Der weltanschaulich-politische Kampf in Rom am Vorabend des Sturzes der Republik [Reprint 2021 ed.] 9783112545966, 9783112545959

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Der weltanschaulich-politische Kampf in Rom am Vorabend des Sturzes der Republik [Reprint 2021 ed.]
 9783112545966, 9783112545959

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S. L. U T T S C H E N K O DER W E L T A N S C H A U L I C H - P O L I T I S C H E K A M P F IN ROM AM V O R A B E N D D E S S T U R Z E S DER REPUBLIK

S. L. U T T S C H E N K O

DER

WELTANSCHAULICH-POLITISCHE K A M P F IN ROM AM V O R A B E N D D E S S T U R Z E S DER REPUBLIK

1956

AKADEMIE - VERLAG

BERLIN

C. J I . YTHEHKO

HnefiHo-nojiHTHHecKaH 6opb6a B Pmue naneHHH pecnyßjiHKH

HAKAHYHE

Erschienen im Verlag der Akademie der "Wissenschaften der UdSSR Moskau 1952 Übersetzt aus dem Russischen von E. Salewski, Berlin Wissenschaftliche Redaktion; Dr. W . Seyfarth, Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin

Die Heraasgabe dieses Werkes wurde gefördert Tom Kulturfonds der Deutschen Demokratischen Republik

Erschienen im Akademie*Verlag, Berlin W 8, Mohrenstraße 89 Lizenz-Nr. 202 - 100/22/56 Copyright 1956 by Akademie-Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Satz und Druck: (IV[26|14) Tribüne, Verlag und Druckereien des FDGB Druckerei II, Naumburg (Saale)

Auftrags-Nr. 1217

Bestell- und Verlagsnummer: 5187 - Printed in Qermany

INHALTSVERZEICHNIS Seite

Vorwort

VI

Vorwort zur deutschen Ausgabe

IX I.

1. Kapitel: 2. Kapitel: 3. Kapitel:

JI^Atg u n d Civitas . Die Grundtendenzen des sozialen und politischen Kampfes in der römischen Gesellschaft des I I . u n d I. J a h r h u n d e r t s v. u. Z Das geistige Leben der römischen Gesellschaft im I I . und I. J a h r hundert v. u. Z

1 19 43

II. 1.Kapitel: 2. Kapitel: 3. Kapitel:

Die soziale und politische Utopie des I. J a h r h u n d e r t s v. u. Z. . . . Die Theorie des Sittenverfalls und ihre politische Bedeutung . . . . Die Entwicklung der politischen Ansichten Sallusts

61 88 107

III. 1. Kapitel: 2. Kapitel: 3. Kapitel:

Die Lehre von der Mischform des Staatsaufbaus und ihr Klassencharakter Der „ideale Bürger" u n d die officia amicitiae Cicero und die ideologische Vorbereitung des Prinzipats

135 155 180

*

Schluß

198 *

Anhang

201 I. Gaius Sallustius Crispus' Briefe an Caesar über den Staat . . . I I . M. Tullius Cicero, Briefwechsel mit Matius, ad fam. X I , 27—-28 Anmerkungen zu I und I I

205 218 223

*

Namen- u n d Sachverzeichnis

233

VORWORT Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, die politischen Ideen und Theorien der Zeit des Verfalls der Römischen Republik (I. Jahrhundert v. u. Z.) zu erforschen. Es bedarf keines Beweises, daß die gewählte Epoche für den Althistoriker von außerordentlichem Interesse ist. Die Militärdiktatur in Rom, deren Errichtung das Ende der auf Sklaverei beruhenden Römischen Republik besiegelte, setzte sich unter erbitterten Klassenkämpfen und in einer Atmosphäre kraß verschärfter sozialer Widersprüche durch. Diese Widersprüche und diese Kämpfe haben zweifellos auch im ideologischen Leben jener Zeit ihren Niederschlag gefunden. Das Problem des Sturzes der Römischen Republik und der Errichtung des Kaiserreiches gehört zu den zentralen Problemen der römischen Geschichte. Viele Jahrzehnte lang hat die bürgerliche Wissenschaft diese historische Erscheinung auf ihre Weise zu erklären und zu würdigen versucht, aber auch die sowjetischen Althistoriker hat das Problem des Sturzes der Republik stark beschäftigt1. Während jedoch die sozialen und politischen Verhältnisse dieser Zeit als weitgehend erforscht gelten können (wenn auch in vielen grundlegenden Fragen noch keine Klarheit herrscht), hat man den ideologischen Vorgängen im Leben der damaligen römischen Gesellschaft sehr viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Überhaupt hat sich die bürgerliche Wissenschaft als unfähig erwiesen, irgendeine allgemein darstellende wissenschaftliche Schilderung der politischen Ideologie der römischen Gesellschaft zu geben2. 1 Siehe z. B. die erschöpfende A r b e i t von N . A . MASCHKIN, Zwischen Republik und Kaiserreich, Leipzig 1954. Einzelfragen im Zusammenhang m i t dem allgemeinen Problem des Sturzes der Republik und der Errichtung des Prinzipats behandeln

A . W . MISCHULIN,

S . I . K O W A L J O W , W . S . SERGEJEW, W . N . D J A K O W u s w .

Unter

den

vor der Oktoberrevolution erschienenen Arbeiten verdient das größte Interesse die wissenschaftliche Abhandlung von P . K ) . B n n n e p , O i e p K i i HCTopira puMCKoä HMnepHH, ( R . J. Wipper, Abriß der Geschichte des Römischen Reiches), 2. A u f l . Berlin 1923. 2 Der einzige Versuch einer allgemein darstellenden Abhandlung ist die in weiten Kreisen bekannte Arbeit von R . PÖHLMANN, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken W e l t , 1925. A b e r erstens sind PÖHLMANNS Schlußfolgerungen für die marxistische Wissenschaft absolut unannehmbar, da er einer der typischsten Vertreter der für die bürgerliche Wissenschaft charakteristischen modernisierenden Richtung ist, und zweitens geht er in seinem Buch nur beiläufig auf die politischen Ideen der Römer ein.

Vorwog

VII

Dies ist natürlich, kein Zufall. Daß die bürgerliche Wissenschaft die ideologischen Probleme in der Periode des Sturzes der Republik ignoriert, erklärt sich dadurch, daß eine ernsthafte wissenschaftliche Untersuchung der politischen Ideologie unvermeidlich zur Frage des Klassenkampfes im Altertum führen würde. Bringt man die ideologischen Erscheinungen nicht mit dem Kampf der Klassen in Verbindung und leitet man sie nicht aus den Tatbeständen des Klassenkampfes ab, so ist es unmöglich, ihr wahres Wesen zu verstehen und sie ihrer geschichtlichen Bedeutung entsprechend zu würdigen, geschweige denn, sie in einer bestimmten Konzeption, in der sich das ideologische Leben einer Epoche widerspiegelt, systematisch darzustellen. Die bürgerliche Geschichtswissenschaft, die die Bedeutung des Klassenkampfes in der antiken Welt herabzusetzen oder aber ihn völlig aus der Geschichte der Menschheit auszuschließen sucht, hat keine richtige Auffassung des ideologischen Kampfes im Altertum entwickelt. Aber gerade aus diesen Gründen ist das von uns gewählte Thema von hervorragendem Interesse für den marxistischen Historiker. Der sowjetische Geschichtsforscher, der die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft kennt und sich auf den marxistisch-leninistischen Leitsatz stützt, daß der Kampf der Klassen die treibende Kraft des Geschichtsablaufs ist, besitzt alle Möglichkeiten, die Erscheinungen des ideologischen Lebens gründlich und allseitig zu analys'eren und auf ihre Klassengrundlage zurückzuführen. Zum Schluß wäre zu bemerken, daß das hier behandelte Thema auch ein spezielles Interesse bietet; es kann das verwickelte und noch nicht völlig gelöste Problem der historischen Bedeutung und der sozialen Grundlage des Prinzipats von einer neuen Seite her beleuchten, nämlich unter dem Gesichtswinkel seiner ideologischen Vorbereitung. Der Verfasser ist keineswegs der Meinung, daß es ihm gelungen sei, diese schwierige Aufgabe zu bewältigen. Das Problem des Sturzes der Römischen Republik und der Errichtung des Prinzipats ist, selbst weün man lediglich seine ideologische Seite in Betracht zieht, so gewaltig, daß die vorliegende Untersuchung nur als ein Versuch gewertet werden darf, die Erforschung dieses Problems in Angriff genommen zu haben. Deshalb hat sich der Verfasser in der vorliegenden Arbeit bemüht, die Hauptströmungen auf dem Gebiet des ideologischen Kampfes herauszustellen, wobei er diesen Kampf als ein Spiegelbild der sozialen und politischen Verhältnisse jener Zeit ansieht. Dadurch ist auch der Aufbau dieser Arbeit weitgehend bestimmt. Der erste Teil stellt eine Einführung dar, deren Aufgabe es ist, einige grundlegende Fragen allgemeinen Charakters zu klären. Es versteht sich von selbst, daß der marxistische Historiker das ideologische Leben einer beliebigen Klassengesellschaft nicht losgelöst von ihrer sozialen und ökonomischen Grundlage und von den konkreten Erscheinungsformen des Klassenkampfes erforschen kann. Es handelt sich also nicht um irgendeine „immanente Entwicklung" der Ideen, sondern um die Erforschung ihrer Entwicklung im Leben und Weben der geschichtlichen Vorgänge.

VIII

Vorwort

Im Zusammenhang damit wird der Untersuchung der politischen Ideologie der römischen Sklavenhaltergesellschaft die Bestimmung einiger Besonderheiten ihrer Klassenstruktur und der grundlegenden Entwicklungstendenzen des sozialen und politischen Kampfes vorausgeschickt. Diese Einleitung ist um so notwendiger, als sie es ermöglicht, von einer empirisch-beschreibenden Behandlung der Erscheinungen des ideologischen Lebens Abstand zu nehmen und statt dessen eine bestimmte Auffassung des weltanschaulich-politischen Kampfes in der römischen Sklavenhaltergesellschaft des I. Jahrhunderts v. u. Z. zu entwickeln. Im zweiten und dritten Teil der Arbeit wird eine Reihe ideologischer Erscheinungen und Begriffe analysiert, die in den Äußerungen der beiden markantesten Vertreter des weltanschaulich-politischen Kampfes dieser Zeit — Sallusts und Ciceros — ihren Niederschlag gefunden haben. Am Schluß der Arbeit findet man als Anhang die Übersetzung zweier wichtiger Quellen, die in der Arbeit selbst eingehend untersucht werden: der Briefe Sallusts an Caesar und des Briefwechsels Ciceros mit Matius. Dieser Anhang empfiehlt sich als zweckmäßig wegen der Bedeutung der genannten Quellen für einige in der Monographie entwickelte grundlegende Thesen.

V O R W O R T

Z U R

DEUTSCHEN

AUSGABE

Die sowjetischen Altertumsforscher haben die deutsche Altertumskunde von jeher geschätzt und geachtet und wissen den Beitrag der deutschen Gelehrten auf diesem Forschungsgebiet wohl anzuerkennen. Namen wie THEODOR MOMMSEN, E D U A R D M E Y E R , ULRICH VON WILAMOWITZ-MÖLLENDORF, E D U A R D N O R D E N und vieler anderer größer Vertreter der deutschen Altertumswissenschaft sind bei uns wohl bekannt, aber natürlich können wir marxistischen Historiker gewisse Konzeptionen dieser Gelehrten nicht widerspruchslos hinnehmen, wenn wir auch ihren wissenschaftlichen Großtaten Achtung zollen. Neben der Tatsache, daß die besten dieser Gelehrten die Quellenkritik auf die gebührende Höhe gebracht haben, betrachte ich als das größte Verdienst der deutschen Altertumswissenschaft den Umstand, daß ihr glänzende Musterbeispiele organischer Verknüpfung philologischer Analyse mit historischer Forschung zu verdanken sind. Diese Verknüpfung ist aber auch heute noch unerläßliche Voraussetzung jeglicher Erforschung der Antike. Daß auch wir sowjetischen Geschichtsforscher regen Anteil an dieser gemeinsamen Aufgabe aller Altertumswissenschaftler nehmen und daß wir uns auch gerade um die Lösung von Problemen auf dem ideologischen Gebiet bemühen, soll die vorliegende Arbeit zeigen. Diese erschien in der UdSSR im Jahre 1952 und liegt nunmehr in deutscher Fassung vor. In der deutschen Ausgabe wurden von mir einige unbedeutende Kürzungen und Präzisierungen in den Anmerkungen durchgeführt. Ich benutze die günstige Gelegenheit, meinen aufrichtigen Dank dem Bearbeiter der deutschen Ausgabe, Dr. WOLFGANG SEYFARTH, für seine umfangreiche und fruchtbare Arbeit auszusprechen, die unzweifelhaft der Verbesserung der Ausgabe gedient hat. Wenn mein Buch ungeachtet dessen, daß die in ihm dargelegten Gedankengänge bei manchen Gelehrten vielleicht auf Widerspruch stoßen werden, einen Beitrag zu der oben gekennzeichneten Aufgabe der Erforschung der Antike leistet und der Annäherung der sowjetischen Althistoriker mit den Altertumsforschern — besonders der Deutschen Demokratischen Republik — dient, halte ich meine Aufgabe für mehr als erfüllt. S.

Moskau, im August 1956.

Uttschenko

I ERSTES

KAPITEL

7 7 0 A I S UND CIVITAS Von jeher, bis in die allerletzte Zeit hinein, vertritt die bürgerliche Wissenschaft weitgehend die These von der engen Verwandtschaft der griechischen und der römischen „Zivilisation". Diese Behauptung dient den meisten Porschern sozusagen als Sprungbrett für ihre Bemühungen, die gemeinsamen Grundlagen der beiden Völker im Hinblick auf die Sprache, die griechisch-italische Religion, das Rechtswesen, die Staatsformen und sogar ihre Geschichte schlechthin möglichst deutlich zu unterstreichen 1 . Um die Ähnlichkeit, Verwandtschaft und Einheit der griechisch-italischen Welt zu beweisen, ignoriert und vernachlässigt die bürgerliche Wissenschaft völlig unberechtigterweise die für die eine wie für die andere Gesellschaft charakteristischen Besonderheiten. Dies alles geschieht zu einem ganz bestimmten Zweck: die bürgerlichen Forscher wollen um jeden Preis die „Bluts"- und „Geistesverwandtschaft" der beiden Völker beweisen. Der sowjetische Geschichtsforscher beginge einen schweren Fehler, wenn er diesen herkömmlichen Standpunkt der bürgerlichen Wissenschaft kritiklos hinnähme. Die sowjetischen Historiker dürfen Bögriffe wie „Ähnlichkeit", „Verwandtschaft", „Einheit" der griechisch-römischen Welt nicht wie einen Fetisch anbeten, sich nicht mit so einseitigen und allgemeinen Formein begnügen und nicht darauf verzichten, die konkreten Besonderheiten in der geschichtlichen Entwicklung dieser beiden Gesellschaften zu erforschen. Im Gegenteil, sie müssen diesen Besonderheiten gebührende Beachtung schenken und sie zum Gegenstand selbständiger Untersuchungen machen. Andererseits kann man natürlich keinesfalls behaupten, daß die griechische und die römische Gesellschaft überhaupt nichts Gemeinsames hätten. Eine derartige Behauptung wäre unsinnig, aber nicht etwa wegen der „Geistes"- oder 1

Wenn MOMMSEN von der „prinzipiellen" Verschiedenheit des römischen Volkscharakters oder „Geistes" v o m griechischen spricht und dem ersten derartige Eigenschaften, wie Abstraktheit des religiösen Denkens, Unfähigkeit zur Mythenbildung u. dgl., zuschreibt, so kann dies natürlich kaum als ernsthafter Beweis dafür gelten, daß er in dieser Frage eine Sonderstellung einnimmt. In neuester Zeit hat sich E. KORNEMANN (siehe z. B. seine „Römische Geschichte", Stuttgart 1938, Bd. I, oder „Staaten. Völker, Männer. Aus der Geschichte des Altertums", in: „ D a s Erbe der Alten", Leipzig 1934, Bd. X X I V ) über die Notwendigkeit geäußert, nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Verschiedenheiten in der griechisch-römischen Welt hervorzuheben, doch ist er über formale und rein äußerliche Gegenüberstellungen nicht hinausgekommen.

Die Entstehung der griechischen Polis

2

„Blutsverwandtschaft" der Griechen und Römer, sondern deswegen, weil die beiden Völker in einer bestimmten historischen Periode sich auf der gleichen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse befanden. Anders gesagt: Sie besaßen die gleiche soziale und ökonomische Grundlage, d. h. sie gehörten zu derjenigen Spielart der Sklavenhaltergesellschaft, die man als die antike Gesellschaft zu bezeichnen pflegt und deren Hauptmerkmal darin besteht, daß hier die auf Sklaverei beruhende Produktionsweise ihre höchste Entwicklungsstufe erreicht hat. Aber das schließt keineswegs aus, daß die griechische und die römische Gesellschaft ihre eigenen Entwicklungswege gegangen sind. Daher kann ein Versuch, einige Besonderheiten und gelegentlich auch recht wesentliche Verschiedenheiten im Hinblick auf die Klassenstruktur, die Formen des politischen Kampfes und die staatlichen Einrichtungen der griechischen wie der römischen Gesellschaft sichtbar zu machen, sich als nützlich erweisen für die Entwicklung einer neuen, auf der marxistisch-leninistischen historischen Methode beruhenden Vorstellung von der antiken Welt. Schon die geschichtliche Entwicklung der griechischen Polis einerseits und der italischen Stadtgemeinde andererseits ist bei weitem nicht die gleiche. Der Vorgang der Entstehung der griechischen Polis, soweit man sich ein bestimmtes Urteil darüber erlauben kann (also unter Beiseitelassung aller Hypothesen), ist in dieser Hinsicht höchst bezeichnend. Im Süden der Balkanhalbinsel und auf den Inseln des Ägäischen Meeres entstehen schon ziemlich früh (im wesentlichen seit der großen Kolonisationsbewegung des VIII. bis VI. Jahrhunderts v.u.Z.) Stadtstaaten, die in ihrer gesamten ökonomischen (und politischen!) Entwicklung auf die Seehandelswege angewiesen sind und ihrerseits an den Küsten des Mittelländischen und des Schwarzen Meeres immer neue Städte gründen. Übrigens läßt das bei der Gründung der Kolonien angewandte Verfahren gewisse Rückschlüsse auf die Entstehung der Stadtstaaten auch auf dem griechischen Festland zu. Hier ist vor allem die Tatsache kennzeichnend, daß viele griechische Stämme keine befestigten Siedlungen kannten und daher die frühgriechischen „Städte" vielfach überhaupt keine befestigten Zufluchtsstätten, keine Burgen waren 1 . F R I E D R I C H E N G E L S bezeichnet in seiner bedeutenden Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" die Entstehung des Staates bei den Athenern als ein besonders „typisches Muster" der Bildung des Staates, der sich „ganz rein" und ohne jede Einmischung äußerer oder innerer Vergewaltigung aus der Gentilgesellschaft zu einem Staat von sehr hoher Form — zu der auf Sklaverei beruhenden demokratischen Republik — entwickelt habe 2 . Dieser Vorgang der Bildung von Stadtstaaten stellt sich in großen Zügen 1

Siehe: E. KORNEMANN, Vom antiken Staat. „Staaten, Völker, Männer", S. 45. Siehe: F. ENGELS, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen, Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 118/119. 8

Entwicklung der griechischen Gentilsiedlung zum Stadtstaat

3

folgendermaßen dar: Im Mutterland entstand die Polis gewöhnlich, wie das homerische Epos zeigt, aus den Siedlungen des Gentiladels, während die Bauern die das umliegende Land bestellten und mehr oder weniger verschuldet und verknechtet waren, diesem Adel die materielle Lebensgrundlage schufen. Dieser natürlichste Weg schließt selbstverständlich die Möglichkeit der Entstehung von Stadtstaaten auch auf noch unbesiedeltem Gelände nicht aus; im Gegenteil, diese letzte Variante war besonders in der Küstenzone und bei der Anlage von Kolonien weit verbreitet. Während die griechischen Städte der homerischen Zeit gewöhnlich ziemlich weit von der Meeresküste entfernt lagen und der Aristokratie als Aufenthaltsort dienten, beginnen später Handelsniederlassungen an der Küste zu entstehen; sie werden zu großen und reichen Städten, in denen bereits ganze Stadtteile von Händlern und Handwerkern bewohnt sind. Hier kommt es vor allem darauf an, daß die Gentilsiedlung unter dem Einfluß der Entwicklung des Handels und des Handwerks (das sich von der Landwirtschaft losgelöst hat), also auch unter dem Einfluß der Herausbildung von Klassen, für die vor allem die fortschreitende Vermögensdifferenzierung der Gesellschaft und die Zunahme des Privateigentums maßgeblich war, zur Polis, zum Stadtstaat geworden ist. Die Herausbildung von Klassen in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit ist also von entscheidender Bedeutung für die Bildung der Sklavenhalterstaaten und die Umwandlung der Gentilsiedlungen in Stadtstaaten durch den Synoikismus mehrerer Siedlungen. „Der Staat entstand auf der Grundlage der Spaltung der Gesellschaft in feindliche Klassen, er entstand, um die ausgebeutete Mehrheit im Interesse der ausbeutenden Minderheit im Zaume zu halten." 1 Auf diese Weise entstehen auch die Küstenstädte im Mutterland, wie Korinth und Megara, die Inselstädte, wie Eretria und Chalkis, die kleinasiatischen Städte, wie Milet, Ephesos und Smyrna, und überhaupt bei weitem die meisten griechischen Stadtstaaten. Andere Städte werden in gesetzmäßiger Entwicklung zu Küstenstädten. Das gilt z. B. für Athen, das mit der Entwicklung des Küstenstrichs, der Entstehung des Piraeus und anderer Häfen und schließlich mit der Fertigstellung der Langen Mauern im Grunde genommen zu einer Küstenstadt wird. Eine untergeordnete, aber doch nicht unwesentliche Bolle spielte in der Entwicklung der griechischen Polis der geographische Faktor. Die naturalwirtschaftliche Grundlage der Sklavenhalterwirtschaft, der gebirgige Charakter des griechischen Festlandes, der sein Zerfallen in eine Reihe geographisch von einander isolierter Bezirke bedingt, der schlechte Zustand der Verkehrsverbindungen — das alles zusammen förderte die Entwicklung des für die griechischen Stadtstaaten so typischen Strebens nach ökonomischer und politischer Autarkie und des für Griechenland so typischen Partikularismus. 1 H. B. CTaJiHH, Bonpocbi jieHHHH3Ma ( J . W . STAUN, Fragen des Leninismus), 11. Auflage, Moskau 1939, S. 604; deutsch: ebenda, Dietz Verlag, Berlin 1951, S. 725/726.

4

Italische Siedlungen in der Urzeit

Selbst die Entwicklung des Handels, der in der Hauptsache auf die infolge eben dieser geographischen Bedingungen leichter zugänglichen Seewege angewiesen war, konnte dieser Autarkie, die eng mit den wesentlichsten Besonderheiten der hellenischen Polis zusammenhing, keinen ernsthaften Abbruch tun 1 . Bin ganz anderer Entwicklungsgang ist für die römische Polis charakteristisch. Wenn man von der Entstehung der Polis auf italischem Boden und besonders von der Entstehung Roms spricht, muß man im Auge behalten, daß sie hier im Unterschied zu Athen und den anderen am weitesten fortgeschrittenen griechischen Stadtstaaten durchaus nicht „ganz rein", d . h . nicht ohne Anwendung ,,. . . äußerer oder innerer Vergewaltigung . . . " 2 vor sich geht. Man darf nicht unberücksichtigt lassen, daß die Entstehung der römischen Polis, d. h. der Übergang von der Ordnung der Urgemeinschaft zu der auf Sklaverei beruhenden Klassengesellschaft, im wesentlichen mit der Periode der etruskischen Herrschaft über Latium zusammenfällt. Die in der Hauptsache bäuerliche italische Urbevölkerung hat offenbar lange Zeit keine Städte gekannt. Wie ihre nächsten Nachbarn, die Gallier, zerfiel sie in Gaue (pagi), die sich außerordentlich früh neben der auf Blutsverwandtschaft beruhenden Gliederung herausgebildet hatten, lebte in Weilern und versammelte sich nur in Zeiten allgemeiner Gefahr in befestigten Zufluchtsstätten, den mit Wall und Graben umgebenen oppida 3 . Da die Mauern dieser Zufluchtsstätten der einzige Schutz für die zerstreut lebenden Ackerbauern waren, galten sie von jeher als heilig, und es ist daher kein Zufall, daß die Legende erzählt, Remus sei von seinem Bruder erschlagen worden, als er die Mauer der neugegründeten Stadt zum Hohn übersprungen habe. 1

Aus dem oben Gesagten erhellt bereits, wie verschieden die ökonomische Entwicklung der meisten griechischen Stadtstaaten verlaufen ist und wie wenig Ähnlichkeiten zwischen dem agrarischen Sparta und dem Handel und Handwerk treibenden Athen bestehen. Nicht zufällig ist die Frage der „Ähnlichkeit" zwischen Sparta und R o m entstanden. Tatsächlich kann m a n sehr wohl von einer solchen „Ähnlichkeit" sprechen, wenn man darunter die Tatsache versteht, daß sich in R o m gerade diejenigen Elemente der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt haben, die in Sparta, wenn auch nur in keimhafter Form, bestanden, während sie für die griechische Polis im Prinzip nicht bezeichnend waren. Diese griechische Polis aber, d. h. das maßgebliche und seit dem VII. Jahrhundert v. u. Z. immer weiter um sich greifende Musterbild des griechischen Stadtstaates, war im Grunde genommen natürlich Athen. Will man also die griechische und die römische Welt einander gegenüberstellen, so kann es sich nur um einen Vergleich zwischen Athen und R o m handeln. W e n n nämlich die bürgerliche W i s s e n s c h a f t die These von dem Einfluß der griechischen Staatsformen oder speziell der griechischen Kultur auf Rom verficht, dann versteht sie dabei unter „Griechenland" stets, direkt oder indirekt, nicht etwa Sparta, sondern gerade den athenischen Staat! Wenn m a n übrigens schon von einem „kulturellen Einfluß" sprechen will, so ist dabei natürlich nicht sowohl an den Einfluß der griechischen oder gar speziell der athenischen, als vielmehr an den der hellenistischen Kultur zu denken. 2

Siehe: F. ENGELS, Der Ursprung der Familie . . ., a. a. O., S. 118/119.

3

Cic., de rep., I., 25, 41—26, 42.

Besonderheiten der Klassenstruktur der antiken Gesellschaft

5

Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten, daß die civitas, die auf italischem Boden der hellenischen Polis entspricht, durch die Vereinigung solcher oppida entstanden ist. Ein sehr wesentliches Moment bei der Entstehung der italischen Städte — in erster Linie bei den Latinern — war der Kampf um den Boden. Dies hatte zur Folge, daß die italischen Städte im Gegensatz zum griechischen Partikularismus frühzeitig eine expansionistische Politik entwickelten. Natürlich war die territoriale Expansion in einem gewissen Grade auch für die griechischen Städte kennzeichnend, aber wiederum vorzugsweise für die Agrarstädte. In den fortgeschrittensten hellenischen Städten führte eine verhältnismäßigt; Übervölkerung gewöhnlich zur Gründung von überseeischen Kolonien und nicht zur Eroberung der in der Nähe liegenden Landstriche 1 . Keinesfalls darf man natürlich die Rolle der ökonomischen Differenzierung und der Entstehung von Klassen, d. h. die inneren Ursachen dieser Expansion, in der italischen Gesellschaft unterschätzen. Bei der Entstehung der römischen Polis spielte sich dieser Vorgang jedoch bei weitem nicht so „rein" ab, wie er es im Falle Athens war. Zweifellos war er auch wirksam; aber erstens wirkte er in der stagnierenden Agrargesellschaft der Italiker langsamer und nicht so umwälzend und zerstörend, und zweitens wurde er durch jene „äußeren" Umstände verwickelt und abgewandelt, die aufzutreten pflegen, wenn die Staatsbildung nicht „ganz rein" vor sich geht, d. h. durch Eroberung, fremde Unterdrückung, Kampf mit den Nachbargemeinden u. dgl. Damit müssen wir uns im Hinblick auf die Entstehung der italischen Polis begnügen, wenn wir uns nicht auf Hypothesen einlassen wollen; denn im Grunde genommen wissen wir über die italische Polis sehr wenig. Der oben festgestellte grundsätzliche Unterschied in der Entwicklung der Handel und Handwerk treibenden griechischen Polis und der agrarischen civitas der Italiker mußte sich notwendigerweise auf die Besonderheiten der Klassenstruktur der griechischen und der römischen Gesellschaft auswirken, und zwar von der Entstehungszeit der Klassen bis zu der Neuverteilung der Klassenkräfte und Klassengruppierungen in der Zeit, über die die Quellen bereits genauere Auskunft geben. Die bürgerliche Wissenschaft, die den Begriff der gesellschaftlichen Klassen, zumal im Hinblick auf die antike Welt, immer wieder entstellt, kann diese Frage nicht beantworten. Aber auch die sowjetischen Forscher, die in ihren Arbeiten die konkreten Tatbestände und Erscheinungsformen des Klassenkampfes in der antiken Welt eingehend untersuchen, haben sich für die Erforschung der Klassenstruktur der Sklavenhaltergesellschaft verhältnismäßig wenig interessiert. Auch in der vorliegenden Schrift ist es natürlich nicht möglich, auf diese Frage in ihrem vollen Umfang einzugehen. Wir müssen uns daher auf grundlegende und prinzipielle Erwägungen beschränken. 1

Über die Ursachen der Kolonisation im Altertum siehe: K. Werke, Bd. IX. 1933, S. 278 (russ. Ausgabe).

MARX U. F .

ENGELS,

6

Die Klassen der antiken Gesellschaft

Die antike Sklavenhaltergesellschaft bestand aus Freien und Sklaven. Die ausgebeutete und unterdrückte Hauptklasse waren die Sklaven. Die freie Bevölkerung zerfiel in Griechenland wie in Rom in zwei Klassen: in die Klasse der sklavenhaltenden Großgrundbesitzer1 (zu den großen Sklavenbesitzern gehören auch die Besitzer der mit Sklaven betriebenen Manufakturen, die Kaufleute, die Wucherer, die Steuerpächter u. dgl.) und in die Klasse der Kleinproduzenten, der die Bauern und die Handwerker angehörten2. Wenn man also von der antiken Gesellschaft spricht, so hat man die genannten Klassen im Auge zu behalten3. Gleichzeitig aber muß — weil es sonst unmöglich ist, eine richtige Vorstellung vom Klassenkampf in der antiken Welt zu vermitteln — betont werden, daß diese Klassen in dem System der herrschenden Produktionsweise und der durch sie bestimmten Produktionsverhältnisse nicht ganz gleichwertig, nicht ganz gleichbedeutend waren. Es empfiehlt sich, den Begriff der Haupt- und Nebenklassen (Übergangsklassen) einzuführen. Jede antagonistische Produktionsweise bringt zwei Hauptklassen hervor. In der Sklavenhaltergesellschaft sind dies die Sklaven und die Sklavenbesitzer, in der Feudalgesellschaft die leibeigenen Bauern und die Feudalherren, in der kapitalistischen Gesellschaft die Proletarier und die Kapitalisten. Da nun aber in den Klassengesellschaften Reste früherer Produktionsweisen erhalten bleiben, wenn sich die Elemente neuer Produktionsweisen herausbilden, bestehen neben den Hauptklassen auch Nebenklassen (Übergangsklassen)4. Eine solche Nebenklasse war in der antiken Sklavenhaltergesellschaft die Klasse der Kleinproduzenten, d. h. der Bauern und Handwerker. Doch bedarf der Begriff „Übergangsklasse" hier einer Einschränkung. Man darf sich die Sache nicht so vorstellen, als sei die Klasse selbst von der vorhergehenden Ordnung 1 Siehe: F. ENGELS, Der Ursprung der Familie . . . . a. a. O. passim. ENGELS bezeichnet die Händler, die Kaufleute als „vermittelnde Klasse" zwischen den Produzenten (S. 175).

* Charakteristisch für die Lage der Klasse der Kleinproduzenten in der antiken Gesellschaft — dies muß ausdrücklich bemerkt werden — ist, daß sie, auch wenn sie Kleinproduzenten blieben und sogar ausgebeutet wurden, z. B. durch die Kaufleute, die Wucherer und die Großgrundbesitzer, doch gleichzeitig selbst sporadisch und natürlich in sehr beschränktem Maße die Arbeit von Sklaven ausbeuten konnten. Daraus ergibt sich jedoch nicht etwa, daß sie als Sklavenbesitzer zu betrachten sind. I m Zuge der Entwicklung der auf Sklaverei beruhenden Produktionsweise wurden die Wohlhabenderen unter ihnen zu Sklavenbesitzern, aber die meisten wurden ruiniert und in den primitiven Sklavenhaltergesellschaften zu Sklaven (Schuldsklaverei), in den entwickelteren zu „Lumpenproletariern". * Auf die außerordentlich wichtige, aber komplizierte Frage, inwiefern sowohl die griechische als auch die römische Sklavenhaltergesellschaft ein ziemlich buntes und eigenartiges ständisches Bild bot, gehen wir hier einstweilen bewußt nicht ein. Diese Frage bedarf einer besonderen Untersuchung. 4

Siehe: HcTopaiecKHÖ MaTepnajiH3M, nofl pen. O. B. KoHCTaHTHHOBa (Der

historische Materialismus, unter der Redaktion von F. W . KONSTANTINOW), 1950, S. 215/216.

Die Widersprüche in der antiken Sklavenhaltergesellschaft

7

der Urgemeinschaft, von der „patriarchalischen Epoche" 1 her erhalten geblieben, und zwar einfach deshalb nicht, weil die Ordnung der Urgemeinschaft keine Klassen kennt. In der Entstehungszeit der Sklavenhaltergesellschaft und des Sklavenhalterstaates bilden die Gemeindebauern und die Handwerker natürlich bereits eine bestimmte Klasse. Ihr Schicksal war in Griechenland und in Rom ein wenig verschieden, aber doch nicht so sehr, wie man glauben möchte. Im wesentlichen war es eine Klasse, die durch die Entwicklung der auf Sklaverei beruhenden Produktionsweise zur Verarmung und zum Absinken in das antike „Lumpenproletariat" verdammt war 8 . Die wichtigsten antagonistischen Klassen der antiken Gesellschaft sind also die Sklaven und die Sklavenbesitzer, und in den Widersprüchen zwischen ihnen gelangt der entscheidende Widerspruch dieser Produktionsweise zum Ausdruck. Das schließt natürlich nicht aus, daß es in der Sklavenhaltergesellschaft noch andere Widersprüche gibt, die in bestimmten Entwicklungsabschnitten dieser Gesellschaft sogar zeitweilig in den Vordergrund treten können (z. B. auf den frühen Entwicklungsstufen der antiken Sklavenhaltergesellschaft). Über die Entstehung eben dieser Widersprüche und dieser Klassen in der antiken Gesellschaft muß Klarheit geschaffen werden. Daß es in der Zeit der Urgemeinschaft weder Klassen noch antagonistische Widersprüche gegeben hat, liegt auf der Hand. Doch zeigen die ersten mehr oder weniger glaubwürdigen historischen Quellen die griechische wie die römische Gentilgesellschaft bereits im Stadium der Auflösung. Wenden wir uns diesem Entwicklungsabschnitt der antiken Gesellschaft zu, so müssen wir feststellen, daß gerade damals Widersprüche antagonistischen Charakters entstehen und sich Klassen herauszubilden beginnen. E N G E L S stellt zur Entstehung des athenischen Staates fest: „Hier entspringt der Staat direkt und vorherrschend aus den Klassengegensätzen, die sich innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln" 3 . 1 Vergleiche: HcTopiwecKHil MaTepnajlH3M. (Der historische Materialismus), 1950, S. 217. — Unserer Ansicht nach wird diese Frage hier nicht richtig behandelt. Die Ordnung der Urgemeinschaft konnte nur das „Material" für die Bildung der Klasse der Kleinproduzenten liefern. 2 Natürlich muß man berücksichtigen, daß alles Gesagte nur für bestimmte Entwicklungsabschnitte der antiken Gesellschaft und für ihr ursprüngliches Gebiet gilt, da die auf Sklaverei beruhende Produktionsweise sich nur hier so weit entwickelt hat, daß sie das Schicksal der Bauernschaft entscheidend beeinflussen konnte. In den meisten Provinzen des Römischen Reiches gab es von der vorrömischen Zeit bis ins Mittelalter hinein eine Bauernschaft, z. B. die freien Bauern in Gallien und Syrien, die kleinasiatischen Aaoi [laoi] und ndgoixot [paroikoi] (diese waren von den Städten abhängig), die ägyptischen yeagyol [georgoi] usw. Andererseits ist die Bauernschaft der spätrömischen Zeit als eine völlig andere, neue soziale Kategorie zu betrachten, als der Träger einer neuen Produktionsweise, die im Schöße der Sklavenhaltergesellschaft entstanden war. * F. ENGELS, Der Ursprung der Familie . . ., a. a. O., S. 168.

U t t s c h e n k o , Der politische Kampf in Rom

2

Voraussetzungen für die Entstehung gesellschaftlicher Klassen

8

Voraussetzungen für die Entstehung gesellschaftlicher Klassen sind vor allem die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die überhaupt erst die Möglichkeit schafft, Produkte aus der Hand zu geben, und sodann die Entstehung des Privateigentums, das für die Entwicklung der Vermögensungleichheit bestimmend ist. Der erste der genannten Faktoren ermöglichte es, den Kriegsgefangenen zum Sklaven zu machen, um seine Arbeitskraft zu verwenden. In dem Augenblick, wo die Gemeinden Kriegsgefangene erbeuten und diese zu Sklaven machen, genau in diesem Augenblick beginnt auch die Spaltung der Gesellschaft in Klassen, nämlich in Sklaven und Sklavenbesitzer. E N G E L S bemerkt dazu: „Die Kriegsgefangnen wurden in Sklaven verwandelt. Die erste große gesellschaftliche Teilung der Arbeit zog mit ihrer Steigerung der Produktivität der Arbeit, also des Reichtums, und mit ihrer Erweiterung des Produktionsfeldes, unter den gegebenen geschichtlichen Gesamtbedingungen, die Sklaverei mit Notwendigkeit nach sich. Aus der ersten großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung entsprang die erste große Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen: Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeutete" 1 . Der zweite der genannten Faktoren hat zur Folge, daß innerhalb der Gemeinde selbst einzelne Personen (die Häupter besonders wohlhabender Familien) offensichtlich, weil die öffentlichen Ämter in bestimmten Familien erblich werden, die Möglichkeit erhalten, sich Sklaven und dann (erheblich später) auch Boden als Privatbesitz anzueignen. Dies aber bedeutet, daß sich neben der Gliederung der Gesellschaft in Sklaven und Sklavenbesitzer noch eine andere Klassenteilung herauszubilden beginnt, nämlich die in sklavenhaltende Großgrundbesitzer und Kleinproduzenten (d. h. in den immer reicher werdenden Gentiladel und das immer mehr verarmende „gemeine Volk"). E N G E L S sagt dazu: „Der Unterschied von Reichen und Ärmeren tritt neben den von Freien und Sklaven — mit der neuen Arbeitsteilung eine neue Spaltung der Gesellschaft in Klassen" 2. Diese Vorgänge verliefen parallel, aber augenscheinlich in Griechenland und Rom in etwas verschiedener Weise. Für Griechenland sind sie ziemlich früh bezeugt. Einerseits hören wir schon bei Homer3 von der Ausbeutung der Sklavenarbeit, berichtet Hesiod4 über die Verwendung von Sklavenarbeit in der Wirtschaft des kleinen Landbesitzers, läßt sich aus Bemerkungen Theopomps5 erschließen, daß auf der Insel Chios offenbar schon sehr früh die Sklavenarbeit in größtem Ausmaße verwendet wurde. Andererseits gibt es für die Frühzeit Athens eine dem Aristoteles zugeschriebene Bemerkung 6 über die sogenannte Verfassung des Theseus, wonach die ganze Bevölkerung Attikas in Eupatriden, Geomoren und Demiurgen eingeteilt wurde. 1

F . ENGELS,

S. 160.

« Ebenda, S. 162. * Horn., Od., VII, 103—106; X X , 105—110; X X I I , 421—423. 4 Hes., Op. et dies, 465—471. 5 Ath., VI, 265b—c (mit Bezugnahme auf Theopomp). 6 Plut., Thes., 25 (mit Bezugnahme auf Aristoteles).

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Die Zusammensetzung des athenischen Demos

In dieser Einteilung sieht E N G E L S 1 die Entstehung der privilegierten Klasse der Eupatriden und der Klasse der Kleinproduzenten. Alle diese Tatsachen berechtigen jedoch noch nicht zu der Ansicht, daß sich damals bereits eine Klassengesellschaft mit ihren grundlegenden Einrichtungen gebildet hätte. Zugleich aber war es zweifellos die Zeit der Entstehung einer neuen Formation, und diese Entstehung vollzog sich unter sehr verwickelten Auseinandersetzungen. Die auf Sklaverei beruhende Produktionsweise stand im Kampf mit der Arbeit des freien Kleinproduzenten, die „industriellen und kaufmännischen Reichen" kämpften gegen den Gentiladel, und die verarmende Bauernschaft schließlich kämpfte um Land. Erst durch diesen Kampf und durch die Vernichtung der Organe der Gentilordnung oder ihre Umwandlung in staatliche Organe bilden sich die führende Produktionsweise und die Sklavenhaltergesellschaft heraus mit ihren genau umschriebenen Klassen, mit ihrer Verteilung der Klassenkräfte, bei der die Sklaven und die Sklavenbesitzer bereits als die antagonistischen Hauptklassen auftreten 2 , und schließlich mit ihrem Staatsapparat. In Athen vollzieht sich diese qualitative Veränderung zur Zeit der politischen Revolutionen des Solon und des Kleisthenes. E N G E L S bemerkt über die Ergebnisse der damaligen Umwälzungen: „Wie sehr der jetzt in seinen Hauptzügen fertige Staat der neuen gesellschaftlichen Lage der Athener angemessen war, zeigt sich in dem raschen Aufblühn des Reichtums, des Handels und der Industrie. Der Klassengegensatz, auf dem die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen beruhten, war nicht mehr der von Adel und gemeinem Volk, sondern der von Sklaven und FreieD, Schutzverwandten und Bürgern" 3 . Alle diese Ausführungen vermitteln eine hinreichende Vorstellung davon, wie kompliziert die Klassenstruktur der athenischen Sklavenhaltergesellschaft war. Diese Vorstellung läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen, nämlich durch eine Untersuchung des Begriffs „Demos". Der athenische Demos stellte in der Blütezeit Athens (bis zum Peloponnesischen Krieg einschließlich) bekanntlich keine einheitliche, gleichartige soziale Kategorie dar. Zum athenischen Demos gehörten einerseits die kleinen und mittleren Grundbesitzer (die attischen Bauern), andererseits höchst verschiedenartige städtische Elemente: die Kaufleute, Handwerker, Manufakturbesitzer, die Ruderer und das untere Kommandopersonal der Flotte 4 und das städtische „Lumpenproletariat". Aus dieser so verschiedenartigen Zusammensetzung des Demos ergaben sich die Kompliziertheit und die Widersprüche des Klassenkampfes im athenischen Staat. Denn selbst innerhalb der Grenzen des Begriffs „Demos" bestanden die verschiedensten Gruppierungen und Zwischenschichten, deren Interessen häufig völlig verschieden und manchmal auch einander direkt F. ENGELS, Der Ursprung der Familie . . ., a. a. O., S. 109. Dies schließt natürlich nicht aus, daß es auch innerhalb der freien Bevölkerung Widersprüche und Kämpfe gab. 8 F. ENGELS, Der Ursprung der Familie . . . . a. a. O., S. 118. 4 Siehe z. B. Ps.-Xen., Resp. Ath., 1, 2. 1

2

2*

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Die altrömische Gemeinde

entgegengesetzt waren, ganz abgesehen von den Interessengegensätzen zwischen dem Demos und den Metöken oder gar zwischen den Eupatriden und dem Demos. Sehr wesentlich war der Umstand, daß in Athen zum Demos Kaufleute und Gewerbetreibende gehörten, die hier eine führende Stellung einnahmen. Die wirtschaftliche Macht und die politische Aktivität dieser Bevölkerungsschicht trugen nicht wenig zur Festigung der Stellung des Demos in seiner Gesamtheit bei. Gehen wir nunmehr zu Rom über, so ist festzustellen, daß das allgemeine Schema der Entwicklung der Klassenwidersprüche und der Bildung der Sklavenhaltergesellschaft das gleiche bleibt. Das ist ganz natürlich, da die oben genannten Voraussetzungen für die Bildung von Klassen die gleichen waren. Aber natürlich besaß die Sklavenhaltergesellschaft in Rom in ihrer Entstehungszeit ihre besonderen Züge. Die altrömische Gemeinde teilte sich bekanntlich in Patrizier und Klienten; aber nicht einmal die Frage, wer die Patrizier und die Klienten eigentlich waren, kann als endgültig gelöst gelten. Unbekannt ist auch, ob diese Teilung in den Grenzen der Gemeinde allgemein war, d. h. ob der gesamte alte populus Romanus in diese beiden Kategorien zerfiel 1 oder ob es einen Bevölkerungsteil gab, der zwar zum populus, nicht aber zu den Patriziern oder den Klienten gehörte. Noch unklarer wird das Bild durch das Auftauchen der Plebejer. Wir wollen hier nicht auf die außerordentlich verwickelte und bei weitem noch nicht entschiedene Frage der Herkunft der Plebejer eingehen, sondern begnügen uns mit der Feststellung, daß der Kampf zwischen Patriziern und Plebejern, den man wahrscheinlich in seinem Anfangsstadium als einen Kampf zweier Gemeinden betrachten muß 2 , später mit der fortschreitenden Vermögensungleichheit und ökonomischen Differenzierung in einen Kampf gegen die Herrschaft des patrizischen Gentiladels hinüberwächst 3 . Ein Beweis dafür, daß die sozialen Widersprüche schon sehr früh eine höchst wichtige Rolle in dem Kampf der Patrizier und Plebejer zu spielen beginnen, ist die Verfassung 1 Diesen Standpunkt vertrat z. B. schon B. G. N I E B U H R , der in seiner „Römischen Geschichte" (Neue Ausg. v. M. Isler, Bln. 1873—74, S. 265) behauptete, das römische Volk habe vor der Entstehung der patrizisch-plebejischen Gemeinde aus den Patriziern und den Klienten bestanden. Aber diese These läßt sieh kaum beweisen. 2 Die plebejische Gemeinde darf man sich natürlich in der ersten Zeit nicht so organisiert vorstellen, wie es die patrizische Gemeinde war. Darin lag ihre Schwäche. Gemeindeeinriehtungen tauchen bei den Plebejern erst allmählich, im Laufe ihres Kampfes mit den Patriziern auf. 3 Dieser Standpunkt hat nichts zu tun mit der Theorie E D U A R D M E Y E R S und anderer bürgerlicher modernisierende Historiker, wonach die ökonomische Differenzierung den Zerfall der römischen Gesellschaft in Stände, analog den Ständen des feudalistischen Europas, verursacht haben soll. Die ökonomische Differenzierung der römischen Gesellschaft hat das Auftreten der Patrizier und Plebejer keineswegs verursacht. Die Quellen, denen gegenüber sich E D U A R D M E Y E R in diesem Falle, wie es für die bürgerliche Wissenschaft am Ende des X I X . und zu Beginn des X X . Jahrhunderts kennzeichnend ist, hyperkritisch verhielt, bestätigen dies. Doch wäre es unsinnig, die bedeutende Rolle dieser Differenzierung in der weiteren Entwicklung der Klassenwidersprüche im alten Rom zu leugnen.

Besonderheiten der Entwicklung der römischen Gesellschaft

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des Servius Tullius, die im Grunde das ganze römische „Volk" als eine einheitliche Bürgergemeinde betrachtet und weder Patrizier noch Plebejer kennt 1 , dafür aber deutlich erkennen läßt, daß die Vermögensdifferenzierung innerhalb der Gesellschaft schon ziemlich weit vorgeschritten war 2 . Mit der Reform des Servius Tullius, die zu den frühesten Wendepunkten in dem Kampf der Patrizier und Plebejer gehörte, begann der Zusammenbruch der alten Gentilordnung 3 und die Errichtung der auf Sklaverei beruhenden Klassengesellschaft in Rom. Aber der Kampf der Patrizier und Plebejer ist damit nicht zu Ende, sondern er geht weiter, und zwar nicht nur als ein sozialer Kampf, sondern in einem gewissen Grade auch als ein Kampf zweier Gemeinden. Zur endgültigen Vereinigung der beiden Gemeinden, die ihren Ausdruck insbesondere in der Verschmelzung der patrizischen und der plebejischen Aristokratie gefunden hat, kommt es erst in der zweiten Hälfte des IV. Jahrhunderts. Jetzt steht die römische Sklavenhaltergesellschaft mit ihrer neuen Verteilung der Klassenkräfte vor uns, mit ihrem ,,. . . Aufgehn des Patrizieradels in der neuen Klasse der großen Grund und Geldbesitzer . . ." 4 . So viel über den nicht weniger verwickelten Vorgang der Entstehung der Klassengesellschaft in Rom. Hervorzuheben sind einige diese Gesellschaft kennzeichnende besondere Züge. Vor allem ist festzustellen, daß die Differenzierung der freien Bevölkerung in Rom, in Anbetracht dessen, daß die frühe römische Gesellschaft eine reine Agrargesellschaft war, anders und langsamer vor sich ging. Entscheidend ist jedoch nicht nur das langsamere Entwicklungstempo, sondern auch die Eigenart dieser Entwicklung. In Athen nämlich geht die neue Oberschicht der Sklavenhalter, die Kaufleute und die Manufakturbesitzer, aus dem Demos hervor, in Rom dagegen sondert sie sich aus der Plebs aus, kommt also nicht aus der Patriziergemeinde selbst, sondern von außen, und dadurch wird der Klassenkampf in der römischen Gesellschaft in einem gewissen Grade sogar verschärft. Andererseits vollzog sich in Athen die Konsolidierung der wirtschaftlich starken und politisch aktiven Schichten des Demos (die Herausbildung der Kaufmannschaft und der Handwerker innerhalb des Demos) in einem Entwicklungsstadium der athenischen Gesellschaft, in dem noch erbitterte Kämpfe um die Beseitigung der Überreste der Gentilordnung, gegen die Herrschaft der Gentilaristokratie stattfanden, während sich diese Vorgänge in Rom in einer etwas anderen sozialen Atmosphäre abspielen. Hier vollziehen sie sich in einer Entwicklungsetappe der Sklavenhaltergesellschaft, in der die Gentilaristokratie ihre wirtschaftliche und politische Herrschaft im wesentlichen bereits eingebüßt hat (d. h. etwa um die 1

Siehe z. B. Dion., IV, 20, 2—3; Liv., I, 43, 10. Siehe z. B. die Erklärung des Terminus „Proletarier" bei Gell., N A , X V I , 10, 1—5. 3 Siehe P. ENGELS, Der Ursprung der Familie . . ., S. 168: ,,. . . der Sieg der Plebs sprengt die alte Geschleehtsverfassung und errichtet auf ihren Trümmern den Staat, worin Gentilaristokratie und Plebs bald beide gänzlich aufgehn." 4 P. ENGELS, Der Ursprung der Familie . . ., a. a. O., S. 130. 2

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Die römische Kitterschaft — Entartung der Plebs

Wende des IV. und I I I . Jahrhunderts — Zensur des Appius Claudius, Beginn der Prägung von Silbermünzen im Jahre 268 usw.). Vielleicht führen gerade diese Ursachen zu der grundsätzlich neuen Verteilung und dem anderen Verhältnis der Klassenkräfte in dem römischen Sklavenhalterstaat in einer Zeit der schärfsten sozialen Konflikte, d. h. im II. und I. Jahrhundert. Im Gegensatz zu dem, was in Athen im V. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des IV. Jahrhunderts zu beobachten ist, scheiden in Rom die Oberschichten der Kaufmannschaft und der Handwerker (die Großkaufleute — negotiatores —, die Wucherer und die Manufakturbesitzer) nicht nur faktisch, sondern auch juristisch aus dem Demos aus. Zur Zeit der Gracchen bildet sich diese Schicht als ein besonderer, privilegierter Stand (die Ritterschaft) heraus, der sich deutlich von der späteren Plebs abgrenzt. Die Masse der kleinen Handwerker und Kaufleute dagegen, die nach wie vor zur Plebs gehört, geht allmählich zugrunde und verwandelt sich in „Lumpenproletarier". Genau genommen gab es also schon im II. Jahrhundert v. u. Z. in Rom keinen Demos mehr in dem Sinne des Wortes, den man hinsichtlich des athenischen Demos (in der Blütezeit Athens) zu gebrauchen pflegt. J a noch mehr, gerade von diesem Zeitpunkt an wird die Entartung der römischen Plebs in der weit fortgeschrittenen Verelendung der Bauernschaft und der Zunahme der „lumpenproletarischen" Schichten der städtischen Bevölkerung sichtbar. Das Endergebnis dieser verwickelten und qualvollen Vorgänge innerhalb der römischen Gesellschaft fällt mit der Agonie der Republik zusammen: ausgeblutet durch die Bürgerkriege (seit der Zeit des Marius stellten die Plebejer das Hauptkontingent der Legionäre), wird die römische Plebs, die jede selbständige politische Bedeutung verloren hat, schließlich zum „Stimmvieh", das die oligarchische Oberschicht aushält und als willfähriges Werkzeug benutzt. Noch wesentlicher ist die Tatsache, daß die unmittelbaren Widersprüche zwischen den antagonistischen Hauptklassen der Sklavenhaltergesellschaft, d. h. zwischen den Sklaven und den Sklavenbesitzern, ihren vollständigsten, schärfsten und umfassendsten Ausdruck erst fanden, als der römische Sklavenhalterstaat sich bereits herausgebildet hatte. Man kann behaupten, daß in der griechischen Geschichte die heftigsten Klassenzusammenstöße zwischen den Reichen und den Armen, zwischen der Klasse der Großgrundbesitzer, Kaufleute und Industriellen und der Klasse der freien Kleinproduzenten stattgefunden haben, während die Sklaven nur sporadisch in Aktion traten (Aufstand der Heloten, Flucht der Sklaven während des Dekeleischen Krieges). Aber in Rom, besonders schon in der Zeit, in der es sich aus einer italischen civitas in eine Mittelmeer-Großmacht verwandelt, nehmen die Sklavenaufstände (die sizilischen Aufstände, Spartacus) derartige Ausmaße an, daß sie die herrschenden Klassen in ihrer Existenz bedrohen. Dar radikale Widerspruch zwischen den antagonistischen Hauptklassen der Sklavenhalterformation tritt in dieser Wucht und Schärfe zum erstenmal unmittelbar zur Zeit der Herrschaft Roms über die Mittelmeerwelt zutage. Zugleich hat die Verwendung der Sklavenarbeit in Ausmaßen, wie sie Griechenland und der hellenistischen Welt unbekannt sind, eine ungeheuerliche Ver-

Der Begriff der politischen Partei im Altertum

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armung der Kleinproduzenten zur Folge. Infolgedessen verschärft sich neben dem Kampf zwischen den antagonistischen Hauptklassen auch der Kampf zwischen der Klasse der Kleinproduzenten und den Sklavenbesitzern. Das zeigen die stürmischen Ereignisse in den letzten Jahrzehnten der Römischen Republik bis zu den Bürgerkriegen nach dem Tode Caesars. Aus allen diesen Ursachen erwächst jene spezifische Tendenz, die letztlich eigenartige politische Formen erzeugt. Die Klasse der römischen Sklavenbesitzer sucht ihre Kräfte gegenüber den ausgebeuteten Massen der Bevölkerung zu festigen. Tatsächlich ist in der spätrepublikanischen römischen Geschichte diese sich allmählich herausbildende Tendenz zur Konsolidierung der herrschenden Klasse bis zur Errichtung der Militärdiktatur und der Versöhnung der verschiedenen sozialen Gruppen und „Zwischenschichten" unter der „über den Klassen stehenden" Ägide des Augustus zu beobachten. Zweifellos ist es auf alle diese Erscheinungen zurückzuführen, daß sich in der herrschenden Klasse Roms eine eigenartige Ideologie herausgebildet hat, die sich in vieler Hinsicht von der Ideologie der herrschenden Klasse der griechischen Polis unterscheidet. Aber hierauf werden wir weiter unten eingehen; jetzt wollen wir nur feststellen, wie sich die Eigenart in der Verteilung und im Verhältnis der Klassenkräfte auf die Formen ausgewirkt hat, in denen sich das politische Leben und der politische Kampf in der athenischen und in der römischen Gesellschaft entwickelt haben. Außerordentlich interessant ist die Frage der politischen Parteien im Altertum. Jeder Versuch, diese Frage zu lösen, setzt vor allem eine genaue Umgrenzung des Begriffs Partei im Hinblick auf die antike Welt voraus. Natürlich ist der Terminus „Partei" in seiner heutigen Bedeutung, wobei man an ein fest umrissenes Programm und eine feste Organisation, an eine ständige Mitgliedschaft, an einen Parteiapparat usw. denkt, auf die antike Welt überhaupt nicht anwendbar. Soweit es sich indessen um den organisierteren Teil der herrschenden Klasse der Sklavenbesitzer oder der Klasse der Kleinproduzenten handelt, der durch bestimmte politische Interessen, durch gemeinsame politische Anschauungen zusammengehalten wird, braucht man trotzdem nicht völlig auf den Begriff „Partei" zu verzichten. Derartige Parteien sind als Wortführer der Klasseninteressen verschiedener Gruppen und Zwischenschichten der freien Bevölkerung aufgetreten. Doch selbst wenn man den Begriff der politischen Partei hinsichtlich der antiken Welt in diesem allgemeinsten und elementarsten Sinne nimmt, muß man zugeben, daß er sich auf die konkreten Erscheinungen des politischen Lebens in Griechenland und in Rom kaum im gleichen Grade anwenden läßt. Zweifellos darf man sagen, daß es mehr oder weniger dauerhafte Gruppen mit gemeinsamen und ziemlich klar ausgeprägten politischen Interessen, d. h. „Parteien" in dem oben umrissenen Sinne, im Athen der klassischen Periode gegeben hat. Der Parteigeist, die parteiliche Ausrichtung und Ausgestaltung des politischen Lebens überhaupt sind ziemlich charakteristisch für die Entwicklungsgeschichte des politischen Kampfes in der Athenischen Republik. Schon das

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Die politischen Parteien in Athen und Rom

berühmte „Gesetz" Solons, das jeden Bürger unter der Androhung der Entziehung der bürgerlichen Rechte verpflichtete, sich in Zeiten der „Unruhe" einer „Partei" 1 anzuschließen, läßt (selbst wenn man berücksichtigt, daß es möglicherweise unecht ist) diese interessante Tendenz recht deutlich erkennen. Die Art, in der Aristoteles von den Paraliern, Pediaken und Diakriern 2 spricht, läßt es durchaus möglich erscheinen, sie als politische Parteien zu betrachten. Der Bericht über die Feindschaft zwischen Isagoras und Kleisthenes 3 , das Zeugnis Herodots über den Kampf der Parteien in Athen zur Zeit der griechisch-persischen Kriege 4 , das Parteileben in der Periode des Peloponnesischen Krieges und schließlich die Rivalität der anti- und der promakedonischen Partei im IV. Jahrhundert v. u. Z. 6 — das alles spricht zweifellos dafür, daß sich der Kampf der gesellschaftlichen Gruppen und Interessen innerhalb der athenischen Bürgerschaft vorzugsweise in parteilichen Formen abgespielt hat. Dabei finden gewöhnlich in den verschiedenen athenischen Parteien (mit entsprechender Abwandlung für die verschiedenen Zeitabschnitte!) die Widersprüche zwischen den aristokratischen und demokratischen Elementen der athenischen Gesellschaft ihr Spiegelbild. Anders liegen die Dinge in Rom. Es gibt im Grunde keine einzige Quelle, aus der man mit Recht auf die Existenz mehr oder weniger dauerhafter Parteien im republikanischen Rom schließen könnte, kein einziges Zeugnis, das sich mit den unzweideutigen Formulierungen des Aristoteles oder gar des Herodot vergleichen ließe. Wie neuere Untersuchungen ergeben haben 6 , darf man nicht einmal die Optimaten und die Populären als entsprechende Parteien der Nobilität und der Plebs betrachten. Wie es in Rom keinen Demos im athenischen Sinne des Wortes gab, so gab es auch keine fest umrissenen politischen Parteien. Jedenfalls können wir bis zur Zeit der Gracchen kein Beispiel finden, das das Bestehen politischer Parteien in Rom bestätigte. Der Kampf der Patrizier und Plebejer, der Kampf der demokratischen Schichten der römischen Bevölkerung gegen die Senatsoligarchie läßt erkennen, daß die einzige Form und folglich auch das einzige politische Instrument, deren sich die unterdrückte Masse in diesem Kampf bedienen konnte, die Komitien und in erster Linie natürlich die unter 1

Arist., Resp. Ath., 8, 5.

2

Ebenda, 13, 4.

3

Ebenda,

20—21.

* Herod., VI, 121; 124. s Plut., Dem., 13; 24. 6 M. GELZER, Die Nobilität der römischen Republik, 1912, S. 49 ff.; F. MÜNZER, Römische Adelsparteien u n d Adelsfamilien, 1920; STRASBURGER, Optimates, R E , X V I I I ,

1, 1 9 3 9 , c o l . 7 7 3 f f . —

S i e h e a u c h R . SYME, J R S , X X X I V ,

1944, S. 9 2 — 1 0 9 .

Die

g e n a n n t e n Forscher h a b e n auf die Besonderheiten des politischen K a m p f e s in R o m , auf die Rolle der Familienverbindungen, der Klientel usw. hingewiesen. Durch die übermäßige B e t o n u n g der Familienverbindungen haben sie jedoch die Rolle des K l a s s e n k a m p f e s herabgemindert. Die sozialen Widersprüche erscheinen bei ihnen nicht selten als Familienstreitigkeiten.

Die Erscheinung politiscner Parteien in Rom

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der Leitung der Volkstribunen stattfindenden Tributkomitien waren 1 . Daher hat R. J . WIPPER recht, wenn er sagt: „Offensichtlich gab es bis zu den Gracchen in Rom überhaupt keine Kundgebungen, keine privaten Beratungen oder Agitationsversammlungen, keinerlei Mittel und Wege, um sich über ein gemeinsames Programm zu einigen und gemeinsame Forderungen zu erheben." Mit Recht zieht er daraus den Schluß, daß es keinerlei Parteien in unserem Sinne gegeben hat 2 . Ein indirekter Beweis dafür sind die sehr häufigen Fälle des „Überlaufens" von einem politischen Lager in ein anderes. Das haben sogar so hervorragende Politiker getan wie Papirius Carbo, Marius, Pompejus, Cicero und C. Memmius, und dies wäre kaum möglich gewesen, wenn es mehr oder weniger feste Parteien und folglich auch eine Parteizugehörigkeit gegeben hätte. In der Geschichte der politischen Parteien Athens kommt so etwas fast gar nicht vor. Auf den ersten Blick steht der hier entwickelte Standpunkt in scharfem Gegensatz zu den Schlußfolgerungen des sowjetischen Forschers N . A. MASCHKIN 3 , der sich ebenfalls mit dieser Frage beschäftigt hat. Das trifft jedoch nicht ganz zu. MASCHKIN, der es für möglich hält, von politischen Parteien in Rom zu sprechen, sieht sich zu der Feststellung gezwungen, daß „die klassische Periode des Kampfes zwischen Populären und Optimaten" 4 nur kurzlebig gewesen ist. Mit dieser wesentlichen Einschränkung kann man zugeben, daß es in der Geschichte Roms einen kurzen Zeitabschnitt gegeben hat, in dem der politische Kampf sich im wesentlichen im Rahmen von Parteien abspielte und Parteien entstanden, die in ihrem Typus den griechischen politischen Parteien nahekommen. Aber erstens war das eine besondere Erscheinung, die nicht weniger besondere Ursachen hatte 5 , und zweitens war diese Erscheinung für das politische Leben der römischen Gesellschaft in der hier zu untersuchenden Epoche nur wenig charakteristisch. Man kann also in der Regel nur in einem sehr begrenzten und engen römischen Sinne des Wortes von Parteien in Rom sprechen. So gebraucht z. B. Cicero mehrfach den Terminus „pars" in Verbindung mit Adjektiven, die von Personennamen abgeleitet sind: pars Pompeiana, pars Clodiana usw. Die Existenz von Parteien dieses Typs, die mit den Einrichtungen der Klientel und amicitia 6 zusammenhängen, läßt sich nicht leugnen, doch handelt es sich hier bereits um eine Erscheinung, die über den Rahmen der oben gegebenen Definition des Begriffs „Partei" in bezug auf die antike Gesellschaft hinausgeht. Aber damit soll die Frage des Kampfes zwischen den aristokratischen und den demokratischen 1

2

R . J . WIPPER, a . a. O., S. 4 2 .

Ebenda, S. 43. ' H. A. ManiKHH, PüMCKHe nojiiiTmiecKHe n a p r a n B Kornie II H B Hakane IB. flo H.3. (N. A. MASCHKIN, Die römischen politischen Parteien am Ende des II. und zu Beginn des I. Jahrhunderts v. u. Z.), BiJH, 1947, Nr. 3, S. 126—139. 4 Ebenda, S. 135. 5 Darüber siehe unten S. 29—32. 6

S i e h e H . A . M a u i K H H ( N . A . MASCHKIN), a . A . O., S. 1 3 7 / 1 3 8 . V g l . M. GELZER,A.a.O.,

S. 86.

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Grundzüge der Verfassungen Athens und Roms

Elementen der römischen Gesellschaft keineswegs beiseite gelassen und „vertuscht" werden; es ist nur so, daß dieser Kampf sich auf Grund bestimmter und eigenartiger Bedingungen in anderen Formen geäußert hat. Die Verschiedenheit der sozialen und ökonomischen Struktur der griechischen und der römischen Gesellschaft mußte auch zu verschiedenen Staatsformen bei den Griechen und Römern führen. Der prägnanteste Zug der demokratischen Verfassung Athens besteht darin, daß hier die bestimmte und unbestreitbare Tendenz zu beobachten ist, von den drei in jedem griechischen Staatsgebilde festzustellenden Elementen — Volksversammlung, R a t und Magistrate — das dritte immer bedeutungsloser zu machen und die gesamte Macht den Kollegialorganen, also der Volksversammlung und dem Rat, zu übertragen. Tatsächlich wurde in der athenischen Demokratie das für die damalige Zeit erstaunliche Experiment einer „direkten Volksherrschaft" gemacht, der Versuch nämlich, die breiten Massen der freien Bevölkerung (d. h. die Bürger) wirklich an der Regierung des Staates zu beteiligen. Diese Tendenz der griechischen politischen Praxis kommt ziemlich deutlich auch in der Staatstheorie der Griechen zum Ausdruck. So unterscheidet z. B. Aristoteles in jedem Staatsgebilde drei Faktoren oder Elemente (ptogia [möriaj), von deren verschiedener Organisation und Wechselbeziehung auch die Verschiedenheit der einzelnen Formen des Staatsaufbaus abhängt 1 . An erster Stelle steht für ihn unbedingt die kollegiale „gesetzberatende" Macht (rd ßovlevofievov [to buleuömenon]) die auch der wirkliche Träger der Staatlichkeit (XVQIOS TFJS Ttohrsiat; [kurios tes politeias]) ist, und erst dann spricht er von der Bedeutung der Magistraturen (td neql zag ägzag [to perl tks archäs]). Dabei ergibt sich aus seiner Bestimmung der Kompetenz der Magistrate ganz klar deren begrenzte Rolle als ausführende Organe 2 . In völligem Gegensatz dazu stehen die Verhältnisse in dpr Römischen Republik, in der die Staatsmacht sich im großen und ganzen ebenfalls auf dieselben drei Elemente — die Magistrate, den Senat und die Volksversammlung — verteilt. Hier beobachten wir eine untergeordnete Rolle und eine verhältnismäßige Schwäche der Komitien neben der überragenden Bedeutung der Magistraturen, wie sie auf athenischem Boden völlig undenkbar ist. Aber für die Macht der höchsten römischen Magistrate war bekanntlich vor allem die Tatsache des Imperium charakteristisch, eine Erscheinung, zu der man im griechischen Staatsleben ebenfalls keinerlei Analogie finden kann. Dazu kommt, daß im athenischen Staat die sogenannte königliche Macht, also das „Imperium" des Königs, in eine Reihe gesonderter Ämter zerfiel, während sich das Imperium der frührepublikanischen Magistrate in Rom völlig anders darstellt; denn hier liegt die Vorstellung von der Einheit und Unteilbarkeit der Macht zugrunde, wodurch das Imperium zu einer ziemlich eigenartigen Erscheinung im römischen Staatswesen wird. Während das Subjekt der StaatsArist., Pol., IV, 11—13. * Ebenda, IV, 12/13. Das dritte Element (fiogiov [mörion]) sind die Justizorgane.

1

Das Imperitim der römischen Magistrate

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macht in Rom die Gesamtheit der Bürger 1 , d. h. die römische Bürgergemeinde, sein konnte, war der Träger dieser Macht und ihr oberster Vollstrecker stets der „König" oder die in der republikanischen Zeit an seine Stelle gesetzte und unter zwei Personen verteilte „königliche" Macht der höchsten Magistrate. Ihren vollständigsten Ausdruck erhält die Macht des höchsten römischen Magistrats in der Formel „auspicium imperiumque" 2 , d. h. die Kompetenz jeder Magistratur umfaßt die res divinae, das auspicium des Magistrats, und die res humanae, sein imperium. Träger des Imperium war nur eine bestimmte Gruppe von Amtspersonen, die mit königlichen Rechten ausgestattet wurden; man kann also in diesem Falle nur von einem fest umgrenzten Kreis der höchsten Magistrate sprechen. Die niederen Amtspersonen besaßen nur eine begrenzte Amtsgewalt. Unter diesen niederen Magistraturen wurden die Kompetenzen spezialisiert, was zu ihrer Aufsplitterung führte, aber die höchste Magistratur blieb davon unberührt und im Besitz ihres königlichen Imperium3. Es handelt sich hier um eine höchst merkwürdige historische Erscheinung. Unter den sehr unklaren und, wie es scheint, hoffnungslos entstellten Überlieferungen über die Ereignisse, die zur Entstehung der Republik in Rom geführt haben, tritt eine einzige geschichtlich glaubwürdige Tatsache hervor: mit der Abschaffung der „königlichen" Macht wurde keineswegs ihr wichtigstes Vorrecht abgeschafft. Im Grunde waren die höchsten republikanischen Magistrate dasselbe, was der rex gewesen war. Es ist zur Genüge bekannt, daß mit Ausnahme der priesterlichen Obliegenheiten die gesamte königliche Macht auf die obersten. Magistrate sogar mit ihren äußeren Zeichen, dem Gefolge der Liktoren und den Rutenbündeln, übergeht. Vor allem bildet die Grundlage ihrer Macht das gleiche Prinzip der Unteilbarkeit und Einheit, das dem „königlichen" Imperium zugrunde liegt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß man das Imperium der römischen Könige mit dem der frührepublikanischen Magistrate gleichsetzen darf; denn in der Zeit der Republik ist eine gewisse Abwandlung des Imperium zu beobachten, die jedoch im wesentlichen darauf hinausläuft, daß es zu einer bestimmten Beschränkung des Imperium, keineswegs aber zu seinem Zerfall oder seiner Aufsplitterung kommt. Die Einheit und die Unteilbarkeit der Macht wurden also beim Übergang des Imperium vom König an die Prätoren nicht beeinträchtigt. Hierin lag der sehr eigenartige Versuch, die positiven Seiten des Königtums beizubehalten, während man seine negativen Seiten abschaffte. Offenbar aus diesem Grunde sah Polybios, der die Ansicht vertrat, in Rom habe eine Mischform des Staatsaufbaus 1 Siehe: F. LEIFER, Die Einheit des Gewaltgedankens im römischen Staatsrecht, München 1914, S. 2ff. 2 MOMMSEN, Römisches Staatsrecht, Bd. I 3 (MARQUARDT U. MOMMSEN, Handbuch der römischen Alterthümer, I, 1887, S. 76). • Vgl. hierzu und zum Folgenden H. RUDOLPH, Das Imperium der römischen Magistrate, N J A D B 1939, S. 150 f.

Einheit und Unteilbarkeit des Imperium

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vorgelegen, gerade in den Konsuln die monarchische und königliche Komponente dieses Aufbaus. Aus diesem Beispiel ist wiederum zu erkennen, daß zwischen der nofos [pölis] und der civitas, zwischen griechischer und römischer Staatlichkeit wesentliche Unterschiede bestanden. Zu bemerken ist, daß in der Wissenschaft mehrfach der Versuch gemacht worden ist, die römische Staatsgewalt mit der väterlichen Gewalt in der Familie zu vergleichen. Ein derartiger Vergleich ist keineswegs nur formal. Vergleicht man nämlich die unbeschränkte Macht des Trägers des Imperium im Staat mit der unbeschränkten Macht des pater familias (die allerdings auch als patria potestas bezeichnet wurde), so kann man zu dem Schluß gelangen, daß im römischen Rechtsbewußtsein die Vorstellung der Familie als eines Staates im kleinen und des Staates als einer großen Familie fest verwurzelt war. Diese Vorstellung war außerordentlich zählebig. Sie ist nicht nur für die politische Ideologie der frühen Römischen Republik charakteristisch, sondern überlebt auch die republikanische Epoche und wird im kaiserlichen Rom wieder sehr lebendig, allerdings mit gewissen Abwandlungen. Aus dem Begriff des Imperium ergeben sich jene oben erwähnten einzigartigen sittlichen Grundwerte, die für das Privatleben und für die öffentliche Tätigkeit jedes römischen Bürgers bestimmend waren: disciplina und auctoritas. Die höchste Tugend des Römers in der Familie, im Kriegsdienst, im Staatsdienst war die Unterordnung (disciplina) unter die Gewalt des Vaters, des militärischen Vorgesetzten, der Magistrate. Diese Pflicht der Unterordnung, die in den Bindungen und ungeschriebenen Gesetzen wurzelt, auf denen die patriarchalische Familie, die Sippe, die Kurie, der Stamm beruhten, steht in engem Zusammenhang mit einem schwer übersetzbaren Begriff, dessen Inhalt schon H E I N Z E 1 ZU erläutern versucht hat, — mit dem Begriff der auctoritas. So viel über einige Besonderheiten der geschichtlichen Entwicklung des griechischen und des römischen Sklavenhalterstaates. Die vorstehenden Bemerkungen können sich als nützlich erweisen bei der weiteren Untersuchung des vielfach verschlungenen weltanschaulich-politischen Kampfes in der römischen Gesellschaft des I. Jahrhunderts v. u. Z. 1

R . HEINZE, Auctoritas, Herrn., L X , 1925, S. 348ff.

ZWEITES

KAPITEL

DIE GRUNDTENDENZEN DES SOZIALEN UND POLITISCHEN KAMPFES IN DER RÖMISCHEN GESELLSCHAFT DES II. UND I. JAHRHUNDERTS Y. U. Z. Die bestimmte Eigenart der römischen Gesellschaft und ihr Unterschied zu der griechischen hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung, der Gruppierung der Klassenkräfte und gewisser Prinzipien des Staatsaufbaus hat zweifellos die Formen und Eigenarten des politischen Lebens wie der ideologischen Auseinandersetzungen in der römischen Gesellschaft in einem gewissen Grade beeinflußt. Das politische Leben der Römischen Republik im II. und I. Jahrhundert war außerordentlich intensiv und vielgestaltig, und das konkrete historische Geschehen dieser Periode ist sowohl in der russischen als auch in der ausländischen Literatur eingehend erforscht und geklärt worden 1 . Das geistige Leben der Römischen Republik in der Zeit der Krise und des Niedergangs ist jedoch in sehr viel geringerem Grade untersucht worden. Tatsächlich findet sich in der sowjetischen und erst recht in der bürgerlichen Wissenschaft keine klare Antwort auf die Frage, welche Ideen die politischen Kämpfe des II. und I. Jahrhunderts zwischen den verschiedenen Klassengruppierungen der römischen Gesellschaft inspiriert, vorangetrieben und beleuchtet haben. Die vorliegende Untersuchung stellt einen Versuch zur Lösung dieser Frage dar. Wir haben uns nicht sowohl mit der konkreten Geschichte, als vielmehr mit der Geschichte der Ideen zu beschäftigen, die das politische Leben der römischen Gesellschaft befruchtet haben, jedoch wäre es ein unverzeihlicher Fehler, die Ideen durch Ignorierung ihres Zusammenhangs mit dem Geschichtsverlauf künstlich aus der konkreten historischen Situation herauszulösen und ihre „immanente Entwicklung" zu studieren. Es kommt also vor allem darauf an, die sozialen und politischen Kämpfe in der Römischen Republik in ihrem fundamentalen Verlauf zu verstehen. Im Rahmen der gesamten Untersuchung stellt das Problem der sozialen und politischen Kämpfe die Grundlage dar, auf der sich die zu studierenden ideologischen Auseinandersetzungen entfalten. 1

Von den russischen Arbeiten, die einen allgemeinen Überblick über die hier in Frage stehende Periode geben, sind zu erwähnen: P.K). B a n n e p , OiepKH H C T o p H H pHMCKOÖ H M n e p H H (R. J . WIPPER, Beiträge zur Geschichte des Römischen Imperium), 2. Aufl. Berlin 1923, und N. A. MASCHKIN, Zwischen Republik und Kaiserreich, Leipzig 1954. In beiden Arbeiten werden die Ereignisse des I. und teilweise auch des II. Jahrhunderts v . u . Z. eingehend behandelt.

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Der soziale und politische Kampf in Rom im II. und I. Jahrhundert v. u. Z.

Die Aufgabe besteht also nicht in der Darstellung oder gar Beurteilung der einzelnen Ereignisse, sondern in einem grundsätzlichen Verständnis des Geschehens, um so zum Verständnis gewisser allgemeiner Tendenzen in der Entwicklung der sozialen und politischen Kämpfe in der römischen Gesellschaft des II. und I. Jahrhunderts v. u. Z. zu gelangen. Der Inhalt dieser Vorgänge, ihr ökonomischer Hintergrund läßt sich bekanntlich, wie M A R X festgestellt hat, „auf den Kampf des kleinen Grundbesitzes mit dem großen" 1 zurückführen. Ebenso bekannt ist, daß dieser Kampf in der Sphäre der römischen Politik seinen Ausdruck zunächst in dem Kampf zwischen Patriziern und Plebejern gefunden hat und sodann in dem Kampf der senatorischen, also aristokratischen Kreise, die sich auf den Großgrundbesitz stützten, mit den breiten Schichten der kleinen und mittleren Grundbesitzer, d. h. der römischen Plebs in der neuen sozialen Bedeutung dieses Begriffs. Mit anderen Worten, der soziale und politische Kampf in diesem Zeitabschnitt war vor allem ein Kampf zweier Klassen, der Klasse der sklavenhaltenden Großgrundbesitzer und der Klasse der freien Kleinproduzenten (Bauern). Die Entwicklung der demokratischen Bewegung in Rom wurde zweifellos durch die Verschärfung der Widersprüche zwischen den genannten Klassen der römischen Gesellschaft und in erster Linie durch die Agrarfrage hervorgerufen. Es liegt auf der Hand, daß diese Feststellungen sich im Rahmen der unbedingt richtigen und zugleich allgemein bekannten Ansicht über den Kampf zwischen den aristokratischen und den demokratischen Elementen in der römischen Sklavenhaltergesellschaft bewegen. Wir müssen jedoch an die Frage etwas anders herangehen. Wir wollen versuchen, Klarheit darüber zu schaffen, in welchen konkreten politischen Formen und mit welchen Methoden dieser Kampf geführt wurde, welches seine spezifischen Losungen waren und in welcher ideologischen Einkleidung er ausgefochten wurde. Die demokratische Tendenz der sozialen und politischen Kämpfe im Rom findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Tätigkeit der Gracchen. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung können wir uns darauf beschränken, aus dem gesamten verwickelten Fragenkomplex, der sich um die Bewegung der Gracchen gruppiert, die Frage der sozialpolitischen Bedeutung dieser Bewegung herauszugreifen. Sehr charakteristisch für die Beurteilung der Gracchen durch die bürgerliche Wissenschaft war bis in die jüngste Vergangenheit hinein das Urteil M O M M S E N S . Wir müssen daher auf seine wichtigsten Ergebnisse näher eingehen. In seinem Urteil über die Zeit der Gracchen weist M O M M S E N zunächst darauf hin, daß die Römische Republik mit dem doppelten Übelstand 2

1

K. M A K X und F. E N G E L S , Werke, Band X X I I , 1931, S. 89 (russ.). Die für ihre Zeit grundlegende Untersuchung von K. W. N I T Z S C H , Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger, Berlin 1847, ist heute in ihren Ergebnissen uninteressant. 2

MOMMSENB Urteil über die Bewegung der Gracchen

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einer entarteten Oligarchie und einer noch unentwickelten, aber bereits innerlich angekränkelten Demokratie behaftet war. Es gab in Rom im Grunde weder eine echte Aristokratie noch eine echte Demokratie, und daher kämpften beide Parteien, d. h. die Optimaten (die angeblichen Vertreter der Aristokratie) und die Populären (die angeblichen Vertreter der Demokratie) um Trugbilder und waren gleich bedeutungslos. Diese Lage erschütterte die politischen und moralischen Grundpfeiler der Republik und machte ihre Krise unv er meidlich 1 . Hinsichtlich der Agrarreform des Tiberius Gracchus gelangt M O M M S E N ZU der Feststellung, daß die lex agraria formal-juristisch einwandfrei war und in ihrem Kern die Enteignung des Großgrundbesitzes bedeutete 2 . Die Kampfmethoden bei der Durchführung des Gesetzes betrachtet M O M M S E N als revolutionär. Diese revolutionäre Natur der Maßnahmen des Tiberius erblickt er in folgenden drei Tatsachen: a) daß er sich gegen die Mehrheit des Senats wandte, b) daß die Entscheidung über die Frage des ager publicus dem Volk anheimgestellt wurde, und c) daß er das Recht der tribunizischeD Interzession annullieren ließ 3 . Die revolutionären Methoden des Tiberius waren jedoch nach M O M M S E N S Ansicht eine Zwangserscheinung. Subjektiv war Tiberius ein typischer Konservativer, der, wie Mommsen sagt, „eben nicht wußte, was er begann, der im besten Glauben das Volk zu rufen den Pöbel beschwor und nach der Krone griff, ohne selbst es zu wissen, bis die unerbittliche Konsequenz der Dinge ihn unaufhaltsam drängte in die demagogisch-tyrannische Bahn — bis endlich die entfesselten Geister der Revolution den unfähigen Beschwörer packten und verschlangen" 4 . Völlig anders wird Gaius Gracchus beurteilt. Er wird als Führer der demokratischen Partei dargestellt, der bewußt „den Weg der Revolution und der R a c h e " 5 beschritten hat. Die Reformen des Gaius Gracchus teilt M O M M S E N im wesentlichen in zwei Gruppen ein: a) solche, deren Ziel es ist, das hauptstädtische Proletariat für die revolutionäre Partei als deren wichtigste Stütze zu gewinnen 6 , und b) solche, deren Ziel es ist, die Aristokratie zu spalten. Die Bemühungen des Gaius Gracchus, die Finanzkreise, d. h. die Ritterschaft, auf seine Seite zu ziehen, werden unter diesem Gesichtswinkel als ein Versuch betrachtet, au» der Ritterschaft einen „Gegensenat" zu bilden 7 . Als sehr wichtig für die Beurteilung des Gaius Gracchus betrachtet M O M M S E N dessen angebliche monarchistische Tendenzen. Er ist der Ansicht, daß Gaius einen umfassenden urd durchdachten Reformplan hatte, dessen Endziel es war, die Senatsregierung durch eine MOMMSEN, Römische Geschichte, Band I I 1 4 , 1937, S. 7 3 / 7 4 . Ebenda, S. 91. s Ebenda, S. 93. 4 Ebenda, S. 96. 5 Ebenda, S. 104. • Ebenda, S. 105—108. ' Ebenda. S. 108—112. 1

2

Die Ansichten anderer bürgerlicher Forscher über die Gracchen

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Monarchie zu ersetzen, und daß er die Republik abschaffen und eine „napoleonisch absolute Monarchie" errichten wollte 1 . Als später in Rom die Monarchie endgültig Fuß gefaßt hat, ist, wie man nach M O M M S E N feststellen kann, „kaum ein konstruktiver Gedanke in der römischen Monarchie, der nicht zurückreichte bis auf Gaius Gracchus" 2 . Daß Gaius Gracchus gescheitert ist, erklärt M O M M S E N in der Hauptsache durch die völlige Unzuverlässigkeit seiner Hauptstütze, des römischen Proletariats, das „in der Tat niemals für Gracchus stimmte, sondern immer nur für sich" und seinen Führer im entscheidenden Moment im Stich gelassen hat 3 . So viel über M O M M S E N S Urteile und Schlußfolgerungen. Ihnen schließen sich im wesentlichen die weitaus meisten bürgerlichen Forscher an. So stimmt z. B. E D U A R D M E Y E R , in dessen Untersuchungen die Analyse der politischen Tendenzen der Quellen besonders wertvoll und interessant ist 4 , grundsätzlich dem Urteil M O M M S E N S fast vorbehaltlos zu. Auch er spricht von dem Konservativismus des Tiberius und von einer unfreiwilligen Revolution; auch für ihn ist die politische Organisation einer „Kapitalistenpartei" das Mittel, um ein Gegengewicht gegen die Aristokratie und den Senat zu schaffen. Gaius Gracchus usurpiert seiner Meinung nach monarchistische Privilegien und versucht, in demokratischer Form das absolute Regiment eines Volksführers zu errichten. Gaius Gracchus möchte „die Aristokratie durch die Demokratie, d. h. durch die Herrschaft einer Kapitalistenpartei und des städtischen Pöbels (!) und den Senat durch eine Regierung jährlich zu wählender Tribunen ersetzen". Die Untersuchungen anderer bürgerlicher Forscher 5 bringen kaum etwas Neues für die Beurteilung der Bewegung der Gracchen. Einige Autoren weichen zwar von M O M M S E N ab, doch bedeutet dies eher sogar einen Rückschritt; denn bei den modernen bürgerlichen Forschern ist eine starke Überbetonung des subjektiven Moments in der Tätigkeit der Gracchen 6 zum Nachteil des sozialen Moments zu beobachten. So läuft z. B. die Beurteilung des Gaius Gracchus bei M Ü N Z E R weitgehend darauf hinaus, ihn als eine „dämonische Persönlichkeit" darzustellen. 1

2 3

MOMMSEN,

a. a. O.,

S.

115.

Ebenda, S. 117. Ebenda, S. 120.

E D U A R D M E Y E R , Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen, in „Kleine Schriften", Halle 1924, S. 365—421. 5 Siehe z. B . M Ü N Z E B , „Sempronius", 54, RE, I I A , 2, 1923, col. 1413; K. B I L Z , Die Politik des P. Cornelius Scipio Aemilianus, Diss. Stuttgart 1935; K O R N E M A N N , Zur Geschichte der Gracchenzeit, in „Klio", 1. Beih., 1903; R. P Ö H L M A N N , Zur Geschichte der Gracchen, Sitzg.-Ber. Ak. d. Wiss. zu München 1907, p. 443 ff. ; JUDEICH, Die Gesetze des C. Gracchus, HZ, 111, 1913, S. 473ff.; T . F R A N K , Rome and Italy of the Republic, ESAR, I, 1933; D E R S E L B E , An Economic History of Rome, 1927; CARCOPINO, La République romaine de 133 à la mort de César; GLOTZ, „Histoire générale II, 1, 1940; M Ü N Z E R , Römische Adelsparteien und Adelsfamilien, Stuttg. 1920; A L T H E I M , Epochen der Römischen Geschichte, II, 1935; J . G Ö H L E R , Rom und Italien, Breslau 1939. 6 Z . B . M Ü N Z E R , „Sempronius", 4 7 , R E , I I A , 2 , col. 1 3 8 3 ; ALTHEIM, a.a.O., I I , 2 3 6 ; weitgehend J . G Ö H L E R , a. a. O . , 1 4 5 / 1 4 6 usw. 4

Die Beurteilung der Gracchen in der rassischen Literatur

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Sehr viel selbständiger und interessanter ist die Bewegung der Gracchen und ihre historische Bedeutung in der russischen Literatur behandelt worden 1 . Hier muß vor allem auf die bekannte Arbeit R . J. W I P P E R S näher eingegangen werden. W I P P E R schreibt zwar im Geiste des „ökonomischen Materialismus" und neigt stark dazu, manche Probleme der römischen Geschichte zu modernisieren, doch steht sein Buch zweifellos über den gleichzeitigen Arbeiten der westeuropäischen bürgerlichen Forscher. In W I P P E R S Buch wird die Bewegung der Gracchen als Sonderproblem behandelt, doch enthält es trotzdem einige wertvolle Beobachtungen und Gedanken über ihre Bedeutung. Wir beschränken uns auf die für die vorliegende Trage interessantesten Schlußfolgerungen W I P P E R S . Die demokratische Bewegung in Rom der Gracchenzeit betrachtet W I P P E R als einen neuen und revolutionären Faktor. Offenbar hat es vor den Gracchen weder Agitationsversammlungen noch Kundgebungen noch sonstige Möglichkeiten gegeben, sich über ein gemeinsames Programm zu verständigen und gemeinsame Forderungen zu proklamieren. In der Gracchenzeit nun wird die Volksversammlung zum Schauplatz politischer Aktivität. Zum erstenmal erwachen die Volksmassen zum politischen Leben und beginnen, sich zu organisieren2. Hervorzuheben ist auch W I P P E R S Beobachtung hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung und des sozialen Charakters der „demokratischen Opposition". Er vermerkt die Einheit dieser Opposition unmittelbar vor dem Auftreten der Gracchen und in den ersten Etappen des Kampfes, ihre spätere Spaltung und die Veruneinigung ihrer einzelnen Gruppen3. Tiberius Gracchus besaß ein umfassendes demokratisches Reformprogramm. Seine Projekte und Vorhaben erstreckten sich auf alle Gruppen der Opposition, doch lag offenbar gerade hierin seine Schwäche; denn die Opposition erwies sich als schlecht organisiert, als innerlich widerspruchsvoll, und die entgegengesetztesten Interessen stießen hier außergewöhnlich heftig zusammen4. Zu einer ganz klaren Abgrenzung zweier entgegengesetzter Gruppen der Opposition kommt es bereits in der Zeit des Gaius Gracchus, und zwar nicht sowohl im Zusammenhang mit den Agrarreformen, als vielmehr in Verbindung mit dem Vorhaben einer Ausdehnung des römischen Bürgerrechts auf die Bundesgenossen. Im Gegensatz zu der allgemein üblichen Ansicht, daß vor allem die plebs urbana sich gegen diese Reform wandte, ist W I P P E R der Meinung, daß diese Reformen den erbittertsten Widerstand bei den Besitzern des „Finanzkapitals" hervorgerufen haben, d. h. bei den Rittern, die jetzt zu so großer politischer Bedeutung gelangt sind5. Dieser Umstand führte zu einer tiefgehenden Spaltung in den 1 Die äußerst gewissenhafte und hinsichtlich der Quellenbenutzung erschöpfende Arbeit von 3.flt>eJibc6epr,EpaTbH TpaKXH (E. FELSBERG, Die Brüder Gracchus), Jurjew 1910, ist in ihren Urteilen und Schlußfolgerungen bereits veraltet. 2

R . J. WIPPER, a. a. O., S. 43—44.

s

Ebenda, S. 45. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 65—70.

4 6

rttschenko,

D e r politische K a m p f in R o m

3

24

Vergleich

der

römischen mit

der

griechischen Demokratie bei

WIPPEB

Reihen der demokratischen Opposition. Tatsächlich existieren damals drei Parteien: die Nobilität, die Restauratoren des Bauerntums und die Vertreter einer „kapitalistischen Wirtschaft" (d. h. die Ritter). Die letzten beiden sind gewissermaßen die beiden Flügel der Demokratie oder „demokratischen Opposition", die aber deutlich untereinander verfeindet sind. Ihre Feindschaft bedingte dann auch das Scheitern des Gaius Gracchus1. Interessant, wenn auch ungenügend entwickelt, ist in W I P P E R S Buch der Vergleich der römischen Demokratie mit der griechischen. Hervorgehoben wird die Schwäche und Kurzlebigkeit der ersten und das Fehlen einer demokratischen Grundlage in „den alten römischen Sitten" 2 . In den griechischen Demokratien spielten die Hetärien, d. h. die politischen Klubs, immer eine sehr aktive Rolle, während in Rom Kollegien politischen Charakters erst in der letzten Zeit der Republik in Erscheinung traten. Die Schwäche der agitatorischen Arbeit und der Wahlkampagnen offenbart sich bei der Durchführung des Agrargesetzes des Tiberius Gracchus mit all den tragischen und unerwarteten Zusammenstößen, die mit dem Kampf um die Reform verbunden gewesen sind®. Eine andere Schwäche der römischen Demokratie lag darin, daß die Führer der Demokratie, die „Populären", größtenteils selbst aus der Oberklasse, d. h. der Nobilität, stammten. Das Tribunat, die einzige verfassungsmäßige Form für die Vertretung der Interessen der Volksmassen vor dem Senat, wurde (und zwar schon sehr früh!) gewissermaßen zu einer Stufe in der Ämterlaufbahn der Nobiles. Dies hatte zur Folge, daß sich eine neue Gruppe des „Dienstadels" bildete4. Schließlich ist W I P P E R S Bemerkung hervorzuheben, daß die Erfahrungen der sozialen und politischen Kämpfe in den griechischen Gemeinden, sowie die griechische Theorie die den Reformen der Gracchen zugrunde liegenden politischen und sozialen Ideen beeinflußt hätten. Als die eigentlichen Initiatoren der Agrarreform des Tiberius Gracchus sind nach W I P P E R Diophanes und Blossins zu betrachten5. Besonders deutlich läßt sich dieser Zusammenhang der römischen Praxis mit der griechischen Ideologie an dem Projekt verfolgen, unveräußerliche Bodenparzellen zu schaffen und, wie W I P P E R meint, das oberste Recht des Staates auf den Boden wiederherzustellen6. Diese von W I P P E R aufgestellte These wird in einer interessanten Arbeit von S . I . PROTASSOWA weiterentwickelt und näher begründet7. 1

R . J . WIPPER, a . a . O . ,

Ebenda, 3 Ebenda, 4 Ebenda, 5 Ebenda, • Ebenda, 2

'

S. 7 1 — 7 2 .

S. 45. S. 45—46. S. 46—47. S. 54—55. S. 55.

Siehe C. H . ü p o T a c o B a ,

Bopbßa

oßmecTBeHHHx

HJIEAJIOB B PHMe B

3noxy

rpaKxoB, „Ü3 HajieKoro H 6jiH3Koro npomjioro" (S. I. PROTASSOWA, Der Kampf der gesellschaftlichen Ideale in Rom in der Zeit der Gracchen, in „Aus ferner und naher Vergangenheit", 1923, S. 29—40).

Die „hellenischen" Elemente in der Bewegung der Gracchen

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Die Zeit der Gracchen wird in dieser Arbeit als eine Periode heftiger Auseinandersetzungen zwischen gegensätzlichen gesellschaftlichen Idealen gekennzeichnet, als eine Periode, in der neben den sozialen, ökonomischen und politischen Kämpfen die Entwicklung gesellschaftlicher Ideen eine große Rolle spielt1. S . I. PROTASSOWA betrachtet als die Grundtendenz der reformatorischen Tätigkeit des Tiberius Gracchus die Losung „Alle Macht dem Volke", d. h. die Idee der Volksmacht als Grundlage der Staatsverwaltung. Dazu kommt die (vielleicht unbewußt entstandene!) Überzeugung, daß die Macht des Volksführers verstärkt werden müsse2. Derartige Theorien verstießen unmittelbar gegen die Prinzipien und Grundlagen des römischen Staatsaufbaus. „Die Aristokratie", sagt S. I . PEOTASSOWA, „verteidigte gegen Tiberius nicht nur ihren Landbesitz und ihre Herrschaft im Staat, sondern auch gewisse Grundsätze, ohne die die nationale römische Kultur weitgehend ihre Eigenart eingebüßt hätte. Der Begriff der römischen libertas, dessen Kern die konservativ-aristokratische Disziplin bildet, wird durch Tiberius Gracchus vollständig liquidiert, die altrömische virtus — die Tugend der Staatsdisziplin und des Wirkens für den Staat — wird jetzt ersetzt durch das Recht der breiten Massen . . ," 3 . Die Quelle dieser für Rom ungewöhnlichen gesellschaftlich-politischen Ideen ist nach S. I. PROTASSOWA der Kreis um Scipio, der Einfluß des Diophanes und des Blossius, die hellenische Ideologie. Unter Bezugnahme auf die bekannte Bemerkung MOMMSENS über die Unvereinbarkeit der Propaganda des Tiberius mit dem Geist der römischen Verfassung und auf E D U A R D M E Y E R S Vergleich des Tiberius mit Perikles gelangt S. I. PEOTASSOWA ZU dem Schluß, daß damals zwei Strömungen in der römischen Gesellschaft entstanden seien, eine konservativnationale und eine „hellenische"4. In der Tätigkeit des Gaius Gracchus sind die „hellenischen" Elemente noch ausgeprägter; in ihr offenbart sich eine „antinationale" Tendenz, die ihren Ausdruck in seiner Geringschätzung der römischen Tradition, deren Träger und Verteidiger der Senat war, und in seiner Geringschätzung der römischen libertas findet. „Vergleicht man den Geist und Charakter der römischen Verfassung", sagt S. I. PROTASSOWA abschließend, „mit dem Geist und Charakter der hellenischen Politik, besonders in der Form, die sie in Athen angenommen hatte, so wird es klar, daß Gaius Gracchus im Gegensatz zu dem Freiheitsideal, auf dem Rom seine Staatsmacht aufgebaut hatte, das von der hellenischen Kultur entwickelte Freiheitsideal zu verwirklichen suchte. In dem Kampf zwischen Gaius Gracchus und seinen Gegnern prallten zwei Freiheitsideale aufeinander — das der ¿lev&BQia (eleutheria) und das der libertas" 5 . 1 2 3 4 6

S. I. Protassowa, a.a. O., S. 30. Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 38. Ebenda, S. 40. 3*

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Urteile sowjetischer Forscher über die Gracchen

In der neueren sowjetischen Literatur beschäftigen sich W . S . S E R G E J E W 1 , A. W . M I S C H U L I N 2 und N . A. M A S C H K I N 3 in ihren Arbeiten zur römischen Geschichte mit der Bewegung der Gracchen. Hier ist vor allem ein sehr wesentliches Moment hervorzuheben: die sowjetischen Forscher stellen ausdrücklich fest, daß sich in Rom im Verlauf und in der weiteren Entwicklung der Bewegung der Gracchen organisierte politische Gruppen oder Parteien bilden. Dies sind die Optimaten und die Populären, wobei die Ritter eine Zwischenstellung einnehmen 4 . Die Zusammenstöße, die zum Untergang des Gaius Gracchus führten, erscheinen bei S E R G E J E W bereits als Folge eines Parteienkampfes, des Kampfes zwischen Optimaten und Populären 5 . Diesen Standpunkt hinsichtlich der Bildung von politischen Parteien in Rom teilt auch M I S C H U L I N . Als eines der wichtigsten Ergebnisse der Bewegung der Gracchen betrachtet er „die weitere Polarisierung der politischen Gruppierungen" und die sich daraus ergebende Konstituierung der Parteien der Optimaten und der Populären 6 . Noch entschiedener ist der Standpunkt M A S C H KINS, wenn er sagt: „Mit dem Tode des Tiberius Gracchus war der politische Kampf nicht zu Ende. Seit dieser Zeit kann man in Rom von zwei großen politischen Parteien sprechen, den Optimaten und deü Populären." 7 Soviel über die wichtigsten Ergebnisse, zu denen die russische und die westeuropäische Wissenschaft hinsichtlich der Bewegung der Gracchen gelangt sind. Das oben kurz zusammengefaßte Material sowie die Angaben der Quellen ermöglichen einige grundsätzliche Schlüsse über eine der Entwicklungstendenzen des sozialen und politischen Kampfes in Rom, soweit sie in der Bewegung der Gracchen zum Ausdruck gelangte. Die Agrarbewegung der römischen Bauernschaft, die in der Geschichte als die Bewegung der Gracchen bekannt ist, wurde zweifellos durch die Logik der Entwicklung des Klassenkampfes in der römischen Sklavenhaltergesellschaft, durch den Kampf „des kleinen Grundbesitzes mit dem großen" ins Leben gerufen. Insofern kann man einerseits von der historischen Gesetzmäßigkeit und andererseits von einer weitgehenden Eigenständigkeit dieser Erscheinung sprechen. Wir müssen daher auf seine Besonderheiten und spezifischen Merkmale näher eingehen. Läßt man MOMMSENS für die ernsthafte Forschung belanglose Gedankengänge in bezug auf die subjektiven Motive der Gracchen beiseite, so kann man unter diesem Vorbehalt die These von den revolutionären Kampfmethoden der Gracchen akzeptieren. Unbestreitbar wandte sich Tiberius Gracchus nach der 1 B. G. CepreeB, OiepKH no HCTopHH HpeBHero PHMa (W. S SERGEJEW, Skizzen zur römischen Geschichte) I. 1938, S. 168/169. 2 A . B. MwmyjiHH, HeropHH HpeBHero Pniua ( A . W . MISCHULIN, Römische Geschichte) 1946, S. 64—68. ' N. A. MASCHKIN, Römische Geschichte, Berlin 1953, S. 254—267. * W. S . SERGEJEW, a. a. O., S . 171—173. 6 Ebenda, S. 183/184.

• A . W . MISCHULIN, a . a . O . , S . 6 8 . 7 N . A . MASCHKIN, a . a . O . , S . 2 5 8 .

Die revolutionären Kampfmethoden der Gracchen

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Interzession des Marcus Octavius 1 in der Überzeugung, daß ein Kompromiß mit diesem, vor allem aber mit denjenigen Kreisen der Nobilität, deren Werkzeug Marcus Octavius war, unmöglich sei, offen gegen die „Mehrheit des Senats", unterstrich dies dadurch, daß er aus seinem Gesetzentwurf jeglichen Kompromiß entfernte 2 , d. h. die ursprünglich vorgesehene Entschädigung der Bodenbesitzer strich, und hob alle Verfügungen, die von den übrigen Magistraten bis zur Verwirklichung des Gesetzes ausgingen, auf. Um seiner Anordnung Nachdruck zu verleihen, drohte Tiberius Gracchus den widersätzlichen Prätoren Geldstrafen an und ließ den Staatsschatz im Tempel des Saturn versiegeln, so daß auch die Quästoren ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten. Die Optimaten und ihre Anhänger legten Trauerkleidung an, und nach dem Zeugnis der antiken Quellen war die Stadt in zwei feindliche bewaffnete Lager geteilt 3 . Daß er sich um die Unabsetzbarkeit eines Volkstribunen und praktisch um das tribunizische Interzessionsrecht nicht kümmerte, war ebenfalls ein außergewöhnlich kühner revolutionärer Akt, der gegen alle Traditionen verstieß. Das geht schon daraus hervor, daß er, wie die Quellen berichten, sowohl bei der Amtsenthebung des Marcus Octavius 4 als auch während der Abstimmung 5 eine schwankende Haltung einnahm. Die antike Überlieferung selbst wertet sein Vorgehen zum größten Teil als ungesetzlich und sogar als eine Verletzung der lex sacrata 6 . Schließlich deutet die Tatsache, daß das Volk selbst über die Frage des ager publicus entschied und sogar eine Kommission aus drei Männern, die tresviri agris dandis assignandis 7 , eingesetzt wurde, die dann bekanntlich mit weitgehenden staatsrechtlichen Vollmachten ausgestattet wurden („diese drei Männer sollten darüber entscheiden, wo öffentlicher Boden lag und wo privater" 8 ), darauf hin, daß die Neuerung nicht . . . in dem sachlichen Inhalt der Reform des Jahres 133, sondern in ihrem politischen Prinzip lag. Bisher hatte es für den Senat keinerlei Beschränkungen gegeben bei der Beschlagnahme von Boden, der Festsetzung der Nutzungsbedingungen, der Vergebung und Verpachtung von Boden und der Ansiedlung von Militärkolonisten. Tiberius Gracchus war der erste, der dem Senat diese weitgehenden und wichtigen Befugnisse zu entreißen wagte. Zum erstenmal hatte ein Tribun in der Volksversammlung den Antrag gestellt, dem Senat das Verfügungsrecht über das Staatsland, den ager publicus, zu entziehen, das Recht des Volkes auf den öffentlichen Boden und auf die Schaffung 1

App., BC, I, 12. Plut., Ti. Gr., 10. 8 Plut., Ti. Gr., 10; Dio, Fragment 82. 4 Plut., Ti. Gr., 11. 5 Cic., de nat. deor., I, 38, 106; App., BC, I, 12; Plut., Ti. Gr. 12., 6 Cic., Mil., 27, 72; Liv., Ep., 58; Diod., X X X I V , 25; Vell., II, 2; Asc., S. 64; Flor., III, 3, 14; Aur. Vict., de vir. ill., 64; Oros., V, 8. ' Liv., Ep., 58; Vell., II, 2; Plut., Ti. Gr., 13; App.. BC, I, 13; Flor., III, 14. 8 Liv., Ep., 58: „ut idem triumviri iudicarent, qua publicus ager, qua privatus esset". 2

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Der hellenistische Einschlag in der Bewegung der Gracchen

von Bodenparzellen zu proklamieren. In der Agrarfrage wiederholte sich das, was auf finanziellem Gebiet geschehen war. Auf beiden Gebieten hatte der Senat ursprünglich allein zu bestimmen. Im Jahre 133 verkündete Tiberius Gracchus die Ansprüche der Demokratie auf die beiden wichtigsten Ressorts der Staatsverwaltung . . . 1 Durch die Einführung der Unveräußerlichkeit für die neuen Kleinparzellen . . . stellte Tiberius Gracchus das oberste Recht des Staates auf den Boden wieder her2. Ein anderes, nicht weniger ausgeprägtes Merkmal der hier in Frage stehenden Entwicklungstendenz der sozialen und politischen Kämpfe in Rom ist der hellenistische Einschlag. Ohne im einzelnen zu untersuchen, inwiefern es sich bereits um eine „ideologische Hülle" der Bewegung handelt (darüber weiter unten), muß hier das Verdienst der russischen Forscher hervorgehoben werden, die diesen Gedanken zum erstenmal entwickelt und begründet haben. Während in der westeuropäischen Literatur bestenfalls einzelne Andeutungen begegnen, die zudem bei weitem nicht immer das Richtige treffen, wurde diese Frage in der russischen Wissenschaft zum erstenmal mit aller Bestimmtheit, wie oben festgestellt, von W I P P E R 3 aufgeworfen und später von S . I . PROTASSOWA 4 im einzelnen entwickelt und begründet. Trotz der oben erwähnten interessanten und wertvollen Beobachtungen ist jedoch die Grundauffassung von S. I. PROTASSOWA nicht annehmbar. Für sie ergibt sich der „hellenistische Einschlag" in der Bewegung der Gracchen offensichtlich in erster Linie aus einer „Ideeninfiltration", aus einer bewußten oder unbewußten Nachahmung griechischer Vorbilder durch die Führer der Bewegung und aus einem unmittelbaren Einfluß der griechischen demokratischen Ideologie auf die Gracchen durch die Tätigkeit des Kreises um Scipio. S. I. PROTASSOWA macht nicht einmal den Versuch, Klarheit darüber zu schaffen, welche sozialökonomischen Verhältnisse in der Römischen Republik selbst derartige Einflüsse ermöglicht haben. Daher erscheint in ihrer Darstellung die hellenistische Strömung in der römischen demokratischen Bewegung als ein Fremdkörper, als das Ergebnis mechanischer Nachahmung. Eine solche Vorstellung ist natürlich völlig unannehmbar. Der hellenistische Einschlag und der Einfluß der griechischen Ideologie auf die demokratische Bewegung in Rom können und dürfen nicht durch die Neigung zu mechanischer Übernahme, zu mechanischer Nachahmung oder durch Ideeninfiltration erklärt werden, und die römische demokratische Bewegung in der Zeit der Gracchen kann nicht als Nachahmung der griechischen demokratischen Vorbilder betrachtet werden. Diese Bewegung hat sich, wie oben bereits festgestellt wurde5, völlig selbständig, aus inneren Ursachen heraus entwickelt. Diese in der römischen Sklavenhaltergesellschaft zur Zeit der Gracchen wirkenden 1

2

R . J . WIPPBK, a . a . O . , S. 5 3 .

Ebenda. Ebenda, S. 54—55. 4 Siehe oben, S. 24—25. ' Siehe S. 20. 3

Die soziale Basis ihrer Bewegung

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inneren Ursachen aber, d. h. die damalige sozialökonomische Situation, die Entwicklungsbedingungen des Klassenkampfes, waren in vieler Hinsicht den Entwicklungsbedingungen Griechenlands in der hellenistischen Zeit ähnlich, wenn nicht analog. Diese Umstände waren es, die nicht nur den Einfluß griechischer Ideen auf die römische demokratische Bewegung, nicht nur die Verwendung bereits fertiger Formen, sondern die Verwandtschaft und die fruchtbare Verbindung dieser Bewegung mit der griechischen politischen Ideologie ermöglichten. Der Einfluß der griechischen Ideologie, insbesondere durch Vermittlung des Diophanes und Blossins, auf die Gracchen, wie übrigens auch auf andere Mitglieder des hellenophilen Kreises um Scipio, ist ganz unbestreitbar und wird durch die Quellen vielfach bezeugt 1 . In der Arbeit von S. I . PROTASSOWA wird klar nachgewiesen, daß diese Ideologie ihrem Geist und Wesen nach der altrömischen aristokratischen oder, wie die Verfasserin es ausdrückt, „nationalen römischen K u l t u r " 2 zutiefst feindlich gegenüberstand. Ebenso zutreffend ist ß . J. W I P P E R S Feststellung über den hellenistischen Charakter des Planes, unveräußerliche Bodenparzellen zu schaffen 3 , aber den deutlichsten und unbestreitbarsten Beweis für den hellenistischen Charakter der hier untersuchten Tendenz stellen die beiden folgenden Momente dar. Da ist vor allem die Frage der sozialen Basis der Bewegung. Der Versuch der Gracchen, sich auf den römischen Demos zu stützen, wird heute bei der Beurteilung dieser Frage allgemein als selbstverständlich vorausgesetzt. Im Prinzip sind alle Forscher sich hierüber einig, doch lassen sich bei näherem Zusehen, d. h. bei einer ins einzelne gehenden Untersuchung des Problems, selbst in diesem fast allen Bewertungen und Schlußfolgerungen gemeinsamen Punkte wesentliche Widersprüche feststellen. So sieht z. B. MOMMSEN in den Bemühungen des Gaius Gracchus, neben der städtischen Plebs auch das römische Hittertum auf seine Seite zu ziehen, einen Versuch, die römische Aristokratie zu spalten. Schon durch diese Behauptung werden die Ritter gewissermaßen als vorbehaltlose Verbündete der Nobilität ansrkannt, was sich so kategorisch und allgemein keineswegs sagen läßt. Außerdem verlegt MOMMSEN mit dieser Ansicht den Akzent in unzulässiger Weise auf ein zweitrangiges, nebensächliches Moment in der Taktik des Gaius Gracchus, W3nn er sie nicht völlig falsch darstellt, da er ihr eigentliches Ziel und ihre Grundtendenz überhaupt eliminiert. Deshalb sind, wenn man die Frage der sozialen Basis der Bswegung klären will, Feststellungen über die soziale Zusammjnsetzung dar „demokratischen Opposition" sehr viel ergiebiger. Ti.b3ri.us Gracchus hat zweifellos eine Stütze im Demos gesucht, aber da er sich tatsächlich auf die ländliche und teilweise auf die städtische Plebs stützte, 1

Plut., Ti. Gr., 8; 17; vgl. Cic., Brut., 104; Lael., 11, 37; Val. Max., IV, 7, I. Siehe oben, S. 25. 3 Siehe auch N. A. MASCHKINS Bemerkungen über den Einfluß der hellenistischen Praxis auf die lex frumentaria des Gaius Gracchus (N. A. MASCHKIN, Römische Geschichte, Berlin 1953, S. 261) und auf die Getreidegesetze des Appuleius Saturninus (ebenda, S. 276—277). 2

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Gaius Gracchus und die Ritterschaft

hat er in diesem Falle die Methoden und die Taktik der athenischen Demokratenführer nachgeahmt, obwohl es damals in Rom einen Demos als solchen gar nicht gab. Hier liegt, nebenbei bemerkt, der entscheidende Irrtum des Tiberius Gracchus, einer der Gründe für seine Schwäche und für den Zusammenbruch der Bewegung überhaupt. Gaius Gracchus ging im Unterschied zu seinem Bruder weiter. Er versuchte, sich zur Verbreiterung seiner sozialen Basis nicht nur auf die Plebs, sondern auch auf die Ritter zu stützen, d. h. auf den Demos im athenischen Sinne dieses Wortes. Bewußt oder unbewußt — es ist hier nicht möglich und auch nicht notwendig, auf diese Seite der Frage einzugehen — beschränkte er sich nicht mehr darauf, die Führer des athenischen Demos nachzuahmen, sondern machte den Versuch, sich eine entsprechende soziale Basis zu schaffen. Hier und nicht in dem, was MOMMSEN ihm unterstellt, liegt das eigentliche Ziel und der Sinn seiner Politik gegenüber den Rittern. Aber auch dieser Versuch mußte scheitern, da ein Zusammenschluß dieser beiden sozialen Gruppen unter den römischen Verhältnissen nicht nur unnatürlich, sondern einfach unmöglich war. Ein Demos im athenischen Sinne hat damals in Rom nicht mehr bestanden. Die Interessen der beiden Flügel dieser demokratischen, aber innerlich widerspruchsvoller! Opposition waren allzu entgegengesetzt. Man darf also ihren „Ritterflügel" keinesfalls, wie MOMMSEN es tut, zur römischen Aristokratie rechnen, vielmehr muß man ihn als eine fast selbständige Schicht, gewissermaßen als eine Zwischenschicht betrachten, die, jedenfalls zur Zeit der Gracchen, eher zur demokratischen Opposition neigte. Der hellenistische Charakter jener Tendenz in den sozialen und politischen Kämpfen, die sich in der Tätigkeit der Gracchen darstellt, kommt schließlich auch in einer allgemeinen Folgerung zum Ausdruck, die sich aus den gesamten oben gemachten Darlegungen ergibt. Tatsächlich sind die Gracchen bei ihren Bemühungen um eine entsprechende soziale Basis zur Gründung einer Partei geschritten. Diese Feststellung enthält offenbar nichts Neues, und die meisten Forscher verstehen den Kampf der Gracchen und ihrer politischen Gegner als einen Kampf von Parteien, für gewöhnlich der Optimaten und der Populären, oder sie leiten die Bildung dieser Parteien aus der Bewegung der Gracchen ab. Dieser Standpunkt wird, wie oben gesagt 1 , auch von einigen zeitgenössischen sowjetischen Historikern vertreten. Wir haben über den Charakter der politischen Parteien in Rom bereits gesprochen und den Terminus „Partei" in bezug auf die antike Welt in einem bestimmten Sinne definiert. Dieses Problem ist von mehreren Forschern untersucht worden. Einen Versuch, sämtliche zu dieser Frage geäußerten Ansichten allgemein zu erläutern, stellt eine Spezialarbeit von N . A. MASCHKIN dar 2 . Doch vermittelt Siehe S. 26. H . A. ManiKHH, PHMCKHC noJiHTimecKHe napTHH B Kornje I I H B Hakane I B. H- H. 3. (N. A. MASCHKIN, Die römischen politischen Parteien am Ende des I I . und zu Beginn des I. Jahrhunderts v . u . Z.), B ^ H , 1947, Nr. 3, S. 126—139. 1

1

Die Zeit der Parteien und des Parteienkampfes in Rom

31

diese Arbeit nicht nur eine allgemeine Schilderung oder Zusammenstellung der herrschenden Ansichten; der Verfasser gelangt vielmehr auf Grund einer Kritik bürgerlicher Gelehrter, besonders der „prosopographischen" Richtung, die in der modernen bürgerlichen Wissenschaft Forscher wie GELZEK, MÜNZER, SYME1 u. a. vertreten, zu selbständigen Schlüssen über das Wesen der römischen politischen Parteien. Wir lassen die in MASCHKINS Arbeit eingehend behandelte Geschichte der Frage beiseite und beschränken uns auf einige grundsätzliche Ergebnisse des Verfassers. MASCHKIN weist sehr richtig darauf hin, daß man nicht in den Fehler der MoMMSEN-Schule verfalle t und das politische Leben im republikanischen Rom und also auch den Begriff der Partei in bezug auf diese Zeit nicht modernisieren darf 2 , hält es aber trotzdem für durchaus» möglich, von der Existenz mehr oder weniger konstituierter Parteien zu sprechen, die er als „die aktivsten, bewußtesten, mehr oder weniger organisierten . . . Gruppen" 3 der Aristokratie oder der Plebs und als „permanente politische Richtungen" 4 bezeichnet. Als solche politische Parteien in Rom betrachtet MASCHKIN die Optimaten und die Populären, und zwar stellt er die Optimaten als die aristokratische und die Populären als die demokratische Partei dar5. Die Entstehung dieser Parteien verlegt er in die dreißiger Jahre des I I . Jahrhunderts v. u. Z.: „Nach Cicero begann mit dem Tribunat des Tiberius Gracchus die Konstituierung dieser beiden Richtungen" (d.h. der Optimaten und der Populären) 6 . Diese Ergebnisse7 haben eine sehr wesentliche Bedeutung. Sie bestätigen den Gedanken, daß die hier behandelte demokratische Entwicklungstendenz der sozialen und politischen Kräfte, die in erster Linie in der Bewegung der Gracchen zum Ausdruck kommt, hauptsächlich in der Form des Parteienkampfes in Erscheinung getreten ist. Zweifellos ergaben sich diese neuen Formen und Methoden der Gracchen aus der inneren Logik der Entwicklung des Klassenkampfes in Rom, zugleich aber bezeugen sie nochmals den hellenistischen Einschlag dieser Tendenz; denn gerade der Parteienkampf ist, wie oben bemerkt 8 , charakteristisch für die politischen Konflikte der griechischen demokratischen Polis, keineswegs aber für Rom vor der Zeit der Gracchen. 1

M . GELZER, D i e N o b i l i t ä t d e r r ö m i s c h e n R e p u b l i k , 1 9 1 2 ; DERSELBE, D i e r ö m i s c h e

Gesellschaft zur Zeit Ciceros, NJPh., 1920, S. 1—27; DERSELBE, Caesar, Der Politiker und Staatsmann3, 1941; F. MÜNZER, Rom. Adelsparteien und Adelsfamilien, 1920; R. SYME, The Roman Revolution, Oxford 1939. 2

N . A . MASCHKIN, a . a . O . , S. 137.

Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 137. 5 Ebenda, S. 131, 137. 6 Ebenda, S. 135. 7 Allerdings können sie nicht alle vorbehaltlos akzeptiert werden. So ist z. B. die traditionelle, auf MOMMSEN zurückgehende Ansicht, wonach die Optimaten eine aristokratische und die Populären eine demokratische Partei gewesen sind, keineswegs unbestritten. Siehe: STRASBURGER, Optimates, RE, X V I I I , 1, col. 773ff. 8 Siehe oben, S. 14. 3

4

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Die demokratische Tendenz bei den Gracchen und in der späteren Zeit

Dadurch erklärt es sich wiederum, daß die durch die erwähnten Kampfformen gekennzeichnete Periode der römischen Geschichte verhältnismäßig kurz gewesen ist. Dies hebt auch MASCHKIN hervor: „Die klassische Periode des Kampfes zwischen Popularen und Optimaten hat nicht lange gedauert; sie beginnt mit dem Auftreten des Tiberius Gracchus und endet mit der Niederwerfung der Bewegung des Saturninus" 1 . Aus allem Gesagten wird klar, daß die Gracchen zwar bei ihrer Tätigkeit von durchaus realen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgingen, daß aber ihr Versuch, unter den damaligen Verhältnissen eine Partei zu gründen, ebenso utopisch und irreal war wie ihre Hoffnung, in dem bereits in einzelne, sich häufig feindlich gegenüberstehende soziale Gruppen zerfallenen römischen „Demos" eine feste politische Stütze zu gewinnen. Die Besonderheiten und eigentümlichen Formen der von den Gracchen repräsentierten Bewegung lassen sich also prinzipiell folgendermaßen bestimmen: kühnes und revolutionäres Auftreten gegen die konservativen Traditionen und gegen die ungeschriebene römische Verfassung 2 , Proklamierung demokratischer Losungen sowie der rechtlichen Souveränität des Volkes (bis zu einem gewissen Grade unter dem Einfluß der griechischen Ideologie), Bemühungen um eine soziale Stütze im römischen „Demos" und schließlich der Versuch, in Rom eine demokratische Partei zu gründen. Die Gracchen waren nur die ersten und am deutlichsten ausgeprägten Vertreter dieser Tendenz. Ohne jemals eine solche Stärke und Klarheit wie zu ihrer Zeit zu erlangen, macht sie sich doch weiterhin ständig in der Geschichte der Römischen Republik bemerkbar. Sie läßt sich in der Tätigkeit der folgenden großen Tribunen verfolgen: bei Appuleius Saturninus, bei Marcus Livius Drusus dem Jüngeren und später, wobei allerdings die Modifikationen infolge der Zersetzung der römischen Demokratie, der veränderten Zusammensetzung der römischen Plebs, der Komitien usw. zu berücksichtigen sind, in der Tätigkeit des Servilius Rullus, in der Bewegung Catilinas und sogar in der Tätigkeit Caesars i jedenfalls solange dieser noch das Oberhaupt einer „Partei" und nicht Allein herrscher war 3 . In der hier behandelten Tendenz kamen also zweifellos die sozialen Interessen, die Ziele und Kampfmethoden der römischen Demokratie, d. h. in erster Linie der ländlichen und städtischen Plebs, zum Ausdruck. Bei der Verwendung der Termini „römische Demokratie" und „römische Plebs" muß man jedoch stets im Auge behalten, wie begrenzt und bedingt diese Begriffe sind und welches geschichtliche Schicksal die römische Plebs als bestimmte soziale Kategorie gehabt hat. Man muß den. komplizierten und langwierigen Vorgang der Verarmung der ländlichen Plebs und die parasitäre Lebensweise 1

2

N . A . MASCHKIN, a . a . O . , S . 1 3 5 . '

M. HAMMOND, The Augustan Principate in theory and practiee during the JulioClaudian period, Cambridge 1933, S. 5. 3 Darüber siehe unten S. 74. Über die „demokratische Ideologie" Caesars siehe z. B.: J. GAGÉ, De César ä Auguste, Revue historique, 1936, S. 279—342.

Das Fortleben der „hellenisch-demokratischen" Strömung

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des städtischen Proletariats in Rom im Auge behalten, diejenigen Umstände also, die schließlich zur Zersetzung der römischen Demokratie und zur politischen Bedeutungslosigkeit der Plebs geführt haben. Man muß die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung, in den politischen Losungen und in den Kampfmitteln der Plebs im Auge behalten. Zwischen der römischen Plebs in der klassischen Periode des Kampfes der Optimaten und der Populären und der Plebs etwa zur Zeit der Verschwörung Catilinas liegt ein ungeheurer Abstand. Und schließlich ist zu berücksichtigen, daß mit der fortschreitenden Konsolidierung der privilegierten Schichten der herrschenden Klasse und der zunehmenden politischen Bedeutungslosigkeit der Plebs die Haltung der Zwischengruppen und Zwischenschichten sehr schwankend wird. Besonders augenfällig wird dies kurz vor den Bürgerkriegen und im Verlauf dieser Kriege. So verändert sich die politische Orientierung der Mittelschichten der freien Bevölkerung merklich, die oppositionelle Stimmung unter ihnen verstärkt sich, und demokratische Losungen und Ideen spielen eine wesentliche Rolle in dem Kampf gegen die Triumvirn 1 . Die Triumvirn selbst kämpften natürlich nicht für die Interessen der Aristokratie. Die Optimaten waren ihre Hauptfeinde, die Optimaten und die Ritter waren die Opfer zur Zeit der Proskriptionen; da sie sich aber nicht auf die Mittelschichten der Bevölkerung und nicht auf das „ V o l k " stützten, wie die Gegner der Optimaten es gewöhnlich in den früheren Bürgerkriegen getan hatten, konnte sich eine demokratische Opposition gegen ihr Regime herausbilden. Daher besteht die „hellenisch-demokratische" Strömung in der Politik wie in der Ideologie weiter, und ihre endgültige Auflösung fällt mit dem Sturz der Republik und dem Sieg des neuen politischen Regimes zusammen. Außerdem aber bedeutet diese Auflösung keineswegs, daß diese Strömung völlig verschwindet, sondern nur, daß sie als aktive und notwendige Komponente in die neue politisch-ideologische Synthese der Zeit des Augustus eingeht. Jetzt müssen wir uns der zweiten entscheidenden Entwicklungstendenz der sozialen und politischen Kämpfe in Rom zuwenden. Sie steht in diametralem Gegensatz zur ersten. Zum schärfsten Ausdruck gelangt diese zweite Richtung bei Octavian. Es ist nicht möglich, im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Tätigkeit des ersten römischen Kaisers in ihrem gesamten Umfang zu behandeln. Diese Aufgabe würde zu viel Raum erfordern. Auch ist eine Darstellung der Innenpolitik des Augustus, sei es auch nur auf Teilgebieten, hier nicht erforderlich. Wir können uns auf den Versuch beschränken, die Grundtendenz dieser Politik zu bestimmen. Die Tätigkeit des Augustus und in erster Linie die unter ihm entstandene Regierungsform, d. h. der Prinzipat, wird in der Geschichtswissenschaft außerordentlich verschieden beurteilt. Die langjährige Erforschung des Problems in 1

Siehe unten, S. 132—134.

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Prinzipat des Augustus in der Beurteilung moderner Historiker

der ausländischen wie in der sowjetischen Geschichtswissenschaft ermöglicht jedoch bestimmte Schlußfolgerungen zumindest in einigen Einzelfragen. Hinsichtlich der von Augustus eingeführten Regierungsform werden drei einander ausschließende Standpunkte vertreten. Der erste wurde am Ende des 1 9 . Jahrhunderts durch MOMMSEN entwickelt 1 . Die Frage der Entstehung des Prinzipats hat M O M M S E N fast gar nicht interessiert. Dies erklärt sich bis zu einem gewissen Grade aus seiner grundsätzlichen Einstellung, denn in denjenigen Schriften, in denen M O M M S E N eine Definition des Prinzipats gibt, versucht er, ein System des römischen Staatsrechts zu schaffen. Eine solche Behandlung der Frage führt unvermeidlich zu formalen und unhistorischen Konstruktionen, die das ganze verwickelte, dynamische und widerspruchsvolle Wesen der sozialen Grundlage der Erscheinungen unberücksichtigt lassen. Der juristische Begriff und die juristische Formulierung gewinnen eine sich selbst genügende Bedeutung, und häufig treten diese formal-juristischen Gebilde an die Stelle der realen geschichtlichen Größen. Darin liegt der Grundfehler der Methode MOMMSENS. Da M O M M S E N die kaiserliche Macht mit Hilfe dieser formal-juristisehen Methode zu definieren sucht, erscheinen bei ihm das imperium proconsulare und die tribunicia potestas der römischen Kaiser als die beiden Grundlagen ihrer Macht. Die politische Ordnung, die in Rom im Jahre 27 errichtet wurde (MOMMSEN hat hier die formale Teilung der Macht zwischen dem Kaiser und dem Senat im Auge, die de iure auch weiterhin bestand), bestimmt M O M M S E N nicht als Republik und nicht als Monarchie, sondern als eine Art Doppelherrschaft, die er Diarchie nennt. Einen anderen Standpunkt in der Frage des Prinzipats vertritt G A R D T H A U S E N 2 , der ein umfangreiches Werk über Augustus geschrieben hat. Er ist der Ansicht, daß die Wiederherstellung der Republik durch Augustus eine offensichtliche Fiktion und die Herrschaft des Augustus rein monarchischen Charakter gewesen sei. Die Eigentümlichkeit dieser Herrschaft bestand nach G A B D T H A U S E N in der ungewöhnlichen Konzentration der üblichen römischen Magistraturen in den Händen eines einzigen Mannes. Hierin erblickt G A R D T H A U S E N die magistralen Grundlagen der Monarchie des Augustus. Einen völlig entgegengesetzten Standpunkt in der Frage des Prinzipats und der Herrschaft des Augustus vertritt E D U A R D MEYER 3 . Seiner Ansicht nach hat sich der Prinzipat als besondere politische Form bereits unter Pompeius heraus gebildet. Der Adoptivsohn Caesars war nach M E Y E R durchaus nicht der Erbe uud Fortsetzer der politischen Doktrin seines Vaters, denn Julius Caesar erstrebte eine Monarchie hellenistischen Typs. Im Sinne der Staatsschöpfung ist Augustus ein Nachfolger des Pompeius. Der Prinzipat ist ein poetisches System, 1

T H . MOMMSEN, R o m .

Staatsrecht,

II,

2, L e i p z i g

1 8 8 7 ; DERSELBE, A b r i ß d e s

rö-

mischen Staatsrechts, Leipzig 1917; DERSELBE, Res gestae divi Augusti 2 , 1883. 2 V. GABDTHAUSEN, Augustus und seine Zeit, 3 Bde., Leipzig 1891—1904. 3

EDUARD M E Y E R , K a i s e r A u g u s t u s , „ K l e i n e

S c h r i f t e n " , H a l l e 1924, S.

425—474;

DERSELBE, Caesars Monarchie und das Prinzipat des Pompeius 3 , Stuttgart-Berlin 1922.

Die Herrschaft des Augustus als soziale und politische Erscheinung

35

bei dem die gesamte Macht dem Senat gehört, dessen Beschützer der Prinzeps ist. Es handelt sich also keineswegs um eine Monarchie oder Diarchie, sondern tatsächlich um eine Wiederherstellung der Republik. In der wahrhaft unübersehbaren Literatur über den Prinzipat hat jeder der obengenannten Standpunkte ebenso viele Verteidiger wie Gegner1. Für den marxistischen Historiker, der das Wesen der Herrschaft des Augustus, d. h. des Prinzipats, bestimmen will, besitzt die folgende Feststellung von E N G E L S allergrößte grundsätzliche Bedeutung: „Stütze der Regierung war materiell das Heer, das einer Landsknechtsarmee schon weit ähnlicher sah als dem alten römischen Bauernheer, und — moralisch — die allgemeine Einsicht, daß aus dieser Lage nicht herauszukommen, daß zwar nicht dieser oder jener Kaiser, aber das auf Militärherrschaft gegründete Kaisertum eine unabänderliche Notwendigkeit sei"2. An diese Feststellungen muß sich jeder halten, der die Herrschaft des Augustus nicht als irgendeine juristische Kategorie, sondern als eine bestimmte soziale und politische Erscheinung werten will. Daher hat N. A. M A S C H K I N in seinen Untersuchungen über das Problem des Prinzipats völlig recht, wenn er es als unbedingt notwendig bezeichnet, die soziale Basis der Herrschaft des Augustus zu untersuchen3. Will man über das Wesen der Herrschaft des Augustus Klarheit schaffen, so muß man sich mit seiner Sozialpolitik vertraut machen und deren hervorstechendste Merkmale zu bestimmen suchen. Der charakteristischste Zug der Sozialpolitik des Augustus ist ihr restaurativer Charakter, ihre konservative Tendenz. Die Losung der res publica restituta bedingte eine vorsichtige Einstellung zu der altrömischen Tradition, zu den mores maiorum. Augustus selbst hat diese Tendenz als eine der wichtigsten Grundlagen seiner Innenpolitik unterstrichen: „Durch die auf meine Initiative erlassenen neuen Gesetze habe ich viele Gebräuche der Ahnen, die in unserer Zeit schon in Vergessenheit gerieten, wieder zum Leben erweckt"4. Besonders 1

Siehe die Literaturübersicht bei N . A . MASCHKIN, Zwischen Republik und Kaiserreich, Leipzig 1954, S. 331—369. 2 FRIEDRICH ENGELS, Bruno Bauer und das Urchristentum, in K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS, Werke, Bd. X V , 1935, S. 606. [Anm. d. Red.: Offenbar hat MOMMSEN als materielle Grundlage des Prinzipats ebenfalls das Heer angesehen. In seinem Aufsatz „Der letzte Kampf der römischen Republik", (Hermes X I I I , 1878, S. 90—105; = Ges. Sehr. IV, S. 333—347, als Sonderdruck herausgegeben 1954) sagt er im Zusammenhang mit der Darstellung des Aufstandes des Vindex, S. 9: „Die Mißwirtschaft des späteren neronischen Regiments mochte wohl im ganzen Umfang des weiten Reiches in den besseren und ins Allgemeine zu denken befähigten Gemütern die Frage hervorrufen, ob der Eintausch der alten Freiheit gegen das militärische Regiment nicht ein Fehler gewesen sei" . . . und weiter unten S. 21, anläßlich der Proklamierung des Galba zum Prinzeps: das eigentlich durchschlagende Moment war offenbar, daß in der Proklamierung der Republik die Soldaten wie die Offiziere das Ende ihrer privilegierten Stellung erblickten und darum irgendeinen, gleichviel wen, schleunigst auf den Schild hoben."] 3 Siehe: N . A . MASCHKIN, Zwischen Republik und Kaiserreich, Leipzig 1 9 5 4 , S. 3 4 3 . 4 RGDA, 8: „legibus novis me auetore latis multa exempla maiorum exolescentia iam ex nostro saeculo reduxi". Vgl. Suet., Aug., 34.

Die konservative Tendenz in der Politik des Augustus

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eifrig tut er das, wenn er seine Loyalität gegenüber den alten republikanischen Traditionen hervorheben will; so versäumt er es z. B. nicht, ausdrücklich zu bemerken: „ I c h habe keine Magistratur übernommen, die mir entgegen dem Brauch unserer Ahnen verliehen worden wäre" 1 . Er weist darauf hin, daß er nach der Beendigung des Bürgerkrieges seine Vorrangstellung unter allgemeiner Zustimmung eingenommen hat, und bemerkt dazu: „ I c h habe die Republik aus meiner Amtsgewalt in die Verfügungsgewalt des Senats und des römischen Volkes überführt" 2 . Er betont ausdrücklich: „Danach habe ich an Autorität alle übertroffen, an Macht jedoch habe ich nicht im geringsten mehr besessen als die übrigen, die meine Amtskollegen waren" 3 . verweist auf die Vorliebe der politischen und sozialen Reaktion für die „nationale Vergangenheit", für Ahnenkult und Traditionspflege und bemerkt dazu: „Der Prinzeps bezeichnete sich vor allem als Retter der Gesellschaft aus den Stürmen der Bürgerkriege, als Wiederhersteller der nationalen Traditionen und als ersten Bürger" 5 . R . J . WIPPER4

Diese konservative Tendenz ist von vielen Forschern vermerkt worden. Schon hat die restaurative Tendenz in der Politik des Augustus unterstrichen. Neuere Forscher 7 gelangen bei der Analyse der „gangbaren" politischen Termini der augusteischen Zeit — auctoritas, libertas, concordia ordinum, mos maiorum usw. — zu gleichen Schlüssen. Äußerst interessant und überzeugend ist die Analyse der Ehegesetzgebung des Augustus bei N . A. M A S C H K I N 8 , der den engen Zusammenhang dieser das altrömische Familienideal (die Familientraditionen) bekräftigenden Gesetze mit der Politik der Festigung der Sklavenwirtschaft nachweist. Ein anderes, nicht weniger ausgeprägtes Merkmal der Innenpolitik des Augustus ist ihre eigenständig römische Richtung, die Bekämpfung fremdländischer Einflüsse, was zweifellos in engem Zusammenhang mit der restaurativen Tendenz steht. Natürlich erfolgte die Bekämpfung fremdländischer Einflüsse in der Zeit des Augustus bei weitem nicht mit den gleichen Methoden wie zwei Jahrhunderte früher. Von einem so kompromißlosen Kampf, wie ihn Cato seinerzeit geführt hatte, konnte damals keine Rede sein. Trotzdem ist die Anknüpfung an die Vergangenheit nicht zu verkennen. Das beweist die ganze Tendenz der augusteischen Innenpolitik. Die Losung der Wiederherstellung „der alten und ursprüngG . BOISSIER 6

RGDA, 6: „nullum magistratum contra morem maiorum delatum reeepi". RGDA, 34: „rem publicam ex mea potestate in senatus populique Romani arbitrium transtuli". 3 Ebenda: „post id tempus auctoritate Omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt". 1

2

4

R . J . W I P P E R , a . a . O . , S. 421.

Ebenda, S. 392. La religion Romaine, d'Auguste aux Antonins, Paris 1874, S . 82—-103. ' R. HEINZE, Auctoritas, Herrn. L X , 1925, S. 348ff.; A. v. PREMERSTEIN, Vom Werden und Wesen des Prinzipats, Abh. d. bayr. Ak. d. Wiss., phil.-hist. Abt., N. F., H. 15, München 1937; R. SYME, The Roman Revolution, Oxford 1939. 5

6

G . BOISSIER,

» N . A . MASCHKIN, a. a. O., S. 411—417.

Die Frage der sozialen Basis des Augustus

37

liehen Form der Republik" („prisca illa et antiqua rei publicae forma revocata") der Kampf um die Erneuerung der Grundlagen von Moral und Familie — das alles bedingte eine Rückwendung zu den alten Grundsätzen und Idealen, die in der römischen Gesellschaft vor dem Eindringen „der verderblichen fremdländischen Einflüsse und Gebräuche" geherrscht hatten, die nach der Theorie des Sittenverfalls 2 die Hauptursache für die Zersetzung des römischen Staates waren. So erklärt es sich, daß Augustus ständig seine Treue zu den Traditionen und Gebräuchen der Ahnen (mos maiorum) betont. Besonders ausgeprägt war die konservative Tendenz, wie zu erwarten ist, auf ideologischem und kulturellem Gebiet. Die Überwindung der fremdländischen hellenistischen Einflüsse in der Kultur (z. B. der alexandrinischen Richtung in der Dichtkunst) und die Blüte der römisch-italischen Kultur in dieser Zeit, die Rückwendung zu den römischen Traditionen, die Entwicklung einer eigenständigen römischen Kunst — das alles ist von den verschiedensten Forschern mehr als einmal vermerkt worden 3 . Diesen Standpunkt vertritt auch N. A. 4 MASCHKIN in seiner Arbeit über den Prinzipat des Augustus . Hier konstatieren wir diese Tendenz nur ganz allgemein; später werden wir auf das Problem der Überwindung der hellenistischen Einflüsse, soweit es in unmittelbarer Beziehung zur Ideologie steht, genauer eingehen 5 . Außerordentlich interessant und wichtig ist die Frage der sozialen Basis des Augustus. Vor ihrer Beantwortung müssen jedoch zwei sehr charakteristische Momente vermerkt werden, ohne deren Berücksichtigung und Verständnis sich keine richtige Vorstellung über die soziale Basis des Prinzipats gewinnen läßt. Erstens — dies ist augenfällig — fehlt in der Politik des Augustus jegliches Bemühen um eine zuverlässige Stütze unter den demokratischen Elementen, d. h. unter der römischen Plebs, die für Augustus offensichtlich überhaupt keine reale politische K r a f t darstellt. Ganz zu schweigen von einem Vergleich mit den Gracchen oder ihren Nachfolgern, läßt sich die Politik des Augustus gegenüber der Plebs, wie N. A. MASCHKIN 6 sehr richtig bemerkt, nicht einmal mit der palliativen „Popularenpolitik" Caesars vergleichen. Dieser veranlaßte, wie wir weiter unten zeigen werden 7 , als er sich noch als Oberhaupt einer „Partei" betrachtete, eine Reihe von Maßnahmen im Geiste der demokratischen Losungen der Populären. Bei Augustus begegnet eine derartige Tendenz nie und nirgends. Auch Caesars Einstellung zu der Bewegung des Dolabella und das rücksichtslose Vorgehen des Augustus gegen Egnatius Rufus lassen das prinzipiell verschiedene 1

Vell, I I , 89. Hierüber siehe unten, S. 88. 90—91. 3 R. HERBIG, Bau, Bildwerk und Malerei (in: W. KROLL, Die Kultur der ciceronischen Zeit, I I , 1933, S. 135ff.); GRENIER, Le Génie Romain dans la religion, les arts et la poésie, Paris 1926; SYME, The Roman Revolution, 1939. 2

4

6 6

N . A . MASCHKIN, a . a . O . , S . 5 5 2 — 5 6 5 .

Siehe unten, S. 53. N . A . MASCHKIN, a. a . O . , S . 4 4 3 .

' Siehe unten, S. 74—78.

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Die „über den Klassen stehende" Herrschaftsform

Verhältnis zu den demokratischen Losungen und Bewegungen der Epoche sowie die Wandlungen in der politischen Bedeutung der demokratischen Elemente selbst in Rom erkennen. Die Politik des Augustus gegenüber der römischen Plebs kennzeichnet N . A. M A S C H K I N durchaus richtig als eine „Politik des Brotes und der Spiele und der völligen Verdrängung der Plebs aus der Politik"1. Im Gegensatz zu den Bemühungen der Führer der römischen Demokratie, eine zuverlässige soziale Basis in der Plebs zu gewinnen, war Augustus deutlich bemüht, sich offiziell auf keine bestimmte soziale Gruppe zu stützen; er proklamierte vielmehr die concordia ordinum: alle, die das Ende der Bürgerkriege und den Frieden ersehnten, d. h. alle cives boni, konnten als Stütze des neuen Regimes gelten. An der Beendigung des Bürgerkrieges waren aber alle sozialen Gruppen mehr oder weniger interessiert. Freilich waren sie an einem Frieden interessiert, bei dem alle diese teilweise sehr verschiedenartigen Schichten ihre Privilegien bewahren konnten. Dadurch wurde Augustus zweifellos in einem gewissen Grade zu einer Politik des Lavierens genötigt, doch war dies mehr eine Frage der politischen Geschicklichkeit und der Praxis, und im Prinzip konnte die Losung des Friedens2 die verschiedenartigsten Hoffnungen in fast allen Schichten der römischen Bürger erwecken. Dem Augustus aber kann man bekanntlich politische Geschicklichkeit nicht absprechen, und daher erzielte er, was die Erweiterung seiner sozialen Basis betrifft, gewisse Erfolge. Nicht ohne Grund hat Tacitus gesagt: „Er gewann das Heer durch Geschenke, das Volk durch die Verteilung von Getreide, alle insgesamt durch die Annehmlichkeit des Friedens" 3 . Ein anderes, nicht weniger charakteristisches Moment ist die schroff ablehnende Haltung des Augustus gegenüber „Parteien". Dies rechnet sich Augustus bekanntlich gleich zu Beginn der Aufzählung seiner Taten als besonderes Verdienst an: „Ich habe dem durch die Herrschait einer Partei unterdrückten Staat die Freiheit wiedergegeben"4. Auch hierin äußert sich eine bestimmte Tendenz, die in schärfstem Gegensatz zu der oben untersuchten anderen politischen Richtung steht. Diese Momente haben offenbar manche bürgerlichen Forscher veranlaßt, in dem Prinzipat des Augustus eine „über den Klassen stehende" Herrschaftsform zu sehen. Schon G A R D T H A U S E N hat den Prinzipat mit der über den Klassen stehenden, sich auf alle Stände stützenden Monarchie Napoleons III. verglichen. Diesem Standpunkt hat sich die neuere bürgerliche Geschichtsschreibung angeschlossen. Schon W . S C H U R 5 nennt Augustus ein über den Klassen stehendes Staatsoberhaupt, und später wiederholen die faschistischen Historiker — Deutsche wie Italiener — diese Behauptung in den verschiedensten Variationen. 1

2 3

N. A.

MASCHKIN,

a. a. O., S. 446 (Hervorhebung von Maschkin).

App., BC, V, 130; Vell., II, 89. Tac. Ann., I, 2.

RGDA, 1: „rem publieam a dominatione factionis oppressam in libertatem vindicavi." 5 W. SCHUR, Sallust als Historiker, Stuttgart 1934. 4

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Moderne Historiker über die soziale Basis des Prinzipats

Ohne Zweifel hat die Frage der sozialen Basis des Prinzipats zwei Seiten. Auf der Oberfläche sind bis zu einem gewissen Grade die oben genannten Momente wirksam — die concordia ordinum, der Appell an die cives boni, der Kampf gegen die factiones, die Liquidierung der Folgen der Bürgerkriege und die Wiederherstellung des inneren Friedens. Doch darf man sich durch diese Außenseite nicht täuschen lassen und sie nicht für das Wesen der Sache nehmen. Bei all dem handelt es sich nur um Losungen, um eine politische Phraseologie, die die Ideologen des neuen Regimes und zu einem großen Teil Augustus persönlich geschaffen haben. Das alles ist nur schöner Schein, sozusagen das Prisma, durch welches das neue Regime gesehen werden soll, die ideologische Hülle, in der es sich der öffentlichen Meinung präsentierte. Bis zu einem gewissen Grade muß man daher natürlich mit den oben erwähnten Faktoren rechnen, aber man muß sie richtig klassifizieren und richtig „lokalisieren". Es sind Faktoren ideologischer Ordnung, die in die ideologische Sphäre gehören, wo sie studiert und gewertet werden müssen; keinen Augenblick aber dürfen sie das Wesen der Sache verdunkeln oder der sozialen Analyse Abbruch tun. Das Wesen der Sache oder der Kern der Frage bleibt unverändert. In welche ideologischen Hüllen der Prinzipat sieh auch kleiden mag, er ist die Militärdiktatur der Sklavenbesitzer, er ist eine auf Militärherrschaft gegründete Macht. Die Forscher, die sich mit der sozialen Natur des Prinzipats befaßt haben, vertreten verschiedene Ansichten über diejenigen Schichten der herrschenden Klasse, die als die tatsächliche Basis des Augustus betrachtet werden können. R. J . W I P P E R 1 spricht von dem Bemühen Octavians, seine Abhängigkeit vom Militär zu verschleiern und sich auf zivile Schichten zu stützen. Eine besonders wichtige Rolle spielt unter diesen zivilen Schichten der Ritterstand. Er hat im wesentlichen die Kader der kaiserlichen Bürokratie gestellt, die nach dem Niedergang der Volksversammlungen die Verwaltung der Stadt und dann auch des Staates in die Hand nahm 2 . R. S Y M E 3 betrachtet als die wichtigste Stütze des Augustus die homines novi, d. h. die italische Munizipalaristokratie, vor allem die in Italien angesiedelten Veteranen. Sehr eingehend wird die Frage der sozialen Basis des Augustus von N. A. M A S C H K I N 4 untersucht. Hinsichtlich der Politik des Augustus gegenüber den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gelangt er zu dem Schluß, daß Augustus nur geschickt zwischen diesen Gruppen lavierte, daß aber keine von ihnen die wirkliche soziale Basis seiner Herrschaft sein konnte. Der gemeinsame Fehler aller Feststellungen der bürgerlichen Wissenschaft über das Wesen des Prinzipats besteht darin, daß diese hochinteressante historische Erscheinung nur von außen gesehen und nur formal-juristisch gewertet wird. Die marxistische Forschung kann sich mit einer so formalen Behand1

2 3 4

R . J . WIPPER, a . a . O . , S . 3 6 3 .

Ebenda, S. 399—402. R. SYME, The Roman Revolution, Oxford 1939, S. 120. N . A. MASCHKIN, a. a. O., S. 418—499.

U t t s c h e n k o , Der politische Kampf in Rom

4

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Der Prinzipat als Militärdiktatur der herrschenden Klaese

lung der Frage nicht begnügen, sondern muß alle Seiten dieses Phänomens in ihrer dialektischen Einheit berücksichtigen. Will man den Gehalt des Prinzipats bestimmen, so muß man vor allem über die Klassennatur, über die soziale Natur dieser historischen Erscheinung Klarheit schaffen. Zu diesem Zweck müssen wir zunächst auf die oben bereits angeführte Feststellung von E N G E L S zurückgreifen: „Stütze der Regierung war materiell das Heer, das einer Landsknechtsarmee schon weit ähnlicher sah als dem alten römischen Bauernheer, und — moralisch — die allgemeine Einsicht, daß aus dieser Lage nicht herauszukommen, daß zwar nicht dieser oder jener Kaiser, aber das auf Militärherrschaft gegründete Kaisertum eine unabänderliche Notwendigkeit sei" 1 . Seiner Klassennatur nach also war der Prinzipat, wie oben bereits mehrfach festgestellt, die Militärdiktatur der herrschenden Klasse, der Klasse der Sklavenbesitzer. Die materielle Basis dieser Diktatur war die Armee. Wir müssen daher vor allem näher auf die Natur der römischen Armee in der hier behandelten Epoche eingehen. E N G E L S stellt sehr richtig fest, daß sie ihrer sozialen Zusammensetzung nach nicht mehr „das altrömische Bauernheer" war. Neuere Forschungen haben ergeben 2 , daß die Armee sich damals aus der gesamten freien Bevölkerung des Reiches rekrutierte und alle Stände umfaßte: den Senatoren- und den Ritterstand, die römischen Bürger in Italien und in den Provinzen, j a sogar die romanisierte und hellenisierte Bevölkerung der Provinzen. Schon diese Tatsache ermöglicht es, die Armee ohne wesentliche Einschränkungen als die materielle (und weitgehend auch die soziale!) Basis des neuen Regimes zu verstehen. Außerdem muß man das reale Verhältnis der Klassenkräfte in der römischen Gesellschaft berücksichtigen. Die Eigenart des hier behandelten Zeitabschnittes bestand, wie bereits erwähnt, darin, daß der Sieg des Prinzipats durch eine bestimmte, wenn auch vorübergehende Konsolidierung der Kräfte der herrschenden Klasse bedingt war. Ein Regime, das die Aussicht auf rücksichtslose Niederhaltung der ausgebeuteten Massen, auf Beendigung der politischen Wirren und Herstellung des inneren Friedens und schließlich auf eine Neubelebung der Sitten und Gebräuche der Ahnen, d. h. des „goldenen Zeitalters", eröffnete, konnte in der Tat darauf rechnen, die sozialen, politischen und geistigen Ansprüche ziemlich breiter Schichten der Sklavenhalterklasse zu befriedigen. Der mos maiorum war eine um so volkstümlichere Losung, als die restaurativen Tendenzen auf dem Gebiet der Kultur und der Moral mit der Festigung der Sklavenhalterordnung in engem Zusammenhang standen; archaistische Tendenzen sind überhaupt sehr kennzeichnend für die geistige Haltung der Sklavenhalteraristokratie in der Zeit des Kaiserreichs. So erklären sich auch der Erfolg und die Popularität der an keine Klasse gebundenen Losungen des Augustus, hier liegt das 1

KARL MARX u n d FRIEDRICH ENGELS, W e r k e ,

B d . X V , S. 6 0 6 .

* Siehe z. B. M. ROSTOVTZEFF, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, übersetzt von L. WICKERT, Leipzig 1931, I, S. 38—39.

Die „moralische Basis" des Prinzipats

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Geheimnis seiner berühmten Überparteilichkeit. Konsolidierung der verschiedenen Schichten der herrschenden Klasse gegenüber den ausgebeuteten Massen — das war der Kern der von Augustus in „klassenfreien" Losungen und Formulierungen proklamierten pax Romana. Diese Seite der Frage wird von N. A. M A S C H K I N in einem besonders wertvollen Abschnitt seiner Arbeit, in dem die Rolle des Augustus bei der Festigung der Sklavenhalterordnung geklärt wird, eingehend untersucht 1 . Jedenfalls aber haben diese Losungen, diese Propagierung von Ideen, die allen Bürgern zusagen konnten, und die zuverlässige Grundlage in Gestalt der Armee es dem Prinzeps ermöglicht, in seine soziale Basis sowohl einen beträchtlichen Teil der Ritterschaft und die Munizipalaristokratie als auch in einem bestimmten Grade die Senatskreise einzubeziehen (mit Hilfe der Ergänzung des Senats durch Vertreter der italischen Munizipalaristokratie). Deshalb darf man auch nicht glauben, der Prinzeps habe zwischen den Klassen- und Standesgruppen nur laviert, ohne sich auf eine von ihnen zu stützen. Eine Politik des Lavierens wäre schon deshalb unzweckmäßig gewesen, weil die Armee, die unbestrittene Stütze des Prinzipats, wie soeben bemerkt, Vertreter aller genannten Gruppen umfaßte und zweifellos mit diesen Schichten der Sklavenbesitzerklasse durch die verschiedensten Fäden eng verbunden war. Daher kam in der Tatsache, daß das neue Regime sich überhaupt auf die Armee verlassen konnte, vor allem sein ziemlich weitgehender politischer Kredit bei den obengenannten sozialen Gruppen zum Ausdruck. Bei der Aufzählung dieser Gruppen ist die städtische Plebs nicht erwähnt worden, und sie darf auch nicht zu denjenigen Bevölkerungsschichten gerechnet werden, die sich von der Errichtung des neuen Regimes reale Vorteile versprechen konnten. Wegen ihrer Demoralisierung, ihrer parasitären Lebensweise usw. stellte sie jedoch damals keinen ernstzunehmenden politischen Faktor mehr dar und konnte ignoriert werden8. In dem Vorhandensein einer verhältnismäßig stabilen sozialen Basis, in dieser, wenn auch nur zeitweilig bestehenden und durch bestimmte soziale und politische Bedingungen hervorgerufenen Interessengemeinschaft der verschiedenen (früher manchmal einander feindlichen) Schichten der Sklavenbesitzerklasse bei politischer Indifferenz und Ohnmacht der römischen Demokratie liegt das Geheimnis des Sieges des neuen politischen Regimes, d. h. des Prinzipats. Dabei handelte es sich bei diesen Interessen um ganz bestimmte materielle Interessen der herrschenden Klasse nicht nur Italiens, sondern in einem gewissen Grade auch der Provinzen. Sie waren die „materiellen Tatsachen", auf die sich die Überzeugung gründete, daß die Militärdiktatur unvermeidlich und unumgänglich sei. Sie bildeten die „moralische Basis" des Prinzipats. Hier aber liegt der Unterschied des neuen politischen Regimes zum Caesarismus, für dessen Wesen in Wirklichkeit der Versuch charakteristisch ist, zwischen 1

N . A . MASCHKIN, a. a. O., S. 4 0 0 — 4 1 8 .

» Siehe oben, S. 12.

4*

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Die wesentlichen Momente der Praxis des Augustus

einzelnen Gruppen der römischen Gesellschaft zu lavieren, ohne sich ernsthaft auf eine von ihnen zu stützen. Durch diesen Unterschied erklärt sich auch die Dauerhaftigkeit des neuen Regimes im Vergleich zum Caesarismus und dessen tragischer Kurzlebigkeit. So ist der Kern des Prinzipats, d. h. seine soziale Natur zu bestimmen. Ohne auf die formal-juristische Seite der Frage einzugehen, kann man einige Ergebnisse feststellen. Bestimmend für die grundsätzliche Beurteilung jener Tendenz des sozialen und politischen Kampfes in Rom, die in. der Praxis des Augustus zum Ausdruck gelangt, sind im wesentlichen folgende Momente: Stützung und Restaurierung der konservativen Traditionen, Bekämpfung fremdländischer Einflüsse, eigenständig-römische Richtung der Innenpolitik, Bündnis mit den Oberschichten der herrschenden Klasse und überparteiliche Phraseologie als ideologische Hülle des neuen Regimes. Augustus war der letzte und ausgeprägteste Vertreter dieser Richtung. Sie läßt sich aber, ebenso wie die erste der oben untersuchten Tendenzen, durch die gesamte Geschichte der Römischen Republik verfolgen. Geht man von Augustus in die Vergangenheit der römischen Geschichte zurück, so kann man zweifellos zu den Vertretern dieser Richtung Cicero, bedingt Sulla und ohne jede Einschränkung den älteren Cato rechnen, trotz des Unterschiedes der Epochen und der Eigenarten in der politischen Orientierung der genannten Persönlichkeiten 1 . Diese zweite Tendenz entwickelte sich völlig anders als die erste. Auf Grund der bereits mehrfach erwähnten sozialen und politischen Voraussetzungen erwies sie sich im Rahmen der römischen Verhältnisse als entwicklungsfähiger. Außerdem spielte ihre bessere Eignung für den römischen Patriotismus eine gewisse Rolle. Sie war eigenständig und kein Produkt der Fremde. Solchen Produkten standen die Römer in ihrer großen Mehrzahl doch ablehnend gegenüber, und niemals übernahmen sie derartige Einflüsse ohne Widerstreben und entsprechende Umformung. Die politische Geschichte der Römischen Republik in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit kann und darf nicht auf den Kampf der beiden oben festgestellten Richtungen zurückgeführt werden. Sie waren nur die wichtigsten, aber nicht die einzigen in dem verwickelten, vielfältigen und widerspruchsvollen Bild der politischen Wechselbeziehungen während des II. und I. Jahrhunderts v. u. Z., und in ihrer Entwicklung fand der Kampf der einander feindlichen Klassengruppierungen innerhalb der römischen Sklavenhaltergesellschaft seinen Ausdruck. 1 Bekanntlich stammten Cato und Cicero nicht aus der römischen Nobilität, sondern gehörten zu den homines novi. Daher stand Cato auch als Vertreter der plebejischen Aristokratie und Ideologe der neuen Händler- und Wuchererschichten innerhalb der herrschenden Klasse in Opposition zu den oligarchischen Schichten der Nobilität, die Anhänger des älteren Scipio waren. Es ist jedoch bezeichnend, daß er seinem Kampf die Form der Ablehnung der nova flagitia und des Eintretens für die mores maiorum gab (hierüber siehe unten, S. 49). Was Cicero betrifft, so war er bekanntlich im letzten Abschnitt seiner politischen Laufbahn ein erklärter Anhänger der senatorischen Reaktion.

DRITTES KAPITEL

DAS GEISTIGE LEBEN DER RÖMISCHEN GESELLSCHAFT IM II. UND I. JAHRHUNDERT V. U. Z. Die berühmte These von der Verwandtschaft der griechisch-römischen Welt scheint nirgends eine so glänzende Bestätigung zu finden wie in der Frage der kulturellen Verwandtschaft. In der bürgerlichen Wissenschaft wird fast allgemein folgende Anschauung vertreten: erstens behauptet man die unbedingte Überlegenheit der griechischen Kultur — im weitesten Sinne des Wortes — über die römische, während diese als dürftig und eklektisch gilt, sozusagen als ein blasses, manchmal geradezu verzerrtes Spiegelbild der unübertrefflichen griechischen Vorbilder. Selbst bei neueren Forschern, die sich gelegentlich von dieser hypnotisierenden Vorstellung zu befreien suchen, begegnen durchweg Behauptungen der Art, „daß es eine römische Zivilisation, die diesen Namen verdient, ohne die Griechen nicht gegeben hätte" 1 , oder daß die römischen Kommentatoren der originalen griechischen Denker den ursprünglichen Sinn der echten alten Gedanken und Prinzipien ebenso wenig bewahrt haben wie die blassen römischen Kopien den der originalen griechischen Plastik 2 . Zweitens spricht man von dem positiven und befruchtenden Einfluß der griechischen Kultur, ohne deren unmittelbare Einwirkung die Römer offenbar in einer durch ihre schöpferische Ohnmacht bedingten Kulturlosigkeit hätten vegetieren müssen. Drittens stellt man das Eindringen fremdländischer Einflüsse in Rom gewöhnlich als „friedliche Eroberung" der römischen Kultur durch die höhere hellenistische Kultur dar, wobei diese „Eroberung" in der römischen Gesellschaft auf fast gar keinen sichtbaren Widerstand gestoßen sein soll. In Wirklichkeit ist das von der bürgerlichen Wissenschaft entworfene Bild von dem fruchtbaren Einfluß einer fremden Kultur und der friedlichen Eroberung der römischen Gesellschaft durch diese Kultur von der Wahrheit weit entfernt. Die Alten selbst haben diesen Prozeß, nach dem, was darüber bekannt ist, ganz anders aufgefaßt, und die auf uns gekommenen Zeugnisse beweisen, daß sie ihm keineswegs in so friedlicher und idyllischer Gemütsverfassung gegenübergestanden haben. In Wirklichkeit stellte dieser Vorgang einen heftigen und erbitterten Kampf dar, in dem die verwickelten, widerspruchsvollen und manchmal sogar geradezu feindseligen sozialen und politischen Wechselbeziehungen der Zeit ihren Ausdruck fanden. Nur die bürgerliche Wissenschaft, die es vermeidet, die Merkmale und Erscheinungsformen von 1

W.

1

P . HANSCHKE,

Die Kultur der ciceronischen Zeit, II, 1 9 3 3 , S. 1 1 7 . Der Einbruch des Orientalischen in das klassische römische Schrifttum als Vorbereitung des Christentums, N J A D B , 1938, S. 119. KROLL,

Die geistige Atmosphäre des frtihrepublikanischen Rom

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Klassenwidersprüchen darzustellen, kann ein so harmloses Bild von den geistigen Kämpfen im Altertum entwerfen. Das Eindringen der hellenistischen Kultur in Rom darf nicht nach seinen feststehenden und dazu noch in die Abstraktion der „reinen Kunst" erhobenen Ergebnissen beurteilt werden; man muß es vielmehr als einen dynamischen Prozeß studieren, der im Zusammenhang der konkreten historischen Wirklichkeit zu betrachten ist. Zu diesem Zweck muß man den Verlauf der Durchdringung der römischen Gesellschaft mit den Einflüssen fremder Kultur wenigstens in den allgemeinsten Umrissen verfolgen. Die Wirkungen fremder, in erster Linie griechischer oder durch die Griechen vermittelter kultureller Einflüsse machen sich in der römischen Gesellschaft bereits in der sogenannten „Königszeit" bemerkbar, verstärken sich jedoch besonders seit dem Beginn des III. Jahrhunderts v. u. Z. Das geht z. B. aus den Scipioneninschriften hervor. Diese Imchriftsn sind ihrem Inhalt nach ein spezifisches Produkt der altrömischen Polisidsologie. Ziemlich deutlich lassen sie z. B. ein so charakteristischss Msrkmal erkennen wie die Zuerkennung der Verdienste (virtus) des einzelnen Gsmsindemitglieds durch die Gesamtansicht seiner Mitbürger, d. h. aller übrigen Gemeindemitglieder. Wie man sich leicht überzeugen kann, wird in der Inschrift des Lucius Cornelius Scipio, des Konsuls von 259, in der es heißt: „Die meisten (Rämsr) stimmen darin überein, daß er der Beste unter den Guten gewesen ist" 1 , die entscheidende Bedeutung des Urteils gerade der Mitbürger unterstrichen. In den beiden ältesten Inschriften wird die gesellschaftlich-politische Laufbahn der Personen, denen sie gewidmet sind, geschildert. Der Aufzählung der Ämter, die sie bekleidet haben, folgt die Aufzählung der Taten, die sie für die res publica vollbracht haben 2 . Schließlich werden den Angehörigen des Scipionengeschlechts die abstrakten und „typischen" altrömischen Tugenden zugeschrieben: honos, fama virtusque, gloria atque ingenium3. Dies alles bezeugt den eigentlich römischen Gehalt dieser Inschriften. Zugleich absr läßt sich in ihnen ein gewisser formaler Einfluß griechischer Vorbilder feststellen 4 . Die Sitte, die Inschriften metrisch abzufassen, scheint ebenfalls aus Griechenland zu stammen. Daß diese Sitte metrischer Grabinschriften auch noch sehr viel später als fremdartig und unrömisch empfunden worden ist, ergibt sich aus Catos Bemerkungen über den Unterschied zwischen der griechischen und der römischen Art der Heldenehrung, wobei er die elogia zu Ehren des Leonidas anführt. Eine spätere Inschrift ist bereits in Distichen 1

Remains of Old Latin newly edited and translated (E. H. WARMINGTON), IV, London 1940, Nr. 3—4 = C I L , I 2 , 9: „hone oino ploirume consentiont R [omane] duonoro optumo fuise viro". 2 ROL, IV, 1—2; 3 — 4 = CIL, I s , 6, 7, 8, 9. 8 ROL, IV, 5 = CIL, I 2 , 10. 1 Näheres siehe bei F . HACHE, Römisches und Unrömisches in Altlatein, NJADB, 1938, S. 402—405.

Verbreitung griechischer Sprache und Bildung in Bom

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abgefaßt. Typisch griechisch sind die Verzierungen auf dem Sarkophag des ältesten Scipio, des Konsuls von 298 Die älteren Scipioneninschriften sind in der Zeit entstanden, als sich in den oberen Schichten der römischen Gesellschaft zum ersten Male hellenistische Einflüsse bemerkbar machten. Im III. Jahrhundert, besonders in der zweiten Hälfte, verbreitet sich in diesen Schichten die griechische Sprache, und allmählich wird ihre Kenntnis zu einem Zeichen des guten Tons. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Schon im Anfang des III. Jahrhunderts beherrscht Quintus Ogulnius, der Führer einer Gesandtschaft nach Epidauros, die griechische Sprache. Gegen Ende des III. Jahrhunderts schreiben Fabius Pictor und Cincius Alimentus ihre Werke griechisch. Im II. Jahrhundert beherrschen schon die meisten Senatoren die griechische Sprache. Lucius Aemilius Paulus suchte sich bekanntlich aus der gesamten makedonischen Beute nur die Bibliothek des Königs Perseus aus. Er bemühte sich auch, seinen Söhnen eine griechische Bildung zu vermitteln, und war schon ein echter Philhellene. Scipio Aemilianus und die Angehörigen seines Kreises sprachen fließend griechisch. Publius Crassus versuchte sogar, griechische Dialekte zu studieren. Polybios schrieb zwar griechisch, rechnete aber weitgehend mit römischen Lesern. Zu Ciceros Zeit gab es bereits keinen Senator mehr, der die griechische Sprache nicht mindestens verstand. Als Molon, der Führer einer Gesandtschaft aus Rhodos, vor dem Senat in seiner Muttersprache eine Rede hielt, benötigten die Senatoren keinen Dolmetscher. Der Unterricht in der Rhetorik war in Rom ebenfalls ein Monopol der Griechen, und der Versuch des Plotius Gallus, eine Schule für Latini rhetores zu gründen, blieb erfolglos2. Cicero sprach bekanntlich mühelos griechisch; nicht weniger gut beherrschten die griechische Sprache Pompeius, Caesar, Marcus Antonius und Augustus. Bei weitem die meisten römischen Aristokraten konnten sich, wenn sie im Osten weilten, mühelos in griechischer Sprache verständlich machen3. Mit der Sprache dringt in Rom auch die griechische Bildung ein. Die großen griechischen Schriftsteller kannte man sehr genau. Allgemein bekannt ist, daß Scipio bei der Nachricht vom Tode des Tiberius Gracchus einen Homervers zitierte. Unter den jungen Römern aus aristokratischen Familien kommt die Sitte auf, Reisen zu Bildungszwecken zu unternehmen. Dabei ging es nicht nur um die Erlernung der Sprache, sondern um Bildung in einem weiteren Sinne des Wortes, in erster Linie um das Studium der Philosophie. Immer mehr Römer gehen nach Athen oder Rhodos, um sich eine höhere 1

Das elogium des Scipio Barbatus ist offenbar späterer Herkunft als die in Versform abgefaßte Grabinschrift seines Sohnes. Die Prosaaufschrift ist jedoch, wie die Form der Buchstaben zeigt, zweifellos früher Herkunft und bald nach dem Tode des Scipio Barbatus (280 ?) entstanden. 2 Hier waren vielleicht politische Gründe wirksam; die lateinischen Rhetorenschulen galten als Zentren der demokratischen Agitation und wurden deshalb geschlossen. ' Näheres über dies alles bei W . KROLL, a. a. O., S. 117—134.

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Der Philhellenismus der römischen Nobilität

Bildung anzueignen. Andererseits wird die Zahl der griechischen Rhetoren und Philosophen in Rom immer größer. Ständig wächst die Zahl der Römer, die sich ernsthaft für Philosophie interessieren und sich bestimmten Schulen anschließen. Dies gilt z. B. für Lucrez als Anhängei" der Lehre Epikurs, für den jüngeren Cato als Anhänger der Stoa. für Nigidius Figulus, einen Vertreter des damals gerade aufkommenden Neopythagoreismus, für Cicero, der zwar Eklektiker war, aber stark zur Akademie neigte, und für viele andere. Eine ganze Reihe von Berufen hatten die Griechen sozusagen monopolisiert 1 . Bestimmte Kreise der Nobilität kamen diesen Einflüssen bereitwillig entgegen und distanzierten sich mehr oder weniger von der herkömmlichen altrömischen Moral. Flamininus, der bei den Isthmischen Spielen des Jahres 196 die Freiheit Griechenlands verkündete, war der erste prominente Römer, der unter den Griechen berühmt wurde 2 . Die philhellenische Politik des Flamininus hatte sogar zur Folge, daß man ihm nachsagte, er habe sich, um seine Popularität bei den Griechen zu bewahren, zu der Räumung wichtiger Stützpunkte, wie Korinth und Chalkis, bestimmen lassen 3 . Dies alles hinderte die Römer jedoch nicht daran, in Makedonien und Hellas ihre Hegemonie fest in der Hand zu behalten und sich diese Länder im Laufe des nächsten halben Jahrhunderts endgültig zu unterwerfen; Flamininus wurde um der öffentlichen Meinung in Hellas willen durchaus nicht zum Verräter an Rom. In seinem Verhalten kam diejenige Auffassung der römischen Außenpolitik zum Ausdruck, die von Scipio vertreten und von Cato so beharrlich bekämpft wurde. Flamininus war zwar ein persönlicher Gegner Scipios (der sich z. B. seiner Wahl zum Konsul für das Jahr 198 widersetzte), doch vertrat er offensichtlich die gleiche Auffassung. Die bei Plutarch angeführte Version ist sehr charakteristisch für diesen Schriftsteller, der stark dazu neigt, psychologische Motive an die Stelle politischer zu setzen. Eine Generation später als Flamininus lebt Aulus Postumius Albinus (Konsul im Jahre 151), den Polybios als Philhellenen schildert. Albinus hat eine historische Arbeit in griechischer Sprache geschrieben und hielt es für angebracht, sich im Vorwort wegen eventueller sprachlicher Unrichtigkeiten zu entschuldigen. Noch weiter ging in dieser Richtung Titus Albucius (Praetor im Jahre 121), der sich offen als Anhänger der Lehre Epikurs bekannte und nicht als Römer gelten wollte. Der römische Stoiker Publius Rutilius Rufus (Konsul des Jahres 105) schließlich wird während seiner Verbannung zum Bürger von Smyrna und lehnt sogar Sullas Aufforderung zur Rückkehr nach Rom ab. Allerdings hatte Rutilius Rufus dabei bestimmte politische Gründe, aber die Tatsache selbst ist doch charakteristisch 4 . 1

2

KROLL, a . a . O . , S . 1 1 7 — 1 3 4 .

Plut., Tit., 12. » Plut., Tit., 10.

4 Siehe U. KNOCHE, Der Beginn des römischen Sittenverfalls, N J A D B 1938, S. 155 bis 1 5 6 .

Das E i n d r i n g e n orientalischer E i n f l ü s s e in Rom

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Dies alles spricht zweifellos dafür, daß fremdländische, vor allem griechische Einflüsse in Rom eingedrungen sind. Doch wäre es völlig falsch, ausschließlich an griechische Einflüsse, an etwas wie eine „Hellenisierung" zu denken. Handelte es sich doch bereits um die Periode des Hellenismus, in der die sogenannte klassische griechische Kultur tiefgreifende Veränderungen in ihrem Wesen erfahren hatte und weitgehend orjentalisiert war. Daher machen sich in Rom auch kulturelle Einflüsse des Ostens bemerkbar, hauptsächlich allerdings durch Vermittlung der Griechen, etwas später aber auch auf direktem Wege. Besonders weite Verbreitung fanden in Rom, und zwar offenbar zunächst in den unteren Schichten der Gesellschaft, eschatologische und soteriologische Vorstellungen, teils hellenistischer, teils östlicher Herkunft. Die offizielle Anerkennung soteriologischer Symbole erfolgt, wie N . A. M A S C H K I N 1 nachgewiesen hat, zur Zeit Sullas. Diese Vorstellungen stammen aus der fernen Vergangenheit des alten Ostens 2 , in erster Linie Ägyptens. In Vorderasien hatten sie sich offenbar selbständig entwickelt und fanden ihre deutlichste systematische Darstellung einerseits in der persischen und andererseits in der jüdischen Theologie. Während sie sich über die anderen Länder des alten Orients ausdehnten, verloren sie allmählich das lokale Kolorit und nahmen mehr und mehr abstrakten Charakter an. In der hellenistischen Zeit fanden sie neue Entwicklungsgrundlagen. „Soteriologische Symbole gewinnen große Bedeutung im Kult der hellenistischen Monarchen, soteriologische Vorstellungen beeinflussen die Sozialprogramme der Massenbewegungen in der hellenistischen Zeit" 3 . Mit der Festsetzung der Römer in Kleinasien wachsen die eschatologischen Stimmungen, in denen der Glaube an den baldigen Weltuntergang und schwärmerische Vorstellungen von einem kommenden goldenen Zeitalter ineinander verflochten sind. Die Bewegung des Mithridates trägt dazu bei, daß die Lehren vom wunderbaren Nahen besserer Zeiten u. dgl. weite Verbreitung finden, ihr Zusammenbruch aber und die endgültige Unterwerfung Kleinasiens durch Rom lassen wieder pessimistische Stimmungen aufkommen. Diese Vorstellungen finden in Rom Eingang und verschmelzen hier mit der etruskischen Eschatologie, die vielleicht ebenfalls östlichen Ursprungs ist, und mit den soteriologischen Symbolen der Dionysoskulte. Besondere Bedeutung erlangen diese Systeme in den Jahren der sozialen Erschütterungen (Staatsstreich Sullas, Bürgerkriege vor und nach dem Tode Caesars), und dieser Umstand deutet darauf hin, daß sich in den eschatologischen und messianischen Motiven nicht nur religiöse Anschauungen, sondern auch bestimmte soziale und politische Erwartungen widerspiegelten. Man kann daher sehr wohl einen gewissen Zusammenhang zwischen diesen in Rom eingedrungenen östlichen Einflüssen und der Vorbereitung der schwersten 1 H . A. MauiKHH, 3 c x a T 0 J i 0 r n H H MeccHaHH3M B n o c j i e n H i i ü n e p i i o n PHMCKOÜ pecnyßjiHKH (N. A. MASCHKIN, Eschatologie u n d Messiasglaube in der a u s g e h e n d e n römischen R e p u b l i k ) , H3B. A H C C C P , C H O , I I I , N r . 6, 1946, S. 447. 2 N ä h e r e s bei N . A. MASCHKIN, a. a. O., S. 441—448, 459. 3

N . A . MASCHKIN, a . a . O . , S . 4 5 9 .

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Der Dualismus von Körper und Geist

Krise der antiken Ideologie, die ihren Ausdruck in dem Siege des Christentums fand, herstellen. Zu der weiten Verbreitung der christlichen Lehre nicht nur im Osten, sondern auch im Westen des Reiches hat zweifellos nicht wenig der Umstand beigetragen, daß das Christentum sich auf einem durch die eschatologischen Lehren aufgelockerten Boden entwickelte. Es gibt in der antiken Ideologie eine Reihe von Erscheinungen, die gewissermaßen das Bindeglied, eine Art Zwischenschicht zwischen der „reinen Antike" und dem „reinen Orient" darstellen. Hierher gehören die Orphik, der Pythagoreismus, gewisse Elemente des Piatonismus und der Stoizismus. Während die Krise der antiken Welt heranreift, beginnen sich auf der Grundlage der antiken Ideologie aus Bruchstücken antiker philosophischer Systeme wie des Pythagoreismus und des Piatonismus neue Richtungen herauszubilden, die der echten Antike fremd und ihrem Wesen nach orientalisch sind. Hierher gehören der Neopythagoreismus und der Neuplatonismus. Der widerspruchsvolle und krisenhafte Charakter dieser Erscheinungen spiegelt sich, was in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, in der römischen Literatur der Bürgerkriegszeit und der Niedergangszeit der Republik wider 1 . Wenden wir uns jetzt der klassischen römischen Literatur zu, so wird hinter einem „harmonisierenden Eklektizismus", der Gedankengänge stoischer, epikureischer, platonischer, akademischer und aristotelischer Art zu vereinigen sucht, eine für die Epoche äußerst kennzeichnende Akzentuierung des Dualismus von Körper und Geist 2 deutlich sichtbar, wobei die negative Einstellung zum Körper und zur Materie fast noch schroffer ist als in den christlichen Predigten. Der Gegenüberstellung von Körper und Geist begegnen wir bei Cicero in den „Tuskulanischen Gesprächen" sowie bei Sallust in den Prooemien zur „Verschwörung Catilinas" und zum „Jugurthinischen Krieg". So heißt es z. B. bei Sallust: „Alle unsere Kraft liegt im Geist und im Körper; der Geist ist für uns mehr das herrschende, der Körper das dienende Prinzip; den einen haben wir mit den Göttern, den anderen mit den Tieren gemein" 3 . Ähnlich heißt es im „Jugurthinischen Krieg": „Schließlich haben die Gaben des Körpers und des Geschicks einen Anfang und ein Ende, und alles, was entsteht, vergeht, alles, was wächst, altert; der Geist ist unzerstörbar und ewig; als der wahre Leiter des Menschengeschlechts lenkt er alles, verfügt er über alles und ist selbst keiner Macht unterworfen" 4 . In den „Tuskulanischen Gesprächen" 6 sagt Cicero, es erscheine ihm rätselhafter und unverständlicher, daß der göttliche Geist in einem ihm wesensfremden 1

S i e h e : HANSCHKE, a. a. O., S. 119.

Siehe: H A N S C H K E , a. a. O., S. 119—121. 8 Sali., Cat., 1, 2: „nostra omnis vis in animo et corpore sita est; animi imperio, corporis servitio magis utimur; alterum nobis cum dis, alterum cum beluis commune est". 4 Sali., lug., 2, 3: „postremo corporis et fortunae bonorum ut initium sie finis est, omniaque orta occidunt et aueta senescunt; animus incorruptus aeternus rector huiriani generis agit atque habet cuncta neque ipse habetur". 6 Cic., Tusc., I, 22, 51. 2

Der römische Widerstand gegen die orientalischen Einflösse

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Körper lebe als daß er in seine himmlische Heimat zurückkehre und für sich selbst existiere. Nach der Analyse R E I N H A R D T S macht sich in den „Tuskulanischen Gesprächen" der Einfluß des Antiochos von Askalon bemerkbar 1 . Dies wird von WILAMOWITZ bezweifelt, der der Ansicht, Antiochos sei ein schöpferischer Denker und Lehrer gewesen, äußerst skeptisch gegenübersteht 2 . Bekannt sind schließlich auch die starken orientalischen Motive bei Vergil. Ganz abgesehen von der berühmten vierten Ekloge kann man bei Vergil, Horaz und anderen Dichtern des „goldenen Zeitalters" sehr beträchtliche orientalische Komponenten feststellen 3 . Das sind Dinge, die das Eindringen fremdländischer Einflüsse in Rom bezeugen und den Verlauf dieses Vorgangs in der Sphäre der Ideologie widerspiegeln. Diese Tatsachen lassen keinen Zweifel zu. Ihre Anerkennung aber bedeutet noch nicht, daß man die These vom friedlichen Eindringen dieser Ideen und Einflüsse in Rom, von ihrem „unblutigen Sieg" über Rom und von der Befruchtung des geistigen Lebens der Römer durch sie akzeptieren muß. In Wirklichkeit handelte es sich um einen außerordentlich schwierigen, widerspruchsvollen, zeitweise sogar qualvollen Prozeß. Das Eindringen fremder Einflüsse stieß in der römischen Gesellschaft auf hartnäckigen und erbitterten Widerstand. Keinesfalls darf man sich diesen Vorgang als wohlwollende Bereitschaft zur Übernahme der hellenistischen oder gar der orientalischen Kultur vorstellen; diese Kultur wurde vielmehr bekämpft und abgelehnt. Man denke nur an den berühmten Prozeß und das senatus consultum de Bacchanalibus des Jahres 1864, das nicht nur die weite Verbreitung hellenistischer und orientalischer Einflüsse in Italien bezeugt, sondern auch die ablehnende Reaktion, die sie in der höheren römischen Gesellschaft auslösten. Außerdem hatte das senatus consultum de Bacchanalibus auch eine bestimmte politische Bedeutung; denn die Gemeinden der Bacchusverehrer waren illicita collegia, und zwar nicht nur in Rom, sondern auch bei den Bundesgenossen. Dieser Senatsbeschluß ist einer der ersten Fälle von Einmischung des Senats in die inneren Angelegenheiten der Bundesgenossen 6 . Erinnern wir uns an die Tätigkeit des älteren Cato, der zu den ausgeprägtesten Vertretern der „bewahrenden" Richtung gehörte. Sein vor den Wahlen verkündetes Programm war durch den Kampf gegen die nova flagitia und durch die Bemühung um die Wiederbelebung der prisci mores bestimmt 6 . Seine Wahl zum Zensor für das Jahr 184 beweist, daß dies Programm von gewissen und REINHARDT, Kosmos und Sympathie, 1925, S. 292ff. HANSCHKE a. a. O . , S. 1 2 0 . U. v. WILAMOWITZ-MÖLLENDORFF, Glaube der Hellenen, II, Berlin 1932, S. 4 1 3 . 3 Siehe: N . A. MASCHKIN, a. a. O., S. 451—453; E. N O R D E N , Die Geburt des Kindes, Leipzig-Berlin, 1924, S. 31 ff.; W . W E B E R , Der Prophet und sein Gott, Leipzig 1952, S. 134 ff. 4 ILS, I, 18 = C I L , I 2 , 581; Liv., X X X I X , 8ff. 5 T . F R A N K , Italy, Cambridge Ancient History, VIII, Cambridge 1954, S. 351. « Liv., X X X I X , 41, 4. 1

2

Der mos maiorum als Bollwerk gegen hellenistische Lehren

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offenbar ziemlich breiten Schichten der römischen Gesellschaft unterstützt wurde. Die Auffassung des Eindringens zersetzender fremdländischer Einflüsse und der Zunahme des Reichtums und des Luxus als Hauptursache des Sittenverfalls und infolgedessen auch der Schwächung des römischen Staates — das war die politische Basis dieses Programms. Cato ist der Begründer der Theorie vom Sittenverfall, die in der Geschichte der politischen Doktrinen der Römer eine außerordentlich große Rolle gespielt hat 1 . Zusammenfassend kann man sagen, daß Cato den Verfall der alten Sitten darin erblickt, daß luxuria, avaritia, ambitus, superbia, crudelitas, ferocia, impudentia und desidia alle Grenzen überschritten haben. Wie die endlose Zahl der Tugenden sich sozusagen um einen Kernpunkt gruppierte, nämlich um die Interessen und das Wohl des Staates, so hatten auch die flagitia, gegen die Cato sein Leben lang kämpfte und die schon im Jahre 184 von manchen Vertretern des Sena,torenstandes als bedenkliche Gefahr empfunden wurden, etwas Gemeinsames. In ihnen allen äußert sich eine Neigung zur Befriedigung persönlicher Interessen, auch wenn dies den Forderungen des Gemeinwohls widerspricht2. Natürlich darf man sich durch die sublimierte, scheinbar an keinen Klassenstandpunkt gebundene Phraseologie Catos nicht täuschen lassen. Diese Phraseologie tarnte in Wirklichkeit die sehr prosaischen und materiellen Interessen bestimmter Kreise der römischen Sklavenhalteraristokratie, deren geistiger Vorkämpfer Cato auch war. Hier aber geht es uns um die Losungen und Formen des ideologischen Kampfes, in denen sich die „bewahrende Tendenz" der römischen Aristokratie äußerte. Aber auch nach dieser Epoche, in der die Verbreitung einer äußerlichen griechischen Bildung, wie oben gezeigt wurde, so glänzende Fortschritte gemacht hatte, zeigt sich abermals ein tiefes inneres Widerstreben, sozusagen eine Schutzreaktion der römischen Gesellschaft. Viele Formen des kulturellen Lebens, die bei anderen Völkern stets in hohem Ansehen gestanden hatten, wurden von den Römern verachtet. Deshalb muß W . K R O L L zugeben, daß alle von außen kommende Lebensweisheit auf die Mauer des mos maiorum stieß und daß Rom, solange dieses Bollwerk bestand, durch die hellenistischen Lehren nicht völlig erobert werden konnte3. Ganz abgesehen von der Masse der römischen Bevölkerung herrschte sogar in den oberen Schichten der römischen Gesellschaft, die für „Modeeinflüsse" besonders empfänglich waren, innere Abneigung. Für den römischen Senator war die Familien- und Standesmoral der hellenistischen Ethik überlegen. Am meisten aber stieß die Römer wohl von den hellenistischen Systemen das für die Zwecke des praktischen Lebens und Wirkens wenig geeignete Theoretisieren ab. Dem Römer erschien die Entfernung vom praktischen Wirken um theoretischer Studien willen stets als Verletzung der Bürgerpflicht4. Siehe unten, S. 88. Siehe hierüber genauer U. KNOCHE, a. a. O., S. 152 ff. 4 Ebenda, a. a. O., S. 120. • W . KROLL, a. a. O., S. 124.

1

2

Die Assimilierung der hellenistischen Kultur durch Rom

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Die Folgen dieses Widerstrebens waren höchst symptomatisch. Man kann geradezu von einem Gegenschlag der „römischen Kultur" sprechen. J e mehr die griechischen Philosophen in Rom Fuß faßten, desto mehr bemühten sie sich, den Bedürfnissen der römischen Gesellschaft entgegenzukommen und die entscheidenden Dogmen ihrer Lehre abzuschwächen. So distanziert sich z. B. Panaitios von dem Rigorismus der alten Stoa 1 . Selbst zur Zeit Ciceros, als die entscheidenden Dogmen der hellenistischen Philosophie und die wichtigsten Richtlinien der hellenistischen Kunst dem römischen Geschmack bereits weitgehend angepaßt und von der römischen Kultur assimiliert worden waren, begegnen noch charakteristische Erscheinungsformen dieser Schutzreaktion. Es wurde schon erwähnt, daß selbst Cicero die Beschäftigung mit der Philosophie gleichsam nur als otium zuläßt und seine eigenen philosophischen Studien mit der erzwungenen politischen Untätigkeit zu rechtfertigen sucht. Seinem Sohne empfiehlt er zwar das Studium der Philosophie, aber sein Leben, meint er, muß man nach römischen Vorbildern und Traditionen aufbauen 2 . Dieser starke Einfluß der Tradition und die Abhängigkeit von ihr ist, wie W. K R O L L richtig bemerkt, sogar bei Tacitus zu beobachten. Dies alles zusammen ermöglicht eine ganz neue Vorstellung vom geistigen Leben der römischen Gesellschaft. Von einem friedlichen Eindringen der hellenistischen Kultur in Rom und von einer Befruchtung der zu schöpferischen Leistungen unfähigen römischen Gesellschaft durch sie kann keine Rede sein. Im Gegenteil, man kann sehr wohl von einer längeren Periode isolierter Entwicklung der römischen Ideologie, von einer gewissen ideologischen Autarkie der Römer sprechen. Infolgedessen setzten sich fremdländische Einflüsse in Rom nur unter Schwierigkeiten durch. Es handelt sich bei diesem Vorgang um einen Kampf, nicht um eine Übernahme, und die vielberedete schöpferische Unselbständigkeit und Unfähigkeit der Römer beweist nur, daß der Widerstand gegen fremde Einflüsse sozusagen stumm gewesen ist. Viele Jahre hindurch kann man diesen hartnäckigen und langwierigen Kampf beobachten, der die verschiedensten Formen annimmt. Bald ist es ein ideologischer Kampf (Theorie des Sittenverfalls) 3 , bald sind es politische und selbst administrative Maßnahmen (Philosophenvertreibung). Auf jeden Fall aber zeugt dies alles dafür, daß die römische Gesellschaft Widerstand geleistet und sich zu schützen gesucht hat. Vielleicht kann man in gewisser Hinsicht von einer Synthese dieser ideologischen Richtungen sprechen, so bei dem jüngeren Scipio, bei Cicero und schließlich bei Augustus, aber nur dann, wenn in diesen Begriff der Synthese ein aktives Moment aufgenommen wird, das Bemühen, die fremdländischen Einflüsse zu überwinden und dem römischen Geschmack anzupassen. Wir müssen nun auf die Ergebnisse dieses Vorgangs eingehen. Der Kampf endete keineswegs mit einem Siege der fremden Ideologie. Vielmehr entstand 1

2 3

W . KROLL, a . a . O . , S . 1 2 1 .

Cic., de fin., I , 1; de hat. deor., I , 3, 6 usw. Siehe unten, S. 88.

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Die Entstehung der römischen Geschichtsschreibung

im Ergebnis eines verwickelten und langwierigen Prozesses der Aneignung, Verarbeitung, Verschmelzung und gegenseitiger Konzessionen ein völlig neues geschichtliches und ideologisches Gebilde. Solange die hellenistischen Einflüsse nur ein Fremdkörper waren, stießen sie auf beharrlichen, manchmal verzweifelten Widerstand, und die hellenistische Kultur fand in Rom erst dann weitere Verbreitung und gesellschaftliche Anerkennung, als sie hinsichtlich ihrer Fremdartigkeit überwunden war, als die eigenständigen Kräfte des Römertums sie befruchtet hatten, als sie ins Volk eingegangen war. So viel zur grundsätzlichen Beurteilung der allgemeinen Bedeutung der römischen Kultur oder der römischen Ideologie im weiteren Sinne. Doch gehört die Untersuchung der Frage in ihrem gesamten Umfang nicht zu unserer Aufgabe. Wir haben es mit einem enger begrenzten Problem zu tun, mit der politischen Ideologie der römischen Gesellschaft. Auch dieses Problem ist zweifellos recht verwickelt und sehr vielseitig. Wir müssen deshalb auch hier, um Richtlinien zu gewinnen und die eigenen Thesen und Schlußfolgerungen systematisch darstellen zu können, offenbar vor allem die grundlegenden Entwicklungstendenzen herausarbeiten. Das ergiebigste Material für die Forschung ist der weltanschauliche Gehalt der frührömischen Geschichtsdarstellung. Hier werden wie nirgends sonst die politischen Ideen der Römer zum Ausdruck gebracht, hier werden die damaligen Auseinandersetzungen auf ideologischem Gebiet glänzend illustriert. Diese Frage ist um so interessanter, als die römische Geschichtsschreibung, wie wir weiter unten zeigen werden, sich auf wesentlich anderen Grundlagen aufbaute als die griechische, ja den Prinzipien der griechischen Geschichtsschreibung geradezu widersprach. Die historische Kritik ist schon ziemlich früh davon abgekommen, die frührömische historische Überlieferung (natürlich soweit sie sich erhalten hat) als geschichtlich wertvolles Material zu betrachten, aus dem sich eine zuverlässige Vorstellung von den dargestellten Ereignissen gewinnen ließe. Aber das Interesse und der Wert der frührömischen GeschichtsdarstelluDg liegen keineswegs nur hier. Das uns zur Verfügung stehende Material ermöglicht eine Vorstellung über einige charakteristische Merkmale der römischen Geschichtsschreibung, und diese sind durchaus nicht uninteressant für den Versuch, gewisse grundsätzliche Richtungen des römischen Geisteslebens in dieser für den heutigen Forscher vielfach noch so undurchsichtigen Zeit festzustellen. Die Zeit zwischen dem zweiten und dem dritten Punischen Krieg war für das römische Geistesleben von besonderer Bedeutung. Man kann sagen, daß sich in dieser Zeit das patriotische Selbstbewußtsein der Römer deutlich herausgebildet hat. Übrigens entsteht gerade damals die römische Annalistik als fest umrissenes Genos des historisch-literarischen Berichts. Zweifellos lassen sich in den verschiedenen Werken und bei den verschiedenen Vertretern der frührömischen Geschichtsschreibung gewisse allgemeine und besondere Merkmale feststellen. Dies bedeutet nicht, daß die Frage der Eigentümlichkeiten der einzelnen Autoren überhaupt ausgeschaltet werden soll; es

Eigenarten der römischen Annalistik

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bedeutet nur, daß man die frührömische historische Überlieferung durchaus als etwas Ganzes, als ein eigenartiges Gebilde auffassen kann. Dann wird die römische Annalistik interessant als ein Ausdruck der ideologischen Auffassungen bestimmter Schichten der römischen Sklavenhaltergesellschaft. Betrachtet man die römische Annalistik unter diesem Gesichtswinkel, so fallen einige Eigenarten auf, die für die meisten Annalisten bezeichnend sind 1 . Vor allem ist leicht zu erkennen, daß jeder römische Historiker im Hinblick auf einen bestimmten praktischen Zweck schreibt. Jedes Werk eines römischen Historikers „ z i e l t " stets auf die Zeitgenossen und sucht sogar in einem gewissen Sinne auf sie einzuwirken. Bekannte Versicherungen, wie daß die Ereignisse ohne Leidenschaft und „Parteilichkeit" (sine ira et studio!) dargestellt werden sollen, darf man natürlich nicht für bare Münze nehmen. Neben den Klasseninteressen beherrschte alle römischen Historiker die ganz bewußte Absicht, durch ihr Werk der res publica zu nützen. Hieraus ergibt sich ein zweites, nicht weniger kennzeichnendes Merkmal der römischen Geschichtsschreibung, nämlich ihre römisch-patriotische Einstellung. Natürlich waren die Auffassungen der patriotischen Pflicht bei den Vertretern der oberen Schichten der römischen Gesellschaft sehr eigenartig. So lag z. B. den römischen Historikern im Grunde nichts ferner als das Bemühen um eine „objektive", ungeschminkte Geschichtsschreibung. W i r wissen, daß die römischen Annalisten die historische Wahrheit häufig durch Verschweigen, Umgruppierungen u. dgl. verzerrt haben. Dies alles geschieht letztlich zu dem einzigen Zweck, die römische Vergangenheit als mustergültig und beispielhaft für die Gegenwart und die Zukunft darzustellen, woraus sich ergibt, daß diese Geschichte voll von nachahmenswerten Beispielen sein muß. Dieser Einstellung begegnen wir schon bei den älteren Annalisten, aber sie ist auch für die spätere Geschichtsschreibung bis zu Livius charakteristisch. Schließlich ist nicht zu vergessen, daß die römischen Historiker fast ausnahmslos dem Senatorenstand angehörten, wodurch ihre politischen Stellungnahmen und Sympathien recht deutlich bestimmt wurden (mit Ausnahme vielleicht des Licinius Macer, der, soweit wir das beurteilen können, demokratische Tendenzen in die Historiographie hineinzutragen versucht hat). Als Angehörige römischer Geschlechter und als Vertreter der altrömischen Moral schrieben sie ihre Werke vom Standpunkt ihrer Geschlechter aus. Fabius Pictor, der der sehr alten und seit unvordenklichen Zeiten mit der nicht weniger alten gens Cornelia verfeindeten gens Fabia angehörte, hat zweifellos die Tätigkeit der Eabier in helleres Licht gerückt, die Taten der Cornelier dagegen und folglich auch die der Scipionen in den Hintergrund treten lassen. Ein Autor dagegen wie Gaius Fannius, der ein politischer Freund der Scipionen war, ist zweifellos umgekehrt verfahren. Auf diese Weise entstanden die eigenartigen Varianten, besonders in der 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden U. K N O C H E , Das historische Geschehen in der Auffassung der älteren röm. Geschichtsschreiber, NJADB, 1939, S. 293—295.

Q» Fabius Pictor als Begründer der römischen Annalistik

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Darstellung der Frühzeit, für die sich nur sehr wenige zuverlässigere Quellen erhalten haben. So viel über die allgemeinen Merkmale der frührömischen Geschichtsschreibung. Diese Merkmale machen sie zu einer eigenartigen Erscheinung und unterscheiden sie hinsichtlieh der grundsätzlichen Auffassungen oder der bei der Auswahl und Beleuchtung des historischen Materials angewandten Methode wesentlich von den bedeutenderen und bekannteren Werken der griechischen Geschichtsdarstellung. Zum Schluß müssen wir die Entwicklung der frührömischen historischen Überlieferung in allgemeinsten Umrissen betrachten. Auf diese Weise werden wir ainen gewissen prinzipiellen Unterschied zwischen der älteren und der jüngeren Annalistik feststellen können, was seinerseits zu einigen Schlußfolgerungen hinsichtlich der politischen Tendenzen der frührömischen Geschichtsschreibung führen wird. Als Begründer der literarischen Bearbeitung der römischen Chroniken gilt bekanntlich Quintus Fabius Pictor, der einem der ältesten Adelsgeschlechter angehörte und in der Zeit des zweiten Punischen Krieges lebte. Er hat eine Geschichte der Römer von der Ankunft des Aeneas in Italien bis zum zweiten Punischen Kriege geschrieben. Livius1 und Dionysios2 bezeichnen ihn übereinstimmend als den ältesten römischen Historiker. Interessant ist, daß Fabius zwar griechisch schrieb, sein Werk aber offenbar derartig vom Geiste des römischen Patriotismus durchdrungen war, daß Polybios3 ihm zweimal Voreingenommenheit gegenüber seinen Landsleuten vorwirft. Fortsetzer des Fabius waren sein jüngerer Zeitgenosse Lucius Cincius Alimentus, der am zweiten Punischen Kriege teilgenommen und eine Geschichte Roms ab urbe condita 4 in griechischer Sprache geschrieben hat, und Gaius Acilius, von dem wir wissen, daß er, als dem Senat im Jahre 155 Karneades, Diogenes und Kritolaos vorgestellt wurden, als Dolmetscher fungierte 5 . Auch Gaius Acilius hat eine Geschichte Roms von der Gründung der Stadt bis auf seine Zeit in griechischer Sprache geschrieben. Dieses Werk ist, wie Livius6 berichtet, später ins Lateinische übersetzt worden. Alle obengenannten Annalisten haben griechisch geschrieben und sind bis zu einem gewissen Grade von griechischen Vorbildern beeinflußt worden; trotzdem waren ihre Werke dem Inhalt und den politischen Tendenzen nach durchaus römisch. Dieser Umstand war bestimmend für die Entstehung und Entwicklung einer historischen Literatur in lateinischer Sprache. Entscheidend hat in diesem Sinne das Geschichtswerk Catos gewirkt. Seine „Origines", an denen er bis zu seinem Tode gearbeitet hat, waren nicht nur das erste lateinisch geschriebene 1

2

Li«., I. 44.

Dion., AR, VII, 71. » Polyb., I, 14, 58; III, 8—9. 4 Dion., AR, I, 6. 5 Gell., NA, VII, 14. « Liv., X X V , 39.

Cato und die ältere Annalistik

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historische Werk, sondern sie standen auch nach Form und Inhalt in bewußtem Gegensatz zu den historischen Werken der frühen Annalisten. Tatsächlich hatte Catos Werk nicht die Form einer Chronik, sondern es erforschte die älteste Vergangenheit der Stämme und Städte Italiens, beschäftigte sich also nicht nur mit Rom, sondern mit ganz Italien. Zum Unterschied von den Familienchroniken, die die Werke der älteren Annalisten beeinflußt haben, nennt Cato fast nirgends Namen; schon die Wahl der lateinischen Sprache statt der griechischen war keineswegs ein Zufall. Catos Werk erhob außerdem bereits einen gewissen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit; die antiken Quellen bezeugen übereinstimmend, daß er sorgfältig Material gesammelt, sich auf die fasti, die lokalen Chroniken gestützt und die örtlichkeiten persönlich besichtigt hat. Dies alles macht Cato zu einer eigenartigen und alleinstehenden Erscheinung in der Entwicklung der römischen Historiographie. Bei den nächsten Nachfolgern Catos, die man allerdings keineswegs als seine Schüler bezeichnen darf, können wir uns kürzer fassen. Die hervorragendsten Vertreter der älteren Annalistik dieser Periode sind Lucius Cassius Hemina, ein Zeitgenosse des dritten Punischen Krieges, und Lucius Calpurnius Piso Frugi, Konsul im Jahre 133. Sie schreiben beide lateinisch, was zweifellos mit der patriotischen Bewegung des II. Jahrhunderts zusammenhängt. In der Anlage aber halten sich ihre Werke an das Vorbild der frühen Annalistik und an die Annalen der Pontifices. Wenn man sich auch auf Grund des spärlich überlieferten Materials von der Eigenart der einzelnen älteren Annalisten kein Bild machen kann, so läßt sich doch die allgemeine Tendenz der älteren Annalistik als eines fest umrissenen Genos charakterisieren 1 . Es waren literarisch überarbeitete Chroniken, in denen die Tatsachen vorzugsweise einfach in zeitlicher Reihenfolge dargestellt wurden. Geschrieben waren sie stets mit einer bestimmten Zielsetzung, mit einer Absicht, als Appell an die Gegenwart. In den Werken der älteren Annalisten wird die Überlieferung offenbar verhältnismäßig gewissenhaft weitergegeben, freilich ohne jede Spur von Kritik, aber auch ohne bewußt entstellende Zusätze. Gemeinsam sind der älteren Annalistik als Genos die „romanozentrische" Einstellung der Autoren, die Darstellung der römischen Geschichte von den Uranfängen, d. h. ab urbe condita, oder sogar von noch früherer Zeit an und schließlich die Geschichtsdarstellung in rein politischer Sicht. Dabei hat die ältere Annalistik deutlich die militärischen und außenpolitischen Ereignisse bevorzugt, während die Innenpolitik erst seit Sulla eine wesentliche Rolle in der römischen Geschichtsschreibung zu spielen heginnt. Die jüngere Annalistik entsteht als besonderes historiographisches Genos in der Periode der Verschärfung des Klassenkampfes im Zusammenhang mit der Bewegung der Gracchen. Einer ihrer ersten Vertreter war Lucius Codius Antipater. Sein historisches Werk zeichnete sich, soweit wir das beurteilen können, 1

U. KNOCHE, Roms älteste Geschichtsschreibung, N J A D B , 1939, S.,204.

U t t s c h e n k o , Der politische Kampf in ßom

&

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Die jüngere Annalistik

durch zwei Besonderheiten aus: erstens begann er nicht mit den ältesten Zeiten, sondern mit der Darstellung des zweiten Punischen Krieges, und zweitens verwandte er zum ersten Male in der historischen Darstellung rhetorische Methoden. Diese Neuerungen waren 1 zweifellos beabsichtigt, denn der Autor hat sich ihretwegen, wie Cicero bezeugt 1 , im Vorwort ausdrücklich entschuldigt. Noch deutlicher treten diese Eigenarten des neuen Genos der Geschichtsschreibung in dem Werk eines anderen Annalisten hervor, des zur Zeit der Gracchen lebenden Sempronius Asellio. Sein Werk ist in kleineren Auszügen bei Gellius2 auf uns gekommen. Sempronius Asellio verzichtet auf die chronologische Darstellung. „Die Chronik", sagt er, „ist nicht imstande, zu begeisterter Verteidigung des Vaterlandes zu bewegen oder die Menschen von üblen Taten abzuhalten." Ein Bericht über das Geschehene sei ebenfalls noch nicht Geschichte, und es komme nicht so sehr darauf an, unter welchen Konsuln ein Krieg begonnen oder aufgehört habe, wer Anspruch auf einen Triumph gewonnen habe, als vielmehr darauf, zu welchem Zweck oder aus welchem Grunde etwas geschehen sei. So verleihen bereits die ersten Vertreter der jüngeren Annalistik dem historischen Bericht die charakteristischen Merkmale dieses neuen Genos. Erstens verzichten sie auf die chronologische Darstellung und gehen zur Monographie über, zweitens entsteht in ihren Werken die pragmatische Richtung, die sich später so gut mit der moralisierenden Tendenz der meisten römischen Historiker verträgt, und drittens schließlich stehen die Werke der jüngeren Annalisten unter starkem Einfluß der griechischen Rhetorik. Zu Sullas Zeiten ist zwar eine gewisse Wiederbelebung der Chronikform zu beobachten, doch begegnen wir trotzdem in den Werken des Claudius Quadrigarius, des Valerius Antias, des Licinius Macer und des Cornelius Sisenna allen charakteristischen Merkmalen der jüngeren Annalistik in ziemlich übertriebener Form. Kennzeichnend für die Werke dieser Historiker sind langatmige philosophisch-rhetorische Abschweifungen, die bewußte Beschönigung und Verzerrung des Geschehens, die gezierte Sprache usw. Vor allem aber erreicht zur Zeit Sullas die parteiisch-tendenziöse Richtung der jüngeren Annalistik ihre höchste Entwicklung. Gerade in dieser Zeit stellt sich die Historiographie in den Dienst der sich bekämpfenden politischen Gruppen, nimmt sie einen scharf ausgeprägten Parteigeist und parteilichen Charakter an, wobei die jüngeren Annalisten in der Regel die Interessen ihrer Partei mit den gesamtstaatlichen Interessen identifizieren. Charakteristisch ist die Reprojizierung des Parteienkampfes ihrer Zeit in die Vergangenheit, und daraus ergibt sich die Darstellung dieser Vergangenheit unter dem Gesichtswinkel der politischen Wechselbeziehungen der Gegenwart. So viel über die wesentlichsten Merkmale der frührömischen Geschichtsschreibung. Ihre Entwicklung gestattet eine wichtige Schlußfolgerung, die für die Geschichte des ideologischen Kampfes in der römischen Gesellschaft überhaupt von 1

Cic., Or., 69, 230. « Qdl., NA, II, 13; IV, 9; V, 18; XIII, 3; 22.

57

Der Einfluß der Rhetorik auf die Geschichtsschreibung

großer Bedeutung ist. An dem Beispiel der Entwicklung der Form der Annalistik läßt sich, erkennen, daß die fremdländischen Einflüsse nach ihrem Eindringen in R o m eine Zeitlang durch das aktive Auftreten Catos niedergehalten worden sind und daß dieser Durchdringungsprozeß erst einige Jahre nach Catos Zensur sich wieder verstärkt und aktive, aber dafür bereits, wie oben erwähnt, prinzipiell andere Formen annimmt. Es beginnt die Periode der schöpferischen Aneignung und Verarbeitung kultureller Einflüsse. Die Gegenüberstellung der beiden Formen der frührömischen Geschichtsschreibung ermöglicht durch die Aufdeckung ihrer inneren Entwicklungstendenzen eine erste Vorstellung von zwei anderen, in ihrer grundsätzlichen Bedeutung und ihrer Reichweite gewichtigeren Tendenzen, die in der politischen Ideologie der römischen Gesellschaft zum Ausdruck gelangt sind. Eine eingehendere Untersuchung und Darstellung dieser Tendenzen ist die Aufgabe der gesamten vorliegenden Arbeit, da ihre Existenz wie ihre Entwicklung sich nur an einem ziemlich umfangreichen Material aufzeigen lassen. Trotzdem müssen diese Grundtendenzen schon hier im Prinzip bestimmt und in ihrer Richtung gekennzeichnet werden. In den in der älteren Annalistik enthaltenen politischen Tendenzen macht sich bereits jene bestimmte Richtung der politischen Ideologie der römischen Gesellschaft bemerkbar, deren Hauptlosung der Kampf für die gesamtbürgerlichen, „gesamtpatriotischen" Interessen des römischen Volkes ist. In sehr abgeschwächter und unentwickelter Form begegnet diese Losung schon in der frührömischen Annalistik, in ihren gattungsmäßigen Eigenheiten, in ihren ,patriotisch-römischen" Konzeptionen. Stärker tritt sie in der literarischen Tätigkeit Catos hervor. Andererseits offenbart sich in den in der jüngeren römischen Annalistik enthaltenen politischen Tendenzen eine andere, mit der ersten unvereinbare Entwicklungstendenz der politischen Ideen, die als Hauptlosung den Kampf für die Parteiinteressen bestimmter Kreise der römischen Gesellschaft proklamiert. Auch diese Losung begegnet in unentwickelter Form bereits in der nicht zufällig in der Zeit der Gracchen entstehenden jüngeren römischen Annalistik, in ihren gattungsmäßigen Eigenheiten, in ihrem Parteigeist und, was sehr bezeichnend ist, in ihrer Abhängigkeit von hellenistischen kulturellen Einflüssen, wobei diese Einflüsse tiefer gehen als bei den älteren Annalisten. Während diese von der hellenistischen Historiographie nur die Sprache und die Form übernahmen, wurden die jüngeren Annalisten auch von der hellenistischen Rhetorik und von den hellenistischen politischen Theorien weitgehend beeinflußt. Zweifellos stellten diese beiden Konzeptionen die ideologische Reflexion gewisser Vorgänge dar, die sich in der Praxis des politischen Kampfes abspielten. Tatsächlich spiegelten sie die oben festgestellten grundlegenden Entwicklungstendenzen der sozialen und politischen Kämpfe in R o m wider. Die Losung der Partei läßt sich zweifellos mit derjenigen Linie des politischen Kampfes in Zusammenhang bringen, die in der Geschichte R o m s zuerst von den Gracchen und dann von ihren verschiedenen Nachfolgern vertreten wurde. Ebenso kann man 5*

58

DielTendenzen der „gesamtpatriotischen" und der „Partei"-Interessen

die gesamtpatriotische Losung mit der konservativ-traditionellen Linie des politischen Kampfes in Zusammenhang bringen, die in der Geschichte Roms am deutlichsten von Augustus und in einem gewissen Grade von seinen Vorgängern bis zu Cato vertreten wurde. Was die Klassennatur dieser Losungen und ihren sozialen und politischen Inhalt betrifft, so gelangt in der Losung des Kampfes für die Interessen der Partei im wesentlichen die politische Orientierung und Mentalität der demokratischen Elemente der römischen Gesellschaft zum Ausdruck. Infolge der Eigenart der römischen Demokratie, infolge der Zersetzung und der politischen Passivität der plebs urbana gab es in Rom, wie bereits erwähnt, keine stabile demokratische Partei; aber die Tendenz, den politischen Kampf in diese Richtung zu lenken, ihm einen schärfer ausgeprägten Parteicharakter zu geben, bestand zweifellos sowohl in der unmittelbaren politischen Praxis (z. B. bei den Gracchen) als auch in der politischen Ideologie. Um diese Losung sammelten sich die unteren Schichten der römischen Gesellschaft, und mit mancherlei Abwandlungen und Präzisierungen konnte sie bestimmten politischen Erwartungen, Hoffnungen und Perspektiven der römischen Demokratie Ausdruck verleihen. Ihre Weiterentwicklung und ihre deutlichste Ausprägung erfährt sie in den politischen Anschauungen eines der hervorragendsten Vertreter der römischen Intelligenz, bei Sallust. Die Losung des Kampfes für die gesamtpatriotischen Interessen ist typisch für die politische Orientierung der römischen Aristokratie. Unter der Flagge des Kampfes für die gesamtpatriotischen Interessen wurden im Grunde genommen die Interessen der herrschenden Oberschicht der Sklavenhaltergesellschaft verteidigt. Ermöglicht wurde diese Losung einerseits durch die weniger scharfe Abgrenzung der politischen Gruppierungen in den oberen Schichten der herrschenden Klasse, durch eine gewisse Konsolidierung der Sklavenbesitzerklasse in ihrer Gesamtheit, und andererseits durch die Schwäche, Verkommenheit und politische Passivität der städtischen Plebs, dieses „politisierenden Gesindels", wie Cicero sie verächtlich genannt hat. So wurde es auch möglich, als wichtigste politische Forderung die Priorität der Interessen des Vaterlandes, des Staates zu proklamieren. Zu diesem Zweck werden die concordia ordinum und der consensus bonorum propagiert, zu diesem Zweck wird eine abstrakte Vaterlandsliebe proklamiert. Cicero formuliert das so, daß das Wohl des Vaterlandes wichtiger ist als das Leben, und Lucilius stellt folgende Skala auf: Zuerst kommt das Wohl des Vaterlandes, danach das Wohl der Eltern und dann erst das eigene Wohl 1 . So entsteht die äußerlich nur traditionsgebundene, in ihrem Wesen aber klassengebundene Losung der Oberschicht der römischen Sklavenhaltergesellschaft. Ihre Weiterentwicklung und ihre deutlichste Ausprägung erfährt sie in den politischen Anschauungen eines anderen hervorragenden Vertreters der römischen Intelligenz, bei Cicero. Sallust und Cicero sind Antipoden und zugleich die ausgeprägtesten Vertreter der beiden gegensätzlichen Tendenzen in der Entwicklung der römischen poli1

Lue., fr. 1337ff.

Sallust und Cicero ala politische Antipoden

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tischen Ideologie im I. Jahrhundert v. u. Z. Sallust entwickelt sich politisch zu einem der letzten Vertreter der demokratischen Ideologie, zum Fürsprecher des Kampfes für die Partei- und Klasseninteressen bestimmter Schichten der römischen Gesellschaft. Cicero ist in seinen politischen Überzeugungen ein Ideologe der konservativ-republikanischen aristokratischen Oberschicht, ein Fürsprecher des Kampfes für die gesamtpatriotischen Interessen des Staates und für das Wohl des Vaterlandes überhaupt. Beide Losungen, beide Entwicklungstendenzen des ideologischen Kampfes durchdringen die am meisten verbreiteten, die landläufigen politischen Theorien, Lehren und Ideen dieser Zeit. Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, die Entwicklung und den Kampf der oben festgestellten Tendenzen an Hand derartigen Materials zu verfolgen. Dieser Kampf kommt natürlich am stärksten in den von Cicero und Sallust entwickelten politischen Ideen und Theorien zum Ausdruck. Deshalb dienen uns die politischen Anschauungen dieser Vertreter der beiden gegensätzlichen weltanschaulich-politischen Lager in einem gewissen Grade als Leitfaden, an den wir uns bei der weiteren Erforschung der politischen Ideologie der römischen Gesellschaft im I. Jahrhundert v. u. Z. halten werden.

II ERSTES K A P I T E L

DIE SOZIALE UND POLITISCHE UTOPIE DES I. JAHRHUNDERTS Y. U. Z. Die beiden Briefe Sallusts an Caesar (Epistulae ad Caesarem senern de re publica) sind ein außerordentlich interessantes historisches Dokument. Diese „ B r i e f e " führen in die Atmosphäre des verschärften Klassenkampfes in einer besonders stürmischen Periode der römischen Geschichte ein und geben eine Vorstellung von den politischen Utopien dieser Zeit und von den für sie bezeichnenden Losungen. Außerdem werfen die Briefe neues Licht auf eine Frage, die in der Literatur mehrfach besprochen worden ist, nämlich auf die politischen Anschauungen Sallusts selbst und sein Verhältnis zu Caesar. Die geschichtliche Bedeutung der Briefe ist jedoch erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit gewürdigt worden, da sie nach einer bis ins X V I . Jahrhundert reichenden Überlieferung als unecht galten. So gelangte z. B. H. JORDAN1 auf Grund sprachlicher Daten zu dem Schluß, daß die Briefe nur eine gelungene stilistische Imitation seien und von einem Rhetor aus der Zeit der Flavier und der Antoninen stammten. Diese Ansicht herrschte in der westeuropäischen Geschichtsforschung bis vor ziemlich kurzer Zeit. MOMMSEN2 (noch vor JORDAN) und selbst EDUARD SCHWARTZ3 hielten die „ B r i e f e " für gefälscht und ließen sie außer acht. Erst im Anfang dieses Jahrhunderts haben sich zunächst R . PÖHLMANN4 und EDUARD MEYER6, allerdings sehr vorsichtig, für die Echtheit der Briefe ausgesprochen. PÖHLMANN und MEYER lassen die Frage, ob Sallust der Autor sei, offen und erklären es nur für zweifelsfrei, daß die Briefe in die Zeit des Bürgerkriegs gehören. Aber damit wird die Frage nach ihrem Urheber eigentlich schon entschieden, da vor dem Erscheinen der ersten Werke Sallusts schwerlich jemand ihn hat nachahmen oder seinen Stil imitieren können. 6 1

H. JORDAN, De suasoriis quae ad Caesarem de re publica inscribuntur, Berlin

1868. A T H . MOMMSEN, R ö m i s c h e G e s c h i c h t e , I I I 1 4 , 1933, p . 514 A u n d St. R . I I I , 1, 1887,

p. 272. 3 ED. SCHWARTZ, Die Berichte über die catilinarische Verschwörung, „Hermes", XXXII,

1897, S. 5 5 4 — 6 0 8 .

R. PÖHLMANN, Zur Geschichte der antiken Publizistik, SBAW, phil. u. hist. Klasse, H. 4, 1904, S. 3—79. 6 ED. METER, Caesars Monarchie und das Prinzipat des Pompeius3, Berlin 1922, 4

S. 3 5 7 — 3 6 4 ; 6

388—399.

H . DAHLMANN, Sallusts p o l i t i s c h e B r i e f e , H e r m e s , L X I X ,

1934, S. 3 8 0 - - 3 8 9 .

62

Sallusts Urheberschaft der Epistnlae ad Caesarem

Neuere Untersuchungen behandeln die Frage entschiedener. O . G E B H A R D T 1 erkennt nicht nur die Urheberschaft Sallusts an, sondern gelangt auch zu dem Schluß, daß die Briefe augenscheinlich von Caesar bestellt worden sind; denn, meint GEBHARDT, Sallusts Vorschläge sind von Caesar in Betracht gezogen, gut geheißen und bis zu einem gewissen Grade verwirklicht worden. Sorgfältige sprachliche und stilistische Untersuchungen der Briefe bei A. M. HOLBORN 2 und besonders bei B. EDMAR 3 beweisen die Echtheit der Briefe und die Urheberschaft Sallusts zweifelsfrei. W. KROLL 4 , 0 . S E E L 5 und 6 W . SCHUR schließlich betrachten die Frage der Urheberschaft Sallusts als endgültig entschieden. Da die Urheberschaft Sallusts nunmehr als bewiesen gelten kann 7 , gehen wir sogleich zu den Briefen über und beginnen mit dem früheren Brief 8 . Der Abschnitt 5 des früheren Briefes stellt einen für Sallust höchst charakteristischen historischen Exkurs dar. Sallust spricht zunächst von der althergebrachten Teilung der römischen Gesellschaft in patres und plebs. Die patres besitzen die summa auctoritas, die plebs besitzt die vis. Danach ist vom Kampf der Stände und von der Sezession die Rede. Durch diese Ereignisse „wurde der Einfluß der Nobilität verringert, das Recht des Volkes dagegen erweitert" 9 . Dies ist für Sallust der entscheidende Zeitpunkt. Von jetzt an kommt es zu einem einigermaßen stabilen Gleichgew icht zwischen der Nobilität und dem Volk, die Republik blüht und gedeiht, es beginnt das „goldene Zeitalter". Sallust kennzeichnet diese Periode folgendermaßen: das Volk habe sich der Freiheit erfreut, niemand habe unter Mißachtung der Gesetze seine Macht mißbrauchen können, der Adlige sei bemüht gewesen, den Nichtadligen nicht durch 1 O . G E B H A R D T , Sallust als politischer Publizist während des Bürgerkrieges, Halle 1920. 1 A. M. H O L B O R N - B E T T M A N N , De Sallustii epistulis ad Caesarem senem de re publica. Diss. Berlin 1926. 3 B. E D M A R , Studien zu den Epistulae ad Caesarem senem de re publica, Lund 1931. 4 W . K R O L L , Sallusts Staatsschriften, Hermes, LXII, 1927, S. 373—392. 5 O. S E E L , Sallust. Von den Briefen ad Caesarem zur Coniuratio Catilinae, Stuttgart 1930. 6 W. S C H U R , Sallust als Historiker, Stuttgart 1934. ' Anm. d. Red.: Zur Frage der Echtheit der Briefe vgl. J. CAKCOPINO (Rev. des études anciennes L III, 1951, S 148 und V. P A L A D I N I , G. Sallusti Crispi epistulae ad Caesarem, Rom 1952 (rec. S. Prete, Gnomon 27, 1955, Heft 7, S. 515f,) 8 Er steht bekanntlich im Codex Vaticanus 3864 an zweiter Stelle. Daher wird er traditionsgemäß bei Verweisungen überall mit Epp. II, der spätere, aber in der Handschrift an erster Stelle stehende Brief dagegen mit Epp. I bezeichnet. Was die Datierung der Briefe betrifft, so gehört der frühere, d. h. Epp. II, in das Jahr 50, der spätere dagegen, d. h. Epp. I, in das Jahr 46; der letztgenannte ist offensichtlich nach der Schlacht bei Thapsus geschrieben worden (vgl.: H. D A H L M A N N , a. a. O . , S. 382). Siehe S. 201—202. • Sali., Epp. II, 5: „. . . nobilitatis opes deminutae sunt et ius populi amplificatum".

Die Wechselbeziehungen zwischen Senat und Volk bei Sallust

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Reichtum oder Anmaßung, sondern durch guten Ruf und tapfere Taten zu übertreffen1. Was die zeitliche Ausdehnung dieser Periode betrifft, so ist sie nach Sallust ziemlich lang. Beginnen läßt • Sallust sie, wie soeben erwähnt, mit den ersten Erfolgen der Plebejer in ihrem Kampf um politische Rechte, d. h. mit der Zeit, als die plebejischen Massen zum ersten Male unter bestimmten Einschränkungen in den Staatsorganismus eingegliedert wurden. Das Ende dieser Periode wird nicht exakt bestimmt, doch legt Sallusts Anspielung auf den Verlust der Bodenparzellen und auf die Verarmung der Landbevölkerung2 in dieser Hinsicht den Gedanken an die Vorgänge nahe, die sich seit dem Ende des III. Jahrhunderts abgespielt und zu den Reformen der Gracchen geführt haben3. Wenden wir uns der weiteren Behandlung des Themas des „goldenen Zeitalters" in den späteren Werken Sallusts zu, so wird diese Ansicht bestätigt. Ihr Ende fällt nach Sallusts historischen Exkursen in der „Verschwörung Catilinas" und im „Jugurthinischen Krieg" 4 mit der Umwandlung Roms in eine Mittelmeergroßmacht (d. h. mit der Zerstörung Karthagos) zusammen. Diese Blüte ist nach Sallusts Meinung durch die so glücklich gefundene Regierungsform bedingt, die richtige Wechselbeziehungen zwischen dem Senat, den patres (Konzentration der auctoritas!) und der plebs (Konzentration der vis!) gewährleistete. Darüber jedoch, wie sich Sallust die richtigen Wechselbeziehungen zwischen Senat und Volk 6 vorgestellt hat, erfahren wir im Abschnitt 5 des früheren Briefes nichts; hier wird nur gesagt, wann sich dieses Gleichgewicht herausgebildet hat. Bei dieser Gelegenheit sei nochmals betont, daß die Herstellung dieses Idealzustandes bei Sallust als Folge der Begrenzung der Macht der Nobilität und der Erweiterung der Rechte des Volkes behandelt wird. Man könnte also — so scheint es — von demokratischen Tendenzen Sallusts sprechen, insofern er die Erweiterung der Rechte des Volkes in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Blüte des Staates bringt. Dieser Schluß wäre jedoch voreilig. Erstens ist es sehr bezeichnend, daß Sallust bei der Erweiterung der Rechte 1 Sali., Epp. II, 5: „sed plebs eo libere agitabat, quia nullius potentia super leges erat neque divitiis aut superbia, sed bona fama factisque fortibus nobilis ignobilem anteibat", „aber das Volk handelte aus dem Grunde frei, weil niemandes Macht über den Gesetzen stand und der Adlige dem Nichtadligen weder mit Reichtum noch mit Überheblichkeit voranging, sondern mit gutem Ruf und tapferen Taten". 8 Ebenda: „. . . sed ubi eos paulatim expulsos agris inertia atque inopia incertas domos habere subegit . . .", „aber sobald sie allmählich von ihren Äckern vertrieben wurden und Arbeitslosigkeit und Mangel sie dazu brachten, keinen festen Wohnsitz mehr zu haben . . .". 3 Die reformatorischen Bemühungen der Gracchen sind für Sallust bereits ein Versuch, den Staat zu neuem Leben zu erwecken. Deshalb hat Sallust auch die Tätigkeit der Gracchen so hoch eingeschätzt (siehe z. B. lug., 42). 4 Sali., Cat., 6—13; lug., 41—42. 6 Sallusts Sprachgebrauch und seine Verwendung der Termini populus, plebs, multitudo, Quirites (siehe z. B. Epp. II, 4, 5, 10 oder Epp. I, 5 usw.) läßt erkennen, daß er sie eindeutig verstanden und dabei immer an das „Volk", natürlich in einem besonderen Sinne dieses Wortes, gedacht hat.

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Sallusts politisches Ideal

des Volkes und der Begrenzung der Macht der Aristokratie nur an eine gewisse Veränderung in dem Verhältnis zwischen den beiden Gliedern seiner Formel, patres — plebs, denkt, d. h. an einen Kompromiß zwischen der Aristokratie und der Plebs. Zweitens handelt es sich dabei um eine ziemlich eigenartige Veränderung. Im Abschnitt 10 des früheren Briefes wird es klar, wie Sallust diese Frage verstanden hat, und gleichzeitig gewinnen wir eine erschöpfende Vorstellung davon, welches denn nun die richtigen Wechselbeziehungen zwischen Staat und Volk sind. Das Volk soll dem Senat gehorchen, wie der Leib der Seele gehorcht, und sich nach seinen Beschlüssen richten; die Senatoren sollen sich durch politische Klugheit und Weitsicht auszeichnen, für das Volk dagegen sind diese Eigenschaften überflüssig1. Die oben stehenden Darlegungen ermöglichen einige Schlußfolgerungen hinsichtlich der politischen Ideale Sallusts. Seiner Meinung nach ist das „goldene Zeitalter" der römischen Geschichte die Zeit, in der Rom noch keine Weltmacht war. Die Regierungsform, die die Voraussetzung für diese Blütezeit war, war ein gewisses System des Gleichgewichts zwischen Senat und Volk. Dieses System sollte folgende Bedingung erfüllen, durch das Gewicht der auctoritas des Senats die vis des Volkes in Schranken zu halten, d. h. Senat und Volk in einer Art Synthese zu versöhnen. Diese Sfcaatsform ist nichts anderes als die Republik unter Führung des Ssnats, der die summa auctoritas besitzt, und ist bereits in der römischen Vergangenheit dagewesen (siehe die weiter oben gemachten Bemerkungen übsr das „goldene Zeitalter"), nach ihr muß man auch in der Zukunft strebin. Dies ist Sallusts „politisches Ideal", das man vielleicht als republikanisch-konservativ bezeichnen muß. Jetzt ist zu untersuchen, wie Sallust das Rom seiner Zeit darstellt, worin er die Ursachen des Niederganges sieht und welche Vorschläge er zur staatlichen Erneuerung Roms macht. Die Zustände in der römischen Gesellschaft seiner Zeit schildert Sallust keineswegs in rosigen Farben. Im Abschnitt 5 des früheren Briefes wird der Beginn des Niedergangs damit in Zusammenhang gebracht, daß die Bürger ihre Ländereien verlieren, Trägheit und Not zunehmen, die Freiheit und das Wohl des Staates um privater Interessen willen verschachert werden. So geriet das Volk, das der Herr war und allen übrigen Stämmen gebot, allmählich in Verfall, und an die Stelle der Macht, an der alle teilhatten, trat die Knechtschaft der einzelnen8. Wenn aber das römische Volk, mit schlechten Eigenschaften infiziert, 1

Sali., Epp. II, 10: igitur ubi plebs senatui, sicuti corpus animo, oboedit eiusque consulta exsequitur, patres consilio valere decet, populo supervacanea est calliditas", „Wo also das Volk dem Senat wie der Leib der Seele gehorcht und seine Beschlüsse ausführt, sollen sich die Patrizier durch Verständigkeit und politische Weitsicht auszeichnen, für das Volk ist politische Klugheit überflüssig". 2 Ebenda, II, 5: „ita paulatim populus, qui dominus erat, cunctis gentibus imperitabat, dilapsus est et pro communi imperio privatim sibi quisque servitutem peperit".

Das Bild der Nobilität bei Sallust

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die Idee des Allgemeinwohls eingebüßt hat, ist es auch nicht mehr imstande, an der Verwaltung des Staates teilzunehmen 1 . Kennzeichnend für den Niedergang der römischen Gesellschaft ist aber nicht nur die Verderbtheit des Volkes. Kennzeichnend ist auch der Verfall aller staatlichen Einrichtungen und vor allem die Schwäche des Senats. Im Abschnitt 10 des früheren Briefes vergleicht Sallust die Rolle des Senats in alten Zeiten mit seiner jetzigen Stellung und gelangt zu wenig erfreulichem Ergebnissen. Die Angehörigen der adligen Geschlechter sind in Trägheit und Laster versunken. Arbeit und Mühe verachten sie, die kriegerischen Tugenden habeu sie vergessen, sie beschäftigen sich mit unwürdigen Intrigen, und der Senat, der den Staat lenken sollte, ist zum Spielball in den Händen dieser Intriganten geworden 2 . Etwas weiter unten, im Abschnitt 11, ergänzt Sallust dieses Bild durch weitere niederschmetternde Einzelheiten. Er weist darauf hin, daß die Senatoren nur noch von nebensächlichen Privatangelegenheiten in Anspruch genommen sind, über die Staatsangelegenheiten dagegen eine Clique von Nobiles (nebst einigen wenigen in diese Bande aufgenommenen Senatoren) bestimmt, die in ihrer Willkür keine Grenzen kennt 3 . Die Folge der Schwäche des Senats und der Verderbtheit des Volkes ist die Herrschaft einer Clique von Nobiles. Sallust steht der Nobilität schroff ablehnend gegenüber. Diese Leute, sagt er, kennen den Wert der Tugend nicht, sie haben sich der Untätigkeit und der Ausschweifung überlassen, sie sind gefühllos geworden, sie sind in ihren üblen Neigungen erstarrt 4 . Sie haben Drusus umgebracht, weil sie ihn nach sich selbst, nach ihren eigenen Absichten beurteilten und des Strebeus nach der Macht verdächtigten 5 , und schließlich haben sie, hauptsächlich dank der unheilvollen Tätigkeit des Pompeius, die unumschränkte Herrschaft im Staat erobert. Denn die oberste Gewalt, die Verfügung über die Steuereinnahmen, die Gerichtshoheit hat Pompeius einigen wenigen Senatoren in die Hände gespielt, das Volk aber hat er zu Sklaven gemacht. Praktisch beherrscht den Staat die Clique seiner Anhänger. Die Gesetze werden mit Füßen getreten, es triumphieren die rohe Gewalt und die Willkür. Die Zersetzung hat solche Ausmaße angenommen, daß die Frechheit dieser factiosi, wie Sallust sie nennt, sich nur mit dem Verhalten eines Feindes vergleichen läßt, 1 Sali., Epp. 11,5: „haec igitur multitudo primum malis moribus imbuta, deinde in artes vitasque varias dispalata, nullo modo inter se congruens, parum mihi quidem idonea videtur ad eapessendam rem publicam", „diese Masse also, die erstens durch schlechte Sitten verderbt ist und zweitens von Ort zu Ort schweifend infolge der verschiedenartigen Berufe und der verschiedenartigen Lebensweise jeder inneren Einheit ermangelt, erscheint mir sehr wenig geeignet, den Staat zu leiten". 2 Ebenda, II, 10. 3 Ebenda, II, 11: „. . . homines nobiles cum paueis senatoriis, quos additamenta factionis habent, quaecumque libuit probare, reprehendere, decernere, ea, uti lubido tulit, fecere", „Leute adliger Herkunft zusammen mit wenigen Senatoren, die sie als Anhängsel ihrer Partei halten, haben alles, was es zu billigen, zu mißbilligen und zu beschließen gab, getan, wie es ihnen beliebte". 4 Ebenda, II, 8. 5 Ebenda, II, 6.

Sallust über die Zersetzung der römischen Gesellschaft

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der eine Stadt im Sturm genommen hat 1 . Caesars Verdienst ist es, daß er die Partei der Nobilität geschwächt und geduckt hat 2 . Aber die K r a f t der Nobilität ist noch nicht gebrochen. Der Kampf mit ihr ist unvermeidlich, darauf wird Caesar von Sallust ausdrücklich aufmerksam gemacht 3 . Die Nobilität wird sich zweifellos all den Reformen, die Sallust im Auge hat und deren Durchführung er von Caesar erwartet, widersetzen 4 . Daher ist ein Kampf unvermeidlich, und weil die Macht tatsächlich von der Nobilität usurpiert ist, ist die Nobilität der Hauptfeind, die Hauptgefahr. Die Entstehung und Ausbreitung dieser Gefahr ist eine unvermeidliche Folge der Schwäche des Senats und der Verderbtheit des Volkes. So äußert sich Sallust in dem früheren Brief über die Zersetzung der römischen Gesellschaft. Man erkennt sofort, daß Sallust bei dieser Darstellung des Niedergangs seinem „republikanisch-konservativen Ideal" treu bleibt. Tatsächlich stellt er, wenn er den Niedergang der römischen Gesellschaft schildert, vor allem die Verderbtheit des Volkes und sodann die Schwäche und Ohnmacht des Senats fest. Dies deutet darauf hin, daß der Niedergang der römischen Gesellschaft von Sallust als Zerstörung seines politischen Ideals verstanden worden ist, d. h. als eine Diskreditierung der Formel „Senat und Volk". Sallust beschränkt sich nicht auf die Schilderung dieses Niedergangs, sondern macht den Versuch, die wichtigsten Gründe festzustellen, durch die die römische Gesellschaft in diesen Zustand geraten ist. Da ist vor allem eine Reihe von Gründen, die die Verderbtheit des Volkes erklären. Im Abschnitt 5, wo Sallust von der Verderbtheit des Volkes, von seiner Unfähigkeit zur Staatslenkung spricht, erklärt er dies alles, wie oben gezeigt wurde, damit, daß die Bürger allmählich ihren Landbesitz verloren haben, daß sie durch Untätigkeit und Not heimatlos geworden sind 5 . Der Verlust des Bodens hat also den ersten Anstoß zur Demoralisierung des Volkes gegeben. Sallust nennt aber noch eine andere Ursache. Es ist die Bevorzugung der persönlichen Interessen gegenüber den Bedürfnissen des Staates, also das, was er den Schacher mit der Freiheit und den Interessen des Staates nennt 6 . Im Abschnitt 10 setzt Sallust auseinander, daß dies, wenn es beim Volke bedenklich ist, bei hochgestellten Persönlichkeiten, bei den Senatoren einfach unverzeihlich ist. Denn wer im Staate eine höhere und glänzendere Stellung einnimmt als die andern, der muß sich auch ganz besonders um die Angelegenheiten des Staates kümmern 7 . Für das Volk hängt von der Sicherheit des Vaterlandes nur die Freiheit ab, für diejenigen aber, die durch ihre Tapferkeit Ruhm, Ehre 1

Sali., Epp. II, 3: . . trahunt, rapiunt; postremo, tanquam urbe capta lubidine ac licentia sua pro legibus utuntur", „. . . sie reißen alles an sich und rauben, was ihnen unter die Hand kommt; schließlich setzen sie wie in einer eroberten Stadt die eigene Willkür an die Stelle der Gesetze". 2 4 Ebenda, II, 2. » Ebenda, II, 8. Ebenda, II, 6, 8, 11. 6 6 Ebenda, II, 5. Ebenda, II, 5. ' Ebenda, II, 10: ,,. . . cuiqumque in sua civitate amplior illustriorque locus quam aliis est ei magnam curam esse rei publicae".

Sallusts positives Programm

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und Reichtum gewonnen haben, ist jede den Staat bedrohende Gefahr doppelt so groß. Sie dürfen weder Mühe noch Sorge scheuen, sie müssen überall ihren Mann stehen, und wenn das Volk dem Senat gehorchen soll, wie der Leib der Seele gehorcht, sollen die Senatoren für das Volk denken. So war es in alten Zeiten, so haben es die Ahnen gehalten, und dieser Dienst am Vaterlande hat reiche Früchte getragen 1 . Das Pehlen aller dieser Eigenschaften bei denen, die an der Spitze des Staates stehen, das Übergewicht der persönlichen Interessen, der Hang zum Intrigieren, die Korruption — das sind weitere Gründe, die die Schwäche und Ohnmacht des Senats erklären. Dies sind nach Sallusts Meinung die Ursachen für den Verfall der römischen Gesellschaft. Sallusts Auffassung nimmt jetzt deutlichere Umrisse an. Bisher hat sich ihm die Zersetzung der Gesellschaft als Verderbtheit des Volkes und Ohnmacht des Senats dargestellt. Jetzt läßt sich das Bild dahin ergänzen, daß die Verderbtheit des Volkes sich aus dem Verlust des Landbesitzes und die Schwäche des Senats aus der Ignorierung der Bedürfnisse und Interessen des Staates durch die Senatoren ergibt. So viel über die negative Seite der politischen Anschauungen Sallusts. Nun können wir zur Untersuchung seines positiven Programms übergehen, d. h. zur Analyse und Kritik der von ihm angeregten Reformen. Bei der Darstellung seines Reformprogramms halten wir uns am besten an die von Sallust selbst vorgenommene systematische Darstellung, d. h. wir gruppieren die Reformprojekte in zwei Hauptabteilungen: die zur Erneuerung des Volkes erforderlichen Reformen und die Reformen, die zur Erneuerung des Senats erforderlich sind 2 . Die wichtigste Reform der ersten Abteilung ist die Ausdehnung des Bürgerrechts und die Schaffung von gemischten Kolonien, d. h. von Kolonien, in denen Altbürger mit Neubürgern, die eben erst das Bürgerrecht erhalten haben, gemischt sind. Durch diese Maßnahme, so meint Sallust, wird der echte Freiheitsbegriff zu neuem Leben erweckt werden, da die Neubürger die gewonnene Freiheit zu erhalten und die Altbürger die Fesseln der Sklaverei abzuwerfen suchen werden 3 . Wenn Sallust die Frage der Gründung von Kolonien (also auch der Landzuteilung an die Kolonisten) aufwirft, so schlägt er im Grunde genommen eine Agrarreform vor. Dieser Vorschlag steht in vollem Einklang mit seiner Ansicht, j 1 Sali.. Epp. II, 10. 2 Ebenda, II, 10: „nunc quoniam, sicut mihi videor, de plebe renovanda corrigendaque disserui, de senatu quae tibi agenda videntur, dicam", „da ich nun über die Erneuerung und Besserung des Volkes genug gesprochen zu haben glaube, will ich dir noch sagen, was du nach meiner Ansicht hinsichtlich des Senats tun solltest". • Ebenda, II, 5: „ceterum, additis novis civibus magna me spes tenet fore ut omnes expergiscantur ad libertatem quippe cum illis libertatis retinendae, tum his servitutis amittendae cura orietur", „im übrigen hege ich die große Hoffnung, daß durch die Aufnahme neuer Bürger alle zur Freiheit erweckt werden: freilich wird bei den neuen Bürgern das Streben entstehen, die Freiheit zu behaupten, bei den alten das Bemühen, die Knechtschaft abzuwerfen".

Vorschläge für Maßnahmen zur Erneuerung des Senats

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die Verderbtheit des Volkes sei auf den Verlust des Landbesitzes zurückzuführen. Sallusts Projekt einer Agrarreform ergibt sich also folgerichtig aus seiner Voraussetzung hinsichtlich der Ursachen des Niedergangs und der Zersetzung. Zu den Reformprojekten dieser „Abteilung" gehört auch Sallusts Vorschlag, die Geldgier auszurotten oder wenigstens einzudämmen; denn solange diese Leidenschaft herrscht, können weder die staatlichen noch die privaten Angelegenheiten in Ordnung sein 1 . Ferner gehören hierher seine Vorschläge in bezug auf die Wahl der obersten Magistrate (der Konsuln und Prätoren), bei der die Würdigkeit der Kandidaten und nicht ihr Vermögen bestimmend sein soll, und in bezug auf die Wahl der Richter aus den Bürgern der ersten Klasse 2 . Die Wahl der Magistrate soll nach dem Gesetz des Gaius Gracchus erfolgen, d. h. die Zenturien aller fünf Klassen sollen gemischt und dann die Lose gezogen werden. Dadurch wird die Rechtsgleichheit für die Bürger gewährleistet, und sie werden sich bemühen, einander nicht an Reichtum, sondern an Tüchtigkeit zu übertreffen 3 . So viel über Sallusts Reformprojekte zur Erneuerung des Volkes. Der anderen „Abteilung" seiner Reformen stellt Sallust eine Art Einleitung voran, in der er berichtet, er sei durch ein besonders Studium der Frage zu der Überzeugung gelangt, daß die einzelnen Reiche, Gesellschaften und Völker mächtig gewesen seien, solange sie sich an die Prinzipien des Wahren und des Guten gehalten hätten, daß sie dagegen, wenn sie diese aus Vergnügungssucht oder aus Furcht verraten hätten, aller Macht verlustig gegangen und dann sogar versklavt worden seien 4 . Die Interessen des Vaterlandes müßten denen doppelt wichtig sein, die eine hohe Stellung im Staate hätten. Zur Bekräftigung dieser Gedankengänge verweist Sallust auf das Beispiel der Ahnen und entwirft dann das uns bereits bekannte Bild von der Schwäche des Senats, der zum Spielball in den Händen von Intriganten geworden ist. Dies ist eine Folge davon, daß die Interessen des Vaterlandes in Vergessenheit geraten sind, daß die Senatoren feige und korrupt sind und sich freiwillig in die Knechtschaft begeben 6 . Daher müssen Maßnahmen getroffen werden, um das Gefühl der Würde den Senatoren zu stärken, um sie unabhängig zu machen und zum Dienst Vaterland zurückzuführen. Zur Erneuerung des Senats schlägt Sallust zwei formen vor: die Vergrößerung der Zahl der Senatoren und die Einführung geheimen Stimmabgabe 6 .

bei am Reder

Sali, Epp. II, 7. d. h. mit einem Zensus, von 100000 Sesterzen. » Sali., Epp. II, 8. 1 Ebenda, II,' 10. 6 Ebenda, II, 10, 11. ' Ebenda, II, 11: „igitur duabus rebus confirman posse senatum puto: si numero auctus per tabellan) sententiam feret", „ich bin daher der Ansicht, daß der Senat durch zwei Mittel gestärkt werden kann: durch eine Vergrößerung der Zahl der Senatoren und durch die Einführung der geheimen Stimmabgabe". 1 8

Sallusts Glaube an Caesars geschichtliche Mission

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Interessant ist die Feststellung, daß Sallust, wie er in dem vorhergehenden Abschnitt seines Programms in erster Linie eine Agrarreform angeregt hat, nunmehr Maßnahmen anregt, um die Gesinnungsfreiheit der Senatoren zu gewährleisten und die moralische Autorität des Senats zu stärken. Dieser Vorschlag steht in vollem Einklang mit seiner Ansicht, daß die Schwäche des Senats sich aus der Vernachlässigung des Staatswohls und der Bevorzugung privater Interessen ergibt. Das Projekt zur Wiederherstellung der Meinungsfreiheit der Senatoren ergibt sich also folgerichtig aus seiner Voraussetzung hinsichtlich der Ursachen des Niedergangs und der Zersetzung. So viel über Sallusts Reformprojekte zur Erneuerung des Senats. Alle Reformen der einen wie der anderen Abteilung verfolgen das Ziel, die Gesellschaft und den Staat zu erneuern. Sallusts positives Programm erschöpft sich jedoch nicht in diesen Reformen. Die oben erwähnten Projekte beziehen sich nur auf die Frage, w i e der Staat erneuert werden soll. Aber Sallust mußte sich auch für die Frage interessieren und hat sich tatsächlich dafür interessiert, wer diese hohe Aufgabe erfüllen konnte. In diesem Zusammenhang muß über sein Verhältnis zu Caesar Klarheit geschaffen werden. Der frühere Brief beginnt mit einer charakteristischen captatio benevolentiae 1 . Nach Betrachtungen darüber, wie schwierig es ist, Menschen, die den Gipfel irdischer Größe erreicht haben, Ratschläge zu erteilen, legt Sallust die Gründe dar, die ihn veranlassen, trotzdem eine Reihe von Ratschlägen zu geben. Vor allem beruft er sich darauf, daß er sich seit seiner frühen Jugend mit Politik beschäftigt und die Lebensinteressen des Staates in Kriegs- wie in Friedenszeiten erforscht hat. Dies gibt ihm das Recht, sich mit seinen Ratschlägen an Caesar zu wenden. Bei dieser Gelegenheit entwirft er ein kurzes, aber eindrucksvolles Charakterbild Caesars in apologetischer Färbung. Sodann erklärt er seinen Versuch damit, daß er sich zwar keineswegs für klüger oder erfahrener als Caesar halte, ihm aber doch Ratschläge zu erteilen wage, weil Caesar bei seiner Inanspruchnahme durch Kriege und Siege keine Zeit habe, die inneren Angelegenheiten des Staates in Ordnung zu bringen. Zum Schluß — und das ist hier besonders wichtig — beruft sich Sallust darauf, daß er diesen Versuch mache, weil er fest davon überzeugt sei, daß Caesar nicht die Absicht habe, sich auf die Abwehr des Feindes zu beschränken, sondern zweifellos weitergehen und die wichtigsten Fragen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens in Angriff nehmen wolle 2 . Sallust glaubt offenbar daran, daß Caesars geschichtliche Mission die Wiedergeburt der Römischen Republik ist. Diese Ansicht Sallusts über Caesars geschichtliche Rolle ist auch für sein Verhältnis zu ihm in der hier in Frage stehenden Zeit bestimmend. Eine weitere Untersuchung des früheren Briefes kann dies nur bestätigen. 1

Saü., Epp. II. 1, 2. « Ebenda. II. 2.

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Kritik des politischen Systems und Ideals bei Sallust]

Der Brief endet mit einem Appell an Caesar, in dem Sallust ihn nochmals auffordert, mit dem Wiederaufbau zu beginnen 1 . Etwas weiter unten betont Sallust ausdrücklich, daß Caesar sich nur durch die Wiederherstellung des Staates wahren Ruhm und wahre Größe erwerben könne 2 . So viel über Sallusts Verhältnis zu Caesar. Als Sallust diesen Brief schrieb, glaubte er offenbar ehrlich, daß Caesar der einzige Mensch, der einzige Staatsmann in Rom sei, der den Staat seinen Idealen entsprechend reformieren könne. Die Untersuchung dieses früheren Briefes ermöglicht eine ziemlich umfassende Vorstellung von Sallusts politischen Anschauungen in einer bestimmten Zeit ihrer Entwicklung und läßt ein gewisses politisches System Sallusts erkennen. Dieses System umfaßt die Darstellung seines politischen Ideals (idealer Staatsaufbau), sodann die negative Seite seines politischen Programms (Schilderung des gesellschaftlichen Niedergangs und Analyse der Ursachen) und schließlich den positiven Teil seines Programms (Wege zur Wiederherstellung des Staates, d. h. Reformprojekte als Mittel und die geschichtliche Rolle Caesars als des zur Wiederherstellung Berufenen). Nunmehr ist es angebracht, dieses politische System Sallusts und vor allem sein politisches Ideal einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Sallusts politisches Ideal ist bekanntlich ein Staatsaufbau und eine Regierungsform, wie sie im „goldenen Zeitalter" bestanden haben, als Rom noch keine Weltmacht war. Diesen idealen Staatsaufbau kennzeichnet Sallust mit seiner Formel „Senat und Volk", wobei die Funktionen zwischen den beiden Gliedern der Formel entsprechend abgegrenzt sind (der Senat regiert, das Volk widmet sich unter seiner weisen Leitung nützlichen Beschäftigungen). So viel über Sallusts politisches Ideal, das wir bereits als konservativ-republikanisch charakterisiert haben. Wenn Sallust wünscht, daß die Sitten und Einrichtungen des „goldenen Zeitalters" der Republik wiederhergestellt werden, wenn er glaubt, daß nur auf diesem Wege der Staat wahrhaft erneuert werden kann, so offenbart sich darin eine für den antiken Denker sehr charakteristische Ideologie. 1 Sali., Epp. II, 12: „sed me illa magis cupido exercet, ut quocumque modo quam primum res publica adiutetur. libertatem gloria cariorem habeo, atque ego te oro hortorque, ne elarissumus imperator Gallica gente subacta populi Romani summum atque invictum imperium tabescere vetustate ac per summam discordiam dilabi patiaris", „mein sehnlichster Wunsch aber geht dahin, daß dem Staat auf irgendeine Weise und so schnell wie möglich Hilfe geleistet werde; die Freiheit ist mir teurer als Ruhm, und ich bitte und beschwöre dich, den ruhmvollen Feldherrn, den Bezwinger der Gallier, es nicht zuzulassen, daß die Herrschaft des großen und unbesiegbaren römischen Volkes an Altersschwäche dahinsiecht und durch innere Wirren zerfällt". 2 Ebenda, II, 13: , ,. . . si vero urbem amplissumo nomine et maxumo imperio prope iam ab occasu restitueris, quis te clarior, quis maior in terris fuerit ?", „Wenn du aber die Stadt mit dem berühmtesten Namen und dem größten Reich, die schon dicht vor dem Untergang stand, wiederherstellst, wer wird dann berühmter sein als du, wer größer auf der Erde ?"

Sallusts Reformprogramm — eine Utopie

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Für Sallust wie für die meisten seiner Zeitgenossen waren die Begriffe „ S t a a t " und „Rom" identisch. Er identifizierte den Begriff des Staates mit Rom und rechnete allenfalls noch Italien dazu, während die Provinzen für ihn nur ein ungefüger und im wesentlichen als fremdartig empfundener Anhang Roms waren. Die Idee des Staates verkörperte sich für ihn in der Polis. Dies eben ist die für den antiken Denker selbstverständliche und höchst charakteristische Ideologie — die „Polis-Ideologie", wenn man es so ausdrücken will. Darauf beruht übrigens auch seine konservative politische Einstellung. Sein politisches Ideal war der staatliche Aufbau der Polis Rom, d. h. ein Staatsaufbau, der den tatsächlichen Verhältnissen seiner Zeit nicht mehr entsprach. Für die politischen Systeme der Antike ist es überhaupt bezeichnend, daß ihr Ideal in der Vergangenheit liegt. Gewöhnlich handelt es sich dabei um eine Idealisierung der Sitten und Gesetze der Ahnen, der mores maiorum. Sallust steht ganz und gar auf diesem Boden. Bemerkenswert aber ist es, daß Sallust sich über den Widerspruch durchaus klar war, der darin zutage trat, daß Rom den Grenzen der Polis entwachsen und zu einer Weltmacht geworden war. Das war für Sallust ein Zwiespalt voller Widersprüche und dramatischer Spannungen. Die Zerstörung Karthagos war die Grenze, die man unbedacht überschritten hatte, und von nun an wendet das Schicksal sich unaufhaltsam gegen den römischen Staat. Der Zwiespalt war tatsächlich voller Widersprüche und dramatischer Spannungen. Während die „ideale" Form der gesellschaftlichen und politischen Ordnung in der antiken Welt die Polis als der zur Ausbeutung der unterdrückten Klassen am besten geeignete Apparat war, war der römische Sklavenhalterstaat über diesen Rahmen hinausgewachsen. Er hatte ihn gesprengt, aber da er ihn noch nicht völlig abstreifen konnte, wurde er mehr und mehr von inneren Widersprüchen zerrissen. Natürlich darf man die Entwicklung derartiger Ansichten nicht so erklären, als hätte es für Sallust selbst Widersprüche in der Sklavenhaltergesellschaft gegeben. Wirklich bemerkenswert aber ist es, daß er einige der kennzeichnendsten Widersprüche, die die antike Sklavenhaltergesellschaft zerfleischten, intuitiv erfaßt hat. Was Sallusts Reformprogramm betrifft, so ist vor allem festzustellen, daß sein Reformplan keineswegs auf mehr oder weniger an der Oberfläche bleibende Maßnahmen, ja nicht einmal auf die nächstliegenden praktischen Aufgaben hinauslief, sondern auf eine grundlegende Umgestaltung des römischen Staates seiner Zeit. Die Verwirklichung dieses Planes sollte nach Sallust das Rom der Ahnen, die Polis Rom, zu neuem Leben erwecken. Da aber die Polis Rom für Sallust vor allem durch einen bestimmten Typus des Staatsaufbaus gekennzeichnet ist, der in der Formel „Senat und Volk" ausgedrückt ist, gruppiert Sallust seine Reformen in zwei „Abteilungen", in zwei Richtungen: Maßnahmen zur Erneuerung des Senats und Maßnahmen zur Erneuerung des Volkes. ( J t t s c h ö n k o , Der politische Kampf in Rom

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Sallust als A n h ä n g e r der P o p u l a r e n

Vielleicht muß man gerade deshalb Sallusts Reformprojekte als utopisch bezeichnen. Sehr richtig beurteilt E D U A R D M E Y E R eines dieser Reformprojekte 1 , und sein Urteil gilt durchaus für alle übrigen Projekte Sallusts. Nach E D U A R D M E Y E R sind Sallusts politische Reformen eine Utopie, die auf Sokrates und Plato zurückgeht und für viele politische Theorien der Antike kennzeichnend ist. Es handelt sich um die Überzeugung, daß Staatsformen und sogar geschichtlich bedingte Realitäten sich durch eine richtige Gesetzgebung verändern lassen. Wir dürfen es jedoch bei dieser im allgemeinen richtigen Bemerkung E D U A R D M E Y E R S nicht bewenden lassen; denn sie stellt zwar fest, daß Sallusts Reformen utopisch und unzeitgemäß waren, aber sie erklärt nicht, warum sie es waren. Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn man eine klare Vorstellung von dem Endziel seiner Reformpläne hat. Wir haben aber schon gesagt, daß seine Reformprojekte darauf hinausliefen, die Polis Rom zu neuem Leben zu erwecken. Die Frage, ob überhaupt an die Möglichkeit zu denken war, Rom in den engen Rahmen einer Polis zu zwängen, den es bereits gesprengt hatte, hat der Verlauf der geschichtlichen Entwicklung beantwortet. Deshalb sind Sallusts Reformen eine Utopie gewesen, und deshalb hat Caesar sie nicht nur nicht verwirklicht, sondern konnten sie auch gar nicht verwirklicht werden. Schließlich bleibt noch die Frage zu klären, welcher Teil der römischen Gesellschaft an dem von Saliust in dem früheren Brief dargelegten politischen Programm interessiert sein konnte, welchen Klassengfuppen das Ideal des Staatsaufbaus, das der frühere Brief propagiert, entsprach. Sallust hat die Interessen derjenigen Gruppen der Sklavenbesitzerklasse vertreten, die man als eine Zwischenschicht zwischen der plutokratischen Oberschicht und den deklassierten Unterschichten kennzeichnen kann. Jedoch ist diese Feststellung noch zu allgemein, und man kann zweifellos die soziale Zugehörigkeit Sallusts genauer bestimmen. Sallust stammte aus der sabinischen Stadt Amiternum, aus nicht unbemittelten Kreisen der Munizipalbevölkerung. Offensichtlich wird gerade er von Asconius im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 52 erwähnt. In diesem Jahre war Sallust Volkstribun und stand auf Seiten des Clodius, war also ein Gegner Milos und Ciceros. Zusammen mit anderen Tribunen — Quintus Pompeius und Munatius Plancus — hält er nach der Ermordung des Clodius leidenschaftliche Reden gegen Milo. Er bemüht sich, der Angelegenheit einen politischen Charakter beizulegen, und sucht zu beweisen, daß Clodius durch eine Verschwörung der Nobilität ums Leben gekommen ist. Sallust betrat also die politische Bühne zum ersten Male als „popularis" und orientierte sich mit einem Teil der Populären eine Zeitlang auf Caesar. Diese politische Gruppe verlieh den Stimmungen derjenigen Schichten Ausdruck, die sich einerseits ziemlich deutlich von den deklassierten Unterschichten, d. h. vom vulgus, distanziert hatten, andererseits aber die exklusive oligarchische Gruppe der Nobilität, die die gesamte politische Macht an sich gerissen hatte, nicht 1

Die B e u r t e i l u n g b e t r i f f t d a s P r o j e k t einer F i n a n z r e f o r m . Siehe EDUARD MEYER,

a. a. O., S. 363.

Caesars Persönlichkeit in der Vorstellung der Popularen

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weniger erbittert haßten. Das Reformprogramm, das politische System, das Sallust in dem Brief an Caesar entwickelte, brachte zweifellos weitgehend die politischen Forderungen und Bestrebungen dieser Gruppe zum Ausdruck. Ihr Programm läßt sich folgendermaßen formulieren: politische Gleichberechtigung für ihre Vertreter oder, um es mit Sallust zu sagen, „Erweiterung der Rechte des Volkes und Begrenzung der Macht der Aristokratie", d. h. eben eine Art Gleichgewicht zwischen dem Senat (der Aristokratie) und dem Volk. Dieses Programm erschien um so realer, als dies politische Ideal nicht nur eine spekulative Konstruktion, nicht nur ein Philosophentraum war, wie so viele politische Utopien griechischer Denker, sondern im „goldenen Zeitalter" der Römischen Republik schon einmal Wirklichkeit gewesen war! Daher die feste Überzeugung, daß es nur darauf ankomme, die Staatsformen und die Verhältnisse dieses „goldenen Zeitalters" wiederherzustellen. Daher auch der Glaube an die geschichtliche Mission Caesars, den die Vertreter dieser Zwischenschicht als Wiederhersteller der „demokratischen" Traditionen betrachten konnten. Dies ist um so wahrscheinlicher, als von allen bedeutenden Politikern dieser Zeit zweifellos nur Caesar derartige Hoffnungen erwecken konnte, da Pompeius sich bereits offen mit der Nobilität verbündet hatte. Caesar umgab noch die Aureole eines standhaften und konsequenten Vorkämpfers der Volkspartei, ihn umgab bereits die Aureole seiner legendären Siege und Eroberungen in Gallien, er war ein Gegner der Nobilität, und gleichzeitig hatte er als Volksführer eine gewisse Loyalität und Zurückhaltung bewiesen. Man darf nicht vergessen, daß Caesar im Jahre 50 zwar das Oberhaupt einer „Partei", aber keineswegs das Oberhaupt des Staates war. Zu berücksichtigen ist auch, daß Caesar, dessen zentrale Losung während seines Kampfes um die Macht beneficia und dementia, Versöhnung der verschiedenen gesellschaitlichen Gruppen und Interessen lautete, offenbar nichts dagegen hatte, wenn sein Programm ein wenig frei und großzügig interpretiert wurde. Wenn bestimmte Schichten der römischen Gesellschaft daran glauben konnten, daß Caesar für die Wiedergeburt der Republik eintrete, so war es für Caesar selbst nur vorteilhaft, solche Ansichten zu unterstützen. Sallusts Brief, ob er nun veröffentlicht worden ist oder nicht, ob er auf Bestellung oder aus eigener Initiative des Verfassers geschrieben worden ist, reflektiert jedenfalls in einem gewissen Grade die Tatsache, daß Caesar in einem bestimmten Teil der römischen Gesellschaft diejenigen Hoffnungen erweckt hatte, die in diesem Brief auf ihn gesetzt werden. Die allgemeine Tendenz der Reformen Sallusts — wenn vielleicht auch nicht seine einzelnen konkreten Vorschläge — mußte zweifellos in der Perspektive erscheinen, in die Caesars Tätigkeit für eine bestimmte Schicht der römischen Gesellschaft wies. Der weitere Verlauf der Geschichte jedoch, der von den Vorstellungen Sallusts so erheblich abweicht, hat gezeigt, welcher Abgrund zwischen diesen utopischen Projekten und den tatsächlichen politischen Bedürfnissen des Römischen Reiches in seiner Werdezeit klaffte. Ganz klar wird dieser Widerspruch, wenn man Caesars Innenpolitik in der Zeit zwischen den beiden Briefen untersucht. 6*

Innenpolitische Maßnahmen Caesars vom Jahre 49

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Hält man an der Ansicht fest, daß der frühere Brief an Caesar in den letzten Monaten des Jahres 50, der spätere dagegen nach der Schlacht bei Thapsus (April 46) 1 geschrieben worden ist, so liegt zwischen den beiden Briefen ein Zeitraum von etwas mehr als drei Jahren. In dieser Zeit haben sich bekanntlich viele bedeutende Ereignisse abgespielt, und in dieser Zeit vollzog sich die Wandlung Caesars vom „Parteiführer" zum Staatsoberhaupt. Damals hat sich Caesars Alleinherrschaft praktisch durchgesetzt. Die äußeren Ereignisse der römischen Geschichte in diesem Zeitabschnitt sind zu bekannt, als daß wir auf sie einzugehen brauchen. Hier interessiert uns vor allem Caesars Innenpolitik. Um das Problem übersichtlicher untersuchen zu können, gliedern wir in Übereinstimmung mit der oben erwähnten Datierung der beiden Briefe Caesars innenpolitische Tätigkeit in zwei Perioden: a) die wichtigsten gesetzgeberischen Maßnahmen und Reformen von 49 bis 46 (bis zur Schlacht bei Thapsus) und b) die wichtigsten gesetzgeberischen Maßnahmen und Reformen seit dem Jahre 46 (nach der Schlacht bei Thapsus). Vor der Schlacht bei Thapsus konnte Caesar sich nur gelegentlich mit inneren Reformen beschäftigen, nur in den kurzen Atempausen zwischen den Feldzügen, wenn er in Rom war. Trotzdem ist es erstaunlich, wie außerordentlich intensiv seine Reformtätigkeit bereits damals gewesen ist. Schon seine ersten Maßnahmen ermöglichen einige Feststellungen hinsichtlich der Grundtendenz seiner innenpolitischen Tätigkeit sowie einen Vergleich mit dem Programm Sallusts. Als Caesar im Jahre 49 sechs bis sieben Tage in Rom weilte, erließ er selbst keinerlei Gesetze; als Prokonsul hatte er nicht das Recht dazu und wollte offenbar in diesem Falle nicht gegen das übliche Verfahren verstoßen. Es steht jedoch fest, daß innerhalb dieses kurzen Zeitabschnitts oder bald nach Caesars Abreise aus Rom die lex Antonia de proscriptorum liberis angenommen worden ist, nach der die Söhne der zu Sullas Zeit Geächteten die Bürgerrechte erhielten 2 . Dafür hatte Caesar schon als Adil agitiert. In dem gleichen Jahre 49, nach seiner Rückkehr aus Spanien, wo er von seiner Ernennung zum Diktator erfahren hatte, hielt er sich nochmals elf Tage in Rom auf. In dieser Zeit fanden Wahlen statt, die unter dem Vorsitz Caesars 3 eröffnet und bei denen Caesar selbst und Publius Servilius Isauricus zu Konsuln sowie seine nächsten Mitarbeiter und Anhänger zu Prätoren gewählt wurden. Von den übrigen Maßnahmen in dieser Zeit ist die Annullierung der lex Pompeia de ambitu 4 hervorzuheben, wodurch viele auf Grund dieses Gesetzes Verurteilte rehabilitiert wurden, so daß sie nach Rom zurückkehren konnten. Außerdem wurde in diesen elf Tagen das Gesetz über die Verleihung der römischen Bürgerrechte an die Transpadaner — die lex Iulia de civitate Transpadanis danda 5 — und dann auch an die Gaditaner 1

Siehe oben, S. 62, Anm. 9. Caes., BC, III, 1; Cic., ad Att. I X , 14, 2; X , 4, 8; Plut., Caes., 37; Suet., Div. Iul., 41; Bio, X L I , 18; X L I V , 47. 9 Caes., BC, III, 1. * Caes., BC, III, 1; vgl. Suet., Div. Iul., 41. 5 Tac., Ann., X I , 24; Dio, X L I , 36. Bei dieser Gelegenheit wurden übrigens die römischen Bürgerrechte zum ersten Male einer ganzen Provinz verliehen. 2

Fortsetzung der Innenpolitik vom Jahre 49

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— lex Iulia de civitate Gaditanis danda 1 — durchgebracht. Die wichtigste Maßnahme Caesars aber in dieser Zeit war vielleicht die Verwirklichung der lex Iulia de pecuniis mutuis 2 , mit der Caesar die Gläubiger auf die Weise zu befriedigen suchte, daß das durch eigens bestellte Schiedsrichter nach den Vorkriegspreisen taxierte Vermögen der Schuldner in den Besitz der Gläubiger überging. Das gleiche Gesetz verbot den Besitz von mehr als 16000 Denaren (60000 Sesterzen) Bargeld 3 , während darüber hinausgehende Beträge in Umlauf gebracht werden sollten. Vor seiner Abreise aus Rom führte Caesar eine Getreideverteilung durch 4 und brach dann in der ersten Dezemberhälfte zur Armee auf. Während des Alexandrinischen Krieges und des anschließenden Krieges gegen Pharnakes war die Lage in Rom bekanntlich außerordentlich gespannt. Der Aufstandsversuch des Caelius und des Milo und die Bewegung des Dolabella ließen erkennen, wie labil die neue Ordnung war, und richteten sich vor allem gegen die persönliche Machtstellung Caesars. Die folgenden Maßnahmen Caesars stellen jedoch die logische Fortsetzung der Innenpolitik des Jahres 49 dar. Nach der Schlacht bei Pharsalus gibt er Thessalien die Autonomie zurück, und während eines kurzen Aufenthaltes in Asien schenkt er den Knidern die Freiheit und erleichtert die Steuerlast der Provinz Asien um ein Drittel 5 . Nach seiner Rückkehr nach Rom im Sommer 47 belohnt er Antonius nicht etwa für die rücksichtslose Unterdrückung des Aufstandes Dolabellas, sondern von jetzt an wird sein Verhältnis zu Antonius kühler, und seine nächsten Maßnahmen zeigen, daß er Dolabellas Programm im Grunde, wenn auch mit Einschränkungen und Kompromissen, übernommen hat. Das beweist die lex Iulia de mercede habitationum remittenda 6 , nach der die Mietsschulden für diejenigen, die in Rom 2000 und in italischen Städten 500 Sesterzen zahlten, gestrichen wurden. Was die Frage des Schuldenerlasses betrifft, so lehnt Caesar zwar wiederum eine radikale Lösung dieses Problems ab und erfüllt die Wünsche nach tabulae novae nicht, aber das Gesetz de pecuniis mutuis wird nunmehr so ausgelegt, daß den Schuldnern die Zinsen als Teilzahlung auf die Schuldsumme angerechnet werden. Dadurch verloren die Gläubiger etwa ein Drittel der von ihnen beanspruchten Beträge 7 . Diese Maßnahmen wurden ergänzt durch die lex Iulia de modo credendi et possidendi intra Italiam 8 , nach der ein Teil der Kapitalien in Grundbesitz angelegt werden sollte. Wie im J a h r e 49, ergänzt Caesar seine Maßnahmen zur Lösung des Schuldenproblems auch jetzt durch Maßnahmen zur Förderung des Kapitalumlaufs. 1 2 3 4 5

6 7 8

Liv., Ep., 110; Dio, X L I , 24. Caes., BC, III, 1; Plut., Ca.es., 37; Suet., Div. Iul., 42 ;App., BC, II, 48 ;Dio, XLI, 37. Dio, X L I , 38. App., BC, II, 48. Plut., Caes., 48; vgl. App.,

BC, II, 88—89; Dio, X L I I , 6.

Suet., Div. Iul., 38; Dio, XLII, 51. Suet., Div. Iul., 42; Dio, XLII, 51. Tue., Ann., VI, 16; Dio, X L I , 38.

Das Verhältnis der Maßnahmen Caesars zu Sällusts Vorschlägen

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Im Jahre 47, vor seiner Abreise nach Afrika, hielt Caesar sich zweieinhalb Monate in Rom auf, und in dieser Zeit setzte er noch die lex Iulia de sacerdotiis in Kraft 1 , durch die die Zahl der Auguren, Pontifices und Quindezimvirn vergrößert wurde. Auch die Zahl der Prätoren wurde durch die" lex Iulia de praetoribus decem creandis 2 auf zehn erhöht. Ebenso wurde die Zahl der Ädilen und Quästoren vergrößert 3 . Freigewordene Stellen wurden mit Anhängern Caesars besetzt. Als Diktator übernimmt er die lectio senatus 4 und besetzt die Sitze verstorbener Senatoren mit seinen Anhängern aus dem Ritterstand und einigen Zenturionen. Damals wurde auch Sallust wieder in den Senat aufgenommen; nach der Rückkehr von seiner erfolglosen Expedition nach Illyrien wurde er zum Prätor ernannt 5 . Das waren Caesars wichtigste Maßnahmen in den zweieinhalb Monaten seines Aufenthaltes in Rom. Am I. Dezember 47 begibt er sich wieder nach dem afrikanischen Kriegsschauplatz. Nach dieser Darstellung der wichtigsten Reformen Caesars in der Zeit vom Beginn des Bürgerkrieges bis zur Schlacht bei Thapsus können wir den Versuch machen, die Frage zu klären, in welcher Beziehung diese Maßnahmen zu den Reformplänen Sallusts in dem früheren Brief stehen. Sällusts Reformprogramm lief, wie bereits erwähnt, auf Maßnahmen zur Erneuerung des Senats und des Volkes hinaus. Zur Erneuerung des Volkes empfahl Sallust vor allem die Gründung gemischter Siedlungen, die Abschaffung unverdienter, nur durch Reichtum erworbener Privilegien, die Wahl der Richter durch das Volk aus der Zahl der Bürger der ersten Klasse und eine Änderung der Abstimmungsordnung bei den Wahlen. Zur Erneuerung des Senats empfahl er vor allem eine Erhöhung der Zahl der Senatoren und die Einführung der geheimen Stimmabgabe im Senat. Man sieht leicht, daß die von Caesar durchgeführten Reformen sich keineswegs mit den Empfehlungen Sallusts decken, sondern dem Sinn seiner Projekte manchmal geradezu widersprechen. Sallust spricht z. B. von der Gründung gemischter Siedlungen; Caesar h a t damals nicht eine einzige Kolonie gegründet 6 . Später jedoch, als Caesar Kolonien zu gründen begann, hat er Sallusts Hauptforderung, die Mischung von Alt- und Neubürgern, nicht erfüllt, woraus sich ergibt, daß er diese Maßnahme nicht für so wichtig gehalten hat wie Sallust. Sallust spricht von der Eindämmung der Geldgier und der Abschaffung der durch Reichtum erworbenen Privilegien; die Methoden aber, mit denen Caesar das Schuldenproblem zu regeln versuchte, waren eng verflochten mit Maßnahmen zur Förderung des Kapitalumlaufs und lassen erkennen, daß Caesar in dieser 1

Dio, XLII, 51; vgl. Cic., ad. fam., XIII, 68, 2. Dio, XLII, 51. ' Suet., Div. Iul., 41. 4 (Goes.), B. Afr., 28; Suet, Div. Iul., 41; Dio, XLII, 51. 5 Dio, XLII, 52. • O. SEEL, a. a. O., S. 16—17. 2

Sallusts Keformprogramm fand keinen Widerhall

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Frage einen ganz anderen Kurs steuerte. Kennzeichnend für Caesars Finanzpolitik ist nicht das Bemühen, die Bedeutung des Geldes zu verringern, sondern im Gegenteil der offen plutokratische Charakter seiner Gesetzgebung 1 . Sallust empfiehlt die Wahl der Richter aus der Zahl der Bürger der ersten Klasse. Caesar geht bis zum Jahre 46 auf diese Frage überhaupt nicht ein, wohl aber wissen wir, daß er später, im Jahre 46, die Dekurie der Aerartribunen an den Gerichtshöfen abgeschafft hat 2 , so daß die Gerichte sich wieder ausschließlich aus Senatoren und Rittern zusammensetzten. Schließlich spricht Sallust von der Wählbarkeit der Magistrate und will sogar das Wahlsystem verändern; Caesar dagegen schafft praktisch die Wählbarkeit ab und vergibt die Magistraturen nach eigenem Ermessen. Sallusts Reformprojekte zur Erneuerung des Volkes wurden also nicht verwirklicht, vielmehr wurde eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die mit diesen Projekten völlig unvereinbar waren. Caesar hatte also seine eigene Auffassung von der Rolle des Volkes, seine Einstellung zum Volk wich von Sallusts Anschauungen in dieser Frage ab. Was Sallusts Reformprojekte zur Erneuerung des Senats betrifft, so tritt hier die gegensätzliche Auffassung Caesars nicht weniger klar zutage. Vor allem lag der Gedanke, die Macht des Senats zu stärken, Caesar völlig fern, er dachte gar nicht daran, die Autorität des Senats zu vergrößern. Dies ist so unverkennbar, daß es nicht besonders bewiesen zu werden braucht. Was Sallusts Empfehlung betrifft, die Zahl der Senatoren zu vergrößern, so ist zu beachten, daß Caesar dies zwar tat, aber zu einem völlig anderen Zweck, nämlich um die Selbständigkeit und Bedeutung des Senats zu verringern. Da der Senat nur durch Kreaturen Caesars ergänzt wurde, ließ dieses Ziel sich leicht erreichen. Wenn also oben von einer von Sallust abweichenden Auffassung Caesars über die Rolle des Volkes die Rede war, so kann man hier von einer radikalen Verschiedenheit ihrer Ansichten über die Rolle des Senats sprechen. Caesars Tätigkeit in der Zeit zwischen dem früheren und dem späteren Brief mußte also den Verfasser der beiden Briefe einsehen lassen, daß das von ihm in dem ersten Brief vorgetragene Reformprogramm keinen Widerhall fand. Sallust konnte natürlich nicht verstehen, daß es sich dabei um eine völlig gesetzmäßige Erscheinung handelte. Indessen wird die Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinung ganz offensichtlich, wenn man sich die grundsätzliche Tendenz der Reformtätigkeit Caesars klar macht. Zu diesem Zweck aber müssen wir (wobei allerdings einige chronologische Vorgriffe nicht zu vermeiden sind) die kurze Darstellung der Innenpolitik Caesars durch einen Überblick über seine Maßnahmen nach der Schlacht bei Thapsus ergänzen. Als Caesar am 25. Juli 46 nach der Beendigung des Krieges in Afrika nach Rom zurückkehrte, wurden ihm ungewöhnliche Ehrungen zuteil. Er feierte einen vierfachen Triumph unter größter Prachtentfaltung. Während dieses Triumphes wurden nicht nur an die Truppenführer und die Soldaten, sondern an alle Bürger 1

2

EDUARD

MEYER, a . a . O . , S . 4 1 8 .

Siehe unten, S. 79.

Caesars Maßnahmen nach der Schlacht bei Thapsus

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großzügige Belohnungen und Geschenke verteilt. So erhielt jeder Bürger die schon im Jahre 49 versprochenen 300 Sesterzen, zu denen Caesar noch 100 Sesterzen für die inzwischen vergangene Zeit hinzufügte. Außerdem wurden an jeden Bürger 10 Scheffel (von je 8,754 1) Getreide und 10 Pfund (von je 327,45 g) ö l ausgegeben. Ferner wurde das Volk großartig bewirtet, und es fanden Schaustellungen und Spiele aller Art statt 1 . Die Soldaten erhielten je 24000 Sesterzen, die Zenturionen den doppelten und die Tribunen den vierfachen Betrag 2 . Diese Summen wurden in der neuen Goldwährung, dem aureus, ausgezahlt, der von nun an die Staatswährung ist. An die erwähnten Festlichkeiten schließen sich die von Caesar zum Andenken an seine verstorbene Tochter veranstalteten Spiele und die Spiele bei der Einweihung des Tempels der Venus Genetrix und des forum Iulium an 3 . Gleich danach geht Caesar daran, auf Grund seiner diktatorischen Vollmachten den Veteranen Land zuzuteilen. Dabei wurde maßvoll und vorsichtig verfahren, die bestehenden Besitzverhältnisse wurden nach Möglichkeit nicht angetastet. Die Grundbesitzer wurden nicht, wie zur Zeit Sullas 4 , von ihrem Boden vertrieben, sondern Caesar verteilte die Siedler in ganz Italien und auch außerhalb Italiens, und neben den Staatsländereien wurde vorzugsweise unbebautes Land verwendet®. Kraft der praefectura morum setzt Caesar die Zahl der Personen, die vom Staat Getreide erhielten, von 320000 auf 150000 herab. Alljährlich sollte der praetor urbanus die innerhalb dieses Kontingents frei werdenden Stellen durch Auslosung neu besetzen 6 . Sodann nahm Caesar die Durchführung eines allgemeinen Zensus in Angriff 7 , der indessen bei seinem Tode noch nicht abgeschlossen war 8 . Eine vorbereitende Maßnahme in diesem Zusammenhang ist die Annahme der lex Iulia municipalis 9 . 1 2 5 4 5 6

7

Suet., Div. Iul., 38; App., BC, II, 102; Dio, X L I I I , 21—23. Plut., Caes., 55; Dio, X L I I I , 21. Suet., Div. Iul., 38; App., BC, II, 102; Dio, X L I I I , 22. Dio, X L I I I , 22—24. Gic., ad fam., X I I I , 8, 2; Suet., Div. Iul., 38; App., BC, II, 93 EDUARD

MEYER,

a. a. O., S. 413.

CIL, I 2 , 593; F I R A ' , S. 102—110; Liv., Ep., 115; Plut., Caes., 55, Suet. Div. Iul., 41; App., BC, II, 102; Dio, X L I I I , 21. 8 Dio, X L I I I , 25. Offenbar wird deshalb in den R G D A , 8 zum Zensus des Jahres 28 bemerkt, daß seit 42 Jahren, d. h. seit dem Jahre 70 v. u. Z., kein Lustrum stattgefunden hat. 9 CIL, I 2 , 593 = F I R A ' , S. 102—110; Cic., ad fam. VI, 18, 1. Über den Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Gesetzes gehen die Meinungen auseinander. So meint MOMMSEN, daß es erst im Jahre 4 5 veröffentlicht worden ist, und E D U A R D M E Y E R schließt sich dieser Meinung an. Cicero jedoch bezeichnet es bereits als lex, was uns veranlaßt, die Veröffentlichung in das Jahr 46 zu verlegen. Übrigens gibt es noch andere Meinungen über die Datierung dieses Gesetzes. So glauben manche, daß es erst nach Caesars Tod von Antonius mit den übrigen acta Caesars erlassen wurde, während andere überzeugt sind, daß es bereits im Jahre 64 (unter dem Konsulat des Lucius Iulius Caesar) erlassen worden ist.

Die Tendenzen der Reformtätigkeit Caesars

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Mit diesem Gesetz wird ein sehr charakteristischer Versuch gemacht, gemeinsame Bestimmungen für Rom und die Munizipien einzuführen, so daß Rom und die Munizipien in gewisser Hinsicht gleichgestellt werden. Wir lassen Caesars Kriminalgesetzgebung, seine Gesetze gegen die Emigration, seine Kalenderreform usw. beiseite und verzeichnen aus seiner damaligen gesetzgeberischen Tätigkeit noch seine Maßnahmen gegen den Luxus — die lex Iulia sumptuaria 1 —, ferner das Edikt über die Auflösung der von Clodius wiederhergestellten Kollegien 2 , die ein Sammelpunkt der Plebs und der demokratischen Agitation waren, die lex Iulia iudiciaria 3 , durch die, wie bereits erwähnt, die Dekurie der Aerartribunen abgeschafft wurde, und schließlich die lex Iulia de provinciis 4 , nach der Prokonsuln höchstens zwei Jahre und Proprätoren höchstens ein Jahr eine Provinz verwalten durften. Diese Maßnahmen führte Caesar im Laufe von fünf Monaten, vom Mai bis zum September des Jahres 46, durch. Mit ihrer Aufzählung können wir den kurzen Überblick über Caesars Innenpolitik beschließen. Bei seiner gesamten Reformtätigkeit ließ Caesar sich von der Idee leiten, ein mächtiges Römisches Reich zu schaffen. Das beweisen schon das Ausmaß seiner Reformen und ihre allgemeine Richtung sowie die Intensität, mit der sie durchgeführt wurden. Das beweisen auch die Wege, die er bei der Verwirklichung seiner Absicht, ein mächtiges Römisches Reich zu schaffen, gewählt hat. Man kann von zwei Tendenzen in Caesars Reformtätigkeit sprechen, die klar zutage treten und die Zielsetzung der einzelnen Reformen bestimmen. Erstens wollte Caesar den Staat zusammenschließen und die gesamte freie Bevölkerung rechtlich gleichstellen, zweitens wollte er den Staatsapparat reorganisieren und vervollkommnen und eine starke Zentralgewalt schaffen. Die Gleichstellungstendenz wird bestätigt durch Maßnahmen wie die Verleihung der Bürgerrechte an die Transpadaner und Gaditaner sowie in einem gewissen Grade durch die Rückgabe der Autonomie an Thessalien, durch das Geschenk der Freiheit an die Knider und die Steuererleichterungen für die Provinz Asien. Hierher gehören natürlich auch die lex Iulia municipalis sowie die Währungs- und die Kalenderreform. Von dem Bemühen, eine starke Zentralgewalt zu schaffen, sind die Maßnahmen zur Vergrößerung der Zahl der Magistrate, die Durchführung der lex Iulia de provinciis und schließlich die Maßnahmen bestimmt, die den Senat zu einem willfährigen Organ des Diktators machen sollen, was darin zum Ausdruck kommt, daß Caesar eine lectio senatus durchführt. Diese beiden Tendenzen sind für die prinzipielle Richtung seiner gesamten Reformtätigkeit bestimmend. Doch reichten alle seine Maßnahmen und Reformen, wie aus den obigen Darlegungen leicht zu erkennen ist, natürlich nicht über das Bemühen hinaus, eine gewisse militärisch-administrative Vereinigung 1 2 3 4

Cic., ad. Att., XIII, 7, 1; ad fam., IX, 15, 5; Suet., Div. Iul., 43; Bio, XLIII, 25. Suet., Div. Iul., 42. Cic., Phil., I, 8, 19; Suet., Div. Iul., 41; Bio, XLIII, 25. Cic., Phil., T, 8, 19; III, 15, 38; V, 3, 7; VIII, 9, 28; Bio, XLIII, 25.

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D'0 grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Caesar und Sallust

im Rahmen des orbis terrarum zustande zu bringen. Von einer einheitlichen und stabilen ökonomischen Basis dieses Imperium konnte selbstverständlich keine Rede sein. Wie die Grundidee seiner Innenpolitik, so waren auch die Methoden ihrer Verwirklichung mit den Prinzipien Sallusts völlig unvereinbar. Aber gerade den grundsätzlichen Charakter der Meinungsverschiedenheiten zwischen Caesar und Sallust hat die bürgerliche Sallustforschung nicht gesehen und nicht erklärt, selbst wenn sie die Verschiedenheit der beiderseitigen Programme zugibt (z. B. EDUARD MEYER u n d

0.

SEEL).

Während Sallusts Ideal die Wiedergeburt der Polis Rom war, war Caesars Ideal ein mächtiges Imperium. Während Sallust es als eine unerläßliche Voraussetzung für die Verwirklichung seines Ideals betrachtete, daß der Senat gestärkt und seine Autorität wiederhergestellt wurde, betrachtete Caesar die Schwächung des Senats als eine unerläßliche Voraussetzung für die Zentralisierung der Macht. Während Sallust schließlich das römische Volk durch die Gründung von gemischten Kolonien und die Beteiligung des Volkes am Staatsleben (wenn auch in sehr engen Grenzen!) erneuern wollte, ging Caesar nur darauf aus, die gesamte freie Bevölkerung des Imperium rechtlich gleichzustellen, ohne auch nur daran zu denken, sie an der Staatsverwaltung zu beteiligen. Caesars Einstellung zu dieser Frage geht deutlich genug aus seiner Popularenpolitik hervor. Seine Politik gegenüber der römischen Plebs war die eines typischen Demagogen. Er war sich über die Notwendigkeit im klaren, seine Popularität in den unteren Schichten der römischen Bürger zu erhalten, aber nichts lag ihm ferner als die Absicht, diese Massen zur Staatsverwaltung heranzuziehen. Daher die rein demagogische Politik der Geschenke für die städtische Plebs, daher die großzügigen Verteilungen bei den Triumphen, daher die charakteristischen Versuche einer Regelung des Schuldenproblems, sein Verhalten zum Aufstand Dolabellas usw. Sobald es sich jedoch um politische Rechte und die Beteiligung am Staatsleben handelt, fällt sofort der antidemokratische Charakter seiner Maßnahmen auf. Dazu gehören auch die lex Iulia iudiciaria und das Edikt über die Auflösung der Kollegien des Clodius. Hier offenbart sich das Wesen seiner Popularenpolitik der demagogischen Konzessionen unter allmählicher Ausschaltung der Volksmassen aus dem Staatsleben. Sallust konnte also aus der Innenpolitik Caesars in den Jahren 50—46 mit ziemlicher Sicherheit die Einsieht gewinnen, daß seine Vorschläge nicht akzeptiert wurden. Wollen wir uns darüber klar werden, wie Sallust Caesars Abweichungen von seinem eigenen politischen Programm aufgefaßt und wie er darauf reagiert hat, so müssen wir uns dem späteren Brief an Caesar zuwenden, der zu einer Zeit geschrieben worden ist, als diese Abweichung ziemlich klar zutage trat und Caesars innenpolitische Tendenz im Grunde bereits entschieden war. Sallusts späterer Brief an Caesar unterscheidet sich im Inhalt, in den Grundgedanken und sogar in der Darstellungsweise wesentlich von dem früheren.

Die römische Gesellschaft in der Darstellung des späteren Briefes

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Zunächst müssen wir feststellen, wie der Niedergang der römischen Gesellschaft in dem späteren Brief geschildert wird. Charakteristische Anzeichen dafür, daß die römische Gesellschaft sich im Zustand der Zersetzung befindet, erwähnt Sallust an den verschiedensten Stellen dieses Briefes. Er spricht von dem maßlosen Luxus und der zügellosen Habgier, die in der römischen Gesellschaft herrschen, von der Verderbtheit der Jugend 1 , von der Korrumpierung des Volkes durch die Geld- und Getreideverteilungen 2 . Vor allem aber geht Sallust in dem späteren Brief auf die Schrecken des Bürgerkrieges ein, deren Schilderung der gesamte Abschnitt 4 gewidmet ist. Er spricht hier von geheimen Morden und Verbrechen, von Massakern größten Ausmaßes, von dem Elend der Frauen und Kinder, von der Verwüstung der Wohnstätten 3 . Sein Zorn wendet sich gegen die, die in diesen schweren Zeiten trotz aller Schrecken des Krieges ihre Tage mit Gelagen, Ausschweifungen und verbrecherischen Vergnügungen verbringen 4 . In solchen Farben schildert Sallust in dem späteren Brief die Zustände in der römischen Gesellschaft seiner Zeit. Es ist leicht zu erkennen, daß diese Zersetzungserscheinungen in dem früheren Brief sehr viel vollständiger und überzeugender geschildert werden. Außerdem war die Schilderung dort „fundierter", da sie die Zersetzung der Gesellschaft mit der Verderbtheit des Volkes und der Schwäche des Senats in Zusammenhang brachte, d. h. in einem gewissen Grade das sich aus ihr logisch ergebende System Sallusts darstellte. Die Schilderung der Zersetzung innerhalb der Gesellschaft in dem späteren Brief ergibt kein durchkomponiertes und in sich abgeschlossenes Bild, sondern beschränkt sich sozusagen auf kräftige, aber doch hastige Pinselstriche, auf eine Reihe von Einzelbeispielen. Aber diese Einzelbeispiele sind nicht systematisch geordnet, sind nicht so gewählt, daß sie bestimmte theoretische Thesen des 1

Sali., Epp. I, 5. Ebenda, I, 7. 3 Ebenda, I, 4: „eheu quam illa occulta civium funera et repentinae caedes, in parentum aut liberorum sinum fuga mulierum et puerorum, vastatio domuum ante partam a te victoriam saeva atque erudelia erant", „wie grauenhaft und unerträglich waren diese geheimen Ermordungen von Bürgern, die überraschenden Gemetzel, die Flucht der Frauen und Knaben zu ihren Eltern oder (ihren erwachsenen) Kindern, die Verwüstung der Wohnstätten, ehe du den Sieg errangst". 4 Ebenda, I, 4: „neque enim te praeterire puto, quali quisque eorum more aut modestia etiam tum dubia victoria sese gesserit quoque modo in belli administratione scorta aut convivia exercuerint nonnuli, quorum aetas ne per otium quidem tales voluptates sine dedecore attingerit", „ich nehme an, daß es dir nicht entgangen ist, wie diese Menschen sieh benommen haben, als es noch ungewiß war, wem sich der Sieg zuneigen würde, und wie sich manche von ihnen mitten im Kriege mit Kurtisanen und Gelagen die Zeit vertrieben haben, obwohl derartige Vergnügungen in ihrem Alter selbst in Friedenszeiten eine Schmach gewesen wären". 2

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Die Reformvorschläge des späteren Briefes

Autors illustrieren könnten, wie es in dem früheren Brief geschehen war. Die Darstellung der Zustände in der römischen Gesellschaft in dem späteren Brief trägt den Stempel der Flüchtigkeit und Hilflosigkeit, und im Grunde wird die Schilderung der Zersetzung innerhalb der römischen Gesellschaft völlig verdrängt durch die Darstellung der Schrecken des Bürgerkrieges, die Sallusts Aufmerksamkeit ganz und gar in Anspruch nehmen. Es läßt sich nur noch die sehr starke Betonung der in Rom herrschenden Sittenlosigkeit als Leitmotiv aller Schilderungen und Betrachtungen in dem späteren Brief feststellen. Im Abschnitt 7 werden die Ursachen der gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen untersucht. Sallust setzt hier auseinander, daß spezielle Studien und Überlegungen über die Gründe des Aufstiegs oder Niedergangs einzelner hervorragender Persönlichkeiten, einzelner Völker und Staaten ihn davon überzeugt haben, daß die Ursache des Aufstiegs stets die Verachtung des Reichtums, die des Niedergangs die Sucht nach Geld, die Gewinnsucht gewesen ist. Der einzelne Mensch wie der Staat kann wahre Größe nur durch sittliche Vervollkommnung erreichen 1 . In dem späteren Brief erscheinen also als Ursachen des Niedergangs die moralische Unvollkommenheit, die sittliche Verderbtheit der römischen Bürger. Diese kurze Formulierung enthält im Grunde den Keim von Sallusts Theorie des Sittenverfalls, den Keim deshalb, weil der spätere Brief noch nicht die Frage beantwortet, wer denn nun der konkrete Träger des Übels ist, durch wessen Schuld es zur Zersetzung der Gesellschaft gekommen ist. Sallust operiert noch mit allgemeinen und abstrakten Kategorien, die noch nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe bezogen werden, sondern für die römische Gesellschaft schlechthin gelten. Wie steht es nun mit dem positiven Programm, d. h. mit den Reformprojekten in dem späteren Brief ? Da der Niedergang und die Zersetzung des Staates sich durch die maßlose Habgier erklären, empfiehlt Sallust in erster Linie die Ausrottung des Luxus und der Geldgier. Sehr bezeichnend ist es, daß sich dies nach Sallusts Ansicht durch eine Wiederbelebung der alten Gesetze und Gebräuche in der Gesellschaft seiner Zeit nicht mehr erreichen läßt, weil die Zersetzung zu weit fortgeschritten ist 2 . Deshalb gibt es nur einen Ausweg, den Sallust auch empfiehlt. Damit jeder sich mit dem Seinen begnügt, muß das Wucherertum ausgerottet werden 3 . Sallust ist sich über die mit der Verwirklichung eines solchen Projektes verbundenen Schwierigkeiten klar, aber die Interessen des Staates lassen diese Maßnahme dringlich erscheinen, und deshalb muß sie durchgeführt werden 4 . 1

Sali., Epp. I, 7. Ebenda, I, 5. 3 Ebenda: „quare tollendus est fenerator in posterum, uti suas quisque res curemus", „deshalb muß der Wucherer ausgerottet werden, damit in Zukunft jeder von uns sich mit seinem eigenen Vermögen begnügt". 4 Ebenda, I, 6. 2

Die Frage des Verhältnisses Sallusts zu Caesar

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Es folgt eine Reihe weniger wichtiger Vorschläge, die Sallust nur aufzählt, ohne sich die Mühe zu machen, sie zu entwickeln und zu begründen. Da ist die Beseitigung des Ämterschachers, der übrigens von selbst aufhören wird, wenn die Geldgier ausgerottet ist, da ist die Rede von Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit in Italien, da soll die Frage der Militärdienstzeit geregelt werden, da finden sich Vorschläge hinsichtlich der Getreide Verteilung an die Veteranen 1 . Mit diesen Vorschlägen ist das neue Reformprogramm, das Sallust in dem späteren Brief vorträgt, erschöpft. Vergleicht man es mit dem Reformprogramm des früheren Briefes, so fällt vor allem auf, daß Sallusts neue Projekte nicht mehr radikal, nicht mehr grundsätzlicher Art sind. Die Reformprojekte des früheren Briefes liefen, wie bereits bemerkt, auf eine grundlegende Reorganisation des gesamten Staates hinaus, die des späteren Briefes bleiben sehr viel mehr an der Oberfläche. Es handelt sich alles in allem um rein praktische Sofortmaßnahmen. Selbst der entscheidende und von Sallusts Standpunkt aus wesentlichste Vorschlag hinsichtlich der Ausrottung des Wucherertums erfordert keineswegs eine Reorganisation des Staates, sondern fügt sich ganz in den Rahmen der bestehenden Ordnung ein. Dadurch unterscheidet sich Sallusts neuer Reformplan radikal von dem in dem früheren Brief vorgetragenen Plan. Zu bemerken ist noch, daß die Reformen nicht systematisch dargestellt sind und der ganze Plan einer einheitlichen Zielsetzung ermangelt, während der Reformplan des früheren Briefes einem bestimmten Ziel diente, nämlich der Erneuerung Roms als Polis. Wie die Schilderung der Zersetzungserscheinungen in der römischen Gesellschaft, so trägt auch das Reformprogramm des späteren Briefes den Stempel der Flüchtigkeit, Zusammenhanglosigkeit und Hilflosigkeit. Das ist kein Zufall. Diese Abschnitte haben in dem späteren Brief offensichtlich nur noch eine Bedeutung zweiten Ranges, und das Hauptanliegen des Autors ist etwas anderes. In diesem Zusammenhang müssen wir uns einer äußerst interessanten Frage zuwenden, für deren Klärung der spätere Brief reichhaltiges und sehr wesentliches Material liefert — der Frage des Verhältnisses Sallusts zu Caesar. Sallusts an Caesar gerichtete Aufrufe füllen gut die Hälfte des späteren Briefes aus. Aber das sind nicht nur Aufrufe, es sind Bitten, Mahnungen, Beschwörungen. Schon die Häufigkeit dieser Mahnungen legt den Gedanken nahe, daß Sallust, offenbar durch die Erfahrung belehrt, durchaus im Zweifel darüber war, ob Caesar seine Ratschläge befolgen würde. Auch der spätere Brief beginnt mit der üblichen captatio benevolentiae und mit einem Loblied auf Caesars Verdienste, doch findet sich gleich am Anfang eine vorsichtige Anspielung, die man auf Caesar selbst beziehen darf. Sallust bemerkt, daß jeder Mensch, der auf dem Gipfel der Macht steht, bei aller Güte und Mildherzigkeit doch die Befürchtung erweckt, er könne seine Macht mißbrauchen, und erläutert dann, warum das so ist. 1

Sali., Epp. I, 8.

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Verhüllte Kritik an Caesar

Derartige Befürchtungen erklären sich nach Sallust dadurch, daß viele Mächtige der irrtümlichen Ansicht sind, ihre Macht sei um so sicherer begründet, je nichtswürdiger die von ihnen Regierten seien 1 . Freilich fügt Sallust alsbald hinzu, Caesar müsse demgegenüber zu erreichen suchen, daß er über Würdigere herrsche, doch ist es sehr wohl möglich, daß er zu solchen Gedankengängen durch die Tendenz und den Charakter der Tätigkeit Caesars schon in den ersten Jahren des Bürgerkrieges veranlaßt worden ist. Dann hebt Sallust auf jede Weise Caesars beneficia hervor, seine Mäßigung während des Krieges, seine Einstellung zu den besiegten Landsleuten 2 . Er ermahnt Caesar, diese Politik auch in Zukunft zu verfolgen, aber schon die Dringlichkeit dieser Mahnungen läßt vermuten, daß Sallust eher das Gegenteil erwartet 3 . Nicht uninteressant ist die Art, in der Caesars Anhängerschaft geschildert wird: das geschieht keineswegs in rosigen Farben. Um Caesar sammelt sich alles mögliche Gesindel, sammeln sich alle, die dem Laster und verbrecherischem Luxus verfallen sind, alle, die „die Gesellschaftsordnung untergraben" möchten 4 . Wiederum stellt Sallust fest, daß Caesar den üblen Gelüsten und Neigungen dieser Menschen nicht nachgibt, weshalb viele sein Lager schon verlassen haben, daß aber doch einige bleiben, und zwar gerade solche, denen das Lager Schutz vor ihren Gläubigern bietet 5 . Das alles sieht aus, als ob Sallust versucht, an Caesar und seiner Umgebung in verhüllter Form Kritik zu üben. Darauf folgen nochmals warnende Bemerkungen der Art, daß eine auf Grausamkeit begründete Macht unsicher und beschwerlich ist, weil derjenige, der vielen Furcht einflößt, selbst in ständiger Furcht lebt. Wer dagegen gütig und milde herrscht, dessen Machtstellung sei unerschütterlich 6 . Sallust gibt sich die größte Mühe, seine These von der gütigen Macht einleuchtend erscheinen zu lassen, und die Schilderung der Schrecken des Bürgerkrieges im Abschnitt 4 dient dem Zweck, diesen Gedanken zu bekräftigen. Im Abschnitt 6 beschwört Sallust Caesar nochmals, seine Macht zum Wohle des Vaterlandes zu gebrauchen, von strengen Urteilen und Strafen Abstand zu nehmen, echte Milde — vera 1 Sali., Epp. I, I: „id eo evenit, quia plerique rerum potentes pervorse consulunt et eo se munitiores putant, quo illei quibus imperitant nequiores fuere", „dies kommt daher, daß die Mächtigen häufig in einem Irrtum befangen sind und sich um so sicherer fühlen, je nichtswürdiger die von ihnen Regierten sind". 2 Ebenda, I, 1. » Ebenda, I, 3; 4; 6 usw. 4 Ebenda, I, 2: „per idem tempus maledictis ineiquorum occupandae rei publicae in spem adducti homines, quibus omnia probro ao luxuria polluta erant, concurrere in eastra tua", „zugleich strömen infolge der Verleumdungen deiner Feinde in deinem Lager Leute zusammen, die die Staatsmacht an sich reißen möchten und sich mit Schande und Ausschweifungen befleckt haben". 5 Ebenda, I, 2. 6 Ebenda, I, 3.

Unterschiede zwischen den Programmen beider Briefe

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dementia — zu beweisen und vor allem darauf bedacht zu sein, die junge Generation moralisch zu erneuern. 1 Der spätere Brief richtet also an Caesar immer wieder die Mahnung, seine Machtstellung nicht zu mißbrauchen, sondern mit Milde zu herrschen und die guten Sitten im Staat wiederherzustellen. Dies alles läßt darauf schließen, daß Sallusts Verhältnis zu Caesar um die Zeit der Abfassung dieses Briefes sich wesentlich geändert hat. Kann man aus dem früheren Brief den Schluß ziehen, daß Caesar damals für Sallust der einzige war, der eine Staatsreform durchführen konnte, und daß Sallust auf ihn in dieser Hinsicht offenbar bestimmte Hoffnungen setzte, so muß man um die Zeit des späteren Briefes von Sallusts Zweifeln an Caesar sprechen, von seiner Unsicherheit, von seiner Enttäuschung über Caesar und seine Politik. Dies wird dadurch bestätigt, daß in Sallusts Beschwörungen unverkennbar mit Proskriptionen gerechnet wird, dies wird durch die Häufigkeit derartiger Beschwörungen bestätigt, dies ist aus den vorsichtigen und verhüllten Anspielungen auf Caesar herauszuhören. So viel über das veränderte Verhältnis Sallusts zu Caesar. Was das Gesamtergebnis betrifft, zu dem man gelangen kann, wenn man Sallusts politische Anschauungen an Hand des späteren Briefes studiert, so ist es sehr leicht bei einem Vergleich mit einigen anläßlich des früheren Briefes getroffenen Feststellungen zu ermitteln. In dem späteren Brief lassen sich, wenn auch mit einigen Einschränkungen, dieselben konstruktiven Abschnitte bemerken wie in dem früheren. Aber trotz dieser äußerlichen und recht bedingten Ähnlichkeit im Aufbau der beiden Briefe ist eine tiefgehende Verschiedenheit ihres inneren Gehalts festzustellen. Vor allem enthält der frühere Brief ein verhältnismäßig durchgearbeitetes politisches System Sallusts, das auf seinem politischen Ideal (Senat und Volk) basiert. Die Bestandteile des früheren Briefes — die Schilderung der gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen, die Analyse der Ursachen dieses Zerfalls, das Reformprogramm — erläutern und entwickeln die entscheidenden Thesen des Systems und werden in genauen Einklang mit dem gesamten System gebracht. Wie Sallusts politisches Ideal, so erfordern auch die Konsequenzen dieses Ideals (das Reformprogramm) eine radikale, prinzipielle Reorganisation des Staates. In dem späteren Brief rückt Sallust in einem gewissen Sinne von seinem bisherigen politischen System ab. Dieses macht sich jedenfalls nicht mehr bemerkbar. Sallusts jetziges politisches Ideal wird nicht klar formuliert. Das Zentralproblem ist nunmehr die moralische Erneuerung der römischen Gesellschaft. Die Lehre von der moralischen Reorganisation der Gesellschaft stellt jedoch noch keine entwickelte Theorie dar, und das gilt auch für die entsprechenden 1

Sali., Epp. I, 6: „neque quisquam te ad crudelis poenas aut acerba iudicia invocat, quibus civitas vastatur magis quam corrigitur, sed uti pravas artis malasque Iubidines ab iuventute prohibeas", „niemand fordert von dir harte Strafen und strenge Urteile, durch die der Staat eher zugrunde gerichtet als wiederhergestellt wird; deine Aufgabe ist es vielmehr, die Jugend von verderblichen Gelüsten und Neigungen zurückzuhalten''.

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Abstrakter Charakter des späteren Briefes

Bestandteile des späteren Briefes. Die Schilderung der gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen, die Untersuchung der Ursachen und das Reformprogramm sind sehr viel weniger durchgearbeitet als die entsprechenden Abschnitte des früheren Briefes. An dem Reformprogramm fällt, wie schon bemerkt, auf, daß die Vorschläge nur die Oberfläche betreffen. Sie setzen keineswegs eine Reorganisation der Gesellschaft voraus, sondern fügen sich völlig in den Rahmen der bestehenden Verhältnisse ein. Sallust verzichtet auf die entscheidenden Vorschläge des früheren Briefes — die Agrarreform und die Reform des Senats —, und alles läuft auf die Ausrottung des Luxus und der Gewinnsucht, auf Maßnahmen erzieherischen Charakters hinaus. Der frühere Brief stützt sich auf konkretes historisches Material. Die Darstellung seines politischen Systems untermauert Sallust durch einen historischen Exkurs, der sich in das Tagesgeschehen organisch einfügt; auch der gesellschaftliche Niedergang wird durchaus konkret geschildert (Verderbtheit des Volkes, Schwäche des Senats). Die Reformprojekte sind klar gegliedert und entsprechen dem gesamten Geist des Briefes. Über den ganzen Brief verteilt sind geschichtliche Tatsachen, Bezugnahmen und Hinweise. Der spätere Brief ist sehr viel abstrakter. Hier fehlen historische Exkurse, und abgesehen von der eher rhetorischen als historischen Abschweifung in bezug auf die Schrecken des Bürgerkrieges enthält der spätere Brief keinerlei historisches Material. Die Schilderung der gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen beschränkt sich auf abstrakte Überlegungen über den moralischen Niedergang „an sich", über den Zerfall der Gesellschaft „im ganzen". Die Reformprojekte bleiben undeutlich, sie bilden kein System. Dabei gewinnt man unwillkürlich den Eindruck, daß Sallust bemüht ist, von den konkreten Tatsachen und Ereignissen, von der lebendigen Wirklichkeit, von dem politischen Kampf und dem Kampf der Parteien auf das Gebiet der „allgemeinen Wahrheiten", die für alle gleich richtig sind, auf das Gebiet allgemeiner Betrachtungen über moralische Vervollkommnung auszuweichen. Schließlich ist es für den früheren Brief charakteristisch, daß dem Verfasser vor allem daran liegt, sein System darzulegen, zu entwickeln und durchzuarbeiten. Wenn er sich in diesem Brief direkt an Caesar wendet, so scheint dies fast nur aus äußerlichen, sozusagen dekorativen Gründen zu geschehen und eher durch die stilistischen Erfordernisse des ovfißovfovzixds koyog (symbuleutikös logos) als durch eigenen inneren Drang bedingt zu sein. Dies bedeutet nicht, daß Sallust sich überhaupt nicht an Caesar wenden wollte, es bedeutet im Gegenteil, daß er noch an Caesar und an seine historische Mission in bezug auf die Wiederherstellung der Republik glaubte. Deshalb enthält der frühere Brief Ratschläge, aber keine Ermahnungen. In dem späteren Brief — und dies ist sehr bezeichnend — ist das Schwergewicht gerade auf die captatio benevolentiae verlegt, auf Ermahnungen, von Proskriptionen Abstand zu nehmen, auf Bitten, vera dementia walten zu lassen. Dies ist offensichtlich der eigentliche Zweck des späteren Briefes, während der theoretische Teil in diesem Brief offenbar von untergeordneter Bedeutung ist.

Sallust gelangt zu neuen Schlußfolgerungen

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Diese Verlagerung des Schwergewichts weist ganz deutlich auf eine Unsicherheit Sallusts hin, auf eine Enttäuschung über Caesar und eine Furcht vor ihm. Sallusts politische Anschauungen erfahren also in der Entstehungszeit des späteren Briefes eine wesentliche Veränderung. Sallust rückt, wie wir festgestellt haben, von seinem früheren politischen System ab, verzichtet also auch darauf, konkrete Schlüsse aus ihm zu ziehen (z. B. sein Reformprogramm zu ändern). In dem späteren Brief spiegelt sich dieser Umschwung in der Entwicklung seiner politischen Anschauungen wider. Darin besteht seine eigentliche Bedeutung. So sieht Sallust sich gezwungen, viele seiner früheren Überzeugungen, seiner bisherigen Ansichten und Sympathien preiszugeben. Da aber diese Preisgabe sehr konkrete Gründe in den Geschehnissen der Jahre 50 bis 46 hat, ist Sallusts Neigung, sich von dieser konkreten Wirklichkeit, die ihm nur Enttäuschungen bringt, zu distanzieren, durchaus verständlich, ist sein Interesse für abstrakte Konstruktionen, für die Lehre von der moralischen Vervollkommnung und vom Sittenverfall, in dem er die Erklärung dafür sieht, daß einzelne Persönlichkeiten und ganze Völker zugrunde gehen, höchst charakteristisch. In diesem partiellen Verzicht auf alte Überzeugungen, in diesen Zweifeln und dieser Unsicherheit, in dieser Neigung zu Abstraktionen kommt die Veränderung seiner politischen Anschauungen in der Entstehungszeit des späteren Briefes zum Ausdruck. Abschließend ist jedoch festzustellen, daß dieser Zustand der politischen Unsicherheit und Niedergeschlagenheit bei Sallust nur vorübergehend war. Sallust wurde keineswegs zum leidenschaftslosen und enttäuschten Zeugen des Geschehens, zum über den Parteien stehenden Betrachter. Der Zusammenbruch seiner früheren Ideale führte ihn vielmehr in ein anderes Lager. Er fand die Kraft, sein System umzubauen und zu neuen Schlußfolgerungen zu gelangen. Schon der spätere Brief selbst enthält einige Voraussetzungen für die Erneuerung seiner politischen Aktivität. Die in dem späteren Brief zum erstenmal angedeutete Theorie des Sittenverfalls wird allmählich mit ganz konkretem Inhalt erfüllt. Sie wird für ihn zur Waffe in dem Kampf gegen seinen politischen Hauptfeind, gegen die römische Nobilität.

U t t s c h e n k o , Der politische Kampf in Rom

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ZWEITES KAPITEL

DIE THEORIE DES SITTENVERFALLS UND IHRE POLITISCHE BEDEUTUNG Die Lehre, daß die Zerrüttung des Staates auf den Verfall der Sitten zurückzuführen sei, war in den höheren Kreisen der römischen Gesellschaft außerordentlich verbreitet. Sie hatte einen bestimmten politischen Sinn und eine politische Tendenz und diente den verschiedensten römischen Politikern als Waffe im Parteikampf. Ganz abgesehen von Cato, der im Geiste dieser Theorie nicht nur dachte, sondern auch praktisch handelte, finden sich ähnliche Anschauungen bei mehreren Historikern und Moralisten, z. B. bei Livius und Valerius Maximus. In ein mehr oder weniger geschlossenes System brachten diese Anschauungen zum erstenmal die Vertreter der hellenistischen Philosophie in Rom, Polybios und Poseidonios. Da aber die erhalten gebliebenen Fragmente des Poseidonios nur eine unvollständige Vorstellung von dieser Lehre ermöglichen, kann man sagen, daß die Theorie des Sittenverfalls am vollständigsten und klarsten in den historischen Schriften Sallusts (der zweifellos von Polybios und Poseidonios beeinflußt worden ist) zum Ausdruck gelangt, z. B. in der „Verschwörung Catilinas". Hervorgerufen wurde die Krise der altrömischen Ideologie und insbesondere der altrömischen Moral, wie bereits bemerkt1, durch die Krise der Polis, die ihrerseits dadurch akut geworden war, daß sich die inneren Widersprüche der römischen Sklavenhaltergesellschaft verstärkten. Auf ideologischem Gebiet spiegelte sich diese Krise eben in dem „Verfall der Sitten" wider, der sich in dem Bruch mit den Traditionen, in der Abkehr von den alten moralischen Werten und Grundsätzen äußerte. Die herrschende Oberschicht der Sklavenbesitzer konnte ihre materielle und moralische Überlegenheit mit den ideologischen Maßstäben, die sich in der kleinen latinischen Gemeinde herausgebildet hatten und auf deren Bürger zugeschnitten waren, nicht mehr bewahren. Deshalb gerät die altrömische „Moral" in eine gewisse Krise, seit der römische Staat den Rahmen der Polis gesprengt hat, über die Grenzen Italiens hinausgreift und sich zu einer Großmacht im Mittelmeerraum entwickelt. So viel über die Krise der altrömischen Moral. Jetzt wollen wir untersuchen, welchen Niederschlag diese sozialen Erscheinungen in der römischen Literatur oder, genauer gesagt, in der römischen Historiographie gefunden haben. 1

Siehe oben, S. 49—51.

Polybios' Aneicht über den Sittenverfall

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Bei vielen Autoren finden sich über den Verfall der Sitten in der römischen Gesellschaft nur kurze Bemerkungen, die aber doch erkennen lassen, wie die Römer selbst den Beginn dieses Prozesses datiert haben. So war Fabius Pictor nach Strabo1 der Ansicht, die Römer hätten zum erstenmal in der Zeit des dritten Samnitenkrieges, nach der Unterwerfung der Sabiner, „den Reichtum kennengelernt". Valerius Maximus8 spricht von der Neigung zu einer weniger strengen Lebensauffassung, die sich nach dem Ende des zweiten Punischen Krieges (im Jahre 201) bemerkbar gemacht habe. Livius3, dessen Quelle in diesem Falle schwer feststellbar ist (jedenfalls schöpft er nicht aus Polybios, wie sich gleich zeigen wird) meint, daß die Truppen bei ihrer Rückkehr aus Asien (im Jahre 187) den Samen der Verschwendungssucht nach Rom mitgebracht haben. Polybios selbst4 vertritt den Standpunkt, daß die alte Bescheidenheit und Sparsamkeit infolge des Krieges gegen Perseus (im Jahre 168) dahingeschwunden ist. Poseidonios läßt die Niedergangszeit mit der Zerstörung Karthagos (im Jahre 146) beginnen, und hierin folgen ihm Sallust5 und später Vellerns Paterculus6. Die Datierung des beginnenden Sittenverfalls schwankt also zwischen den Jahren 290 und 1467. Doch besagen diese Angaben an sich nicht viel. Den ersten Versuch, die Frage des Sittenverfalls in einem umfassenderen Sinne zu stellen und die geschichtlichen Gründe dieser Erscheinung zu untersuchen, hat Polybios gemacht. Im Rahmen einer Überlegung8 sagt er: „Wenn ein Staat viele und große Gefahren abgewehrt hat und dann zu unbedingter Überlegenheit und Macht gelangt ist, pflegt offenbar die Folge dessen, daß sich in ihm weithin Wohlstand verbreitet, die zu sein, daß die Lebensweise der einzelnen immer anspruchsvoller wird und die Menschen bei ihrem Trachten nach Ämtern und bei jeglichen anderen Unternehmen größeren Ehrgeiz zu entwickeln beginnen, als es angebracht ist. Im weiteren Verlauf einer solchen Entwicklung geben Herrschsucht und der Vorwurf des schlechten Rufes den Anstoß zum Niedergang, und außerdem Prahlerei und Prunk im Privatleben . . Zum Schluß entwickelt Polybios den Gedanken, daß ein durch die