. 3856–3879) und zuletzt durch Joraffins Schatzkammer, in der Ryal den Cupido-Helm, einen Schild sowie eine Rüstung erhält, deren Bedeutung Joraffin nennt (WvÖ, V. 3880–4145). Ryal durchschreitet also nacheinander die folgenden, kreisförmig angelegten Bereiche: 596 Wald, Ebene, höllenartiges Gebirge, locus amoenus (vor dem Gebirge Rad und Vogel), Feuergebirge (darin drei Säle). Auf dem Rückweg werden alle Stationen erneut durchschritten und auf Ryals Fragen hin legt Joraffin die einzelnen Elemente aus, zunächst erste (WvÖ, V. 4153– 4203) und zweite Schar (WvÖ, V. 4204–4245). Wieder im Hellen angekommen (WvÖ, V. 4246ff.), gibt Joraffin Ryal ein neues Pferd (WvÖ, V. 4254–4297), sie treffen wieder auf den Bracken und Joraffin legt Rad, Vogel (WvÖ, V. 4302– 4355) 597 und sich selbst aus (WvÖ, V. 4356–4478). Zuletzt erklärt er Ryal die Bewandtnis des höllengleichen Gebirges, erläutert, auf welche Weise es Ryal gelingen konnte, dieses zu durchschreiten (WvÖ, V. 4394–4441), und hilft ihm das zuvor verschlossene Tor zu durchqueren (WvÖ, V. 4453). Nachdem er sich von Joraffin verabschiedet hat, reitet Ryal, geführt vom Bracken in Richtung Aurimont fort (WvÖ, V. 4480ff.). 598 596 Vgl. E (2004), S. 97, 99. 597 Diese beiden in umgekehrter Reihenfolge im Vergleich zu descriptio und zur Frage Ryals. 598 Vgl. zum Aufbau der Feuergebirgsepisode auch S (1954), S. 102–105 und D (1999), S. 115.

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Ü R

Das „Feuerbergabenteuer“ untersucht Frenzel im Rahmen der Betrachtung der philosophischen Bildung des Dichters. In dieser Episode trete ein indirekter Einfluss des Alanus von Lille, die „neuplatonische Richtung“ des Dichters, am stärksten zutage. Frenzel vermutet, dass die Episode „aus der Paradiesesvorstellung geflossen“ sei, und macht auf die Parallele des Weges zum Feuerberg mit der Paradiesvorstellung im Lucidarius aufmerksam. Im Namen Joraffin vermutet er die „Verstümmelung des Engelnamens Seraphim, und zwar in Analogie zu dem Namen des wunderbaren Vogels Korabin“. Neuplatonisches Gedankengut erkennt Frenzel in den Ausdeutungen Joraffins, besonders denen des Stromes. In den Versen 4324–4329 macht er „rohbildlich“ die plotinische Emenationslehre aus, aus den Versen 4423–4427 leitet er ab, „daß der Feuerberg als Sitz der Ideen gedacht ist“. Dabei seien die Gestalten im Berg „in einer gewissen Abhängigkeit vom Menschen“ gedacht. Allgemein seien die gesamten Deutungen „stark mit Plotinischem Gedankengängen durchsetzt“; selbstverständlich sei dabei nicht alles „genuin neuplatonisch“. 599 Bierbaum nimmt kurz die Edelsteine des Cupido-Helms in den Blick, 600 kommt kurz auf die Personifikation des muo twillen zu sprechen, in der er eine „selbstständige Leistung Johanns“ sieht, 601 und handelt die gesamte Episode neben dem Aventue re Hauptmann knapp als Allegorie ab. Dabei paraphrasiert er zunächst die Konstituenten der Allegorie, dann deren Auslegung. Er stellt fest, „daß diese allegorischen Ausdeutungen nichts Gemeinsames haben etwa mit den allegorischen Deutungen der Minnegrotte bei Gotfrid“. 602 In Blanks Untersuchungen zur deutschen Minneallegorie wird die Feuerbergepisode erwähnt. Er konstatiert, die „Bergerlebnisse Ryals“ seien „unabhängig vom Vorhergehenden“. Dabei zeichne Johann „mit seinem Bergpalast und dessen Deutung eine ganze ‚Weltanschauung‘ [. . . ], die von der psychologischen Betrachtung [. . . ] bis zur religiösen Jenseitsvorstellung reicht“. Diese „inhaltliche Überfrachtung“ sprenge notwendig die „Erlebnisreihe des Aventiuregeschehens“. 603 Huschenbett liest die Feuerbergepisode als Minnekosmologie. Die Beschreibungsgegenstände seien Bestandteil der Minnedidaxe. Bemerkenswert sei, „daß Johann zu einem relativ frühen Zeitpunkt hier häuft, was in den Artes amandi erst später breiter und häufiger ausgeführt wird“, darunter Körperallegorie, CupidoHelm, die beiden Gruppen, die Jenseitsvorstellungen. Merkwürdig bleibe, dass im Zentrum des Feuergebirges nicht Amor oder Venus zu finden seien, sondern „ge599 600 601 602 603

F (1930), S. 55–58. B (1953), S. 51. Ebd., S. 97. Ebd., S. 99–104, hier S. 103. B (1970), S. 94 f.

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wissermaßen ihre Requisiten“. Die Tatsache, dass das Reich umschlossen sei, könne „den Versuch ausdrücken, einem frommen Publikum die Grenzen der Venusherrschaft zu bestätigen“. 604 Juergens erachtet als zentral, dass Ryal die virtutes-Krone als Höhepunkt seines Bewährungsweges erhält. Er erklärt, nicht auf das reiche allegorische Inventar eingehen zu können, und macht stattdessen auf „eine Reihe von Parallelen und möglichen Vorlagen“ aufmerksam. 605 Ausführlicher widmet sich Juergens dem Helm und dessen Steinen. Die Sinnerschließung dieses Gegenstandes erfolge „nach dem Prinzip der Schriftexegese“: Die Buchstabenfolge ergebe den Literalsinn, die Allegorese erfolge als zweiter Schritt. 606 Dass Joraffin gegen Ryals Wahl des Cupido-Helmes argumentiert, relativiere die rat -Kompetenz Joraffins für den Hörer, der Ryals „umfassende Vortrefflichkeit“ kenne, signalisiere doch der Erzähler bereits in der Kindheitsgeschichte die „universale Disposition zur Verwirklichung der ‚virtutes‘“. 607 Motivisch gehöre der Helm „in die Reihe jener mechanischen und experimentellen Indikatoren, die etwa im ‚Jüngeren Titurel‘ [insbesondere das brackenseil] oder im ‚Lanzelet‘ Ulrichs von Zatzikhofen eine Rolle spielen“. Dieses Motiv werde mittels des „naturkundlichen Bedeutungsdenkens“ interpretiert und konkretisiert. 608 Juergens zieht eine Verbindung des Cupido-Helms zum Siegeshelm von Kandia und gibt abschließend einen Überblick über ausstehende Analysen bezüglich des Cupido-Helms. Kurz skizziert er, welchen Traditionen die Edelsteinallegorese entnommen sein könnte. 609 Kiening streift in seiner Argumentation den Feuerberg, den er als „Zauberreich“ bezeichnet. Die Reise durch dieses Reich erweise sich als „Paradiesfahrt durch eine höllische ‚Sperrzone‘ hindurch, deren Geschichte Wildhelm erst beim Verlassen des Gebiets erfährt“. Auffällig sei, dass Wildhelm dabei keinen Versuch unternehme, „die Macht des Dämonischen und Widergöttlichen zu brechen“. Vielmehr gehe er für Aglye durch die Hölle, „ohne diese verändern zu wollen“. 610 Dietl betont, ohne auf Frenzel zu verweisen, die Anlehnung des Feuergebirges an das platonische Ideenreich und macht auf Parallelstellen im „Phaidros“ aufmerksam. Im Gegensatz zu Blank sieht sie das Feuergebirge und den Aventue re Hauptmann als zentral für Helden und Publikum. 611 Johann demonstriere, „daß hinter allen Erscheinungen Universalien bzw. Ideen im platonischen Sinn stehen“. 604 605 606 607 608 609 610 611

H (1983), S. 240–242. J (1990), S. 404–406. Ebd., S. 407. Ebd., S. 409. Ebd., S. 410f. Ebd., S. 414ff. K (1993), S. 486. D (1993), S. 177 f.

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Ü R

Vor allem durch die „Doppelung von Personen und Motiven im Roman“ werde deutlich, „wie kontingent die Form der Abbilder dieser Universalien“ sei. 612 Im Laufe der Handlung würden die Ideen des Feuergebirges verschieden widergespiegelt, die Abbilder kämen den Urbildern dabei unterschiedlich nahe. Besonders betont Dietl die Parallelen von Feuerberg- und Belgaganaventiure: In dieser fänden sich „verzerrte Abbilder“ jener Episode. 613 Die äußere Wahrheit erfahre dadurch eine „deutliche Abwertung, und die Abwendung von dem Bemühen um sie und die Hinwendung zur Fiktionalität ist gerechtfertigt“. 614 In ihrer sechs Jahre später erschienenen Dissertation nimmt Dietl diese Gedanken auf, erweitert sie und betrachtet die Feuerbergepisode als Minneallegorie bzw. Minnerede. Dezidiert stellt sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Einzelkomponenten der „Feuerbergâventiure“ und der „Belgaganâventiure“ zusammen. Die Spiegelbildlichkeit beider aventue ren diene der Interpretation. „Sie bezieht das Abbild auf das Urbild und die Praxis auf die Theorie“. 615 Explizit schließt sie Cramers These aus, der WvÖ werde zur Allegorie reduziert: „Gerade durch die Doppelungen und Variationen wird ersichtlich, daß die Figuren der Handlung nicht identisch sind mit den im Feuergebirge allegorisch dargestellten Allgemeinbegriffen, daß es um die Umsetzung des Universalen im Individuellen, nicht um eine bildliche Darstellung des Universalen selbst geht“. 616 Im Kontext der Frage nach „Johanns Umgang mit Minneredenmustern“ geht sie noch einmal ausführlich auf das Feuergebirge ein. 617 Kein anderes Minneredenmuster sei so offensichtlich als solches zu erkennen wie das Feuergebirge. Ryals Aufenthalt stelle einen „Besuch im allegorischen Reich der Minne“ dar, der ein „gebräuchliches Muster der mittelhochdeutschen Minneallegorie“ sei, wie Dietl im Folgenden an zahlreichen Beispielen zeigt. 618 In der bestandenen Tugendprobe sieht sie einen Wendepunkt des Geschehens. 619 Zusammenfassend kommt sie zu dem Schluss, dass die Minneallegorie des Feuergebirges „nicht nur zur stiur für den Helden, sondern auch zu einem Schlüssel für den Rezipienten“ werde: „Als eine breit angelegte Auseinandersetzung mit der hochaktuellen Gattung der Minnerede lenkt sie den Blick des Lesers oder Hörers auf die zahlreichen anderen, unauffälligeren Minneredenelemente und -muster, die in den Text Eingang gefunden haben“. 620 Die Edelsteinallegorese des Cupido-Helms 612 613 614 615 616 617 618 619 620

Ebd., S. 180. Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. D (1999), S. 116 f. Ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 141–162. Ebd., S. 141ff. Ebd., S. 156. Ebd., S. 162.

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sieht Dietl als Minnetugendlehre. Die Deutung der Steine halte sich dabei im Rahmen des Üblichen, mit der Auffälligkeit, dass Diamant als dyamant und adamant zweimal vertreten sei. Vergleichend betrachtet sie in der Folge weitere Stellen im WvÖ, in denen Steine ausgelegt werden. 621 Zunächst verweist Ridder in Bezug auf die Feuerbergepisode auf die Verknüpfung des „Dialog[s] des fingierten Erzählers mit den Instanzen“ mit dem „Dialog des Autors mit der literarischen Tradition“ und macht auf die Wechsel der Erzählebenen aufmerksam. So werde zunächst die Natur angerufen (WvÖ, V. 3495– 3500), nach einer kurzen Handlungssequenz auf die Ebene der Konstitution des Motivs (WvÖ, V. 3578 f.) und vor der Schilderung des Vogels erneut auf die Ebene der Personifikationen (WvÖ, V. 3585–3589) gewechselt. Dieses Spiel des Erzählers setze sich fort. Wie Dietl entkräftet Ridder das Argument Cramers. Die einzelnen Elemente des Inventars im Feuergebirge würden als Allegorien des Weltprinzips ausgelegt. So verkörpere das Rad die Wechselhaftigkeit, der Vogel die Vielgestaltigkeit und das Zusammengesetztsein aus Verschiedenartigem. Insofern diese Eigenschaften auch der Erzählfigur zuteil würden, lasse sich die Allegorie auch poetologisch deuten: „Pluralität der Erzähleridentitäten und der ständige sprunghafte Wechsel der Erzählebene sind die wesentlichen Kennzeichen der fiktionsimmanenten Erzählinstanz“. 622 Kern führt das Feuergebirge im Rahmen einer Untersuchung von Schönheitsüberbietungen im höfischen Text und deren mythologischen Vorbildern an. Mit dem Durchschreiten des ersten Tores betrete Ryal einen „phantastischen Aventiureraum, der [. . . ] die bedeutungsschwangere Kulisse für so etwas wie eine AventiureInitiation abgibt“. Joraffin erkläre, dass der „‚Innenraum‘ eine Art Mikrokosmos“ darstelle. Die Aufladung des Aventiure-Geschehens mit allegorischer Bedeutung sei typisch für den späthöfischen Aventiure-Roman und komme in der Episode in der „Apparatur“ zum Ausdruck, die Kern im Folgenden skizziert. Ausführlicher widmet sich Kern dem Vogel und dessen Häuptern. Auf seine These, dass es in der Natur der Allegorese liege, dass die „Auslegung dem hybriden Wundertier die faszinierende Vieldeutigkeit nimmt“, wird später zurückzukommen sein. Aufschlussreich ist Kerns Beobachtung, dass die allegorische Beschreibung des Helena-/Thisbe-Hauptes anders klinge als die Allegorese. Die Zitatfigur Thisbe habe dabei offensichtlich ihre Verbindlichkeit verloren. Bei der Anwendung des Topos sei jedoch von „einer Problematisierung, wie sie die Allegorese suggeriert“, nichts zu spüren. 623 An anderer Stelle nimmt Kern kurz die Krone in den Blick. 624 621 622 623 624

Ebd., S. 170–174. R (1998), S. 288–290. K (1998), S. 133 ff. Vgl. ebd., S. 440 ff., 454.

288

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Schmid geht in ihrem Aufsatz vom Aventue re Hauptmann aus und entwirft als Ausblick eine interessante Perspektive auf die Feuerbergepisode. Bei den Scharen im Feuerberg, so vermutet sie, gehe es weniger um die Erbauung des Lesers als vielmehr um die „Aufgliederung der Minne in Spielarten. Die Einteilung des Wissenswerten, die Aufhebung der Vielfalt des Seienden in aus ordentlichen Kategorien bestehenden Systemen, scheint die fabelhaften Erscheinungen überwölben zu müssen“. So sei auch der vierköpfige Vogel die „Verbildlichung eines Systems begrifflicher Entsprechungen“. Darin, dass Ryal den Vogel anspreche, wie zuvor den Aventue re Hauptmann, dieser jedoch – ganz ein Vogel – nicht antworte, zeige sich Humor und ein Verständnis im Umgang mit dem Prinzip der getäuschten Erwartung. Mit dem Vogel schließe sich „eine Art hermeneutischer Zirkel“, insofern sich die am Aventue re Hauptmann ausprobierten Gedanken auf die Lektüre des Vogels auswirkten. Der Vogel sei zwar weit weniger komplex als der Aventue re Hauptmann gestaltet, umso deutlicher signalisiere er jedoch die Polyvalenz: „als allegorische Figur, als Funktion der Handlung und als intertextuelles Zitat“. Im Rückblick erweise sich damit der Vogel als eine Abbreviatur des Aventue re Hauptmann, „jedoch nicht als [. . . ] Sinnbild, sondern als [. . . ] Gebrauchsanweisung“. 625 Egidi untersucht in einem Aufsatz Strukturen des Übergangs, die sie neben anderen in der Feuerbergepisode ausmacht. Nachdem der Aventue re Hauptmann markiere, die gesamte Episode als Schwellenphase zu lesen, 626 würde die Häufung ringförmig umeinandergelegter Grenzen betont. 627 Egidi folgt Dietl in der These, dass in der Episode neuplatonisches Gedankengut verarbeitet werde, 628 folgt ihr jedoch nicht in der Einschätzung, dass sie rein allegorisch sei und damit zur Belgaganepisode im Verhältnis von Urbild und Abbild stehe. Der Komplexität der Feuerbergepisode werde Dietl so nicht ganz gerecht. Vielmehr weise das Reich des Feuergebirges „nicht nur allegorische, sondern zugleich auch deutlich anderweltlichen Züge auf“. Freilich gibt es zahlreiche Definitionen des Allegorischen, in denen solche anderweltliche Züge enthalten sind. Das Begriffsverständnis des Allegorischen bei Egidi ist demnach eng. Neben der Verschließung durch den Teufel, der betonten Gefährlichkeit der Grenzüberschreitung und der Ausgestaltung durch Donner, Gestank und Finsternis werde dies auch durch einen konkreten narrativen Hinweis signalisiert, wenn Ryal mit der Berührung des Vogels eindeutig eine Grenze verletzt. In der Vervielfältigung der Grenzen sieht Egidi ein Argument von noch größerem Gewicht. Es handele sich um eine Abgrenzung auf mehreren

625 626 627 628

S (2004), S. 84 f. E (2004), S. 98. Ebd., S. 97; 99. Diese These ist schon bei F (1930), S. 54 zu lesen.

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Ebenen: „[D]as als solches enthaltene zweistufige Modell potenziert sich“. Zuletzt sprächen für den „Doppelcharakter des Reichs“ auch Joraffin, der „Hüter der anderweltlichen Grenze wie allegorische Personifikation des Muo twillen“ sei, sowie die Tatsache, dass Ryal teil hat „am Reich der Ideen, da er das Urbild Aglyes in sich trägt, nicht aber an der Anderswelt, der er nur kämpfend gegenübertreten kann“. 629 Im Folgenden soll gezeigt werden, welche zeichentheoretischen Schlüsse sich aus der Joraffin-Episode ziehen lassen. Wie in der inhaltlichen Übersicht zu erkennen ist, werden die einzelnen Stationen, die Ryal durchschreitet, in der Schatzkammer Joraffins gespiegelt. Auf dem Hinweg lernt Ryal – und mit ihm der Rezipient – staunend die Welt Joraffins kennen. Der Erzähler wird dabei nicht müde zu betonen, welche wunder er dem Rezipienten vor Augen führt (vgl. WvÖ, V. 3494, 3574, 3578, 3581, 3584, 3588, 3591, 3840 f., 3901). Ebenso sichert er das Dargestellte, v. a. die wunder, wiederholt mit vermeintlichen Quellen ab (vgl. WvÖ, V. 3506, 3578f., 3599, 3856, 3920, 4007 ff.). Das Maß an Reflexion der eigenen Rolle zeigt sich dabei nicht zuletzt in der vielzitierten Aufforderung an den Schreiber, von den Wundern zu schreiben (WvÖ, V. 3596f.). Auf dem Rückweg legt Joraffin alle Stationen aus. Dass dabei die Perspektiven von darstellendem Erzähler, rezipierendem Ryal und auslegendem Joraffin signifikant auseinanderstreben, soll im Folgenden gezeigt werden. Wie Dietl herausstellt, erweist sich die Feuerbergepisode als Schlüssel für den Rezipienten. Das ist m. E. jedoch nicht darauf beschränkt, „den Blick des Lesers oder Hörers auf die zahlreichen anderen, unauffälligeren Minneredenelemente und -muster, die in den Text Eingang gefunden haben“ zu lenken. 630 Darüber hinaus wird im Feuerberg wie im Prolog und beim Aventue re Hauptmann durch die Differenz von descriptio und Auslegung eine poetologische Dimension eröffnet. Wie im Darstellungspunkt 2.2.4 gezeigt wurde, wird das Feuer als Raum der Aventue re in der Selbstallegorese des Aventue re Hauptmanns problematisiert. Zugleich wird die Sonderstellung des Feuers als Platz für Aventue ren vorbereitet, wenn das Feuer Platz in den Augen des Aventue re Hauptmanns findet. Nachdem Ryal den Höllengürtel mit Hilfe des Bracken durchquert hat, sieht er sich dem gebirge viurin gegenüber. Zunächst deutet nichts daraufhin, dass es sich nicht um herkömmliches Feuer handeln könnte. War es schon der Schein des Feuers gewesen, der Ryal den letzten Wegabschnitt leitete (vgl. WvÖ, V. 3506 ff.), spricht der Erzähler von ei-

629 E (2004), S. 99 f. 630 Ebd., S. 162.

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nem gebirge, das alles samt fiurin war (WvÖ, V. 3522f.). Das Augenfälligste aus Ryals Perspektive ist auch, daz ez alles vaste bran (WvÖ, V. 3527), aus Angst vor dem Feuer reitet er vor dem Gebirge auf und ab, entscheidend dabei ist die Angst vor der Hitze des Feuers: er sprach: wær ich dort uzz wider uz disem haizzen smacke!

(WvÖ, V. 3530 f.)

Signifikant ist, dass sich das Gebirge auch aus der Perspektive des Erzählers als haizz herausstellt, er spricht von dem gebirge haiz (V. 3593), Joraffin selbst beschreibt er als durch und durch brennend (vgl. WvÖ, V. 3657–59). Auch das vom Erzähler beschriebene Wappenzeichen sowie die Ausstattung der Rüstung Joraffins deuten naturkundlich auf ein reales Feuer hin. Nicht nur ist sein Wappentier ein Feuersalamander (WvÖ, V. 3660 f., 3670 f.), auch ist sein Schild aus dem als feuerfest geltenden Holz ebenus gefertigt (WvÖ, V. 3662f.) und der Erzähler macht auf die besondere Färbung des Schildes aufmerksam, die derart ist, daz des viures brunst / blaichet niht die grue n (WvÖ, V. 3666 f.). So kommt es denn für Ryal wie den Rezipienten recht überraschend, wenn Joraffin ihm nach dem Kampf erklärt, was es mit dem Feuer auf sich hat: der wirt sprach: ‚mit niht schue lt ir kain sorge han, ez ist umme daz viur also getan, daz ez nieman brennet: daz wirt iu hie bekennet mit aigenlicher kuntschaft.‘

(WvÖ, V. 3820–3825)

Der Erzähler leistet die Übertragung dieser allgemein formulierten Regel auf das konkrete Beispiel Ryal, als versuche er, an der Joraffin zugeschriebenen Deutungshoheit zu partizipieren: daz selbe viur wunderhaft Ryale wart also bekant daz ez in niender kue nne brant, swie vast ez umme in zesammen bran.

(WvÖ, V. 3826–3829)

Wenn der Erzähler wenig später von den im Feuer existierenden Wesen berichtet, dass sie durch das Feuer nicht verletzt würden (vgl. WvÖ, V. 3888ff.), wiederholt er die von Joraffin vermittelte Information. Ryal, Erzähler und Rezipienten ist hinreichend klar, dass das Feuer im Gebirge keine Verbrennungen hervorruft. Im Rückblick erscheint es umso erstaunlicher, dass Joraffins Rüstung feuerbeständig ist – in diesem Feuer bedarf es keiner feuerfesten Rüstung, auch der Feuersalamander als Wappentier wird fraglich. In Übereinstimmung mit Joraffins Rüstung sind auch Schild und Cobertüre, die Ryal sich aussucht, aus feuerfestem Material, dessen Beschaffenheit der Erzähler mit naturkundlichem Wissen erläutert.

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291

Wie der Schild Joraffins ist auch dieser aus ebenus gefertigt (vgl.WvÖ, V. 3990), von dem der Erzähler weiß, dass ez kain viur verbrennet (WvÖ, V. 3993). Auch führt der Erzähler Feuersalamanderhaut als Bestandteil von Schild und Cobertüre an, die im Mittelalter als feuerfest gilt. Diese Eigenschaft der Salamanderhaut jedoch nimmt der Erzähler nicht in den Blick. Vielmehr fungiert sie auf dem Schild allein als Grundlage des Cupido-Bildes. Auch die Salamanderhaut der Rüstung wird nicht als explizit feuerfest dargestellt. Die naturkundliche Erläuterung, dass Feuersalamander selbst kalt seien und daher im heißen Feuer wohnten (WvÖ, V. 4010–4013,) entspricht zwar dem naturkundlichen Überzeugungen des Mittelalters, erhellt aber an dieser Stelle nichts. Scheinbar erhöht die Salamanderhaut allein die Wertigkeit der Rüstung; die durch die gemeinsame Nennung mit ebenus naheliegende Eigenschaft der Salamanderhaut, nämlich Feuerfestigkeit, wird nicht benannt: da von diu cobertiure wart kostbær und wirdig.

(WvÖ, V. 4014 f.)

Als nützlich erweist sich die feuerfeste Rüstung, als Wildhelm in Belgagan Merlins feuerspuckenden Drachen gegenübertritt: 631 ieglichem uz dem munde sluo g ain viur gelich alsam ain berch

(WvÖ, V. 11.876 f.)

Der Erzähler erkennt die Gefahr des Feuers (vgl. WvÖ, V. 12.184f.) und macht den Grund für Wildhelms Überleben im Feuer präsent. Kursit, schilt und kovertue r Wildhelms kund in fue r niht geschaden siden groz: er wær des lebens worden bloz, denne daz in der schilt nert, er was im uf der vert hundert tusend mark wert.

(WvÖ, V. 12.195–12.201)

Auch auf der Ebene des epischen Personals wird die besondere Art der Rüstung aktualisiert. Als man Crispin vom Sieg Wildhelms gegen Merlin berichtet, wird die Feuerfestigkeit der Rüstung beschrieben:

631 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Joraffin- und Belgaganepisode siehe v. a. D (1999), S. 116 f. und E (2004), S. 97–101. Vgl. auch Darstellungspunkt 3.2.5, S. 360ff. dieser Arbeit.

292

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sin wapen rok besinnet ist von soe lhen sachen daz daz viur niht swachen in moht mit der hitz

(WvÖ, V. 12.440–12.443)

In der Belgaganepisode wird vorausgesetzt, dass Wildhelms Rüstung und Schild feuerfest sind, auf die Salamanderhaut wird hingegen nicht verwiesen. Das naturkundliche Wissen um die Eigenschaften von ebenus und Salamanderhaut wird in dem Feuer benannt, das keine Gefahr darstellt, nicht jedoch im realen Feuer. Neben den von Egidi herausgestellten allegorischen und anderweltlichen Zügen ist die Feuerbergepisode auch auf inhaltlicher Ebene direkt mit der Belgaganepisode verknüpft. Insofern sie dabei zugleich Teil der Handlung und auf verschiedene Weisen übertragen zu verstehen ist, erweist sie sich als Allegorie im Verständnis von Kurz 632 und Egerding 633 in Abgrenzung zur bloßen Substitution der Metapher bzw. als theologische Allegorie („allegory of this and that“) im Sinne Singletons in Abgrenzung zur poetischen Allegorie („allegory of this for that“). 634 Ein reines Reich der Ideen also ist das Feuergebirge nicht: Wieweit man auch geneigt ist, vieles übertragen zu verstehen, die feuerfeste Rüstung, die Ryal dort erhält, rettet ihn vor realem Feuer. Der erste Gegenstand, auf den Ryal jenseits des Höllengürtels trifft, ist ein Rad. Dieses Rad ist „von kue nsten“ an einem Fluss „gebuwen“ (WvÖ, V. 3552f.) und unterteilt in zwei Hälften: ain bilde daz vroe lich lachet, daz stuo nd ainhalp an dem stade; do stuo nd anderhalp dem rade ain bilde des gebaren was trurig [. . . ]

(WvÖ, V. 3557–3562)

Das Rad wird zwar als wunder bezeichnet (WvÖ, V. 3574, 3578), die technischen Details der Beschreibung des Erzählers entzaubern es jedoch: diu bilde warn erin von kue nsten dar gegozzen: durch chunducte geflozzen ain wazzer in diu bilde ran, daz diu bilde wundersan twanc mit richer kunst part daz si daz rat mit sneller vart stætlichen umme triben. 632 Vgl. K (2004), S. 36. 633 Vgl. E (1997) I, S. 33. 634 S (1954), S. 89.

(WvÖ, V. 3570–3577)

Ü R  „W  Ö“

293

Die Bewegung des Rades wird hervorgerufen von einem Mechanismus, der einem Wasserrad entspricht, also keinesfalls ein Wunder voraussetzt. Beide Positionen stehen spannungsreich nebeneinander; diese Spannung wird noch verstärkt, wenn der Erzähler zum einen seiner Absicht Ausdruck verleiht, zu diesem Rad zu reiten, um die technischen Details selbst sehen zu können (vgl. WvÖ, V. 3554–3557), 635 und zum anderen als Quelle ein „aventue r buo che“ nennt (WvÖ, V. 3578f.). Dieses Buch scheint keine Deutung des Rades zu enthalten, jedenfalls ist davon an dieser Stelle keine Rede. Erst als Ryal und Joraffin auf dem Rückweg wieder am Rad vorbeikommen, fragt Ryal, „wa von diu bilde ziere / so sterclich ziehent an dem rad“ (WvÖ, V. 4318 f.). Die nächstliegende Erklärung auf diese Frage hin wäre die Erläuterung des Mechanismus eines Wasserrades. Joraffin aber deutet anders und leitet seine Deutung aufschlussreich ein: er sprach: ‚herre min, ich lad iuch gerne hie mit werdekait: da von so wirt ez iu gesait daz ir saget auch da von

(WvÖ, V. 4320–4323)

Das, was folgt, soll also nicht bloß der Information Ryals dienen, sondern es soll von ihm weitergegeben werden. Es scheint fast so, als wolle Joraffin eine Deutungstradition beginnen lassen. durch diu bilde gat ein don diu von dem ursprinc rinnet, als ich hab vor besinnet mit gewæren worten sus: der welt urspring ist dirre fluz, der tailt sich manicvalter; diu bilde sint jugend und alter, die banent nu der welte pfat; auch ist der welte lauf das rat der da nymmer niht gestat.

(WvÖ, V. 4324–4333)

Joraffin bietet keine Erklärung des Rades auf literaler Ebene an, sondern deutet übertragen. Dabei geht er von dem zuvor nicht näher spezifizierten Wasser aus, das der welt urspring sei. Im übertragen zu verstehenden Fluss erhält auch das zuvor als technisches Artefakt vorgestellte Rad eine übertragene Bedeutung. Die bilde sind Jugend und Alter – vrœlich also wird gleichgesetzt mit Jugend, trurig mit Alter – und das Rad im Fluss bezeichnet der welte lauf. Als Ryal und mit ihm der Rezipient das Rad zum ersten Mal sieht, deutet auf diese Bedeutung nichts hin. Erst die 635 Vgl. hierzu etwa die Aufforderung der Erzählerinstanz im Erec an kritische Rezipienten, selbst am Grund des Meeres die beschriebenen Wunder zu schauen (vgl. Erec, V. 7623– 7934).

294

Ü R

Beobachtungen und Erklärungen, die der Auslegung des Rades vorausgehen, legen nahe, dass auch das Rad übertragene Bedeutung hat. Die konkrete Auslegung liegt dennoch allein in der Hand Joraffins. Dorthin, wo das Rad sich befindet, kommt ein goldener Vogel mit vier Häuptern gegangen (vgl. WvÖ, V. 3591 ff., 3598 f., 3618f.). Ausgeprägter noch als beim Rad wird die descriptio dieses Vogels eingeleitet durch Apostrophe, Quellenberufung und die vielzitierte Aufforderung an den Schreiber, von dem Wunder zu berichten (vgl. WvÖ, V. 3580–3599). Die descriptio der vier Häupter ist kurz gehalten. Nacheinander werden die vier Köpfe beschrieben. Der erste Kopf ist wie der Kopf des „schœnen vogel Korabim“ (WvÖ, V. 3600f.), der zweite ist „schœnr denne Elyna was / oder Tispe“, die noch näher spezifiziert wird: Sie war ein „spiegel vas“, „under irm antlue tz / ir schœn ze vræden nue tz / was on underschaide“ (WvÖ, V. 3602–3607). Der dritte ist „nach laide / geschaffen“, das Haar ist vom Alter grau, das Gesicht ist faltig (WvÖ, V. 3608–3611). Der vierte Kopf schließlich ist „grue lich“ und „gelich dem vaigen Sathanas“ (WvÖ, V. 3612–3615). Ryal vermutet, der Vogel sei ein potenzieller Gesprächspartner, und fragt, wie er es zuvor beim Aventue re Hauptmann erprobt hatte: 636 ‚sag an, bistu gehue r? pfligestu der aventue r? oder hastu kainen sin? antwue rt mir, sit daz ich bin durch aventue r her geriten!‘

(WvÖ, V. 3625–3629)

Die ersten beiden Fragen sind genau wie die abschließende Untermauerung seiner Forderung exakte Übertragungen von dem, was Ryal zuvor beim Aventue re Hauptmann gelernt hat. Die erste Frage rekurriert auf die descriptio des Erzählers, der Aventue re Hauptmann sei ungehue re und doch gehue re, die zweite Frage und die Untermauerung beziehen sich auf die Gesamtheit dessen, was der Aventue re Hauptmann personifiziert. Zunächst kann man die dritte Frage als einen Erklärungsversuch Ryals interpretieren: Da der Vogel nicht antwortet, liegt es nahe, dass dieser ihn nicht verstehen kann: „Oder bist du nicht verständig; hast du keinen Verstand; verstehst du mich nicht?“ Es wäre damit eine zentrale Differenzqualität von Aventue re Hauptmann und goldenem Vogel benannt. Der sin, der Ersteren zur Kommunikation befähigt, geht Letzterem ab. 637 Nimmt man mit in den Blick, dass es im gesamten 636 Vgl. hierzu S (2004), S. 84 f. 637 Vgl. die Artikel sin in Lexer (1872 ff.), Bd. 2, Sp. 926 f. und BMZ, Bd. 2, Sp. 311b ff.; vgl. auch T, Jost (1973): Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl. Heidelberg: Winter, besonders S. 300ff.

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Reich immer auch um die Zeichenwerte der Konstituenten geht, so mag es sein, dass darüber hinaus auf ebendiese Zeichenwerte verwiesen wird. Übersetzt man nämlich sin mit „Bedeutung“, 638 so wird in der dritten Frage eine grundsätzlich semiotische Frage gestellt: „Oder kann man dich nicht übertragen verstehen; liegt hinter deiner Erscheinung keine weitere Bedeutung?“ Implizit wird diese Frage erst durch die Auslegung durch Joraffin beantwortet. Wenn dieser nämlich den Vogel auslegt, bejaht er implizit die Frage nach dessen Sinnhaftigkeit. Inhaltlich sind die folgenden Verse schnell zusammengefasst: Als der Vogel nicht antwortet, weckt ihn Ryal; der Schrei, den der erwachende Vogel von sich gibt, ruft Joraffin auf den Plan. Ein close reading der paraphrasierten Verse offenbart einen interessanten Umgang mit pars und totum. Die Idee Ryals, den vermeintlich schlafenden Vogel zu wecken, gründet auf der Annahme, dass ihm ein wacher Vogel antworten würde; dies knüpft an eine Aussage des Erzählers an: „daz alt haubet“ nämlich „vaste slief / nach siner art fue r sich dar“ (WvÖ, V. 3620f.). Ryal also überträgt das Verhalten eines Kopfes, das Schlafen, das als typisch für den alten Kopf dargestellt wird, auf den gesamten Vogel. Die Reaktion auf das Wecken erfolgt denn auch von allen vier Köpfen, die allesamt schreien (vgl. WvÖ, V. 3650f.). Wie bereits erwähnt, legt Joraffin gegen Ende der Episode den Vogel aus (vgl. WvÖ, V. 4334–4355). Zunächst fällt bei der Auslegung 639 auf, dass die Zuordnung nicht ganz eindeutig ist. 640 Während bei der descriptio zwei Häupter sich durch ihre Schönheit auszeichnen, ist in der Exegese von dem schönen Haupt (bestimmter Artikel) die Rede. Es liegt nahe, darin den Korabim-Kopf zu sehen, sodass dann der Helena-/Thisbe-Kopf für die Jugend stehen würde. Darüber hinaus entspricht die Reihenfolge der descriptio nicht der Reihenfolge der Auslegung. 641 Die Umstellung sowie die Auslegung akzentuiert v. a. das Helena-/Thisbe-Haupt neu. Während Korabim und Teufel in beiden Fällen die äußeren Extreme bilden, ist das Helena-/Thisbe-Haupt in der descriptio durch das gemeinsame Moment der Schönheit mit dem Korabim-Haupt assoziiert, in der Auslegung wird es in die Nähe zum Satanas-Haupt gerückt und versinnbildlicht der welt gogel. Kern hat überzeugend herausgestellt, dass die Beschreibung des Helana-/Thisbe-Hauptes 638 Im Lexer wird diese Bedeutung ebenso wie im BMZ aufgeführt. Vgl. die oben genannten Stellen. Vgl. auch H (1992), S. 219 ff., der das Verhältnis von wort und sin bei Gottfried in den Blick nimmt, also sin explizit in dieser Bedeutung versteht. Verwiesen sei auch auf die Verse 12.630–12.641 im WvÖ, in denen ebendieses Verständnis zugrunde liegt. Vgl. hierzu auch S. 351 ff. dieser Arbeit. 639 Vgl. auch D (1999), S. 116. Der Vogel werde „als Allegorie der vier Stufen der Gottesund Weltminne erklärt“. 640 Vgl. dazu auch K (1998), S. 133 ff.: „Wenn ich richtig zuordne . . . “. 641 In der descriptio: Korabim, Helena /Thisbe, Alter, Satanas; in der Auslegung: Schönheit / Gottgefälligkeit, Alter /Gottgefälligkeit, Jugend (Elena /Thisbe?), Sünder.

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anders klingt als die Allegorese, und die Zitatfigur Thisbe offensichtlich ihre Verbindlichkeit verloren hat. 642 Untermauert wird dies durch die in den Handschriften H und S der Auslegung des Helena-/Thisbe-Hauptes folgende Schelte der Jugend. Regel druckt sie nicht im Haupttext mit ab, sondern führt sie als Anhang mit auf. Die Verse zeigten eine „viel größere Rohheit“ als der restliche Text und passten „schlecht in die sachlichen Erläuterungen hinein“. Die ganze Stelle nehme sich „nur wie eine Störung des naturgemäßen Zusammenhanges“ aus und wird von Regel daher als „späteres Einschiebsel eines von sittlicher Entrüstung über die zuchtlose Jugend seiner Zeit hingerissenen Schreibers“ abgetan. 643 Wann und durch wen auch immer diese Schelte Einzug in den Text gefunden hat, sie nimmt die auch in den anderen Handschriften verbürgte negative Sicht auf die Jugend, der „welt gogel“ (WvÖ, V. 4350), auf und verstärkt sie. Der Exkurs macht damit die Neuakzentuierung noch deutlicher. Wie bereits beim Rad erfolgt die Auslegung nicht nachvollziehbar auf der Grundlage von proprietates. Dabei wird in beiden Fällen die Dichotomie von Jugend und Alter bemüht. Während beim Rad die Dichotomie der descriptio von vroelich und trurig in der Auslegung als Dichotomie von Jugend und Alter erscheint, wird beim Haupt aus der Schönheit auf die Jugend geschlossen, also auf der Grundlage einer abweichenden proprietas. Große Aufmerksamkeit hat die Forschung der Krone geschenkt, die Ryal in der Schatzkammer Joraffins wählt. Für das Verständnis von Exegese ist sie aufschlussreich, da auch sie zunächst vom Erzähler beschrieben und später von Joraffin erklärt wird. In der Schatzkammer Joraffins gibt es manigfache „richhait“ und „gezierde“ (vgl. WvÖ, V. 3884–3903), Ryal wird zuletzt auf einen „helm silber wiz“ (WvÖ, V. 3905) aufmerksam. Auf dem Helm, der dem König Sadoch gehört hat (vgl. WvÖ, V. 3918), ist ein „naht kindel“ gefertigt (WvÖ, V. 3910f.), das wie alles im Gebirge brennt (vgl. WvÖ, V. 3938 f.) und einen „loe belichen crantz“ trägt, der „von rotem golde glantz / geflohten“ ist (WvÖ, V. 3945f.). Sechs zu Buchstaben gefeilte Edelsteine schmücken diesen Kranz: Ein Rubin formt ein C, ein Karfunkel ein U, ein Türkis ein P, ein Diamant ein I, ein Adamas ein D und ein Chrysolith ein O (vgl. WvÖ, V. 3952–3973). Schon in der descriptio wird deutlich, dass der Helm vielschichtig ist. Nicht nur findet sich Bild auf Bild, auch werden bereits hier drei Referenzsysteme aktualisiert: der Kontext des Gebirges, das brennt wie auch der Helm; durch die Benennung als Cupdio expliziert das Kind das Referenzsystem Minne; der Verweis auf den vorherigen Träger des Helms Saroch legt einen genealogischen bzw. intertextuellen Vergleich nahe. Dreimal in wenigen Versen betont der Erzähler dabei die große kunst, mit der die Steine bearbeitet sind (vgl. WvÖ, V. 3953, 3958, 3968), um anschließend die sechs Buchstaben zusammenzuführen 642 Vgl. K (1998), S. 133 ff. 643 R (1906), S. 281.

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und auszuformulieren, was hinreichend klar ist: „ditz wort spricht Cupido“ (WvÖ, V. 3974). Im Folgenden erweckt er den Anschein, als böte er noch weitergehende Deutungsebenen an: der ez reht wil buo chstaben: die edeln stain urkue nde gaben, daz iu genunzieret hie nach wirt geglosieret, von welher kunst kue nne daz selbe kindel brue nne und sin gestalt so wunderlich was und auch so vesticlich stuo nd in viures brunst: daz kom von richer kunst

(WvÖ, V. 3975–3984)

Die vier Verben buo chstaben, (urkunde) geben, nunzieren und glosieren legen nahe, dass weitere Deutungsebenen angesprochen werden, umso mehr, da Edelsteine geradezu auffordern, übertragen verstanden zu werden. 644 Auffällig ist, dass in der descriptio einzig für den Türkis bereits eine übertragene Bedeutung angeboten wird, die freilich der Deutung des gesamten Schriftzuges (Cupido) entspricht: Er ist „geveltzet durch der minne solt“ (WvÖ, V. 3960). Juergens konstatiert, die Buchstabenfolge ergebe den Literalsinn, die Allegorese erfolge als zweiter Schritt. 645 Wie bereits erwähnt, wird die Allegorese von Joraffin geleistet, aber schon der Erzähler spielt damit, einen solchen übertragenen Sinn selbst anzugeben. Diese implizite Ankündigung hält er jedoch nicht ein, sondern rekurriert allein auf die schon zuvor mehrfach benannte Kunstfertigkeit. Dabei geht er sogar hinter den Schriftzug, der das Kind als Cupido vorstellt, zurück, insofern auch das Brennen des Kindes allein auf die Kunstfertigkeit zurückgeführt und damit jeglicher übertragener Sinn negiert wird, der über den Helm als Artefakt hinausgeht. Mehr als Warnung denn als Erklärung führt Joraffin Ryal vor Augen, dass es sich bei dem Helm um einen Tugendindikator seines Trägers handelt. Jeder der Steine nämlich steht für eine Tugend, und die Tugend, die der Träger des Helmes entbehrt, fällt aus dem Helm

644 Zur übertragenen Bedeutung von Edelsteinen im Mittelalter vgl. etwa E, Ulrich (1978): Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. München: Fink, im Folgenden zitiert als E (1978); F, Gerda (1980): Edelsteine im Mittelalter. Wandel und Kontinuität ihrer Bedeutung durch zwölf Jahrhunderte (in Aberglauben, Medizin, Theologie und Goldschmiedekunst). Hildesheim, Wien: Gerstenberg, im Folgenden zitiert als F (1980); M, Christel (1977): Gemma spiritalis. München: Fink (Münstersche Mittelalter-Schriften, 34,1), im Folgenden zitiert als M (1977); B (1980), S. 93–101. 645 J (1990), S. 407.

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und macht somit den Mangel offenbar (vgl. WvÖ, V. 4044–4069, 4120–4129). So legt Joraffin die einzelnen Steine des Kranzes auf dem Helm aus: der erste stain ist ain rubin, gepoliert wol mit guo t: er muo z ain rich gemue t han und wesen tugende vol der den helm fue ren schol. auch muo z sin hertze brinnen nach lobrichen sinnen, als der karfunkel brinnet. mit stæten sinnen wise gelich dem turckise. auch muo z er ane schant gelich dem dyamant sin an rehter kue schekait und ouch on alles gunderphait. er muo z auch veste, wizzet daz, wesen als der adamas, dem kain wafen mag geschaden. er muo z mit schoe ne auch sin geladen, als der crisolitus sich hat

(WvÖ, V. 4078–4097)

Auf die Schwierigkeit und Komplexität einer Analyse der Steine und deren Exegese hat bereits Juergens verwiesen. Er gibt zu bedenken, dass nicht nur die Steine und die ihnen zugewiesenen virtutes im WvÖ zu berücksichtigen seien, sondern man „generell nach den Möglichkeiten allegorischer Steindeutung bis Johann von Würzburg zu fragen“ habe. Besonders sei dabei auf den „Jüngeren Titurel“ einzugehen. Während Juergens die Exegese durch Joraffin kurz paraphrasiert, bietet er in Fußnoten Deutungsansätze an. 646 Auf sie wird einzugehen sein. Auch in dieser Arbeit kann nicht die gesamte Tradition der Edelsteinexegese berücksichtigt werden. 647 In der mitteltalterlichen Literatur wimmelt es geradezu von Edelsteinen, intertextuelle Verweise sind unüberschaubar und müssen in vielen Fällen hypothetisch bleiben. Die Auslegung der Steine durch Joraffin weist einige Auffälligkeiten auf, denen im Folgenden vor dem Hintergrund grundlegender Prinzipien der Edelsteinallegorese nachgegangen werden soll. Vereinzelt wird dabei auch auf intertextuelle Verweise eingegangen. Gemäß der Allegorese nach Hugo von St. Victor liefern die „wichtigsten Deutungsansätze die natürlichen Eigenschaften der Edelsteine, unter denen gerade für 646 Ebd., S. 414–416. 647 Siehe hierzu E (1978); F (1980); M (1977); B (1980), S. 93– 101.

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die Allegorese der älteren Zeit die Farbe die wichtigste ist“. 648 Daneben kommen andere Eigenschaften wie die optische Wirkung, 649 Licht und Leuchten, 650 magische und medizinische Kräfte, 651 physikalische Wirkungen, 652 Reinheit, 653 Härte, 654 Ethymologie 655 etc. zum Tragen. Grundsätzlich also sind die Referenzsysteme für Edelsteine kaum begrenzt. Der erste Stein der Krone ist ein Rubin. Er wird als Erstes ausgelegt. In der Allgemeinheit der Formulierung dessen, wofür der Rubin stehen soll (s. o.), ist alles und nichts ausgedrückt. 656 Wenn der Rubin als Teil des Helmes, der die Tugend seines Trägers indiziert, für die Tugenden allgemein steht, ist seine Bedeutung tautologisch. Als Teil des Namen Cupido wäre eine sonst häufige Deutung des Rubins als Liebe 657 viel naheliegender. Das brinnen des Karfunkels, seine endogene Leuchtkraft, ist ein verbreiteter Topos. 658 Das brinnen als tertium comparationis ist dasjenige, was Bildspender und Bildempfänger miteinander verbindet. Sowohl Rubin als auch Karfunkel können als ein intratextueller Verweis auf den Aventue re Hauptmann verstanden werden. Auch dessen Krone ziert ein Rubin, der dort ausgelegt wird als Zeichen für sein hochgemue te. Seine Augen brinnen wie auch der Karfunkel. Die Augen sind somit über das bemühte tertium comparationis verbunden mit dem Karfunkel, ohne dass der Karfunkel selbst genannt würde. Während der Karfunkel des Kranzes für das brinnen nach lobrichen sinnen steht, stehen die brennenden Augen des Aventue re Hauptmann allgemein für Tugenden. Beim Aventue re Hauptmann steht der weiße Hals für stæte, im Kranz steht dafür der Türkis. Die diesem Stein im Zuge der descriptio zugesprochene Bedeutung wird in der Auslegung nicht aufgenommen; er stehe für stæte sinne. Zweifelsohne ist es nicht schwer, einen Zusammenhang herzustellen von Minne und stæte, doch wird hier nicht in eine Richtung ausgelegt. Zumindest nämlich gehören stæte und Minne verschiedenen Kategorien an. 659

648 649 650 651 652 653 654 655 656

E (1978), S. 232. Vgl. ebd., S. 234 ff. Vgl. ebd., S. 236 ff. Vgl. ebd., S. 236 ff. Vgl. ebd., S. 238 f. Vgl. ebd., S. 239. Vgl. ebd., S. 240. Vgl. ebd., S. 242 f. Vgl. J (1990), S. 415, der konstatiert, eine „nähere Spezifikation“ sei nicht erkennbar. 657 Vgl. E (1978), S. 325. 658 Vgl. ebd., S. 81, 218 ff. 659 Im „Jüngeren Titurel“ steht der Türkis z. B. für demuo t und zuht (vgl. E (1978), S. 380).

300

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Zwischen Adamas und Diamant wird im Mittelalter eigentlich nicht differenziert, beide Namen werden synonym für einen Stein verwendet. 660 Es offenbart sich ein interessantes Spiel mit den Proprietäten, wenn hier ein Stein mit zwei verschiedenen Namen bedacht wird und jeweils eine der dem Stein zugesprochenen Eigenschaften mit jeweils einem Namen assoziiert wird. 661 Wenn man davon ausgeht, dass die Namen adamas und diamant auf die gleiche Art von Stein rekurrieren, liegt eine aequivocatio vor; diese wird jedoch dadurch negiert, dass beiden Namen jeweils eine proprietas des Steines zugesprochen wird. In Joraffins Auslegung erscheinen die beiden Steine als realiter verschieden. Diese aequivocatio geht m. E. darüber hinaus, dass Johann die Bedeutungsebene weit wichtiger ist als die Bildebene. 662 Vielmehr führt er die mangelnde Verbindlichkeit von Bild- und Bedeutungsebene vor Augen. Die Unterscheidung der Steine indes scheint schon die Schreiber der Handschriften H und S irritiert zu haben. Sie ersetzen den Diamanten in descriptio (WvÖ, V. 3963) und Auslegung (WvÖ, V. 4090f.) durch einen Smaragd und räumen damit die skizzierte Spannung aus. 663 Der crisolde aus der descriptio wird in der Allegorese zum crisolitus. Engelen beschreibt die Tendenz, dass die „erzählende Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts [. . . ] fast nur ‚verdeutschte‘ Edelsteinnamen“ verwendet. Umso erstaunlicher sei es, wenn manche Dichtungen trotzdem bei den typischen lateinischen Edelsteinnamen bleiben, oder gar, wenn Dichter wie Albrecht von Scharfenberg für bestimmte Zusammenhänge, ohne daß Vers- und Strophenbau als Gründe dafür gelten könnten, auf die lateinische Fassung der Edelsteinnamen zurückgreifen, obgleich ihnen die verdeutschten Namensformen geläufiger sind. 664

Eines der angeführten Beispiele benennt die Differenz von crisolde und krisolitus im „Jüngeren Titurel“: Obgleich Albrecht aus seiner Vorlage, der Epistola, weiß, daß im Brunnen Ydon im fernen Indien crisoliti gefunden werden, bezeichnet er sie in JT 6109 W (Ü) mit dem ‚deutschen‘ Namen krisold. Crisolde bzw. krisollen gehören zum Schmuck des Brackenseils, aber auch des Graltempels. Erst wenn der Chrysolith zusammen mit dem Sordanyx einer spirituellen Auslegung unterzogen wird, heißt er krisolitus (JT 563). 665

660 Vgl. J (1990), S. 416, Anm. 27. Vgl. auch S. 415, Anm. 23 bezüglich der Differenzierung von Rubin und Karfunkel. 661 Beide bemühten Eigenschaften sind häufig. Vgl. E (1978), S. 297 ff. 662 Vgl. D (1999), S. 171. 663 Vgl. R (1906), S. 54, 56. Vgl. hierzu auch D (1999), S. 171. 664 E (1978), S. 22. 665 Ebd., S. 23.

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Insofern weder Vers- noch Strophenbau es notwendig machen, dass in der Auslegung des Steines im Kranz des Helmes der lateinische Name verwendet wird, liegt genau der von Engelen skizzierte Fall vor. Es wird, nimmt man ein hohes Maß an Reflektiertheit an, mit der Erwartung einer spirituellen Deutung gespielt. Im Falle des Chrysolith ist diese potenziell umfassend, umso mehr dadurch, dass die proprietas des Chrysolith aktualisiert wird, geladen zu sein. In der Bibelexegese bezeichnet der Chrysolith „sapiens et charitativos et qui quod sciunt et intelligunt aliis in opere et sermone demonstrant, et hoc est scintillas emittere: chrysos enim aurum, et per aurum sapientia [. . . ] intelligitur“. 666 Im „Himmlischen Jerusalem“ bedeutet der Chrysolith „die Weisheit und sein Funkenstieben die Wirkung der Weisheit auf die Menschen“, 667 auch bei Frauenlob und Heinrich von Mügeln bedeutet er die Weisheit Gottes. 668 Diese Bedeutung wird aber gerade nicht aktualisiert. Der Träger des Helmes, und dies sei eine Tugend, soll „mit schoe ne [. . . ] geladen“ sein wie der Chrysolith (vgl. WvÖ, V. 4096f.). Der Chrysolith, dessen exegetisches Potenzial sehr groß ist, wird reduziert auf seine Schönheit und damit degradiert zum bloßen Schmuckstück. 669 Wenn Joraffin zuletzt als Konsequenz einer mangelnden Tugend benennt, Ryal werde dadurch „eren kal“ (WvÖ, V. 4129), führt er humoristisch Helm und Träger zusammen: Der Kopf des Trägers (dessen Kahlheit infolge des Verlustes von Haaren) wird zum Bildspender für den Helm, dem dann ein Stein fehlen würde. Auf diese letzte Warnung reagiert Ryal, indem er verspricht: ‚ich wil min hertze twingen zuo lobrichen dingen, swa ich in den landen var.‘

(WvÖ, V. 4131–4133)

Damit nimmt er fast wörtlich einen einzigen Aspekt auf, den Joraffin genannt hat, nämlich die vom Karfunkel symbolisierte Tugend. Signifikant dabei ist, dass gerade das tertium comparationis, das brinnen, das Stein und Tugend verbindet, nicht benannt wird. Dietl stellt fest, dass der Cupido-Helm insofern auch eine Minnelehre ist, als „die in ihm dargestellten Minnetugenden [. . . ] Wilhelm den Weg zu seiner Geliebten“ weisen. Und just zu dem Zeitpunkt, an dem sein Ziel erreicht ist, gewinnt er

666 667 668 669

Alanus ab Insulis, PL 210, 739 C. Vgl. E (1978), S. 293. E (1978), S. 293. Vgl. ebd., S. 294. M. E. werden hier schoene und sapientia bewusst in Opposition zueinander gesetzt. Die verbreitete significatio wird hier bewusst übergangen. Die von Juergens offengelassene Frage, ob die schoene mit sapientia zusammenhänge (vgl. S. 417, Anm. 30), beantworte ich somit negativ.

302

Ü R

in Kandia eine neue Rüstung. 670 Im Helm, den Wildhelm in Kandia gewinnt, sind Elemente des Cupido-Helms aufgenommen und gesteigert. Der ganze Helm besteht aus zynaton und leuchtet rot. Wie beim Cupido-Helm ziert auch den Helm in Kandia eine Büste, die einen Kranz aus Edelsteinen trägt. Hier wie dort liegt Bild in Bild (vgl. WvÖ, V. 13.914–14.011). 671 Zusätzlich ertönt aus dem Kranz, sofern durch ihn ein Luftstrom geht, der Spruch: „hurta! wer dient eren krantz“ (WvÖ, V. 14.011). 672 Die Edelsteine werden hier nicht wie beim Cupido-Helm jeweils auf eine Minnetugend oder Minnelehre hin ausgedeutet, sondern die Lehrsätze des Ehrenkranzes sind vollständig in Edelsteinbuchstaben geschrieben. Die Steine selbst werden gar nicht benannt, allein ihre Farben: Eine grüne Schrift mahnt zur Gottesliebe (V 13.925– 13.936), eine weiße ruft dazu auf, die Farben um der Engel willen zu ehren (V 13.937–13.9459); in roter Farbe wird zur tugend aufgefordert (V 13.946–13.951), in gelber zur triuwe (V 13.952–13.958) und in himmelblauer Farbe zur milte (V 13.959–13.970). Die Lehren gipfeln in einem Lob der triuwe in schwarzer Farbe (V 13.971–13.988): Wie die schwarze Farbe die Krone aller Farben sei, so sei triwe aller tugent kron (V 13.975): triwe ist reht minne (V 13.981). Nur bei der letzten Lehre wird ein Bezug zwischen der Farbe und der Lehre hergestellt. Johanns Deutung der Farbe Schwarz aber weicht deutlich von der Tradition ab. 673

Überzeugend stellt Dietl dar, dass die ersten fünf Lehren „willkürlich einer Farbe zugeordnet sind“, während die sechste zwar den Anschein macht, der Farbexegese zu folgen, dabei aber der Tradition widerspricht. 674 Wohl zu Recht macht sie darauf aufmerksam, dass der Kranz von Kandia „offensichtlich vor dem Hintergrund des Albrechtschen Brackenseils entworfen“ worden ist. Es könne kein Zufall sein, dass dieses kurz später erwähnt werde (vgl. WvÖ, V. 14.520f.). 675 Neben der Übernahme und Steigerung der Minnelehre aus dem JT 676 wird im WvÖ auch die spezifische semiotische Sicht auf Signifiant und Signifié übernommen, die für den JT Neukirchen überzeugend herausgestellt hat. Neukirchen geht von der besonderen Kraft der Steine im JT aus, die in Wolframs Fragmenten nicht vorhanden ist. 677 Alle Forschungsmeinungen zu diesen Kräften gingen davon aus, 670 671 672 673 674 675 676 677

D (1999), S. 171. Vgl. auch H (1983), S. 241. Vgl. D (1999), S. 171 f. Ebd., S. 172. Ebd. Ebd., S. 173f. Vgl. D (1999), S. 174. N, Thomas (2006): Die ganze aventiure und ihre lere. Der „Jüngere Titurel“ Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Heidelberg: Winter, S. 159.

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daß Albrecht die Bezüglichkeit von ‚lere‘ und ihren eigentümlichen magischen Signifikanten von vornherein als zwar spannungsreiche, aber doch in sich schlüssige Unität beschreibe. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Albrecht stellt das Verhältnis zwischen Lehre und Kraft der Edelsteine, welche die Materialität der Signifikanten bilden, als eine Differenz dar, die es erst zu überwinden gelte. Die Edelsteine bilden in ihrer Eigenschaft als Buchstaben bzw. Wörter die Signifikanten des Inhalts der Tugendlehre. Die den Edelsteinen innewohnende Kraft zieht jedoch die Aufmerksamkeit der Lesenden oder Hörenden ab vom eigentlichen Signifikat und stattet sie statt dessen mit einem Gefühl des Wohlbehagens, Friedens, Glücks und der Sicherheit aus. Die Kraft der Edelsteine konterkariert also den Bezeichnungsakt der Buchstaben und Wörter, die sich selbst formen. Wer die Edelsteinschrift liest oder hört, sieht sich somit einer verführerischen Macht ausgesetzt, welche von dem eigentlich Bezeichneten, der Tugendlehre ablenkt. 678

Wie gezeigt wurde und an weiteren Beispielen gezeigt werden soll, spiegelt die Spannung von Signifiant und Signifié eine poetologische Grundaussage des WvÖ wider. Dabei wird im WvÖ nicht nur vom Signifié abgelenkt, sondern die Grenze zwischen beiden generell vage. Nach der Auslegung des Vogels legt Joraffin ungefragt (vgl. WvÖ, V. 4358f.) auch sich selbst aus (vgl. WvÖ, V. 4356–4478). Er sei „gehaizzen [. . . ] Muo twille“ (WvÖ, V. 4363): ich pflige ir gar gemain nach ir muo twillen, als ich schol. si tragen ue bel oder wol, dar zu so gib ich stiure. alsus ich in dem viure ze allen ziten brinne: swaz mich mint, ich minne ez offen und stille, da von heiz ich Muo twille.

(WvÖ, V. 4370–4478)

Vergegenwärtigt man sich, was Joraffin da eigentlich macht, so ergibt sich eine poetologische Aussage: Joraffin, der sich selbst als muo twillen bezeichnet und sich dem ue bel wie dem wol zuwendet, ist der Exeget seines Reiches. Dass er als solcher ue bel und wol offensteht, kann als Verweis auf die Auslegung ad bonam und ad malam partem gesehen werden. Die Bezeichnung muo twill, der eigene freie Wille, 679 geht 678 Ebd., S. 210f. Vgl. zum JT auch Baisch et al. (2010): Der JT zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk. Göttingen: V. u. R. unipress. In dieser Arbeit nicht zu leisten, aber sehr interessant wäre ein Vergleich im Allgemeinen oder auch im Speziellen zwischen WvÖ und JT, auch Wittenwilers „Ring“. 679 L (1872ff.), Bd. 1, Sp. 2248. Der freie Wille und dessen Entwicklung in der Geistesgeschichte kann hier nicht eingehender behandelt werden. Aufschlussreich wäre z. B.

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noch weiter. Es ist also der freie Wille, der die vom Erzähler beschriebenen und Ryal vor Augen geführten Gegenstände auslegt. Deutlicher kann man die Position kaum formulieren, die im Gegensatz steht zu einer Exegese, die auf Tradition und Autoritäten basiert. Der Schritt hin zu Nietzsches Vorwurf der Willkür ist nicht groß. Schon in Grimms Wörterbuch nämlich wird die Bedeutung des Verbs mutwillen angegeben als „nach Belieben und Willkür verfahren“. 680 In der Feuergebirgsepisode wird also mit Hilfe des Konzeptes des muo twillen eine poetologische Position vertreten, die in der Tradition von Adelard von Barth und Alanus von Lille steht, in aller Deutlichkeit erst bei Nietzsche ausgedrückt wird. 681 Im Anschluss fasst der Erzähler die Auslegungen Joraffins zusammen: Also schier do Joraffin Ryalen da mit worten schin getet diu wunder wunderlich

(WvÖ, V. 4379–4381)

Nimmt man schin tuo n als festen Ausdruck an und liest versübergreifend, so fasst der Erzähler zusammen, dass Joraffin Ryal die wunder wunderlich ausgelegt und erklärt hat. Berücksichtigt man die Versgrenze und zieht worten schin zusammen, so ergibt sich ein vollkommen anderer Sinn, der von den bisherigen Ergebnissen durchaus gestützt ist und hier aufblitzt: Mit dem Glanz der Worte machte Joraffin die Wunder wunderlich. Er bringt in seiner Auslegung Sinnebenen ins Spiel, auf die Ryal sowie der Rezipient nicht hätten kommen können und die womöglich nicht direkt ableitbar sind. Zuletzt erfährt Ryal, und mit ihm der Rezipient, dass es sich bei dem umschließenden Gürtel tatsächlich um eine Hölle handelt. Vollends komisch wird es, wenn Joraffin Ryal im Nachhinein erklärt, wie er durch diese Hölle lebend hat durchkommen können: Der Bracke „treit in seinem munde / ain wurtz diu iuch nert“ (WvÖ, V. 4432 f.). Ausgehend vom Eneasroman also ist das Tragen der Wurzel ausgelagert. Selbst wenn man im Bracken die Canifikation des Herzens Ryals lesen möchte, 682 dürfte es schwerfallen, stringent zu erklären, dass die Wurzel, die im Mund des Hundes liegt, den Protagonisten vor den toxischen Dämpfen schützt.

ein Vergleich der Begriffe muo twille und freier Wille. Im WvÖ sind die drei zitierten Nennungen des Begriffs die einzigen. Eine größere Textbasis lieferte der „Renner“ Hugos von Trimberg, in dem der Begriff 36 mal genannt wird, zumeist negativ konnotiert. 680 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 12, Sp. 2835. 681 Vgl. Darstellungspunkt 2.1.5, S. 195 ff. 682 Vgl. hierzu S. 95 ff. dieser Arbeit.

Poeta creator

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2.3 Poeta creator: Mehrfacher Schriftsinn und verbindliche Exegese? Bevor die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen zusammengeführt und im Horizont der Frage nach Reflexen schöpferischen Bewusstseins erörtert werden, seien im Folgenden zunächst die einzelnen Ergebnisse kurz zusammengefasst. Es wurden fünf Bereiche übertragener Rede aus dem WvÖ in den Blick genommen. Zuerst wurde anhand der Metaphorik für Gott und Minne gezeigt, dass die Metaphern beider Bereiche nicht strikt voneinander zu trennen sind, sondern ausgetauscht werden und einander mit Bedeutung aufladen. Ausgehend von Hübners These zur Historizität von Metapherntheorien konnte so gezeigt werden, dass die von ihm konstatierte Trennung der Paradigmen zu kurz greift. Vielmehr gibt es auch im 14. Jahrhundert Metaphern aus dem Bereich des Immanenten, die mit Hilfe der Substitutionstheorie nicht zu erfassen sind. Für das Bildfeld der Schifffahrt wurde gezeigt, dass es als poetologische Metapher aufgenommen wird. Dabei rückt jedoch die Gleichsetzung von Dichtung und Schifffahrt zugunsten einer Verknüpfung von poetologischer Reflexion und göttlicher Inspiration in den Hintergrund. Das Bildfeld der Schifffahrt wird dabei über das Schiff hinaus ausgebreitet. Die für die Handlung relevanten Seeüberquerungen Liupolts und Wildhelms wurden in den Blick genommen. Als besonders fruchtbar erweist sich dabei die Fahrt Wildhelms auf dem Rücken des Riesenfisches Cetus, für die neben Interpretationen aus der bisherigen Forschung eine allegorische Lesart als Gesamthandlung en miniature vorgeschlagen wurde. Zuletzt wurden die Ergebnisse zur Schifffahrt im WvÖ in Verbindung gebracht mit den Thesen von Drux. Dass eine interessante Spannung auftritt, wenn der Erzähler selbst die von ihm gegebenen Zeichen auslegt, wurde bereits für eine Minnemetapher gezeigt. Für den Bereich der Schifffahrt, im Einzelnen für den Kiel, wurden aequivocationes nachgewiesen. Als besonders fruchtbar für diese Bereiche erwiesen sich Passagen übertragener Rede, für die der Text selbst eine Auslegung vorschlägt. Drei von der Figur der allegoriae permixtae abgeleitete Passagen wurden in den Blick genommen. Für den Prolog, der vom Erzähler selbst ausgelegt wird, wurde in der bisherigen Forschung darauf verwiesen, dass verschiedene Sinnebenen vorgestellt werden und ein Wechsel zwischen verschiedenen Ebenen zu beobachten ist. Ridder beispielsweise macht darüber hinaus auf weitere, von der Zweiteilung des Prologs abstrahierte Argumentationskomplexe aufmerksam. Aufbauend auf diesen Überlegungen wurde neu gezeigt, dass in der Allegorie der Goldamalgamierung die Auslegung der Bibel nach Hugo von St. Victor aufgenommen und unterlaufen wird. Verschiedene proprietates der Metalle werden bemüht und damit das Finden eines Sinnes problematisiert. Auch für die Allegoresen wurde gezeigt, dass sie nicht

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zuletzt durch das Anzitieren verschiedener Referenzsysteme mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Fasst man die Ergebnisse der bisherigen Forschung mit den Ergebnissen dieser Arbeit zum Prolog zusammen, so zeichnet sich das folgende Bild ab: Es gibt verschiedene Ebenen der Auslegung, d. h. verschiedene Schriftsinne. Im Prolog werden verschiedene Argumentationslinien simultan nebeneinander geführt, von denen manche der Chronologie des Textes folgen, andere nicht. Dabei ist es nicht nur nicht möglich, alle Ebenen zu benennen, auch werden die verschiedenen Ebenen nicht strikt voneinander getrennt, sondern ineinander verwoben. Die Dynamik, die eine Metapher im Sinne der Interaktionstheorie erhält, wird dadurch noch gesteigert, dass in der allegoria permixta Allegorie und Allegorese einander mit Bedeutung aufladen. Die Ebenen werden vermischt, und die Auslegung erweist sich nicht als ein bloßes Substitut des Auszulegenden. Dadurch und durch Andeutungen werden Sinnebenen er-, aber auch verschlossen. Das Finden von Sinn wird problematisiert, und die Bedeutung des Literalen erweist sich als uneindeutig. Der Aventue re Hauptmann, der sich selbst auslegt, hat in der Forschung vielerlei Deutungen erfahren. Geisthard erkennt die Problematik der „scheinbar so deutlichen Verweise“. 683 Ausgehend von einem Vergleich der descriptio des Erzählers, den quaestiones Ryals und der Selbstallegorese durch den Aventue re Hauptmann wurde darauf aufbauend gezeigt, dass der Erzähler geradezu verführt, den Aventue re Hauptmann mit Hilfe eines mehrfachen Schriftsinns auszulegen. Dabei führt er vor, wie willkürlich Allegorese ist und bricht damit das Konzept von Allegorie und Allegorese ironisch. Es zeigt sich, dass Allegorese keine Informationssicherheit gewährleistet. Erwogen wurde, im Aventue re Hauptmann ein Pendant zum Konzept Dantes zu sehen, das er im Brief an Cangrande formuliert. Dass – der Forschung bisher verborgen – der Aventue re Hauptmann erstaunliche Parallelen zur personifizierten Allmacht Gottes in der neunten Vision Hildegards von Bingen aufweist, konnte stringent mit den Beobachtungen zusammengeführt werden, dass im Zusammenbringen theologischer, rhetorischer und poetologischer Reflexion Gott und Dichter parallelisiert werden. Neben dieser Allegorie wurde der WvÖ mit Allegorie und Allegorese der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan und dem Minnekind in Johanns von Konstanz Minnelehre verglichen. Es wurde gezeigt, dass diese signifikant voneinander abweichen, insofern die Übertragungen dort – anders als im WvÖ – einfach und kohärent sind. Die genannten Aspekte wurden auch für das Reich des Joraffin und die darin aufgeführten Einzelheiten gezeigt. Wie beim Aventue re Hauptmann gehen die Per-

683 G (2009), S. 36 f.

Poeta creator

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spektiven der Beschreibung und der Deutung auseinander. Verschiedene Einzelheiten aus der Praxis der Exegese werden aufgenommen und gebrochen. So scheint es beispielsweise so, als strebe Joraffin an, eine Deutungstradition zu begründen. Als fruchtbar erwies sich die Untersuchung der mit Edelsteinen geschmückten Krone und deren Auslegung. Es zeigte sich, dass dabei verschiedene, heterogene Referenzsysteme bemüht werden und damit offengelegt wird, wie uneindeutig eine Exegese von Steinen ist. Neben aequivocationes wird dabei im Text mit der Diskrepanz von deutschen und lateinischen Edelsteinnamen gearbeitet. In der Selbstauslegung Joraffins als Muo twille wurde zuletzt eine poetologische Position ausgemacht, die in der exegesekritischen Tradition Adelards von Barth und Alanus ab Insulis steht. In Kapitel 1 wurde gezeigt, dass der Dichter sich in einer Rolle stilisiert, die ihn in die Nähe Gottes, des Schöpfers rückt. Die Idee des poeta creator ist dabei erst möglich durch die Anreicherung von antikem Denken durch christliches, das der Idee des poeta creator wiederum auch entgegensteht: Christliches Denken ist zugleich Wegbereiter und Gegner. Insofern dem Text ein mehrfacher Schriftsinn eingeschrieben ist – ursprünglich alleine der Heiligen Schrift vorbehalten –, weisen auch die Untersuchungen übertragener Rede auf diese Parallelisierung hin. Aus produktionsästhetischer Sicht wird das Konzept des Dichters so Gott angenähert; die Ergebnisse von Kapitel 1 und 2 stimmen hierin überein. Zugleich weisen die Ergebnisse übertragener Rede darüber hinaus, denn auch kritische rezeptionsästhetische Reflexionen der Zeit werden aufgenommen. Wiederholt führt der Erzähler vor, dass die Bedeutung einzelner Dinge unendlich groß ist, er zeigt auf, wie willkürlich das Finden von significationes auf der Grundlage von proprietates sein kann. Immer wieder spielt er dabei mit der Vorstellung, dass er bzw. eine von ihm entworfene Gestalt aus der Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten eine einzige, richtige Deutung bestimmen kann. Diese Position wird an einigen Stellen ironisch gebrochen. Zusammengesehen zeigt sich ein Selbstverständnis, das changiert zwischen zwei Polen: auf der einen Seite Polysemie und Willkürlichkeit des Zusammenhangs von Signifikant und Signifikat; auf der anderen Seite die Autorität eines Einzelnen, aus dieser Bedeutungspluralität eine einzige, richtige Deutung zu bestimmen. Beide Positionen prägen über Jahrhunderte hinweg das Verständnis der Allegorie (vgl. Darstellungspunkt 2.1.5) und lassen sich vor dem Hintergrund zeitgenössischen Verständnisses übertragener Rede (vgl. Darstellungspunkt 2.1.7) auch mit der Vorstellung schöpferischen Bewusstseins und der Analogie von Dichter und Schöpfergott übereinbringen. Auf der einen Seite dieses Verständnisses steht der Glaube daran, dass Gott sich in der Heiligen Schrift den Menschen offenbart. Dabei gilt seit dem IV. Konzil im Lateran (1215), dass zwischen Schöpfer und Geschöpf keine so große Ähnlichkeit bestehen kann, dass zwischen ihnen nicht eine noch größere Unähnlichkeit besteht. Zunächst also kann der Mensch Gott und

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seine Zeichen nicht verstehen, sie sind für ihn unverständlich. 684 Auf der anderen Seite hat es immer Bestrebungen gegeben, die Heilige Schrift und die Schöpfung auszulegen und dabei Eindeutigkeit qua Autorität zu beanspruchen. Diese Versuche, die Nietzsche treffend entlarvt, sind schon im zeitgenössischen Kontext kritisch hinterfragt worden. Wenn im WvÖ Zeichen uneindeutig gemacht werden, ja deren Uneindeutigkeit und Polysemie geradezu vorgeführt wird, so wird dem Rezipienten ein Werk präsentiert, das er so wenig verstehen kann wie das Werk Gottes. Wenn dabei partiell mit der Vorstellung gespielt wird, die uneindeutigen Zeichen eindeutig zu machen und sich der Autor als Exeget seines eigenen Textes stilisiert, so wird die Praxis der Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn, die gängige Exegesepraxis vorgeführt. Dies wird immer wieder auch ironisch gebrochen. Sicherlich ist zu bedenken, dass der WvÖ zu einer Zeit entsteht, in der Vertreter von Thesen, die von der kirchlichen Lehrmeinung abweichen, mit ihrem Leben spielen. Womöglich zeigt sich in den ironischen Brechungen auch ein Exegesekritiker unter einer Narrenkappe. Wie ernst diese Position gemeint ist, muss zuletzt hypothetisch bleiben: Zu konstatieren bleibt, dass Spannungen Ausdruck verliehen wird, die sich zeitgenössisch in theologischen Reflexionen wiederfinden und die noch Jahrhunderte später das Verständnis von übertragener Rede bestimmen. Dabei lässt sich der WvÖ keinesfalls auf das reduzieren, was bisweilen noch heute als „mittelalterlich“ gilt. Auf die Spitze getrieben wird dieses Spiel dadurch, dass eine der auslegenden Gestalten der Muo twille ist. Bei aller Pluralität der Ergebnisse zeichnet sich ein gemeinsames Moment ab: Zeichentheoretische Reflexionen aus der Theologie werden aufgenommen und fruchtbar gemacht, die Ergebnisse lassen sich adäquat nur als ein theologischphilologisches Grenzphänomen erfassen. Wie die Idee des poeta creator nur durch die Anreicherung von antiken Vorstellungen durch christliches Denken entstehen konnte, werden im WvÖ in Analogie zur mystischen Spekulation Bilder (auch für den immanenten Bereich) entworfen, die sich nicht mit Hilfe der Substitutionstheorie erfassen lassen und daher nicht auf einen einzigen Sinn zu reduzieren sind. Veränderungen, die diachron als Progression verstanden werden (z. B. Substitutionstheorie und Interaktionstheorie), bestehen synchron als Nebeneinander von profanen und theologischen Zeichentheorien bereits im Mittelalter. Besonders plastisch wird das Dynamisierungspotenzial, das aus dem Zusammenbringen von antiker Rhetorik und christlicher Hermeneutik sowie deren Transformation in 684 Im Zuge der Mystik eröffnet sich in der unio mystica die Möglichkeit, dass der Mensch zu Gott aufsteigt. In der Trennung von nunc und tunc wird die Überzeugung deutlich, dass es einen Zustand geben kann, in dem der Mensch Gottes Zeichen verstehen kann. Wie oben gezeigt, spielt dieser Aufstieg auch im WvÖ eine entscheidende Rolle auf der Ebene des Erzählers.

Poeta creator

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eine poetologische Reflexion erwächst, wenn man den Aventue re Hauptmann als motivische Fortführung von Horaz´schem Monster und personifizierter Allmacht Gottes in Hildegards von Bingen neunter Vision begreift. Es wird deutlich, wie die rhetorische Tradition (hier Horaz) mit christlicher Hermeneutik angereichert wird (hier personifizierte Allmacht) und so Einzug hält in einen profan-erzählenden Text (konkret den WvÖ), der damit angereichert wird mit mannigfachen Implikationen. Im nächsten Kapitel sollen die Ergebnisse zum poeta creator insofern auf die Vorstellung des homo creator ausgeweitet werden, als Passagen in den Blick genommen werden, in denen Natur und die Veränderlichkeit von Natur thematisiert werden.

3 Natur Ziel des Kapitels ist, das Konzept der Natur im WvÖ zu beleuchten. Zunächst sollen dazu die Spannungen dargestellt werden, die den Begriff Natur im 14. Jahrhundert bestimmen. Aus dem weiten Feld Natur sollen die Aspekte besonders berücksichtigt werden, die für Reflexe schöpferischen Bewusstseins von besonderer Relevanz sind: das Spannungsfeld von Gott, Natur und Mensch, der Schöpfungsbegriff sowie Grenzbereiche am Rande des Natürlichen und Bekannten. Vor dem Hintergrund dieser Darstellung werden anhand von Einzelanalysen das Konzept der Natur sowie die Möglichkeiten des Menschen, aktiv in die natürlichen Begebenheiten einzugreifen, untersucht und damit die Frage nach dem poeta creator erweitert auf die Frage nach dem homo creator.

3.1 Zum Verständnis des Begriffes „Natur“ Wie der Begriff der Allegorie ist auch der Begriff der Natur semantisch nicht eindeutig. 1 Schon Aristoteles konstatiert, dass der Naturbegriff in vielfältigem Sinn ausgesagt wird, 2 und nennt sechs Bedeutungen von Natur. 3 Lukrez listet vier verschiedene Verstehensweisen des Begriffes auf, 4 Alanus ab Insulis kennt gar elf

1 Zur Schwierigkeit, den mittelalterlichen Naturbegriff präzise zu erfassen, vgl. S (1985), S. 286–321; H, Christoph (1992): Die personifizierte Natur. Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption. In: Harms; Speckenbach (Hrsg.): Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und Funktion. Tübingen: Niemeyer, S. 151–172; Aertsen, Jan A. (1991): Natur, Mensch und der Kreislauf der Dinge bei Thomas von Aquin. In: Speer; Zimmermann (Hrsg.): Mensch und Natur im Mittelalter (1). Berlin: de Gruyter (Miscellanea Mediaevalia, 21,1), S. 143– 160, hier S. 147 ff.; F, Udo (2003): Die Ordnung der Natur. Funktionsrahmen der Natur in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters. In: Peter Dilg (Hrsg.): Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen; Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001. Berlin: Akademie Verlag, S. 70–83, im Folgenden zitiert als F (2003); K (2003); S, Michael (2012): „Natur“ und „Kultur“ im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Heidelberg: Winter. Im Folgenden zitiert als S (2012). 2 Vgl. N (1969), S. 35. 3 G (1995), S. 25 mit Verweis auf Metaphysik, 5. Buch, 4. Kapitel. Gloy wird im Folgenden zitiert als G (1995). 4 Vgl. N (1969), S. 36.

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verschiedene Bedeutungen. 5 In einer ersten Näherung kann auf Speers Artikel im Lexikon des Mittelalters zurückgegriffen werden. Der Begriff „Natur“ umfasst im Mittelalter demnach „das, was entstanden ist und entsteht (nasci), und bezieht sich sowohl auf den Kosmos im Ganzen als auch auf die Beschaffenheit der natürl[ichen] Einzeldinge“. 6 Im Folgenden sollen die Grundlagen näher skizziert werden, die für ein Verständnis der Ausführungen zum Naturverständnis im WvÖ notwendig sind. Vor allem soll dabei auf das Verhältnis von Gott, Mensch und Natur vor dem Hintergrund der Frage nach Reflexen schöpferischen Bewusstseins Bezug genommen werden. Spezielle Eigenheiten und Feinheiten werden dabei zunächst außer Acht gelassen; um sie geht es im Kontext der jeweiligen Abschnitte und Darstellungspunkte, in denen sie von Belang sind. Wie bei vielen Aspekten mittelalterlicher Begriffsbestimmung liegt ein Grund für die Komplexität und Heterogenität des mittelalterlichen Naturverständnisses darin, dass vollkommen verschiedene Strömungen zusammengebracht werden. 7 Die mittelalterliche Naturvorstellung bildet eine Synthese aus christlicher Glaubensüberzeugung und antikem Gedankengut. In ihr verbinden sich zwei völlig heterogene Strömungen, auf der einen Seite die Glaubens- und Erfahrungswelt des jüdischchristlichen Kulturkreises, auf der anderen das Denken der griechischen Antike, letzteres in vielfacher Brechung und Vermittlung, nicht nur in der Brechung durch den Neuplatonismus und andere hellenistische Strömungen, sondern auch aufgrund der komplizierten Überlieferungslage; denn den mittelalterlichen Theologen waren die Werke Platons, Aristoteles’ und anderer antiker Autoren nicht im Original zugäng-

5 Vgl. S, Andreas (1991): Kosmisches Prinzip und Maß menschlichen Handelns. Natura bei Alanus ab Insulis. In: Speer; Zimmermann (Hrsg.): Mensch und Natur im Mittelalter (1). Berlin: de Gruyter (Miscellanea Mediaevalia, 21,1), S. 107–128, hier S. 124 ff. 6 Speer: Natur. In: LexMA 6 (2000), Sp. 1040. Auf den Aspekt der Geschlechtlichkeit, der von S (1985), S. 309 f. und in der Folge etwa von S (2012), S. 25 benannt wird, wurde bereits in Kapitel 1 eingegangen. 7 Darstellungen des wechselseitigen Einflusses von Aristotelismus und Platonismus sind auch zu finden bei M, Jürgen (1987): Leben mit der Natur. Über die Geschichte der Natur in der Geschichte der Philosophie und über die Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur. In: Oswald Schwemmer (Hrsg.): Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis. Frankfurt am Main: Klostermann, S. 37–62, im Folgenden zitiert als M (1987); B, Hans (1981): Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart: Reclam; N (1969); K (2003); W, Milène (2003): Die „Entdeckung der Natur“ in der monastischen Historiographie des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Peter Dilg (Hrsg.): Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen; Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.– 17. März 2001. Berlin: Akad.-Verl., S. 280–293. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die besonders konzisen Darstellungen bei G (1995).

312

N

lich, sondern nur in lateinischer Übersetzung syrischer und arabischer Übersetzungen aus dem Griechischen, gelegentlich sogar noch vermittelt über das Spanische. 8

In erster Näherung kann man davon sprechen, dass „die Inhalte und Gehalte für das synkretische Weltbild des Mittelalters aus dem jüdisch-christlichen Kreis stammten, [. . . ] die Begrifflichkeit, das Argumentationspotential, die Beweisstrategien, also das methodische Rüstzeug, aus der antiken Philosophie“. Es ist dabei nicht strikt zwischen Inhalt und Form zu trennen. „Mit den Denkschemata drangen zunehmend auch die Inhalte der griechischen Philosophie in das christliche Denken ein und prägten das mittelalterliche Weltbild mit, insbesondere die Naturvorstellung“. Auf der einen Seite zeigen Konzilbeschlüsse und Häresieprozesse, dass die Verbindung beider Strömungen äußerst spannungsreich verläuft. Auf der anderen Seite ist zu konstatieren, dass „sich griechische und christliche Vorstellungswelt ineinanderfügten“ und „fundamentale[ ] Fragen“ ähnlich beantwortet werden. 9 Der Einfluss von Aristotelismus und Platonismus auf das Naturverständnis im Mittelalter ist überaus stark, mal überwiegt die eine, mal die andere Lehre. Dabei treten „latente Tendenzen, die bereits bei den ursprünglichen Philosophen angelegt, aber weniger offenkundig waren, nun mit Entschiedenheit“ hervor. 10 In diesem Sinne bedeutet die Vorherrschaft Platons oder Aristoteles’ die Dominanz des technomorphen oder organologischen Modells der Natur. Mit dem letzteren verbinden sich insbesondere teleologische Gedankengänge, die nun nicht mehr wie bei Aristoteles selbst im Sinne eines bloßen System- und Ordnungsdenkens verwendet werden, sondern in christlicher Interpretation zur Bezeichnung der Sinn- und Zweckhaftigkeit der Natur, derzufolge die Natur auf den Menschen als Krone der Schöpfung hin angelegt ist und letztlich auf Gott als Endzweck alles Seienden. Mit dem platonischen Modell dagegen verknüpfen sich Gedanken von Konstruktion, Mathematik, insonderheit Geometrie. Die Natur wird nicht einfach als Geschöpf Gottes deklariert, sondern näher bestimmt als Kunst- und Bauwerk Gottes oder gar als machina und entsprechend Gott als Artifex und Baumeister. Überblickt man die Entwicklung des Mittelalters ideengeschichtlich, so ist unverkennbar, daß es der Platonismus mit seinem Konstruktionsgedanken und seiner Präferenz der Mathematik war, der auf das neuzeitliche mechanistische Welt- und Naturbild zusteuerte. 11

Dabei wird „der Demiurg durch einen christlichen Schöpfergott ersetzt [. . . ], der nicht mehr auf externe Ideen angewiesen ist, nach denen er den Kosmos gestaltet,

8 9 10 11

G (1995), S. 134. Ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 136 ff. Ebd., S. 138.

Z V  B „N“

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sondern die Welt nach eigenen Angaben erschafft“. 12 Der zentrale Unterschied ist der Status des Schöpfers, insofern „der platonische Demiurg vermöge seiner Kunst und mit Blick auf die Ideen aus ungeordneter Materie, dem Chaos, eine Welt fertigt, während der christliche Schöpfergott eine creatio ex nihilo vollbringt“. 13 Wie an diesem Beispiel ersichtlich, greifen Periodisierungen zu kurz, die ein „Mittelalter“ im Versuch ausblenden, Wurzeln einer „Neuzeit“ in einer „Antike“ auszumachen. Man kann, was den Zusammenhang zwischen neuzeitlicher Säkularisation und christlichem Glauben betrifft, sogar sagen, daß die neuzeitliche Welt- und Naturauffassung aus dem christlichen Denken freigesetzt wurde, auch wenn sie mehr und mehr in Gegensatz zu ihm geriet. Daß das im christlichen Denken fundierte neuzeitliche Weltund Naturbild verzögert auftrat, ist in dem äußeren Umstand der Geschlossenheit und Theozentrik des katholischen-kaiserlichen Kirchen- und Staatsgefüges begründet. 14

Zentral für das christliche Denken sind die „Superiorität Gottes“ 15, die „Ambivalenz der Natur“ 16 sowie die „Anthropozentrik“, 17 Aspekte, auf die noch einzugehen sein wird. Immer wieder ist das Bemühen zu erkennen, sich dem Begriff der Natur mittels dichotomer Klassifikationen zu nähern. Schon in der Antike werden die Begriffe „Physik – Nomos“ und „Physis – Techne“ einander gegenübergestellt 18. In den heute geläufigen Dichotomien (Natur – Kultur, Natur – Geist, Natur – Gnade, Natur – Technik, Natur – Kunst, Natur – Sitte, Natur – Geschichte, Natur – Mensch) wird eine je spezifische Eigenart der Natur betont, 19 in der jüngeren Me-

12 K (2003), S. 38. Vgl. zu Platon in diesem Kontext auch B, Hans (1981): „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: ders: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart: Reclam, S. 55– 103, hier S. 64f. (im Folgenden zitiert als Blumenberg, Nachahmung der Natur), der betont, dass Nachahmung bei Platon negativ konnotiert ist. Neben dem Timaios lohne ein „Blick in das zehnte Buch der platonischen Politeia“. 13 Ebd., S. 39. 14 G (1995), S. 138. Vgl. auch Darstellungspunkt 1.5.3, S. 145 ff., in dem Entsprechendes für den poeta creator gezeigt wurde. 15 Vgl. ebd., S. 139f. 16 Vgl. ebd., S. 140ff. 17 Vgl. ebd., S. 142ff. 18 Vgl. M, Jürgen: Natur. In: ders.; Carrier (Hrsg.) (2013): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2., neubearb. und wesentl. erg. Aufl. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: Metzler S. 500–503, hier S. 500. Im Folgenden zitiert als Mittelstraß, Natur. 19 Vgl. K (2003), S. 34; Mittelstraß, Natur, S. 500.

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diävistik ist den Dichotomien „Mensch – Natur“ 20 und „Natur – Kultur“ 21 mit großem Interesse nachgegangen worden, wenngleich strittig ist, ob diese Dichotomien für das Mittelalter Bestand haben. 22 In der mittelalterlichen Terminologie wird der Begriff der Natur nicht von anderen Begriffen abgegrenzt, sondern Unterkategorien der Natur voneinander. Johannes Scotus Eriugena unterscheidet im ersten Kapitel des ersten Buches von De divisione naturae vier Arten der Natur: Videtur mihi divisio naturae per quattuor differentias quattuor species recipere: quarum prima est in eam, quae creat et non creatur; secunda in eam, quae creatur et creat; tertia in eam, quae creatur et non creat; quarta, quae nec creat nec creatur. (PL 122, 441 B) 23

Verbreitung gefunden hat die Unterscheidung in eine schaffende (natura naturans) und eine geschaffene Natur (natura naturata). Die Unterscheidung geht auf Aristoteles zurück 24 und ist über Averroes und Michael Scotus in den scholastischen

20 Siehe Speer, Andreas; Zimmermann, Albert (Hrsg.) (1991/1992): Mensch und Natur im Mittelalter. Berlin: de Gruyter (Miscellanea Mediaevalia, 21). 21 R, Alan; Wolf, Gerhard (Hrsg.) (1999): Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Tübingen: Niemeyer. Vgl. zuletzt S (2012). 22 Während Grubmüller konstatiert, dass die Natur „jedenfalls nach dem Zeugnis der Sprache“ im Mittelalter weder dem Menschen gegenüberstehe noch „von den Erzeugnissen seiner Kunstfertigkeit (Kunst und Kultur) unterschieden“ werde (G (1999), S. 17), stellt Friedrich fest, dass im Mittelalter „ganz spezifische Formen der Interferenz natürlicher und kultureller Einschreibungen“ bekannt seien, „die jedoch noch nicht unter dem Signum Natur-Kultur gefaßt werden“ (F (2003), S. 74). Krop skizziert, wie die noch bei Thomas von Aquin gültige Unterscheidung von naturalia und artificialia erst bei dem jüngeren Wilhelm von Ockham fragwürdig geworden ist (K (1992), S. 952 f., 960; vgl. auch I, Ruedi (1993): Natur bei Wilhelm von Ockham. In: Schäfer; Ströker (Hrsg.): Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik. Bd. 1: Antike und Mittelalter. 3 Bde. Freiburg im Breisgau: Alber, im Folgenden zitiert als I (1993); N (1969), S. 36; K (2003), S. 42). 23 Vgl. auch M, Jürgen (1988): Nature and Science in the Renaissance. In: Roger S. Woolhouse (Hrsg.): Metaphysics and philosophy of science in the seventeenth and eighteenth centuries. Dordrecht: Kluwer (The University of Western Ontario series in philosophy of science, 43), S. 17–43, hier S. 19. Im Folgenden zitiert als M (1988); Speer: Natur. In: LexMA 6 (2000), Sp. 1040–1043. 24 Vgl. M, Jürgen: natura naturans. In: ders.; Carrier (Hrsg.) (2013): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2., neubearb. und wesentl. erg. Aufl. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 506 f., hier S. 506, im Folgenden zitiert als Mittelstraß, Natur; Hedwig, K.: Natura naturans /naturata. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 504–509, hier Sp. 504; vgl. auch, G (1995), S. 24.

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Sprachgebrauch übergegangen. 25 Bisweilen wird auf die benachbarten Begriffspaare natura finita – natura infinita und natura universalis – natura particularis verwiesen. Erstere geht zurück auf Johannes Scotus Eriugena; 26 wie bei natura naturata – natura naturans „steht die eine Seite der Unterscheidung für den subjekthaften, die andere Seite für den objekthaften Charakter der Natur“. 27 Die auf Avicenna zurückzuführende Differenzierung in „‚natura universalis‘, die kosmische Kraft, die sich in die Organe der Welt verteilt, oder die Himmel, die als Prinzipien und universale Ursachen die Harmonie der Welt regieren und alle Werdensprozesse lenken“ und „‚natura particularis‘, die den einzelnen Körper der sublunaren Welt innewohnt und die deren Prozeß der spezifischen Verwirklichung und Vervollkommnung in Übereinstimmung mit der universalen N[atur] regelt“ spiegelt die „Dublizität der Ordnungen“ im Mittelalter wider. 28 Im 13. Jahrhundert nämlich wird der geschlossene und endliche aristotelisch-ptolemäische Kosmos [. . . ] hierarchisch in eine himmlische und eine sublunare Welt eingeteilt. Jene ist der Ort der gleichförmigen Kreisbewegung der unvergänglichen Planetensphären, diese der Ort des Werdens und der unaufhörlichen Verbindung und Trennung der Elemente, von deren Streben zu ihren ‚natürlichen Örtern‘ die Prozesse des Entstehens, Veränderns und Vergehens und jede geradlinige und endliche Bewegung der Körper ausgehen. 29

In dieser Trennung kommt zum einen die „ununterbrochene Kette von Ursachen“ zum Ausdruck, durch die sich „in christlicher Sicht die Regierung der Welt durch Gott“ verwirklicht, „der jedes Geschöpf zur vollen Entfaltung seiner N[atur] bis zum Erreichen der Grenzen, die ihr gesetzt sind, führt“. Zum anderen manifestie-

25 Vgl. M, Natur, S. 506; Hedwig, K.: Natura naturans /naturata. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 504–509, hier Sp. 504. Beide stützen die Aussage auf T, Lynn (1963): Michael Scot. In: dies. (Hrsg.): The History of magic and experimental science. Bd. 4. New York [u. a.]: Columbia University Press, S. 105. 26 Vgl. M, Natur, S. 506; Mittelstraß (1988), S. 19, in Bezug auf natura finita – natura infinita mit Verweisen auf J. S. Eriugena: De divisione, II, 1; PL 122, 523D–6C; zu erwähnen ist, dass N (1969), S. 37, als Beleg für diese Unterscheidung dort falsch Buch 1, Kapitel 1 angibt. Zahlten, S. 91 übernimmt dies (Z, Johannes (1991): Natura sua und Natura generans. Zwei Aspekte im Naturverständnis Kaiser Friedrichs II. In: Speer; Zimmermann (Hrsg.): Mensch und Natur im Mittelalter (1). Berlin: de Gruyter (Miscellanea Mediaevalia, 21,1), S. 89–106, im Folgenden zitiert als Z (1991)). 27 M (1987), S. 38. Als weiteres Begriffspaar, in der diese Dichotomie ausgedrückt wird, nennt Zahlten in Bezug auf das Falkenbuch Friedrichs II. natura generans und natura sua (Z (1991)). 28 Maierù: Natur. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 447. 29 Ebd.

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ren sich darin auch Veränderungen im Naturbegriff: „[d]ie Autonomie der Wesen innerhalb der vom Schöpfer gewollten Ordnung, ihre wesentlichen spezifischen Eigenschaften und ihre Wirkfähigkeit“. 30 Spannungsreich ist das Verhältnis von natura naturata und göttlicher Schöpfungsinstanz. Zu Beginn der Begriffsgeschichte überträgt Michael Scotus den aristotelischen Begriff des Naturprozesses „auf das Verhältnis von Gott und Welt“. 31 In der Scholastik ist neben einer Ausdifferenzierung der Begriffe eine „betont kritische Distanz nicht zu übersehen, da der neu eingeführte Terminus ‚naturare‘ die zeugende und schöpferische Macht des christlichen Gottes – als Trinität und ‚creator‘ – nicht angemessen zu bestimmen vermag“. 32 Albertus Magnus stellt fest, dass die Begriffe im „‚eigentlichen Sinn‘ [. . . ] weder auf die Trinität noch auf die schöpferische Kunst Gottes (Ars Divina) anzuwenden“ sind. 33 Thomas von Aquin erwägt zwar, natura naturans und Gott in eins zu setzen, betont aber, dass es besser sei, diesen „Begriff auf die ordnende Kausalität der siderischen Bereiche zu beschränken“. 34 Meister Eckhart zeigt diese Scheu nicht und bezeichnet „in einer Anwendung dieser Begriffe auf die Trinitätslehre die göttliche ‚Wesenheit‘ als die ‚ungenâtûrte nâtûre‘, in der – durch die ‚Zeugungskraft‘ (‚nâtûren‘) des Vaters – der Sohn und vermittelt der Geist als ‚genâtûrte nâtûren‘ bestehen“. 35 Die beiden Begriffe, die der Scholastik als „holprig“, dem Humanismus als „barbarisch“ gelten, erhalten im Spätmittelalter Einzug „in die philosophische Fachsprache, in den allgemeinen literarischen Gebrauch und in die romanischen, weniger in die germanischen Volkssprachen“. 36 Wird natura naturans nicht mit Gott in eins gesetzt, kann sie potenziell in Konkurrenz zu ihm treten und in Konflikt mit ihm geraten. 37 Die Vorstellung nämlich, dass eine natura naturans Gott bei der Vollendung der Schöpfung hilft, widerspricht der Darstellung des Buches Genesis, in dem Gott die

30 31 32 33 34

Ebd. H, K.: Natura naturans /naturata. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 504–509, hier Sp. 504. Ebd. Ebd., Sp. 505. Ebd., Sp. 505; vgl. auch Mittelstraß, Natur, S. 506 f., der die „kritische Perspektive“ (Hedwig, K.: Natura naturans /naturata. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 504–509, hier Sp. 505.) Thomas’ von Aquin außer Acht lässt. Vgl. dort auch den Zusammenhang von natura naturans – natura naturata mit dem Gegensatz von prima causa und primum cautatum. 35 H, K.: Natura naturans /naturata. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 504–509, hier Sp. 505, bezieht sich dabei auf Eckharts Traktat XV. Hedwig nennt weiter Raimundus Lullus, der ebenfalls die Begriffe auf den Schöpfungsprozess überträgt. Vgl. auch Mittelstraß, Natura naturans, S. 506 f. 36 H, K.: Natura naturans /naturata. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 504–509, hier Sp. 505 mit weiteren Literaturangaben. 37 Vgl. G (1999), S. 7.

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Welt in sechs Tagen – freilich ohne Hilfe – erschafft. 38 Im Umfeld der sogenannten Schule von Chartres wird die (eingeschränkte) 39 Selbstständigkeit der Natur im Kontext der Theodizee fruchtbar gemacht. Wilhelm von Conches und Thierry von Chartres lassen Gott selbst die Grundkonstituenten schaffen und niedere Instanzen die Schöpfung vollenden, um plausibel zu machen, dass der vollkommene Gott eine unvollkommene Schöpfung hervorgebracht hat, nicht ohne sich damit dem Verdacht der Häresie auszusetzen. In der Aufnahme und Weiterentwicklung dieser Ansätze in epischer Form durch Bernhardus Silvestris wird eine Möglichkeit gefunden, sich eines solchen Verdachtes zu entziehen. 40 Wie bereits angeklungen, ist das Verhältnis von Mensch, Natur und Gott im Kontext der Frage nach Schöpfertum aufschlussreich. Wilhelm von Conches unterscheidet im Weltprozess drei Wirkfaktoren, nämlich „Gott, die Natur und den Menschen, der die Natur nachahmt“. 41 Der Natur wird damit „eine relative Selbstständigkeit zuerkannt, ohne den Vorrang Gottes oder die Wirkmöglichkeiten des Menschen zu verletzen“. 42 Hugo von St. Victor differenziert im neunten Kapitel (De tribus operibus) des ersten Buches des Didascalicon in opus naturae, opus artificis imitantis naturae und opus dei. 43 38 Vgl. Z (1991), S. 101 sowie Stürner, W.: Rerum nécessitas und divina provisio. Zur Interpretation des Prooemiums der Konstitutionen von Melfi (1231). In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 39 (1983), S. 487–489. 39 Vgl. etwa den Überblick der Naturvorstellungen bei Z (1991), S. 100: „In den dichterischen Werken des Bernhardus Silvestris und des Alanus de Insulis wurde die Natur personifiziert. Sie tritt als Schöpferin der sinnlich wahrnehmbaren Welt auf, aber sie vollzieht dabei nur den Willen Gottes, der mehr oder weniger aktiv in diesen Prozeß eingreift. Bei aller Selbständigkeit, die ihr besonders bei Alanus zugeschrieben wird, bleibt sie jedoch immer in Abhängigkeit von Gott. In den erwähnten naturphilosophischen Traktaten des 12. Jahrhunderts zeigten sich ähnliche Strukturen: Hugo von St. Victor sah in der Natur eine Kraft, die Gott beim Schöpfungsprozeß unterstützte. Bei Wilhelm von Conches richtete sich ihre Tätigkeit nach dem Willen Gottes, auch Daniel von Morley faßte sie als mitschaffende Dienerin auf. Petrus Abaelard betonte eine noch engere Verbindung: Das Werk der Natur ist das Werk Gottes. Für Honorius Augustodunensis schließlich ist Gott Ausgangspunkt und Ziel der an der Schöpfung beteiligten Natur“. 40 Vgl. R (1995), S. 16 f.; 22; 28. Siehe auch Kapitel 1, S. 32 ff. dieser Arbeit. 41 F, Kurt (2013): Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Unter Mitarbeit von Fiorella Retucci und Olaf Pluta. Dritte, vollständig durchgesehene und erw. Aufl. Stuttgart: Reclam, S. 267 f. 42 Ebd., S. 268. 43 Vgl. hierzu S. 139 ff. dieser Arbeit. Vgl. auch M, Michael (2003): Die Jagd als Naturkunst. Zum Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. In: Peter Dilg (Hrsg.): Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen; Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001. Berlin: Akademie Verlag, S. 342–359, hier S. 355. Im Folgenden zitiert als M (2003).

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Bei Alanus von Lille ist die Natur „Mittelinstanz zwischen Gott und Mensch“ und „ordnet sich Gott demütig unter“. Dabei werden die „ontologischen Verhältnisse [. . . ] durch grammatische Metaphern verdeutlicht. Die Macht Gottes ist der Superlativ, die der Natur der Komparativ, die des Menschen der Positiv“. 44 Die Stellung des Menschen als Teil der natura naturata ist einer der drei Aspekte, in denen Gloy neue Impulse von Seiten des christlichen Denkens ausmacht. Basierend auf alt- (Gen 1,27) und neutestamentarischen (Galater 4,1–7; 2. Korinther 3,18) Stellen erhält der Mensch eine exzeptionelle Stellung [. . . ] innerhalb der Seinshierarchie. Auf der einen Seite ist der Mensch Geschöpf Gottes wie alle anderen Geschöpfe auch und damit Teil der Natur, auf der anderen ist er aufgrund seiner Ebenbildlichkeit mit Gott und seiner Sohnschaft über die Natur gesetzt, Herr der Natur. Seine Seinsdominanz garantiert ihm eine Position zwischen Gott und der übrigen Natur, die häufig dadurch ausgedrückt wird, daß der Mensch mit seinem Leib der Natur angehört und mit seiner Seele dem ewigen göttlichen Bereich. 45

Gloy skizziert zwei Extrempositionen, mit denen der Mensch auf diese Sonderstellung reagiert. Auf der einen Seite macht sie – belegt am Sonnengesang Franz’ von Assisi – eine „fromme, tiefreligiöse, oft an magisch-mythische Verhaltensweisen erinnernde Einstellung“ aus, infolge derer der Mensch andere „Geschöpfe [. . . ] als Mitbrüder und Mitschwestern, nicht als Untertanen oder Untergebene“ ansieht. 46 Auf der anderen Seite steht eine „für die geschichtliche Entwicklung in vielerlei Hinsicht entscheidendere Einstellung“, im Zuge derer sich der Mensch als „Endzweck und [. . . ] Krone der Schöpfung“ sieht und ihm „eine Herrschaftsrolle über die Natur“ eingeräumt ist. 47 Diese dem griechischen Denken völlig abgehende Sonder- und Vorrangstellung des Menschen gegenüber der Natur hat geistesgeschichtlich die größten Auswirkungen gehabt. Ohne sie wäre das Zustandekommen und die rapide Ausbreitung des mechanistischen Weltbildes und seiner Technik nicht denkbar gewesen. [. . . ] Allerdings wurden die Resultate der biblisch begründeten Botschaft nur verzögert wirksam, was mit der kirchlichen und politischen Verfassung der mittelalterlichen Welt zusammenhing. 48 44 C (1993), S. 128. Vgl. auch Z (1991), S. 98. Vgl. zur Aufnahme des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutscher Literatur H, Christoph (1988): Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen: Niemeyer. 45 G (1995), S. 142. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 144. 48 Ebd.

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Eine Eigenart des Verhältnisses von Gott, Natur und Mensch im Mittelalter manifestiert sich in der gängigen Vorstellung, dass das „Buch der Natur“ in Analogie zum Buch der Bücher von Gott verfasst wurde und vom Menschen rezipiert werden kann. 49 „Wie für die Antike das Mikro-Makrokosmos-Schema die typische Denkfigur ist, so für das Mittelalter der Topos vom Buch der Natur“. 50 Im Brief an die Römer spricht Paulus von drei Wegen der Offenbarung Gottes – in Gesetz und Propheten bei den Juden, im Evangelium bei den Christen und in der Erschaffung der Welt bei den Heiden – und schafft damit die Voraussetzung, „die Bibelmetapher auch auf die Natur zu übertragen“. 51 Einigkeit herrscht in der Forschung darüber, dass eines der ersten Zeugnisse für die Vorstellung zweier Bücher, der Bibel (liber scripturae) und eines Buches der Natur (liber creaturae), bei Augustinus in De genesi ad litteram (PL 34, S. 219 ff.) auftaucht. 52 Auf der einen Seite findet die Analogie der beiden Bücher Anwendung in der Praxis der Predigt. „Das Buch der Natur sollte für den Prediger dem Bibelbuch als Stoffquelle zur Seite treten“. 53 Auf der anderen Seite verbreiten sich Buchvergleiche im 12. Jahrhundert in der Philosophie. 54 In der Literatur werden die beiden Bücher seit dem frühesten Zeugnis bei Alanus ab Insulis vermehrt aufgenommen. 55 In die deutsche Sprache übertragen wird die „Vorstellung von der Welt als einem Buch“ von Konrad von Megenberg. 56 Fassen wir zusammen, so ergibt sich, daß die Vorstellung von der Welt oder der Natur als einem „Buch“ in der Kanzelberedsamkeit aufgekommen ist, dann in die mystisch-

49 Wie gängig diese Vorstellung war, wird deutlich, wenn man in den Blick nimmt, welche Fülle an Namen in diesem Kontext angeführt werden: der Apostel Paulus, Augustin, Alanus ab Insulis, Bernhardus Silvestris, Bonaventura, Johannes von Salisbury, Konrad von Megenberg, Cusanus u. v. m. Vgl. hierzu C (1993), S. 323–329 (Kapitel „Das Buch der Natur“); G (1995), S. 146 ff.; Nobis, Heribert M. (1971): Buch der Natur. In: HWBPh, Bd. 1, Sp. 957–959; O, Friedrich (1995): Zum Buch der Natur. In: Friedrich Ohly (Hrsg.): Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Unter Mitarbeit von Uwe Ruberg und Dietmar Peil. Stuttgart, Leipzig: Hirzel, S. 727–844. Im Folgenden zitiert als O (1995). 50 G (1995), S. 146 mit Verweisen auf die Arbeiten von Gröber, Manitius, Curtius und Nobis, die das Quellenmaterial zusammentragen, siehe dort Anm. 16, S. 306. 51 G (1995), S. 146. 52 Vgl. ebd., S. 146; Mittelstraß, Jürgen: Buch der Natur. In: ders.; Carrier (Hrsg.) (2005): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2., neubearb. und wesentl. erg. Aufl. Bd. 1. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 541; N (1971), Sp. 957 (gibt falsch PL 32 an); O (1995), S. 728. 53 C (1993), S. 323. 54 Vgl. ebd., S. 324. 55 Vgl. G (1995), S. 146; N (1971), Sp. 957. 56 C (1993), S. 324; vgl. auch G (1995), S. 146.

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philosophische Spekulation des Mittelalters übernommen wurde und endlich in den allgemeinen Sprachgebrauch überging. Das „Buch der Welt“ ist im Verlauf dieser Entwicklung manchmal laizisiert, das heißt seiner theologischen Herkunft entfremdet worden, aber bei weitem nicht immer. 57

In der Parallele von Bibel und Natur 58 wird die Natur zwar aufgewertet; auch sie erscheint als Offenbarung Gottes, sodass der Mensch in ihr Gott erkennen kann. Die Systematik zur Erschließung der Bibel wird übertragbar auf das Erkennen der Natur. Sie verliert im Gegensatz zur Antike aber auch durch ihren „Repräsentanzcharakter“ ihre Selbstständigkeit. „Die Folge hiervon ist, daß das Studium der Natur ebensowenig wie das Studium der Heiligen Schrift Selbstzweck ist, sondern ausschließlich der Ergründung, dem Lob und Preis Gottes gilt“. 59 Oben wurde bereits auf die drei Wirkfaktoren verwiesen, die Wilhelm von Conches in Anlehnung an Calcidius bestimmt. Die Wirkmöglichkeit des Menschen besteht demnach darin, die Natur nachzuahmen. Diese Vorstellung – ars imitatur naturam – geht zurück auf Aristoteles. Fast zwei Jahrtausende lang schien es, als sei die abschließende Antwort auf die Frage, was der Mensch in der Welt und an der Welt aus eigener Kraft und Fertigkeit leisten könne, von Aristoteles gegeben worden, als er formulierte, die „Kunst“ sei Nachahmung der Natur. 60

Kunst nach aristotelischem Verständnis ist Nachahmung und Vollendung, eine „Doppelbestimmung“, die „mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs von ‚Natur‘ als produzierendem Prinzip (natura naturans) und produzierter Gestalt (natura naturata) eng“ zusammenhängt. Dabei überwiegt das Prinzip der Nachahmung, insofern „ das Aufnehmen des von der Natur Liegengelassenen [. . . ] sich doch der Vorzeichnung der Natur“ fügt. Bei Aristoteles also sind Natur und Kunst „strukturgleich“, 61 wenngleich am Anfang des ersten Kapitels des zweiten Buches der Physik 62 auf die Unterschiede von artificialia und naturalia hingewiesen wird. 63 Zentral ist diese Unterscheidung bei Bonaventura, Albertus Magnus, Thomas von Aquin 64 oder Wilhelm von Ockham. 65 57 58 59 60 61 62

C (1993), S. 325. Vgl. zu diesem Aspekt auch O (1995), S. 728 ff. G (1995), S. 147 f. B, Nachahmung der Natur, S. 55. Ebd., S. 55f. A (1987): Physik. Vorlesung über Natur. Bd. 1: Bücher I (Alpha) – IV (Delta). Herausgegeben und übersetzt von Hans Günther Zekl. 2 Bde. Hamburg: Meiner (Philosophische Bibliothek, 380). 63 Vgl. I (1993), S. 195. 64 K (2003), S. 42 f. 65 I (1993), S. 195.

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Ockhams Hauptthese in diesem Zusammenhang lautet, daß es zwischen Artefakten und Naturdingen keinen Realunterschied gibt. Dies ist so zu verstehen, daß alle Artefakte durch bloße Ortsbewegung natürlicher Dinge entstehen und zwar entweder durch Entfernung von Teilen, durch Neuverteilung oder durch Transformation. In der Fachterminologie Ockhams lautet deshalb die These, daß die Artefakte keine neue res absoluta, d. h. also weder Substanz noch Qualität, zu den Naturdingen hinzufügen. 66

In Auseinandersetzung mit Duhems Versuch, „Ockhams Naturphilosophie als Vorläufer der klassischen Naturwissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts zu deuten“, 67 setzt Krop sich kritisch mit der Unterscheidung in naturalia und artificialia bei Ockham und Thomas von Aquin auseinander. 68 Thomas 69 bejahe die Frage, ob es einen „ Wesensunterschied zwischen den Naturdingen und den Artefakten“ gebe, und führe zwei Hauptbestimmungen an: „[z]uerst, daß die Artefakte im Gegensatz zu den Naturdingen nur eine akzidentelle Form besitzen und zweitens, daß die Artefakte das Prinzip ihrer Bewegung und Ruhe nicht in sich selbst tragen“. Während die Natur „substantiale Formen in den Naturdingen hervorbringt“, bringt der „Artifex jedoch in seinem Material nur unwesentliche“ hervor. 70 Die substantiale oder wesentliche Form definiert er als die Form, die etwas zu einem Seienden macht, und sein Beispiel ist die Wesensform ‚Mensch‘. Eine unwesentliche Form dagegen modifiziert nur bereits Bestehendes. Ein Mensch wird dadurch zu einem weisen Menschen. Der Artifex bearbeitet vorgegebenes Material, weil es schon Seiendes ist. Der Marmor, die Bronze, der Lehm oder das Glas wechseln im künstlerischen Herstellungsprozeß nur die Gestalt: ihre Natur ändert sich nicht. Dementsprechend schreibt Thomas, daß die Kunst den durch die Natur dargebotenen Stoff bearbeitet. 71

66 Ebd. 67 K (1992), S. 952 mit Verweis auf D, Pierre (1954): Le système du monde. VUI: Paris, S. 196. Die These werde aufgenommen von L, Gordon (1975): William of Ockham. The Metamorphosis of Scholastic Discourse. Manchester: Manchester University Press, S. 561–562 und Ders. (1984): The Physics of William of Ockham. Leiden: Brill, S. 12– 13, widerlegt von Maier, Anneliese: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Rom 1966, S. 3–18. 68 K (1992). Er möchte dabei die zwei Thesen beleuchten, „[z]uerst sei bei Ockham im Gegensatz zum Beispiel zu Thomas von Aquin der Unterschied von Naturdingen und Artefakten problematisch. Zweitens sei im Nominalismus eine Höherbewertung des Ranges des Kunstwerkes anzutreffen und sei dem Künstler eine größere Kreativität zuzumuten“ (S. 952). 69 Vgl. hierzu auch grundlegend Aertsen, Jan A.: Nature and creature. Thomas Aquinas’s way of thought. Teilw. zugl.: Amsterdam, Free Univ. Diss. 1982. Leiden: Brill (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 21). 70 K (1992), S. 953. 71 Ebd.

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Da Artefakte damit „als abgeleitet und ontologisch sekundär“ bestimmt sind, hebt Thomas „die Tätigkeit des Künstlers von der im eigentlichen Sinne schöpferischen Tätigkeit Gottes ab. Die menschliche ars bedarf der Natur; sie setzt sie als das Substrat ihrer Hervorbringung voraus, da sie selbst nicht etwas von Grund auf Neues schaffen kann“. Dabei ahme der Künstler die Natur nach, bilde sie aber nicht „servil“ ab. Er lasse sich „durch die Natur leiten“, er folge „der Natur in seinem Wirken“. 72 Neben einigen „Ähnlichkeiten zwischen Naturdingen und Artefakten“ betont Thomas als wesentlichen Unterschied die Bewegung: Die Kunst dagegen unterscheidet sich wesentlich von der Natur dadurch, daß die Natur ein Prinzip der Bewegung ist, das den Naturdingen immanent ist. [. . . ] In der natürlichen Welt ist das Prinzip der Bewegung also das Wesen der Dinge selbst. [. . . ] Das Artefakt hat eine physische Beschaffenheit, aber von seiner Gestaltung her kann es sich auf irgendwelche Weise unwesentlich ändern. Die Dinge in der Natur ändern sich wesentlich und notwendig. Die Bewegungen als Artefakte sind ihnen sekundär. 73

Diesen wesentlichen Unterschied sieht auch Ockham. 74 Wie bereits erwähnt, wird eine neue Rolle der Natur in der lateinischen gelehrten Dichtung des 12. Jahrhunderts (Bernhardus Silvestris, Alanus ab Insulis) aufgenommen und weiterentwickelt. Die personifizierte Natur erscheint als „tätige Schöpfungsinstanz“, „gegenüber den orthodoxen Positionen der Theologie [wird] die Relation der Schöpfungsinstanzen – Gott, Natur, Mensch – alternativ“ gefasst, und die „Funktion der Natur“ wird „über den Status eines Topos (natura formatrix) hinaus zu einem eigenständigen Prinzip (mater generationis)“ erweitert. 75 In der altfranzösischen Dichtung erscheinen Natur und Gott als „Bildner der Schönheit“, und Schwietering verweist in Widerspruch zu Curtius darauf, dass die Variationen von Nature und Deus „nicht nur als leere Zierformen hingenommen wurden, sondern auch inhaltlich interessierten und auf religiöse Bedenken stoßen konnten“. Neben „Lesarten der Textüberlieferung“ führt er als Belege für seine These an, dass „Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach das Wort natûre, natiure vermeiden, sowohl das Appellativ wie die Personifikation“. 76 Wolfram will keine Zwischeninstanz, keinen Mittler zwischen dem Schöpfergott und dem nach seinem Bilde geschaffenen Menschen: kein schöpferisches Wesen, das ne-

72 73 74 75 76

Ebd., S. 954. Ebd., S. 955. Vgl. ebd., S. 958. Krop setzt sich im Folgenden dezidiert mit Ockhams Thesen auseinander. F (2003), S. 71 f. S (1961), S. 109 f. In Fußnote 2, S. 110 erwähnt er auch Veldeke, der das Wort ebenfalls meide.

Z V  B „N“

323

ben ihm oder unter ihm an seiner Schöpfung beteiligt ist, weder an der Erschaffung noch an der Erhaltung des Erschaffenen. 77

Möglich ist, diese Ablehnung zu lesen als „eine Form von Protest gegen die [. . . ] Versuche der ‚Schule von Chartres‘, eine Naturphilosophie zu etablieren, die das Verhältnis von Natur und Gott zu harmonisieren versucht“. 78 Wie Grubmüller herausstellt, ist es „bemerkenswert, daß auch Meister Eckhart [. . . ] keine Skrupel hat, Gott und natûre eng aneinander zu rücken, wenn nicht in eins zu setzen“. 79 Ebenso bemerkenswert ist es, dass im WvÖ das Wort natur gebraucht wird. Der Übergang von Mittelalter zu Neuzeit wird gerne festgemacht an dem sich verändernden Verhältnis von Gott, Natur und Mensch. 80 Im Folgenden soll es darum gehen, gewichtige Tendenzen aufzuzeigen, ohne dabei bei der Annahme fester Epochengrenzen zu verharren. Wie oben skizziert, waren schon im Übergang von Antike zu Mittelalter fundamentale Veränderungen im Naturverständnis zutage getreten, v. a. dadurch, dass antike und christliche Formen und Vorstellungen zusammengebracht wurden. Sei es als Fortführung der dadurch erwachsenen Spannungen, sei es als Resultat neuer Veränderungen: Im 14. Jahrhundert, der Entstehungszeit des WvÖ, wird Spannungen im Verhältnis von Gott, Natur und Mensch Ausdruck verliehen. Nobis skizziert, wie die „Natur, aristotelisch zunächst als ‚Principium actionis‘ der Dinge verstanden, [. . . ] für den Menschen zum Instrument seiner technischen Veränderungen und Vervollkommnung an ihr und damit an der Welt“ wird. 81 Wenn daher das Mittelalter „instrumentum“ als „vehiculum actionis“ definierte, so kann man sagen, daß aus dem „principium actionis“ die natura allmählich zu einem „vehiculum actionis“ wurde. Noch deutlicher als bei der aristotelischen Formulierung von Natur, kommt bei der platonischen: „natura est instrumentum providentiae Dei“ der grundsätzliche Wandel zum Ausdruck; die natura wird aus einem „vehiculum actionis Dei“ zu einem „vehiculum actionis hominis“. 82

Ruoff konstatiert, die „Naturphänomene unterliegen nicht mehr der bloßen Betrachtung, sondern sie rücken in den Bereich der Herstellung“. 83 Kann sieht die 77 78 79 80

Ebd., S. 115. Vgl. auch G (1999), S. 14; F (2003), S. 72. G (1999), S. 14 mit Bezug auf S (1961). Ebd., S. 15 mit einem Beleg aus dem Buoch der götlichen troestunge. K (2003) etwa formuliert: „Diejenige Epoche, in der sich der moderne, selbstverständlich nach wie vor Wandlungen unterworfene Naturbegriff konstituiert, ist das Mittelalter“ (S. 33). 81 N (1969), S. 46. 82 Ebd., S. 46f. 83 R, Michael (2002): Schnee von morgen. Würzburg: Königshausen u. Neumann, S. 31. Im Folgenden zitiert als R (2002).

324

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„Wandlung des Naturwissens vom ‚Orientierungswissen‘ zum ‚Verfügungswissen‘, die üblicherweise als Charakteristikum der Neuzeit gilt, bereits im 13. Jahrhundert“ angedeutet. 84 Weiter betont er die „Selbstständigkeit und Eigenvalenz“, die die Natur im 13. Jahrhundert gewinnt. Diese gehe einher mit „einer neuen Technikorientierung“. 85 Plastisch wird diese Veränderung im Kontext des Wissenschaftssystems. Bezüglich Trivium und Quadrivium im Mittelalter konstatiert Ohly, dass „[a]lle Fächer der mittelalterlichen Wissenschaft [. . . ] der Erschließung des geistigen Sinnes des Wortes dienstbar“ würden. 86 Im ausgehenden Mittelalter kann sich – dieser Zuordnung widersetzend – zum einen das Quadrivium als eigenständige Wissenschaft etablieren, zum anderen kommen neue artes hinzu. Naturforschung dient nicht mehr – philosophisch gefaßt – primär dem Verstehen der Natur und ihres Wesens und auch nicht – platonisch-theologisch gefaßt – dem epistemischen Aufstieg der menschlichen Seele zu Gott, sondern die irdischen Zwecke des Menschen treten in den Vordergrund. Das kontemplative, rezeptive Verhältnis des erkennenden Subjekts zur Natur geht über in ein produktives. Zieht man die mechanistischen und alchemistischen artes in Betracht, dann läßt sich sagen, daß diese mit Hilfe der Spekulation Naturerscheinungen nicht nur zu modifizieren und zu reproduzieren, sondern sogar selbst zu produzieren vermögen, was freilich die tradierte Unterscheidung der Ordnungsbereiche von naturalia und artificialia verschwimmen läßt. 87

Gloy macht auf die Bedeutung des skizzierten Wandels von rezeptivem zu produktivem Verhältnis für die Metapher vom legere in libro naturae aufmerksam. „Während das Früh- und Hochmittelalter den rezeptiven Aspekt hervorkehren, betont das ausgehende und in die Neuzeit hinüberführende Mittelalter den konstruktiven, produktiven Aspekt“. 88 Verbunden werden beide Aspekte z. B. bei Galilei, der bestimmt, „daß die Natur ein Buch sei, welches in der Sprache der Geometrie geschrieben ist“. 89

84 K (2003), S. 41 f. mit Verweis auf M, Jürgen (1981): Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs. In: Friedrich Rapp (Hrsg.): Naturverständnis und Naturbeherrschung: philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext. München: Fink (Kritische Information, 102), S. 36–69. 85 K (2003), S. 41. 86 O, Friedrich (1977): Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Friedrich Ohly (Hrsg.): Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1–31, hier S. 4. 87 K (2003), S. 41 mit Verweis auf M, Günther (1991): Metaphysik und Naturbeherrschung im Denken Roger Bacons. In: Speer; Zimmermann (Hrsg.): Mensch und Natur im Mittelalter (1). Berlin: de Gruyter (Miscellanea Mediaevalia, 21,1), S. 129–142. 88 G (1995), S. 149 f. 89 R (2002), S. 49 f.

Z V  B „N“

325

Blumenberg arbeitet überzeugend heraus, dass eine zentrale Veränderung des Naturverständnisses mit einem christlichen Paradigma zusammenhängt. Er stellt zunächst die Frage, worin der Sinn liegen könne, „den Voraussetzungen und geschichtlichen Wandlungen“ der aristotelischen Formel ars imitatur naturam nachzugehen, da doch „der Mensch der Neuzeit“ darauf bestehe, „ein ‚schöpferisches‘ Wesen zu sein [. . . ] und der Natur die Konstruktion schroff“ entgegenstelle. 90 Die Ausmessung des Spielraums der artistischen Freiheit, die Entdeckung der Unendlichkeit des Möglichen gegenüber der Endlichkeit des Faktischen, die Loslösung des Naturbezugs durch die historische Selbstvergegenständlichung des Kunstprozesses, innerhalb dessen sich Kunst immer wieder neu an und aus Kunst generiert – das sind Grundvorgänge, die nichts mehr mit der aristotelischen Formel zu tun haben scheinen. 91

Zu Beginn seiner Erörterungen hebt er hervor, wie stark die Wirkung der aristotelischen Formel gewesen sei: „Das vehemente Pathos, mit dem das Attribut des Schöpferischen dem Subjekt hinzugewonnen worden ist, wurde angesichts der überwältigenden Geltung des Axioms von der ‚Nachahmung der Natur‘ aufgeboten“. 92 Als „terminus a quo“ für die zu skizzierende Entwicklung wählt Blumenberg mit dem „Idiota in den drei Dialogen des Nikolaus von Cues aus dem Jahre 1450“ „eine Figur ausgeprägter Frühreife“. Aufschlussreich ist die Figur des Löffelschnitzers aus dem zweiten Kapitel des Dialoges De mente, dessen Kunstbegriff Nachahmung ist, „aber nicht Nachahmung der Natur, sondern Nachahmung der ars infinita Gottes selbst, und zwar insofern diese originär, urzeugend, schöpferisch ist, nicht aber insofern sie faktisch diese Welt geschaffen hat“. 93 Den entscheidenden Schritt in der „Geschichte der Zersetzung und Entwurzelung der MimesisIdee“ sieht Blumenberg nicht als einen „Vorgang des Aufbrechens innerer Widersprüchlichkeit“, sondern als „Prozeß, der durch neue, äußere, nämlich theologische Ideen inaugiriert wurde“. 94 Zentral ist dabei die Idee des göttlichen Willens, die zuerst nicht im Widerspruch steht zu den antiken Mimesisvorstellungen: Die beiden Elemente, die sich als konstitutiv für die Mimesis-Vorstellung herausgeschält haben – exemplarische Verbindlichkeit und essentielle Vollständigkeit der Natur –, scheinen sich zunächst sehr wohl mit dem Schöpfungsbegriff zu vertragen. Ja, man muß sagen, daß die Verbindlichkeit der gegebenen Natur durch den Gedanken, in ihr manifestiere sich der Wille des Schöpfers, verstärkt worden ist [. . . ]. Und zunächst wird gar nicht gesehen, daß diese Begründung der Verbindlichkeit auf einen 90 91 92 93 94

B, Nachahmung der Natur, S. 56. Ebd. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58f. Ebd., S. 77.

326

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Willensakt doch die Notwendigkeit der gegebenen Welt als der erschöpfenden Realisierung des Möglichen in Frage stellt; so muß Tertullian [. . . ] die göttliche Willensäußerung im natürlichen Sachverhalt so formulieren, daß Gott eben das Nichtgewollte nicht geschaffen habe und daß er das Nichtgeschaffene nicht wolle. Aber was ist dieses Nichtgewollt–Nichtgeschaffene? Eine in der Natur nicht vertretene Seinsmöglichkeit? Diese zwingende Konsequenz ist noch nicht ausdenkbar: sie impliziert die Faktizität und Unvollständigkeit der Natur, einen Spielraum des Möglichen für das „Künstliche“. 95

Blumenberg betont, dass der entscheidende Schritt, die Verbindung der Begriffe der Allmacht und des Unendlichen, bei Augustinus noch nicht vollzogen sei; es sei demnach falsch, „das christliche, aus dem Schöpfungsbegriff gespeiste neue Seinsverständnis sei zum erstenmal von Augustinus geschlossen expliziert worden“. Vielmehr bleibe „er auf dem Boden der antiken Kongruenz von Sein und Natur stehen“. 96 Die Verbindung beider Begriffe veranschlagt Blumenberg im 11. Jahrhundert; 97 ab dieser Zeit werde „die potentia Gottes als potentia infinita gesehen“, sodass „das possibile nicht mehr von der potentia [. . . ] her, sondern umgekehrt die potentia vom possibile her zu definieren“ sei. 98 Im Mittelalter wird die Verbindung allein auf Gott bezogen: „[A]lle spekulative Kühnheit wird daran gewendet, den Möglichkeiten Gottes, nicht denen des Menschen, bis zum äußersten nachzugehen“. Die Betrachtung desjenigen Motivs, dessen es noch bedarf, „damit der Mensch die theologisch entdeckte Inkongruenz von Sein und Natur für sich als Möglichkeit schöpferischer Originalität erkennen und ergreifen konnte“, 99 führt Blumenberg über Thomas von Aquin, Bonaventura, Nikolaus von Cues oder Luther 100 hin zu Leibniz, Oskar Walzel, Johann Jakob Breitinger oder Johann Jakob Bodmer. 101 Sie können als Möglichkeitshorizont für die anschließenden Betrachtungen des 1314 fertiggestellten WvÖ gelten. In dem Moment, in dem der Mensch die Potenzialität des Möglichen für sich erkennt und in Anspruch nimmt, 102 kann die Idee einer anderen, zweiten Schöpfung entstehen. 103 In Konkurrenz zur bloßen Möglichkeit der perfectio superaddita tritt die Idee eines originären Schöpfungsgedankens, den „[a]uf der technischen 95 96 97 98 99 100 101 102 103

Ebd., S. 77f. Ebd., S. 78f. Vgl. ebd., S. 83. Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 84–87. Vgl. ebd., S. 89–91. Vgl. ebd., S. 56. Vgl. hierzu Z (2011), S. 11–14; H, Herbert (1982): Die andere Schöpfung. Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung. Mit einem Vorwort von Heinz Streicher und einer notwendigen Nachbemerkung des Autors.

N  „W  Ö“

327

und anwendungsbezogenen Seite [. . . ] die Künstleringenieure der Renaissance besonders in Italien“ dokumentieren. 104 Dabei kommt es nicht zu einem Bruch mit der Allmacht Gottes, es wird keine Konkurrenz zu Gott angestrebt. Die Ingenieure der Renaissance „glauben bereits an die Möglichkeiten der Technik. Diese Möglichkeit bedarf freilich einer Vermittlung mit der göttlichen Instanz. Alle technischen Errungenschaften dienen [. . . ] letztlich der Ehre Gottes“. 105 In den folgenden Abschnitten sollen die vorgestellten Überlegungen zum Naturverständnis und dessen Veränderungen als Verstehenshorizont für das Naturverständnis im WvÖ dienen.

3.2 Natur im „Wilhelm von Österreich“ Zunächst soll ein Überblick über die Verwendung des Begriffes natur im WvÖ gegeben werden, um sich der Frage zu nähern, welches Naturverständnis im WvÖ auszumachen ist. Nicht nur wird im WvÖ der Begriff natur wie noch bei Wolfram oder Hartmann nicht vermieden, 106 er ist mit 44 Nennungen 107 sogar recht häufig. Das Bedeutungsspektrum von natur, das etwa bei Gottfried noch eingeschränkt ist, 108 ist im WvÖ groß. Neben beiden Seiten der Dichotomie natura naturata und natura naturans, Letztere in Verbindung mit der Minne auch als geschlechtliche Liebe, wird natur auch in Oppositon gestellt zu künstlich Erschaffenem 109 und ewig Göttlichem. 110 Die Natur als Personifikation, der neben einer allgemeinen Schaffenskraft auch die Potenz zugesprochen wird, beim Dichten helfen zu können, wurde wie auch der geschlechtliche Aspekt der Natur bereits in den Darstellungs-

104 105 106 107

108 109 110

Frankfurt am Main: Umschau; H, Werner Georg (1978): Die andere Schöpfung. Technik. Ein Schicksal von Mensch und Erde. Stuttgart: Urachhaus. R (2002), S. 42. Ebd., S. 44. Vgl. S (1961), S. 109 f. Vgl. WvÖ, V. 2, 23, 31, 44, 602, 632, 635, 1100, 1620, 1625, 1630, 1638, 1643, 1661, 1666, 1668, 1682, 1684, 1686, 1689, 1816, 1822, 1837, 1884, 1893, 1909, 3186, 3260, 3298, 3500, 3992, 4012, 4047, 5378, 5921, 10.774, 11.478, 11.958, 12.332, 12.863, 13.800, 13.928, 14.305, 15.606. Vgl. F (2003), S. 72. So heißt es vom Salamander, er sei „natue rlich kalt“ (vgl. WvÖ, V. 4012), oder es ist von einem „natue rlich“ roten Mund die Rede (vgl. WvÖ, V. 10.774). In einem der Gebete an die Trinität unterscheidet der Erzähler in das „ewig“ Wesen des Gott-Vaters und das „natue rlich wesen“ des Gott-Sohnes (vgl. WvÖ, V. 14.305).

328

N

punkten 1.2.3 111 und 1.4 112 behandelt. Im Folgenden soll kurz auf das Verständnis der natura naturata eingegangen werden. Auffällig ist, dass der Begriff natur in dieser Bedeutung oft in Zusammenhang verwendet wird mit einem Possessivpronomen (vgl. WvÖ, V. 635, 3186, 3260, 3992, 5921, 11.958, 13.928). Es ist demnach eine dem einzelnen Wesen spezifische Natur gemeint, die in der Nachfolge von Avicenna von der natura universalis unterschiedene „‚natura particularis‘, die den einzelnen Körper der sublunaren Welt innewohnt und die deren Prozeß der spezifischen Verwirklichung und Vervollkommnung in Übereinstimmung mit der universalen N[atur] regelt“. 113 Freilich wird, was in den oben genannten Kapiteln und Abschnitten bereits angeklungen ist, in den Apostrophen des Erzählers an die personifizierte Natur neben dem Konzept der natura naturans das der natura universalis mitgedacht. Die natura particularis im WvÖ wird indes in verschiedenen Bedeutungsnuancen verwandt. Bezogen auf Menschen und menschenähnliche Figuren kennzeichnet natur die Abstammung und ist demnach feudal konnotiert, etwa wenn der Aventue re Hauptmann ankündigt, „min natur und minen namen / mache ich dir alhie bekant“ (WvÖ, V. 3260 f.) oder Joraffin vor der Helmprobe Ryals anerkennt, dass dieser „edel [. . . ] / und von natur wol geborn“ (WvÖ, V. 4046f.) ist. Doch nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände und Stoffe haben eine ihnen eigene natur: das chocksilber im Prolog (vgl. WvÖ, V. 31, 44) oder das ebenus des Schildes der Rüstung, die Ryal im Feuergebirge erwirbt (vgl. WvÖ, V. 3992). Schwietering beobachtet, dass Wolfram art statt natiure setzt und dass bei Gottfried natiure und art variieren oder zumindest in Beziehung zueinander stehen. 114 Diese Engführung der Begriffe spiegelt sich auch im WvÖ wider, freilich allein in Bezug auf natur im Sinne von natura naturata oder natura particularis. Einmal werden beide Begriffe in der Formulierung „naturlicher art“ direkt kombiniert (WvÖ, V. 12.863). 115 Schon im Prolog wechseln beide Termini und scheinen synonym gebraucht zu werden, wenn einmal von der „natur“ (WvÖ, V. 23), direkt im Anschluss von der „art“ (WvÖ, V. 25) des chocksilbers die Rede ist. In Bezug auf die Stoffeigenschaften der Metalle wird noch ein weiteres Mal von „art“ (vgl. WvÖ, V. 35), zweimal von „natur“ (vgl. WvÖ, V. 31, 44) gesprochen. Die Variation zeigt sich auch im Dialog von Aventue re Hauptmann und Ryal. Wie oben erwähnt, spricht der Aventue re Hauptmann von seiner „natur“ (vgl. WvÖ, V. 31856, 3260, 3298), gibt aber an, er sei

111 112 113 114 115

Vgl. S. 95ff. Vgl. S. 109ff. Maierù: Natur. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 447. Vgl. S (1961), S. 115. Vgl. hierzu die von S (1961) genannte Formulierung genatûrter art in der von ihm so genannten von Gottfried abhängigen Dichtung (S. 115).

N  „W  Ö“

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der „art sanguineus“ (vgl. WvÖ, V. 3310); Ryal fragt nach seiner „art“ (vgl. WvÖ, V. 3239). Wie der Begriff der natur ist auch die art im WvÖ feudal konnotiert. Sechs juncherrelin sind von „hoher art“ (vgl. WvÖ, V. 225), wiederholt wird art durch Adjektive näher bestimmt; es kann dabei auf Menschen oder Gegenstände rekurrieren: Es wird unter anderem von „kue nclich“ (vgl. WvÖ, V. 5543, 6443, 9204, 10.916, 16.445, 16.918), „wiplich“ (vgl. WvÖ, V. 8650, 15.052, 15.092, 19.074) oder „menschlich art“ (vgl. WvÖ, V. 14.400, 18.310) gesprochen. Der Begriff der Natur ist im WvÖ, anders noch als im Œuvre Wolframs, nicht problematisch. Ob und inwiefern damit die Spannungen fruchtbar gemacht werden, von denen die Forschung glaubt, dass Wolfram sie durch die Vermeidung des Begriffes umgehen wollte, soll in den folgenden Darstellungspunkten untersucht werden, in denen Spezifika des Naturverständnisses im WvÖ an verschiedenen Kontexten dargestellt werden. Zunächst soll auf der Grundlage einer Analyse der Verwendung des Verbs wirken gezeigt werden, dass die Konzepte von Gott, Natur, Dichter und Handwerker einander angenähert werden. Die Wirkmöglichkeiten des Menschen werden an Passagen untersucht, in denen die Natur nachgeahmt und in denen in die bestehende natura naturata eingegriffen wird. Anhand von Wundern werden dann die Grenzen des Irdisch-Natürlichen in den Blick genommen, um anschließend zu zeigen, dass ebenjene Grenzbereiche zu einem Raum werden, in dem künstliche Welten technisch erschaffen werden.

3.2.1 Gott – Natur – Dichter – Handwerker Im Darstellungspunkt 2.2.1 116 wurde gezeigt, dass auf der einen Seite Metaphern aus dem Bereich des Transzendenten verwendet werden für den Bereich des Immanenten, zum anderen Metaphorik, mit der zunächst Irdisches ausgedrückt wird, verwendet wird für die übertragene Darstellung von Transzendentem. Darüber hinaus wird ebendiese, die Grenze von Immanenz und Transzendenz überschreitende Metaphorik poetologisch verwandt. Im Kontext der Frage nach den Wirkmöglichkeiten des Menschen in Analogie zu Gott und personifizierter Natur lassen sich solche Transfers und Transformationen an der Verwendung des Verbs wirken skizzieren. Wie im Folgenden gezeigt wird, fallen im WvÖ die Vorstellungen von deus creator, poeta creator, homo creator und personifizierter Natur zusammen, insofern mit diesem Verb und von ihm abgeleiteten Formen die Tätigkeiten von Gott, personifizierter Natur, Handwerker und Dichter bezeichnet werden. Da die Bedeutung des mittelhochdeutschen Verbs wirken in Deckung zu bringen ist mit

116 Vgl. S. 220ff.

330

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der Bedeutung des lateinischen Verbs creare, 117 berührt der Darstellungspunkt den Kern dieser Arbeit. Die Tätigkeiten von Handwerkern werden mit dem Verb wirken beschrieben. So ist der Cupido-Helm „geworht maisterliche“ (WvÖ, V. 3910), ein „adamas [. . . ] was [. . . ] zu ainem D gewirket“ (WvÖ, 3967 ff.), oder ein harnasch ist „gewuerket“ (WvÖ, V. 12.654 f.). 118 In ähnlicher Wendung heißt es bezogen auf die feuerspeienden Drachen, dass „der tiuvel schuof geworht das werch / durch sinen sun Merlinen“ (WvÖ,V. 11.878 f.). In der gängigen Analogie von Dichter und Handwerker 119 benennt der Erzähler sein eigenes Schaffen mit dem nämlichen Verb: „da ich wirke / inn soelhe lere“ (WvÖ, V. 13.216ff.). Wie in Abschnitt 3.1 120 dargestellt, ist die Vorstellung Gottes als Handwerker (Demiurg) in der platonischen Tradition präsent. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch Gott wirket : in dirr unmaygen zyrkel wirkstu groe zziu wunder in luft, in wazzer, under erd und ob der erden. (WvÖ, V. 16.486–16.489) Wundrer aller wunder! waz din gewalt besunder hat gewue rket loe blich!

(WvÖ, V. 17.209–17.211)

Anders als Gott, dessen Schaffen nicht weiter konkretisiert wird, erschafft die personifizierte Natur konkrete Dinge der sublunaren Welt. Um die Vorzüglichkeit der Stadt Solia auszudrücken, berichtet der Erzähler, dass „die vier qualitates / wue rkent dinne alles des / varwe verwet pluo men bluo t“ (WvÖ, V. 15.271–15.273). 121 Auch wird das bilde Aglyens zurückgeführt auf die Personifikationen von Wunsch und Natur. der Wunsch und diu Natur gewtue rket hant so meisterlich sin werdes bilde [. . . ]

(WvÖ, V. 602–604)

117 Vgl. H, Barbara (1989): Literaturgeschichtsschreibung im höfischen Roman. Die Beschreibung von Enites Pferd und Sattelzeug im „Erec“ Hartmanns von Aue. In: Matzel et al. (Hrsg.): FS Herbert Kolb. Bern [u. a.]: Lang, S. 202–219, hier S. 212 sowie H (2013), S. 96. 118 Weitere Belege sind WvÖ, V. 5916 f., 10.916 f., 12.643, 13.807. 119 O (1995), (2000). 120 Vgl. S. 310ff. 121 Man kann davon ausgehen, dass die vier qualitates als Instanzen der Natur gelten.

N  „W  Ö“

331

Die Analogie der Schaffensprozesse von Natur und Künstler, deren Spannung im Darstellungspunkt 3.1 122 anhand der Begriffe artificialia und naturalia behandelt wurde, wird wenig später insofern problematisiert, als die Maler am Hofe Österreichs nicht in der Lage sind, ein adäquates Bild zu malen (vgl. WvÖ, V. 734ff.). Weniger wird dadurch jedoch die Schaffenskraft des Menschen in Frage gestellt, als vielmehr die des Malers. Anders als er nämlich vermag der Erzähler Aglye zu beschreiben. 123 Die Hierarchie von Gott und natura naturans wird indes neben der gegebenen Analogie gewahrt, wenn der Erzähler in einem Gebet benennt, was „diu natur gewue rket hat / von diner [Gottes] meisterschefte“ (WvÖ, V. 1100f.). Auch zeigt sich, dass Gottes wirken sich substanziell von dem wirken der Personifikationen und des Erzählers unterscheidet. Er wird als „ain ewig wirkel“ (WvÖ, V. 11.592) – ähnlich formuliert Eckhart die Zeitlosigkeit der göttlichen Schöpfung 124 – oder als „erster sach wirkel“ (WvÖ, V. 16.485) – Hervorbringer der ersten Sache: creator ex nihilo – apostrophiert. Im WvÖ werden also verschiedene Gottesbilder aktualisiert. Der Dichter im WvÖ, so kann man wohl festhalten, hat im WvÖ durchaus den Status eines Schöpfers, eines creator. Wenn er auch sein Wirken wiederholt in einer gewissen Analogie zu Gott darstellt, ist er aber eben nicht wie Gott ein creator ex nihilo. Das Selbstverständnis des Dichters geht zwar zurück auf die Vorstellung der Imago Dei, aber die absolute Differenz ist berücksichtigt. Man kann ihm eine partielle Analogie zugestehen, er mag ein secundus Deus sein, aber die Betonung muss auf secundus liegen. Gott wird nicht erreicht, sehr wohl aber überragt der Erzähler die anderen Instanzen. Er nimmt für sich eine Sonderstellung vor anderen Menschen, ja wohl auch vor anderen Künstlern 125 in Anspruch. Sein Status entspricht wohl in etwa dem, was ihm auch bei Landino zugestanden wird: „The central idea [. . . ] is the parallel between the poet and God as Creators. True, the poet does not create ex nihilo, but Landino elevates him over all other men, so that he comes near to being a sort of semidivinity“ 126, womöglich vermag der Dichter eine creatio „nearly out of nothing“ 127 zu vollbringen. Dabei tritt er nicht in Konkurrenz

122 Vgl. S. 310ff. 123 Vgl. etwa auch den Vergleich von Dichter und Maler bezüglich der descriptio des Aventue re Hauptmanns (WvÖ, V. 3142 ff.). Siehe hierzu auch S. 87 ff. und Darstellungspunkt 2.2.4, S. 261ff. dieser Arbeit. 124 „Die Schöpfung ist vor der Zeit, über der Zeit, ohne Zeit [. . . ]. Als Werk Gottes ist sie ewig, als Resultat des Schöpfungsaktes zeitlich. Gott schuf nicht in der Vorzeit, sondern er schafft immer“(L (2004), S. 320). 125 Vgl. die Ausführungen zum Paragoné-Streit, S. 338 dieser Arbeit. 126 T (1968), S. 458. 127 Ebd., S. 459.

332

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zu Gott, er rivalisiert nicht mit ihm, 128 sondern allein mit den Gott unterstellten Instanzen. Wie dies indes mit der Vorstellung der Inspiration zusammenhängt, ist im Darstellungspunkt 1.1.3 thematisiert worden. 129

3.2.2 Nachahmung der Natur: als ob es lebt Die Bewegung aus sich selbst heraus ist ein zentrales Charakteristikum von Naturdingen, die diese von Artefakten unterscheiden. 130 In dem Spannungsfeld dieser beiden Pole sind Artefakte angesiedelt, die sich bewegen können. „Bewegung schlägt die Brücke zwischen menschlichem Kunstwerk und der vom primum movens belebten Natur“. 131 Auch im WvÖ werden dem Rezipienten Kunstwerke vor Augen geführt, die so gefertigt sind, dass der Eindruck entsteht, sie lebten. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Forschung zu Prädikaten wie ad vivum, al vif oder als ob si lebten, 132 sollen im Folgenden solche Passagen in den Blick genommen werden. Im Festzelt von Kandia gibt es künstliche Vögel, die „swebten / an luft, als si lebten“ (WvÖ, V. 13.817 f.), die für den Sieger bestimmte Rüstung erhält ebenfalls dieses Prädikat. Der Helmschmuck nämlich besteht aus einem „magde bilde“ (WvÖ, V. 13.891), das „uf dem helme untz an die brust / stuo nd [. . . ] sam es lebte“ (WvÖ, V. 13.896 f.). Über der magd befindet sich der bereits themati-

128 Wie es etwa Lieberg dem jungen Goethe zugesteht. Vgl. L (1982), S. 172. 129 Vgl. S. 53ff., v. a. S. 60 ff. 130 Vgl. die Ausführungen zur Unterscheidung von Naturdingen und Artefakten im Abschnitt 3.1, S. 310ff. 131 F, Christoph (1999): reht alsam er lebte. Nachbildung als Überbietung der Natur in der Epik des Mittelalters. Anmerkungen zu Texten und zu interpretatorischen Konsequenzen. In: Robertshaw; Wolf (Hrsg.): Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Tübingen: Niemeyer, S. 53–64, hier S. 57. Im Folgenden zitiert als F (1999). 132 P, Götz (1989): Natura Pulchrior Ars? In: Willi Erzgräber (Hrsg.): Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposium des Mediävistenverbandes. Sigmaringen: Thorbecke, S. 205–219; F (1999); J, Timothy R. (1999): die vogele sam si vlügen. Topoi und Erzählmotive in der künstlerischen Darstellung der Natur. In: Robertshaw; Wolf (Hrsg.): Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Tübingen: Niemeyer, S. 41–52, im Folgenden zitiert als J (1999); N, Klaus (2003): ad vivum – al vif. Begriffs- und kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Auseinandersetzung mit der Natur in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Peter Dilg (Hrsg.): Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen; Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001. Berlin: Akademie Verlag, S. 472– 487. Im Folgenden zitiert als N (2003).

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sierte Ehrenkranz von Kandia. 133 In Richtung dieses Kranzes streckt die magd ihre Arme aus. Auch „lieblich man es sach lachen / dasz manic hertz ergufte“ (WvÖ, V. 13.908f.). 134 Wenig später wird ausgeführt, dass ebenjener Kranz mit einer Vorrichtung ausgestattet ist, die den Eindruck erweckt, die Figur könne sprechen, nicht ohne dass offengelegt wird, dass ein Mechanismus zugrunde liegt, der den einströmenden Wind nutzt (vgl. WvÖ, V. 14.009ff.). Das Wappen des Heeres aus Alexandrien zeigt einen dreiköpfigen wurm; wer ihn sieht, denkt, dass er lebt (vgl. WvÖ, V. 14.566–14.583). Das Wappentier des Königs Rangulat ist ein Leopard, der „uf dem helme sich regte / mit sprungen“ (WvÖ, V. 15.556f.), auch seinen Schild schmückt ein Leopard, der „lief als ob er lebt“ (WvÖ, V. 15.569). Über der siebten Schar weht eine Fahne, die eine Jungfrau zeigt. ir van hohe und brait ob in allen swebt: ain juncvrauwe, als si lebt, stuo nt mit ainr krone in dem vanne schone, mit armen hoch die kron si huo p

(WvÖ, V. 17.114–17.119) 135

In mittelhochdeutscher Literatur sind Schilderungen von Artefakten, die lebensnah erscheinen, so häufig, 136 dass Jackson erwägt, dass es sich dabei um Topoi handele, um „hyperbolische Formulierungen der Vorstellung, daß die Darstellung sofort das Dargestellte nahelegt“. 137 Ein kurzer Vergleich der für den WvÖ herausgestellten Beispiele mit anderen Texten des Mittelalters offenbart denn auch vielfache Parallelen. Erinnert sei grundsätzlich an die Vogeldarstellungen im Erec, etwa an Enites Sattel (vgl. Erec, V. 7645–7649) oder im Zelt in der Joie de la CurtEpisode (vgl. Erec, V. 8908–8911), das mechanische Grabmal in Flore und Blancheflur (vgl. dort V. 1950 ff.) 138, die „goldene Spielzeuglandschaft auf dem Kopf“ des Riesen Mentwin im Orendel 139 oder die Beschreibung des Vogelbaums am Hof von Priamus im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg. 140 Wie im WvÖ setzt der Wind wiederholt die mechanische Bewegung in Gang; der Urheber der Arte133 Vgl. Darstellungspunkt 2.2.4, S. 289 ff. 134 Die Verse 13.891–13.908 stehen nur in Handschrift H. 135 Interessant ist auch die recht detailliert beschriebene Herkunftsgeschichte dieser Fahne. Sie gehörte Clarti von Irland, der sie verlor. Im Heidenland hat sie der König von Zypern wiedererlangt; auch der Markgraf von Pherrer hat sie besessen (vgl. WvÖ, V. 17.122–17.134). 136 Inwiefern es dabei realhistorische Entsprechungen gegeben hat, ist umstritten. Vgl. F (1999), S. 56. 137 J (1999), S. 48. 138 Vgl. ebd., S. 48f. 139 Vgl. F (1999), S. 53. 140 Vgl. ebd., S. 59.

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fakte bleibt unbenannt 141; fast ausschließlich haben die beweglichen Kunstwerke ihren Ursprung im Orient. 142 Bis in die sprachliche Gestaltung hinein lassen sich Muster im WvÖ festmachen, die auf eine Tradition zurückblicken. Fasbender etwa beobachtet, dass es in Bezug auf bewegte Bilder im Bereich des Waffenschmucks „einen eisernen Vorrat sprachlicher Versatzstücke“ gibt, „wobei das am häufigsten verwendete der Reim leben:sweben sein dürfte“. 143 Ebendieser Reim wird im WvÖ aufgenommen (s. o.). Fragt man nach der Funktion der genannten Beschreibungen, so findet man in der älteren Forschung eine einfache Antwort: Die Kunstwerke hätten rein ornamentale Funktion; „die lineare Progression der erzählten Handlung wird durch den Einbruch einer rein vertikal ausgerichteten descriptio unterbrochen und erst im Anschluß daran fortgesetzt“. 144 Fasbender erwägt, dass die Antwort so einfach nicht zu bestimmen sei. Er räumt ein, kein Regelwerk aufstellen zu können, „anhand dessen sich eine ‚mittelalterliche Ästhetik‘ der künstlich nachgebildeten Natur und ihres Stellenwertes im erzählten Kontext entwerfen ließe“. Ebensowenig könne man sich auf die Position zurückziehen, dass „an den Schilderungen kategorisch ‚etwas dran‘ sein“ müsse. Als Mitte beider Positionen formuliert er zusammenfassend: 145 Die bildliche Darstellung des belebten Unbelebten entstammt einer Lebenswelt, innerhalb derer sie durch ihre auf den omnipotenten Herrscher als Beweger, Bändiger und Besitzer verweisende Funktion definiert ist. In dieser Funktion ließ sie sich nicht mit den Maßstäben des christlichen Kulturzusammenhanges harmonisieren, in den sie transferiert wurde. Die Darstellungen standen so mit ihrem Auftreten in der mittelalterlichen Epik in der Spannung zwischen außerliterarisch bestimmter Gebrauchsfunktion und einem relativ variablen Bewertungsspektrum. Es ist möglich, daß der vorliterarische Bedeutungszusammenhang erhalten blieb, ohne explizit oder implizit getadelt zu werden. Häufiger läßt sich allerdings eine andere, von christlichen Vorstellungen mitgeprägte Semantik herausarbeiten. Wo Herrschaft über das belebte Unbelebte nicht als Eigenanteil am Überlebenskampf sanktioniert wird, sondern im Zusammenhang von Machtanspruch und Repräsentationsgebaren erscheint, kann sie zum Prüfstein für die Adäquatheit der Selbsteinschätzung werden. 146

141 Vgl. hierzu Berninger, Christina: Mechanische Kunstwerke in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Mag.-Arbeit Göttingen 1993, S. 27; F (1999), S. 59. 142 Einzige Ausnahme im WvÖ ist die Fahne der siebten Schar, deren Herkunft nach Irland weist. 143 F (1999), S. 59 mit Verweisen auf Zingerle u. a. 144 Ebd., S. 54 mit zahlreichen Verweisen auf Belegstellen in der Sekundärliteratur. 145 Ebd., S. 64. 146 Ebd.

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Die genannten Beispiele aus dem WvÖ lassen sich klar in das skizzierte Schema verorten, handelt es sich doch fast durchweg um aus dem fremden Kulturraum stammende Objekte, die direkt oder indirekt durch christliche Kräfte erobert werden. Den Ehrenkranz von Kandia gewinnt Wildhelm, das gesamte heidnische Heer wird zuletzt von den Christen besiegt. Den Kern dieser Arbeit berührt ein anderer, abstrakterer Punkt. Die von Fasbender genannten Aspekte erweisen Objekte, die mit dem Prädikat als ob es lebt versehen sind, als fruchtbar für die Frage nach schöpferischem Bewusstsein. Grundsätzlich rekurrieren sie auf die Möglichkeit des Menschen, die strikte Trennung von Artefakt und Naturding zu überwinden. Der Diskurs, der sich an dem Prädikat als ob es lebt entzündet, ist somit grundsätzlich im WvÖ aufgenommen. Niehr untersucht diesen Aspekt der als lebendig erscheinenden Kunstobjekte. Er skizziert die Geschichte des Begriffes ad vivum. Schon in der Antike habe es die Vorstellung vom Kunstwerk gegeben, „das der Natur nicht nur nahekommt, sondern von ihr kaum noch zu unterscheiden ist“. In lateinischen und volkssprachlichen Texten des Mittelalters werde diese Vorstellung in verschiedenen Formulierungen aufgegriffen. Der Anspruch, der hinter solchen Formulierungen stehe, sei die „Ununterscheidbarkeit“ von Kunstwerk und Natur, mit der „durch ad vivum gegebenen Qualität ist demnach auch eine Situation des Paragone zwischen Natur und Kunst beschrieben“. In einem Überblick über die Verwendung des Terminus ad vivum und Varianten über mehrere Jahrhunderte hinweg macht Niehr „wenigstens ansatzweise eine Entwicklung seiner Semantik“ aus. Werde ein Kunstwerk als ad vivum bezeichnet, so werde damit „stets die Annäherung der Darstellung an den idealen Zustand der Lebendigkeit und Lebensnähe beschrieben“. Dabei sei nicht die Beziehung zum Vorbild, sondern die Wirkung auf den Betrachter entscheidend. Allein „das Geschick des Malers im Hervorrufen von Lebendigkeit steht zur Diskussion“. 147 Wenn auch der Anspruch ausgedrückt werde, dass das Kunstwerk der Natur möglichst nahekomme, so werde doch immer auch ausgedrückt, dass zwischen beiden eine Differenz bestehe. Die mit au vif und ähnlichen Begriffen behauptete Nähe des Kunstwerks zu einem Teil aus der Natur gelingt nie so weit, dass Urbild und Abbild deckungsgleich würden. Als paradigmatisch dafür konnte schon das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer gelten. Wenn die Stammeltern ad imaginem et similitudinem Gottes geschaffen worden waren (Gen 1, 26/27), dann war damit neben der Ähnlichkeit doch immer auch die Kluft zwischen dem Erzeuger und seinem Produkt ausgedrückt. Theologen des Mittelalters hatten stets auf diesem Punkt beharrt und so den Aspekt der Verschiedenheit im Wesen betont. 148

147 N (2003), S. 475 f. 148 Ebd., S. 479.

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Bezogen auf die Differenz von Natur und Kunstwerk sind zwei Aspekte entscheidend. Sprache und Bewegung zeichnen natürliche Dinge vor künstlichen Dingen aus. In dem Moment, wo auch diese beiden Aspekte künstlich herzustellen sind, wird die Grenze zwischen Naturding und Artefakt weiter aufgeweicht. Die Differenzen in der Qualität zwischen künstlichem Produkt und Werk der Natur sind aber wenigstens für den Einzelfall und partiell zu überwinden. Anders als plastische Figuren aus Stein oder Holz oder Malereien, die als statische und sprachlose nachgeahmte Natur letztlich kaum mit lebendigen Wesen konkurrieren können, gelingt es Automaten, durch ihre Beweglichkeit, aber auch durch Laute, die sie ausstoßen, zumindest ansatzweise den Kriterien eines ad vivum besser gerecht zu werden. Nicht nur in der Epik wird eine solch märchenhafte Welt nahezu perfekter zweiter Natur geschildert; vielfach findet sich all dies auch in aktuelle Realität umgesetzt. Überdeutlich ist hierbei die Parallele des Künstlers oder des Mechanikers zum göttlichen Schöpfer, denn auch sie verleihen den von ihnen fabrizierten Gebilden Leben. vif und artifice bilden häufig ein unauflösbares Begriffspaar. Ein hohes Maß an Lebendigkeit ist Ausweis besonderer künstlerischer Fähigkeit. Zugleich aber hebt ein vollkommenes vif das Erkennen des künstlerischen Charakters der Gegenstände weitgehend auf. Das Wissen um das eigentliche Wesen des Dings bleibt daher entscheidend, um seinen Wert würdigen zu können. 149

Die oben angeführten Beispiele aus dem WvÖ sind als Kunstwerke klar zu erkennen. Als Teil eines Zeltes oder von Rüstungen dienen sie der Repräsentation. Von der großen Kunstfertigkeit des jeweiligen Repräsentationsgegenstandes kann auf die Würde seines Trägers geschlossen werden. Die von Niehr angesprochenen Grenzphänomene Sprache und Bewegung sind z. T. aufgenommen. Dadurch, dass der Mechanismus dabei offengelegt wird, wird doch wieder die Differenz der Gegenstände zur Natur betont. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die genannten Gegenstände im WvÖ in der von Niehr skizzierten Spannung zu verorten sind. Auf der einen Seite wird es als Wert anerkannt, dass ein Gegenstand zu leben scheint. Auf der anderen Seite wird aber auch die Differenz dieser Gegenstände zur Natur mitgedacht. Im Laufe der Handlung werden noch weitere Kunstwerke und Automaten vorgestellt. Nur ein einziges Mal wird über die genannten Beispiele hinaus einem Gegenstand das Attribut zugesprochen, lebendig zu erscheinen. Wie im Folgenden gezeigt wird, geht der Erzähler dabei entschieden anders mit dem Prädikat als ob es lebt um. Von dem Gewölbe, in das die Thronautomatik des Virgil führt, heißt es, es sei so gefertigt, „als ob es lebt“ (WvÖ, V. 4960). Vergleicht man diese Aussage mit den oben analysierten, so fällt zunächst auf, dass hier kein Gegenstand als lebensnah bezeichnet wird, der Teil der sublunaren Welt sein könnte. Nicht 149 Ebd., S. 480.

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etwa die zuvor beschriebenen Tierdarstellungen auf dem Thron sind lebensnah, sondern die Darstellung des Firmamentes, von Sonne, Mond und Planeten, wie wenig später ausgeführt wird. Im Text ist dies singulär, und soweit ich es überblicken kann, auch in der mittelhochdeutschen Literatur. Anders als bei den oben genannten Kunstwerken wird dabei der Name des Hervorbringers genannt. Dieser Aspekt verbindet die Thronautomatik mit den negativ konnotierten Automaten Merlins. Sie haben darüber hinaus reale Auswirkungen auf den Protagonisten und sind nicht bloß schmückendes Repräsentationswerk. Auf beide Automaten wird später noch einzugehen sein. 150 Virgils Werk wird zudem in Verbindung gebracht mit nigromantie. Nicht zuletzt aufgrund der geographischen und zeitlichen Nähe lohnt ein kurzer Vergleich mit der Darstellung der goldenen Vögel in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg: sie stunden sam si kunden leben und heten wunneclichen braht. seht, also waren si gemaht von nigromantie. Priant der wandels vrie het an si koste vil geleit. (Der Trojanische Krieg, V. 17.600–17.605) 151

Fasbender konstatiert, dass dieser Abschnitt „als Topos-Montage alle genannten Aspekte“ vereinige: 152 die Quasi-Lebendigkeits-Beteuerung, den Hinweis auf das den Betrachter erfreuende Äußere und die vom Besitzer aufgewendeten Kosten. Dazwischen – mit deiktischem seht eingeführt – die angedeutete Herkunft aus der Werkstatt des Zauberers, wobei nigromantie auf wandels vrie reimt: eine irritierend harte, fast paradoxe Fügung, die für den Moment einen Zustand ambivalenter Spannung erzeugt, den erst der weitere Erzählverlauf zu konkretisieren verspricht. 153

Beim Virgil-Sessel wird wie bei den goldenen Vögeln der Hervorbringer genannt und in Verbindung gebracht mit der schwarzen Kunst. Nicht so pointiert wie bei Konrad, in der Aussage aber ebenso deutlich wird die nigromantie im WvÖ an dieser Stelle als guo ter helfer bezeichnet (vgl. WvÖ, V. 4907f.). Auf die zentrale Abweichung vom Gewöhnlichen – die Tatsache, dass nicht die sublunare Welt mit dem Prädikat als ob es lebt versehen wird – wurde oben bereits eingegangen. Bezüglich der Diskussion der Funktion des Virgil-Sessels im Handlungsrahmen sowie 150 151 152 153

Siehe Darstellungspunkt 3.2.5, S. 354 ff. Vgl. F (1999), S. 60. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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im Rahmen der Frage nach Reflexen schöpferischen Bewusstseins sei auf Darstellungspunkt 3.2.5 154 verwiesen. Den Kunstwerken, denen der Erzähler zugesteht, lebensnah gefertigt zu sein, stehen zwei bereits thematisierte Schilderungen entgegen: Die Maler am Hofe Agrants können das Wildhelm eingegebene bild 155 nicht zu Papier bringen; ein Maler könnte den Aventue re Hauptmann nicht malen. So wird en passant jener Streit der Künste thematisiert, der eine lange Tradition hat und „der unter dem Paragoné-Begriff eine bedeutsame Rolle in der Renaissance spielen sollte“. 156 In der Zusammenschau ergibt sich eine Differenzqualität zwischen Malern und Dichtern. Es wird eine Grenze für die Gestaltungsmöglichkeiten der Maler formuliert, die für den Dichter nicht gelten. Das, was Maler nicht mehr darstellen können, ist vom Schriftsteller sehr wohl noch zu leisten. 157 Das bedeutet indes nicht, dass das Schaffen des Malers als Bildspender fungieren kann für das Schaffen des Dichters, etwa wenn der Erzähler sein Werk mit dem eines Malers vergleicht (vgl. WvÖ, V. 2440ff.). 158

3.2.3 Eingriffe in die Natur In den vorangegangenen Darstellungspunkten wurden die Möglichkeiten des Menschen, schöpferisch tätig zu sein, für Dichter, Künstler allgemein und Handwerker thematisiert. Bei Thomas von Aquin ist der Mensch bloß factor und kann nur aus bereits Vorhandenem etwas herstellen, er kann allenfalls im Sinne einer perfectio superaddita tätig sein. 159 Insofern es keine eindeutige Grenze gibt, die eine perfectio superaddita von Schaffensprozessen unterscheidet, die über ein auf diese Weise theologisch legitimiertes Schaffen des Menschen hinausgehen, sind Beschreibungen von Eingriffen des Menschen und deren Bewertung aufschlussreich für die Frage nach Reflexen schöpferischen Bewusstseins. Zum einen wird dazu im Folgenden das Abrichten des Greifen, den Parklise reitet, 160 in den Blick genommen, zum 154 Siehe S. 354ff. dieser Arbeit. 155 Zu verschiedenen Bedeutungen von bilde im Kontext des Prädikats als ob es lebte vgl. etwa J (1999), S. 46. 156 P (1986), S. 61. Im deutschen Sprachraum ist in diesem Kontext natürlich auf Lessings Laokoon zu verweisen. Vgl. hierzu etwa Barner, Wilfried et al. (Hrsg.) (1987): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 5. Aufl. München: Beck, S. 235 ff. 157 In diesem Kontext ist die – bis heute unentschiedene – Frage interessant, inwiefern es die in fiktionaler Literatur beschriebenen Artefakte realhistorisch gegeben hat. Vgl. F (1990), S. 56. Da die Frage unentschieden ist, müssten Ausführungen zu diesem Punkt spekulativ bleiben. 158 Vgl. Darstellungspunkt 1.1.2, S. 41 ff. 159 Vgl. H (2006), S. 51; C (1986), S. 262. 160 Vgl. Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff.

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anderen werden die alchemistischen Prozesse untersucht, auf die im Prolog Bezug genommen wird. 161 Ausgeklammert bleiben dabei technische Konstruktionen, die im Darstellungspunkt 3.2.5 162 betrachtet werden. Das Reich Crispins ist vom Teufel von der Außenwelt abgeschnitten worden. nieman was so geswinde daz er moe ht uz dem riche komen ungevlogen, han ich vernomen. da von het diu juncvrawe wert 163 disen grifen fue r ain pfært rait: swar si in hin hiez, senfticlich er si nider liez, swenne si wolt, zu der erden.

(WvÖ, V. 10.884–10.891)

Allein also Parklise kann die sonst unüberwindliche Grenze passieren, indem sie einen Greifen gleichsam als ein Reittier nutzt und auf ihm durch die Lüfte fliegt. Der Erzähler erläutert sogleich, wie der Greif diese ihm nicht natürliche Funktion erfüllen kann: ir grifen der tiuvel vor swanc in aines grifen gestalt: er schain als ain zuhter alt, da von der grif nah im vlog; an der zuht er in betrog: er wand er het in uz gebruo t, er tet als noch manic vogel tuo t der sinem vater vliuget nach.

(WvÖ, V. 10.894–10.901)

Der Teufel als zuhter hat den Greifen erzogen, indem er ihm vortäuscht, ihn ausgebrütet zu haben. Seiner Natur folgend fliegt der Greif daher dem Teufel – der zusätzlich noch die Gestalt eines Greifen einnimmt – hinterher, so wie andere Vögel ihrem leiblichen Vater hinterherfliegen. Parklise nun vermag aufgrund ihrer herausragenden Kenntnisse auf dem Gebiet der Negromantie den Teufel zu steuern und damit indirekt auch den Greifen, auf dem sie sitzt. Swa der juncvraun hin was gach, dar hiez si vor den tiuvel varn: kainen weg getorst er sparn vor der kunst die si kunde;

161 Vgl. Darstellungspunkt 2.2.3, S. 241 ff. 162 Siehe S. 354ff. 163 Regel erwägt, eht statt het zu lesen. So tilgt man eines von zwei flektierten Verben; syntaktisch machen sie – het und rait (WvÖ, V. 10.889)– zusammen keinen Sinn.

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si was zu der selben stunde von nigromanci diu best erkant die man under dem hymel vant.

(WvÖ, V. 10.902–10.908)

Dass die Art und Weise, wie Parklise dies vermag, nicht näher erläutert wird, ist interessant, im Kontext der hier gestellten Frage aber sekundär. Zentral ist, dass der Erzähler den Eingriff des Teufels in das natürliche Verhalten des Greifen als Betrug oder Verblendung 164 an dessen zuht 165 wertet. Wie diese Wertung im Horizont der Zeit einzuschätzen ist, offenbart ein Vergleich mit den Ausführungen im Falkenbuch Friedrichs II. 166, in dem das Abrichten von Raubvögeln nicht nur beschrieben, sondern auch reflektiert wird, wie das Abrichten in Bezug auf das Verhältnis von Mensch und Natur zu bewerten ist. 167 Bekanntlich hat Friedrich II. mit dem Falkenbuch „eines der bedeutendsten naturwissenschaftlichen Werke des Mittelalters“ geschaffen, 168 das Gegenstand verschiedenster Untersuchungen geworden ist. 169 Für die hier gestellte Frage sind die Untersuchungen von Zahlten und in der Folge Menzel aufschlussreich, in denen der „Umgang mit der Natur“ 170 thematisiert wird. Zahlten nimmt in einem eigenen Unterkapitel den Menschen als Veränderer in den Blick. Friedrich nehme eine Beziehung „zwischen der Natur der Vögel – verstanden als Wesen und Eigenart – und der ‚schöpferischen Natur‘“ an. 171 Wenn nun Friedrich die „natura generans“ als Ausgangspunkt der Lebendigkeit ansieht, die als schöpferische Kraft die Glieder und die gesamten Lebewesen bildet, so muß logischerweise eine Veränderung dieser Lebewesen in einem Bereich ansetzen, der mit dieser Kraft in enger Beziehung steht oder ihr ähnlich ist. Dieses Phänomen sieht er im menschlichen Geist. Eine Einschränkung gilt jedoch: Der Geist des Menschen wirkt nicht als schöpferische Kraft, sondern nur als verändernde auf die von der Natur bereits geschaffenen Lebewesen ein. 172

164 Vgl. betriegen in: Lexer (1872 ff.), Bd. 1, Sp. 240. 165 Regel gibt richtig für diesen Vers die Bedeutung von zuht als Abstammung an. 166 Das Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. Vollständige Wiedergabe des Codex MS. Pal. Lat. 1071 „De arte venandi cum avibus“ der Bibliotheca Apostolica Vaticana. Herausgegeben und kommentiert von Carl Arnold Willemsen. Dortmund: Harrenberg 1980 (Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 152). 167 Vgl. Z (1991); M (2003). 168 Z (1991), S. 89. 169 Überblick bei M (2003), S. 342 f. 170 M (2003), S. 343. 171 Z (1991), S. 102. 172 Ebd.

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Nicht Gewalt, sondern „Einflußnahme auf die Sinne des Tieres“ ermögliche dabei eine Verhaltensänderung, die zu einer natura altera des Vogels führt. 173 Mehr als Zahlten betont Menzel, dass im Falkenbuch immer wieder darauf verwiesen werde, dass das Abrichten der Raubvögel nicht gegen deren Natur vollzogen werde. Der Hauptgedanke, der keinen echten Falkner überrascht, liegt darin, daß der Mensch sich der Jungvögel bemächtigt, sie aufzieht und sich über Pflege und Ernährung zu ihrer Bezugsperson macht. Er übernimmt für die kleinen Falken die Elternfunktion und reiht sich auf diese Weise in ihre Welt ein. [. . . ] Der Falkner muß reflektiert umsetzen, was die Falkeneltern instinktiv wissen. Durch gekonnte Pflege und Verköstigung akzeptiert der Jungfalke den Menschen langsam und kehrt, wenn er fliegen kann, zu ihm zurück. Doch dem kleinen Falken muß auch zuteil werden, was die Eltern mit ihm einüben. Der Falkner muß ihm beibringen, was natürlicherweise in ihm steckt, und zwar so, wie seine Eltern es ihm beibringen würden. [. . . ] So lernt der Jungfalke [. . . ] aus der Hand des Menschen sein natürliches Verhalten und findet adäquat zu sich selbst. 174

Wenn der Mensch zur Bezugsperson des Vogels geworden sei, jage dieser „nicht mehr nur für sich, sondern vom Menschen aus und für ihn mit“. Die Faust des Menschen, von der aus der Vogel startet und auf der er wieder landet, sei die „einzige Nuance, die der Falkner einbringt“. Dabei vollziehe sich die Natur frei, „der Mensch hat nur einen Weg gefunden teilzuhaben“. 175 Immer wieder betone Friedrich, „wie naturkonform diese Jagdart sei“, der Mensch handele dabei nicht gegen die Natur, die „Eigengesetzlichkeit der Natur wird nicht angetastet“. 176 Einen weiteren Aspekt gibt Menzel zu bedenken. Die Jagd habe, gerade in theologischen Kreisen, bis ins 12. Jahrhundert keinen guten Ruf. 177 Das Falkenbuch sei daher auch zu verstehen als eine „Antwort auf die kritische Sicht der Theologen“. 178 Vergleicht man die Erziehung der Vögel bei Friedrich und das Abrichten des Greifen im WvÖ miteinander, so zeigt sich als zentrale Gemeinsamkeit der Ersatz der Eltern. Das natürliche Verhalten, den Eltern zu folgen, wird benutzt, um das Flugtier zu steuern und einmal als Jagdhelfer, einmal als Reittier nutzen zu können. Anders als im Jagdbuch, in dem wiederholt betont wird, dass das Abrichten der Vögel den Naturgesetzen nicht widerspricht, wertet der Erzähler des WvÖ das Abrichten des Greifen als widernatürlich; die negative Konnotation wird gestützt durch den erforderlichen Einsatz von schwarzer Kunst sowie die direkte Beteiligung 173 174 175 176 177 178

Vgl. ebd., S. 103. M (2003), S. 350. Ebd., S. 351. Ebd., S. 352f. Vgl. ebd., S. 344 f. Ebd., S. 356.

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des Teufels. Ob dabei grundsätzlich das Abrichten eines Lebewesens kritisiert wird, ober aber der Einsatz von Negromantie, muss offenbleiben. Insofern Parklise im Verlauf der Handlung eine wichtige Funktion zukommt, ist ihr Verhalten ambivalent zu bewerten. Ihr Eingreifen in das Verhalten des Greifen erscheint zumindest fragwürdig. 179 Eine Grenze wird markiert, die von den Protagonisten zwar überschritten werden kann – und auch wird –, deren Überschreiten aber im Horizont des gültigen Wertesystems kritisiert wird. Einen Eingriff des Menschen in die bestehende natura naturata stellt der alchemistische Prozess der Feuervergoldung dar, auf den im Prolog Bezug genommen wird. Gold wird mit Quecksilber vermengt, sodass Goldamalgam entsteht. Dieses ist fest und silberfarben: Das Gold hat seine Farbe, das Quecksilber den typischen Aggregatzustand verloren. Initiiert durch den Goldschmied verlieren beide Metalle etwas sie Bestimmendes, etwas ihnen von der Natur Eingegebenes. Das Amalgam wird auf Silber aufgetragen und durch Erhitzen das leicht flüchtige Quecksilber entfernt, sodass allein das Gold auf dem Silber zurückbleibt. Erneut also initiiert der Mensch eine Veränderung (vgl. WvÖ, V. 1–123). Auf der einen Seite wird dieser chemische Prozess – anders als beim Abrichten des Greifen – keinesfalls negativ bewertet, er fungiert sogar als zentrale poetologische Metapher. Auf der anderen Seite wird betont, dass entscheidende Eigenschaften der Metalle verändert werden: daz rot golt man da zestunt under daz choksilber lat, da von sin ummevarn gestat, daz ez von natur pfliget; daz choksilber doch gesiget und ziuhet hin des goldes glis, daz wirt nach im silber wis; sin art im gar entwichet

(WvÖ, V. 28–35)

Das ummevarn des Quecksilbers, das es von natur pfliget, verschwindet ebenso wie die art des Goldes. Die Metalle werden, so scheint es auf den ersten Blick, substanziell verändert (erst später wird offenbar, dass Quecksilber als Katalysator fungiert). Wenn auch der Prozess als Kampf zwischen den Metallen inszeniert wird 180, so ist doch mitzudenken, dass er vom Goldschmied initiiert wird. Wie im Darstellungspunkt 2.2.3 181 bezüglich der Schwefel-Quecksilber-Theorie ausgeführt wurde, ist das zentrale Anliegen der Alchemie, die Zusammensetzung der Stoffe aus Grundelementen zu verstehen und das Wissen so anzuwenden, 179 Vgl. hierzu auch die ausführlicheren Untersuchungen zu Parklise im Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff. 180 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 2.2.3, S. 241 ff. 181 Siehe S. 241ff.

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dass bekannte Stoffe erzeugt werden können. Ideengeschichtlich wird u. a. an dieser alchemistischen ars der Übergang des rezeptiven Verhältnisses des Menschen zur Natur in ein produktives festgemacht. 182 Auf das Finden der richtigen Zusammensetzung wird im Prolog ebenfalls Bezug genommen, wenn auf das Mengenverhältnis von Gold und Quecksilber verwiesen wird (vgl. WvÖ, V. 99f. und 109f.). Ohne hier die Frage abschließend klären zu können, inwiefern das Werk der Alchemisten als perfectio superaddita oder als darüber hinausgehend angesehen wurde, sei doch auf sie verwiesen. Eine negative Bewertung der künstlich herbeigeführten Veränderung bleibt im WvÖ, wie bereits erwähnt, aus. Mit dem alchemistischen Prozess ist demnach ein Eingriff des Menschen in die bestehende natura naturata vorgestellt, der aus der Sicht des Erzählers nicht fragwürdig ist, wie es das Abrichten des Greifen ist. Womöglich ist in dieser abweichenden Bewertung eine Antwort auf die Frage zu finden, welcher Status dem Werk beizumessen ist. Nicht nur ermöglicht der Bildspender des Prologs ein dynamisches Bild von Literatur, 183 auch ist der Vergleich wörtlich zu nehmen. Die Vorstellung von Dichtung ist zu verstehen wie die Alchemie: Es kommt darauf an, die richtige Zusammensetzung zu finden; im Bild der Feuervergoldung ist somit bereits angedeutet, was Ridder den „kompilatorischen Produktionsmodus des Textes“ nennt. 184 Zuletzt spiegelt sich dieses Prinzip der Alchemie auch in der Figur des Aventue re Hauptmanns wider. Auch er verkörpert die Zusammensetzung aus Verschiedenem. Insofern mit der Alchemie eine jener artes aufgenommen ist, die im 12. Jahrhundert vermehrt auftauchen und als ein Parameter für die Veränderung des Naturverständnisses von einem rezeptiven zu einem produktiven Verhältnis des Menschen zur Natur angesehen wird, kristallisiert sich ein dynamisches Bild von Literatur heraus: Literatur als Ergebnis eines alchemiegleichen Prozesses, als ein vom Menschen initiiertes Produkt.

3.2.4 Grenzen des Irdisch-Natürlichen: wunder Die Haupthandlung des WvÖ findet in der Fremde statt, zu Beginn muss zweimal das Meer als Grenze überschritten werden. 185 Konform zur mittelalterlichen Vorstellung begegnen an den Grenzen der bekannten Welt Wunder. Diese Wun182 Vgl. K (2003), S. 41; siehe auch Abschnitt 3.1, S. 323 ff. 183 Es ist sicher kein Zufall, dass ein Bildspender aus dem Bereich der Alchemie, allgemeiner Naturkunde, diese Dynamik ausdrückt, wird doch gerade auch die Natur im ausgehenden Mittelalter dynamisiert. Vgl. hierzu A, Wolfgang (2008): Vom Erkennen zum Handeln. Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehenden Mittelalter als Voraussetzung für die Entstehung naturwissenschaftlicher Rationalität. Göttingen: V. u. R. (Religion, Theologie und Naturwissenschaft, 12). 184 R (1998), S. 288. 185 Vgl. Darstellungspunkt 2.2.2, S. 225 ff.

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der sind im Rahmen des natürlichen ordo nicht zu erklären, sie sind fassbar als „Erfahrung, die naturgesetzliche oder kulturelle Grenzen überschreitet“. 186 Wenn man in deutscher Sprache über Wunder spricht, so spricht man über eine Vielzahl von Dingen, für die etwa das Lateinische unterschiedliche Begriffe zur Verfügung stellt, wie prodigia, mirabilia oder miraculum. 187 Grundsätzlich kann man zwei große Gruppen von Wundern unterscheiden, die im Denken mittelalterlicher Menschen präsent sind. 188 Zum einen werden am Rande der bekannten Welt Wunder angenommen, etwa die Wundervölker des Ostens, besondere Tiere, wunderbare Schätze. 189 Zum andern ist die Annahme religiöser Wunder verbreitet. Für die Existenz der unbekannten, ungeheuerlichen Gestalten und Dinge am Rande der Welt hat es verschiedene Erklärungsansätze gegeben. Seit der Antike gibt es verschiedene Deformationstheorien. Aristoteles fasst „Monstrosität [. . . ] als 186 R (2003), S. 23 mit Verweis auf Jaques Le Goff (1990): Phantasie und Realität des Mittelalters. Übersetzt von Rita Höner. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 42 ff. 187 Vgl. S, Gabriela (2007): Wunder. Eine historische Einführung. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, S. 9, im Folgenden zitiert als S (2007). Darauf, dass der Begriff des miraculum schon im Mittelalter überaus komplex ist, verweist Wagner, F.: Miracula, Mirakel. In: LexMA 6 (2000), Sp. 656–659, hier S. 656. Vgl. auch S, Dietrich (1994): Das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur. Göppingen: Kümmerle; Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.) (2003): Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. 188 Diese Unterscheidung spiegelt sich auch wider im Lexikon des Mittelalters, in dem in unterschiedlichen Artikeln Wunder Christi und die Wunder des Ostens thematisiert werden. Vgl. Ochsner, Ch. (2000): Wunder, C. Ikonographie. II. Abendländisches Mittelalter. 1. Wunder Christi. In: LexMA 9 (2000), Sp. 356–358; Gosman, M. (2000): Wunder des Ostens, II. Romanische Literaturen. In: LexMA 9 (2000), Sp. 362–364; Behr, J. H. (2000): Wunder des Ostens, III. Mittelhochdeutsche Literatur. In: LexMA 9 (2000), Sp. 364 f. Dass es auf die Perspektive der Betrachtung ankommt, ob diese Trennung haltbar ist, wird im Folgenden dargelegt. 189 Vgl. Z, Katarzyna (1992): Deformatio Naturae. Die Seltsamkeiten der Natur in der spätmittelalterlichen Ikonographie. In: Speer; Zimmermann (Hrsg.): Mensch und Natur im Mittelalter (2). Berlin: de Gruyter (Miscellanea Mediaevalia, 21,2), S. 930–938, hier S. 936. Vgl. auch S, Kerstin (1999): Minne, Monster, Mutationen. Geschlechterkonstruktionen im „Alexanderroman“ Ulrichs von Etzenbach. In: Robertshaw; Wolf (Hrsg.): Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Tübingen: Niemeyer, S. 151–162; Gebhard, Gunther; Geisler, Oliver; Schröter, Steffen (Hrsg.) (2009): Von Monstern und Menschen. Bielefeld: Transcript (Kultur- und Medientheorie), darin insbesondere G (2009); Harms, Wolfgang; Jaeger, Stephan C.; in Verbindung mit Alexandra Stein (Hrsg.) (1997): Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart, Leipzig: Hirzel.; zuletzt A, Gabriela (2013): An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: WVT. Im Folgenden zitiert als A (2013).

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eine Konsequenz natürlicher Prozesse“ auf, „resultierend etwa aus dem Überfluss weiblicher Materie oder aus Problemen der Verteilung der Embryonen in den Eizellen, die besonders bei Mehrlingen vorkommen“. Hervorzuheben bleibt, dass nach Aristoteles „nichts gegen die Naturordnung erscheinen“ kann. 190 Hippokrates verweist auf die Bedeutung der weiblichen Einbildungskraft. 191 Diese Theorie findet „über die zeitlichen Grenzen des Mittelalters hinaus weitere Resonanz“. 192 Sie wird bei Hippokrates durch die Geschichte einer Frau belegt, die ein schwarzes Kind gebar, weil sie während des Geschlechtsverkehrs das Bild eines schwarzen betrachtete. Diese Frau sollte des Ehebruchs bezichtigt werden, wovor der Philosoph sie rettete. Diese Erklärung erinnert an das spätere Beispiel in Heliodors Aithipika [. . . ] (verm. 350 n. Chr.) von Persina, Königin von Äthiopien, die ein weißes Kind bekam, weil sie sich während des Beischlafs ein Bild von Andromeda mit Perseus anschaute. 193

Verbreitet sind Annahmen, dass Mischwesen eine Folge des Geschlechtsverkehrs zwischen Menschen und Tieren sind. 194 Darüber hinaus gibt es „eine Reihe von Sexualpraktiken, die gemeinhin als contra naturam 195 gelten und die Geburt monströser Sprösslinge verursachen können, wie der Inzest, der Ehebruch, die Kopulation während der Menstruation oder an christlichen Feiertagen“. 196 Im christlichen Kontext, in der Nachfolge Augustinus, herrscht die Meinung vor, dass „Gott die Gesamtheit der Welt geschaffen [hat], sodass kein Mensch, Tier oder Volk entstehen konnte, ohne zum Gottesplan zu gehören“. 197 Augustin meint, Gott habe die Monster gar als Zeichen seiner Allmacht kreiert, um die Mannigfaltigkeit und Schönheit seines Reiches zu verdeutlichen. Befreit von der Annahme des natürlichen Fehlers wird das Monster Teil des göttlichen Schöpfungsplans [. . . ]. Dass exotische Menschen als hässlich bezeichnet werden, liegt an der menschlichen Unfähigkeit, die gesamte Schönheit der Schöpfung wahrzunehmen. 198

190 191 192 193 194 195

A (2013), S. 42. Vgl. ebd., S. 43. Ebd., S. 43. Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 45. Vgl. zum Begriff auch F, Udo (2003): Contra naturam. Mittelalterliche Automatisierung im Spannungsfeld politischer, theologischer und technologischer Naturkonzepte. In: Grubmüller; Stock (Hrsg.): Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wiesbaden: Harrossowitz (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 17), S. 91–114. 196 Ebd., S. 49. 197 Ebd., S. 57.

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Isidor von Sevilla teilt diese Annahme. Die menschliche Wahrnehmung sei mangelhaft, dem Menschen sei es daher nicht möglich, „die gesamte Schönheit von Gottes Schöpfungsplan zu verstehen“. 199 „Im Allgemeinen wird seit Augustinus immer wieder behauptet, dass die Monster dazu dienen, der Welt einen ästhetischen Kontrasteffekt zu geben“. 200 Die oben vorgestellte Einteilung in Wunder Gottes und Wunder des Ostens ist unter dieser Perspektive natürlich hinfällig. Nicht nur aus Gründen der Übersichtlichkeit soll sie dennoch beibehalten werden. Auch hat es im christlichen Kontext Erklärungsansätze gegeben, die in den Völkern des Ostens eine schuldhafte Abweichung gesehen haben. Das jüdisch-christliche Mittelalter glaubte, dass der Mensch ein Ebenbild Adams sei. In einigen Erzählungen wird der gemeinsame Urvater der gesamten Menschheit als der schönste Mensch aller Zeiten porträtiert, wobei seine Kinder diese ursprüngliche Schönheit nicht geerbt hätten. Zum Teil wird die Herkunft des Hässlichen und Deformierten vom Mythos der Kainskinder abgeleitet, nach welchem der erste Mord einen Fluch auf die Erde gebracht haben soll. [. . . ] Nach der Bibel empfing Kain ein gewisses Zeichen als Strafe für die Tötung seines Bruders und wurde aus dem Paradies verbannt; dieses Zeichen wird aber in den Apokryphen zu einem physischen Makel uminterpretiert. Somit wird physische Deformation nicht nur als Konsequenz einer göttlichen Strafe, sondern auch als ein von Generation zu Generation übertragbares Schandmal dargestellt. 201

In der Wiener Genesis wird die Deformation der Wundervölker darauf zurückgeführt, dass Adams Töchter während der Schwangerschaft von Kräutern gegessen haben, die ihnen verboten waren. Bekanntlich wird diese Erklärung im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach aufgenommen, wenn von der Herkunft von Cundrie und Malcreatiure berichtet wird. 202 Auch in den Gesta Romanorum wird „die körperliche Monstrosität der exotischen Völker auf Sündhaftigkeit“ zurückgeführt. 203 Wie oben genannt, ist die Annahme religiöser Wunder verbreitet; Gott und die Heiligen vermögen Wunder zu bewirken. 204 Wie bei den Wundern des Ostens rückt auch für die religiösen Wunder das Verhältnis von Gott, Natur und Wunder als Ausnahme des natürlichen ordo wiederholt in den Horizont gelehrter Reflexion.

Ebd. mit Verweis auf De Civitate Dei 16,8. Ebd., S. 58. Ebd., S. 58. Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 62 f. „Eine weitere biblisch bezeugte Erklärung für die Entstehung von Monstrositäten bezieht sich auf den Fluch Noahs gegen seinen jüngsten Sohn Ham, der das entblößte Geschlecht seines betrunkenen Vaters verspottete“ (S. 65). 203 Ebd., S. 66. 204 Vgl. S (2007), S. 9 f. Weiterführende Literatur wird dort genannt.

198 199 200 201 202

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Dabei wird betont, dass Gott nicht im eigentlichen Sinne contra naturam handelt. Augustinus meint, daß die Naturen selbst und ihre Gesetze nach Gottes Willen geschaffen sind und daher durch ihn auch verändert werden können: „Wie es also Gott nicht unmöglich war, [Naturen] so zu bilden, wie es ihm beliebte, ist es ihm ebensowenig unmöglich, die von ihm gebildeten Naturen beliebig zu verändern“. [. . . ] [De civ. Die 21, 8, 5. MPL 31, 722.] Trotzdem kann man nicht behaupten, daß Gott in dem, was uns als Wunder erscheint, schlechthin gegen die N. (contra naturam) handle, denn das ist unmöglich, weil er damit gegen seinen eigenen Willen handeln würde; vielmehr muß man sagen, daß er darin außerhalb der gewöhnlichen Ordnung der N. (contra [auch: super, praeter] naturae usitatum cursam) handelt, also gegen eine Gesetzmäßigkeit, die nicht so konzipiert war, daß sie solche Eingriffe jemals ausgeschlossen hätte [De Gen. ad litt. 6, 13, 24. MPL 34, 349]. 205

Bonaventura glaubt, Gott könne „in den natürlichen, von ihm selbst festgesetzten Lauf der Dinge eingreifen“, und zwar „sowohl indem er contra naturam handelt, wenn er etwa der N. Ähnliches schafft, aber nicht auf natürliche Weise (tamen alio modo), als auch, indem er supra naturam handelt, wenn er etwa bewirkt, was die N. nicht bewirken kann und wozu sie nicht bestimmt ist“. 206 Thomas von Aquin meint, Gott handele, „wenn er direkt in die Regierung der Welt eingreift, nicht contra naturam, sondern allein contra solitum cursum naturae [S. Theol. III, 44, 2 ad 1; II/II 104, 4 ad 2]“. 207 Wie oben erwähnt findet Wildhelm seinen Weg in die Fremde; er wird dort mit einem wunder in Verbindung gebracht, bezeichnenderweise aus der Perspektive der Fremden. Das Verschwinden des Baumes Bethelium, auf dem Wildhelm in das Reich Agrants gelangt, bezeichnet der Marschall Wigrich wiederholt als ein wunder (vgl. WvÖ, V. 1168–1175, 1228 ff., 1308–1327). Zugleich ist der Riesenfisch das erste Wundersame, das sich dem Rezipienten zeigt und in dem sich der Übergang in das Fremde manifestiert. 208 Dort tauchen überaus viele wunder auf: In seiner Selbstallegorese bezeichnet sich der Aventue re Hauptmann selbst als wunder (vgl. WvÖ, V. 3269, 3316); in Joraffins Reich ist fast alles wundersam: das bilde des Rades der Fortuna (vgl. WvÖ, V. 3574), der goldene Vogel (vgl. WvÖ, V. 3590ff., 3642, 3646, 4306, 4335), die Minneschar (vgl. WvÖ, V. 3840ff.) und die Schatzkammer (vgl. WvÖ, V. 3901). Als Wildhelm in der Cupido-Rüstung aus der Schatzkammer kämpft, erscheint er den Menschen als wunder (vgl. WvÖ, 205 G, T.: Natur. II. Frühes Mittelalter. 1. Augustinus. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 443; vgl. auch K (2003), S. 35. 206 Maierù: Natur. III. Hochmittelalter. 1. Bonaventura. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 448. 207 Maierù: Natur. III. Hochmittelalter. 3. Thomas von Aquin. In: HWBPh, Bd. 6, Sp. 451. 208 Vgl. zu diesem Übergang Darstellungspunkt 2.2.2, S. 225 ff.

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V. 6506), auch der Schlachtlärm eines heidnischen Heeres wird als solches bezeichnet (vgl. WvÖ, V. 6480). Die Wundervölker des Ostens sind Teil der heidnischen Heere, so die Streitkräfte Senebors von Capadocia. Dieses besteht aus rysen, lue t an zungen, manigen Litschen jungen die hundes haupt do truo gen, [. . . ] die snabelohten lue te die ruch sint an der hue te als ain wilder stainbok: si gent nackent, kainen rok tragens an den liben.

(WvÖ, V. 7766–7783)

Ein weiteres Mal werden fünf dieser Völker erwähnt. Sie sind Teil des heidnischen Heeres, gegen das die Christen sich zu bewähren haben. In der ersten Schar, die von Melchinor von Baldac angeführt wird, befinden sich die Truppen König Itinorats (vgl. WvÖ, V. 16.313–16.317). der wunder ue ber wunder hat in manigem riche wilde: daz ich banier, ir schilde visiern alle scholte, wer mir des dank wolte sagen? da von ihs wil lan. so manigen wunderlichen man fuo rt der riche Itinorat, der kainr zungen hat, dar zu lue t ane haupt: swer des niht gelaubt, der lese Mappam Mundi! halp ros halp man was im auch bi, mit hundes haupten lue te groz, ir aller wer merr tail geschoz was, er fuo rt auch risen. daz wunder jenn und disen seltsæn do duht: diu welt nie beluht so manigen wunderlichen man bi ain ander als dar kan.

(WvÖ, V. 16.318–16.338)

Auch in den Bergen von Kandia weiß der Erzähler von vielen wundern zu berichten (vgl. WvÖ, V. 13.490–13.503, 13.806, 14.039, 14.044).

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Bezüglich der wunder im Reich des Joraffin sei auf die Darstellungspunkte 2.2.5 209 und 3.2.5 210 verwiesen. Aufschlussreich, und an anderer Stelle nicht behandelt, sind die Wundervölker des Ostens, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Die Menschen ohne Zunge scheinen eine Abwandlung der Astomi, Menschen ohne Mund, zu sein. Daneben werden Kranichmenschen, Acephale, Zentauren, Kynokephale und Riesen genannt. Wiederholt werden diese Kämpfer als Wunder bezeichnet, die Wahrheit des Gesagten bezeugt der Erzähler mit einem Verweis auf Mappam Mundi. 211 Auch gibt er an, dass solche Wunder sonst nicht derart komprimiert auftauchen. Weder gibt der Erzähler dabei Erklärungen zu Gründen der Existenz solcher Wundervölker, noch problematisiert er die Wundervölker im Kontext des ordo als Wesen contra naturam oder der natura turbata. Nach der zweifachen Erwähnung tauchen die Völker nicht mehr auf. Allein wird berichtet, wie Itinorat von Liupolt erschlagen wird (vgl. WvÖ, V. 17.531f.). Er gehört, und somit wahrscheinlich auch sein Heer, nicht zu denjenigen, die nach der Niederlage die Taufe erbeten haben (vgl. WvÖ, V. 18.206ff.). In der gelehrten Diskussion des Mittelalters ist der ontologische Status der hybriden Wesen erörtert worden. Interessant ist dabei v. a., ob sie christlich sein können. Der Heilige Antonius begegnet bei Gervasius von Tilbury in der Wüste einem Ziegenfüßler, der sich als Christ vorstellt; 212 der „Wunsch, exotische Menschen christlich zu bekehren, spiegelt sich auch im Glauben an das christliche Jenseitsreich des Priesterkönigs Johannes wider“. 213 Im WvÖ wird der ontologische Status der Mischwesen nicht explizit behandelt, implizit eine Christianisierung aber ausgeschlossen. Die Wundervölker nämlich tauchen nicht mehr auf. Sie scheinen in der christianisierten Welt keinen Platz zu haben. Die wunder Kandias sind vornehmlich Artefakte. Aber auch die Lage Kandias ist ein wunder: Seine Berge nämlich sind außerordentlich hoch (vgl. WvÖ, V. 13.490–13.503). Schon hier werden die Wunder in räumliche Nähe zum Göttlichen gestellt, setzt man die Vorstellung voraus, dass der Himmel räumlich über der Erde liegt. Auch die Vorstellung, dass das Paradies im Osten gelegen ist und daher Wunder vermehrt in Richtung Osten auftauchen, wird im Text aktualisiert. Der Umhang, den Crispin Wildhelm schenkt, ist aus besonderer Seide gefertigt, die von dem Tier altizar – „des hoe hsten wunders wunder“ (WvÖ, V. 12.660) – hergestellt wird. Dieses Tier gibt es in Indya, und der Erzähler betont, dass dieses 209 Siehe S. 283ff. 210 Siehe S. 360ff. 211 Belege für die aufgeführten Wunder werden auch in anderen Kontexten gegeben. Von dem oben erwähnten Rad der Fortuna versichert der Erzähler, im aventue re buo che gelesen zu haben (vgl. WvÖ, V. 3578–3581). 212 Vgl. A (2013), S. 67 f. 213 Ebd., S. 68.

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Land geographisch in der Nähe des Paradieses liegt (vgl. WvÖ, V. 12.593–12.660). So verwundert es auch nicht, dass die Idee aufgenommen wird, wunder kämen aus dem Himmelreich. Von dem Ehrenkranz in Kandia sagt der Erzähler: swer es sach, der wande niht es wær von hymelriche komen, wand man uf erde vernummen hette solicher sache

(WvÖ,V. 13.904–13.906)

Die oben angesprochene Trennung in Wunder des Ostens und Wunder Gottes ist damit nicht eindeutig. Auffällig ist, dass von Wundern Gottes explizit erst in der zweiten Hälfe des Epos die Rede ist (vgl. WvÖ, V. 10.427, 10.448, 11.595, 12.493, 13.683, 13.686, 13.690, 16.487, 17.144, 17.209, 18.173, 18.209). Immer wieder betont der Erzähler, dass Gott Wunder vollbringen kann. Ob die bisher genannten Beispiele nahelegen, Wunder im WvÖ als etwas zu begreifen, das seinen Ursprung in Gott hat und daher Teil des Heilsplanes ist, ist zwar möglich, die Tatsache, dass die Wundervölker nicht getauft werden, spricht jedoch dagegen. Auch die wunder um Parklise und ihren Greifen (vgl. WvÖ, V. 10.893, 11.000) sind ambivalent zu bewerten. 214 Als Wunder werden auch Dinge bezeichnet, die ihren Ursprung im Antagonisten Gottes, nämlich im Teufel haben und für die es daher nicht möglich ist, sie als Teil des göttlichen Heilsplans zu sehen. Crispin ist gefangen, da niemand (mit der Ausnahme Parklise) das Reich betreten oder verlassen kann. Diese vom Teufel initiierte unüberwindliche Grenze wird als ein wunder bezeichnet (vgl. WvÖ, V. 11.463); auch die Feuerdrachen und der Teufel selbst werden mit dem Begriff wunder in Verbindung gebracht (vgl. WvÖ, V. 11.863, 11.891, 11.948, 11.950, 11.1955, 12.679). 215 Wunder im WvÖ sind heterogen. Auf der einen Seite werden wunder auf Gott und sein Wirken zurückgeführt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch solche, die – vom Teufel initiiert – nicht Teil der von Gott gewollten Ordnung sind. Wunder im WvÖ sind somit nicht per se Teil dieser Ordnung, wiewohl wiederholt wundersame Dinge in Verbindung gebracht werden mit dem Himmelreich. Dass dieses Konzept des wunders bestimmend für den WvÖ ist, wird in poetologischen Passagen ausgeführt. Es wurde oben gezeigt, dass der Erzähler wunder mit schriftlichen Quellen belegt. Sie werden darüber hinaus als grundlegende Elemente des eigenen Textes dargestellt. Nicht nur verweist der Erzähler auf kommende Wunder im eigenen Text (vgl. WvÖ, V. 3584, 3588), auch erklärt er, warum es notwendig ist, Wundersames in den Text einzubauen. Im Kontext der bereits

214 Vgl. auch Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff. sowie Darstellungspunkt 3.2.3, S. 338 ff. 215 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 3.2.5, S. 360 ff.

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genannten Beschreibung des Tieres altyzar, auf das die Seide des verschenkten Mantels zurückgehen soll, fingiert der Erzähler einen Einwurf eines Rezipienten, den er sodann entkräftet: maniger spricht: ‚der noe tet sich luglicher mære!‘ des pfi! sin sol sin swære allen guo ten lue ten. die aventur true ten man muo z durch vremdiu wunder, der aventue r besunder vremdiu wunder machen. swer gern hoe rt von swachen claiden sagen, daz si! der lazze mich sagen da bi von richen, diu mir sint bekant!

(WvÖ, V. 12.630–12.641)

Es ist wohl kein Zufall, dass der fingierte Einwurf des Rezipienten bei der Beschreibung des Stoffes eines Mantels fällt. Über den Begriff des integumentum liegt es sehr nahe, hier eine poetologische Passage zu vermuten. So verwundert es denn auch nicht, dass der Erzähler seine Erwiderung mit den Worten einleitet, sin sol sin swære / allen guo ten lue ten. Das Attribut der swære wird in der Dichotomie von swachen und richen claiden aufgenommen. Es werden swache Texte den richen entgegengesetzt, deren Sinn(findung) sich durch swære auszeichnet. Diese swære wird zum einen in Verbindung gebracht mit dem Lügenvorwurf, der im Einwurf des Rezipienten ausgedrückt wird. 216 Zum anderen besteht der Unterschied zwischen swachen und richen Texten in der Einbindung vremder wunder. Dass eine mit Wundern angereicherte Erzählung rich ist, leuchtet ein. Inwiefern aber wird dadurch der sin [. . . ] swære? Man kann auf die Frage die Antwort geben, die Augustinus auf die Frage gibt, warum es in der Welt deformierte Körper und Monster gibt. Gott habe diese als „Zeichen seiner Allmacht kreiert, um die Mannigfaltigkeit und Schönheit seines Reiches zu verdeutlichen“. 217 Auf dieselbe Weise fungieren die wunder als Zeichen, die vom Rezipienten zu entschlüsseln sind. Einen Eindruck, wie dies funktionieren kann, wird im Reich des Joraffin gegeben. Dort nämlich legt Joraffin – der personifizierte muo twille – 218 Ryal den Sinn aller Gegenstände und Begebenheiten aus.

216 Vgl. zum Zusammenhang von wunder und Fiktionalität R (2003), im Kontext des Lügenvorwurfs v. a. S. 39 f. 217 A (2013), S. 57. 218 Vgl. die Ausführungen im Darstellungspunkt 2.2.5, S. 283 ff.

352

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Also schier do Joraffin Ryalen da mit worten schin getet diu wunder wunderlich

(WvÖ, V. 4379–4381)

Wunder, so die ironische Pointe, sind also nicht per se wunderlich, sondern können im Rahmen einer Auslegung dazu werden. Nun ist der WvÖ bekanntermaßen nicht der erste mittelhochdeutsche Text, in dem das Wunderbare zum Kristallisationspunkt für poetologische Überlegungen wird. Ridder hat überzeugend herausgearbeitet, dass, wenngleich das Wunderbare als eine Kategorie der Poetologie im deutschen Sprachraum erst ab dem 17. Jahrhundert begegnee, bei Chrétien, Hartmann, Wolfram und Gottfried Fiktionalität im Horizont des Wunderbaren verhandelt werde. 219 Motivische Parallelen des WvÖ zu Chrétiens und Hartmanns „Erec“ sowie zu Wolframs „Parzival“ sind besonders evident: Wie bei Chrétien ist der Ausgangspunkt der Reflexion ein Mantel, 220 mit Hartmann (Zelterbeschreibung) 221 und Wolfram (Gral) 222 ist dem WvÖ ein fingierter Hörereinwurf bei der Verhandlung des Wunderbaren gemeinsam. Anders als dort wird jedoch im WvÖ nicht ein Wettstreit fingiert, in dem verhandelt wird, wer das Wunderbare adäquater darstellen könne, sondern sogleich abgehoben auf eine zeichentheoretische Reflexion. Eine weitere Differenz ist zentral. Neben dem Wunderbaren betrachtet Ridder die Fiktionalität der von ihm untersuchten Texte auch im Horizont des Vollkommenen. Für den Kontext meines Ansatzes ist die Erkenntnis erhellend, dass „das literarische Werk als Ganzes (in einem weiteren Sinn auch die literarische Tradition) der neue Bezugspunkt des Wunderbaren“ ist. „Das Werkganze vermag die Defizienz des Textes gegenüber dem Wunderbaren auszugleichen und auch ‚Vollkommenheit‘ herzustellen. Man nimmt das Wunderbar-Vollkommene daher zum Anlass, Prinzipien des Erzählens mit Blick auf das Werkganze zu reflektieren“. 223 Haupt untersucht die Mantelund Zepterbeschreibung bei Chrétien und die Zelterbeschreibung bei Hartmann und macht Parallelen von meisterschaft des Dichters und Gottes meisterschaft aus. Ausgehend von der Beobachtung, dass Chrétien in der Forschung immer wieder ein Schöpfer genannt werde, fragt sie, „ob sich dies mit der Selbstauffassung des Dichters des 12. Jahrhunderts vereinbaren läßt“. 224 Die Beschreibung des Zepters in Chrétiens Erec et Enide enthalte Anspielungen auf die Genesis, es biete ein „Bild 219 Vgl. R (2003), zur Kategorie der Poetologie S. 23. 220 Vgl. zum Krönungsmantel bei Chrétien R (2003), S. 26–29, siehe auch H (2013), S. 85 ff. 221 Vgl. R (2003), S. 29–33, siehe auch H (2013), S. 92 ff. 222 Vgl. hierzu R (2003), S. 33–36. 223 R (2003), S. 41. 224 H (2013), S. 83.

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der paradiesischen Schöpfung, und dies steht wiederum – mittels der Vierzahl – in Relation zu der von Gott geschaffenen Schöpfungsordnung, die der Krönungsmantel repräsentiert“. 225 Wenn auch die poetologische Reflexion bei Chrétien nicht explizit ausgesprochen werde, habe sie Eingang gefunden in Hartmanns Text. 226 Auch dort werde „das bildnerisch-künstlerische Schaffen auf den Schöpfungsakt zurück[bezogen]“. 227 Haupt kommt zu dem Schluss, dass sich bei Chrétien wie bei Hartmann ein „Grundgedanke“ finde: 228 die Analogie von sprachlichem Bildkunstwerk und dem göttlichen Schöpfungswerk. Diese Analogie wird bei beiden Dichtern nicht expressis verbis formuliert, aber sie enthüllt sich durch den Akt der Gestaltung. Die meisterschaft des Dichters ist der meisterschaft des Schöpfergottes vergleichbar. 229

Im WvÖ wird auf dem Mantel, an dessen Beschreibung sich die Reflexion über den poetologischen Status des Wunderbaren entzündet, kein Welt- oder Werkganzes präsentiert. Bezieht man als weitere poetologische Passage die Gestaltung des Aventue re Hauptmanns sowie die zeichentheoretischen Reflexionen anhand der Selbstallegoresen mit in die Betrachtung ein, so wird ein Grund dafür plausibel: Die von Ridder herausgestellte und von Haupt implizierte Vollkommenheit ist nicht mehr Teil des Horizontes, vor dem das Fiktionale, oder anders: das spezifisch Literarische verhandelt wird. Wie in Kapitel 2 230 gezeigt wurde, haben neue Prinzipien Einzug erhalten: Vieldeutigkeit, Polysemie, Offenheit des Werks, Willkürlichkeit der Auslegung. Wie die im WvÖ als wunder bezeichneten Entitäten zu deuten sind, wurde oben skizziert. Ein besonderer Fall tritt ein, wenn es sich bei den auszulegenden Entitäten um künstliche Artefakte handelt. Die Potenzialität des Fiktionalen, das den Grenzbereichen des Bekannten innewohnt, wird in Verbindung mit technischen Artefakten fruchtbar gemacht. Sie sollen im folgenden Darstellungspunkt in den Blick genommen werden.

225 226 227 228 229 230

Ebd., S. 92. Vgl. ebd. Ebd., S. 95. Ebd., S. 98. Ebd. Siehe S. 160ff.

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3.2.5 Künstliche Welten am Rande des Bekannten Wie gezeigt, tauchen Wunder am Rande des Bekannten auf: Wundervölker, der Riesenfisch Cetus, der Aventue re Hauptmann. Dass es solche Wunder gibt, ist im mittelalterlichen Denkhorizont unbestritten. Allein die Erklärungsversuche ihrer Existenz weichen voneinander ab. Interessant im Kontext der Frage nach Reflexen schöpferischen Bewusstseins sind als Wunder bezeichnete Artefakte, deren Urheber benannt werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Raum des Unbekannten zum Raum wird, in dem durch Technik eigene Welten erschaffen werden. Dabei entstehen, freilich vom Erzähler unterschiedlich gewertet, im Thronautomaten Virgils ein künstlicher Himmel, im Gebirge um Belgagan eine künstliche Hölle. Weil die sich entwickelnde Liebe zwischen Ryal und Aglye den Plänen Agrants und Walwans entgegensteht, wird Ryal ausgesendet, um König Melchinor von Marroch wider zu sagen. Es ist allgemein bekannt, dass jeder Bote, der eine solche Nachricht an den Hof des Königs bringt, getötet wird, Ryal erfährt davon spätestens von der Jungfrau, die er befreit (vgl. WvÖ, V. 4844ff.), aber auch die Worte, mit denen Walwan ihn entsendet, deuten voraus, dass er sterben soll (vgl. WvÖ, V. 3072f.). Auf dem Weg von dem Ort, an dem er die Jungfrau befreit hat, zum Hofe Melchinors nach Aurimunt, bereit seinen Eid Walwan gegenüber zu erfüllen und zu sterben (vgl. WvÖ, V. 4864–4879), passieren Ryal und der Bracke nachts einen von Virgilius geschaffenen Automaten, der vom Erzähler dezidiert beschrieben wird. [. . . ] do het gemaht vor langer zit Virgilius ain werk mit richer kunst alsus, da was guo ter helfer bi diu kunst nigromanci, ane die moht ez niht ergan.

(WvÖ, V. 4904–4909)

Ohne Umschweife wird das Werk Virgils als ein Werk der Negromantie vorgestellt, 231 das ohne diese Kunst nicht hätte entstehen können. Umgeben von einer Art locus amoenus – ein kühler Brunnen, eine große Linde, die weite Schatten wirft, wohlschmeckende Kräuter im Gegensatz zur wilde, aus der Ryal kommt (vgl.

231 Vgl. auch Z (2011), S. 246, der darauf hinweist, dass bei aller Ähnlichkeit dieser Punkt im Gegensatz steht zur kosmologischen Darstellung im Gralstempel des „Jüngeren Titurel“, der „christlich-religiöse Bezüge aufweist und im Rahmen des Sakralbaus auf die göttliche Schöpfungsordnung verweist“.

N  „W  Ö“

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WvÖ, V. 4910–4931) – 232 hat Virgil ein gestue l entworfen, das die Linde umgibt (vgl. WvÖ, V. 4934 f.). ez was, als uns diu rede hie sait mit ir lere, gegozzen uz ere mit manigem wæhen bilde. tier und vogel wilde ergraben waren sæhe in daz gestue l wæhe, ouch was ez kostlich vergult

(WvÖ, V. 4936–4943)

Inmitten des Gestühls, am Stamm der Linde, befindet sich ein sezzel, der aus Kaukasischem Gold besteht und dessen Schmuck so reich ist, dass der Erzähler vorgibt, davon nicht innerhalb einer Woche berichten zu können (vgl. WvÖ, V. 4950– 4956). Über diesem sezzel swebt ein „gewelbe / gelich als ob ez lebt, / daz man da niender hab sach“ (WvÖ, V. 4959 ff.), 233 im gewelbe hängt ein Horn (vgl. WvÖ, V. 4962f.). Davon, wie das gewelbe schweben kann, möchte der Erzähler nicht berichten, wohl aber, dass es sich bei dem vorgestellten Werk Virgils um eine Tugendprobe handelt. Setzt sich ein vollkommen tugendreicher Mann auf den Stuhl, so wird er durch die linden este hinauf in den künstlichen Himmel befördert, den der Erzähler genau zu beschreiben weiß: da zunten inne sunn und man, Mars und Mercurius, Jovis und Venus, Saturnus der planet auch do geschoe net hat daz gewelbe wunnesam. daz gestirne fue r sich bran die naht in schoe nem glast, des tages lieht es last nach der aventue r sage.

(WvÖ, V. 4992–5001)

Ryal nimmt die Kunst des Gestühls wahr und beschließt, in der Nacht über einen möglichen Ausweg nachzudenken, die Nacht an Ort und Stelle zu verbringen und erst am nächsten Morgen die Nachricht zu überbringen (vgl. WvÖ, V. 5003– 5035). Um auszuruhen, setzt er sich auf den Stuhl. Vom Rezipienten, der um die Tugend des Helden weiß, vollkommen erwartbar, wird Ryal sogleich in den künstlichen Himmel katapultiert 234 (vgl. WvÖ, V. 5043). Er ist darüber recht erstaunt: 232 Vgl. Z (2011), S. 246. 233 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 3.2.2, S. 332 ff. 234 Diese passende Wortwahl bei Z (2011), S. 247.

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zu im selben er do sprach: ‚wa von mag diu genade sin daz du sue nder on allen pin scholt zu hymelriche komen? ich wont daz mir hie benomen daz leben schoe lte werden: nu wil ich mich von der erden mit Gotes helfe ziehen, so daz ich mue ge enpfliehen des kue nges gewalt.‘

(WvÖ, V. 5044–5053)

Ryal also glaubt sich im Himmelreich, er denkt, er sei aufgrund einer ihm unbekannten Gnade ohne Schmerz in den Himmel gekommen und damit dem drohenden Tod durch die Hand des Königs entkommen. Das von Virgil erschaffene Firmament stellt sich – jedenfalls aus Sicht Ryals – so dar, als sei es das wirkliche Firmament; in Verbindung mit der vertikalen Bewegung ist es für ihn plausibel, in den Himmel aufgefahren zu sein. Zimmermann hat auf die „komischen Züge“ der „Erhebung durch die Sesselautomatik“ 235 verwiesen. Diese werden umso deutlicher, wenn man in Rechnung stellt, dass Ryal sich in der Tat auf einem „Himmelfahrtskommando“ befindet. Spannungsreich stehen in der Einschätzung Ryals der Glaube, im Himmel zu sein, und die Erleichterung, dem König entkommen zu sein, zusammen. Er also denkt, er sei im Himmel, ohne gestorben zu sein. Die Nähe des Gewölbes zur Wirklichkeit, die der Erzähler bereits konstatiert hatte, als er feststellte, es sei als ez lebte, 236 wird betont und vom Erzähler erneut aufgenommen, wenn er berichtet, dass sich Ryal „vil richer wunne“ gegenübersieht, die derart ist, „als er wær in dem hymelrich“ – lediglich die Tatsache, alleine zu sein, stehe diesem Eindruck entgegen (WvÖ, V. 5054–5058). In der Forschung sind verschiedene Aspekte der Thronautomatenepisode betont worden. Ridder sieht in ihr die Bestätigung von Wildhelms Vollkommenheit, die er bereits in der Helmprobe im Feuergebirge unter Beweis gestellt hatte. 237 Neben der Betonung der Vollkommenheit Wildhelms lenkt Speckenbach den Blick darauf, dass der Thronautomat samt Umgebung einen Mikrokosmos darstelle. Die Erde wird durch den Quell, die Pflanzen und das Rund versinnbildlicht, das von dem Gestühl begrenzt wird und mit (vierfüßigen) Tieren und Vögeln geschmückt ist. Wie der Weltenbaum ragt die Linde bis ins Gewölbe, das den gestirnten Himmel darstellt. Zugleich sind Pflanzen und Tiere auch nach einem symbolischen Schema 235 Z (2011), S. 247. 236 Vgl. hierzu Darstellungspunkt 3.2.2, S. 332 ff. 237 Vgl. R (1998), S. 96.

N  „W  Ö“

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ein Hinweis auf das Element Erde, der Quell und die Vögel deuten auf Wasser und Luft und die brennenden Sterne [V. 4998 f.] auf Feuer. Damit wären wie in geläufigen Darstellungen durch Bild und Wort die vier den ganzen Kosmos aufbauenden Elemente versinnbildlicht. 238

Zimmermann stellt fest, dass „Wilhelms ‚Himmelfahrt‘ [. . . ] als ein erzähltechnisches Element auf der Histoire-Ebene [versinnbildlicht], dass dem Protagonisten in der Welt des Textes eine besondere, herausgehobene Stellung zukommt“. 239 Darüber hinaus macht er auf eine zentrale Spannung der Episode aufmerksam, die im Kontext der Frage nach der Möglichkeit menschlichen Schöpfertums von Interesse ist. Auf der einen Seite verweist er auf die Diskrepanz des Automaten im WvÖ zur Kuppelautomatik im „Jüngeren Titurel“. Während diese „christlich-religiöse Bezüge“ aufweise und „im Rahmen des Sakralbaus auf die göttliche Schöpfungsordnung“ verweise, werde im WvÖ die „künstliche Imitation des Himmelsgewölbes als ein Werk von Nigromantie“ vorgestellt, dessen Urheber Virgil ist, „der sich mit seiner künstlichen Nachbildung des Kosmos gar als ein Schöpfergott betätigt und in seinem artifiziellen Entwurf Natur domestiziert“. Auf der anderen Seite würden aber auch beim Thronautomaten „religiöse Züge“ anklingen. So obliege „es dem vorbildlichen christlichen Ritter, sich mit Gottes Beistand [. . . ] der Herausforderung durch das technische Zauberwerk zu stellen und die damit verbundene Aventiure, die Probe der Tugendhaftigkeit und Makellosigkeit, erfolgreich zu meistern“. 240 Neben dem „dominant ästhetischen Charakter[ ]“ weise der Sesselautomat, den Zimmermann als „eine eigenständige Gestaltung des Autors“ wertet, „gleichzeitig instrumentelle Züge“ auf. 241 Maksymiuk, Ernst und Dietl 242 betrachten den Thronautomaten im Kontext von Magie und Zauber und erhellen 238 239 240 241 242

S (2003), S. 254. Z (2011), S. 248. Ebd., S. 248f. Ebd., S. 249. M, Stephan (1996): The court magician in medieval German romance. Bern [u. a.]: Lang (Mikrokosmos, 44), im Folgenden zitiert als M (1996); E, Ulrich (2003): Zauber – Technik – Imagination. Zur Darstellung von Automaten in der Erzählliteratur des Mittelalters. In: Grubmüller; Stock (Hrsg.): Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wiesbaden: Harrossowitz (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 17), S. 115–172 (im Folgenden zitiert als E (2003); D, Cora (2010): Ein Hof ohne Magier – Makel oder Auszeichnung? Zur (beinahe) fehlenden Merlingestalt in der deutschen Artusliteratur. In: Matthias Däumer et al. (Hrsg.): Artushof und Artusliteratur. Berlin: de Gruyter (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft, Sektion Deutschland, Österreich, 7), S. 93–118, im Folgenden zitiert als D (2010); zu Vergil siehe auch Worstbrock: Vergil. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 247–284; Flaschenecker, H (2003): Automaten und lebende Bilder in der höfischen Kultur des Spätmittelalters. In: Grubmüller; Stock (Hrsg.): Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters

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die Figur Virgils als Zauberer. Maksymiuk konstatiert, dass Magie im WvÖ „is not only associated with knowlegde in general, but particularly with the science of engineering“. 243 Der Erzähler betone dabei „the craft and workmanship that went into its construction (4936–43)“; 244 neben der Exemplifizierung der großen Kunstfertigkeit Virgils würden die Planeten dabei auch auf die Tatsache verweisen, dass „magical operations were dependent on the position of the stars and planets“. 245 Dietl vergleicht die Figuren Virgil und Daidalos mit der des Merlin im WvÖ und kommt zu dem Schluss, dass Erstere im Gegensatz zu Merlin positiv erscheinen; „Merlin und mit ihm der negative, minnefeindliche Zauber des Teufelssohns wird überwunden, während der positive Zauber im Hintergrund präsent bleibt“. 246 Virgils Firmament ist so realitätsnah gefertigt, dass ihm erstens der Erzähler das für Gegenstände außerhalb der sublunaren Welt seltsam anmutende Prädikat als ob es lebt verleiht. Zweitens glaubt Ryal zweifelsohne, in den Himmel gekommen zu sein, ohne zu sterben. Virgil ist in der Lage, ein Firmament zu erschaffen, das subjektiv von dem von Gott geschaffenen nicht zu unterscheiden ist. Von Seiten des Erzählers wird dabei nicht problematisiert, dass das Werk nur mit Hilfe der Negromantie erschaffen werden konnte. Virgils Können hebt die Potenzialität menschlichen Schöpfertums auf eine Ebene, die über das bloße Nachahmen der (sublunaren) Natur hinausgeht. Es wird die Perspektive eröffnet, dass menschliches Schöpfertum partiell die Grenze von Diesseits und Jenseits überwinden kann. Dass es ausgerechnet Virgil ist, der aus der Sicht Ryals den widernatürlichen Übertritt in den Himmel ermöglicht, ohne zu sterben, kann motiviert sein von der Figur Virgils als Zauberer. Womöglich kann aber auch eine motivische Parallele zur Unterweltfahrt Dantes veranschlagt werden, in der Vergil den Protagonisten durch die Unterwelt führt. Während hier der Dichter Vergil selbst als Führer fungiert, der den Übertritt ermöglicht, ermöglicht sie dort der Automat des negromantiekundigen Ingenieurs Virgil. Der Fiktionalitätscharakter der Überschreitungen wird dabei verschieden vermittelt. Während Dante seinem Werk den Charakter eines Traumes gibt, wird dem Rezipienten der fiktive Charakter der Himmelsfahrt sofort offenbar. Zu betonen bleibt, dass sich dies für Ryal anders darstellt. Er glaubt sich im Himmel.

243 244 245 246

und der Frühen Neuzeit. Wiesbaden: Harrossowitz (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 17), S. 173–195, hier S. 178. M (1996), S. 157. Ebd. Ebd., S. 158. D (2010), S. 115.

N  „W  Ö“

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Vor dem Hintergrund der Reflexion von Schöpfertum wird verständlich, warum die folgende Formulierung, in der vom Tagesanbruch berichtet wird, einen Verweis auf den schepfer enthält: nach der red unlange luht des tage sternes glast durch die grawen wolken vast, als in hiez sin schepfer

(WvÖ, V. 5080–5083)

Der Morgenstern (oder die Sonne) des realen Firmamentes wird dem künstlichen Firmament entgegengesetzt, damit zugleich eine Analogie von Virgil und Schöpfergott ausgedrückt. 247 Auch Virgil erhält den Status eines Schöpfers, wie Zimmermann richtig feststellt. Neben der Tradition, Virgil als Zauberer zu sehen, 248 ist dabei auch in Rechnung zu stellen, dass Virgil ein bekannter Dichter ist. Indem so auch auf die literarische Tradition verwiesen wird, wird die Idee des Schöpfers auch hier auf die Schaffenskraft des Dichters bezogen. Dass Virgil – im Gegensatz zu Merlin – in diesem Kontext positiv beurteilt wird, verwundert umso weniger. 249 Im Anschluss wird noch einmal betont, dass Ryal glaubt, im Himmel zu sein, und zwar wenn er das Horn bläst. Was zunächst als Trotzreaktion auf das Ertönen der anderen Hörner vorgestellt wird, deutet Ryal als Bewährung vor Gott. er sprach: ‚hat ieder man ein horn, so wirt auch talanc hie verborn, mag ich, ditz horn ich schelle! ich denk daz man welle fue r Got hie die sele laden: ez kom ze frumen oder ze schaden, ez wirt auch hie min hue rnen kunt.‘

(WvÖ, V. 5094–5097)

Er scheint zu glauben, in einer Art Fegefeuer zu sein oder kurz vor der Himmelspforte und sich vor dem Eintritt ins Paradies bewähren zu müssen. Der Ton, den Ryal erzeugt, indem er in das Horn bläst, bringt indes die Handlung wieder in Gang. Melchinor wird durch den Ton geweckt, lässt Ryal von dem Stuhl mittels

247 Am Rande sei darauf verwiesen, dass die Verse stark an die erste Strophe von Wolframs Sîne klâwen erinnern, umso mehr, als die folgenden Verse von wahtern handeln. 248 Vgl. die oben skizzierten Thesen von Maksymiuk, Ernst und Dietl. 249 Für den Hinweis, die literarische Tradition hierbei nicht außer Acht zu lassen, danke ich Florian Führen.

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einer Leiter befreien und verschont ihn, als er die Botschaft überbringt, aufgrund der bestandenen Tugendprobe. 250 Nachdem Wildhelm von Parklise gerettet worden ist, führt sie ihn zu dem Gebirge, das Crispins Reich von der Außenwelt abschneidet. In diesem Gebirge muss sich der Protagonist vier Herausforderungen stellen (vgl. WvÖ, V. 11.681– 12.381). 251 Erstens herrscht im Gebirge ein ungeheurer Sturm (vgl. WvÖ, V. 11.683–11.711), zweitens kämpft er gegen ein Ungeheuer mit Stierkopf (vgl. WvÖ, V. 11.712–11.815), drittens gibt es im Gebirge zwei feuerspeiende eherne Drachen (vgl. WvÖ, V. 11.865 ff.) und viertens muss er im Kampf gegen Merlin, den Herren des Gebirges und Erschaffer der übrigen Herausforderungen, bestehen (vgl. WvÖ, V. 11.921–12.183). Der erste Eindruck, den Wildhelm und mit ihm der Rezipient von dem Gebirge gewinnt, ist der Sturm: dar inne sich ain wint erhuo p, der traip den groe sten unfuo g den ie man uf der erden hie hat gesehen, merket wie!

(WvÖ, V. 11.683–11.686)

Das Ausmaß des Sturmes ist gewaltiger als alles, was auf der Erde bekannt ist. Mit der ersten Beschreibung spricht der Erzähler eine erste, negative Wertung aus, wenn er den Sturm als „den grœsten unfuo g“ bezeichnet. In der folgenden sprachlichen Umschreibung werden verschiedene Naturphänomene kombiniert: er suset und lundert reht als er hagel dunrt.

(WvÖ, V. 11.687 f.)

250 Wie außergewöhnlich der Entschluss des Königs ist, Ryal zu verschonen, wird vor der Thronsesselepisode vorbereitet, wenn von der geplanten List König Darius´ berichtet wird. Dieser nämlich sendet als Botin eine schöne Jungfrau aus, um wider zu sagen, in der Hoffnung, dass der König von Marroch diese verschonen würde (vgl. WvÖ, V. 4496–4515). Die List schlägt fehl, und Melchinor befiehlt, die Jungfrau zu töten (vgl. WvÖ, V. 4532 ff.). In der Zeit, in der die Henker darüber verhandeln, auf welche Weise sie die Jungfrau töten sollen (vgl. WvÖ, V. 4566–4581) und in der die Jungfrau ein letztes Gebet spricht, das ihr erlaubt wird (vgl. WvÖ, V. 4627 ff.), reitet Ryal herbei und befreit sie (vgl. WvÖ, V. 4755– 4819). Ryal also erfährt durch Melchinor eine Behandlung, die er sogar einer Jungfrau verwehrt. Der Status der Tugendprobe und damit die Tugendhaftigkeit Ryals wird erneut hervorgehoben. Es sei auf zwei Motivparallelen verwiesen: Auch als Wildhelm getötet werden soll, greift Parklise in der Zeit ein, in der die Henker darüber beraten, wie Wildhelm zu töten sei. Eine weniger deutliche Parallele besteht im Motiv „Mahmet“; hier wird er angerufen, Parklise fingiert, in seinem Namen zu handeln. 251 Es sei darauf verwiesen, dass in der bisherigen Forschung bisweilen diese Trennung nicht erkannt wird, sondern es in den Darstellungen zu Vermischungen kommt.

N  „W  Ö“

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Der Sturm ist nicht fassbar durch herkömmliche Beschreibungsmuster, sondern nur als Kombination von Hagel und Donner. Er bewirkt, dass dem Eindringling Felsen entgegengeschleudert werden (vgl. WvÖ, V. 11.691ff.) und er ist so gewaltig, dass sogar aufgewirbeltes Wasser „snait reht als ain scharsach“ (WvÖ, V. 11.702ff.). Die Rüstung, so berichtet der Erzähler, hat nie mehr aushalten müssen (WvÖ, V. 11.696–11.701), und Wildhelm „was entwichen nah sin kraft“ (WvÖ, V. 11.706). Ohne dass er sich von dem Sturm erholen kann – es ist davon auszugehen, dass der Sturm auch während des folgenden Kampfes präsent bleibt –, wird Wildhelm sodann von einem Ungeheuer angerannt, der „ungehiurst creatue r / die ich von kainr sinn stue r / ie hort genennen“ (WvÖ, V. 11.713–11.715). Dieses ist ähnlich hybrid gestaltet wie der Aventue re Hauptmann, ein Vergleich der ersten Attribute macht sogleich einen zentralen Unterschied deutlich. Während das Ungeheuer mit dem Superlativ beschrieben wird (ungehiurst), hatte es vom Aventue re Hauptmann geheißen, er sei von „ungehue ren gestalt, der doch gehue re was“ (WvÖ, V. 3136f.); wie ungehue r das Stierwesen ist, wird immer wieder aktualisiert. Anders als der Aventue re Hauptmann kann der Erzähler keinen Deutungshorizont nennen, in dem das Ungeheuer zu deuten wäre (vgl. WvÖ, V. 11.714f.). 252 Die zentrale Frage, die Ryal dem Aventue re Hauptmann stellt, nämlich ob er menschlich sei, muss in Bezug auf das Stierungeheuer denn auch unbeantwortet bleiben: er kund auch niht erkennen weder ez wær mensch oder tier.

(WvÖ, V. 11.716 f.)

Nach dieser einleitenden Einordnung des Ungeheuers erfolgt die descriptio: vornan waz ez ain stier und lief uf zwelf fue zzen, sin ungehiures grue zzen dem armen da was wilde. ez truo g ains menschen bilde obn uf dem rugk, do was daz zagel stugk der ungehurste wurm.

(WvÖ, V. 11.718–11.725)

Dietl stellt fest, dass die „Erscheinungen [. . . ] in der Belgagan-Aventiure [. . . ] nicht mehr allegorisch gedeutet“ werden und „ihre z. T. wunderliche Gestalt [. . . ] keine bedeutunge“ mehr hat. 253 Dies gilt auch für das Stierungeheuer. Die einzelnen Attribute des „ungehiur unfuo g“ (WvÖ, V. 11.771) werden nicht etwa ausgelegt, wie 252 Vgl. zur Deutbarkeit der Belgaganepisode allgemein D (1993), S. 179 und D (1999), S. 116f. 253 D (1993), S. 179.

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beim Aventue re Hauptmann, sondern sie haben Angriffs- und Verteidigungsfunktion für den konkreten Kampf: ez fuo rt ain clammen sines herren Merlines, da mit er vil pines manigem het gestellet. [. . . ] der munt im hinder diu orn gie; der hut in do ummevie, was dicker denne drei schuhe. diu horn ungefue ge warn stark an der groe zze, da mit ez sin stoe zze nam an den kue nen jungen.

(WvÖ, V. 11.730–11.741)

Alles ist ohne Maß: der Mund, der bis hinter die Ohren reicht, die Haut, die dick ist wie drei Schuhe und die überaus großen Hörner (ungefue ge). Mit diesen Hörnern sticht das Ungeheuer Wildhelm nieder (vgl. WvÖ, V. 11.744–11.746), ehe es „ros und man in sinen giel / vazt“ (WvÖ, V. 11.748f.) – die erwähnte maßlose Größe des Mundes ermöglicht dies. Der Erzähler erwähnt die Gefahr, die von der ebenfalls beschriebenen Waffe des Ungeheuers – clammen (WvÖ, V. 11.730) bzw. zange (WvÖ, V. 11.758 ff.) – ausgeht, und erläutert dann die Schwachstelle des Stierungeheuers, die Wildhelm ausnutzt: die slege er vast mangt gæn dem menslichen bilde, zejungst er ez erzilde daz er im daz haupt abswanc.

(WvÖ, V. 11.782–11.785)

Nicht besiegt, aber in eine Verteidigungsposition gezwungen, springt das Ungeheuer in das nahegelegene Moos; das Pferd hat es noch immer in seinem Maul gefangen. Mit einer letzten Kampfanstrengung erreicht Wildhelm, dass es das Pferd freigibt (vgl. WvÖ, V. 11.786–11.795), und tötet das Ungeheuer, indem er „den stier in den giel“ sticht (WvÖ, V. 11.797). Zuletzt resümiert der Erzähler den Kampf und betont, dass neben dem Stieranteil auch Menschen- und Drachenanteil des Ungeheuers tot sind: do des menschen bilde gelac, der zagel nimer strites pflac den do truo g der tiuvel groz, doch het er von im manigen stoz enpfangen hert uf sinen schilt. des wart daz grue senlich wilt von im do gar zerstucket.

(WvÖ, V. 11.801–11.807)

N  „W  Ö“

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An dieser Stelle wird das Ungeheuer zum ersten Mal als tiuvel bezeichnet. Die Nähe des Gebirges zur Hölle wird schon zuvor deutlich gemacht. Der Drachenschwanz des Ungeheuers deutet auf die Hölle hin, „steht doch der Drache als eine ‚Inkarnation des Bösen in der Welt‘ nicht zuletzt in der christlichen Symbolik für eine wilde Tierhaftigkeit, die das Teuflische schlechthin verkörpert“. 254 Auch das Feuer als Signum der Bedrohung, assoziiert mit der Hölle, wird bereits in der descriptio des Stierungeheuers aktualisiert, insofern „dem antlue tz [. . . ] in dem giele [. . . ] / rot und swartz flammen“ brennen (WvÖ, V. 11.728f.). Diese Flammen sind eher eine Drohgebärde denn reale Gefahr; sie werden nicht direkt als Waffe eingesetzt. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Situation, in der das Ungeheuer Reiter und Pferd in das Maul nimmt, so offenbart sich eine Parallele zum folgenden Kampf mit Merlin: So wie Wildhelm in die Flammen geworfen wird, bedrohen auch das Pferd Flammen. In beiden Fällen muss Hilfe von außen kommen: Das Pferd wird von Wildhelm gerettet, dieser später von Gaylet. Neben weiteren Parallelen soll im Folgenden gezeigt werden, dass sich das Gebirge von Belgagan als eine künstliche Hölle erweist. Nachdem Wildhelm sein Pferd aus dem Moos gezogen hat, reitet er weiter in das Innere des Gebirges und entdeckt „hellen / ain viur vor der vest“ (WvÖ, V. 11.844f.). Weithin sichtbar ist dieses Feuer ein Vorbote des bevorstehenden Kampfes, so wie der Wind Vorbote des ersten Kampfes war. Wie schon beim Stierungeheuer angedeutet (vgl. WvÖ, V. 11.714 f.), stellt der Erzähler im Vorhinein fest, dass die im Epos bis dahin vorgestellten Deutungsschemata an dieser Stelle nicht greifen: er kund, noch enwest, niht wizzen waz ez maint.

(WvÖ, V. 11.856 f.)

Anders als beim Avenue re Hauptmann und im Reich des Joraffin steht niemand zur Verfügung, der Wildhelm Auskunft geben könnte. Die einzige Möglichkeit, dahinter zu kommen, „waz ez maint“, ist, das Feuer zu „besehen“ (WvÖ, V. 11.849). Zusammen mit dem Protagonisten entdeckt der Rezipient Windmühlen und Feuerdrachen: wintmue ln vier stuo nden uf der ecken, gæn des windes strecken 254 Z (2011), S. 44 bezogen auf die Feuerdrachen; mit Verweisen auf M C, Winder (1999): Mythos Drache. In: Müller; Wunderlich (Hrsg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Mittelalter-Mythen. Bd. 2. St. Gallen: UVK, 171–185, hier S. 174 (direktes Zitat) und B, Hans (1998): Knaurs Lexikon der Symbole. München: Droemer Knaur, S. 97.

364

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sah man si laufen snelle: uz mangem wilden velle si blasbalge triben, grozzer roe ren siben giengen von ieglichen, von listen wunderlichen warn do gegozzen, und wær ez niht verdrozzen, ich sagt iu wunder da von: in sie gie maniges luftes don.

(WvÖ, V. 11.852–11.864)

Die vier Windmühlen haben die Forschung, sofern sie dort überhaupt Erwähnung gefunden haben, vor Probleme gestellt. Sie sind unter Anführung der Verse 11.852–11.964 als „Lärmmaschinen“ gedeutet worden. 255 Dies ist nur erklärbar, wenn man don in Vers 11.864 als Ton übersetzt. 256 Es findet sich ansonsten keine Bemerkung zur etwaigen Akustik der Windmühlen. Viel naheliegender ist es, und Regel gibt dies in seinen Anmerkungen an, don als Spannung oder Strom 257 zu übersetzen: Durch die Röhren strömt Luft. Worin liegt dann die Funktion der Windmühlen? Zunächst ist die Funktion der Windmühlen herkömmlich: An exponierter Stelle stehen sie im Luftstrom und drehen sich im Wind (vgl. WvÖ, V. 11.852– 11.855). Sie treiben aber nicht etwa einen Mühlstein an, sondern stehen in Verbindung mit Blasebälgen. Was dabei was antreibt, ist verschieden interpretiert worden. Während Dietl meint, die Windmühlen würden „künstlich, wider die Natur durch Blasebälge angetrieben“, 258 und Ernst „von Blasebälgen betriebene Windmühlen“ 259 ausmacht, spricht Zimmermann von Windmühlen, „die Blasebälge antreiben“ 260. Grammatikalisch sind beide Möglichkeiten richtig. 261 Auch das beschriebene Rohrsystem gibt keine weiteren Auskünfte über die Richtung des Luftstromes; allein wird festgestellt, dass durch sie Luft strömt. 262 Nur Vers 11.854 gibt eine Angabe zur Richtung des Windes, der ja von Anfang an im Gebirge prä255 Vgl. E (2003), S. 144; Z (2011), S. 45 mit Verweis auf W, Lynn (1968): Die mittelalterliche Technik und der Wandel der Gesellschaft. München: Moos, S. 76. 256 Wie dôn, stm. in Lexer (18.72 ff.), Bd. 1, Sp. 446 f. 257 Vgl. L (1872 ff.), Bd. 1, Sp. 446, don im Gegensatz zu dôn ist stf. Grammatikalisch ist kein Hinweis auf das Genus des Nomens gegeben, maniges ist als Genitiv wie luftes flektiert. 258 D (1999), S. 116. 259 E (2003), S. 144. 260 Z (2011), S. 45. 261 Sowohl das Pronomen sie als auch blasbalge können Nominativ, und damit Subjekt, und Akkustativ Plural, und damit Objekt, sein. 262 Bemerkenswert ist die Antithese von wunder und verdrozzen.

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sent ist. Wenn die Windmühlen gæn des windes strecken laufen, werden sie von diesem Wind angetrieben und treiben ihrerseits die Blasebälge an. 263 In der direkten Folge berichtet der Erzähler von den beiden feuerspeienden Drachen. Diese sind sturmresistent (vgl. WvÖ, V. 11.866 f.), aus nicht schmelzendem Metall gefertigt (vgl. WvÖ, V. 11.871–11.873); der „groz [. . . ] unfuo g“ (WvÖ, V. 11.875) besteht darin, dass ieglichem uz dem munde sluo g ain viur gelich alsam ain berch

(WvÖ, V. 11.876 f.)

Nimmt man an, dass die Blasebälge die Windmühlen antreiben, so ist eine Erklärung für den Sturm im Gebirge gegeben. Schon die erste Herausforderung, der sich Wildhelm stellen muss, nämlich der Sturm, wäre ebenfalls von Merlin durch Technik hervorgerufen. Geht man davon aus, dass die Windmühlen die Blasebälge antreiben, liegt die Funktion der Blasebälge darin, das große Feuer anzufachen, wie dies etwa im Bereich der Schmiedekunst bekannt war und ist. Die Konstruktion aus Windmühlen, Blasebälgen und Rohrsystem kanalisiert den Sturm im Gebirge und macht ihn für die enorm großen Feuer nutzbar. Dem Rezipienten bleibt damit, anders als dem Protagonisten, „der Mechanismus der beiden Feuer speienden Drachen“ nicht vollends verborgen. 264 In der Szene ist zwischen Figurenperspektive und Perspektive des Erzählers zu trennen. Um die Gefahr des Feuers und dessen Größe zu steigern, berichtet der Erzähler, dass Wildhelm das Feuer zwar sieht, nicht jedoch weiß, „war uz die flammen sluo gen“ (WvÖ, V. 11.885–11.887); er sieht, als er sich entschlossen hat, in das Feuer zu reiten, „die grozen wue rme glue n“ (WvÖ, V. 11.896 f.). Dem entgegengesetzt weiß der Erzähler und mit ihm der Rezipient, dass die Flammen aus den Mündern der Drachen schlagen, und kennt darüber hinaus weitere Details der dahinter liegenden Konstruktion. Erinnert sei daran, dass diese Trennung der Perspektiven sich auch während Wildhelms Aufenthalt im Virigl-Stuhl als relevant herausgestellt hat. 265 Das Feuer, mit dem die Drachen den einzigen Weg in Crispins Reich versperren, 266 ist eine Steigerung des Sturmes; durch die von Merlin installierte technische Konstruktion wird Sturm in 263 Würden sie von den Blasebälgen angetrieben, wäre eine Erklärung für den Wind, gegen den sich Wildhelm zunächst stemmen muss, gegeben. Dieser hätte seinen Ursprung in den Blasebälgen. Wodurch diese angetrieben würden, wäre indes nicht geklärt. 264 Wie Z (2011), S. 45 behauptet. 265 Vgl. Darstellungspunkt 3.2.5, S. 354 ff. Dieser Aspekt wurde generell auch in Kapitel 1, S. 32ff. gezeigt. 266 Vgl. zur militärtaktischen Stellung der Drachen Z (2011), S. 43 f.: „Merlin hat sie in seinem Machtbereich an einer strategisch günstigen Stelle am Wegesrand einer wichtigen Straße als Wächterfiguren beziehungsweise Kampfautomaten platziert“. Die Abwehrautomaten nähmen dabei „eine strategische Stellung im Machtbereich des dämonischen Herrschers ein und erfüllen mit ihrem instrumentellen Charakter zuvorderst militärische

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Feuer gewandelt. Auf welche Weise dies geschieht, bleibt unklar, 267 der Erschaffer der Feuerdrachen wird hingegen benannt. der tiuvel schuo f geworht daz werch durch sinen sun Merlinen

(WvÖ, V. 11.878 f.)

Merlin 268,

der schon als Herr des Stierungeheuers vorgestellt worden war, hat die Drachen im Auftrage des Teufels, seines Vaters, konstruiert. Zimmermann stellt richtig heraus, dass sich der „dämonische Charakter“ der Feuerdrachen dadurch noch verstärke, dass sie, „die wilde Tierhaftigkeit der Natur imitierend, künstlich geschaffene Produkte des Teuflischen sind und damit eine Herausforderung der göttlichen Ordnung darstellen“. 269 Über die Nachahmung der Natur hinaus vermag die Konstruktion ein Feuer hervorzubringen, das über die Ausmaße natürlichen Feuers hinausgeht. Die Natur wird demnach gesteigert. Mit Hilfe seiner Ingenieurskunst hat Merlin eine künstliche Hölle geschaffen. Während sich Wildhelm mit seinem feuerfesten Schild gegen die Flammen vorarbeitet, greift ihn Merlin selbst an. Wie der Sturm beim Angriff des Stierungeheuers bleibt das Feuer während des Kampfes präsent (vgl. WvÖ, V. 11.896ff.). Auch Merlin selbst wird mit dem Superlativ beschrieben, der Erzähler nennt ihn den „ungehue rsten grozzen / den man uf erden ie gesach“ (WvÖ, V. 11.922f.), ihn kennzeichnet „tiuvelliches husen“ (WvÖ, V. 11.928), seine Waffen sind wie die Waffen des Stierdrachen unhöfisch, 270 ja, an „Merlin ist alles schlecht“. 271 Sein „grozze[r] / slegel“, dessen Stil „zwelf clafter lanc“ ist, besteht aus dem Knochen eines „contanil“, über den „schuo pellen [. . . ] / [. . . ]von marinen“ ausgebreitet sind (WvÖ, V. 11.930–11.944). Die Oberfläche der Keule ist gadert und gehue rnet. sin lip der was bedue rnet mit ainer hut, diu ist scharpf

(WvÖ, V. 11.945–11.947)

Sein Waffenrock besteht aus der undurchdringlichen Haut eines „fortaspinaht“, die, wird das Tier angegriffen, Dornen ausfährt. Der Erzähler betont, dass die-

267 268

269 270 271

Aufgaben bei der Verteidigung des Herrschaftsgebietes. Dabei agieren die Drachen offensiv und haben ihre vorrangige Bestimmung als Kampfmaschinen darin, potenzielle Feinde abzuwehren“. Insofern ist Z (2011), S. 45 Recht zu geben. Zur Tradition der Merlin-Gestalt und zu den markanten Abweichungen von dieser Tradition im WvÖ vgl. M (1996); D (2010); Z (2011), S. 44; Lundt, B (1991): Melusine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher Existenz im Beziehungs-Diskurs der Geschlechter; ein Beitrag zur historischen Erzählforschung. München: Fink, S. 331–341. Im Folgenden zitiert als L (1991). Z (2011), S. 44 f. Vgl. hierzu D (2010), S. 114. L (1991), S. 334.

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ses Tier „nieman kain lait“ antut, „ez werde denne erzue rnet“, Merlin mit dieser Haut im Gegensatz dazu jedoch manchen Menschen tötet 272 (WvÖ, V. 11.953– 11.971). Arme und Beine Merlins sind „dick und kurtz“ (WvÖ, V. 11.973), sein Gesicht ist „me braiter denne ain wanne, / noch swertzer denne ain pfanne / was sin varwe“ (WvÖ, V. 11.976–11.978). Geschützt wird sein Kopf von einem Helm, „der was fue r alliu waffen guo t / gemachet uz metalli“ (WvÖ, V. 11.986f.), 273 einem überaus harten Stoff, der im Meeresboden nahe der Insel Drivallis zu finden ist (vgl. WvÖ, V. 11.989–12.006), wie „diu buo ch sagent“ (WvÖ, V. 11.988). Merlins Bewaffnung stammt sämtlich von Meerestieren, 274 deren wundersame Existenz an naturkundlichen Quellen (Socrates, Avicenna; buo ch) belegt wird. 275 Die ungewöhnliche Präsenz der Meereswesen in Merlins künstlicher Hölle hat Lundt als eine Umdeutung Merlins „traditionell nahe[n] Bindung an die Tierwelt des Waldes“ gelesen. Auch hier herrsche Merlin „über die Natur, ist ein Teil von ihr. Die Distanz aber zu ihr, die die spannungsvollen Möglichkeiten des Ringens um Zugehörigkeit und Nähe erst zuläßt, fehlt“. Er habe „Merkmale der Meereswesen übernommen“, dabei wandele sich die „Tierhaut einer friedlichen Kreatur [. . . ] an seinem Körper und bestärkt seine grauenerregende Bestialität“. 276 Es kann m. E. noch deutlicher betont werden, dass Merlin die natura naturata missbraucht und zweckentfremdet und damit Gottes Schöpfung pervertiert. Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle, dass mit dem Motiv der wunderbaren Meereswesen ein gängiges Motiv mittelhochdeutscher Literatur aufgenommen ist. Es ist wohl Konsens, dass die Aufforderung des Erzählers im Erec an den Rezipienten, die von ihm benannten Wunder des Meeres selbst zu schauen (vgl. Erec, V. 7623– 7934), als Fiktionalitätssignal zu lesen ist. 277 Wenn der Erzähler des WvÖ Merlin mit solchen Wundern ausstattet, so ist das auch vor dem Hintergrund dieses Fiktionalitätssignals zu lesen; dieser Merlin wird als (fiktives) Produkt des Erzählers vorgestellt. Die Zweckfremdheit der Rüstungsteile wird dadurch betont, dass die Konstituenten einem Element entnommen sind (Wasser), in dem sie nicht eingesetzt werden (Erde). Nimmt man in den Blick, dass Luft und Feuer durch Sturm

272 Vgl. hierzu ebd., S. 334. 273 Die genannten Tiere sind ebenso wenig wie der wundersame Stoff metalli nachweisbar. Dass es sie vermutlich nicht gibt, sondern sie eine Phantasie des Autors sind, zeigt sich nicht zuletzt an der großen Schreibvarianz der Namen. Im Übrigen sind die Namen leicht zu durchschauen. metalli ist wohl von metall abgeleitet; fortaspinaht geht wohl auf die lateinischen Begriffe forta und spina zurück; der Name des Tieres – „Harter Dorn“ – verweist damit auf die im Kontext relevante Eigenschaft. 274 Vgl. auch L (1991), S. 334. 275 Vgl. D (1993), S. 179. Siehe auch Abschnitt 1.3, S. 103 ff. dieser Arbeit. 276 L (1991), S. 334. 277 Vgl. exemplarisch H (2013), S. 97.

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und Feuerdrachen im Reich präsent sind und das Stierungeheuer, insbesondere aufgrund der zwölf Beine, auf das Element Erde verweist, eröffnet sich eine weitere Verstehensperspektive. Durch das in der Rüstung aktualisierte Element Wasser sind in der künstlichen Hölle alle vier Elemente vertreten: Sie ist ein pervertierter Mikrokosmos. 278 Wie die Wundervölker des Ostens hat dieser in der Welt keinen dauerhaften Platz. Wildhelm kann allein aufgrund seiner feuerfesten Rüstung überleben, dem Teufel selbst wird das Feuer zum Verhängnis. Nachdem Wildhelm ihm einen Speer „durch daz auge uf in daz hirn“ (WvÖ,V. 12.089) gestochen hat, fällt Merlin, als er Wildhelm in das Feuer wirft. Der Tod wird zurückgeführt auf das Feuer: der Tot mit manigem grimme in twanc, wan er was so starc, im wart versert des hirnes marc, da von er muo st sterben

(WvÖ, V. 12.180–12.183)

Merlin ist mit seinen eigenen Waffen geschlagen, 279 Wildhelm hat in der Rolle des „tapferen christlichen Ritters [. . . ] das dämonische Prinzip zum Wohle der Allgemeinheit“ überwunden. 280 Als „radikalste aller möglichen Lösungen“ für das Problem, wie mit Merlin, „so wie er überliefert ist“ , umzugehen ist, wird Merlin vernichtet. 281 Es ist auf die Bezüge zwischen Belgagan- und Joraffin-Episode hingewiesen worden. 282 Schon 1993 konstatiert Dietl, dass die „Erscheinungen des Feuergebirges [. . . ] verzerrte Abbilder in der Belgagan-Aventiure“ fänden. Die Erscheinungen in Belgagan würden nicht mehr allegorisch gedeutet wie die Erscheinungen im Reich des Joraffin; „ihre z. T. wunderliche Gestalt hat keine bedeutunge, höchstens Ursachen, die sich naturkundlich erklären oder auf Merlins teuflische Kunst zurückführen lassen“. 283 In ihrer Dissertation präzisiert Dietl ihre Aussagen. In der Feuerbergâventiure werden die wundersamen Erscheinungen allegorisch ausgelegt: Sie sind die bildliche Darstellung eines Abstrakten. In der Belgaganâventiure hingegen bleibt das Wunderbare oder Phantastische unerklärt stehen; es läßt sich er-

278 Interessant ist, dass das Element Wasser in der Wahl der Metaphorik sehr präsent ist. Der Tod des Stierungeheuers wird wie der Fall Wildhelms als das Sinken eines Schiffes ins Bild gebracht (vgl. WvÖ, V. 11.798 f., 12.071–12.073). Vgl. hierzu auch Darstellungspunkt 2.2.2, S. 225 ff. 279 Vgl. E (2003), S. 144. 280 Z (2011), S. 44. 281 L (1991), S. 337. 282 Vgl. hierzu auch Darstellungspunkt 2.2.5, besonders Darstellungspunkt 2.2.4, S. 289 ff. 283 D (1993), S. 179.

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läutern, nicht aber deuten. Der Allegorie steht die Wirklichkeit, der Schau und dem Wort die Tat gegenüber[.] 284

Während der Aventue re Hauptmann Ryal „über das Wesen der âventiure“ belehre, erlebe Wildhelm im Kampf gegen das Ungeheuer „in Belgagan eine tatsächliche âventiure“. Der Wundervogel finde eine Entsprechung in den Feuerdrachen, das Glücksrad in den Windmühlen. 285 Die allegorische Hauptâventiure Wilhelms scheint so in der Belgaganâventiure ein verzerrtes Abbild in der „Realität“, d. h. auf der Handlungsebene, zu finden. An die Stelle der allegorisch dargestellten allgemeinen Ideen treten individuelle Erscheinungen. Sie fordern Wilhelm als Handelnden, nicht als Schauenden. Seine tugent wird nicht gezeigt sondern getestet. Allegorie und aktuelles Geschehen sind aufeinander bezogen. Was dort eine verbildlichte Regel ist, ist hier ein konkretes Beispiel geworden. So ist Crispins Minne ein individuelles Beispiel der universalen Minne; und durch Wilhelms Verhalten zu ihr wird am Beispiel seine Vollkommenheit als Minneritter bewiesen, die der CupidoHelm generell gezeigt hat. Anders aber verhalten sich die in der Belgaganâventiure beschriebenen Artefakte Merlins, die Windmühlen und die Drachen, zu ihren allegorischen Vorbildern, dem Rad der Welt und dem Wundervogel: Sie ähneln ihnen zwar äußerlich, widersprechen ihnen aber völlig in ihrem Wesen. Eine solche falsche Nachahmung der Ideen ist ein der Natur und der Schöpfung entgegengesetztes Teufelswerk. 286

Egidi nimmt den Gedanken auf, dass beide Aventue ren vergleichbar seien. Sie folgt Dietl in der These, dass in der Episode neuplatonisches Gedankengut verarbeitet werde, 287 folgt ihr jedoch nicht in der Einschätzung, dass sie rein allegorisch sei und damit zur Belgaganepisode im Verhältnis von Urbild und Abbild stehe. Der Komplexität der Feuerbergepisode werde Dietl so nicht ganz gerecht. Entsprechend ihres Ansatzes betrachtet sie die Passagen als Grenzbereiche. Die „Vergleichbarkeit“ beider Passagen liege „im Motiv der Verschließung des Reichs durch den Teufel bzw. Teufelssohn, im anderweltlichen Charakter, in der Betonung der Grenze, den Topoi Gebirge und Tor, der Gefährlichkeit der Überschreitung und der Aktivität des Grenzgängers“. Die „topologische Struktur“ der Belgaganepisode sei dabei „sehr viel weniger komplex als bei der Welt des Feuergebirges. [. . . ] Das zu überwindende Hindernis scheint zwar vergrößert, messbar an dem deutlich höheren Gefahrengrad, doch eine Vervielfältigung der Grenze wie in der Feuerberg-Aventiure entsteht nicht“. Egidi schließt, dass „Belgagan keinen doppelten Status hat, 284 285 286 287

D (1999), S. 116 f. Ebd. Ebd. Diese These ist schon bei F (1930), S. 54 zu lesen.

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sondern – zumindest im Zustand der Unerlöstheit – eindeutig den Status einer Anderwelt“. 288 Neben den beiden umschlossenen Reichen nimmt Egidi auch den Riesenfisch Cetus 289 und den Greifenflug 290 als Grenzüberschreitungen in den Blick. Zusammenfassend stellt sie fest, dass sich im Text „zwei elementare Typen von Grenzübergängen – zwischen ‚uns‘ und ‚den anderen‘, zwischen Menschen und Nichtmenschen – auch zu distinkten Darstellungstypen“ kristallisierten. 291 Ihnen haften unterschiedliche Konnotationen an: den zuerst beschriebenen Typus, der sich vor allem in der Meerüberfahrt und dem Greifenflug konkretisiert, kennzeichnet neben der raschen Durchmessung eines weiten Raumes die Passivität des Protagonisten [. . . ]. Den zweiten Typus, den Übergang in eine Anderwelt, kennzeichnet die kämpferische Aktivität des Helden sowie – zumindest im Fall der FeuerbergAventiure – ein anderes Zufallsprinzip: das klassische der Aventiure. 292

Dabei sei im Verlauf der Handlung „auf mehreren Ebenen eine Reduktion von Komplexität beobachtbar“, die sich als „strukturelle Vereinfachung“ und „Aufhebung von Ambivalenz“ zeige. 293 Bezogen auf die Passage, in der Parklise Wildhelm vor der Hinrichtung rettet, konstatiert sie, dass es sich um einen Übergang handele, der „für die übrigen Beteiligten als ein Übergang in eine Anderwelt (die Welt der Götter) inszeniert“ werde. 294 Sie erwähnt indes nicht Wildhelms „Himmelfahrt“ auf Virgils Sessel. 295 Anders als bei Parklises Rettung erscheint es dort allein dem Protagonisten so, als gehe er in eine Anderwelt, und zwar den Himmel, über. Im Fragehorizont Egidis wird dabei die sonst horizontale Grenze durch eine vertikale ersetzt. Eine zentrale Gemeinsamkeit ist weder von Dietl noch von Egidi thematisiert worden: Im Feuergebirge und in Belgagan finden sich ebenso wie beim Thronautomaten technische Konstruktionen; denn um solche handelt es sich auch schon in den von Dietl als Urbilder erwogenen Bestandteile des Feuergebirges. Kern erwägt vorsichtig, ob es sich bei dem goldenen Wundervogel nicht auch um eine Flugmaschine handeln könne. 296 Und auch das Rad der Welt wird vom Erzähler als etwas Technisches dargestellt, wird doch der Mechanismus des Rades vermittelt

288 289 290 291 292 293 294 295 296

E (2004), S. 100 f. Vgl. ebd., S. 92 ff. Siehe auch Darstellungspunkt 2.2.2, S. 225 ff. dieser Arbeit. Vgl. dort S. 96 ff. Siehe hierzu S. 90 ff. und Darstellungspunkt 1.4.3, S. 123 ff. dieser Arbeit. E (2004), S. 101. Ebd., S. 101f. Ebd., S. 102. Ebd., S. 96. Vgl. hierzu Darstellungspunkt 3.2.5, S. 354 ff. dieser Arbeit. K (1998), S. 134 („Das zweite Haupt des Wundervogels (oder der Flugmaschine?) [. . . ]“).

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(vgl. WvÖ, V. 3570–3577). 297 Vor der Deutung und Bewertung der technischen Konstruktionen durch den Kontext, den Gebrauch, durch Auslegungen 298 oder Kommentare sind sie zunächst technische Konstruktionen. Technisches ist daher im WvÖ nicht generell schlecht oder gut, legitimiert oder verwerflich. Erst durch den Kontext und die konstitutiven Eigenheiten erfahren die Konstruktionen eine Wertung. Auf der einen Seite wird Virgils Sessel, obwohl mit Hilfe von Negromantie konstruiert, mit dem Himmel assoziiert; er fungiert als Tugendprobe und rettet zuletzt Wildhelm das Leben. Das Rad der Welt und der Wundervogel im Reich des Joraffin werden durch die Allegoresen Joraffins mit Bedeutung aufgeladen, die primär technische Konstruiertheit tritt dabei in den Hintergrund. Auf der anderen Seite dienen die Maschinen in Merlins künstlicher Hölle dazu, Wildhelm zu schaden; sie sind im Gegensatz zu den anderen Konstruktionen dadurch problematisch, wie sie eingesetzt werden. Interpretationsbedürftig ist indes eine zentrale Differenz von Belgagan- und Joraffin-Episode; offen nämlich ist die Frage, warum die von Merlin erschaffene technische Hölle, gerade im Gegensatz zur Joraffin-Episode, keine Deutung erfährt. In den oben referierten Thesen Dietls und Egidis klingen bereits zwei Antworten auf diese Frage an. Dietl konstatiert, dass die Bestandteile Belgagans als „falsche Nachahmung der Ideen [. . . ] ein der Natur und der Schöpfung entgegengesetzes Teufelswerk“ seien. 299 Als ein solches entziehen sie sich dem göttlichen ordo und können im Rahmen der durch diesen konstituierten Sinnerschließungsverfahren (z. B. der Allegorese) nicht mehr erfasst werden. Egidi verweist neben anderem auf die Reduktion der Komplexität im Laufe der Handlung. 300 Es ist m. E. nicht ausgemacht, dass das Feuergebirge bezogen auf die semiotische Komplexität im Vergleich mit dem Joraffin-Reich reduziert ist. Zwar wird der Höllengürtel im Text selber nicht ausgelegt, das heißt jedoch nicht, dass darin kein Hintersinn verborgen ist: Es ist gleichwohl denkbar, dass es die Aufgabe des Rezipienten ist, eine solche Auslegung zu versuchen, ohne dass der Text hierzu Hilfestellungen zur Verfügung stellt; Hilfestellungen im Übrigen, die sich bezogen auf die Passagen, in denen sie geboten werden, als trügerisch erwiesen haben. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen zeichentheoretischen Reflexionen bleibt der Text an dieser Stelle offen.

297 Vgl. S. 292 dieser Arbeit. 298 Dass dabei die Allegoresen keinesfalls eindeutig sind, wurde im Darstellungspunkt 2.2.5, S. 283ff. gezeigt. 299 D (1999), S. 117. 300 Vgl. E (2004), S. 102.

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3.3 Homo creator – Poeta creator Einer Bewertung der Frage, inwiefern sich anhand der Ergebnisse zum Naturverständnis im WvÖ Rückschlüsse auf ein schöpferisches Bewusstsein ziehen lassen, sei zunächst eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse vorangestellt. Als theoretischer Hintergrund für die Untersuchung des Naturverständnisses im WvÖ wurden zentrale Spannungen des Begriffes „Natur“ skizziert. Es wurde darauf verwiesen, dass antike und christliche Strömungen im mittelalterlichen Naturverständnis aufs Engste spannungsreich zusammenstehen und dass gerade diese Spannung grundlegende Neuakzentuierungen ermöglichen. Besonders wurde auf die Gültigkeit der Unterscheidung von Artefakt und Naturding sowie die Spannung von Mensch, personifizierter Natur und Gott als Schöpfungsmächte eingegangen. Dass sich die Grundkonstituenten dieser Spannung im ausgehenden Mittelalter verschieben – der Mensch beginnt, sich aktiv-schöpferisch wahrzunehmen–, wurde skizziert, um auf Blumenbergs Ansatz einzugehen, die Ablösung der antiken Mimesisvorstellung sei mit dem Zusammenfallen von Allmacht und Unendlichkeit verbunden. Wie bei der Idee des poeta creator erweist sich in diesem Kontext christliches Denken als Gegner und zugleich als Wegbereiter veränderter Ideen. Vor diesem Hintergrund wurde das Naturverständnis im WvÖ untersucht. Zunächst wurde der Begriff natur in den Blick genommen und gezeigt, dass er recht häufig verwandt wird und dabei ein breites semantisches Feld abdeckt. Der von Wolfram anstelle von natiure gesetzte Begriff art wird ebenso verwandt; beide Begriffe werden bisweilen synonym gebraucht. Der Begriff der natur also ist, anders als bei Wolfram, nicht problematisch. Ob dadurch Spannungen aufgenommen werden, von denen vermutet wurde, dass Wolfram sie durch die Tilgung des Begriffes vermeiden wollte, wurde anhand verschiedener Kontexte und Passagen analysiert. Auf der Grundlage einer Untersuchung der Verwendung des Verbs wirken und davon abgeleiteter Formen wurde gezeigt, dass im WvÖ die Konzepte von deus creator, poeta creator, homo creator und personifizierter Natur zwar einander angenähert werden, dass aber Gottes wirken über das wirken der anderen Instanzen hinausgeht; allein er ist erster sach wirkel, creator ex nihilo. Der Dichter erhält den Status eines creator, eingedenk der absoluten Differenz von Gott und Mensch aber nicht eines creator ex nihilo. In einem weiteren Schritt wurden Kunstwerke untersucht, von denen es heißt, sie seien geschaffen, als ob si lebten. In weiten Teilen gehen die so bezeichneten Kunstwerke nicht über den in anderen mittelhochdeutschen Texten gesteckten Rahmen hinaus. Immerhin rekurrieren sie damit auf die Möglichkeit des Menschen, die strikte Trennung von Artefakt und Naturding zu überwinden. Der

Homo creator – Poeta creator

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Diskurs, der sich an dem Prädikat als ob es lebt entzündet, ist somit grundsätzlich im WvÖ aufgenommen. Dabei wird es auf der einen Seite als Wert anerkannt, dass ein Gegenstand zu leben scheint. Auf der anderen Seite wird aber auch die Differenz dieser Gegenstände zur Natur mitgedacht. Zwar werden die – im übrigen nicht erwähnten – Hervorbringer der Kunstwerke in die Nähe zur Idee eines Schöpfers gerückt, die Differenz zum Natur schaffenden Gott der Genesis ist jedoch unverkennbar. Einen Sonderstatus unter den Artefakten, von denen es heißt, sie seien geschaffen, als ob si lebten, hat der Thronautomat. Anders als sonst wird hier das Firmament mit dem nämlichen Prädikat versehen, nicht etwa ein Teil der sublunaren Welt. Es zeigt sich ein freier Umgang mit dem Prädikat. Zuletzt wurden den genannten Artefakten zwei Beschreibungen entgegengesetzt, in denen vom Scheitern der Künstler berichtet wird: Sie können nicht das abbilden, was der Erzähler sprachlich zu fassen imstande ist. Das Spannungsfeld von dem Menschen zugestandener perfectio superaddita und darüber hinausgehender schöpferischer Kraft wurde anhand von zwei Eingriffen in die bestehende natura naturata untersucht. Das Abrichten des Greifen durch Parklise und den Teufel wird, anders etwa als die Erziehung von Vögeln im Falkenbuch Friedrichs II., als widernatürlich gewertet. Eine Grenze wird markiert, die von den Protagonisten zwar überschritten werden kann – und auch wird –, deren Überschreiten aber im Horizont des gültigen Wertesystems kritisiert wird. An prominenter Stelle, im Prolog, wird ein alchemistischer Prozess zum Bildspender für die zentrale poetologische Aussage des Textes. Auch der alchemistische Prozess der Feuervergoldung geht mit vom Menschen initiierten Veränderungen der natura naturata einher, der Erzähler verweist wiederholt darauf, dass dabei die spezifischen Eigenschaften der Metalle, deren naturae propriae verändert werden. In der Wahl des Bildspenders „Alchemie“ im Prolog zeigt sich eine Übereinstimmung mit dem von Ridder herausgestellten kompilatorischen Charakter des Werkes, insofern die Alchemie die ars ist, in der es darum geht, die richtige Zusammensetzung eines Stoffes herauszufinden und auf der Basis dieses Wissens Stoffe erzeugen zu können. Das Ergebnis eines literarischen Prozesses wird also hier vorgestellt als Analogon eines alchemistischen Prozesses. Beides ist ein vom Menschen initiiertes Produkt; es kristallisiert sich ein dynamisches Bild von Literatur heraus. Mit Wundern werden Entitäten bezeichnet, die über die natürlichen Grenzen des Irdisch-Natürlichen hinausgehen. Dass die Beschreibung solcher Wunder in mittelhochdeutschen Texten zu Reflexionsräumen von Fiktionalität werden kann, war schon für Texte aus dem 11. und 12. Jahrhundert nachgewiesen worden. In einer Analyse der als wunder bezeichneten Entitäten im WvÖ wurde dieser Reflexionsraum für den WvÖ in den Blick genommen. Als besonders fruchtbar erwies sich dabei eine poetologische Passage, in der der Erzähler den semiotischen Wert von beschriebenen Wundern erläutert. Neben motivischen Parallelen

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zu Chrétien, Hartmann und Wolfram konnte dabei eine zentrale Differenz ausgemacht werden. Das spezifisch Literarische wird nicht mehr vor dem Hintergrund eines Wunderbar-Vollkommenen verhandelt, sondern, wie sich unter zusätzlicher Berücksichtigung der Ergebnisse in Kapitel 2 herausstellte, neue Prinzipien werden maßgeblich: Vieldeutigkeit, Polysemie, Offenheit des Werkes und Willkürlichkeit der Auslegung. Mit dem Thronautomaten des Virgil und dem Belgagan umschließenden Gebirgszug, in dem Merlin seine Bauten platziert, wurden technische Konstruktionen untersucht, die am Rande des Bekannten angelegt sind. Die im vorherigen Kapitel skizzierte Potenzialität des Wunderbar-Fremden wird dabei kombiniert mit Technisierung. Der weitgehend unbekannte Raum des Wunderbar-Fremden wird zum Raum technisch-konstruierter Welten. So stellt Virgils Sessel aus der subjektiven Sicht Wildhelms den Himmel dar, der Erzähler kontrastiert diesen technischen Himmel mit dem realen Firmament. Der höllenartige Gebirgszug um Belgagan wird durch die Windmühlen und die Feuerdrachen zu einer künstlichen Hölle. Die ganze Bandbreite christlicher Vorstellungskraft wird damit als vom Menschen (nach-)konstruierbar dargestellt. Neben den technischen Konstrukten sind auch das Stierungeheuer und Merlins Bewaffnung „konstruiert“. Es wurde erwogen, ob in den aktualisierten Meerwesen dieser Bewaffnung der Fiktionalitätsexkurs aus dem Erec aufgenommen ist. Das Gebirge wird, insofern dort Feuer und Luft in den technischen Artefakten, Erde im Stierungeheuer und Wasser in Merlins Bewaffnung aktualisiert werden, als ein pervertierter Mikrokosmos vorgestellt. Der WvÖ reagiert auf Spannungen seiner Zeit. Die zentrale Dichotomie von naturalia und artificialia hat keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr. Der Text transportiert die Grenzphänomene von ad vivum erscheinenden Artefakten, ein Attribut, mit dem frei umgegangen wird. Auch wird die Grenze der perfectio superaddita verhandelt. Die Natur im WvÖ, so kann man resümierend sagen, trägt Merkmale eines vehiculum actionis hominis. Als solches werden zentrale Zusammenhänge übertragen auf poetologische Fragestellungen. Kann hat festgestellt, dass die „ mechanistischen und alchemistischen artes [. . . ] Naturerscheinungen nicht nur zu modifizieren und zu reproduzieren, sondern sogar selbst zu produzieren vermögen“. Damit exemplifizieren sie, dass das „kontemplative, rezeptive Verhältnis des erkennenden Subjekts zur Natur [. . . ] in ein produktives“ übergeht. 301 Beide genannten artes dienen im WvÖ als Bildspender, um zentrale poetologische Aussagen zu treffen. Die Reflexionen zum homo creator werden damit zurück auf die Frage nach dem poeta creator bezogen. Dadurch, dass im Prolog die Alchemie aufgenommen wird, wird ein dynamisches Bild von Literatur entworfen und zugleich

301 Vgl. K (2003), S. 41.

Homo creator – Poeta creator

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der kompilatorische Charakter des Werkes angedeutet. Mit den künstlichen Welten am Rande des Bekannten, in denen die mechanistische ars aktualisiert wird, wird im Kleinen vorgeführt, was auch den WvÖ als Ganzen auszeichnet, stellt doch der gesamte WvÖ eine künstliche Welt am Rande des Bekannten dar: Die Handlung des WvÖ ist künstlich i. S. v. fiktiv 302 und findet in der Fremde 303 statt. Auch Literatur wird so vorgestellt als vehiculum actionis hominis; die Potenzialität des Fiktionalen speist sich aus dem Fremden und Wunderbaren in Kombination mit dem Mechanischen. Dass der WvÖ dabei über das Konzept des WunderbarVollkommenen hinausgeht, wurde in Verbindung mit den Ergebnissen von Kapitel 2 gezeigt. Ein wenig überspitzt formuliert tritt im WvÖ damit neben die Vorstellungen des Dichters als Handwerker, Nachahmer, Inspirierter und Schöpfer 304 die Vorstellung des Dichters als Alchemist und Ingenieur.

302 Vgl. D (1993), S. 173. 303 Vgl. hierzu die Ergebnisse aus Darstellungspunkt 2.2.2, S. 225 ff. 304 Vgl. Darstellungspunkt 1.5.3, S. 145 ff.

4 Reflexe schöpferischen Bewusstseins: Ein Resümee Deus creator – Poeta creator – Homo creator: Wird schon im WvÖ der Dichter, ja der Mensch im Allgemeinen als gottgleicher Schöpfer gesehen? Am Ende der Untersuchung kann diese Frage weitestgehend positiv beantwortet werden: Im WvÖ werden Reflexe schöpferischen Bewusstseins zum Ausdruck gebracht, der Dichter wird als creator vorgestellt, nicht ohne dass betont wird, dass bei aller Ähnlichkeit eine noch größere Unähnlichkeit von Gott und Dichter festzustellen ist. Die Ergebnisse sind im Rahmen der Untersuchung auf der Grundlage von drei Zugängen herausgearbeitet worden. Erstens wird in der fingierten Auseinandersetzung des Erzählers mit verschiedenen Instanzen ein Raum geschaffen, in dem poetologische Fragestellungen verhandelt werden. Innerhalb der Hierarchie, an deren Spitze Gott steht, dem die personifizierten Minne, Aventue re und Natur unterstellt sind, kann der Erzähler zugleich von Gott inspiriert sein, unter dem Einfluss von Frau Aventue re stehen als auch als Meister des Schicksals der Figuren erscheinen. Gestützt wird diese Annahme von der Tatsache, dass der Erzähler sich wiederholt als Vermittler positioniert. Im Laufe der Handlung steigt der Erzähler innerhalb der Hierarchie auf. Zeigt er sich am Anfang von den Personifikationen abhängig, stilisiert er sich am Ende von ihnen befreit und alleine Gott unterstellt: Er steigt in Richtung Gott auf, wobei er natürlich Gott nicht erreichen kann. Die Konzeption eines Reflexionsraumes, der in der Tradition von Anrufungen um Inspiration steht, erweist sich als äußerst fruchtbar für die Frage nach dem schöpferischen Selbstverständnis des Dichters. Schon die Bitte um Inspiration stellt ein Spannungsfeld von antikheidnischem und christlichem Gedankengut dar, deren Zusammenwirken die Vorstellung eines poeta creator neu pointiert. Schöpfungsinstanzen, die im Zuge der Christianisierung durch Gott ersetzt wurden, gewinnen an Gewicht, als im Umfeld der Schule von Chartres Fragen der Theodizee verhandelt werden. Nicht um den Schöpfergott in Frage zu stellen, sondern um dessen Verantwortung für die unvollkommene Welt negieren zu können, setzt z. B. Bernhardus Silvestris niedere Schöpfungsinstanzen ein. In diesem Sinne erweist sich der WvÖ als Analogon zur „Cosmographia“, die die Erschaffung der Welt in den Blick nimmt, während im WvÖ die Erschaffung eines Kunstwerkes reflektiert wird. Dieser Unterschied zeigt sich nicht zuletzt darin, dass allen Instanzen im WvÖ eine poetische Kompetenz zugestanden wird. Die Vorstellung der Identität von Gott und menschlicher Seele wird in den Horizont einer poetologischen Fragestellung transferiert und

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dadurch die Dreigliederung von opus dei, opus naturae, opus artificis imitantis naturae modifiziert: Inspiration wird vorgestellt als Teilhabe des dichterischen Geistes am Göttlichen oder, anders gewendet, die Geburt des Göttlichen im Geist des Dichters. Auf der Grundlage der Annahme, dass Gott und Seele eins sind, kann Inspiration damit zugleich von innen kommen und als transzendent aufgefasst werden. Zweitens wird die Analogie von Gott und Dichter im Feld übertragener Rede fruchtbar gemacht. Dass die Grenzen sprachlicher Darstellung von Immanenz und Transzendenz verschwimmen, der innovative Sprachschatz der Mystik, die um die Darstellbarkeit göttlicher Geheimnisse in der Volkssprache ringt, aufgenommen und verarbeitet wird, war bereits an der sprachlichen Erfassung der Trinität festgemacht worden. Es wird darüber hinaus mit der Vorstellung eines mehrfachen Schriftsinns gespielt und damit die Vorstellung einer Analogie von Gott und Dichter fortgeführt, ist der mehrfache Schriftsinn doch ursprünglich der Heiligen Schrift vorbehalten. Neben der Aufnahme solcher produktionsästhetischen Überlegungen werden auch kritische rezeptionsästhetische Reflexionen der Zeit aufgenommen: Wiederholt führt der Erzähler vor, dass die Bedeutung einzelner Dinge unendlich groß ist, er zeigt auf, wie willkürlich das Finden von significationes auf der Grundlage von proprietates sein kann. Immer wieder spielt er dabei mit der Vorstellung, dass er bzw. eine von ihm entworfene Gestalt aus der Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten eine einzige, richtige Deutung bestimmen kann. Diese Position wird an einigen Stellen ironisch gebrochen. Zusammengesehen zeigt sich ein Selbstverständnis, das changiert zwischen zwei Polen: uuf der einen Seite Polysemie und Willkürlichkeit des Zusammenhangs von Signifikant und Signifikat. Auf der anderen Seite die Autorität eines Einzelnen, aus dieser Bedeutungspluralität eine einzige, richtige Deutung zu bestimmen. Beide Positionen prägen über Jahrhunderte hinweg das Verständnis der Allegorie und spiegeln neben rhetorischen und poetischen eben auch theologische Reflexionen der Zeit wider. Auf der einen Seite steht der Glaube daran, dass Gott sich in der Heiligen Schrift den Menschen offenbart. Dabei gilt seit dem IV. Konzil im Lateran (1215), dass zwischen Schöpfer und Geschöpf keine so große Ähnlichkeit bestehen kann, dass zwischen ihnen nicht eine noch größere Unähnlichkeit besteht. Zunächst also kann der Mensch Gott und seine Zeichen nicht verstehen, sie sind für ihn unverständlich. Auf der anderen Seite hat es immer Bestrebungen gegeben, die Heilige Schrift und die Schöpfung auszulegen und dabei Eindeutigkeit qua Autorität zu beanspruchen. Diese Versuche, die Nietzsche im 19. Jahrhundert treffend entlarvt, sind schon im zeitgenössischen Kontext kritisch hinterfragt worden. Wenn im WvÖ Zeichen uneindeutig gemacht werden, ja deren Uneindeutigkeit und Polysemie geradezu vorgeführt wird, so wird dem Rezipienten ein Werk vorgeführt, das er so wenig verstehen kann wie das Werk Gottes. Wenn dabei partiell mit der Vorstellung ge-

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spielt wird, die uneindeutigen Zeichen eindeutig zu machen und sich der Autor als Exeget seines eigenen Textes stilisiert, so wird die Praxis der Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn, die gängige Exegesepraxis, vorgeführt. Dies wird immer wieder auch ironisch gebrochen. Es zeigt sich ein souveräner Umgang mit gängigen Deutungsschemata der Theologie. Drittens trägt die (geschaffene) Natur im WvÖ Merkmale eines vehiculum actionis hominis. Über mechanische, alchemistische und erzieherische Künste wird in die bestehende Natur eingegriffen, die starre Grenze von naturalia und artificialia verschwimmt, künstliche Welten am Rande des Bekannten werden zu Räumen der Potenzialität des Fiktionalen. Vermittelt über poetologische Passagen wird auch Literatur vorgestellt als ein vehiculum actionis hominis, neben die gängigen Vorstellungen des Dichters als Handwerker, Nachahmer, Inspirierter und Schöpfer tritt die Vorstellung des Dichters als Alchemist und Ingenieur. Neben Frau Aventue re treten Aventue re Hauptmann und der Bracke; personifizierte Aventue re, Minne und Natur werden in ein hierarchisches System zusammengefügt, dem Gott vorsteht; die Analogie von Gott und Dichter wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sich im souveränen Umgang des Erzählers mit Paradigmengebeten eine selbstbewusste Position abzeichnet; dessen Form wird aufgenommen und in eine poetologische Reflexion transformiert; die Trinität wird sprachlich erfasst, indem das aus Minnekontexten geläufige Bildfeld des flechten aufgenommen wird; das poetologische Spiel, einer ausführlichen descriptio eine Unsagbarkeitsbeteuerung voranzustellen, wird übertragen auf die Trinität; souverän geht der Erzähler mit Allegorie und Allegorese um. Christliches Denken erweist sich zugleich als Gegner und Wegbereiter. Zeichentheoretische Reflexionen aus der Theologie werden aufgenommen und fruchtbar gemacht, die Ergebnisse lassen sich adäquat nur als ein theologisch-philologisches Grenzphänomen erfassen. Das spezifische Verständnis eines poeta creator im WvÖ speist sich gerade aus der Kombination von poetologischen und theologischen Reflexionen. So werden in Analogie zur mystischen Spekulation Bilder (auch für den immanenten Bereich) entworfen, die sich nicht mit Hilfe der Substitutionstheorie erfassen lassen und daher nicht auf einen einzigen Sinn zu reduzieren sind. Sie weisen damit Eigenschaften auf, die im Kontext mancher Theorien Zeichen für Gott vorenthalten sind. Gegen solche grenzziehenden Einteilungen sprechen zwei Beobachtungen: Erstens bestehen Veränderungen, denen mitunter diachron der Charakter einer Progression zugesprochen wird (z. B. Substitutionstheorie und Interaktionstheorie), synchron als Nebeneinander von profanen und theologischen Zeichentheorien bereits im Mittelalter. Zweitens hat eine solche Trennung von profan und theologisch zumindest für den WvÖ keine Gültigkeit. Besonders anschaulich wird das Dynamisierungspotenzial, das aus dem Zusammenbringen von antiker Rhetorik und christlicher Hermeneutik sowie deren

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Transformation in eine poetologische Reflexion erwächst, wenn man den Aventue re Hauptmann als motivische Fortführung von Horaz´schem Monster und personifizierter Allmacht Gottes in Hildegards von Bingen neunter Vision begreift. Es zeigt sich, wie die rhetorische Tradition (hier Horaz) mit christlicher Hermeneutik angereichert wird (hier personifizierte Allmacht) und so Eingang findet in einen profanerzählenden Text (konkret den WvÖ), der damit angereichert wird mit mannigfachen Implikationen. Auch das sich verändernde Verhältnis des Menschen zur Natur basiert auf der Kombination von antikem und christlichem Denken. Vermittelt über den Neuplatonismus ist auch im Mittelalter die Vorstellung Gottes als Handwerker präsent. Der platonische Demiurg erschafft die Welt, indem er aus dem Reich der Ideen schöpft und diese in der Welt umsetzt. Anders wird die Erschaffung der Welt in jüdisch-christlicher Tradition verstanden: Gott erschafft die Welt als eine creatio ex nihilo. Im WvÖ sind beide Gottesbilder präsent. Auf der einen Seite kann so eine Analogie zwischen Gott (Demiurg) und Dichter spannungsfrei ausgedrückt werden, auf der anderen Seite muss die absolute Differenz des Dichters zu Gott (creator ex nihilo) hervorgehoben werden. Mit der Vorstellung der Identität von Gott und Seele kann Inspiration dabei zugleich als transzendent und von innen kommend aufgefasst werden. Wenn der Erzähler des WvÖ von sich aussagt: in mir ist noch beslozzen / vil wilder aventue r, so hat das mit der Genieästhetik wenig gemein. Sehr wohl aber nimmt er für sich einen Status in Anspruch, der Landino dem Dichter gut hundert Jahre später zugestehen sollte: Es besteht eine gewisse Analogie von Dichter und Gott. Gott allein kann ex nihilo schaffen, aber der Dichter ahmt ihn nach, ist ein creator und dadurch über andere Menschen erhaben. Dabei tritt er nicht in Konkurrenz zu Gott, er rivalisiert nicht mit ihm. Ausgedrückt wird dieser Status des Dichters im WvÖ nicht zuletzt dadurch, dass darin eine strikte Trennung von Theologischem und Philologischem beständig untergraben wird.

Abkürzungen DVjs Deutsche Vierteljahresschrift HWBPh Historisches Wörterbuch der Philosophie HWBRh Historisches Wörterbuch der Rhetorik LexMA Lexikon des Mittelalters LfTuK Lexikon für Theologie und Kirche PBB Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur VL Verfasserlexikon ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie ZfG Zeitschrift für Germanistik

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Namenregister Alanus ab Insulis 27, 28, 143, 156, 181, 182, 202, 204, 210, 216, 217, 284, 301, 304, 307, 310, 317–319, 322 Albertus Magnus 316, 320 Alkuin 163, 226, 240 Anheuser, Kilian 248, 252 Anselm von Canterbury 217 Antunes, Gabriela 345, 349, 351 Apostel Paulus 108, 184, 187, 319 Aristoteles 35, 61, 65, 104, 105, 162, 164–166, 170, 171, 194, 255, 310–312, 314, 320, 344, 345 Augustin 25, 45–47, 148, 150, 152, 170, 180, 182–188, 196, 199, 211–213, 215, 317, 319, 326, 345–347, 351 Baisch, Martin 17 Bauschke, Ricarda 13, 112, 147 Bernhard von Clairvaux 218, 265 Bernhardus Silvestris 28, 40, 142, 143, 146, 153, 154, 156, 188–190, 192, 196, 214, 215, 317, 319, 322, 376 Bierbaum, Hermann-Josef 19, 27, 220–222, 225, 226, 241, 284 Blank, Walter 162, 169, 190, 284 Blumenberg, Hans 203, 205, 313, 320, 325 Bonaventura 319, 320, 326, 347 Brinkmann, Henning 16, 188–190, 214, 215, 297, 298 Bumke, Joachim 36, 109 Chrétien de Troyes 16, 113, 352, 353, 374 Christofero Landino 48, 49, 52, 86, 133, 146, 149, 331, 379 Cicero 61, 162, 164–166, 169, 170, 174, 175, 177, 184, 192, 198, 217 Cieslik, Karin 22 Cramer, Thomas 15, 16, 27, 46, 47, 147–149, 153, 158, 198, 338 Curtius, Ernst Robert 11, 45, 46, 48, 141, 145, 154, 162, 163, 225, 226, 318–320

Dante Alighieri 17, 58, 143, 144, 150, 156, 185, 191, 196, 204, 226, 277, 306, 358 Dietl, Cora 14, 20, 22, 27, 32, 35, 44, 52, 70, 75, 80, 84, 86, 87, 90, 94, 95, 101–103, 105–107, 109, 114, 115, 127–130, 134, 143, 144, 157, 226, 234, 241, 245, 247, 251, 258, 261, 269, 283, 285, 286, 291, 295, 300, 302, 361, 364, 367–369, 371, 375 Egerding, Michael 58, 59, 65–67, 169, 292 Egidi, Margreth 25, 90, 232, 233, 236–238, 261, 268, 283, 288, 289, 291, 370, 371 Fasbender, Christoph 332–334, 337 Frauenlob 28, 220, 221, 301 Frenzel, Eckart 19, 20, 27, 37, 39, 41, 44, 51, 53, 58, 66–68, 89, 99, 111, 112, 116, 118, 122, 125, 134, 142, 236, 241, 252, 284, 288, 369 Freytag, Wiebke 168, 169, 195–199 Geisthardt, Constanze 26, 267, 269, 274, 277, 306, 344 Gennep, Arnold van 238 Gervais von Melkley 172 Gloy, Karen 47, 310–314, 318–320, 324 Goethe, Johann Wolfgang von 11, 15, 48, 145, 197, 198, 200, 202, 332 Górecka, Marzena 59, 65, 67 Gottfried von Straßburg 18, 28, 34, 39, 72, 155, 280, 295, 306, 310, 327, 328, 352 Guillaume de Lorris 156 Hadamer von Laber 156 Hartmann von Aue 107, 108, 224, 225, 264, 322, 327, 352, 353, 374 Haug, Walter 11, 39, 46–49, 56, 60, 73, 86, 140, 148–151, 193, 194, 212, 214, 217, 219, 295, 338 Haupt, Barbara 13, 55, 107, 145, 147, 352, 367

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Heinrich von Mügeln 28, 301 Hildegard von Bingen 278–280, 306, 309, 379 Holzem, Andreas 12, 16, 56, 152 Horchler, Michael 254, 255 Huber, Christoph 21, 28, 157, 193 Hübner, Gert 206, 210 Hugo von St. Victor 139, 163, 213, 218, 246, 298, 305, 317 Huschenbett, Dietrich 20, 32, 34, 36, 134, 142, 285, 302 Isidor von Sevilla

168, 193, 346

Jean de Meun 156 Johann von Konstanz 280 Johannes Scotus Eriugena 210, 211, 215, 268, 314, 315 Johannes von Garlandia 172, 174, 175, 189, 190, 193 Johannes von Salisbury 142, 143, 212, 319 Juergens, Albrecht 20, 90, 94, 103, 109, 113, 114, 127, 134, 137, 138, 142, 143, 242, 250, 252, 253, 256–258, 261, 264, 272, 285, 297, 299, 300 Kann, Christoph 15, 310, 311, 313, 314, 320, 323, 324, 343, 347, 374 Kartschoke, Dieter 148 Kasten, Ingrid 15, 16, 78 Kern, Udo 60, 61, 64, 253, 287, 295, 296, 370 Kiening, Christian 13, 24, 101, 102, 134, 234, 236, 238, 239, 285 Klein, Dorothea 13, 140, 143, 148, 155 Kleinschmidt, Erich 169, 186 Knapp, Fritz Peter 193, 194 Konrad von Ammenhausen 156 Konrad von Megenberg 238, 319 Konrad von Würzburg 13, 112, 207, 220, 221, 225, 333, 337 Kragl, Florian 91, 206, 208 Krewitt, Ulrich 163, 164, 167–170, 184–188, 210, 211, 215–218 Krolzik, Udo 12, 56, 151 Krop, Henri Adrien 142, 314, 321 Kundera, Milan 78 Kurz, Gerhard 169, 191, 197, 205, 292

Langer, Otto 59, 60, 64, 66, 331 Laude, Corinna 11, 103, 104 Louis, Felix 207, 212 Lüers, Grete 58 Luther, Martin 196, 326 Lutz, Eckart Conrad 37, 38, 41, 54, 55, 59, 68 Marsilio Ficino 49, 50, 52, 86, 133, 146, 149, 157 Meier-Staubach, Christel 36, 169, 190, 214, 278, 279 Meister Eckhart 37, 50, 52, 59–62, 64, 66, 67, 316, 323, 331 Menzel, Michael 317, 340, 341 Mittelstraß, Jürgen 313–316 Mordhorst, Otto 19, 242 Neukirchen, Thomas 302 Nicolaus Cusanus 49–52, 60, 146, 149, 319, 325, 326 Nietzsche, Friedrich 184, 198, 200, 202, 205, 304, 308, 377 Obermaier, Sabine 147, 330 Ohly, Friedrich 15, 192, 319, 320 Petrarca 14 Pfeiffer, Jens 152, 200, 202, 203, 212, 235, 259 Pochat, Götz 45, 48, 338 Pseudo-Dionysius Areopagita 185, 210, 211, 216, 268 Quintilian 69, 162–166, 168, 169, 198, 226, 240 Ratkowitsch, Christine 40, 46, 146, 153, 317 Raumann, Rachel 107, 108 Reckermann, Alfons 139 Rehbock, Helmut 32, 33, 35, 38–40, 71, 75, 90, 93, 94, 117, 124, 125, 135, 242 Rhetorica ad Herrenium 162–165, 168, 173, 179, 182, 184 Ridder, Klaus 14, 16, 22, 23, 27, 28, 32, 35, 36, 42, 52, 55, 74, 100, 101, 103, 105, 106, 109, 112–117, 126, 134–136,

N

138–144, 157–159, 198, 244, 252, 253, 256–258, 261, 265, 272, 287, 343, 344, 351, 352, 356 Riedel, Wilhelm 192, 214, 215 Rolf, Eckart 165–168, 207 Roling, Bernd 62, 65 Ruh, Kurt 53, 54, 58, 66 Ruoff, Michael 323, 324, 327 Schausten, Monika 25 Schindler, Andrea 25, 233, 234, 236–238 Schmid, Elisabeth 26, 140, 147, 151, 265, 266, 271, 272, 274, 277, 288, 294 Schmitz, Silvia 73, 143, 144, 147, 161, 171, 172, 191 Schneider, Almut 25, 83, 94, 95, 97, 102, 103, 113, 115, 117, 118, 127, 144, 159, 245, 246 Schnell, Rüdiger 36, 100, 116, 118, 310, 311 Schnuchel, Rudolf 19, 33, 39, 78 Schoenebeck, Walter 19, 101, 115, 118 Scholz, Manfred Günter 20, 106, 144, 236 Schulz, Armin 22, 23, 90, 100, 101, 127, 158, 159 Schwietering, Julius 248, 322, 323, 327, 328 Seggewiss, Michael 310, 311 Seneca 139 Signori, Gabriela 344, 346 Singleton, Charles S. 191, 292

411

Speckenbach, Klaus 26, 267, 269–272, 275, 277, 357 Strub, Christian 164, 167, 169, 206 Teuber, Bernhard 187, 190 Theophilus Presbyter 248, 252 Thomas von Aquin 47, 141, 142, 148–150, 189, 310, 314, 316, 320, 321, 326, 338, 347 Thomasin von Zerkläre 28, 193, 194, 269 Tigerstedt, Eugène Napoleon 45, 47, 48, 145, 147, 157, 331 Vickers, Brian 162, 163 Vögel, Herfried 28 Vollmann-Profe, Gisela 24, 127, 128, 188, 244, 253 Weddige, Hilkert 162, 168, 169, 192 Wilhelm von Ockham 314, 320–322 Wolfram von Eschenbach 21, 24, 32, 34–37, 39, 54, 61, 80, 81, 103, 104, 106, 143, 155–157, 225, 229, 230, 264, 265, 302, 322, 327–329, 346, 352, 359, 372, 374 Worstbrock, Franz Josef 11, 147, 171, 172, 178, 179 Zahlten, Johannes 315, 317, 318, 340 Zimmermann, Martin 26, 326, 354–357, 363–366, 368

JUDITH KLINGER, ANDREAS KRASS (HG.)

TIERE: BEGLEITER DES MENSCHEN IN DER LITERATUR DES MITTELALTERS

Für die Menschen im Mittelalter hat Gott, wie es in der Bibel geschrieben steht, die Tiere als Gefährten erschaffen. Doch bereits zu ihrer Zeit ist das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ambivalent. Nicht alle Tiere lassen sich vom Menschen in den Dienst nehmen, manche bedrohen sogar sein Leben und seinen Besitz – und können doch als Begleiter, Führer und Freunde auftreten. Von der immensen Bedeutung der Tiere erzählen uns die zahlreichen Geschichten in der mittelalterlichen Literatur, die von Haustieren wie Hund und Katze, aber auch von wilden Tieren wie Löwe und Wolf bevölkert werden. Das Buch nimmt Tiere des Hauses, des Waldes und der Luft in den Blick, erkundet aber auch die für das Mittelalter so wichtige Beziehung zwischen Ritter und Pferd. Es gewährt zugleich Einsichten in die vormoderne Tierkunde, die ganz andere Fragen stellte als die Zoologie unserer Zeit. 2017. 320 S. 14 S/W- UND 6 FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-50582-0

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

IRMGARD RÜSENBERG

LIEBE UND LEID, KAMPF UND GRIMM GEFÜHLSWELTEN IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DES MITTELALTERS

Die literaturwissenschaftliche Mediävistik verdankt moderner Emotionsforschung bedeutsame Impulse. Einen breit gefächerten emotionsspezifischen Ansatz trägt die Autorin hier an die großen Dichter und Werke der mittelhochdeutschen Literatur, an Hartmann von Aue und das »Nibelungenlied«, an Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und andere heran. In den Deutungen dieser bildmächtigen Zeugnisse höfischer, städtischer und religiöser Dichtung sowie ihrer neuzeitlichen Nachschöpfungen tritt eine signifikante kulturelle Spannung zwischen Affekt und Affektkontrolle, Emotionalität und Reflexivität zu Tage. 2016. 404 S. 4 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50361-1

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CAROLINE SMOUT

SPRECHEN IN BILDERN – SPRECHEN ÜBER BILDER DIE ALLEGORISCHEN IKONOTEXTE IN DEN REGIA CARMINA DES CONVENEVOLE DA PRATO (PICTURA ET POESIS. INTERDISZIPLINÄRE STUDIEN ZUM VERHÄLTNIS VON LITERATUR UND KUNST, BAND 33)

Am Beispiel des Lobgedichtes des Convenevole da Prato auf König Robert von Anjou (um 1320 bis 1335) wird erörtert, inwiefern sich die Aufwertung der Malerei als Erkenntnisverfahren und ihre ästhetische Eigenwertigkeit im Trecento über die Allegorie konzeptionalisieren lässt. Der Erkenntniswert dieses Lobgedichtes, das in Form allegorischer Ikonotexte gestaltet ist, besteht hinsichtlich des historischen Malereidiskurses darin, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang von dichtungstheoretischem Sprechen über Bilder und gemalten Bildern zeigt – ein seltener historischer Fall. Die ausdifferenzierte kunsttheoretische Begrifflichkeit erfährt auf der Ebene der historischen Semantik eine bildliche Konkretion wie auch das Bild eine begriffliche Konkretion. So stellt die Autorin heraus, dass sich die allegorischen Ikonotexte als kunsttheoretische Reflexionsfiguren vor der frühneuzeitlichen Kunsttheorie erweisen und als Medium einer vergleichenden Theoriebildung für Bild- und Wortkunst zu begreifen sind. 2017. 431 S. 65 S/W- UND 44 FARB. ABB. GB. 178 X 260 MM. ISBN 978-3-412-50591-2

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ORDO STUDIEN ZUR LITERATUR UND GESELLSCHAFT DES MITTEL­A LTERS UND DER FRÜHEN NEUZEIT HERAUSGEGEBEN VON ULRICH ERNST, CHRISTEL MEIER UND KLAUS RIDDER



EINE AUSWAHL

BD. 11  |  GESINE MIERKE MEMORIA ALS

BD. 7  |  ULRICH ERNST

KULTURTRANSFER

DER ›GREGORIUS‹

DER ALTSÄCHSISCHE »HELIAND«

HARTMANNS VON AUE

ZWISCHEN SPÄTANTIKE UND

THEOLOGISCHE GRUNDLAGEN – LEGEN-

FRÜHMITTELALTER

DARISCHE STRUKTUREN – ÜBERLIEFE-

2008. 375 S. BR.

RUNG IM GEISTLICHEN SCHRIFTTUM

ISBN 978-3-412-20090-9

2002. XIII, 285 S. BR. ISBN 978-3-412-09302-0

BD. 12  |  CHRISTIANE ACKERMANN IM SPANNUNGSFELD VON ICH UND

BD. 8  |  ULRICH ERNST,

KÖRPER

KLAUS RIDDER (HG.)

SUBJEKTIVITÄT IM »PARZIVAL«

KUNST UND ERINNERUNG

WOLFRAMS VON ESCHENBACH UND

MEMORIALE KONZEPTE IN DER

IM »FRAUENDIENST« ULRICHS VON

ERZÄHLLITERATUR DES MITTELALTERS

LIECHTENSTEIN

2003. XVII, 325 S. MIT 4 S/W-ABB. BR.

2009. X, 378 S. 3 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-412-09902-2

ISBN 978-3-412-20150-0

BD. 9  |  SIBYLLE HALLIK

BD. 13  |  RÜDIGER LORENZ

SENTENTIA UND PROVERBIUM

SUMMA IOVIS

BEGRIFFSGESCHICHTE UND

STUDIEN ZU TEXT UND TEXTGEBRAUCH

TEXTTHEORIE IN ANTIKE UND

EINES MITTELALTERLICHEN LEHR­

MITTELALTER

GEDICHTS

2008. XVI, 711 S. BR.

2013. 340 S. 3 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-412-02306-5

ISBN 978-3-412-21036-6

BD. 10  |  RUTH SASSENHAUSEN

BD. 14  |  SEBASTIAN HEUER

WOLFRAMS VON ESCHENBACH

DEUS CREATOR – POETA CREATOR

»PARZIVAL« ALS

– HOMO CREATOR

ENTWICKLUNGSROMAN

REFLEXE SCHÖPFERISCHEN BEWUSST-

GATTUNGSTHEORETISCHER

SEINS IM »WILHELM VON ÖSTERREICH«

ANSATZ UND LITERATUR-

JOHANNS VON WÜRZBURG

PSYCHOLOGISCHE DEUTUNG

2017. 411 S. BR.

2007. VII, 473 S. BR.

ISBN 978-3-412-50720-6

SG830

ISBN 978-3-412-18506-0

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar