Der Weg zur Meisterschaft: Anleitung zur Musterhaften Führung von Schachpartien [2., verb. u. vermehr. Aufl. Reprint 2020] 9783112348789, 9783112348772

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German Pages 262 [264] Year 1913

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Der Weg zur Meisterschaft: Anleitung zur Musterhaften Führung von Schachpartien [2., verb. u. vermehr. Aufl. Reprint 2020]
 9783112348789, 9783112348772

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Anhang

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Nachbildung untersagt.

Photographie von Zander & Labisch in Berlin

Ich habe den Glauben an die Kraft. Ich glaube, daß das Kräftige auch schön sei.

DER W E G ZUR M E I S T E R S C H A F T ANLEITUNG ZUR MUSTERHAFTEN FÜHRUNG VON SCHACHPARTIEN AUF NEUER GRUNDLAGE VON

F. G U T M A Y E R Motto: Noch ist es Tag, da rühre sich der Mann! Die Nacht bricht ein, wo niemand wirken kann. Goethe.

ZWEITE, VERBESSERTE UND VERMEHRTE AUFLAGE

MIT

EINEM

TITELBILD

6 ABBILDUNGEN IM T E X T UND

302

DIAGRAMMEN

LEIPZIG V E R L A G VON V E I T & COMP.

1913

Druck von Metzger & Wittig ili Leipzig.

DEM GEISTVOLLEN SCHACHAMATEUR

HERRN CARL SCHULTZ ZU H A N N O V E R

IN TREUER FREUNDSCHAFT GEWIDMET

Widmung. Noch scheint uns die Sonne, Noch lacht uns die Welt, Es wird uns von Wonne Das Herz noch geschwellt. So wollen wir streben Die Kunst zu verbreiten, Solange das Leben Nicht droht zu entgleiten. F. G.

Vorwort Weite Welt und breites Leben Langer Jahre redlich Streben, Stete geforscht and stets gegründet, Nie geschlossen, oft gerfindet, Ältestes bewahrt mit Treue Freundlich aufgefaßtes Neue, Heitren Sinn und reine Zwecke: Nunl man kommt wohl eine Strecke. Goethe.

Nach zwölfjährigem Schweigen ist es mir vergönnt, noch einmal mit meinen Anschauungen und Meinungen vor das große Publikum zu treten. Ich nehme die Gelegenheit wahr, alles zu sagen, was ich auf dem Herzen habe; weiß ich doch nicht, ob sie mir noch einmal lacht. Ich stehe auf dem gleichen Standpunkt wie vor zwölf Jahren. Was mir damals nur dunkel vorschwebte, das ist heute durch eine reiche Erfahrung vielfach erprobt und erwiesen. Man wird daher vieles, was in der ersten Auflage nur angedeutet war, nun völlig ausgebaut und klar ausgesprochen finden. Die Opferlehre ist ganz neu, ebenso die wichtigen Abschnitte über Motive, Treibzüge u. a. mehr. In den Beispielen ist versucht, eine Auslese der besten Konzeptionen des Schachgeistes durch den Lauf der ganzen Schachgeschichte zu geben. Das Buch wird dadurch zugleich eine Anthologie glänzender Schachkombinationen. Um alten Freunden, Verehrern, Anhängern eine frohe Überraschung zu bereiten, ist als Zugabe am Schluß eine Reihe kurzer Betrachtungen über das Turnierspiel geboten, meiner eigenen zwanzigjährigen Turnierpraxis entnommen, sowie Aussprüche und

VI

Vorwort.

Ratschläge großer Turnierhelden. Das Thema ist für jeden Schachspieler von hohem Interesse und eigenem Reize. Ich wüßte nicht, daß derlei Aphorismen, in der Form wie ich sie gebe, schon da wären. Ich hoffe, mit dieser Zugabe vielen Turnierfahrern große Freude zu machen. Partien konnte ich nur wenige bringen, da ich vieles Wichtige zu sagen hatte. Zudem war es nicht nötig. Zwei treffliche Partiensammlungen von den beiden größten Schachhelden, welche die Welt kennt, stehen zu Gebote: Das berühmte Morphybuch von G e z a M a r ö c z y und das gleichbedeutende Anderssenbuch von H. v. G o t t s c h a l l (beide im Verlag von V e i t & Comp», Leipzig, erschienen). Hier findet der Schachjünger viele großangelegte, genial durchgeführte Partien, die Vergnügen und Belehrung gewähren; an diese halte er sich. Außerdem wird er gut tun, den Schatz geistvoller Kombinationen, die dieses Buch ihm bietet, durch selbsteigene Sammlung neuer bedeutender Stellungen, wie sie ihm in seiner Schachpraxis aufstoßen, zu vermehren und sie immer gleich in die betreffende Rubrik einzureihen. J e fleißiger er hierin ist, um so tiefer wird er in Bedeutung und Sinn der einzelnen Phänomene eindringen. — D a s S c h a c h i s t ein e m i n e n t p h i l o s o p h i s c h e s S p i e l . Es regt den Geist an, erfordert eine hohe Selbstbeherrschung, ein strenges Maßhalten, einen großen, weiten Überblick und wird gewonnen oder verloren nicht durch Zufälligkeiten, sondern nur durch gute oder schlechte Führung der Steine. Scharfsinn, Beobachtungsgabe, Urteilsfähigkeit und Gedächtnis werden gleichmäßig in einem hohen Grade ausgebildet. Auch auf den Charakter übt das Schach einen wohltätigen, veredelnden Einfluß aus. Wer seine beste Mußezeit opfert, die Rätsel und Wunder, die Tiefen und Schönheiten zu ergründen, an denen dieses königliche Spiel so reich ist, der wird nicht leicht genußsüchtig oder habgierig und selbstsüchtig werden können. Das Schach wird ihn lehren, daß die lauteren, reinen Freuden des Geistes himmelhoch die Lust und das kurze Wohlgefühl über-

Vorwort.

VII

ragen, das sinnliche Genüsse oder alle jene Zeitvertreiblingsmittel gewähren, die im Geldgewinn ihren Hauptanreiz haben, an und für sich aber geistig hohl und nichtssagend sind, wie z. B. das Kartenspiel. Und so groß ist der Zauber, den das Schach auf edle Geister auszuüben vermag, daß man mit Fug und Recht behaupten kann, es gibt auf der ganzen, weiten Erde kein Kulturfleckchen, wo nicht warme, begeisterte Anhänger desselben zu finden wären. Überall in der Welt, wohin auch sein Weg führe, findet der Schachfreund ein heimisches Plätzchen, und überall strecken sich ihm Brüderhände zum herzlichen Willkommen entgegen. Ja, das Schach ist kosmopolitisch wie irgendeine Kunst oder Wissenschaft, und der Schachspieler ist gerade wie der Philosoph Weltbürger. Man hat die Frage aufgeworfen, ob das Schach nur ein Spiel sei oder eine Kunst, und ob es eine wissenschaftliche Behandlung zulasse. Das hängt ganz von der Persönlichkeit und den Intentionen des einzelnen Schachspielers ab; jedenfalls sind im Schach alle drei Richtungen zu finden. Für die meisten Schachspieler, die das Schach nur als Erholungsmittel nach ernster Berufsarbeit pflegen und weder ein zulängliches Talent, noch auch ein ausgesprochenes Bedürfnis haben, in seine Tiefen mit Erfolg einzudringen, ist es allerdings nur ein Spiel. Wenn aber der geniale Schachmeister mit schöpferischer Gestaltungskraft die kühnsten Figurengruppierungen auf dem Brett hervorruft, so ist damit das Wesen der Kunst getroffen. Im Schach vollzieht sich alles nach bestimmten, unwandelbar festen Gesetzen, und nirgends ist der Willkür ein Spielraum gelassen. Von Anfang bis zum Schluß der Partie besteht eine fortlaufende Kette von Ursachen und Wirkungen. Es kann kein Zweifel sein: es ist einer wissenschaftlichen Behandlung fähig. Ein großer Schachphilosoph des Tages nennt es einen Kampf. Auch er hat Recht. Ist doch das Schach vielseitig wie das Leben und spielt sich wie dieses durch Zusammenwirken

VIII

Vorwort.

und Gegenwirken verschiedenartiger Kräfte in Zeit und Kaum ab. Das Eigentümliche des Schachs liegt aber dem Begriff Kunst ungleich näher. In neuerer Zeit, bei der zunehmenden Verbreitung des Schachs über alle Volksschichten, hat sich noch eine weitere Richtung geltend gemacht, nämlich die, es als Brotstudium zu pflegen. Auch diese rein weltliche Richtung hat manches Gute geleistet. Die Professionsspieler tragen zur Anregung des Schachlebens sehr viel bei dadurch, daß sie teils wie Rezitatoren die größeren Schachklubs aller Länder besuchen und öffentliche Vorstellungen geben, teils als Schachgladiatoren gegeneinander in die Arena treten. — Sollte ich mit diesem Buche zur Verbreitung, Schätzung, praktischen Ausübung des königlichen Spiels auch meinen bescheidenen Teil beitragen, so ist mein Herzenswunsch erfüllt. I n n s b r u c k - M ü h l a u , im Jänner 1913.

Franz Gutmayer.

Inhalt. Einleitung.

Seite 1

.

Erster Teil. Erstes Kapitel.

Zweck der Schachpartie

5

Vom Zuge überhaupt

7

Zweites Kapitel. Drittes Kapitel.

Von den zwei Haupttendenzen jedes Zuges . . . .

Viertes Kapitel.

Von den Hemmungen überhaupt

Fünftes Kapitel.

Die Verstellungshemmung

Sechstes Kapitel.

12

Die Drohhemmung

Siebentes Kapitel. Achtes Kapitel.

8 10 17

Die Bindehemmung

22

Die Fesselhemmung

26

Neuntes Kapitel.

Die Zeithemmung

28

Zehntes Kapitel.

Die Bandhemmung

35

Elftes Kapitel.

Schlußbetrachtung zu den Hemmungen der Figuren

Zwölftes Kapitel.

.

37

.

39

Von den Befreiungen der Figuren überhaupt . . .

Dreizehntes Kapitel.

Die Wegebefreiung

Vierzehntes Kapitel.

Beispiele für die Wegebefreiung

Fünfzehntes Kapitel. Sechzehntes Kapitel. Figuren Siebzehntes Kapitel.

.

.

38 41

Die Selbstbefreiung Schlußbetrachtung

46 zu

den

Befreiungen

der 48

Von den guten und schlechten Tendenzen unserer

Züge Achtzehntes Kapitel.

.

48 Von Fehlern überhaupt

51

Neunzehntes Kapitel.

Hemmungsfehler

53

Zwanzigstes Kapitel.

Befreiungsfebler .

57

Einundzwanzigstes Kapitel.

Schutzfehler

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X

Inhalt.

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Über Schlagzüge Dreiundzwanzigstes Kapitel. Über Opfer Überhaupt Vierundzwanzigstes Kapitel. Von den zwei verschiedenen Opferarten Fünfundzwanzigstes Kapitel. Beispiele von reinen Opfern . . . . Sechsundzwanzigstes Kapitel. Über Tauschopfer und Tauschzüge . . Siebenundzwanzigstes Kapitel. Beispiele über Tauschopfer und Tausche Achtundzwanzigstes Kapitel. Von den Treibzügen überhaupt . . . Neunundzwanzigstes Kapitel. Von den verschiedenen Arten der Treibzüge Dreißigstes Kapitel. Beispiele zu den Treibzügen Einunddreißigstes Kapitel. Zusammenstellung und Übersicht aller Richtmaße gegen die falschen Spieltendenzen Zweiunddreißigstes Kapitel. Schlußwort zum ersten Teil

Seite

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Zweiter Teil. Erstes Kapitel. Von den Stellungen überhaupt Zweites Kapitel. Das Zusammenwirken der Figuren in den Stellungen Drittes Kapitel. Das Gruppierungsbild der Figuren in den Stellungen Viertes Kapitel. Die Hauptarten schlechter Stellungen Fünftes Kapitel. Beengte Stellungen Sechstes Kapitel. Kritische Stellungen - . . . 1 Siebentes Kapitel. Geschwächte Stellungen Achtes Kapitel. Gemischte Stellungen Neuntes Kapitel. Über die Einheit aller Stellungen Zehntes Kapitel. Einige Bemerkungen über den Positionsblick . . Elftes Kapitel. Von der Beurteilung der Stellungen in der Praxis Zwölftes Kapitel. Von den schwachen Punkten der Stellung . . . Dreizehntes Kapitel. Über die Motive Vierzehntes Kapitel. Schlußbetrachtungen zum zweiten T e i l . . . .

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Dritter Teil. Erstes Kapitel. Über die Eroberung von Figuren Zweites Kapitel. Das Eroberungsgesetz Drittes Kapitel. Ein Fall, wo das Schachgesetz scheinbar nicht anwendbar ist

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Inhalt. Viertes Kapitel. Der Schach- oder Eroberungsprozeß Fünftes Kapitel. Das Wesen des Schachprozesses Sechstes Kapitel. Die Hauptarten des Schachprozesses . . . Siebentes Kapitel. Der Umdrohungsprozeß . . . . Achtes Kapitel. Der Fesselprozeß Neuntes Kapitel. Der Bindeprozeß Zehntes Kapitel. Der Verstellungsprozeß . . . . . . . . Elftes Kapitel. Der Zeitprozeß Zwölftes Kapitel, worin es sich um den Besitz wichtiger Punkte handelt Dreizehntes Kapitel. Schlußbetrachtung zum Schachprozeß . . . . Vierzehntes Kapitel. Über das harmonische Spiel oder Zusammenspiel der Figuren Fünfzehntes Kapitel. Über die Aufbesserung kranker Stellungen . . Sechzehntes Kapitel. Die Guterhaltung unseres Spieles Siebzehntes Kapitel. Die Partie und ihre Hauptphasen Achtzehntes Kapitel. Von den Eröffnungen überhaupt Neunzehntes Kapitel. Die zwei Haupttendenzen bei der Eröffnung . Zwanzigstes Kapitel. Offene und geschlossene Spielweise Einundzwanzigstes Kapitel. Das Wesen der Eröffnung Zweiundzwanzigstes Kapitel. Die Öffnung des Bauernwalls . . . . Dreiundzwanzigstes Kapitel. Herausführen der Figuren auf freies Feld Vierundzwanzigstes Kapitel. Das Bauernopfer in der Eröffnung . . Fünfundzwanzigstes Kapitel. Das Wesen des Mittelspiels Sechsundzwanzigstes Kapitel. Der Durchbruch der feindlichen Stellung Siebenundzwanzigstes Kapitel. Beispiele für den Durchbruch im Mittelspiel Achtundzwanzigstes Kapitel. Das Wesen des Endspiels Neunundzwanzigstes Kapitel. Der Durchbruch des Bauern im Endspiele Dreißigstes Kapitel. Beispiele für den Durchbruch des Bauern zur Dame Einunddreißigstes Kapitel. Die Metamorphose des Bauern . . . . Zweiunddreißigstes Kapitel. Zwei unheimliche Faktoren des Endspiels Dreiunddreißigstes Kapitel. Über das Patt Vierunddreißigstes Kapitel. Beispiele zum Patt Fünfunddreißigstes Kapitel. Über den Zugszwang Sechsunddreißigstes Kapitel. Kurzer historischer Überblick . . . . Siebenunddreißigstes Kapitel. Schlußwort zum dritten Teil . . . .

XI Seite

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Inhalt.

Anhang. A p h o r i s m e n : A u s s p r ü c h e und R a t s c h l ä g e A) Zum Schachspiel B) Zum Tumierspiel 1. Vorbereitung zum Turnier 2. Turnierfahrt 3. Turnierkampf 4. Turniergegner C) Zum Matschspiel D) Kurze Gespräche Quellen zu den Aphorismen Bilder Nachlese: Zusätze und Nachträge

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Einleitung. Ein jeglicher muß seinen Helden wählen, Dem er die Wege zum Olymp hinauf Sich nacharbeitet. G o e t h e , Iphigenie.

Kann es eine dankbarere, erfreulichere Aufgabe geben, als einen sicheren Weg zu zeigen, die Meisterschaft im Schach zu erwerben? Wie viele Spieler streben nach ihr mit heißer Sehnsucht und ernstem Eifer, wie wenige erringen sie! Die meisten bleiben auf einer gewissen Stufe der Spielstärke stehen und kommen nicht darüber hinaus, trotz allem Fleiß und aller Mühe. Wenige, sehr wenige erreichen das vielumworbene, langerwünschte Ziel, machen sich stolze Namen in der Schachwelt, gewinnen hohe Geldpreise und finden überall Gönner und Mäzene. Woran liegt das? Viel am Mangel an Talent, der nicht zu ersetzen ist durch Fleiß und Ausdauer; aber in vielen Fällen ist auch der Mangel an einer richtigen Methode, die das Studium leitet, am Mißerfolg schuld. Vor allem zersplittern die meisten Schachjünger ihre Kräfte. Ohne Auswahl studieren sie alle berühmten Meister des Tages, nehmen sie zum Vorbild, und so bleiben sie auf der Oberfläche haften und steigen nicht in die Tiefe nieder. Weise Beschränkung ist hier das unbedingte Erfordernis zu jedem wahren Fortschritt; der Schachjünger muß e i n e n Meister wählen, zu dem ihn Bewunderung und Liebe besonders hinziehen, und den allein muß er sich zum Vorbild nehmen, alle anderen aber ganz beiseite lassen, solange er sich nicht ganz klar ist über alle Motive, die jedem Zuge dieses Meisters zugrunde liegen. Nur so kann er in die Tiefe, in den Geist des Schachspiels mit Erfolg eindringen, und wenn er so mit Fleiß und Ausdauer die Intentionen dieses Meisters bei allen Zügen erforscht, so wird der Tag kommen, wo es ihm wie Schuppen von den Augen fällt, wo er zu einer reinen, tiefen, klaren Anschauung durchdringt, ohne welche im Schach kein wahrer Fortschritt und keine gute Leistung denkbar sind. G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl. •

1

2

Einleitung.

Das Studium rein analytischer Werke genügt, wie viele glauben, durchaus nicht. Die, welche diesen Weg einschlagen, beschweren ihr Gedächtnis mit einem in der Praxis meist unnützen Kram von Eröffnungs- und Endspielformeln, die immer nur auf einzelne Fälle anwendbar sind, aber das Positionsverständnis, den Positionsblick, der allein den Meister von der großen Zahl der Schachstümper unterscheidet, lernen sie hieraus nicht. Worauf kommt es also an? Darauf, sehen zu lernen, das Auge zu üben, die Verhältnisse und Beziehungen, die zwischen den Figuren in jeder Stellung walten und den Charakter derselben ausmachen, zu durchblicken. Vom ewigen Reiz der mannigfachen, wechselvollen Bilder angezogen, gefesselt, den Blick eintauchen in die Stellung; die zahllosen Wirkungen und Gegenwirkungen der Figuren aufeinander, selbstlos, absichtslos auf sich einwirken lassen, bis jeder Schleier fällt, die Stellung kein Geheimnis mehr hat, das nenne ich Anschauung, Intuition. Anschauung ist die Basis jeder tiefen Erkenntnis, die auf den Grund der Dinge geht, das Wesen, das Charakteristische derselben erfaßt. Sie ist die ausgesprochene Gabe des Genies. Tiefe und Klarheit zeichnen sie aus. Wo der Grübler mühsam Chancen gegen Chancen abwägt, zahllose Varianten durchstöbert nach günstigen Motiven, um in dem Labyrinth der Möglichkeiten zuletzt doch zu scheitern, hat ein tiefer Blick in die Stellung dem Genie alles dargetan, was sie enthält und was aus ihr folgt. Er ist der Adler, der in den Höhen kreist, der andere der Maulwurf, der im Boden gräbt. Auch Morphy wird diese Gabe schon in frühester Jugend nachgesagt. So schreibt sein Oheim: „Mein Neffe, der junge Paul Morphy, ist erst zwölf Jahre alt. Dieses Kind hat niemals ein Schachlehrbuch in die Hand bekommen, er hat das Spiel von selbst erlernt, indem er den unter den Mitgliedern der Familie gespielten Partien beiwohnte." — „In der Eröffnung trifft er die richtigen Züge, wie durch I n s p i r a t i o n ; man staunt über die Sicherheit seiner Kombinationen im Mittel- und Endspiel." Also Anschauung, und nur Anschauung, klare, tiefe Anschauung ist das Arkanum, das den Meister macht, nur dadurch unterscheidet er sich von dem Schachstümper, wie auch nur dadurch der eine Meister über dem anderen steht.

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Einleitung.

Das Schachspiel ist vor allem ein Anschauungsspiel, die Reflexion spielt darin immer nur eine nebensächliche Rolle. Die Ideen müssen geschaut werden, das Rechnen dient nur als Probe für ihre Richtigkeit und Durchführbarkeit. Die meisten Schachspieler sind eigentlich blind; der Stümper übersieht nicht einmal die Wirkungsphäre einer einzigen Figur, aber auch der sogenannte starke Spieler ist oft noch weit davon entfernt, das ganze Brett mit allen Beziehungen und Verhältnissen der Figuren, die darauf stehen, mit klarem Blicke zu überschauen, gibt sich bei einem Zuge leicht mit dem einen oder anderen Motive zufrieden und ist für die übrigen, unauffälligeren blind. Daher die vielen schwachen Züge, die vielen Fehler, daher die steten unliebsamen Überraschungen und Enttäuschungen, daher die Abgründe, die sich plötzlich vor dem Spieler auftun und ihn verschlingen. Anschauung, tiefe, intensive Anschauung aller Beziehungen und Verhältnisse der Figuren zueinander und zum Brette allein befähigt zu guten, tüchtigen Leistungen im Schachspiel, weil nur auf diese Weise alle Motive, die in einer Stellung liegen, erkannt und auf ihren Wert und Unwert geprüft werden können. Jeder wirklich gute, starke Zug setzt eine genaue, sorgfältige Prüfung und Auswahl der Motive voraus, sonst ist das ganze Spiel nur ein Tappen im Dunkeln, das nur zu immer neuen Verlegenheiten, Mißerfolgen und sicheren Niederlagen führen kann. Geht es denn in anderen Künsten nicht ebenso ? Der Maler sieht in einer Landschaft viel mehr Details als der Laie oder Dilettant, ebenso der Bildhauer au einer Figurengruppe; aber sie alle mußten erst ihren künstlerischen Blick bilden, mußten die Motive, die in den Kunstwerken enthalten sind, sehen lernen, durch inniges, ernstes Studium eines großen Meisters, vorher waren sie auch blind dafür. Ich habe dem nach Vollkommenheit und Klarheit ringenden Spieler empfohlen, nur e i n e m Meister sich anzuvertrauen. Lasse er M o r p h y diesen Meister sein, nach Aneignung der Grundsätze einer richtigen, gesunden Spielführung aus meinem Buche. Nicht allein, weil dieser Meister in seinen praktischen Leistungen alle anderen weit überragt, sondern weil er die intensivste Anschauungskraft besessen hat, die im Schachspiel bisher erreicht wurde. Er ist deshalb auch der objektivste Schachmeister aller Zeiten; seine Spielführung ist durchaus klassisch und er erreicht in den meisten seiner Partien das höchste Ideal des Schachspielers: das harmonische, volle Zusammenwirken aller seiner Figuren. Das Studium 1*

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Einleitung.

seiner Partien ist deshalb ganz besonders lehrreich und bildend und dem jedes anderen Meisters weit vorzuziehen, weil er vielleicht der einzige Meister ist, der sich von allen falschen Tendenzen in seiner Partieführung fast ganz freizuhalten wußte, worin auch der letzte Grund seiner großartigen Leistungen und Schachtaten und seiner Unbesiegbarkeit zu suchen ist. M o r p h y war durchaus eine Künstlernatur. Das Wesen der Schachkunst in glänzenden, ewig jungen, immer neuen Bildern darzustellen, war sein Streben, sein Vergnügen und sein Lohn zugleich. Wie dem großen Maler jeder Pinselstrich, dem wahren Dichter jedes Wort, so war ihm jeder Zug bedeutsam. Er ließ sich nie gehen, wie andere Meister. Er suchte immer den Zug, der ihm zur Gestaltung typischer, das Wesen des Schachspiels klarspiegelnder Bilder der kräftigste, wirkungsvollste schien. And'erssen sagt von ihm in einem Briefe: „Er behandelt das Schach mit dem Ernste und der Gewissenhaftigkeit eines Künstlers, denn wenn für uns die Anstrengung, die eine Partie kostet, nur eine Sache des Vergnügens ist, und sie bei uns auch nur so lange anhält, als sie Vergnügen gewährt, so ist sie ihm dagegen eine heilige Pflicht und nie ist ihm eine Partie Schach bloßer Zeitvertreib, sondern immer ein würdiges Problem, immer gleichsam Berufsarbeit, immer gleichsam ein Akt, durch welchen er seine Mission erfüllt." M o r p h y war kein Rechner, kein Grübler, kein sogenannter Spieler von Kopf; er hatte die Gabe aller großen Genies, die Fähigkeit intuitiver Erkenntnis, in höchstem Grade. Er wog •seine Züge nicht ab, er sah sie einfach, deshalb spielte er auch außerordentlich schnell. Anderssen sagt noch: „Er schien den richtigen Zug immer gleich zu sehen und nur aus bloßer Höflichkeit für den Gegner mit dessen sofortiger Ausführung zu zögern." Man kann ihn mit keinem anderen Schachmeister vergleichen, weil bei ihm der künstlerische Sinn, das Streben nach Gestaltung vollendeter Bilder übermächtig dominierte und alle anderen Rücksichten weit überwog. Und so wirkt er, obgleich längst geschieden, fort und fort bis auf die spätesten Nachkommen als eine Leuchte für jeden echten Schachjünger, der nach Klarheit ringt, als ein klassisches Vorbild allen ähnlich beanlagten und ihm verwandten Geistern. „Es wird die Spur von seinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen" (Goethe).

Erster Teil. Erstes Kapitel. Zweck der Schachpartie. Beginn nur alles mit Bedacht, führ alles mit Bestand; Was drDber dir begegnen mag da nimm Geduld zur Hand. Logau.

Der Zweck der Partie ist, wie die Lehrbücher sagen, den feindlichen König mattzusetzen. Durch, diese Auffassung wird das ganze Streben des Schachjüngers von vornherein in eine falsche Richtung gedrängt. Kann man ein Ziel sich vorsetzen, dessen Erreichung gar nicht oder nur bedingtermaßen, nur unter Umständen in unserer Macht steht, die gar nicht von uns abhängen? Das Matt aber, wie alle Ausgänge der Partie überhaupt, steht nie allein in unserer Gewalt. Der Gegner muß uns erst durch schlechte Züge Veranlassung und Gelegenheit gegeben haben. Wer durchaus auf Gewinn spielt, verliert zumeist, aber ebenso der, welcher durchaus auf Remis spielt. Das Matt ist das Ideal, dem jeder passionierte Spieler mit allen Kräften seiner Seele zustrebt. Er wünscht, er hofft, aber er vermißt sich nicht, es zu erzwingen. Das wahre, echte Ziel muß aber in seiner Macht stehen. Was steht aber dann eigentlich ganz in unserem Vermögen? Nicht m a t t zu werden, die Partie nicht zu verlieren; jeder Verlust der Partie setzt einen oder mehrere schlechte Züge voraus. Wir müssen daher stets bedacht sein, unsere Stellung intakt und gesund zu erhalten; das eigentliche Ziel der Partie ist stete Positionsverbesserung, die Erreichung eines möglichst vollkommenen Zusammenspiels unserer Figuren. Wenn ich immer den stärksten Zug auswähle, der meine Stellung verbessert oder gut erhält, so bin ich sicher, die Partie nicht zu verlieren, bin unüberwindlich; ob ich den Gegner besiegen

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Erster Teil.

werde, ist eine andere Frage. Wenn er mir durch schwache Züge Motive gibt, das Zusammenspiel seiner Figuren zu verhindern, seine Stellung zu zerrütten, dann gewinne ich, falls es meiner Geschicklichkeit gelingt, die Fehler meines Gegners richtig auszunutzen. In der Praxis wird nun fast jeder Spieler sich mehr oder weniger starke Blößen geben, und so kann man ja sagen: bei den meisten Partien ist der Ausgang das Matt bzw. der Gewinn. Aber dies ist nur die Folge unvollkommener, falscher Tendenzen der ganzen Spielführung, die nimmer den Maßstab bilden können für ein musterhaftes Partiespiel. Wir müssen uns vor allem klar werden, daß es wohl in unserer Macht steht, einen guten Zug zu machen, aber keineswegs den Gegner mattzusetzen, Figuren oder Bauern zu erobern oder einen Bauer zur Dame zu führen, mit einem Worte, die Partie zu gewinnen, vielmehr können wir alle diese Absichten nur erreichen, wenn der Gegner uns Gelegenheiten gibt. Wenn wir dies richtig bedacht haben, werden wir von nun an unser ganzes Augenmerk darauf richten, keinen schlechten Zug zu machen; wir werden nicht mehr auf den Abtausch der Dame oder anderer Figuren, nicht mehr auf Anbringung geistreicher Opfer oder Durchführung von Lieblingsplänen und Kombinationen von vornherein spielen, sondern immer nur den für unsere Stellung zuträglichsten, besten Zug herauszufinden suchen und uns damit zufrieden geben; die Ausgänge aber so nehmen, wie sie kommen, gleich zufrieden, ob wir die Partie gewinnen oder nur zum Remis bringen. Wenn wir uns dies zum ersten Gesetz machen, werden wir niemals Enttäuschungen erfahren, wir werden immer eine gute, verteidigungsfähige Stellung haben. Die Gelegenheiten aber, die uns der Gegner darbietet, werden wir ruhig benutzen, aber eingedenk sein, daß wir auf alle Fälle unsere Stellung gut und stark erhalten wollen. Alles andere kommt für uns erst in zweiter Linie, als zufällig, nicht von uns abhängig, während die Erhaltung und Schaffung einer guten Stellung ganz in unserer Macht steht. Wir werden also den Gedanken an den Ausgang der Partie in Zukunft zurücktreten lassen und in erster Linie darauf sehen, keinen schlechten Zug zu machen. Wir sind aber darin ganz ungeübt, einen guten Zug von einem schlechten zu unterscheiden, weil wir unsere ganze Aufmerksamkeit bisher immer auf die Kombinationen, auf den Ge-

7

Vom Zuge überhaupt.

winn von Steinen, die Mattführung gerichtet haben. Und doch muß es Richtmaße geben, um einen guten von einem schlechten Zuge unterscheiden zu können, sonst wäre jede zielbewußte Spielführung unmöglich; daß sie aber möglich ist, h a t P a u l M o r p h y gezeigt. Meine erste Aufgabe wird nun sein, diese Richtmaße zu finden und aufzustellen und so eine sichere Grundlage zu schaffen für musterhafte Behandlung der Partie.

Zweites

Kapitel.

Vom Zuge überhaupt. Viele B&cher, viel Irrtum.

Von der Aufstellung, die das Diagramm zeigt, gehen alle Partien aus. Aber damit nehmen auch für den Schachfreund die Verlegenheiten ihren Anfang. Ein Blick auf das Diagramm lehrt Schwarz

a

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Weiß

sofort, daß die Figuren in dieser Anfangsstellung äußerst schlecht postiert sind; sie stehen dicht zusammengedrängt und hemmen sich gegenseitig an jeder Bewegung. Außer den beiden Springern und den Bauern sind alle Figuren bewegungslos, und außerdem, um das Übel voll zu machen, stehen sie noch sämtlich auf Randreihen, wo sie nur einen kleinen Teil ihrer natürlichen normalen

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Erster Teil.

Bewegungsfreiheit haben. Es gilt also vor allem, sie aus ihrer gehemmten Lage zu befreien. Aber wie geschieht das am besten? Hier beginnen schon in der Ausübung des Spieles die Zweifel und Verwirrungen. Wendet der Schachfreund sich in seiner Not an die Lehrbücher, an die Autoritäten, so wird er erst recht verwirrt. Die einen Analytiker behaupten, e2—e4 sei der beste Zug, die anderen d2—d4. Wem soll er nun folgen ? Aber so geht es allen, die sich nur auf Autoritäten stützen; sie schwanken hin und her, ihr Spiel hat keine Sicherheit, bald halten sie es mit dem einen Meister, bald mit dem anderen, immer aber ist ihre Partieführung zerfahren, zerrissen — ohne Grundsätze. Diese Grundsätze würde man auch vergebens den Lehrbüchern zu entnehmen suchen, diese geben nur Regeln und Formeln für ganz bestimmte Einzelfälle. Kommt ein Spieler in einer entscheidungsschweren Partie unglücklicherweise in eine Stellung, auf die sie nicht zugeschnitten sind, so ist er perplex, weiß nicht, was er anfangen soll und verwünscht den ganzen aus Büchern geschöpften Gedächtniskram, der ihn gerade da, wo er ihn nötig braucht, im Stiche läßt. Wir müssen also vor allem feste Grundsätze suchen, sichere, untrügliche Richtmaße für die Beurteilung der Züge, auf die wir uns verlassen können, sicher, daß wir, wenn wir sie nur sorgfältig anwenden, über die Güte eines Zuges, seinen Wert oder Unwert uns ein klares Urteil bilden können. Um zu untersuchen, welcher Zug gut oder schlecht ist, müssen wir in erster Linie wissen, welche Tendenzen überhaupt in einem Zuge enthalten sind, damit wir in der Lage sind, uns vor den schlechten zu hüten und die guten anzuwenden. Es gibt zwei Haupttendenzen, die jeder Zug, jede Bewegung einer Figur immer hat, nämlich die, Figuren in ihrer Bewegungsfähigkeit und Wirksamkeit zu hemmen, und die, sie darin f r e i e r zu machen. Drittes Kapitel. Von den zwei Haupttendenzen jedes Zuges. Wo rohe Kräfte sinnlos walten, Da kann sich kein Geblld gestalten. S c h i l l e r , Glocke.

Wenn wir die Steine betrachten, so sehen wir einmal, daß sie als Körper, indem sie Raum einnehmen und verstellen, aufeinander einwirken: sie verstellen sich auf dem Brette gegenseitig Felder und Linien.

Von den zwei Haupttendenzen jedes Zages.

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Wir lernen hier die eine Haupttendenz alles Wirkens der Figuren näher kennen, die h e m m e n d e . Jeder Stein hemmt den anderen in seiner Beweglichkeit und Wirkungskraft, indem er ihm Felder seiner Zug- oder Schlagbahn verstellt. Wir finden aber noch eine z w e i t e H a u p t t e n d e n z wirksam, wenn wir bedenken, daß jede Figur durch jede Bewegung auch wieder Felder und Linien freigibt; es ist dies die b e f r e i e n d e . Die Steine sind aber auch als Schlagkräfte zu betrachten und wirken auch hier wieder, den beiden Haupttendenzen gemäß, hemmend oder befreiend aufeinander ein. H e m m e n d , indem sie Felder und Linien der Zugbahn feindlicher Steine bedrohen und so deren Beweglichkeit beschränken; b e f r e i e n d , indem sie bedrohte Felder und Linien durch Platzwechsel wieder freigeben. Jede Figur übt mit jedem Zuge immer beide Tendenzen zugleich aus, da sie mit jedem Zuge Felder u. Linien verstellt und bedroht, andere wieder freigibt. Jeder Zug eines Steines besteht also in einer Summe von Hemmungen und Befreiungen. Und hier zeigt es sich, wie sehr im Schach ein weiter Bück nottut, der immer das ganze Brett umfaßt. Dem Stümper mit dem engen, beschränkten Blick, der immer nur einen kleinen Teil des Brettes zu überschauen vermag, passiert es fast immer, daß er nur die eine Tendenz des Zuges erfaßt, die andere übersieht. Die ganze, volle Wirkung jedes Zuges vermag er nicht zu überblicken, da er nie das ganze Brett mit dem Blicke beherrscht, und so fällt er in tausend Fehler, weil er sich mit der einen Wirkung eines Zuges, die er gerade zufällig sieht, gleich zufrieden gibt und die vielen anderen unbeachtet und unberücksichtigt läßt, und so kommt es, daß er mit seinen Zügen, ohne es zu ahnen, das Spiel des Gegners freimacht und sein eigenes hemmt, daß er viele in den gegnerischen Zügen liegende Motive zur Verbesserung seines Spieles unbenutzt läßt und durch die eine oder andere übersehene Drohung in die schlimmsten und prekärsten Lagen gerät. Es kann daher nicht oft genug betont werden, da es von der äußersten Wichtigkeit ist für die Partieführung: Macht euren Schachblick weit, gewöhnt euch beizeiten, immer die ganze Wirkungssphäre eines Steines, immer das ganze Brett mit allen darauf befindlichen Figuren zu überblicken, sonst wandelt ihr immer über Abgründe, sonst gleicht ihr dem Turisten, der führerlos einen Gletscher zu besteigen wagt und jeden Augenblick in Gefahr ist, in eine Gletscherspalte zu versinken oder abzustürzen

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Erster Teil.

und elend umzukommen. Geht es denn anders in euren Partien? Nehmen sie nicht alle ein jähes und unerwartetes Ende, sind sie nicht voll unliebsamer Überraschungen und Enttäuschungen, ist euer Spiel nicht immer ohne Sicherheit und Kraft? Das kommt alles nur daher, hat seinen nächsten Grund in der Enge und Beschränktheit eures Blickes; ihr müßt vor allem a n s c h a u e n lernen, dann werdet ihr auch besser spielen; nicht das Studium von hunderterlei Schachbüchern, nein, nur die Bildung eurer Anschauungskraft, die Weitmachung eures Blickes kann wirklich, wahrhaft vorwärts bringen. Es gibt noch eine dritte Haupttendenz des Zuges: das Schlagen, Wegräumen, Erobern feindlicher Figuren. Diese Tendenz wirkt aber nicht so durchaus und allgemein wie die anderen beiden bei jedem Zuge notwendigerweise, sondern nur auf Motive. Es muß immer erst eine feindliche Figur exponiert, angegriffen sein, damit diese Tendenz eintreten könne. Man nennt dies A n g r i f f . Hier kommt der Angriff nur insoweit in Betracht, als er zwei äußerst charakteristische Hemmungsarten liefert: B i n d e h e m mung und F e s s e l h e m m u n g .

Viertes

Kapitel.

Von den Hemmungen überhaupt. Wer sie Dicht kennte, — die Elemente, Ihre Kraft — und Eigenschaft, Wäre kein Meister — aber die Geister. G o e t h e , Faust.

Sobald in einer Partie unsere Figuren keinen rechten Spielraum haben, sich nicht frei und leicht bewegen können, sobald die Verteidigung mühsam und schwierig wird, kann man sicher sein, daß starke und viele Hemmungen vorhanden sind. Die erste Partieaufstellung enthält bereits sehr bedeutende Hemmungen; werden diese nicht schnell genug beseitigt, kommen durch schwache Züge noch immer neue hinzu, so wird die Beweglichkeit unserer Figuren immer kümmerlicher, ihr Zusammenspiel immer schwächer, und wir finden nicht mehr Zeit genug, sie aus unserer Stellung zu entfernen. Die schlechte Wendung, die unser Spiel dann nimmt, zeigt sich auch dem ungeübteren Auge leicht: das Stellungsbild wird unschön und verworren, unsere Figuren stehen zu dichtgedrängt

Von den Hemmungen überhaupt.

11

oder zu sehr dem Rande zu, feindliche aber tief in unserem Spiel, unsere Partie nähert sich der Grenze, wo sie unhaltbar wird. In manchen Partien leiden besonders die Figuren des einen oder anderen Flügels, in manchen wieder die der Mitte unter starken Hemmungen. Dies richtet sich einmal ganz nach dem Gange, den die Entwicklung unseres Spieles nimmt (auf der Seite, die am spätesten dazu gelangt, werden natürlich die meisten Hemmungen vorherrschen), dann aber besonders nach der Lage der offenen Linien, die in unser Spiel führen, da auf diesen der Druck der feindlichen Figuren auf unser Spiel erfolgt und es zugleich die Zugstraßen sind, worauf sie in dasselbe eindringen. Jede feindliche Figur aber, die in unserem Spiele steht, ruft sofort sehr starke Hemmungen darin hervor. Am meisten leiden darunter die bewegungsschwächeren Steine, wie der König und Springer, namentlich aber die Bauern, die sich durch schnellen Platzwechsel nicht so leicht einem solchen Drucke entziehen können, daher auch in den weitaus meisten Partien die Katastrophe zuerst über sie hereinbricht. Ein klassisches Beispiel für die Hemmungen der Steine liefert das P a t t ; hier kann die pattgesetzte Partei ihrer Zugpflicht nicht nachkommen, weil alle ihre Steine bewegungsunfähig gemacht sind. M o r p h y erzwingt durch feine Damenzüge das Patt. 1. Dc6f Dd7 2. D a 8 | Dd8 3. Dc6f Kf8 4. D f 6 + ! ef: Patt. Da, wie wir später sehen werden, von den Hemmungen der Figuren, d. h. ihrer Bewegungslosigkeit, alles Verderben in der Partie ausgeht, werde ich nun genau untersuchen, auf wieviel Arten eine Figur in ihrer Bewegungs- und Wirkungsfähigkeit gehemmt werden kann. Alle Hemmungen der Figuren lassen sich in sechs Hauptarten einteilen: 1. Verstellungshemmung. 2. Drohhemmung. 3. Bindehemmung.

4. Fesselhemmung 5. Zeithemmung. 6. Randhemmung.

12

Erster Teil.

Das haben sie alle gemeinsam, darin stimmen sie alle überein, daß sie die Beweglichkeit der Figuren einschränken oder ganz aufheben. Jede Hemmungsart aber hat ihre eigene Bedeutung, ihren eigentümlichen Charakter, weshalb sie gesondert betrachtet werden müssen u. jede einen eigenen Namen verdient. Wie folgenschwer diese Hemmungen aber sind, möge man einstweilen schon daraus ermessen, daß jede Figur, um erobert werden zu können, zuerst b e w e g u n g s l o s , also vollständig geh e m m t sein muß und daß überhaupt kein Zusammenspiel unserer Figuren möglich ist, wenn einzelne davon in ihren Bewegungen stark gehemmt sind, da diese dann zum Angriff wie zur Verteidigung gleich untauglich sind.

Fünftes Kapitel.

Die Verstellungshemmung. Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit — Leicht beieinander wohnen die Gedanken, Doch hart im Räume stoßen sich die Sachen, S c h i l l e r , Wallenstein.

Wenn eine Figur auf der Zugbahn einer anderen steht, so erleidet die letztere einen Abbruch an Bewegungs- und Wirkungsvermögen, der ganz kolossal sein kann, ja sie verliert dasselbe mitunter dadurch ganz. Man sehe nur die Stellung der Türme, Läufer, der Dame, des Königs in der ersten Aufstellung an. Hier ist jede Bewegung und Wirkung dieser Figuren durch den vorstehenden Bauernwall vollständig gehemmt. ¡§f Das ist also eine sehr starke Hemmungsart, die durch Figuren beider Parteien ausgeübt werden kann, weil die Figuren hier nur als Körper, nicht als Schlagkräfte wirken; ich nenne sie

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Verstellungshemmung.

Überall, wo sie vorkommt, ruft sie in den Stellungen große Störungen hervor und ist ein Haupthindernis für die freie Beweglichkeit der Figuren.

Die Verstellungshemmung.

13

Sie zeigt sich dem Auge sofort durch dichtgedrängte Gruppierung der Figuren, wodurch auch das ganze Stellungsbild unschön und unharmonisch wird, indem auf einem Teil des Brettes die Figuren gehäuft stehen, auf dem anderen wieder vereinzelt. Da die Beweglichkeit der Figuren unter dieser Hemmungsart sehr stark leidet, so treten in Stellungen, wo sie in hohem Maße vorkommt, ernste Verteidigungsschwierigkeiten auf. Immerhin gehört sie noch zu den verhältnismäßig leichteren Hemmungsarten, wenn sie durch Figuren des eigenen Spiels hervorgerufen wird, weil ein Rücken derselben genügt, sie zu beseitigen; schwererer Art ist sie schon dann, wenn sie durch feindliche Figuren entsteht, da deren Fortbewegung nicht so leicht in unserer Macht liegt. Viele Partien gehen nur dadurch verloren, daß das Zusammenspiel der Figuren durch diese Hemmung so stark unterdrückt wird, daß ein schwacher Punkt rechtzeitig nicht mehr genügend unterstützt werden kann. Der Bauer leidet am meisten unter ihr. Seine ohnedies schwache und ärmliche Bewegungskraft wird dadurch ganz und gar unterdrückt. Für das Endspiel ist diese Hemmungsart daher von großer Wichtigkeit, sie dient namentlich dazu, feindliche Bauern auf ihrem Wege zur Dame aufzuhalten. Der König oder eine andere Figur stellt sich dann vor den Bauern und setzt ihn fest. Turmopfer, um dem schwarzen C-Bauer das Umwandlungsfeld zu verstellen und so eher in die Dame zu gelangen. 1. T e l ! ! Tel: Ka3 2. a7 3. Kc3 Ka4 4. a8D u. gewinnt. Die feindlichen Bauern einer Vertikallinie setzen sich immer fest, wenn sie gegeneinander rücken, ebenso die Doppelbauern in den meisten Fällen. Auch für den König kann diese Hemmungsart sehr gefährlich werden. Es werden ihm durch sie in vielen Fällen

14

Erster Teil.

die Felder zur Flucht vor dem Ansturm der fremden Figuren versperrt. E. Morphy.

Seh.

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Hier ist Schwarz soeben in die Dame gegangen mit dem d-Bauer, Weiß spielt nun h6—h7 und nötigt den Turm, dem feindlichen König das Feld h7 zu verstellen, sein einziges Fluchtfeld vor dem Läuferschach; es folgt nun Lf5—e6| Le6xf7| Df6—g6f Dg6—h6 =(=

Th7—f7 Kg8—h7 Kh7—h8

W.

Der Turm, die einzige Schutzfigur, mußte sich zwecklos opfern und der König erliegt nun schutzlos dem Zusammenspiel von Läufer und Dame. Hierher gehört namentlich das erstickte Matt: Bryio.

Sch.

Hier nötigt Weiß nach 1. Da4—a3f 2. Sc6—e7f 3. Se7—g6f

Kf8—g8 Kg8—f8 Kf8—g8

durch Aufopferung der Dame den Ta8, dem Könige das einzige Fluchtfeld f8 zu verstellen, während seine anderen Zugfelder durch den Th8 und die Bauern besetzt sind; völlig bewegungsunfähig kann er sich dem Springerangriff nicht mehr entziehen. Morphy.

W.

4. Da3—f8f 5. Sg6—e74=

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Die VerstelluDgshemmuDg.

15

Ferner das sogenannte Epaulettenmatt:

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Durch Hingabe beider Türme gegen die Dame zwingt Weiß den Ta8 auf das Feld f8, wodurch der schwarze König so stark beengt wird, daß er dem Angriff der Dame nicht entfliehen kann.

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Morphy.

Im Mittelspiel kann durch sie das Zusammenspiel der Figuren äußerst beeinträchtigt und gefährdet werden. Hier hemmt die feindliche Dame durch die Verstellung des weißen d-Bauern das Zusammenspiel der weißen Figuren ungemein, so daß eine schnelle Niederlage des Weißen erfolgt. Morphy.

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W.

Sehr vorteilhaft erweist sie sich dagegen zur S p e r r u n g L i n i e n , auf denen der Angriff des Gegners erfolgt.

von

16

Erster Teil.

Amateur.

Sch.

Hier sperrt Weiß die Diagonale c8—h3, um dem Mattangriff der schwarzen Dame auf g4 zu entgehen und selbst anzugreifen. 1. 2. 3. 4. Morphy.

W.

Mauri an.

Sch.

e6! fe: Tb6: c6 Lc6: bc: Da6f u. gewinnt.

Hier sperrt Weiß die a-Reihe, um einen Mattangriff ungestört durchführen zu können. 1. 2. 3. 4. 5. Morpky.

a4! ! Tg7t Sf8 Tgh7t Tcg7=t=

ba: Kh8 Tf8: Kg8

W.

In diese Hemmungsart verfallen Stümper besonders gern, sie verstellen ihren Figuren die besten Plätze und Linien. Daher bringen sie es auch nie zu einem richtigen Zusammenspiel ihrer Figuren, und wenn ihr Gegner an einem Punkte stark angreift, dann haben sie alle Wege, auf denen sie ihre Figuren zur Verteidigung heranholen sollen, verstopft und wissen sich nicht zu helfen. Hütet euch daher ja, die Zugstraßen eurer Figuren zu versperren, es sind die Verkehrswege, worauf alles Leben eurer Figuren sich abspielt, und Stockungen darauf können die allerschlimmsten Folgen, den sofortigen Verlust der Partie zur Folge haben.

17

Die Drohhemmung. Conway.

Sch.

Hier verstellt Schwarz unbedacht durch Sg8—e7 seine Dame, Weiß spielt Lei X f4 Lh6 x U; Lc4 x f 7 | , Ke8 x f7 und der feindliche König ist nun schutzlos dem Zusammenspiel von Dame und Turm preisgegeben. Df3 x f4f DI4—f6f Df6—f7=(= Morphy.

Kf7—g7 Kg7—g8

W.

Sechstes Kapitel. Die Drohhemmung. Wer droht, warnt.

Diese Hemmungsart ist schon schwieriger als die vorige. Eine Figur wird nämlich in ihrem Bewegungs- und Wirkungsvermögen auch dadurch gehemmt, daß feindliche Figuren Felder ihrer Zugbahn bedrohen; diese werden dann für sie ungangbar, und so kann, je nach der Menge der bedrohten Felder, ihre Bewegungsfähigkeit teilweise oder ganz gehemmt, sie auf ihrem Standfeld festgehalten werden. Ich nenne diese Hemmungsart daher Drohhemmung. Die Schlagkraft kommt hier nur insofern in Betracht, als sie die Beweglichkeit der feindlichen Figur einschränkt, indem sie deren Zugfelder bedroht, nicht aber, als sie die Existenz der Figur selbst bedroht, indem sie deren Standfeld angreift, was man Angriff nennt. Sie ruft sehr schwere Störungen in den Stellungen hervor, indem sie das Zusammenspiel der Figuren stört oder unmöglich macht. Sie ist weit schwererer Art als die Verstellungshemmung, da sie nur durch feindliche Figuren bewirkt wird, die entweder tief in unserem Spiele stehen oder ihre Schlagbahnen in dasselbe hinein gerichtet haben. Die Herausschaffung feindlicher Figuren aus unserem Spiel ist aber sehr mühsam, da wir auf ihre Bewegungen nur einen beschränkten Einfluß auszuüben vermögen. Q u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

2

Erster Teil.

18

Tritt diese Hemmungsart in einer Stellung besonders stark auf, so wird diese meist schnell unhaltbar, da sie das Zusammenspiel der Figuren fast ganz unterdrückt und damit die Verteidigung unmöglich macht. Den bewegungsschwächeren Steinen: Bauer, König und Springer, wird sie besonders gefährlich. Loyd

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Weiß bedroht mit seinem Springer alle Zugfelder des schwarzen Königsläufers, er kann dem Angriff nicht entfliehen.

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Hier ist der weiße König an jeder Bewegung durch Bedrohung seiner sämtlichen Zugfelder gehindert und der schwarze König droht nach g3 zu gehen, um im Zusammenspiel mit Läufer und Turm ihn matt zu setzen. Auch der Turm auf der b-Linie kann nicht zu Hilfe eilen, weil der aBauer das Feld b3 bedroht. Weiß hat daher keinen rettenden Zug und muß die Partie aufgeben. Barnes.

W.

Hierher gehört in den Eröffnungen vor allem die V e r h i n d e r u n g der R o c h a d e .

Die Drohhemmung. Stanley.

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Seh.

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Morphy.

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19

Hier hat Weiß Lei—a3 gespielt; damit ist der schwarze König an der Rochade gehindert und Schwarz kann seine Figuren nur schwer zum Zusammenspiel bringen, denn auf e8 steht der König den anderen Figuren im Wege und der Turm h8 hat keine Aussicht ins Spiel zu kommen. 1. Ld4: 2. Db3 Le6 3. Le6: fe: 4. De64Se7 5. Sd4: ed: 6. Tel u. gewinnt.

Hierher gehört auch alles Mattreiben, wo dem König sukzessive alle verfügbaren Felder ungangbar gemacht werden, z. B.

L. Parent!.

Scb.

1. 2. 3. 4.

Teöf! Dh4f Dh7+! Dh8 +

Kh6 Kg7 Kf6:

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Im Endspiel alle Matte mit König und Figuren gegen König allein. Der Springer wird durch diese Hemmungsart häufig erobert. 2*

20

Erster Teil.

Morphy.

Seh.

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m Hier erobert 1. Ta5—d5 den weißen Springer, da seine sämtlichen Zugfelder bis auf das Feld b8 von feindlichen Steinen umdroht sind; flüchtet er aber auf dieses letztere Feld 2. Sd7—b8, so folgt Td5—d8, und er geht auch verloren.

Journoud

Im Endspiel wird diese Hemmungsart besonders gefährlich; hier tritt sie vor allem auf als A b s c h n e i d u n g von Linien u n d F e l d e r n , wodurch die F i g u r e n verhindert werden an der Annäherung an eigene unterstützungsbedürftige Bauern, denen sie zu Hilfe eilen, oder an feindliche Bauern, die sie von der Dame abhalten sollen.

Ponzianl.

Sch.

Hier kann Weiß dem schwarzen Läufer das Feld gl abschneiden, der a-Bauer geht dann unaufhaltsam in die Dame. 1. De6: de: 2. Kg2! beliebig 3. a4 u. gewinnt.

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Die Drohhemmung.

21

Dann als Opposition der Könige. Löwenthal.

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Hier ist der weiße König durch den schwarzen, der ihm den Zugang zu seinen Bauern verwehrt, gehindert, dieselben zu unterstützen; Schwarz spielt 1. c5—c4 und gewinnt die schutzlosen Bauern und damit die Partie. d3xc4 Kf2—e2 Ke2—f3 Kf3—e4 Ke4 x e5 Ke5—d4

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Morphy.

W.

Kf4xe4 Ke4—d4 Kd4 x c4 Kc4—b4 Kb4xa4 Ka4—b3

Bei den Bauern veranlaßt sie die Rückständigkeit. Der weiße b-Bauer ist rückständig und da ei schutzlos ist, so geht er schnell verloren und damit die Partie. Morphy.

Sch.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Thompson.

Kf3—«2 Lc5—d4 Ld4xb2 Ke2—d3 Lb2—eö Sd8—f7 Kd3—c2 Kd5—c4 a4—a3 Sf7—d8 Sd8—b7 a3—a2 Kc4—b4 Sb7—a5f Kb4—a3 Sa5—b3 Schwarz gewinnt.

W.

Andererseits erweist sie sich i: licher Bauern von der Dame oft

Endspiel zur Abhaltung feindlr nützlich.

22

Erster Teil.

Th. Herlin.

Seh.

Der weiße Läufer hält den schwarzen Bauer vom Eingang in die Dame ab. 1. 2. 3. 4.

Siebentes

Ta4f Ke5 Te4f!! Ke4: Lg8! Kd4 Lh7 u. gewinnt.

Kapitel.

Die Bindehemmung. Mancher wähnt sich frei, und siehet Nicht die Rande, die ihn schnüren. F r . R D c k e r t , Ghasele.

Diese und die nächste Hemmungsart können nur entstehen infolge von Angriffen. Sie tritt ein, wenn eine Figur, von einer feindlichen angegriffen,, nicht wegzieht, sondern durch eine andere gestützt, gedeckt wird, die wiederschlagen kann. Diese Hilfsfigur, die sich von der gestützten nicht entfernen kann, ohne sie dem Schlagen preiszugeben, ist dann in ihren Bewegungen sehr eingeschränkt, gebunden. Ich nenne daher diese Hemmungsart Bindehemmung. Diese Hemmung ist ebenso schwerer Art wie die Drohhemmung, aus gleichem Grunde, weil nämlich wir uns dem Drucke feindlicher Figuren auf unser Spiel meistens nur mühsam zu entziehen vermögen. Durch den großen Abbruch an Beweglichkeit, den einzelne Figuren durch sie erleiden, wird auch das Zusammenspiel der Figuren stark beschränkt und damit der Angriff matt und kraftlos, die Verteidigung mühselig. Besonders gefährlich kann sie dadurch werden, daß sehr häufig es dem Gegner gelingt, die gebundene Figur aus ihrer Schutzstellung zu vertreiben, wo dann Figurenverlust die unvermeidliche Folge ist. Viele Figuren und Bauern gehen auf diese Weise verloren.

23

Die Bindehemmung. Löventhal

Sch.

Maurian.

Scb.

Morphy.

W.

Morphy.

W.

Schwarz deckt hier den angegriffenen Springer mit der Dame, wodurch diese an das Feld a3 gebunden ist, Weiß kann sie aber vertreiben und so den Springer gewinnen. 1. . . . Da3 2. Sd2 Lc7 3. Sbl und gewinnt den Springer.

Die schwarze Dame ist gebunden, da sie das Feld d5 nicht ungeschützt lassen darf, der weiße Turm kann daher nach e2, wo er Damenverlust droht. 1. 2. 3. 4.

Te2! Te8 Td2 Te3: Td3+ Td3: Le7f u. gewinnt.

Alle Figuren können von ihr gleichmäßig betroffen werden, da alle in die Lage kommen können, eine Schutzrolle übernehmen zu müssen. Es kann daher nicht oft genug davor gewarnt werden, solche Hemmungen unbekümmert im Spiele stehen und alt werden zu lassen. Vielmehr muß man immer gleich an ihre Herausschaffung gehen; in späteren Partiestadien fehlt meist Zeit und Gelegenheit dazu. Es gibt diese Hemmungsart besonders häufige Gelegenheit zu geistreichen und äußerst glänzenden Zügen, indem sie unseren Figuren gestattet, auf Felder zu ziehen und zu schlagen, die für uns scheinbar unbetretbar sind, da sie in der Schlagbahn der feindlichen Figur liegen; wenn aber diese Figur durch den Schutz, den sie einer anderen gewähren muß, in ihrer Beweglichkeit gehemmt ist, so werden sie für uns tatsächlich betretbar.

24

Erster Teil.

Mongredien.

Sch.

Hier ist die schwarze Dame wegen der Mattdrohung durch den weißen Turm an die 8. Reihe gebunden. Weiß spielt nun 1. Dc4—b4 Df8—c8 2. Db4 x b7 und erobert damit den Läufer, da die Dame nicht wieder schlagen darf.

Morphy.

W.

Kolisch.

Sch.

Morphy.

Sch.

Schonmoff.

Mongredien.

Hier ist der weiße Damenturm an die erste Reihe gebunden, weil er den f-Turm schützen muß, Schwarz kann daher 1. Td2! spielen u. ein undeckbares Matt drohen, da Weiß den Turm nicht schlagen kann, ohne daß D f l f matt setzt.

Weiß spielt 1. Se2, übersieht dabei, daß sein Springer wegen des drohenden Turmmattes nun gebunden ist und den Angriff des schwarzen Springers auf d4 nicht parieren kann. 1. Se2 2. Sgl

W.

Sd4 Sf3: u. gewinnt.

Die Bindehemmung. Schollopp.

Sch.

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25

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Der schwarze Turm ist an die letzte Reihe gebunden, weil er den Springer decken muß. Die weiße Dame kann einen glänzenden Mattangriff auf e4 ungestraft machen, der undeckbar ist. 1. Dc4ü Aufgegeben.

W.

Um aber die Felder zu sehen, die, trotzdem sie von einer feindlichen Figur bedroht, doch von uns betretbar sind, und nur betretbar in dem speziellen Falle, wo eine Bindehemmung vorliegt, ist auch wieder ein weiter, das ganze Brett umfassender Blick unbedingtes Erfordernis, weil namentlich die Linienfiguren oft von ganz entfernten Standfeldern aus Bindehemmungen in dem feindlichen Spiele veranlassen, weil ferner oft feindliche Figuren um jeden Preis leere Felder und Linien (Zugfelder und Zugstraßen) schützen müssen, die der Schlüssel zur feindlichen Stellung sind. Das kann aber nur erkannt werden, wenn die ganze Stellung mit allen Wechselbeziehungen der Figuren untereinander mit dem Blick anschaulich erfaßt wird, und dies ist noch viel schwieriger. Es ist daher kein Wunder, wenn man dergleichen feine Züge bei Stümpern gar nie zu sehen bekommt. Sie sind ihnen eben einfach ganz unmöglich, weil ihr Blick, mit dem sie die Stellungen anschauen, zu eng, zu beschränkt ist und daher von einem Erfassen solcher charakteristischen und tiefliegenden Schwächen in der feindlichen Stellung keine Rede sein kann. Es fallen unter diese Hemmung die tiefsinnigsten Kombinationen großer Schachmeister, die aus einer klaren, tiefen Anschauung und Erfassung der Stellung mit allen ihren Schwächen entspringen und vor denen wir Schachspieler ebenso voll Staunen, Bewunderung und Ehrfurcht dastehen, wie vor einem Werke von Goethe, Mozart oder Rafael. Wer nun diese Hemmung verstanden hat, dem bietet die nächste keine Schwierigkeiten, die ihr sehr verwandt, aber doch so eigenartig ist, daß sie eine Extraart genannt werden kann.

26

Erster Teil.

Achtes Kapitel. Die Fesselhemmung. Es sind Dicht alle frei, die ihrer Ketten spotten. Schiller.

Sie tritt ein, wenn eine Figur von einer feindlichen Linienfigur bedroht wird und eine andere irgendwie gedeckte vorzieht und so die Schlaglinie der feindlichen Figur verstellt, unterbricht. Die vorgestellte Figur ist dann an ihrem Standplatz festgehalten, gefesselt, soll die andere nicht verloren gehen. Daß dies eine recht arge Hemmung ist und stärker als jede bisherige, ist leicht einzusehen, denn bei den anderen blieb der gehemmten Figur in den allermeisten Fällen noch immer etwas Beweglichkeit, hier wird aber die sich vorstellende Figur ganz und gar unbeweglich. Da man eine derartige Figurenstellung Fesselung nennt, so taufe ich die Hemmungsart Fesselhemmung. Sie ist auch darin der Bindehemmung sehr verwandt, daß feindliche Figuren ungestraft Felder betreten können, worauf die gefesselte Figur schlagen könnte, wenn sie nicht unter Fesselhemmung stände. Sie gibt daher auch oft das Motiv zu glänzenden Spielwendungen. Baucher.

Sch.

Hier kann infolge der Fesselung des schwarzen g-Bauern durch die weiße Dame Weiß durch Aufopferung seines Turmes die h-Linie öffnen und den dann schutzlosen König bald matt setzen. 1. T h 3 x h 6 f Kh7xh6 2. Tdl—d3 Kh6—h5 3. Dd7—f7f u. gewinnt. Morphy.

W.

Wie sie auch das mit der Bindehemmung gemein hat, daß es nicht notwendig eine Figur sein muß, durch deren Schutz die

Die Fesselhemmung.

27

Fesselung eintritt, sondern auch ein leeres Feld genügt, wenn es nur der Schlüssel der ganzen Stellung ist.

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Hier spielt Weiß 1. f5—f6; der schwarze Springer, kann diesen Bauer nicht nehmen, da er wegen der Bedrohung des Feldes c8 durch die Dame gefesselt ist. Das Matt auf g7 kann daher nur durch 1. Df2 x f6 oder I. g7—g6 gedeckt werden, und der Springer geht verloren.

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Von dieser Hemmungsart können alle Figuren (den König ausgenommen) und Bauern gleichmäßig betroffen werden, insofern sie in die Lage kommen, den Angriff einer feindlichen Linienfigur durch Verstellung der Angriffslinien parieren zu müssen.

Morphy.

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Durch Tausch des Turmes gegen den weißen Läufer kann Schwarz den weißen Springer fesseln; da er ihn dann mit überlegener Figurenzahl angreift, geht er verloren. 1. . . . 2. Se2: 3. Dbl

Te2:! Sd4 Le2-+u. gewinnt.

28

Erster Teil.

Maurian.

Seh.

Weiß schlägt mit dem Turm den schwarzen Läufer, um den zurücknehmenden Springer zu fesseln, den er dann übermächtig angreift. 1. 2. 3. 4. Morphy.

Te7: Se7: Tel g6 Df3 c6 Le7: u. gewinnt.

W.

Neuntes K a p i t e l . Die Zeithemmung. Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen, Doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen. G o e t h e , Faust.

Die bisherigen Hemmungsarten sind am Brett offen sichtbar gewesen, indem . sie charakteristische Figurengruppierungen hervorriefen. Aber bei dieser ist das nicht immer der Fall, sie ist heimtückischer Art und äußerst gefährlich, und man kann in sie fallen, ohne es zu merken. Leben kommt in die Stellungen erst durch den Zug, indem er in den Figurengruppierungen Veränderungen veranlaßt und so die verschiedenartigsten Stellungen hervorbringt. Wenn man mit einer Figur zieht, so müssen unterdessen alle anderen stillhalten und in ihrer Bewegungslosigkeit verharren. Man sieht, daß das die stärkste Hemmung ist, denn hier wird nicht nur eine Figur, sondern es werden alle bis auf die, welche zieht, vollständig unbeweglich, solange die eine sich bewegt. Ich nenne diese Hemmungsart Zeithemmung, weil sie dadurch entsteht, daß es an Zeit fehlt, die anderen Figuren zu bewegen. Sie tritt in drei verschiedenen Formen auf. Erstens wenn eine Figur öfters hintereinander zieht, indem dann alle anderen Figuren derselben Partei so lange feiern müssen. Diese Form nenne ich einseitige Figurenbewegung.

Die Zeitheminung.

29

Die einseitige Figurenbewegung ist deshalb so gefährlich und bösartig, weil sie in viel geringerem Grade anschaulich ist, als die bisher betrachteten Hemmungsarten, und der Stümper leicht in sie verfällt, ohne es auch nur zu ahnen, daß er daran ist, seine Stellung ganz zu ruinieren. Das Anschauliche in ihr liegt in der öfteren oder alleinigen Bewegung einer und derselben Figur; man verfällt ihr schon, wenn man eine Figur zweimal hintereinander oder in kurzen Zwischenräumen bewegt. Dem geübten Auge zeigt sie sich sofort dadurch in einer Stellung, daß eine größere Anzahl Figuren noch auf ihren ursprünglichen Randfeldern selbst in einem vorgerückten Partiestadium steht. Besonders leiden unter ihr sehr häufig die kurzschrittigen Figuren: der König und die Bauern, da sie sich nur von Feld zu Feld bewegen können. Sie sind oft genötigt, sich wiederholten Angriffen zu unterziehen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß bei der weitaus größeren Anzahl verlorener Partien diese tückische Hemmungsart die Hauptrolle spielt, indem durch sie das Zusammenspiel der Figuren wesentlich verlangsamt wird, so daß früher oder später ernste Verteidigungsschwierigkeiten entstehen und es dem Gegner gelingt, durch einen Angriff mit überlegener Figurenanzahl auf den einen oder anderen Punkt das Spiel zu forcieren. Auch der stärkere Spieler sündigt hier am häufigsten, weil das für diese Hemmung charakteristische Moment: die wiederholte Bewegung einer Figur, besonders wenn sie nur zwei- oder dreimal ausgeübt wird, ihm nicht leicht anschaulich wird, und so kommt er plötzlich in schlechte Stellung, ohne sich eines Fehlers bewußt zu sein. Man merke sich daher als äußerst wichtigen Grundsatz: Man muß mit keiner Figur ohne wirkliche Not oder augenscheinlichen Vorteil mehr als einmal hintereinander ziehen. Es werden in der Stellung immer noch andere Figuren sein, die besser zu stellen sind. Diese bewege man, und auch womöglich immer nur einmal, dann wird man ein kräftiges Zusammenspiel seiner Figuren schnell erreichen und eine starke, gesunde Stellung sich schaffen. Eine öftere Bewegung einer und derselben Figur wird in erster Linie dadurch veranlaßt, daß man sie ohne Not und wirkliche Berechtigung einen wiederholten Standfeldwechsel vornehmen läßt.

30

Erster Teil.

Morphy.

Sch.

•Müßige Züge der weißen Dame, die nur die Entwicklung des schwarzen Spiels fördern. 1. De2—f2 2. Df2 x f7 3. Df7xc7

Tg8—g6 Lg4—e6 Tg6xg2|

und setzt in 5 Zügen matt.

Paulsen.

Dann auch hierdurch, daß man eine Figur auf ein Standfeld postiert, wo sie wiederholten Angriffen feindlicher Figuren ausgesetzt ist und auf dem Brett herumgetrieben werden kann. Alles Mattreiben, sowie überhaupt alle Treibangriffe • auf Figuren oder Bauern fallen unter diese Hemmungsart. Oft gelingt es, durch das Opfer eines Steines eine gegnerische Figur zu wiederholten müßigen Zügen zu veranlassen, wodurch dann das Zusammenspiel der übrigen feindlichen Figuren in erheblichem Maße verzögert und unter Umständen ganz unterdrückt werden kann. Da der Gegner dann nicht mehr in der Lage ist, rechtzeitig eine genügende Anzahl Figuren zur Verteidigung aktiv zu machen, so geht seine Partie schnell verloren. Morphy.

Scb.

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Wiederholte Angriffe auf die weiße Dame, um sie vom Punkte e2 abzudrängen. Schwarz entwickelt hierbei sein Spiel sehr günstig. 1. 2. Dd3—b5 3. Db5—fl 4. Dfl—dl

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Te4—e3 c7—c6 Lc8—h3 Ta8—f8 u. gewinnt.

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Die Zeithemmung. Rhodes.

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31

Scb.

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* *

Treibung des schwarzen Königs in das feindliche Spiel, wo er schnell matt wird. 1. 2. 3. 4.

De3—e8| Sf6—h5f De8—e3t De3—h3 =j=

Kf8—g7 Kg7—h6 Kh6xh5

Morphy.

Überhaupt fallen unter diese Hemmungsart alle wiederholten Angriffe auf die Standfelder jeder beliebigen Figur, insofern nur diese dadurch zu müßigen Zügen veranlaßt oder in schlechtere Stellungen zurückgeworfen wird, aus denen sie sich dann erst wieder aufs neue befreien muß. Unter diese Hemmungsart fällt auch das e w i g e S c h a c h . Hier wird der König gezwungen, sich immerfort zu bewegen; dadurch können die anderen Figuren nicht zur Tätigkeit kommen und die Partie bleibt unentschieden.

Aufopferung von Turm und Dame, um mit dem Springer ewiges Schach geben zu können. 1. Te8f! Se8: 2. Dh7f!! Kh7: 3. Sf8f Kh8 4. Sg6f und sofort ad infinitum.

Neumann.

32

Erster Teil.

Zukertort.

Sch. Hier erzwingt Weiß durch ein Springeropfer die Öffnung der gLinie, er kann nun dem schwarzen König ein ewiges Schach geben und so remis machen. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Td8| Dd8f Sf5f! Dg5f Dd8f Dg5f

usw.

Td8: Kg7 gf: Kf8 Kg7

Die Zeithemmung kann noch in zwei anderen Formen auftreten. Wenn der Gegner zwei Figuren von mir zugleich angreift, dann kann ich meistens nur die eine decken, die andere geht verloren. Hätte ich Zeit, sie zu bewegen, so könnte ich sie in vielen Fällen leicht retten. Man nennt diese Form Doppelangriff. Die andere Form besteht darin, daß eine Figur, indem sie eine feindliche angreift, zugleich die Schlagbahn einer anderen freimacht, die nun ihrerseits dieselbe feindliche Figur nochmals, oder eine andere feindliche Figur gleichzeitig angreift; es ist dies der Abzugsangriff. Der Doppel- und der- Abzugsangriff setzen immer im feindlichen Spiel Figuren in ungedeckten oder exponierten Stellungen voraus; sie sind auch nicht leicht anschaulich, da es vor allem nottut, die ungedeckten und exponiert stehenden feindlichen Figuren zu überblicken, dies setzt aber schon einen sehr weiten und freien Blick voraus. Sie sind auch die zwei gefährlichsten Hemmungsarten, die nur zu oft den sofortigen Verlust der Partie nach sich ziehen, indem durch den gleichzeitigen Angriff auf zwei verschiedene Punkte eine Katastrophe fast immer auf einem derselben unausbleiblich erfolgt, Figuren verloren gehen aus Mangel an Zeit, sie zu schützen oder zu flüchten oder wichtige Punkte, die den Schlüssel der Stellung bilden, erobert werden, weil es an Zeit fehlt, sie dem Gegner streitig zu machen und zu verwehren. Die furchtbare zeitliche Gewalt, die in jedem Zuge enthalten ist, kommt hier zum eklatantesten Ausdruck. Gegen alle anderen Hemmungsarten ist Abhilfe in den allermeisten Fällen möglich

Die

Zeithemmung.

33

und fast immer mit sicherem Erfolg durchführbar, wenn nur r e c h t z e i t i g daran gegangen wird; gegen den Doppel- und Abzugsangriff aber gibt es keine Rettung mehr, da es hier ganz und gar an der Zeit, zu helfen, fehlt. Stamma.

Sch.

Damiano.

Seh.

W.

W.

GleichzeitigerAngriff auf König und Dame (Doppelangriff). 1. Td8f Kb7 2. Tb8|!! Kb8: 3. Sc6f Kb7 i. Se5:

Gleichzeitiger Angriff auf König und Dame (Doppelangriff). 1. De5:! De5: 2. S£7f Kc7 3. Se5:

Morphy.

Seh.

Abzugsangriff des Springers. 1. Dc2—e4 Sf5—g3! 2. De4xg6 Sd4—e2=|=

G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

34

Erster Teil.

Winawer.

Sch.

Mason.

Durch Aufopferung beider Türme erzwingt Weiß eine Abzugsstellung, durch die er die feindliche Dame erobert. 1. Tg5!ü bg: 2. Dh7f Sd7! 3. Ld7: Dg8! 4. T b 7 f ü Kb7: 5. Lc8|f m itDamengewinn.

Bardeleben

Seh.

Mieses.

W.

Abzugsangriff des c-Bauern. j De8f! Te8 2. T e ß ^ - ! Le8 3. c 7 | ! Tf3 4. c8D=(=

Die A b z u g s a n g r i f f e , wo zwei Figuren einen Punkt zu gleicher Zeit angreifen, kommen besonders häufig bei Mattführungen vor. Shipley.

Abzug: Springer und Läufer greifen den schwarzen König zugleich an. 1. Sd5! ' 2. Se7| 3. Sg6=j=

Albin.

fg: Kh8

35

Die Randhemmung.

Die Zeithemmung ist die schwerste unter allen Hemmungsarten, wodurch sofort die stärksten Verluste entstehen können, weil sie die Basis, worauf allein jede Abwehr fußt, und die Voraussetzung für jede Verteidigung aufhebt: das Vorhandensein der nötigen Zeit dazu.

Zehntes Kapitel. Die Randhemmung. Eng ist die Welt. Schiller.

Es bleibt mir nun nur noch von der letzten Hemmungsart zu reden übrig, der R a n d h e m m u n g , die von dem Brette ausgeht. Das Brett ist der Schauplatz aller Figurentätigkeit, der Plan, worauf sie sich tummeln, zu verschiedenen Gruppen verbinden und die verschiedenartigsten Stellungen hervorrufen. Das Brett hat insofern eine hemmende Einwirkung auf die Figuren, als es durch seine Ränder und Ecken sie in ihrer' Beweglichkeit beschränkt und einengt. Jede Figur, den Turm ausgenommen, erleidet am Rande an ihrem Bewegungs- und Wirkungsvermögen einen bedeutenden Abbruch. Ferner ist ersichtlich, daß die Diagonalen, je mehr sie den Ecken zu liegen, immer kürzer werden; die Figuren, die auf Diagonalen laufen, je mehr sie sich den Ecken nähern, um so kürzere Zug- und Schlagbahnen erhalten. Es wirkt also das Brett auch hierin hemmend. Ich nenne daher diese Hemmung Bandoder Bretthemmung. Sie spielt in der Partie eine große Rolle. Man denke nur an die erste Aufstellung der Figuren, wo sie im höchsten Maße vorkommt, und an die einfachen Endspiele gegen den feindlichen König allein, wo sie es ist, die bei der Niederlage desselben die Hauptrolle spielt. Die beiden .Eckbauern werden durch sie zu den schwächsten Figuren. Und gleich Invaliden, die nur mehr einen Arm oder ein Bein haben, besitzen auch sie nur ein Feld, worauf sie schlagen können. Der Turm ist die einzige Figur, die keine Bretthemmung erfährt, da die vertikalen und horizontalen Linien des Brettes alle gleich sind. 3*

36

Erster Teil.

Bottin.

Sch.

Stamina.

Sch.

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Morphy.

W.

Der schwarze Springer ist in einer äußerst gehemmten Stellung am Rande, Weiß wird ihn leicht erobern. 1. gi Kg6 2. Kg2 h5 3. h3 hg: 4. hg: beliebig 5. Khl u. gewinnt.

Anderssen.

Weiß opfert den Läufer, um den schwarzen König in die ungünstigste Randstellung zu zwingen. Er gewinnt dann durch seinen Bauern. 1. L a l ! Kai: 2. Kc2! b5 3. c6 b4 4. c7 b3f 5. Kb3: Kbl 6. c8D u. gewinnt.

Sch.

Weiß opfert den Springer, um den schwarzen König in die Ecke zu zwingen, wo er ihn festhält und mattsetzt. 1. 2. 3. 4. w.

Sal! Kc2! Kcl ' Lb2=|=

Kai: c3 c2

37 Die Randhemmung ist die leichteste unter allen Hemmungsarten, da das Abrücken der Figur vom Rand genügt, um sie zu beseitigen. Durch sie allein geht nie eine Partie verloren; gefährlich kann sie nur dann werden, wenn die Zugfelder der am Rande postierten Figuren von feindlichen Figuren bedroht oder von eigenen verstellt sind, weil der auf so mannigfache Weise gehemmten Figur jede Möglichkeit einer Flucht vor einem feindlichen Angriff genommen ist. Sie ist auch die anschaulichste Hemmungsart, da die Stellung einer Figur auf einer Randlinie sofort leicht ins Auge fällt. Elftes Kapitel. Schlußbetrachtung zu den Hemmungen der Figuren. Alles, was entsteht, sucht sich Raum, deswegen verdrängt es ein andres vom Platz. G o e t h e , Naturwissenschaft.

Ich mußte, um den Charakter jeder einzelnen Hemmungsart ausführlich darzulegen, jede für sich behandeln. Es ist damit natürlich nicht gesagt, daß eine Figur immer nur von der einen oder anderen Art betroffen wird, vielmehr ist dies der Ausnahmefall. Gewöhnlich erleidet die eine oder andere Figur unseres Spiels verschiedene Hemmungen zugleich und je nach der Anzahl und der Schwere dieser Hemmungen wird ihre Lage mehr oder weniger prekär und besorgniserregend sein. J e größer die Bewegungs- und Schlagfähigkeit einer Figur ist und je tiefer sie ins feindliche Spiel eindringt, um so mehr Hemmungen wird sie hervorzurufen imstande sein. So kann die Dame oft durch eine einzige Bewegung. bei ganz verschiedenen feindlichen Figuren zugleich Binde-, Fessel -und Drohhemmungen veranlassen. Nie darf man aber dabei vergessen, daß alle Hemmungsarten nur Phänomene, Wirkungsarten der Figur sind, die bei jeder ihrer Bewegungen in die Erscheinung treten können und, sofern sie nur einen angemessenen Spielraum hat, es geradezu müssen. Nie darf man die Hervorbringung solcher Hemmungen als die Hauptaufgabe bei der Bewegung der Figur ansehen, nein, man muß immer, unentwegt, die Figur selbst als das Reale, als das wichtigste Objekt unserer Fürsorge hochhalten. Ihre Wohlfahrt muß uns vor allem am Herzen liegen. Ihr die ihrer Bewegungskraft angemessenste Stellung am Brett zu erobern, wo sie den freiesten Spielraum hat, muß uns tausendmal mehr angelegen sein, als ihre Verwendung zur Hervorrufung irgendeiner Hemmung

38

Erster Teil.

an feindlichen Figuren, wenn sie selbst dadurch in eine minderwertige Stellung gerät, wo sie ihre volle Kraft nicht zu entfalten vermag. Da in all den Millionen Stellungen, die auf dem Schachbrette entstanden sind und noch entstehen werden, keine anderen Hemmungen vorkommen können, als die vorgetragenen, von ihnen alles Unheil ausgeht, so kann ich nicht genug das eingehende Studium derselben und die Vertrautmachung des Schachblickes mit den ihnen eigentümlichen Figurengruppierungen ans Herz legen. Wer alle Hemmungen in einer Stellung mit einem Blick anschaulich zu umfangen vermag, der nur ist imstande, dieselbe tief zu erfassen mit allen ihren Schwächen und den stärksten Zug mit Leichtigkeit und Sicherheit herauszufinden. Und es gibt einen Grad der Intensität dieser Anschauungskraft, wo die ganze Stellung wie ein offenes Buch vor uns liegt und die angemessenen Züge ohne langes Grübeln und Rechnen sofort in die Augen springen, einen Grad, wo kein Fehler mehr möglich ist, weil alle Wechselwirkungen der Figuren klar geschaut werden. Nun wird es erst verständlich, warum Stümper fast mit jedem Zuge Fehler machen, warum selbst tüchtige Amateure über einen gewissen Grad der Spielstärke nicht hinauskommen, trotz aller Anstrengung und allem Fleiß: weil ihnen diese tiefe Anschauungskraft fehlt, ohne die alles Studium auch der besten Lehrbücher fruchtlos und nichtig ist. Nicht durch Auswendiglernen von Formeln und Regeln, nein — nur durch Bildung, Stärkung und Vertiefung der Anschauungskraft ist echter Fortschritt im Schach möglich. Eine Stellung, die nun viele solche Hemmungen enthält, nenne ich eine k r a n k e , weil die Beweglichkeit der Figuren, die sie bilden, äußerst bedrückt, beengt und lahmgelegt ist, und eine Stellung, die nur wenige Hemmungen und von leichterer Art hat (ganz ohne Hemmung ist keine Stellung), eine gesunde. Zwölftes K a p i t e l . Von den Befreiungen der Figuren überhaupt. Baum für alle bat die Erde. S c h i l l e r , Der Alpenjäger.

Jede Befreiung setzt naturgemäß eine Hemmung an irgendeiner Figur voraus, von der diese eben befreit werden soll. Wir wissen nun bereits, daß es sechs solcher Hemmungsarten gibt.

39

Die Wegebefreiung.

Das Befreiungsspiel dagegen kann nur auf zwei Arten versucht werden. Einmal, indem man die hemmende Figur wegzubringen sucht. Das andere Mal durch Herausführen der gehemmten Figuren auf freies Feld, wo sie Spielraum haben, sich zu bewegen. Im ersten Falle handelt es sich um das Freimachen der Zugfelder und Straßen, der Wege für eine Figur; ich nenne diese Art daher Wegebefreiung. Im zweiten Falle befreit sich die Figur selbst durch einen Standfeldwechsel, welche Art ich deshalb Selbstbefreiung nenne. Es ist ungemein vorteilhaft, unsere Figuren von Hemmungen zu befreien, ihnen einen weiten Spielraum zu verschaffen. Es ist aber höchst töricht und äußerst gefährlich, achtlos und leichtsinnig, den feindlichen Figuren Felder und Linien zu öffnen, worauf sie uns bedrängen und bedrücken können, oder sie von schlechten Standfeldern auf gute zu jagen. Das erste ist der schmale Weg zum Sieg, das zweite die breite Straße zum Verderben. Dreizehntes

Kapitel.

Die Wegebefreiung. Der Freiheit eine GaBse! Th. K ö r n e r , Aufruf.

Zu der W e g e b e f r e i u n g gehört alle Ö f f n u n g von L i n i e n und F e l d e r n . In den Eröffnungen kommt es hauptsächlich darauf an, den Läufern, Türmen und der Dame Linien zu öffnen. Im Mittelspiel gilt es, Linien in die feindliche Stellung freizulegen, hauptsächlich aber die feindliche Königsstellung aufzureißen, zu entblößen. In den Endspielen, wo ein Bauer zur Dame geht, ist die Vertikallinie, auf welcher der Bauer zur Dame vorrückt, zu öffnen. Die offenen Linien sind der anschauliche und von den Figuren unverstellte Teil des Brettes. Man suche daher vor allem seinen Schachblick zu schärfen, damit man alle solchen Linien in einer Stellung auf einmal zu überschauen vermag, denn sie sind die Zugstraßen, auf denen man seine Figuren zum Angriff führen oder zur Verteidigung heranholen muß, und sie geben hauptsächlich jeder Stellung den ihr eigenen Charakter. Sie sind gleichsam die Verkehrswege, worauf alles Leben in der Partie sich abspielt. Wer seine Anschauungskraft übt, sie immer und überall, wo sie sich auftun, zu sehen, dem springen sie in jeder Stellung sofort

40

Erster Teil.

in die Augen. Der Stümper aber, der keinen Überblick über die Stellung hat, ist gerade hier fast ganz blind: er öffnet den Figuren seines Gegners, ohne Ahnung von der Tragweite eines so übel angebrachten Verfahrens, anstandslos die besten Zugstraßen und Zugfelder in das eigene Spiel, trägt mit allen Kräften dazu bei, das Spiel seines Gregners freizumachen und wundert sich dann, wenn nun plötzlich die feindlichen Figuren auf den Bahnen, die er ihnen selbst geöffnet hat, überwältigend in sein Spiel eindringen und seine Stellung dezimieren. Darum hüte man sich ja vor allem, das Spiel des Gegners zu befreien, seinen Figuren durch unbedachte Züge Linien und Felder zu öffnen, die ihnen eine freie Beweglichkeit oder die Möglichkeit bieten, in das eigene Spiel einzubrechen. Es gehört dies geradezu zu den Todsünden im Schachspiel und hat immer die unheilvollsten Folgen, ja in den meisten Fällen den sofortigen Verlust der Partie zür Folge. Auf keine andere Weise gehen so viele Partien auch starken Spielern verloren, als hierdurch. Man mache daher den Blick für jede Öffnung eines wichtigen Feldes oder einer Linie empfindlich, damit man nicht unbewußt das Zusammenspiel der Figuren des Gegners fördert und beschleunigt und so, ohne zu wissen wie, in schlechte, gedrückte Stellungen kommt, sich selbst eine Grube gräbt und die Partie auf eine so törichte, unverantwortliche Weise verliert. Es ist von ungeheurer Wichtigkeit, jede offene Linie sofort mit der dafür geeigneten Figur zu besetzen. Der Spieler, dem es gelingt, zuerst eine größere Anzahl auf offene Linien zu placieren, ist immer weitaus im Vorteil, weil die so postierten Figuren sofort einen mächtigen Druck auf das feindliche Spiel ausüben, und die Bewegungsfreiheit und das Zusammenspiel der gegnerischen Figuren erheblich stören und lähmen. Mit dem unumschränkten Besitz einer wichtigen Zugstraße in die feindliche Stellung ist gewöhnlich die Partie gewonnen. Die Öffnung solch wichtiger Zugstraßen und die schnelle Konzentrierung der Figuren auf denselben gehört zu den größten Schwierigkeiten, aber auch zu den größten Feinheiten der Spielführung.

Beispiele für die Wegebefreiung.

Vierzehntes

41

Kapitel,

Beispiele für die Wegebefreiung. Lang ist der Weg durch Vorschriften, kurz und wirksam durch Beispiele. S e n e c a , Epist. 6. Morphy.

Seh.

Weiß opfert die Dame, um das Feld f8 zu öffnen für seine Türme. 1. De6: Te6: 2. T f 8 | Kg7 3. Tf7f Kh6 4. Th7=t=

Smyth.

W.

öffnen der g-Linie zum Angriff auf den schwarzen König. gh: 1. Dh5ü 2. Tg7f Ke8 3. T e 4 | Le7 4. Tee7+De7: 5. Te7 + Kd8 6. La5f Kc8 7. Tc7|! Kd8 8. Tf7f! und gewinnt. Aiiderssen

42

Erster Teil.

J. Schwarz.

Sch.

Weiß opfert Dame und Turm, um die h-Linie seinem anderen Turm zum Mattangriff zu öffnen. 1. 2. 3. 4.

Df4:!! Th5:! Th5: Th84=

M W

J. Kolisch.

W.

Schwarz öffnet Linien zum Mattangriff durch ein Turmopfer. gh: Kh3 Sg2: Kh2

Th4:! Df4f Lg2f! Dg4f Dg2 $

Sch.

L » ® *

Macdonnell.

Sch.

i. 2. 3. 4. 5.

Lf4: gh:

Boden.

Anrierssen.

r

' B / B 1 1 # H

I W.

Schwarz opfert die Dame, um Linien zum Mattangriff freizulegen. 1. . . . Df3:!! 2. gf: Lh3f 3. Kgl Te6 4. Dc2 Td4:! 5. Ld4: Sd4: und gewinnt.

43

Beispiele für die Wegebefreiung.

Harrwitz

W.

Weiß opfert den Turm, um das Feld f6 für seine Dame freizulegen. 1. 2. 3. 4. 5.

Morphy.

Tg3f Dh6 Te8! Df6f

Kh8 Tg8 De8: Tg7

Anderssen.

W.

öffnen des Feldes e7 zum Mattangriff. 1. Sg7f 2. Df6f! 3. Le7 4=

Kd8 Sf6:

Sch.

öffnen der 3. Linie für die Dame durch Turmopfer. 1. . . . 2. Lf2: 3. ba:?

Tf2:!! Da3! La3=j=

Auf 3. c3! folgt Da2: 4. b4, D a l f 5. Kc2, Da4f 6. Kb2, Lb4: 7. cb:, Tb4| 8. Db4:, Db4f 9. Kc2, c3! 10. Le3, Lf5f und gewinnt. 'ßifd.

W

44

Erster Teil.

Anderssen.

W.

ö f f n e n einer Angriffslinie

zum

Mattangriff.

W.

Öffnung der h-Linie z u m M a t t angriff.

1.

Sf6f!

Dh7f!

Kh7

Dg3f

gf: Kh8

1.

2.

2.

Sg5f!

3.

Sf7

fg:

Tf7:

3.

Th3^

4.

Te8f

5. Tf8

+

Tf8 +

Kaiser.

1

Cochrane.

Sch.

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W.

der

1. D d 5 : !

c-Linie. cd;

2. L b 4 f !

Se7

3. T c 8 f

Dd8

4.

Td8=j=

45

Beispiele für die Wegebefreiung.

W.

Andeiasen.

öffnen der g-Linie zum Mattangriff. 1. 2. 3. 4. 5.

Suhle.

I

Dg7+! Tg7 --¡=TgSft Tglf Tg5^

Sg7: Kh8 Kg8: Dg5

• •• % • •

Anderssen.

W.

öffnen der e-Linie für den weißen Turm zum Mattangriff. 1. 2. 3. 4.

Lg5! Df5tü Td8+ Te84=

Dg5: Df5: Kd8:

Sch.

f.

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HP wm

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H m 1 Wm

W.

Durch Springeropfer öffnet sich Weiß Linien zum Mattangriff. 1. 2. 3. 4.

Sg7:! Dh6f Lf6 Dg7 +

Kg7: Kg8

46

Erster Teil.

Fünfzehntes Kapitel. Die Selbstbefreiung. Sehe jeder, wo er bleibe, ¡Sehe jeder, was er treibe. . Goethe.

Hierher gehören alle Bewegungen, die eine Figur macht, um von einem ungünstigen auf ein günstiges Standfeld, wo freier Spielraum ist, zu gelangen. Bei der Eröffnung der Partie spielt die Selbstbefreiung eine Hauptrolle. Da alle Figuren auf Randfeldern stehen, müssen sie auf bessere Plätze geführt werden, wo sie mehr Spielraum haben. Da aber die geeignetsten Standfelder bei der Eröffnung nicht immer schon betretbar sind und auch im Mittel- und Endspiel oft erst bessere Plätze gangbar werden, so dauert die Selbstbefreiung auch in diesen beiden Partiestadien fort, nur daß es sich hier nicht wie in der Eröffnung darum handelt, die Figuren auf freies Feld zu führen, sondern vielmehr darum, sie in das gegnerische Spiel eindringen zu lassen. Im Mittelspiel kommt es hauptsächlich darauf an, mit den Figuren in das feindliche Spiel einzudringen, im Endspiel aber, mit dem einen oder anderen Bauer bis zur letzten Reihe vorzurücken. In allen drei Partiestadien hängt es aber von der Lage der offenen oder öffnungsfähigen Linien und Felder ab, auf welche Standfelder die Figuren am besten zu führen sind. Und nur wer ein offenes Auge für die jeweilig freien Linien und Felder des Brettes hat, wird seinen Figuren auch die wirksamsten Plätze anzuweisen in der Lage sein. Ich gebe nun einige Beispiele von Selbstbefreiungen der Figuren. Salmon.

Morphy.

Seh.

W.

Führung des weißen Königs in das feindliche Spiel zur Unterstützung des d-Bauern. 1. Kgl—f2 g 6—g5 2. Kf2—e3 g5—g4 3. Ke3—d3 g7—g5 g5 x f 4 4. Lb5—c6 Tf8—g8 5. g3 x f 4 Tg8—f8 6. Kd3—c4 Tf8—g8 7. Kc4—b5 Tg8—f8 8. Kb5—a6 9 Ka6—b7 Tf8—g8 10. Kb7—c8 und gewinnt.

Die Selbstbefreiung.

47

Hierher gehört auch die Scbulten.

Seil.

Morphy.

Morphy.

Sch.

Barnes.

Führung des weißen Turmes auf die entscheidende Linie. 1. T f l — d l Lc6—b5 2. Tdl—d4 Ta7—c7 3. Td4—g4 und gewinnt.

Sch.

W.

Anmarsch eines Läufers zum Zusammenspiel mit den übrigen schwarzen Figuren gegen den weißen König. 1. ... 2. Kh2—h3 3. Kh3—h4

Lb6—d4 Ld4—e5 Le5—f4

und das Matt ist nicht zu decken.

Führung der schwarzen Dame in die feindliche Stellung. 1. g2—g3 2. f2 x e 3 3. Kel—f2 4. Kf2—gl

Dh4—d8 Dd8—dl| Ddl—f3f Lg4—h3

und Schwarz setzt bald matt.

Lichtenhain.

W.

48

Erster Teil.

Sechzehntes Kapitel. Schlußbetrachtung zu den Befreiungen der Figuren. öffnet die Gasse. S c h i l l e r , Teil.

Sich bewegen können und wirken, darin besteht das Leben der Figur. Spielraum ihr verschaffen, ist daher das erste Gebot. Wege gilt es ihr zu bahnen tief in die feindliche Stellung. Es gilt, sie hineinzuführen tief in die feindlichen Reihen; je tiefer sie im feindlichen Spiel steht, eine um so größere Wirkung übt sie aus. Mit dem Augenblicke, wo unsere Figuren in die gegnerische Stellung einbrechen, ist die Krisis jeder Partie gekommen; gelingt es dem Gegner nicht, sie noch rechtzeitig wieder herauszuwerfen, so ist er unrettbar verloren. Alles kommt also darauf an, seinen Figuren die größte Freiheit zu verschaffen. Davon hängt der Gewinn der Partie und die eigene Sicherheit unseres Spieles ab. Darum muß uns die Befreiung unserer Figuren von allen Hemmungen immer als höchstes Ziel vor Augen schweben. Haben wir ihnen nur erst freie Zugstraßen geöffnet und sie auf Standfelder geführt, wo sie weiten Spielraum haben, so werden sie von selbst im feindlichen Spiel die schwersten Hemmungen hervorrufen, das Zusammenwirken der feindlichen Figuren verhindern und die eine oder andere übermäßig bedrohen und erobern. Das Geheimnis guter Spielführung, schneller und überraschender Erfolge liegt nur darin, allen seinen Figuren die bestmöglichen Plätze zu verschaffen. Nie können wir die Partie verlieren, wenn wir diesen Grundsatz immer hochhalten. Den saumseligen, sorglosen Gegner aber, der es versäumt, seinen Figuren gute Zug-: straßen zu öffnen und durch müßige Züge sich selbst der nötigen Zeit beraubt, sie schnell auf gute Plätze zu führen, werden wir mit der ganzen Wucht unserer vereinten Streitkräfte überfallen, sein Spiel zertrümmern und einen raschen, glänzenden, mühelosen Sieg über ihn erringen. Siebzehntes Kapitel. Von den guten und schlechten Tendenzen unserer Züge. In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Goethe.

Wir haben durch unsere Untersuchungen vier Tendenzen kennen gelernt, die wir durch einen Zug verfolgen können:

Von den guten und schlechten Tendenzen unserer Zöge.

49

1) können wir unsere eigenen Figuren hemmen. 2) können wir die feindlichen Figuren hemmen. 3) können wir unsere eigenen Figuren befreien. 4) können wir die feindlichen Figuren befreien. Es ist klar, daß die erste und vierte Tendenz für unser Spiel nachteilig sind, weil sie das Zusammenwirken unserer Figuren beeinträchtigen und das der feindlichen Figuren fördern, während die zweite und dritte das Gegenteil bewirken. Wir werden uns also vor den ersten beiden Tendenzen zu hüten haben, um nicht in sie zu verfallen, dagegen aber immer bestrebt sein, die beiden letzterwähnten, für uns günstigen, auf alle Weise zu befolgen. Und so haben wir zwei Richtmaße für die Beurteilung unserer Züge gewonnen; wir werden von nun an bei jedem Zuge uns fragen: hemme ich dadurch eine meiner Figuren, befreie ich eine gegnerische ? und wenn dies der Fall ist, werden wir ihn unerbittlich verwerfen als schlecht, schädlich und verderbenbringend für uns, und eine Auswahl unter den Zügen treffen, die unsere Figuren zu befreien und die feindlichen zu hemmen geeignet sind. Die allermeisten Fehler entspringen aus den erwähnten zwei falschen Tendenzen. Wir verstellen unsere Figuren unbedacht, oder postieren sie auf den Rand, wo sie schlecht stehen, oder ziehen zu oft mit einer Figur, wodurch die anderen stillstehen müssen und nicht zum Zuge kommen, oder ziehen sie auf Standfelder, wo sie von den feindlichen Figuren stark bedroht sind, und infolge davon Fesselungen, Bindungen, Umdrohungen entstehen; oder wir öffnen dem Gegner unbedacht Felder und Linien, und locken durch schwache Angriffe, schlechte Austausche seine Figuren auf gute Plätze. Viel wird gefehlt durch unbedachte Hemmungen der Figuren, aber noch mehr durch Befreiungen der feindlichen, da diese Art Fehler nicht so leicht in die Augen fallen, wie die anderen. Man könnte nun glauben, daß eine derartige Versündigung nicht von besonderem Belang sei. Immerhin das ist sicher: wenn ein Spieler hintereinander sich mehrere solche Fehler zuschulden kommen läßt, so wird er seine Stellung ganz gewiß gründlich ruinieren, und ist nur der Gegner geschickt genug, daraus den möglichen Vorteil zu ziehen, so wird es diesem leicht sein, sein Spiel schnell zu zertrümmern. Man glaube daher ja nicht, ungestraft in der Auswahl seiner Züge verfahren und derlei Versündigungen sich erlauben zu können; man wird vielleicht langsam, aber immer ohne Rettung einem sicheren Verderben entgegengehen. G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

4

50

Erster Teil.

Wenn ich mit äußerster Sorgfalt, mit scharfem Auge darüber wache, keinen Zug zu machen, der meine Stellung verschlechtert oder die feindliche verbessert, so bin ich unbesiegbar, so kann kein Gegner mir etwas anhaben. Ich selbst muß erst den Grund zu meiner Niederlage, meinem Untergang legen, indem ich durch schlechte Züge meine Stellung morsch und hinfällig mache, dann erst kann mein Gegner, wenn er geschickt genug ist, sie zertrümmern und die Partie gewinnen. Das halte man stets im Auge, dann wird unser Spiel Sicherheit und Kraft bekommen; dann werden wir keinen Gegner mehr zu fürchten brauchen, trage er einen noch so stolzen Namen. Es kann uns selbst ein Weltchampion nicht erschrecken, wissen wir doch, daß immer wir selbst zuerst die Grube graben müssen, indem wir falschen Tendenzen folgen, die uns ins Verderben stürzen, ehe unser Gegner uns besiegen kann. Wir kennen nun aber die Richtmaße genau, wonach wir die Güte unserer Züge scharf prüfen können. Mit Eifer, Sorgfalt, steter Achtsamkeit und vieler Übung werden wir die schlechten Züge schnell erkennen und vermeiden, für die guten aber einen leichten, sicheren Blick erwerben lernen. Ich werde nun die hier angedeuteten Fehler einzeln genau durchnehmen, da sie so folgenschwer sind und auch als die wahre Ursache angesehen werden können, warum die Stellungen der meisten Schachspieler so armselig und ohne Kraft sind, daß sie es nie zu einem vollen, starken Zusammenwirken aller ihrer Figuren bringen. Vorher aber muß ich noch von zwei weiteren fehlerhaften Tendenzen der Spielführung sprechen, die in Rücksicht auf den Angriff vorkommen können. Einmal kann eine unserer Figuren ein Feld beziehen, wo sie schutzlos, exponiert steht und den Angriffen der feindlichen Figuren ausgesetzt ist, zweitens treiben wir eine feindliche Figur auf ein Feld, wo sie gut geschützt steht und vor den Angriffen unserer Figuren sicher ist. Es ist klar, daß diese zwei Tendenzen durchaus falsch und schädlich sind, weil die erste entweder zum Verlust unserer Figur, oder doch, wenn diese vor den feindlichen Figuren die Flucht ergreifen muß, zu großen Störungen für das Zusammenspiel der übrigen führt und mindestens einseitige Figurenbewegungen dadurch entstehen, die zu den schwersten Hemmungen gehören; die zweite aber die Sicherstellung der feindlichen Figur veranlaßt, wodurch das feindliche Spiel nur gestärkt wird.

Von Fehlern überhaupt.

51

E s wird auch hier also viel gefehlt durch unbedachte Placierung unserer Figuren auf Felder, wo sie schutzlos und exponiert stehen. Wie viele Figuren gehen auf diese Weise durch Doppelund Abzugsangriff verloren. Wie viele unnütze Züge müssen wir oft machen mit einer Figur, die vom Gegner von einem schlechten Felde zum anderen gejagt wird, während er sich dabei gut entwickelt; ferner durch unbedachte Angriffe auf feindliche Figuren, die von schlechten Standfeldern auf bessere, schutzreichere, sicherere getrieben werden! Diesen zwei falschen Tendenzen stehen entgegen zwei gute: wir stellen eine Figur auf einen Platz, wo sie gut geschützt und nicht exponiert steht; wir suchen die feindlichen Figuren auf Plätze zu treiben und in Lagen zu bringen, wo sie schutzlos und exponiert stehen. Es ergeben sich uns also für den Wechsel eines Standfeldes einer Figur weitere zwei Richtmaße. Ehe wir eine Figur auf einen neuen Platz stellen, werden wir uns fragen: steht sie hier exponiert? und wenn dies der Fall ist, einen anderen, sicheren, von dem sie nicht vertrieben, auf dem sie nicht gefährdet werden kann, suchen: ehe wir eine feindliche Figur verjagen, ob wir sie nicht auf ein besseres Standfeld treiben, und dann von einem so töricht zweckwidrigen Angriff abstehen.

Achtzehntes Kapitel. Von Fehlern überhaupt. Fehler vermeidet der T o r und rennt in entgegengesetzte. H o r a s , Sat.

Wir haben gesehen, daß eine Figur das in ihr liegende Wirkungsvermögen nur dann zur vollen Geltung bringen kann, wenn sie freien Spielraum hat. Alle Züge, die dazu angetan sind, die Bewegungsfähigkeit einer Figur zu vermindern oder ganz zu unterdrücken, sind daher fehlerhaft. Und ich nenne diese Art Fehler Hemmungsfehler, weil die Figur, die darunter zu leiden hat, in ihrer natürlichen Bewegungskraft eine Hemmung erfährt. E s wird aber auch jede feindliche Figur, je mehr sie an Spielraum gewinnt, um so mehr auf unser Spiel drücken und unsere Figuren in ihrer freien Aktion hemmen. Alle Züge, welche die Bewegungsfähigkeit der feindlichen Figuren zu erhöhen geeignet 4«

52

Enter Teil.

sind, müssen daher ebenfalls als fehlerhaft bezeichnet werden. Ich nenne diese Art Fehler Befreiungsfehler. Damit sind aber die Fehlerarten im Schachspiel noch nicht erschöpft. Jede Figur ist nämlich von allen anderen abhängig, ohne ihren Schutz würde sie schnell den gegnerischen Figuren zur Beute anheimfallen. Es ist daher bei der Bewegung einer Figur nicht nur von Wichtigkeit, ihr Aktionsfreiheit zu verschaffen, man muß auch hier darauf achten, sie so zu postieren, daß, im Fall eines feindlichen Angriffes, sie nicht schütz- und hilflos dasteht, sondern von den eigenen Figuren genügende Unterstützung finden kann. Ich erinnere hier nur an die vereinzelten Bauern, die meistens verloren gehen, weil man sie der schützenden Bauern auf den Nebenlinien beraubt hat; und dann auf die zu weit vorgerückten, die auch sehr häufig, da sie nicht genügend mehr gedeckt werden können, dem Gegner zum Opfer fallen. Alle Züge, die eine Figur in eine schutzlose, exponierte Lage oder eine feindliche in eine geschützte Lage bringen, sind daher gleichfalls fehlerhaft; ich nenne diese Art Fehler Schutzfehler. Alle im Schach möglichen Fehler fallen in eine dieser drei Klassen, also unter 1) Hemmungsfehler, 2) Befreiungsfehler, 3) Schutzfehler. Die Fehler sind der Schrecken der Schachspieler. Der Stümper, der keinen Überblick über die Stellung hat, verfällt in die gröbsten. Er stellt Figuren ein und unterläßt die nötigen Paraden auf Drohungen, die er ganz übersieht. Der starke Spieler, dessen Blick zwar schon viel weiter ist, aber nicht weit genug, um alle Beziehungen der Figuren zueinander klar zu überschauen, macht weniger grobe Fehler als sogenannte schwache Züge, d. h. Fehler, die nicht sofort zum Verlust der Partie führen. Sein Angriff ist meist kraftlos oder unmotiviert, seine Verteidigung mangelhaft oder unangebracht, seine Entwicklung kurzsichtig. Aber auch der Meister ist nicht fehlerfrei; vermag er auch die Schwächen und Stärken einer Stellung klar zu überblicken, so erreicht er doch selten eine gleiche Klarheit über die oft sehr versteckten und weit abliegenden Folgen der Züge. Er trifft nicht immer die stärkste Fortsetzung, d. h. er bewegt nicht immer die geeignetste Figur und nicht auf den geeignetsten Platz. Und so sehen wir, daß es gegen das Fehlermachen kein Privilegium gibt, daß aber, je weiter der Blick, je intensiver die Anschauungskraft

Hemmungsfehler.

53

wird, desto seltener und unbedeutender und von geringerer Schwere auch die Fehler werden, bis zu jener Tiefe und Klarheit der Anschauung, wo sie ganz aufhören. Nur ein Schachmeister stand auf dieser Höhe in seinen besten Stunden: P a u l Morphy. Auch Phantasie und Urteilskraft spielen eine große im Schach.

Rolle

Dem Stümper fehlt es an beiden. Er kombiniert immer nur auf einen Zug weit und trifft die schlechteste Verteidigung, die seine Stellung sofort ruiniert. Der starke Amateurspieler ist mit seinen Gedanken nur zu oft in Wolkenkuckucksheim. Er phantasiert am Schachbrett, deshalb behandelt er die Stellung gewöhnlich falsch. Den Blick den Wolken zugewandt, fällt er in das erstbeste Loch zu seinen Füßen. E r opfert die Gegenwart der Zukunft. Der Meister ist ganz in die gegebene Position vertieft. Aus ihr das Höchste herauszuholen, ist sein Bestreben und sein Ehrgeiz. Er wägt und prüft alle vorhandenen Motive. Die Urteilskraft ist bei ihm vorzüglich tätig. Er geht daher oft zu sehr in der unmittelbaren Gegenwart auf und vergißt die Zukunft darüber. In steter Maulwurfsarbeit begriffen, wird er leicht blind für höhere Ziele. Der Amateur spielt unlogisch, inkonsequent, der Meister nüchtern, trocken. Vereint nun aber ein Schachspieler beide Vorzüge, reiche Phantasie mit scharfer Urteilskraft, so entsteht der G r o ß m e i s t e r , und kommt gar noch eine tiefe Anschauungsgabe dazu, so gibt es eine seltene Erscheinung: den W e l t m e i s t e r .

Neunzehntes Kapitel.

Hemmungsfehler. Es irrt der Mensch, solang er strebt. G o e t h e , Faust I.

1) D i e V e r s t e l l u n g s f e h l e r . Wir verstellen durch die unbedachte Bewegung einer Figur einer anderen ein gutes Standfeld oder eine Zugstraße oder gestatten dies dem Gegner.

54

Erster Teil.

Morphy.

Sch

Weiß spielt hier 1. c3, um seinen d-Bauern zu decken, verstellt aber dadurch seine Dame, die nun dem bedrohten Königsflügel nicht mehr zu Hilfe eilen kann. 1. c3 g4 2. Sh4 Dd3 3. Lg5 Sf4 4. Lf4: Tf4: 5. Tel Dd2 u. gewinnt. Dr. Raphael.

W.

2) D i e R a n d s t e l l u n g s f e h l e r . Wir postieren eine Figur an den Rand des Brettes, wo sie mit den anderen nicht zusammenwirken und außerdem leicht vom Gegner erobert werden kann, da sie hier nur eine sehr geringe Bewegungsfähigkeit hat, also wenige, leicht absperrbare Fluchtfelder. Harrwitz.

Sch.

Weiß hat seinen Springer an den Rand gespielt; Schwarz schneidet ihm nun den Rückzug ab und erobert ihn. 1. 2. 3. 4.

Morphy.

f4 g6 Dd5 Dh5: u. gewinnt.

W.

3) F e h l e r h a f t e Wir dadurch kommen können,

. .. Thl Tgl Del

einseitige Bewegung einer Figur.

ziehen zu oft hintereinander mit ein und derselben Figur, bleiben die anderen in der Entwicklung zurück und nicht dazu, gute Standfelder, wo sie zusammenwirken einzunehmen.

Hemmungefehler. A, Morph/.

SQh,

P. Morphy.

W.

55

Hier spielte Weiß d4—d5, um den Springer zu vertreiben. Schwarz nahm nun den Läufer auf e3 weg, den Weiß aber nicht wiedernimmt, sondern den Springer c6 mittels d5—c6. Es muß nun der Läufer wieder nach b6 zurück und Schwarz hat mit demselben einen unnützen Zug gemacht. Er hätte daher besser Sc6—e7 gespielt. Es folgte: l . e 5 , de: 2. Db3, Te7 3. Lf7 + , Tf7: 4. Se5:, De8 5. cb:, L b 7 : 6. T e l , La6 7. Sg6, Dd8 8. Te7 u. gwt.

4) F e s s e l u n g s - , U m d r o h u n g s - und B i n d u n g s f e h l e r . Wir postieren eine Figur so, daß eine andere oder sie selbst gefesselt oder gebunden wird, machen sie dadurch zum Angriff und zur Verteidigung unbrauchbar. Außerdem, da sie sich gar nicht oder nur sehr wenig bewegen, also nicht einem feindlichen Angriff durch die Flucht entziehen kann, setzen wir sie der Eroberung durch den Gegner aus. Das gleiche gilt von der Umdrohung. 1. Bindung. Riñere.

Scb.

Morphy.

W.

Schwarz zieht hier Dc3—d3, um die weiße Dame von d5 und d7 abzuhalten, bindet aber dadurch seinen Springer auf c6, der nun das Feld e5 hüten muß, damit die Dame nicht verloren gehe. Weiß spielt: 1. Te7|ü Kg6 2. Del Dd5 3. Tdl Sd4 4. Td4: Ld4: 5. D b l f u. setzt in 6 Zügen Matt.

56

Erster Teil.

2. Fesselung. Hammond.

Sch.

Schwarz nimmt hier den weißen d-Bauer mit seinem Springer, dieser gerät aber in der Folge dadurch in eine Fesselstellung und geht verloren. 1. 2. 3. 4. 5. 6. Morphy.

... Lb7+ Dd5f a4 a5f Ta3

Sd4: Kb7: Sc6 Kb6 Kb7

W.

3. Umdrohung. Paulsen.

Scb.

Schwarz nimmt hier mit Dame den weißen b-Bauer, selbe gerät dadurch aber in völlig umdrohte Stellung geht schnell verloren. 1. . . . Db2: 2. Sdb5 Le3: 3. Tbl und gewinnt Dame. Morphy.

der dieeine und

die

W.

5) D o p p e l a n g r i f f . Wir bringen unbedachterweise mehrere unserer Figuren in eine ungedeckte Lage, ohne zu njerken, daß sie durch eine feindliche Figur zugleich angegriffen werden können.

57

BefreiuDgsfehler. Mongredien.

Sch.

Schwarz greift mit seinem Läufer b6 den Springer d2 an, um eventuell den e-Bauer zu erobern, auf a5 steht der Läufer aber ungedeckt, ebenso der Turm auf e8. Die weiße Dame greift beide auf a4 zugleich an und erobert eine Figur. 1. 2. 3. 4.

... Da4 Db5: Da5:

La5 b5 La6 u. gewinnt.

Morphy.

Vf.

6) A b z u g s a n g r i f f . Thompson.

Seh.

Schwarz zieht 1. . . . Dc6, um die weiße Dame zu tauschen oder zu verjagen, setzt sich aber dadurch einem sofort tödlichen Abzugsangriff aus. 2. Sd8f, Dd5:; 3. Te8=|=.

Morphv.

W.

Zwanzigstes Kapitel.

Befreiungsfehler. Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden. G o e t h e , Faust.

1) ö f f n e n v o n F e l d e r n und L i n i e n . Wir geben dadurch den feindlichen Figuren Spielraum und ermöglichen ihnen, in unser Spiel einzudringen.

58

Erster Teil.

Durch unbedachten Abtausch: Julien.

Scb.

Hier hat Weiß Lei—f4 gespielt und Schwarz mit Sg8—f6 erwidert; er gestattet damit lern Weißen, die d-Linie (durch Abtausch des Springers auf e5) zu öffnen, die der weiße Turm nun sehr vorteilhaft besetzen kmn. 1. Le5: de: 2. Tdl Ld6 3. Td6: Dd6: 4. Df7f und gewinnt. Morphy.

Durch sonstige Züge: Stone.

Morphy.

Sch.

W.

Schwarz nimmt hier den weißen h-Bauer, öffnet aber damit dem weißen Turm die hLinie, wodurch die schwarze Dame in der Folge verloren geht. 1. . . . Dh4: 2. L h 7 : f Kh7: 3. Df5f Kh8 4. Th3

Dominguez.

Morphy.

Scb.

W.

Hier hat Schwarz soeben c7—c6 gespielt, um d7—d5 folgen zu lassen, gibt aber dem Gegner damit das wichtige Feld d6 für dessen Springer d2 preis, so daß dieser im Verein mit Dame und Läufer einen siegreichen Matt-Angriff auf den König machen kann. Sc4. d6; Sd6 : f , K d 7 ; Le6f, K c 7 ; Sc8tusw.

59

Befreiungsfehler.

Ma»ri»B.

§sh, Schwarz zieht den Turm nach b2, der durch Sg5 verloren zu gehen droht, er gibt aber dadurch dem Gegner die e-Linie preis, welcher nun seinen König mittels Dame und Springer so stark umdroht, daß er dem Matt nicht entgehen kann.

Morphy.

2)

Günstige

1. 2. 3. 4.

... Tb2: De6f Sg5 usw.

Tb2 Lb2: Kf8

feindlicher veranlaßt.

Figuren

durch

W.

Postierung

uns

Wir veranlassen feindliche Figuren gute Standfelder einzunehmen, wodurch sie auf unsere Stellung drücken und zu einem starken Zusammenspiel gelangen. Durch Abtausch: Seh.

Harrwitz.

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Morphy.

W.

Hier hat Schwarz auf 3. d2—d4, Lc8—g4 gespielt, ist aber dadurch genötigt, da Weiß nun d 4 x e 5 spielt, wenn er nicht die Rochade oder einen Bauer verlieren will, den Springer auf f3 zu tauschen und damit der Dame ein sehr gutes Standfeld zu geben. Es folgte: 5. Df3:, de: 6. Lc4, Sf6 7. Db3, Ld6 8. Lf7f und gewinnt.

60

Erster Teil.

Durch sonstige Züge: Schultz.

Sch.

Hier ist die schwarze Dame von d2 nach g5 gezogen, um den Springer, der auf h4 stand, wo er nur schlecht postiert war, anzugreifen. Sie treibt ihn nun nach f3, wo er trefflich steht und sofort die Partie gewinnt, nämlich Sh4—f3! Se5xf3 De6 X d7 und gewinnt, da der Turm wegen Matt nicht wiedernehmen kann. Gutmayer.

W.

Einundzwanzigstes Kapitel. Schutzfehler. Ein jeder Mensch kann irren; im Irrtum verharren kann nur der Unsinnige. C i c e r o , Phil. X U .

1) Schutzlos hingestellte Figuren: Morphy.

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Weiß rochiert hier, um seinen König sicherzustellen, führt ihn aber damit auf ein Standfeld, wo er den Angriffen der feindlichen Figuren schutzlos preisgegeben ist. 1. 0 - 0 Df4 2. h4 Sf3: 3. Df3: Dh4: u. gewinnt.

Schutzfehler.

61

2) Veranlaßte geschützte Stellung einer feindlichen Figur: Morphy.

Sch.

Hier treibt Weiß den schwarzen König in eine sichere Stellung, wo er aus aller Gefahr heraus ist. 1. Seöf Kc8 2. Dd7f Kb8 3. Dd6:f Ka8 4. Lf4 Df5: mit gutem Spiel. Owen

Mit allen diesen fehlerhaften Tendenzen muß man sich äußerst vertraut machen, was nur durch lange Übung möglich ist, um eine solche Kenntnis darin zu erlangen, daß man sie wie mechanisch, instinktiv vermeiden, fällt aber der Gegner hinein, sofort ausnützen lernt. Ist man so weit, dann wird man überhaupt in eine schlechte Stellung nicht so leicht mehr geraten können. Unser Spiel wird dann eine stolze Sicherheit erhalten, jede Befangenheit, selbst großen Meistern gegenüber, wird auf immer weichen. Im festen Vertrauen auf die guten, unumstößlichen Grundsätze unserer Spielführung werden wir immer den besten Zug auszuwählen suchen, das heißt den, der unseren Figuren den freisten Spielraum vergönnt und die feindlichen daran hindert. Einer gleich strengen Prüfung werden wir die Züge unseres Gegners unterwerfen, und wehe, wenn er nachlässig und unbedacht oder in eitler Selbstüberschätzung das Zusammenspiel seiner Figuren durch fehlerhafte Züge hemmt oder uns gute Gelegenheiten gibt, das unsere mächtig zu fördern. Wir werden schleunigst Vorteil daraus ziehen, seine Figuren auf alle mögliche Weise einengen und bedrücken, mit überlegener Figurenanzahl auf ihn eindringen, seine Stellung schnell demolieren und zertrümmern und die Partie meist leicht und mit Glanz gewinnen.

62

Erster Teil.

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Über Schlagz&ge. Sein oder Nichtsein, das ist bier die Frage! S h a k e s p e a r e , Hamlet.

Ich habe bisher immer nur von den Zügen gesprochen, insofern sie die Beweglichkeit der Figuren stören oder aufheben; jetzt will ich von ihnen reden, insofern sie mit Vernichtung drohen. Durch die Schlagzüge wird eine direkte Einwirkung auf die Bewegungen feindlicher Figuren, sowie deren Wegräumung, Vernichtung möglich. Einen ähnlichen, mehr oder minder intensiven Zwang üben außerdem nur die Angriffs-, Schachzwangs- und Zugzwangszüge aus. Alle diese Zugarten stelle ich unter dem Sammelnamen Treibzüge zusammen. Das ihnen allen gemeinsame Merkmal ist, daß sie die Bewegungen feindlicher Figuren beeinflussen, leiten, erzwingen können. Mehr davon im Kapitel „Treibzüge". Es gibt dreierlei Arten von Schlagzügen: 1) Tauschzüge, 2) Opferzüge, 3) Eroberungszüge. Von den Eroberungszügen spreche ich im dritten Teile. Hier will ich von den Opfer- und Tauschzügen handeln, weil sie die stärksten Handhaben zum Aufbau siegreicher Stellungen bieten und eine besondere Besprechung reichlich verdienen. Dreiundzwanzigstes Kapitel. Über Opfer überhaupt. Wer allzuviel bedenkt, wird wonig leisten. Schiller.

Das Opfer gewährt dem Gegner ein momentanes materielles Übergewicht, gibt dafür aber ein positionelles. Es ist daher eine gefährliche, zweischneidige Waffe, die in der Hand des Genies Wunder wirkt, in ungeschickten Händen aber nur Unglück und Nachteil bringt. Ängstliche, defensive Naturen haben es darum immer angefeindet — große, tiefblickende, geniale Geister hat es dagegen immer leidenschaftlich angezogen, und sie haben ihm ihre unbestrittensten Siege und ewigen Nachruhm zu danken.

Über Opfer überhaupt.

63

Worin liegt die Schönheit, der Glanz der Opfer, wodurch sie jeden entzücken, außer den ganz verbissenen theoretischen Grübler oder übermodernen Positionsspieler? Darin, daß wir über eine mehr oder weniger gewaltige materielle Übermacht mit geschwächten Kräften nur durch die Macht der besseren Stellung triumphieren, — der Geist über die Materie siegt. Immer jubelt unser Herz auf, wenn dieses erhabene Schauspiel sich unseren Augen bietet, wenn die gewaltige Masse gelähmt, in Schach gehalten, zerschmettert wird durch die Kraft des Geistes. Laßt immerhin die Verächter der Opfer, die enragierten Positionsspieler die Achseln zucken und proklamieren, daß der Opferstil keine Berechtigung mehr habe, ungenügend, zweifelhaft und verwegen sei, daß alles Heil nur im materiellen Übergewicht liege. Von ihrem Standpunkte aus mögen sie die Dinge richtig sehen, aber schade, daß der Standpunkt zu nieder ist. Der Streit über materielles und positionelles Übergewicht ist übrigens so alt wie das Schachspiel. Ängstliche, defensive Naturen haben immer nach dem Grundsatze: „Besser den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dache", die Erlangung des ersteren erstrebt durch Vermeidung aller Opfer. Die kühnen, wagemutigen Herzen, die Angriffsspieler aller Zeiten dagegen immer das letztere als den schnellsten Weg zum Siege erklärt, und dafür war ihnen kein Opfer zu groß. Von ihren großen Taten ist die Schachgeschichte voll. Die Defensivspieler sind nur berühmt durch die Zähigkeit ihrer Verteidigung. Sie gleichen dem Fabius cunctator, die anderen dem großen Hannibal. D:e Modernen haben vor dem materiellen Übergewicht einen kolossalen Respekt, so daß sie nicht leicht zu einem Opfer sich entschließen, und wäre es noch so geringfügig, wenn nicht sofortiger Vorteil handgreiflich ist. Sie haben daher alle Gambite in Acht erklärt und auf den Index gesetzt. Bei den meisten, chancenreichsten Opfern ist aber ein sofortiger, evidenter Vorteil nicht da. Sie geben ein starkes positioaelles Übergewicht und erst als späte Frucht das materielle. Ein Opfer, das nicht seinen Lohn gleich in den nächsten Zügen bringt, fordert daher einen sehr tiefen Blick in die Stellung und eine große Klarheit über die möglichen Resourcen des eigenei und des feindlichen Spiels und nur, wer darüber verfügt, darf es wagen. Die Modernen sagen, damit ein Opfer gelänge, bedürfe es meist 1er Mithilfe des Gegners.

Erster Teil.

64

Das läßt sich auch von ihren stillen Schleichzügen behaupten. Sie gelingen zudem sehr selten. Auf einen Gewinn kommen zehn Remisen. Das Aufopfern der Figuren richtet viel Unheil unter Stümpern an. Der Glanz einer solchen Spielweise veranlaßt sie, geradezu auf Opfer zu spielen. Sie übersehen ganz, daß ein Opfer nur ein Mittel ist, die Beweglichkeit der eigenen Figuren zu fördern, zu erhöhen oder die der feindlichen zu unterdrücken, und machen es zum Selbstzweck. Und so geben sie nutzlos oder zweckwidrig Figuren her und ermöglichen dem Gegner einen leichten Gewinn. Weiß spielt hier 1. D g 6 x h 6 . Ein glänzendes Damenopfer, das nur dann einen Wert hat, wenn der Gegner es annimmt, im anderen Fall demselben aber geMurphy. Seh. rade Gelegenheit gibt, sein Spiel zu retten durch 1. De7—f7, womit das Zusammenspiel der weißen Figuren erheblich geschwächt wird. Auf 2. Dh6—h8f folgt nun Kf8—e7 und der schwarze König ist außer Gefahr. Während bei 1. Dg6—h7 dies alles nicht möglich war, und Dame, Turm und Läufer im Zusammenspiel gegen Dame allein auf den feindlichen König sofort die Partie entschieden Bt-riere. hätten.



Anderssen.

w/Wi.

Morphr.

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Sch.

1. . . . Lh3, ein schönes Opfer, das jedoch nur erfolgreich war, wenn Weiß nach 2. gh :, Sd4! auch dieses zweite Opfer annähme, so aber spielt er 3. Sd2, Se2f; 4. Kf2, Df4:f; 5. Ke2:, Dg5; 6. Tadl, Lh6; 7. Dd5 und gewinnt leicht durch seine Figurenübermacht.

V o n den zwei verschiedenen

65

Opferarten.

Man kann immer sagen „feiner Spieler, kleiner Spieler". Ein Schachspieler, der überall nach Gelegenheiten zu Opfern spürt, der durchaus elegant und glänzend spielen will, ist wie ein Gourmand, der nach allen leckeren Speisen jagt und schließlich dabei vergißt, daß er ißt, um seinem Körper Kraft und Stärke zu geben, und nicht, um seinen Gaumen angenehm zu kitzeln. Gerade so bedenken die brillant spielen wollenden Spieler nicht, daß die Opfer nur da sind, um die Stellung entscheidend zu verstärken, nicht aber, um damit den Kiebitzen zu imponieren und sich das Ansehen von überlegener Spielweise zu geben, die gerade darin besteht, allen ungesunden, wenn auch verlockenden Opfern aus dem Wege zu gehen und nur die Züge zu machen, die das Zusammenspiel der Figuren fördern oder das gegnerische hindern.

Vierundzwanzigstes

Kapitel.

Von den zwei verschiedenen Opferarten. Wir hoffen immer, und in allen Dingen Ist besser hoffen als verzweifeln. Denn Wer kann das Mögliche berechnen? ( r o e t h o , Tasso.

Unter Opfer verstehe ich die freiwillige, zielbewußte Hingabe, Einstellung einer Figur (reines Opfer) oder die Eintauschung einer Qualitätsfigur gegen eine minderwertige feindliche ( T a u s c h opfer). Das reine Opfer bezweckt immer allein die Bewegung einer feindlichen Figur. Ich stelle eine Figur ein und veranlasse den Gegner, wenn er sie schlägt, zu einer bestimmten Bewegung mit der Schlagfigur, die für sein Spiel nachteilig, für das meine günstig ist. Ich veranlasse ihn: 1) sein Spiel irgendwie zu hemmen, 2) mein Spiel irgendwie zu befreien, 3) irgendeine seiner Figuren zu exponieren. Die Annahme der reinen Opfer läßt sich nicht immer erzwingen, aber gewöhnlich ist ihre Anbietung schon vorteilhaft, da wir ja auf diese Art Züge tun, die unter gewöhnlichen Umständen nicht erlaubt sind. Die Tauschopfer sind komplizierter Natur, weil es hier nicht nur auf die Bewegung der wiederschlagenden feindlichen Figur, sondern auch auf die Wegräumung von Figuren ankommen kann. G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft.

2. Aufl.

5

66

Erster Teil.

Es liegt auch mehr Zwang in ihrer Annahme, da der Gegner ohne Figurenverlust sie nicht gut ablehnen kann. Da sie aber ihrer ganzen Wirkung nach mit den gewöhnlichen Tauschzügen einen Charakter haben, so behandle ich sie mit diesen gemeinsam. Danach lassen sich alle reinen Opfer einteilen in: 1) Hemmungsopfer, 2) Befreiungsopfer, 3) Expositionsopfer. Es gibt zwei Ausnahmefälle, wo das reine Opfer nicht die Bewegung einer feindlichen Figur bezweckt, sondern lediglich die Wegräumung der eigenen Opferfigur vom Brett anstrebt. Der erste Fall trifft bei Opfern zur Erzwingung des Patts zu, der zweite bei Opfern von Offizieren oder Bauern zur Öffnung von Linien. Von allen diesen Fällen gebe ich Beispiele. Das reine Opfer gehört zu den Treibzügen und nicht zu den Schlagzügen. Der Übersichtlichkeit halber aber handle ich es hier ab.

Fünfundzwanzigstes

Kapitel.

Beispiele von reinen Opfern. Exempel gebt vor Lehre.

1. Hemmungsopfer. Verstellungsopfer. Mayet.

Scb.

Schwarz opfert die Dame, um dem schwarzen König ein Fluchtfeld zu nehmen. Sd4:! 1. . . . 2. h4! Sdf5 3. Df7: SgSf 4. Kgl Dd6ü 5. La3 Dd3 6. Sd5 Dflfü Se24: 7. T f l : Zukertort.

Beispiele von reinen Opfern. Sohw.

Kauders.

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67

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Weiß opfert die Dame, um dem schwarzen König ein Fluchtfeld zu nehmen. 1. Da7!! Ta7: 2. Kf7 3. T g S *

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Binck.

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Stamma.

Sch.

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Weiß opfert Springer und Läufei, um dem Turm die dLinie iu verstellen. Sein d-Bauer geht in die Dame.

Weiß erreicht durch Turmopfer die Verstellung des Umwandlungsfeldes des schwarzen g-Bauern und geht mit der seinen zur Dame.

:. Sb3f! Sb3: 2. Ld2f! Sd2: 5. d7 u. gewinnt.

1. T g l ü Tgl: 2. gl Tfl 3. g8Df u. gewinnt. 5*

68

Erster Teil.

Moore

Sch.

Ä WS Weiß opfert die Dame, um den schwarzen Turm oder Läufer zu verstellen, die seinem Mattangriff im Wege sind. 1. D e 6 ü 2. Sg6f 3. Th8=j=

Te6: Kg8

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Sch.

Lolli.

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W.

Weiß opfert die Dame, um dem schwarzen König ein Fluchtfeld zu nehmen. 1. D g 4 ! ! 2. T h 6 ! 3. Lf7=|:

Lg4: gh:

Umdrohung. Carr.

Sch. Weiß opfert den Läufer, um den schwarzen König in eine Stellung zu ziehen, wo er ihm alle Zugfelder sukzessiv abschneiden kann. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Morphy.

W.

Lh6f! Th3f Thöj Kf2 g3| hg +

Kh6 Kg5 Kf4 Tg8 Tg3:

69

Beispiele von reinen Opfern.

Anderssftn.

Weiß opfert einen Turm, um den schwarzen Springer zu fesseln. Er gewinnt die Dame. 1. Tg8|!! 2. Dc5:

Kg8:

Scb.

Weiß fesselt durch ein Turmopfer den schwarzen g-Bauer und öffnet so seiner Dame das entscheidende Feld für einen Mattangriff. 1. 2. 3. 4.

De6 Th8fü Dh6| Dg7 +

Tb3: Kh8: Kg8

Weiß setzt den Läufer ein, um den schwarzen Läufer zu fesseln oder durch seine Wegräumung ein Umwandlungsfeld zu öffnen. 1 2. 3. 4.

a7 d7 Lh5!! a8 od. d8D

Lf3 Td5 T od. Lh5: u. gewinnt.

70

Erster Teil.

Bindung. Kolisch.

Scb.

Harrwitz.

Damiano.

Sch.

W.

Schwarz stellt Springer und Läufer zum Opfer hin, um Bauer h3 oder Turm f l aus ihrer Bindestellung zu vertreiben und so die Dame zu erobern. 1. 2. 3. 4.

Maurian.

.. . Kg3 Tf2: hg:

Sg4|! Lf2f! Ddl: e3!

Weiß stellt den Läufer zum Opfer hin, um die schwarze Dame aus ihrer Bindestellung zu zwingen. 1. Lb5ü Sc6 2. de: und gewinnt.

Seh.

Weiß opfert den Turm, um den Gegner zu zwingen, die Deckung der Dame aufzugeben. 1. Tf8f 2. De6:

w.

Tf8:

Beispiele von reinen Opfern.

71

Zeithemmung. Müßige Züge. Amateur.

Sch.

Weiß opfert den Läufer, um den Gegner abzuhalten, einen Verteidigungszug zu machen. Das verlorene Tempo kostet die Partie. 1. Tfel Lc2: 2. Tf7 : ! Kf7: 3. Tö7f ! ! Ke7: 4. Dg7 + Ke8 5. Dg8f Ke7 6. Lh4f Kd7 7. Df7 4=

¡R il ^ Morphy. ilandolfo.

Sch.

Stamma.

Sch.

WM,

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Kolisch.

Schwarz opfert die Dame, um den Weißen zu einem müßigen Zug zu bewegen, indessen er einen eleganten Mattangriff formiert. 1. . . . Se4H 2. Ld8: Sg3! 3. Sg6f Sde2f 4. D e 2 | Sge2=j=

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w. Weiß veranlaßt den schwarzen König zu müßigen Zügen, währenddessen er seine Figuren zum Mattangriff formiert. 1. Tgöf! Kg5: 2. Sf7f Kh5 3. g4=)=

72

Erster Teil.

Morphy.

Sc]

Schwarz zwingt den Weißen zu einem müßigen Zug, indessen er seiner Dame den Weg zum Mattangriff freilegt. 1. 2. 3. 4. 5. 6. Schulten.

Sf3f! Dd4f Df2| Df3f Sh6 Sf54=

W.

Doppelangriff. Stamraa.

gf:' Kg2 Kh3 Kh4 beliebig

Abzugsangriff. Seh.

W.

Weiß opfert den Läufer, um den schwarzen König in die Diagonale a7gl zu ziehen. Er erobert dann die Dame, wenn der feindliche f-Bauer sich umwandelt auf gl. 1. Ld4M Kd4 2. b8D glD 3. Da7t und gewinnt die Dame.

Steinitz.

Sch.

Blackburoe.

Weiß opfert den Turm, um die feindliche Dame in die Schlaglinie der seinen zu bringen. Er erobert sie dann durch einen Abzugsangriff. 1. Td7ü Dd7: 2. Sh6| gh: 3. Dd7: Ld5 4. Lh6: u. gewinnt.

73

Beispiele von reinen Opfern.

Morphy.

W.

Weiß opfert den Springer, um den Läufer zu gewinnen und einen Mattangriff zu inszenieren. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Harrwitz.

Se6f! Lh6^ Le6: Tfl: Tf7

Weiß opfert einen Turm, um die Dame zu gewinnen und einen Mattangriff durchzuführen. 1. Tf8f 2. Lg7t 3. Lf6 +

Se6: Kh8 Tfl + Sg8 De6:

W.

Morphy.

Tf8: Kg8

Seh.

Weiß opfert den Turm, um König und Dame von Schwarz gleichzeitig angreifen zu können. 1. T f 6 f ! gf: 2. Lf4f und gewinnt.

Koliscb.

Erster Teil.

74

W. Weiß opfert den Springer, um König und Dame des Gegners in eine Doppelangriffstellung zu ziehen. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Kinck.

b7 g4! Sb8: g3 Sc6 g2 Sd4ü Kd4: b8D glD Da7f und gewinnt.

Weiß opfert den Läufer, um König und Dame von Sclrvarz in eine Doppelangriffkonstellstion zu bringen. 1. 2. 3. 4. 5.

Sd5! c2 Se3 clDf Sc4f Ka4! Ldlü Ddl: Sb2f und gewinnt.

Seh.

Weiß opfert den Läufer, um eine Doppelangriffstellung aufzubauen. 1. 2. 3. 4. 5. w.

La6f Kd8 Seßf Ke8 Le2ü hlD Lh5 Dh5: Sg7f und gewinnt.

Beispiele yon reinen Opfern.

75

R andhemmun£ Aoderssen.

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Weiß opfert den Turm, um den feindlichen König in die Ecke zu ziehen. 1. Th8f! 2. Se7! 3. Thl =f=

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Kh8:

III

Kiseritzky. Zukertort.

Anderssen.

Sch.

Mason.

Sch.

W.

Weiß opfert den Turm, um den feindlichen König in die Ecke zu zwingen. 1. ab:f Kb8 2. T a 8 | ! ! Ka8: 3. Sd7 u. dann 4. Tal =|=

Weiß opfert die Dame, um den schwarzen König nach dem Rand zu ziehen. Er kann dem Mattangriff nicht entgehen. 1. D h 6 | ! ! Kh6: 2. Shföf Lf5: 3. S f 5 + Kh5 4. g4f Kg4: 5. Tg3f Kh5 6. Le24=

Erster Teil.

76

W.

Weiß opfert die Dame, um den schwarzen König nach dem Rand zu ziehen. 1. Se6f 2. Dh6! 3. Lf8=j=

De6: Kh6:

Weiß opfert die Dame, um den schwarzen König in die Ecke zu zwingen, wo er ihn festhält und mattsetzt. 1. D a l f ü 2. K c 2 ! 3. Sb3=|=

Kai: flD

2. Befreiungsopfer. Feldöffnung. Amateur.

Sch.

Weiß opfert seine Dame,, um die feindliche von der Beherrschung des Punktes g6 abzulenken. 1. Tdfl! Dc4: 2. Sg6f Kg8 3. Se7f Kh8 4. Th7 + u. 5. Thl=|=

H. y. Gottscball

Richardson.

Mouret.

Weiß opfert den Springer, um Linien gegen den feindlichen König zu öffnen, und die Dame, um ihn zu exponieren und so zu müßigen Zügen zu zwingen, während die weißen Figuren sich zum Mattangriff formieren 1. Sf6f! gf: 2. Df8f!! Kf8: 3. Lh6f Kg8 4. Te8=j=

Durch Damenopfer öffnet Weiß sich die erste Reihe zum Mattangriff für seine Türme. 1. Dg5f! Tg5: 2. Thlf Thl : 3. Thlijf

Binck.

W.

Seh Durch Turmopfer erzwingt Weiß die Öffnung des Umwandlungsfeldes seines h-Bauern. 1. h7 Tflf 2. Kg4 Tf8 3. Kg3: Kfl 4. Tföf! Tf5: 5. h8D

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W.

78

Erster Teil.

Caro.

Sch.

Durch Damenopfer erzwingt Weiß die Öffnung des Feldes e8 zum Mattangriff. 1. D g 8 f ! ! 2. Te8| 3. Te84=

Offizier aus Turin.

Kg8: Te8:

Amateur.

Sch.

Weiß öffnet durch Turmopfer das Feld e6 seiner Dame zum Mattangriff. 1. 2. 3. 4.

Td8f! De6f Th6|! Df7 4=

Dd8 Kh7 gh:

Sch.

Durch Damenopfer öffnet Weiß sich die entscheidende Angriffslinie auf den schwarzen König. 1. Dcöfü 2. T d 8 ^

de:

79

Beispiele von reinen Opfern.

3. Expositionsopfer. Horrwitz.

ScüuulteD.

Sch.

W.

Saalbach.

Sch.

Pollmächer.

W.

fcSchwarz opfert die Dame, um Weiß opfert die Dame, um den dem feindlichen König zu ex- schwarzen König zu exponieren. pomieren. Ke8: 1. De8f!! Kd8 2. Sf6t 1. . . . Dflfü 3. Sf7 + 2. K f l : Ld3f 3. Kel Tfl=j= Rio..

Sch.

Weiß opfert die Dame, exponiert den schwarzen König und setzt ihn dann forciert matt. 1. 2. 3. 4. 5.

w.

Dg8ü Se7f Sf7f Tc8 + Tf8i£

Kg8:! Kh8 Tf7: Tf8

80

Erster Teil.

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Sch.

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Anderssen.

Sch.

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1.

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Morphy.

W.

Weiß opfert den Turm, um den feindlichen König zu exponieren, Er hat einen Mattangriff in petto. 1. 2. 3. 4. 5.

Tc7f!! Db6f Tclf Tc3f Dc7 +

Kc7 : Kc8 Dc3 Kd7

P. Morphy.

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Schwarz opfert einen Turm, den König zu exponieren. 1. . . . 2. K h l : 3. Kh2

Thlf! Sg3f Se2:

Sch.

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W.

Deacon.

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w.

Weiß opfert die Dame, um den feindlichen König in einen Engpaß hineinzutreiben, wo er dem Matt nicht entgehen kann. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Df7f!! gh:Sf Sg7| Sf7t Se8t Se5f Sc7f Sc44:

Kf7: Ke8 Kd8 Kc7 Kc6 Kb5 Ka5

81

Beispiele von reinen Opfern. Tartakower.

Seta.

Weiß opfert die Dame, um den feindlichen König zu exponieren. 1. D d 8 f ! !

Kd8: Ke8

2. Lgöjt

3. T d 8 4 :

w.

Reti.

4. Pattopfer. Englisch.

Sch.

Janowski.

Wm..

Sch.

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Bird.

W.

Schwarz zwingt den Weißen, ihm seine beiden Türme wegzuräumen. Er ist dann patt, die Partie unentschieden. 1. 2. 3. 4.

Sf6: Khl: Kh2 Khl:

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Schlechter.

Weiß opfert den Turm, um die letzte Figur los zu sein. Er ist dann patt.

Thlf! Telf Thlf patt.

G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Auf]

1. . . . 2Th6|!

Tg2 gh: patt.

82

Erster Teil.

Sd7 2. Sf6 3. Sd5 4. Se3: 1.

Patt.

e4 e3 Ld2(b6) Se3:

W.

Td2 2. Kf2|! 3. Tdl Patt.

Da8 Dhl Ddl

1. 2. 3. 4.

Se6 e2 elD Dbl:

1.

Scb.

Block.

W.

1. Th4ü 2. fg! 3. Ka6 Patt.

Th4: Th7 Tg7:

Te7 Td7: Tb7! Tbl

Patt.

W.

Über Tauscliopfer und Tauschzüge.

83

Schwarz opfert den Turm, um seine letzte bewegliche Figur los zu werden und den Gegner zu zwingen, seinem König das einzige Zugfeld zu nehmen. 1. b5 2. b6 3. T e l :

Sechsundzwanzigstes

Te3 Telf patt.

Kapitel.

Über Tauschopfer und Tauschzöge. Erst wägs, dann wags!

Durch ein Tauschopfer bzw. einen Tausch wird dreierlei erreicht: 1) Wegräumung einer feindlichen Figur, 2) Wegräumung einer eigenen Figur, 3) Bewegung einer feindlichen Figur. Durch die Wegräumung der feindlichen Figur wird auf alle Fälle eine befreiende Wirkung erzielt für mein Spiel, da deren Wirksamkeit aufhört. Durch die Bewegung der wiederzunehmenden feindlichen Figur kann ich wieder hervorrufen: 1) Hemmungen im feindlichen Spiel, 2) Befreiungen im eigenen Spiel, 3) Expositionen im feindlichen Spiel. Es kann auch hier wieder ein Ausnahmefall vorkommen, wo das Tauschopfer weder die Wegräumung einer feindlichen Figur, noch die Bewegung einer solchen bezweckt, sondern lediglich die Wegschaffung der eigenen Figur vom Brett, um eine Pattstellung zu erreichen. Ich gebe Beispiele von allen Fällen. • 6*

84

Erster Teil.

Siebenundzwanzigstes Kapitel. Beispiele über Tauschopfer und Tausche. Wohl unglückselig ist der Mann, Der unterläßt d a s , was er kann, Und unterfängt sich, Was er Dicht versteht; Kein Wunder, daß er zugrunde geht Goethe.

Verstellung. Damino.

1. Hemmungsopfer. Sch.

Weiß tauscht die Dame gegen den feindlichen h-Bauer, um die feindliche Dame auf h7 zu zwingen, wo sie dem König das einzige Fluchtfeld versperrt. Auch wird das Feld f7 dem Springer zum Mattangriff geöffnet. 1. Dh7 + 2. Sf7=(=

Dh7:

w. Randstellung. Laaker.

Sch.

Schwarz tauscht den Turm gegen den a3-Bauer, um den feindlichen König nach dem Band zu zwingen, wo er einem entscheidenden Mattangriff erliegt. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Pillsbury.

W.

De6f Ka3: Ka4 Kb5 Ka5

Ta3: ! ! Kh7 Dc3f b5f! Dc4t Ld8=j=

Beispiele über Tauschopfer und Tausche.

85

Umdrohung. Morph}-.

Sch.

Schwarz tauscht den Turm gegen den Bauer, um dem weißen König alle Zugfelder zu nehmen.

I M T Pü . Paulseu.

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1. 2. 3. 4. 5.

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... Kg2: Kf2 Kf3 Df7

Tg2+! Dh3f Dh2| Tf8t Tf7i£

W.

Fesselung. Anderssen.

Kolisch.

Sch.

W.

Weiß tauscht den Springer gegen den d-Bauer. Dadurch treibt er die feindliche Dame auf das ungedeckte Feld d5, und macht so den schwarzen f-Bauer, der nun gefesselt ist, schlagohnmächtig. Der schwarze Springer auf e4 geht verloren. 1. Sd5:! Dd5: 2. Le4: und gewinnt.

Aoderssen.

Mayet.

Sch.

W.

Schwarz tauscht die Dame gegen den g-Bauer, um die feindliche Dame zu fesseln und dadurch schlagohnmächtig zu machen. 1. . . . Sh5! 2. bc: Sf4: 3. Tf4: Tdlf! 4. Tfl Dg2f!! 5. Dg2: T f l 4=

86

Erster Teil

Anderssen.

Sch.

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Hannah.

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Schwarz tauscht den Springer gegen den f-Bauer, fesselt dadurch den weißen Turm und macht ihn schlagohnmächtig. 1. . . . 2. Tf3: 3. K h l

Walbrodt.

Sf3:! Df2f Lf3^ u. gewinnt.

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Lowe.

W.

Schwarz tauscht Turm gegen Bauer, weil er wegen der Fesselung des weißen g-Bauern den König zum Schlagen' zwingt, diesen exponiert und die h-Linie öffnet zum Mattangriff. 1. Lc3 2. Kh3: 3. Kh2

Th3+! Dg4f ~ Dh44=

Sch.

Weiß tauscht seine Dame gegen 2 Türme, um die feindliche zu fesseln und so ohnmächtig zur Deckung zu machen. 1. 2. 3. 4. 5. Tarrasch.

W.

... Sg3: Tg3 + Tg3+ Tg4ü

Td4 Sg3: hg: Kfl! aufgegeben.

Beispiele über Tauschopfer und Tausche.

Morphy.

W.

Weiß tauscht den Turm gegen einen Bauer, um den schwarzen g-Turm zu fesseln. Durch Abdrängen der Dame erobert er ihn. 1. T h 7 + ! Kh7: 2. Dh5f Kg8 3. S e 7 + Kg7 4. Sf5f, Kg8 5. Sd6:! D~ 6. Dg64- und gewinnt.

Anderssen.

87

W.

Weiß tauscht Turm gegen Springer und in der Folge Dame gegen Bauer, um einen Abzugsangriff gegen den feindlichen König zu inszenieren, der zum Matt führt. 1. T e 7 + ! Se7: 2. D d 7 ^ ü Kd7: 3. Lf5f Ke8 4. Ld7t Kf8 5. Le7i{=

Abzug. Amateur.

Sch.

Weiß tauscht die Dame gegen den Turm, um durch Wiederschlagen mit dem Bauern einen tödlichen Abzugsangriff auf den schwarzen König vorzubereiten. 1. De8f Te8:t 2. fe:Df Le8: 3. Ld6=j=

Gharousek.

W.

88

Erster Teil.

Englisch.

Sch.

Weiß tauscht Dame gegen Springer, um König und Dame in eine Doppelangriffstellung zu jagen. 1. 2. 3. 4.

Zukertort.

W.

Schoumoff.

Kteseritzky.

Schulten.

W.

Schwarz tauscht Dame gegen Springer, um den weißen König in eine tödliche Abzugstellung zu ziehen. 1. 2. 3. 4. 5.

Db5!! Db5: c8Df Kf7 De6-^ü Ke6: Sc7f und gewinnt.

Kh3: Kh4 Kh5 Kh6

Dh3+! Se3f

g5t Lg4t

Lf84=

Winawer.

Sch

W.

Weiß tauscht Dame gegen Springer, um einen Abzugsangriff auf den schwarzen König zu ermöglichen, der tödlich wird. 1. Dh5:!! Th5: 2. Tg7 + Kh8 Kg8 3. Tf7 + Kh8 4. Tg7f Kg8 5. Te7 + 6. T g l f und matt in zwei Zügen.

Beispiele über Tauschopfer und Tausche. Scb.

Morpby.

W.

Weiß tauscht Turm gegen Bauer, um einen Abzug vorzubereiten, der ihm erlaubt, den g-Bauer in die Dame zu ziehen. 1. Tb7:! Tb7: 2. g7t K ~ 3. g8D

Zukertort.

Anderssen.

89 Sch.

W.

Weiß tauscht die Dame gegen einen Bauer, um einesteils die h-Linie zu öffnen, andernteils den feindlichen König zu exponieren und zu m ü ß i g e n Zügen zu zwingen, währenddem er die eigenen Figuren zu einem glänzenden Mattangriff formiert. 1. D h 7 + Ü , Kh7: 2. f6f, Kg8 3. Lh7f, Kh7: 4. Th3f, Kg8 5. Th8=j=.

2. Befreiungsopfer. Anderssen.

Scb.

Weiß gibt seine Dame für einen Springer, um seinen Figuren für einen Mattangriff Felder und Linien gangbar zu machen. 1. . . . Df3^ 2. gf: Lh3f 3. K g l Telf 4. Kf2 Lh44=

Riemann.

W.

90

Bernhard Fleissig.

Erster Teil.

W.

Durch Tausch von Turm gegen Bauer öffnet Schwarz seinem anderen Turm die zweite Reihe zum Mattangriff. 1. Da8t Kd7 2. Db7: Te4 3. Tgl Th4 4. Tfl De5 5. h3 Th3+! 6. gh: Dh2=(=

Morphy.

Suhle.

W.

Schwarz tauscht Dame gegen Turm, um die erste Reihe seinem Turm zu öffnen. 1. Tglt Dgl+! 2. Kgl : Tdl

Seh.

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Schwarz tauscht Dame gegen Turm, um die erste Reihe zu öffnen. 1. . . . Dfl + 2. K f l : ! Tel =)=

w.

W.

Amateur.

Morphy.

Durch Tausch von Dame gegen Springer öffnet Schwarz seinem Springer das Feld zum Mattangriff. Df3:! 1. Dg2 : ! ! 2. Tgl Sf3=j= 3. Tg2:

Weiß tauscht Turm gegen Bauer, um die d-Linie zum Angriff zu öffnen. 1. T e 5 ^ ! Ke5: 2. d4f Ke6 g6 3. g4! Kf7 4. De4f Kg7 5. Ld5 + Te8 6. Le7! Kh6 7. De5f 8. g5"f und gewinnt.

Wivyll.

Sch.

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Anderssen.

W.

Weiß tauscht Dame gegen Turm, um seinen Türmen die letzte Reihe zu öffnen. 1. D a 8 : ! Ta8: 2. Td8f Td8: 3. Td8=j=

Erster Teil.

92

J. Makowetz.

W.

Schwarz tauscht Turm gegen Bauer, um die h-Linie zu öffnen, da er dann die feindliche Dame erobern kann. 1. . . .

2. Kh2: 3. K g l winnt die Dame.

Mackenzie.

Th24 L Th8f S e 2 | u. ge-

Gutmayer.

W.

Weiß tauscht Dame gegen Bauer, um die achte Reihe seinen Türmen zu öffnen. 1. T e l ! De5: ? 2. Df7 4 1 !! Tf7: 3. Tc8f De8 4. T e 8 ^ Tf8 5. T f 8 ^

Sch.

Durch Tausch von Dame gegen Turm öffnet Schwarz seinem Läufer eine Linie zum Mattangriff. 1. . . . Dd5:! 2. ed: Lf5f 3. Dc2 Talf! 4. K a i : Lc2: 5. beliebig Ta8=(= Blackburne.

Beispiele über Tauschopfer und Tausche.

93

3. Expositionsopfer. Zulcertort.

Sch.

Greco.

Sch.

W.

W.

Weiß tauscht hier Dame gegen Springer, um König, Dame und Turm zu exponieren.

Weiß tauscht Turm gegen Läufer, um die schwarze Dame zu exponieren. 1. Th6:! Sh6: 2. Lc7| Kc7: 3. Df6:

Andersseu.

1. 2. 3. 4.

Dg8:!! Tg8: Sf6f Ke7 Sg8 + Ke8 Sf6f und gewinnt.

4. Pattopfer. J . Dufreene.

Sch.

Weiß tauscht Turm gegen Bauer, um den Schwarzen zu zwingen, ihm seinen Turm wegzuräumen, und baut sich eine Pattstellung auf. 1. g8D! Kg8: 2. T g 6 + Ü Tg6: 3. Sal|! K~ 4. b3 und ist patt. w.

94

Erster Teil.

Fonziani.

Sch.

Weiß tauscht Läufer gegen Bauer und opfert noch die Dame, um eine Pattstellung aufzubauen. 1. Lf2* e3 2. Le3:! De3: 3. Df2 Df2: 4. a5f! und ist patt.

5. Tausche. Neumann.

Sch.

Spielmann.

Walter Für.

Schwarz öffnet durch Turmtausch seiner Dame das entscheidende Feld zum Mattangriff. 1. . . . Sf3f 2. Lf3: Sf3 + 3. Khl Tdl + ! 4. Sdl: Dfl4=

Sch.

W.

Weiß provoziert den Damentausch, weil er dabei Qualität, Bauer und Partie gewinnt. 1. Lf7:ü aufgegeben. Auf 1. . . . Tf7 folgt: 2. D f 7 + ! Kf7: 3. Se5f usw. Auf 1. . . . Kh7 folgt 2. Se5, Df4| 3. Kh3:, De5:! 4. Thl! und gewinnt.

Beispiele über Tauschopfer und Tausche.

Tschigorin.

W.

Weiß provoziert den Läufertausch, um den schwarzen Turm zu exponieren. 1. c4H Lei: 2. Lc4: de: 3. Df3ü und gewinnt Ta8 wegen 4. Sg6f-

95

Morpby.

Weiß erzwingt durch Damentausch die Entdopplung seiner Bauern und gewinnt durch bessere Bauernstellung. Dd4: 1. Dd4 Tb4 2. cd: Tc4: 3. Tf5: Kg8 4. Tf7: Kf8 5. Tg7f 6. Th7: Td4: 7. Tc7: Tdlf 8. Kb2 Td2f Tg2: 9. K b 3 10. a4 a5 Th2 11. h7 12. Kc4 und erobert die schwarzen Damenflügelbauern.

Der Tausch scheint zwar ein ganz gefahrloses Manöver, man gibt eine Figur her und bekommt eine gleichwertige wieder. Aber viele Spieler verlieren gerade durch den unbedachten Abtausch von Figuren Partien oder verscherzen den Gewinn. Er schwächt das Zusammenspiel der übrigen Figuren; man beraubt sich damit einer Angriffs- oder Verteidigungsfigur, deren Dienste gerade in einem entscheidenden Moment den Gewinn herbeiführen oder den Verlust abwenden kann.

96

Erster Teil.

Deshalb ist auch das Prinzip der Modernen falsch und verwerflich: möglichst das Spiel zu vereinfachen durch Abtausch. Sie proklamieren hiermit den A u s r o t t u n g s a b t a u s c h , suchen gerade die beste, lebenskräftigste Figur, die Dame, so schnell als möglich vom Brett zu entfernen, schwächen ihr Spiel und machen es arm an Gewinnchancen. Kein Wunder, wenn sie unter zehn Partien neun Remisen zählen. Jeder Tausch, der nur darauf ausgeht, eine gefährliche Figurenspezies zu exterminieren, und den nur die bleiche Furcht vor einer ungewissen Zukunft eingibt, ist töricht und verwerflich. Die Partie wird dadurch geistlos, langweilig und verliert jeden Kunstwert. Wie im Leben, hat auch im Schach ein Tausch nur Sinn, wenn er vorteilhaft ist, oder wenn man ein unnützes, lästiges Objekt los sein will. Im Schach ist noch dazu jeder Tausch eine irreparable Schwächung der Kräfte, ein Aderlaß, der öfter wiederholt zur völligen Entkräftigung, zum plattesten Remis führt. Ein Schachkünstler darf sich aber nicht der Mittel freventlich berauben, seine Kunst auszuüben. Dem Professionsspieler mag es immerhin aus Nützlichkeitsgründen hingehen und verziehen werden, wenn er durch konsequenten, prinzipiellen Täusch das Mittelspiel unterdrückt, überspringt und aus der Eröffnung gleich ins Endspiel flüchtet. Es ist zwar Tollheit, aber es ist Methode darin. Dann kommt noch weiter in Betracht, daß bei jedem Abtausche, wodurch doch Figuren vom Brette kommen, ein freierer Spielraum für die anderen entsteht. Man kann seinem Spiel, ohne es zu merken, gerade hierdurch die größten Nachteile zufügen, indem man den feindlichen Figuren Luft macht und ihnen einen größeren Spielraum verschafft. Alles dies überlegt der Stümper nicht. Weil er eben keinen Überblick über die ganze Stellung hat, so sieht er die gefährlichen Folgen seiner Tauschmanöver nur zum geringsten Teil oder gar nicht, und während er glaubt, durch Verminderung der Streitkräfte seines Gegners sich das Spiel leichter zu machen, und zukünftige Gefahren zu beschwören, gräbt er sich gerade sein Grab und gibt selbst Veranlassung zu einem schnellen Ruin seiner Partie. Hütet euch daher vor jedem frivolen Abtausch und ihr werdet viele Verluste von Partien vermeiden. Das überlegenere Zusammenspiel der Figuren entscheidet in letzter Linie immer den Gewinn, wie wir bald deutlicher sehen werden. Wenn ihr nun das

07

Von den Treibzügen überhaupt.

eure schwächt durch Hingabe einer lebenskräftigen, hilfreichen Figur oder das gegnerische stärkt dadurch, daß ihr den feindlichen Figuren mehr Spielraum verschafft und die eine oder andere Linie ihnen öffnet, wodurch sie nun auf einmal eine übergroße Beweglichkeit erhalten, auf euer Spiel drücken, in dasselbe eindringen und schwere Störungen hervorrufen, so gebt ihr eure besten Gewinnchancen aus den Händen und spielt zum Vorteil eures Gegners.

Achtundzwanzigstes

Kapitel.

Von den Treibzügen überhaupt. Die Menschen finden Bich in ein verhaßtes MQsBen Weit besser, Als in eine bittre Wahl. S c h i l l e r , Die Piccolomini.

Durch eine Bewegung meiner Figuren kann ich viel Gutes oder Böses stiften, je nachdem sie überlegt oder unüberlegt, geschickt oder ungeschickt ausfällt. Da in jedem Zuge eine Summe von Hemmungen und Befreiungen steckt, so kann ich, wenn ich daraus den rechten Vorteil ziehe, viel damit für das Zusammenspiel meiner Figuren und viel für die Verhinderung des feindlichen tun. Ich kann aber auch viel für die Verhinderung meines und Beförderung des gegnerischen Zusammenspiels der Figuren tun, wenn ich die Figuren blind ziehe, ohne alle Wirkungen, die durch jeden Zug hervorgerufen werden, ins Auge zu fassen. Ich kann gleichfalls durch meine Züge die Figuren des Gegners bewegen zu seinem Nachteil oder meinem Vorteil. Wir haben bei den Opferzügen gesehen, daß darin ihre ungeheure Wichtigkeit liegt. Ich nenne alle Züge, die eine solche bewegende Macht auf die gegnerischen Figuren ausüben: Treibzüge. So wichtig die Triebkräfte für die Welt sind, so hochbedeutsam sind sie auch für das Schach. Große Leistungen erfordern große Triebkräfte. Große Hindernisse aus dem Weg zu räumen, braucht man dort Dampf, Elektrizität, Dynamit, hier Opfer-, Droh-, Tausch- und Zwangszüge. Durch ihre zielbewußte Verwendung können Hindernisse aus dem Wege geräumt, Breschen gelegt, Stellungen zertrümmert oder aufgebaut und die unglaublichsten, merkwürdigsten Erfolge errungen werden. G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

7

98

Erster Teil.

Aber wie alle Gewaltmittel sind sie zweischneidig und gefährlich. Ungeschickt angewandt, schaden sie ebensosehr, als sie in rechter Hand nützen. Darum verunglücken so viele bei ihrer Verwertung. Der Stümper meidet sie, weil er sie nicht zu gebrauchen versteht, der Positionsspieler, weil er mit so kostspieligen Mitteln nicht arbeiten will und fürchtet, nicht auf seine Kosten zu kommen. Nur der große Schachkünstler, der ihren hohen Wert und ihre wundersame Kraft kennt, verehrt in ihnen seine besten, feinsten Werkzeuge zur Gestaltung siegreicher Stellungen. In den Treibzügen liegt die Quelle der größten Triumphe für den Schachgenius, der mit schöpferischer Kraft in das Spiel seines Gegners eingreift und sich das höchste Zusammenspiel seiner Figuren dadurch e r z w i n g t , die feindlichen aber in die trostlosesten Lagen drängt, wo sie ohne Harmonie zu Haufen zusammengeklumpt oder vereinzelt dastehen, und der so die glänzendsten Siege von unvergänglicher Schönheit erringt. In den Treibzügen liegt das eigentlich Schöpferische, Geniale im Schach, wo sich der echte Künstler zeigt. Es liegt damit in der Macht des wahren Schachkünstlers, auf die Gestaltung der Stellung einen schöpferischen Einfluß auszuüben, da es ja in seiner Macht liegt, die Figuren seines Gegners zu bewegen. Nur wer dies recht erkennt und in seinem vollen Umfang in seinem Spiel zur Geltung bringt, ist der echte Künstler. Ja, der Schachprozeß scheint ganz einfach durchzuführen! Wenn einmal irgendeine Hemmung da ist, braucht man nur mehrere Figuren darauf hin zu richten und die feindlichen abzuhalten, und man wird im günstigsten Fall die Majorität erlangen, den fraglichen Punkt erobern, aber die Schwierigkeit liegt hauptsächlich darin, einen schwachen Punkt erst zu schaffen und eine Hemmung darauf zuwege zu bringen. Seht, da kann man gleich sehen, was ein echter Schachspieler oder ein Stümper ist! Die meisten Kaffeehausspieler können nur mit ihren eigenen Figuren spielen, und da kann man blutwenig Gescheites zustande bringen. Sie müssen immer lauern, bis ihr Gegner so gefällig ist und ihnen von selbst durch einen schwachen Zug einen Punkt bloßlegt, worüber sie dann herfallen können. Damit ist aber ihre Kunst auch zu Ende und ihre Partien sind alle armselig und langweilig und ohne tieferes Verständnis der Positionen gespielt. Aber wenn einer mit den Figuren seines Gegners spielt, der kann eine Partie durchführen von der Schaffung des schwachen Punktes bis zur Erlangung der Majorität darauf.

Von den verschiedenen Arten der Treibzüge.

90

Dessen Partien werden immer interessant sein, mit tiefer Erfassung der Stellung gespielt und der Gewinn ist meist spielend leicht und oft glänzend. Das ist der Vogel Phönix unter der Herde geistloser Schachspieler, der echte Schachspieler, dessen Spiel Bewunderung und Begeisterung hervorruft und auch noch groß ist, wo er durch übermäßige Kühnheit oder Überstürzungen verliert. Ja, es liegt etwas Z a u b e r a r t i g e s , etwas D ä m o n i s c h e s in diesem Vermögen, die feindlichen Figuren zu bewegen und zu leiten und so die wunderbarsten Stellungen mit kühnem Geist aufzubauen. Hier ist der Prüfstein, das untrügliche Zeichen echter Meisterschaft gegeben. Der wahre Meister spielt fast ebensoviel mit den Figuren seines Gegners als mit den eigenen, und nur dieser eminenten Gestaltungskraft verdankt er seine furchtbare Überlegenheit und eingestandene Unbesiegbarkeit gegenüber den zahllosen minder begabten Freunden des Schachspiels. Hier ist auch der Scheidepunkt, wo aus dem bloßen, leichten Spiel Kunst, echte, ernste, wahre Kunst wird.

Neunundzwanzigstes

Kapitel.

Von den verschiedenen Arten der Treibziige. W o TOD zwei gewissen Übeln eins Ei griffen werden muß, wo sich das Herz Nicht g a n z zurückbringt aus dem Streit der Pflichten, Da ist es Wohltat, keine Wahl zu haben, Uud eiue Guust ist die Notwendigkeit. S c h i l l e r , W a l l e n s e n s Tod.

Es gibt fünferlei Arten Treibzüge: 1) 2) 3) 1) 5)

reine Opfer; Tauschopfer und Tauschzüge; Angriffs-Drohzüge; Schachzwangszüge; Zugzwangszüge.

Das reine Opfer hat keine eigentliche Treibkraft und ist daher oft nui Lockspeise (passives Opfer). Nur insofern starker Positionsnachteil droht durch die usurpierte Stellung der Opferfigur, kann es indirekt treibend wirken, und das Schlagen und damit die Bewegung einer feindlichen Figur als noch das verhältnismäßig Beste erscheinen lassen. Jeder Angriff, jede Drohung hat eine relativ stark treibende Kraft, weil dem Nachteil entgegengewirkt werden muß, naturgemäß. 7 *

100

Erster Teil.

Ebenso jedes Schlagen einer feindlichen Figur, da doch ein Äquivalent dafür muß angestrebt, erlangt werden. Daher haben Drohzüge, Tauschopfer- und Tauschzüge unter gewöhnlichen Umständen immer eine relativ sehr wirksame Triebkraft, aber absolute Triebkraft kommt nur zweierlei Zügen zu: den Schachzwangs- und den Zugzwangszügen, weil hier unverletzliche Pflichten erfüllt werden müssen, ohne Rücksicht auf Vorteil oder Nachteil. Ein Zug muß gemacht werden und der bedrohte König muß salviert werden. Da ich von den Opfer- und Tauschzügen schon gehandelt habe, bleiben mir hier nur die Droh- und Zwangszüge zur Besprechung. Die ersteren zwingen relativ, die letzteren absolut feindliche Figuren zu bestimmten Bewegungen. Es ist mir über einen achtlosen Gegner eine furchtbare Macht gegeben, wenn ich es verstehe, seine Figuren, sobald sich irgend Gelegenheit bietet, und diese wird häufig da sein, zu meinem Vorteil zu bewegen. Ich werde dadurch Zugstraßen öffnen, die ermöglichen und die Figuren hervorbringen

in seinem Spiele schwache Punkte schaffen, meinen Figuren das Eindringen in dasselbe schwersten Hemmungen der gegnerischen können.

Ich kann mit meinem Bauer nur geradeaus ziehen, wenn ich aber meinen Gegner veranlasse, mir eine Gelegenheit zu geben, mit ihm zu schlagen, so kann ich auch schief, diagonal mit ihm ziehen, aber nur mit Hilfe des Gegners. Ich kann auf diese Weise Doppelbauern auflösen, Bauern auf eine andere Linie bringen, wo sie eine freie Zugstraße haben, namentlich aber mir selbst Zugstraßen öffnen für meine Figuren. Es ist sogar das einzige Mittel, um mir eine Vertikallinie zu öffnen: ich veranlasse den Gegner entweder mir Gelegenheit zu geben, mit dem die Linie sperrenden Bauer auf eine andere hinüber zu schlagen, oder ihn mir einfach wegzuschlagen, indem ich ihn opfere, um mir so die Linie zu öffnen. Und so nehme ich die Dienste des Gegners zur Befreiung meines Spieles, resp. zur Hemmung des seinigen in Anspruch. Beispiele sollen das Gesagte erläutern.

101

Beispiele zu den Treibzügen.

Dreißigstes Kapitel. Beispiele zu den Treibzügen. Geht's nicht, so treibt roan's.

Drohzüge. Lehncr.

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Bhodca.

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Charousek.

W.

Durch fortgesetzte Angriffszüge baut Weiß eine Mattstellung mit seltener Kühnheit auf. 1. Dh6: Se5 2. Tf3! Sf3 + 3. gf: De5 4. f4! Db2: 5. T f l Lh3 6. K h l ü Dd4! 7. Tglf Dgl + 8. K g l : Te8 9. f5 d5 10. Sf3 de: 11. de: Lg4 12. Sg5! fg: 13 f6 mit undeckb. Matt.

Morphy.

A YM

3 WM W.

Durch wiederholte Angriffszüge treibt Weiß den schwarzen König in eine Mattstellung. 1. Lh6f Lg7 2. De6 Lh6: 3. Tflf Kg7 4. Df6f Kg8 5. Df7 +

102

Rotlewi.

Erster Teil.

W.

Schwarz demoliert durch starke Angriffszüge die weiße Stellung. 1. . . . Tc3:! 2. gh: Td2ü 3. Dd2: Le4:t 4. Dg2 Th3! mit undeckbarem Matt.

Rubinstein.

Morphy.

W.

Außerordentlich fein berechnetes Angriffsspiel. Weiß veranlaßt den schwarzen König durch feine D r o h u n g e n zu einseitigen Figurenbewegungen, um den schwarzen Bauer auf h7 zu hindern, auf h6 zu gehen und sich so zu retten. 1. Df4f Kg8 2. Dh4 Kf8 3. Dh7:

Sch.

Weiß zertrümmert durch starke Angriffszüge die feindliche Stellung. 1. Sg6f!! hg: 2. Dh8| Sg8 3. Ld6: Dd8 4. Tg6: Sf6 5. Tf6:! Tf6: 6. Tg7:! aufgegeben. Spielmann.

W.

Beispiele zu d e n Treibzügen. Anderssen.

103

Sch.

Durch mächtige Angriffszüge baut Schwarz eine Mattstellung auf. 1. Lf5: Dh6ü 2. Ld3 Te8 3. h4 Dd2 4. Tgl Te2 Aufgegeben.

Steinltz.

A n d e r s s e n s Angriff, gewaltig, unwiderstehlich! Der tiefste Schachdenker, der je lebte! Seine Partien und Probleme enthält das Anderssenbuch von H. v. G o t t s c h a l l , ein würdiges Pendant zu dem berühmten Morphybuch. (Beide Werke, Verlag von V e i t & Comp., Leipzig.)

Zukertort.

Sch.

Durch eine Reihe von Angriffszügen wird der weiße König ins Matt getrieben. Dh3ü 1. . . . 2. Kh3: Se3f 3. Kh4 g«t 4. Kh5 L g 4f Sf5f 5. Kh6 6. Kh7 Sf8f 7. Kh8 Sg6f 8. Kh7 Ke6f Tg7# 9. ~ w.

Erster Teil.

104

Zugzwängszüge. N. CheDey.

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Scb.

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. m Weiß öffnet durch Zugzwing seinem Turm die a-Linie. 1. Lb6! a6: 2. Ta8=j=

Shinkmann.

Sch.

Healey.

Sch.

„üi im. A. mm WMp wM Ä i i.. m L J m ¡¡¡I s? M 1 i Lfc i a

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W.

Der schwarze König wird in ein Mattnetz hineingetrieben. 1. Tb6 Kd5 2. Le6f! Ke4: 3. Tb44=

Weiß baut eine Mattstellung auf durch Zugzwang. 1. Kd7! Ke4 2. Td5! Kd5: 3. Dd4=|=

Beispiele zu den Treibzügen. Kiock.

105

Sch.

Weiß zwingt den schwarzen Läufer, die Deckung des Matts aufzugeben. 1. Sa6 Lg4| 2. Kc7 Le2 3. Ld5ü La6: 4. Le4: h2 5. Lhl L ~ 6. L b 7 = ) =

w.

Schachzwangszüge. Kichardson.

Delmar.

Sch.

Horwitz.

Sch.

W.

Schulten.

W.

Weiß zwingt den Gegner, die Postierung der Figuren zum Mattangriff, Gewehr bei Fuß, mit anzusehen. 1. Dh8fü 2. Lf6f 3. Te8=j=

Kh8: Kg8

Schwarz zwingt den Gegner, die Einleitung des Mattangriffs untätig zu erwarten. 1. . . . Dflfü 2. K f l : Ld3ft 3. Kel T f l 4=

106

Erster

Thiering.

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Weiß erzwingt vollständige Passivität des Gegners, während er den Mattangriff formiert. 1. D h l f ü 2. Lf3| 3. T h l ^

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Schlechter.

Schlegel.

W.

Sch.

W.

Schwarz erzwingt völlige Passivität des Gegners gegenüber dem Mattangriff. 1. . . . 2. K e l : 3. K f l

Delf Sf3|t Tel =j=

Jänisch.

W.

Schumofif.

Schwarz zwingt den Gegner, den Weg zum Mattangriff freizugeben. 1. 2. 3. 4. •5.

... Kg2: Khl f3 Tf3:

Tg2+! Dg6f Ldöf Lf3^!

Zusammenstellung und Übersicht aller Richtmaße usw.

Einunddreißigstes

107

Kapitel.

Zusammenstellung und Übersicht aller Richtmaße gegen die falschen Spieltendenzen. Erst denken, dann handeln

a) H e m m e d e i n e F i g u r e n n i c h t : 1) stelle sie nicht an den Rand hin; 2) verstelle sie nicht; 3) lasse sie nicht gefesselt stehen; 4) lasse sie nicht gebunden stehen; 5) lasse sie nicht umdroht stehen; 6) bewege nicht eine davon müßig und unnütz. b) B e f r e i e die f e i n d l i c h e n F i g u r e n n i c h t : 1) öffne ihnen keine Linien und Felder in dein Spiel; 2) locke sie nicht auf gute Plätze. c) S t e l l e d e i n e F i g u r e n n i c h t s c h u t z l o s hin. d) V e r s c h a f f e den f e i n d l i c h e n schützte Stellung.

Figuren

keine

ge-

Man sieht aus diesen Richtmaßen, daß alle falschen Tendenzen und Fehler in der Schachpartie darauf hinauslaufen, die Figuren entweder b e w e g u n g s l o s oder s c h u t z l o s zu machen, und wir werden im nächsten Teil sehen, daß in der Tat Bewegungslosigkeit und Schutzlosigkeit einer Figur immer die letzte eigentliche Ursache für ihre mögliche Eroberung sind, daß also alle Verluste von Partien, die je gespielt wurden oder noch gespielt werden, stets in Versündigungen gegen die Bewegungsfähigkeit oder Schutzmöglichkeit einzelner Figuren ihren letzten Grund haben.

Zweiunddreißigstes

Kapitel.

Schlußwort zum ersten Teil. Kunst ehrt den Meister.

Ich habe im ersten Teil das L e b e n d e r F i g u r vorgeführt, ich habe gezeigt, wie sie wirkt und welche Faktoren auf sie einwirken; im zweiten Teile werde ich von den F i g u r e n in R u h e oder den Stellungen und im dritten von den F i g u r e n in Bew e g u n g oder der Partieführung sprechen.

108

Erster Teil.

Man kann aus dem ersten Teile ersehen, von welchen Faktoren die Beweglichkeit der Figuren abhängt! Einmal von den Hemmungen, dann von den Treibzügen; wie wir durch Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme auf erstere namentlich unseren Figuren Spielraum verschaffen, durch die letzteren aber die feindlichen Figuren in ihren Bewegungen zu unseren Gunsten beeinflussen können. Von der richtigen, scharfsinnigen Anwendung dieser Faktoren, je nachdem es die Motive erlauben, hängt die Güte unserer Stellung, hängt der Ausgang jedes Angriffs und der Erfolg jeder Verteidigung ab. Ohne ihre strikte, sachgemäße Anwendung gibt es keine Erfolge im Schachspiel. Keine Eröffnungs- oder Endspielformeln können ihre peinliche Ausübung entbehrlich machen, wogegen bei ihrer zielbewußten Durchführung alle solchen Formeln nebensächlich werden. Außer vieler Übung gehört zu ihrer guten Ausübung eine große Urteilsfähigkeit, was man im Schachspiel Positionsverständnis nennt. Darüber wird im nächsten Teil gesprochen. Sie verbannen jede Schablone aus der Spielführung und geben dem Schachspiel den ewigen Reiz, der ihm so viele Liebhaber unter allen großen Geistern von jeher erwarb und K a l i f e n , E m i r e , S u l t a n e , K a i s e r , K ö n i g e und P ä p s t e wie F ü r s t e n des Geistes unterwarf. Hier einige Streiflichter aus der Geschichte: „Auf der Burg zu Germersheim, stark an Geist, am Leibe schwach, saß der greise K a i s e r R u d o l f , spielend das gewohnte Schach." (Uhland.) P h i l i p p von H o h e n s t a u f e n saß gerade an dem Schachbrette, als Otto von Wittelsbach, ein jähzorniger Mann und schwer erbittert, ihn traf und niederstieß. K o n r a d i n den l e t z t e n H o h e n s t a u f e n überraschte — der Todesspruch beim Schachspiel im traurigen Gefängnis; K a r l XII., den tollkühnen Schwedenkönig, zu Bender — die feindliche Kugel. F r i e d r i c h der Große spielte selbst im Feldlager Schach. N a p o l e o n I. hin und wieder in den wenigen ruhigen Augenblicken seines Heroenlebens. Moltke, P a p s t Leo XIII waren eifrige, begabte Schachadepten, ebenso Ampere, Arago, E u l e r , Gauss, V o l t a i r e , R o u s s e a u , D i d e r o t , Lessing, Moses Mendelsohn. Was fesselte alle diese großen Männer so stark an das königliche Spiel ? Der Reiz des immer neuen, wechselvollen, bilderreichen dramatischen, geistigen Kampfes am Schachbrett.

Zweiter Teil. Erstes

Kapitel.

Von den Stellungen überhaupt. Alles hängt von den Umständen ab. Spruch.

Wie viele Partien, bei Turnieren und ernsten Matchen, nehmen eine überraschende, unerwartete, unmotivierte Wendung, Partien, von denen man mit Fug und Recht annehmen kann, daß sie mit voller Hingabe, tiefem Ernste und größtmöglicher Besonnenheit gespielt werden! Schon der Anlage nach klar gewonnene Spiele werden zur Enttäuschung der Zuschauer und zur Mortifikation des bereits siegesfrohen Spielers nur bis zum Remis gebracht oder gar verloren; bei anderen bereits radikal verlorenen und aussichtslosen Spielen dagegen gelingt es dem im stillen schon resignierten Spieler, sie noch unentschieden zu halten oder am Ende gar zu gewinnen durch einen tollkühnen, verzweifelten Gegenangriff, zum Erstaunen der ganzen Schach weit. Wie ist dies möglich? Ist das Schach wirklich ein so launenhaftes Glücksspiel, daß trotz sorgfältiger Berechnung, besonnener, wohlbedachter Spielführung die Ausgänge so ungewiß, so schwankend und widersprechend ausfallen können? Nein, sicher nicht, die Schuld liegt immer an dem Spieler allein, wenn' er eine gewonnene Partie weggeworfen oder nur Remis gemacht hat, oder an seinem Gegner, wenn er eine verlorene noch gerettet hat. In beiden Fällen war es Mangel an Positionsverständnis, ein Versagen des Positionsblickes, was so unvermutete Resultate gezeitigt hat. Die schon gebrochene, morsche Stellung des Gegners wurde in ihren Schwächen und Stärken nicht klar durchschaut und richtig behandelt, ihre Widerstandskraft unterschätzt, die eigene Stellung aber überschätzt.

110

Zweiter Teil.

Bei jedem Zug ist der Spieler vor die schwere Aufgabe gestellt, in einer ganz bestimmten Partiestellung den Zug herauszufinden, der sie am besten ausnutzt. Er soll den vorigen Zug des Gegners womöglich widerlegen, auf jeden Fall aber seine eigene Stellung verbessern und die feindliche verschlechtern. Er muß, um dies zu können, nicht nur alle Stärken und Schwächen der gegebenen Stellung klar durchschauen, er muß auch die Motive klar sehen, die sie ihm bietet, auf die gegnerische Stellung einzuwirken. Er muß, mit einem Worte, ein richtiges Positionsverständnis mit einem klaren Positionsblick vereinen. Ein Mittel an die Hand zu geben, jede Stellung untrüglich beurteilen zu können auf ihre Stärken und Schwächen, ihre Verteidigungsfähigkeit oder Angriffskraft, muß als die größte Wohltat erscheinen, die man einem eifrigen Schachspieler leisten kann. Ich will nun auch hier feste Grundsätze aufzustellen suchen, nach denen jede Stellung auf ihren Wert oder Unwert, ihre Güte oder Mangelhaftigkeit sicher geprüft und abgeschätzt werden kann. Diese Untersuchung hat zur Voraussetzung: einmal daß alle schlechten Stellungen aus einer und derselben Ursache entspringen, ferner, daß diese Ursache immer in einem Vorhandensein von vielen und starken Hemmungen einzelner Figuren besteht, welche ihr Zusammenspiel unmöglich machen und damit ihre Verteidigungsfähigkeit und Angriffskraft stark beeinträchtigen. Da diese Hemmungen, sowie sie in einer Stellung in hohem Grade vorhanden sind, sofort dem Auge durch eine auffällige Gruppierung der Figuren sich verraten, so sind hiermit auch sichere Kennzeichen und Anhaltspunkte gegeben, wonach sogleich entschieden werden kann, ob sie schlecht oder gut, krank oder gesund ist. Ferner wird durch dieselben die Bewegungsfähigkeit der Figuren sehr stark beeinträchtigt oder ganz unterdrückt. Es wird also auch das Zusammenwirken der Figuren sehr mangelhaft und unvollkommen sein. Es kommen somit zwei Gesichtspunkte für die Beurteilung jeder Stellung in Betracht: 1) Wie steht es mit dem Znsammenspiel der Figuren? 2) Welche Gruppierungen bilden die Figuren? Nach dieser Vorerörterung gehe ich zur Feststellung der charakteristischen Merkmale der Stellungen über.

Das Zusammenwirken der F i g u r e n in den Stellungen.

111

Zweites K a p i t e l . Das Zusammenwirken der Figuren in den Stellungen. Was gelten soll, muß wirken und muß dienen. G o e t h e , Torquato Tasso.

Da in einer guten Stellung nur wenige und leichte Hemmungen vorhanden sind und die Figuren freien Spielraum haben, so charakterisiert eine leichte Beweglichkeit aller Figuren die wirklich gute Stellung, so daß die Verteidigung nie Schwierigkeiten macht, der Angriff aber immer kräftig und machtvoll ist durch das Zusammenspiel aller Figuren. Da in der schlechten Stellung immer viele und schwere Hemmungen vorhanden sind, es den Figuren daher an Aktionsfreiheit und Spielraum gebricht, so ist die Beweglichkeit aller Figuren auch schwach und zum Teil ganz unterdrückt. Die Verteidigung wird daher immer mühselig und beschwerlich, der Angriff matt und kraftlos sein. Sichere Kennzeichen einer schlechten Stellung sind also: 1) schwache Bewegungsfähigkeit der Figuren; 2) mühsame, mangelhafte Verteidigung; 3) matter und kraftloser Angriff. Wo diese Zeichen in einem Spiel auftreten, da müssen starke Versündigungen gegen das Zusammenspiel der Figuren vorhergegangen sein, und schwere Hemmungs- und Befreiungsfehler lassen sich dann immer nachweisen. In der Partie müssen alle Figuren zusammenwirken, zusammen müssen sie einen Angriff ausführen, wenn er von nachhaltiger Kraft und Wirkung sein soll, und jede feindliche Attacke kann nur durch die vereinten Hilfsleistungen aller Figuren mit Erfolg abgeschlagen werden. Es kommt gar nicht so sehr darauf an, daß die eine oder andere Figur einen Standpunkt erhält, wo sie ihre höchste Leistungskraft entfalten kann, ja dies wird überhaupt in den seltensten Fällen möglich sein, da ihr die anderen Figuren des eigenen sowie des feindlichen Spiels immer einen Teil ihres Spielraums wegnehmen werden, aber es ist von höchster Wichtigkeit, daß alle Figuren einer Partei so gestellt sind, daß sie sich frei bewegen und zusammenwirken können, um im gegebenen Fall entweder mit vereinten Kräften einen schwachen Punkt des feindlichen Spiels übermäßig angreifen oder einen solchen des eigenen Spiels ausreichend verteidigen zu können. Wir werden uns also bei Prüfung unserer Partiestellungen

112

Zweiter Teil.

vor allem fragen müssen: Wie stellt es mit dem Zusammenspiel unserer Figuren? Je kümmerlicher, unvollkommener wir dasselbe finden, für desto schlechter werden wir unsere Stellung halten, je freier, kräftiger, vollkommener, für desto besser; immer wird die G e s a m t l e i s t u n g s f ä h i g k e i t aller u n s e r e r F i g u r e n die feste Norm und der sichere Maßstab sein, wonach wir die Güte oder Schlechtheit aller Stellungen, die uns vorkommen, zu bemessen haben. Es ist stets ein großer Irrtum, von einer guten Stellung zu sprechen, solange noch Figuren auf dem Brette stehen, die sich gar nicht oder nur kümmerlich bewegen können, und doch findet man diese Ansicht häufig bei Praktikern und Theoretikern. Man bedenke aber, daß einmal die Wirkungskraft der bewegungslosen oder bewegungsarmen Figur dem ganzen Spiel verloren geht, dann daß eine schlecht postierte Figur dem Gegner oft zum Angriffsmotiv wird und nun alle anderen Figuren gezwungen sind, zu ihrem Schutze beizuspringen, wodurch die Bewegungsfähigkeit auch dieser bedeutend verringert und sie oft auch auf schlechte Plätze genötigt werden. Also fort mit dem Glauben, eine Stellung könnte gut sein, solange noch Figuren darin schlecht stehen; er gibt nur eine verderbliche, unheilbringende Sicherheit und läßt uns die Maßnahmen aufschieben und versäumen, wodurch wir die Lage der schlecht postierten Figuren verbessern und so eine wirklich gute Stellung uns erwerben könnten. Wir müssen uns daran gewöhnen, unsere Stellung als ein Ganzes anzusehen, dessen einzelne Teile die Figuren sind, die sie bilden, und jede Hemmung, unter der die eine oder andere unserer Figuren leidet, müssen wir zugleich als eine Behinderung des Zusammenspiels aller anderen betrachten. Es wird dann ganz von der Anzahl und Schwere der Hemmungen, die unsere Figuren bedrücken, abhängen, ob wir unserer Stellung das Prädikat „gut" oder „schlecht", „gesund" oder „krank" beizulegen haben. Von dem Zusammenwirken der Figuren hängt in erster Linie der glückliche Ausgang jeder Partie ab. Nur dadurch kann ein Angriff durchdringen oder eine Verteidigung gelingen. Wenn zum Ansturm auf die feindliche Stellung nicht alle Figuren parat sind, versagt der ganze Angriff im entscheidenden Augenblick. Er war „verfrüht", mit ungenügenden Mitteln unternommen. Können die Figuren nicht in genügender Anzahl leicht und schnell an die bedrohte Stelle gebracht werden, so gelingt es dem Gegner fast immer, das Spiel zu forcieren.

113

Das Gruppierungsbild der Figuren in den Stellungen.

Drittes Kapitel. Das Gruppierungsbild der Figuren in den Stellungen. Keine Wirkung ohne Ursache.

Nun will ich von den Erscheinungen ausführlich reden, welche die Hemmungen der Figuren untereinander in der Stellung veranlassen und durch die man sofort erkennt, ob man es mit einer kranken oder gesunden Stellung zu tun hat. Das Gruppierungsbild der Figuren sagt schon meist, wie es mit unserer Stellung aussieht auf den ersten Blick. Stehen feindliche Figuren in unserem Spiele, so ist das immer ein sicheres Zeichen, daß starke Binde-, Fessel- oder Drohhemmungen, stehen die eigenen Figuren dichtgedrängt, daß schwere Verstellungshemmungen, stehen sie am Rand, daß Randhemmungen vorhanden sind. A n h ä u f u n g e n und V e r e i n z e l u n g e n sind immer ein sicheres Kennzeichen einer kranken Stellung, da sie ohne schwere Verstellungshemmungen im Spiel gar nicht vorkommen können, sondern eben das dem Auge anschaulich sich darstellende Bild dieser Hemmungsart in einer Stellung sind. Das E i n g e d r u n g e n s e i n f e i n d l i c h e r F i g u r e n ins eigene Spiel oder das H i n e i n g ä h n e n i h r e r S c h l a g b a h n e n , sowie überhaupt schon das V o r h a n d e n s e i n o f f e n e r L i n i e n , auf denen sie in unser Spiel eindringen können, sind auch sichere Kennzeichen einer kranken Stellung. In dem Tief-im-Spiel-Stehen einer Figur oder Tief-in-das-Spiel-Hineindrohen der Schlaglinien feindlicher Figuren stellen sich eben die Binde-, Fessel- und Dmdrohungshemmung dem Auge anschaulich dar. Diese sichtbaren Merkmale sind daher die eigentlichen Motive für unsere Züge. Die ins Spiel eindringenden feindlichen Figuren müssen hinausgeworfen werden, die beengt stehenden eigenen befreit werden. Außerdem muß der Spieler einen scharfen Blick haben für alle irgendwie exponiert stehenden Figuren, da sie Motive zu Treibzügen abgeben. S i c h t b a r e Kennzeichen kranker Stellungen, die einzeln oder alle zugleich darin vorkommen können: 1) Anhäufungen der Figuren, 2) Vereinzelung derselben, 3) Eingedrungensein feindlicher Figuren, 4) Hineingähnen ihrer Schlagbahnen, G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

8

114

Zweiter Teil.

5) Vorhandensein offener Zagstraßen in das Spiel hinein für feindliche Figuren, 6) Randstellung der Figuren. Jede Stellung, in der ein oder das andere der sechs vorgetragenen Merkmale vorkommt, ist krank und schlecht, und um so schlechter, je mehr dieser Merkmale sich in ihr finden. Der Spieler, der dies erkennt und beachtet, der diese Vorboten eines sicheren Verderbens nicht lässig in seinem Spiel stehen und anwachsen läßt, der kann über den Ausgang seiner Partie ruhig sein. Nichts kann ihm passieren, unbesiegbar ist er, solange seine Stellung den Charakter einer gesunden und guten an sich trägt. Erst wenn wie Sturmvögel die sechs Kennzeichen einer kranken Stellung in seinem Spiele nach und nach auftauchen, dann mag er mit ernster Besorgnis und berechtigter Unruhe aus seiner Sicherheit heraustreten, aber nicht sogleich verzagen deshalb, sondern mutig und ungesäumt an dem Rettungswerke arbeiten, die schlimmen Zeichen durch wohlbedachte Züge nach und nach zu tilgen streben und dann erst wieder erleichtert aufatmen, wenn diese mühsame Arbeit glücklich gelungen ist. Durch dieses scharfe Erfassen des Charakters jeder Stellung erhält aber auch unsere ganze Partieführung eine wunderbare Sicherheit, Kraft und Konsequenz. Jede Befangenheit vor gefürchteten Matadoren und Königen des Schachs, unter der der aufstrebende Schachjünger nur zu seinem Schaden leidet, schwindet hinfort. Er weiß, daß er, solange seine Stellung gesund, unbesiegbar ist und kein Weltchampion ihm eine Niederlage bereiten kann. Nur darauf also richtet er seine ganze Aufmerksamkeit, all sein Streben. Der Name seines Gegners, dessen großes Renommee läßt ihn fürder gleichgültig, er ist über den Autoritätsglauben hinaus, er hat eine bessere, sicherere Basis für sein Spiel gewonnen: feste Grundsätze, unumstößliche, untrügliche Richtmaße, auf die er sich ganz und voll verlassen kann, und deren Verletzung allein er über alles fürchtet, aber nimmermehr einen Gegner fortan, und heiße er wie er wolle. Man vergleiche viele kranke und gesunde Stellungen, und man wird immer finden, daß das Bild ein sehr verschiedenes ist. Die gute Stellung macht auch auf das Auge einen wohlgefälligen harmonischen Eindruck und befriedigt unseren Schönheitssinn. Der Brettraum ist gleichmäßig unter den Figuren verteilt, die infolge davon alle freien Spielraum haben. Das Gegenteil ist bei der schlechten Stellung der Fall. Starke Anhäufungen von

115

Die Hauptarten schlechter Stellungen.

Figuren und wieder Vereinzelungen sowie Randstellung einzelner Figuren bieten ein unharmonisches, dem Auge ungefälliges Aussehen dar, das unser Schönheitsgefühl beleidigt; die klaffend offenen Linien geben der ganzen Stellung ein trostloses Gepräge und die feindlichen Figuren, die tief im Spiel stehen, machen das ganze Bild verworren und häßlich. Hier liegt der Grund, warum der echte Schachpraktiker fast immer ein Feind des Problems ist. Die häßlichen, unnatürlichen Stellungen, durch die ein Problem das andere zu überbieten sucht, verletzen seinen feinen, durchaus gesunden Positionsblick und treiben ihn in die Flucht, wenn er solche Produkte erblickt, die mit gar keinem Recht die Poesie im Schach repräsentieren wollen, das Schöne, während sie nicht selten Ausgeburten von Häßlichkeit sind. Hier liegt aber auch der tiefere Grund, warum Problemkomponisten nicht leicht hervorragend gute Spieler sind und sein können. Die gewohnte Beschäftigung mit so vielen häßlichen, ungesunden Stellungen stumpft ihren Positionsblick ab. Sie haben kein Gefühl mehr für den Unterschied einer guten von ; einer schlechten Stellung und fühlen sich in den gedrücktesten, verworrensten Stellungen noch behaglich und wohl, vor denen dem genialen Praktiker graut. Viertes

Kapitel.

Die H a u p t a r t e n schlechter Stellungen. Wie die Arbeit, so der Lohn.

Alle Merkmale schlechter Stellungen laufen darauf hinaus, daß entweder unsere eigenen Figuren zu dicht gehäuft und zu sehr dem Rande zu stehen, oder daß einzelne derselben wie verlorene Posten zu weit im feindlichen Spiele postiert sind, oder daß feindliche Figuren bereits in unser Spiel eingedrungen sind. Je nachdem nun die eine oder die andere dieser Erscheinungen in einer Stellung besonders stark hervortritt oder mehrere zugleich vorherrschen, lassen sich alle schlechten Stellungen in drei Hauptarten einteilen. Stellungen, wo unsere Figuren auf einen kleinen Teil des Brettes d i c h t g e d r ä n g t und teilweise am R a n d e stehen, nenne ich b e e n g t e S t e l l u n g e n . Stellungen aber, wo bereits feindliche Figuren in u n s e r e m S p i e l e stehen oder freie Wege vorhanden sind, worauf sie ungehindert in dasselbe eindringen können, sowie alle die, wo eine 8*

116

Zweiter Teil.

unserer Figuren vereinzelt und ohne Unterstützung im feindlichen Spiel steht, nenne ich k r i t i s c h e Stellungen. Stellungen, wo bereits infolge starker Hemmungen Steine ohne Ersatz verloren gegangen sind (erobert wurden), nenne ich g e s c h w ä c h t e Stellungen. Ich unterscheide demnach drei Arten schlechter Stellungen: 1) beengte, 2) kritische, 3) geschwächte. Jede schlechte Stellung fällt unter eine dieser Arten oder ist gemischter Art, also beengt und kritisch zugleich usw. Man kann diese drei Arten schlechter Stellungen gleichsam als geschiedene Stadien schlecht geführter Partien ansehen. Zuerst ist das Spiel meist nur b e e n g t und unsere Figuren sind auf einen engen Spielraum beschränkt. Dies ist das erste Vorstadium des späteren Partieverlustes. In der Folge gelingt es dann dem Gegner, sich einen Weg in unser Spiel zu öffnen (etwa durch Opfer). Jetzt wird unsere Lage k r i t i s c h , die eine oder andere Figur, die besonders dem feindlichen Angriff ausgesetzt ist, kann von unseren sich gegenseitig beengenden Figuren nicht genügend geschützt werden und geht verloren Wir sind um eine Figur ärmer als der Gegner, unsere Stellung ist entscheidend geschwächt und damit hoffnungslos. Fünftes Kapitel. Beengte Stellungen. Nicht vorwärts konnten sie, auch nicht zurück, Gekeilt in drangvoll fürehterliche Enge. S c h i l l e r , Wallenstein;

Die beengte Stellung fällt sofort ins Auge durch die starke Anhäufung von Figuren auf einem kleinen Raum des Brettes. Das Zusammenspiel unserer Figuren ist in solchen Stellungen immer äußerst schwach und mangelhaft, so. daß an Angriff nicht zu denken ist, die Verteidigung aber immer schwierig und mühselig wird. Die beengte Stellung entsteht meistens dadurch, daß wir unsere Figuren gegenseitig verstellen und ihnen so selbst den freien Spielraum nehmen, oder daß wir viele müßige Züge mit einzelnen Figuren machen, wodurch dann die anderen auf den schlechten Plätzen, die sie zu Anfang der Partie innehaben, zurück-

B e e n g t e Stellungen.

117

bleiben. Immerhin gehören solche Stellungen zu den verhältnismäßig am wenigsten gefährlichen, da in ihnen die leichtesten Hemmungsarten vorherrschen, die Rand- und Verstellungshemmung. Bei Sorgfalt, Umsicht und Besonnenheit gelingt es fast immer, den beengten Figuren nach und nach einen ausreichenden Spielraum zu verschaffen und so das Zusammenspiel unserer Figuren zu heben. In diesen Stellungen kann die Partie nie unmittelbar verloren gehen, wenn man nur darauf achtet, den feindlichen Figuren keine Wege in unser Spiel freizulegen. Gelingt es nämlich dem Gegner, in solchen Stellungen in unser Spiel einzubrechen, so sind wir rettungslos verloren, weil unsere Figuren zu beengt stehen, um sich gegenseitig unterstützen und zu Hilfe eilen zu können. Zu den beengtesten Stellungen gehört die Aufstellung der Figuren zu Beginn der Partie. Weitere Beispiele lasse ich hier folgen: M. N.

Morphy.

Seil.

Morphy.

Seh.

W.

Schulten.

W.

Schwarz hat eine sehr gedrückte Stellung; da Weiß sich zudem eine Linie in sein Spiel öffnen kann, so ist die Stellung aussichtslos. 1. e6, de: 2. Se6:, Le6: 3. Te6:, Dd7 4. Tg6:, hg: 5. Dg6:, Df5 6. Tf4:, Dg6: 7. Tf8:f, Kh7 8. Lg8t, Kh8 9. Lf7f und gewinnt.

Die weiße Stellung ist ungemein beengt; Schwarz kann durch Öffnung der d-Linie mit -seinen Figuren einbrechen und gewinnt leicht. 1. Tc6: 2. de:, Le2: 3. Te2:, D d 4 : | 4. Kel, D g l t 5. Kd2, Td8t 6. Kc3, Dc5t 7. Kb2, Sa4f.

118

Zweiter Teil.

Sechstes

Kapitel.

Kritische Stellungen. E9 ist klug und kühn, dem unvermeidlichen Übel entgegenzugehen. G o e t h e , Egmont.

Diese Art schlechter Stellungen ist, wie schon der Name sagt, weit gefährlicher als die vorige. Sie entsteht meistens durch Befreiungsfehler, indem wir den feindlichen Figuren Zugstraßen freilegen, worauf sie in unser Spiel eindringen können. Ob eine Stellung kritisch ist, läßt sich daran leicht sehen, daß dann immer feindliche Figuren tief in unserem Spiel stehen, oder daß, Wege, worauf sie in dasselbe eindringen können, ihnen unverhinderbar offen stehen. In einer solchen Stellung sind auch meist sehr schwere Hemmungen (durch die feindlichen Figuren hervorgerufen) vorhanden, die das Zusammenspiel unserer Figuren fast ganz unmöglich machen. Verlust kann nur dann vermieden werden, wenn es noch rechtzeitig gelingt, die feindlichen Figuren wieder aus unserem Spiel herauszubringen, was aber wegen Mangel an Zeit und bei dem geringen Zusammenwirken unserer eigenen Figuren in vielen Fällen unmöglich ist. Hier einige Beispiele solcher Stellungen: Maurian.

Sch.

Morphy.

W.

Die weißen Figuren drücken übermächtig auf die schwarze Stellung. 1. . . . L f 2 : f 2. K h l , T e l : f 3. T e l : , L e i : 4. Dh8f, Ke7 5. D g 7 : t , Kd8 6. Se6t-

Morphy.

B

Sch.

W.

Die schwarzen Figuren stehen bereits tief im weißen Spiel. 1. Le6: 2. Le6:, Sd3f 3. cd:, Lb4f i . Dd2, Dd2fj=.

Geschwächte Stellungen.

119

Zu den kritischen Stellungen gehören auch alle diejenigen Stellungen, wo eine unserer Figuren vereinzelt im feindlichen Spiel steht; solche Stellungen sind auch sehr gefährlich und führen zu sicherem Verluste, wenn es nicht noch rechtzeitig gelingt, die vereinzelte Figur aus ihrer prekären und schutzlosen Lage zu retten. Hier einige Beispiele: Lichtenhain.

Morphy.

Seh.

Bryan.

Sch.

W.

Morphy.

W.

Die schwarze Stellung ist wegen der exponierten Lage ihres Königs hoffnungslos. 1. Tb5t Ka4 2. Dc2t Ka3 3. Db3=(=

Siebentes

Der exponierte Stand des Königs macht die schwarze Stellung haltlos. 1. Dg4t Kd3 2. De2f Kc2 3. d3f Kcl: 4. 0—0=|=

Kapitel.

Geschwächte Stellungen. Ein schwacher Gegner werde auch vom Starken nicht geringgeschätzt; Sogar ein kleines Feuer brennt, und selbst ein wenig Gift verletzt.

Zu dieser Art gehören alle Stellungen, wo infolge falscher Opfer oder vom Gegner eroberter Steine wir an Steinen schwächer sind als unser Partner, ohne durch das bessere Placement unserer Figuren ein Äquivalent dafür zu haben.

120

Zweiter Teil.

Solche Stellungen sind daher meistens hoffnungslos; der Gegner kann fast immer durch seine Figurenübermacht den einen oder anderen wichtigen Punkt unseres Spiels forcieren. Wir haben nur dann Aussicht, dem Verlust zu entgehen, wenn es uns gelingt, das Zusammenspiel der gegnerischen Figuren auf die Dauer zu hemmen. Solche Stellungen entstehen immer erst aus den kritischen, nachdem durch das Eindringen der feindlichen Figuren in unser Spiel Figuren schutzlos wurden und dann verloren gingen. Walker.

Sch. Schwarz hat hier zwar einen ganzen Turm weniger, kann aber durch fortwährende Angriffe auf den weißen König Weiß hindern, seine Figurenübermacht zur Geltung zu bringen. 1. . . . Dg4f 2. Kh2 Df4f 3. Kh3 Df3f 4. Kh4 D t t t usw.

Morphv.

W.

Weiß ist materiell im Nachteil, und es droht Abtausch ihm auch seinen positioneilen Vorteil zu rauben. Er steht auf Verlust — durch ewiges Schach rettet er die Partie. 1. Tg7f Tg7: 2. Tg7 + Kh8 3. Tf7t Kg8 4. Tg7f usw. W. Pautsen.

Gemischte

Stellungen.

121

Achtes Kapitel. Gemischte Stellungen. Ein Unglück bringt das andre auf dem Rücken. N ... .

Sch.

Thompson.

Sch.

¡HP

fM 1

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Morphy.

m i n

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1Ü 1

Ä \V.

Die schwarze Stellung ist sehr beengt und zugleich kritisch, da die weißen Figuren tief innen stehen. 1. Dc8t Td8 2. Te6t fe: 3. De64=

Beengte und kritische Stellung von Schwarz. Ke8 1. Td7t 2. Dc6: De5 Kf8 3. Tc7:t 4. Da8:f De8 5. Tc8

Neuntes Kapitel. Über die Einheit alier Stellungen. Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen.

Alle Stellungen sind ihrem Wesen nach gleich, indem sie alle aus mehr oder weniger Figuren gebildet werden, die sich gegenseitig mehr oder minder hemmen. J e nachdem nun die Figuren einer Stellung an vielen und schweren oder wenigen und leichten Hemmungen leiden, also mehr oder minder beweglich und wirkungsfähig sind, desto besser oder schlechter ist die Stellung.

122

Zweiter Teil.

Ich nenne eine Stellung mit vielen oder schweren Hemmungen eine k r a n k e , und eine mit wenigen und leichten Hemmungen eine g e s u n d e , und bemerke nochmals, daß der Unterschied zwischen kranker und gesunder Stellung nur in der A n z a h l und A r t der Hemmungen besteht, daß also aus einer kranken Stellung sofort eine gesunde wird, wenn es gelingt, die Zahl der Hemmungen zu verringern, und umgekehrt eine gesunde Stellung sofort krank wird, wenn eine größere Anzahl von Hemmungen sich darin ansetzt. Man sieht, daß auf die Hemmungen alles ankommt, daß sie allein es sind, die die Stellungen gesund oder krank machen. Das weiß der schwache Spieler eben nicht, er ruft durch ungeschickte Figurenbewegungen immer neue Hemmungen in seinem Spiel hervor und läßt die alten unbesorgt stehen. Dann wundert er sich, wenn seine Stellung plötzlich zusammenbricht. Sie war oft schon lange vorher schwer krank, indem sie voller Hemmungen steckte; aber der Gegner hatte damals noch nicht das volle Zusammenspiel seiner Figuren erreicht, um sich auf den einen oder anderen schwachen Punkt mit Übermacht zu werfen, dem nun die allseitig gehemmten Figuren nicht zu Hilfe eilen können. Darum merke man sich, daß von keiner guten Stellung gesprochen werden kann, solange Hemmungen vorhanden sind. Denn unter dem Drucke einer Hemmung leidet nicht allein die Figur, die davon betroffen wird, sondern auch alle anderen, die nun stets auf den Schutz dieser einen schwachgestellten Figur bedacht sein müssen und so zu keinem freien, kräftigen Zusammenspiel kommen können. Es gibt also keine gute Stellung mit starken Hemmungen auch nur einer Figur, und es gibt keine kranke Stellung ohne dieselben, und das Gesamtbild einer Stellung verrät demnach schon genau, ob sie krank oder gesund ist. Man hüte sich daher, über Hemmungen im Spiel leichtsinnig hinwegzugehen oder gar zu denken, man könne dabei ein gutes Spiel haben. Alle Figuren stehen in innigster Wechselwirkung und das Schicksal, das eine davon trifft, bleibt nicht ohne Nachschläge und Rückwirkungen auf alle anderen. Blicken wir auf das Gewonnene zurück, so wird uns klar, wieviel damit erreicht ist, wenn wir wissen, daß alle die Millionen Stellungen, die am Brett möglich, im Grunde genommen gleich sind, daß in allen immer und immer wieder nur die sechs Hemmungsarten vorkommen, bald in größerer, bald in geringerer Anzahl, bald von leichterer, bald von schwererer Art, und daß das

E i n i g e B e m e r k u n g e n ü b e r den

Positionsblick.

123

allein den Unterschied ausmacht zwischen gesunder und kranker Stellung. Nun wissen wir, worauf bei Beurteilung jeder Stellung das Augenmerk zu richten ist. Immer nur auf die in ihr vorkommenden Hemmungen. So werden wir immer in der Lage sein, mit einem Blick zu beurteilen, wie unsere Stellung steht, ob gesund oder krank, denn die Hemmungen liegen offen und klar vor unseren Augen da, wir müssen diese nur gewöhnen, darauf hin ihre Aufmerksamkeit zu richten. Welche Sicherheit, welche weite und tiefe Anlage gewinnt nicht die ganze Partieführung dadurch! Ich brauche keinen Gegner mehr zu fürchten, nichts kann er mir machen, solange ich keine Hemmungen in meinem Spiel dulde, alt werden und sich ansammeln lasse. Das aber hängt von mir ab, ich kann sofort, wie eine Hemmung entsteht, an ihrer Beseitigung arbeiten, und so meine Stellung immer leidlich gesund erhalten. Zehntes K a p i t e l . Einige Bemerkungen über den Posiiionsblick. Eh du das nicht hast, Dieses Stirb und Werde, Bist du nur ein armer GastAuf der dunklen Erde. G o e t h e , Divan.

Wer mit offenem Auge in die Stellung blickt, die exponierten und gehemmten Figuren gleich klar überschaut, wird nie in Verlegenheit um Motive für seine Züge sein. Züge zur Verbesserung der eigenen, zur Verschlechterung der feindlichen Stellungen, Treibzüge jeder Art werden ihm immer in Hülle und Fülle zu Gebote stehen und die Wahl erschweren. Klare Anschauung ist das Haupterfordernis bei Beurteilung jeder Stellung. Wenn nur erst unser Schachblick sich gewöhnt, auf alle Hemmungen und Expositionen in jeder Stellung stets zu achten, so werden wir gar bald lernen, mit einem tiefen Blick eine Stellung mit allen ihren Stärken und Schwächen zu erfassen. Und man merke, wir können ohne eine solche tiefe Erfassung der Stellung keinen wirklich guten Zug tun. Denn durch den Zug sollen ja die Schwächen der eigenen Stellung beseitigt, die der feindlichen ausgenutzt werden. Haben wir aber keinen klaren Überblick, so ist das ganz unmöglich. Keflexion allein hilft hier nichts, wir wissen nie, wie gut oder schlecht unser oder das feindliche Spiel steht. Es kommt also vor allem darauf an, den Schachblick zu bilden.

124

Zweiter Teil.,

Zu diesem Behufe spielen selbst Meister gerne sogenannte K r a f t - , B l i t z - oder S c h n e l l p a r t i e n . Nachdenken ist streng verpönt, Zug um Zug muß blitzschnell ohne jede Pause folgen. Jeder Spieler ist allein auf seinen Schachblick angewiesen bei Auswahl der Züge. Geistesgegenwart ist Haupterfordernis. Nach und nach wird man eine Sicherheit erlangen, die Wechselbeziehungen aller Figuren und die Brett Verhältnisse in jeder Stellung sofort zu sehen, was man den P o s i t i o n s b l i c k nennt. Die Stellung wird dann dem Auge lebendig, man fühlt den Druck der feindlichen und der eigenen Figuren aufeinander, man fühlt die gefährdete Stellung einer abseitsstehenden Figur und die Zugstraßen des Brettes springen einem sofort in die Augen. Wer es dahin gebracht hat, mit so intensiver Anschauungskraft die Stellung anzusehen, dem wird das Schach erst zum wahren Genuß. Er braucht kein langes Grübeln mehr, um seine Züge zu machen, die Motive liegen ihm ja klar und offen vor Augen. Es ist dies daher der Wendepunkt bei einem Spieler. Es fällt ihm wie eine Binde von den Augen, die Stellung lebt für ihn plötzlich auf und sein ganzes früheres Schachspiel erscheint ihm armselig und nichtig. Wer an diesem Punkte angelangt ist, geht dann auch mit schnellen Schritten der Meisterschaft entgegen. Also arbeitet an der Ausbildung der Anschauungskraft! Ohne sie ist kein Heil im Schachspiel, ohne sie kein wahrer Fortschritt und kein wahrer Genuß. Die vielen Untiefen in verwickelten, figurenreichen Stellungen mit dem Senkblei der Berechnung zu ergründen, geht nicht an; es fehlt an Zeit, es fehlt an geistiger Spannkraft. Aber was wissenschaftlichem Scharfsinn kaum spät gelingt festzustellen, das schaut das Künstlerauge vorausahnend. Und wo der Theoretiker noch im Dunkeln tappt, hat der geniale Praktiker längst ein helles Licht aufgesteckt, das auch jenen mit der Zeit auf den rechten Weg bringt. Dieses Vermögen der Anschauung, diese Gabe, das Wesen, den Charakter einer Sache zu durchschauen, ist jedem großen Künstler eigen, sei er nun ein Dichter, Maler oder ein Schachkünstler. Es setzt eine tiefe, selbstlose Versenkung in den Gegenstand, hier in die Stellung, unbedingt voraus, deren der gewöhnliche Kopf, der trockene Grübler, der berufsmäßige Spieler unfähig ist, die aber der begeisterte, passionierte Schachamateur sich wohl bis zu einem gewissen Grad aneignen kann.

Von der Beurteilung der Stellungen in der Praxis.

125

Man wird daher auch große, tiefsinnige Partien selten auf Turnieren und überhaupt kaum von Schachprofessionisten zu erwarten haben, da hier die willenlose, selbstlose Versenkung in die Stellung, das Aufgehen in der Kunst fehlt und immer das Geld die Hauptattraktion bildet. Die Partien von M o r p h y , A n d e r s s e n , K o l i s c h , C h a r o u s e k , passionierten Schachkönigen, sind reich an Geistesblitzen und Vorausahnungen und haben daher eine große Bildungskraft für den aufstrebenden Schachjünger. Und wenn theoretische Grübler und Professionsspieler behaupten, sie hätten die Schachkunst vorwärts gebracht und in die rechten Wege geleitet und die großen Passionsspieler Träumer und Phantasten nennen, so glaube man ihnen ebenso wie den Pfaffen, wenn sie sich als Pioniere der Aufklärung aufspielen.

Elftes Kapitel. Von der Beurteilung der Stellungen in der Praxis. Was macht den Feldherrn? Der weite Blick. Schiller.

Ein sehr wunder Punkt bei vielen Spielern ist auch, daß sie eine Stellung nicht richtig zu beurteilen, zu taxieren vermögen oder, wie die Theoretiker sagen, der Mangel an Positionsverständnis und Positionsblick. Wie oft kommt es vor, daß ein Spieler mit einer guten Stellung nichts anzufangen weiß. Er fühlt, es liegt etwas darin, aber er kann die richtige Fortsetzung, die treffende, geeignete Behandlung nicht finden, die ihn zum Siege führen würde. So zeigt uns die Schachpraxis jedes Tages eine große Anzahl verpfuschter Partien, zum Arger des Kenners und zur Mortifikation des ungeschickten Spielers, für den sie mit einem armseligen Remis oder noch schimpflicheren Verlust enden, während der Weg zum Gewinn klar und deutlich für ihn vorgezeichnet dalag, wäre er nur bei offenen Augen nicht so blind gewesen. Ich lasse hier eine Reihe Partiestellungen folgen. Es ist mir dabei vorzüglich sich eine schlechte Stellung auf guten unterscheidet. Denn wenn

praktischer

Untersuchungen von

darum zu tun, darzulegen, wie d e n e r s t e n B l i c k von einer ich imstande bin, durch reine

126

Zweiter Teil.

Anschauung zu erkennen, ob meine Stellung schlecht ist, ohne erst lange Reflexionen anzustellen, die zumeist- unsicher und zweifelhaft sind, so bin ich in der Lage, in einem frühzeitigen Stadium, wo dieselbe noch kurabel ist, an ihrer Verbesserung sofort zu arbeiten. Und das ist ein ungeheurer Vorteil, denn viele Partien gehen gerade deshalb jämmerlich zugrunde, weil die wunden Punkte zu spät erkannt werden, um noch wirksame Abhilfe schaffen zu können. Eine derartige Beurteilung einer Stellung sagt uns in erster Linie zwar nur, ob eine Stellung krank ist oder nicht, aber aus der Stelle des Brettes, wo die in den vorigen Kapiteln entwickelten charakteristischen Kennzeichen auftreten, können wir dann leicht schließen, welche Figuren schlecht stehen, auf welche der Angriff der feindlichen besonders bedrohlich und gefährlich ist. Es werden immer die sein, welche im BeTeiche der Figurenanhäufungen oder vereinzelt stehen. Die, welche in der Nähe der eingedrungenen feindlichen Figuren stehen oder auf die hauptsächlich deren Schlagbahnen hinweisen und die, wenn nicht rechtzeitig Hilfe geschafft wird, dem Gegner in die Hände fallen. Der Wert der Beurteilung einer Stellung durch reine Anschauung besteht also darin, lange bevor eine Stellung unhaltbar und hinfällig geworden ist, ihren Krankheitszustand zu erkennen, d. h. die Figur, auf die sich die feindlichen Angriffe richten werden und deren Eroberung vielleicht erst spät tatsächlich erfolgt, schon in einem frühzeitigen Stadium bestimmen zu können, um durch energische Gegenmaßregeln ihren Fall zu verhüten; wenn es sich um Anhäufungen und Vereinzelungen handelt, das gestörte Zusammenspiel der Figuren um jeden Preis wieder herzustellen, ehe es zu tieferen Störungen und zur Bildung weiterer schwacher Punkte kommt; wenn es sich um Eingedrungensein feindlicher Figuren oder um Hereindrohen ihrer Schlagbahnen handelt, dieselben sofort aus dem bedrückten Spiel herauszutreiben oder ihre Schlagbahnen zu versperren. Gelingt dies, so ist jede kranke Stellung noch zu bessern; gelingt es nicht, sind die Hemmungen zu schwerer Art, fehlt es an Zeit hierzu oder ist bereits ein Eroberungsplan im Gange, der sich nicht mehr aufhalten läßt, so ist die Partie rettungslos verloren. Oft ist es aber noch in ganz verzweifelten Fällen durch außerordentliche Mittel, durch schwere Opfer möglich, den Anmarsch der feindlichen Angriffsfiguren aufzuhalten, die eigenen Hilfsfiguren heranzuschleppen und so die Partie zu retten.

Von der Beurteilung der Stellungen in der Praxis.

127

Diese klare Erkenntnis der Schwächen und Stärken einer Stellung ist das, was man gemeiniglich Positionsverständnis nennt. Jeder gute Zug setzt dasselbe voraus, weil er seine Motive daraus entnimmt, und weil sowohl eine weitangelegte, gute Disposition der Figuren in der Eröffnung, als auch im Mittel- und Endspiel, eine wohldurchdachte Verteidigung und ein gesunder kräftiger Angriff ohne richtige Beurteilung der Stellung ganz unmöglich sind. Die Folgen eines solchen Mangels an Positionsblick zeigen sich eben dann in jenen überraschenden, unmotivierten Ausgängen voller Enttäuschungen, von denen die Turnier- und Matchberichte so häufig erzählen und die für den Spieler, durch dessen Verschulden sie entstanden, immer ein sicheres Zeugnis ablegen, daß er zur Klarheit in seiner Spielführung noch lange nicht durchgedrungen ist und daß kein sicherer Verlaß auf sein Spiel ist. Da eine derartige Beurteilung von Stellungen einen großen Überblick und einen gewissen Sinn für harmonische Stellungen erfordert, so kann man sie nur durch lange Übung vollkommen sich aneignen, und in allerhöchstem Maße wird dies nur dem gelingen, der über eine tiefe, intensive Anschauungskraft verfügt. Hier fällt die vereinzelte zerstreute Stellung der weißen Figuren sogleich auf, auch der Druck, den die feindlichen Figuren auf den weißen Königsflügel ausüben und die offenen Linien, die zur weißen Königsstellung führen. Eine genauere Betrachtung ergibt, daß der weiße König eigentlich nur von dem g-Bauer geschützt ist und daß eine Öffnung der g-Linie unter Wegschlagen der Schutz figur sofort möglich ist. Damit ist aber der König dem vereinten Angriff von drei schwarzen Figuren schutzlos preisgegeben, während ihn die eigenen Türme und der e-Bauer beengen. Er wird dem Matt nicht entfliehen können. Die gleiche Untersuchung läßt sich natürlich auch für alle anderen Figuren ebenso ausführen; immer werden in Betracht kommen die eventuelle Bewegungslosigkeit und die Schutzlosigkeit einer Figur, sowie die Zugänge zu ihrem Standorte. Aus diesen

128

Zweiter Teil.

drei Daten kann man leicht den Schluß ziehen, ob sie haltbar ist oder nicht. 1. . . . Tg2:t 2. K g 2 : Dh3f 3. Kf2 Dh2t 4. Kf3 Tf8t 5. Df7 Tf7:=j= Morphy.

Sch.

Schulten.

W.

Man bemerkt sofort eine Anhäufung der eigenen Figuren auf dem linken und rechten Flügel der Weißen, sowie daß die feindlichen Figuren einen starken Druck auf den Königsflügel ausüben. Eine genauere Untersuchung zeigt, daß der König ganz gehemmt steht und daß Schwarz in der Lage ist, sofort zwei wichtige Zuglinien auf ihn für seine Figuren zu öffnen. 1. 2. 3. 4. 5.

. .. gf: Kg2 Kh3 Kh4

Sf3f! Dd4f Df2t Df3t Sh6

Bryan.

Seil.

Morphy.

W.

Hier fällt sofort der Druck der weißen Figuren auf den schwarzen König auf. Er steht außerdem vereinzelt und von seinen eigenen Bauern stark beengt, die anderen Figuren sind auch alle stark gehemmt außer der Dame und dem Turm. Da auch alle Linien um ihn vom Feind besetzt sind, so kann er dem Angriff der drei gegnerischen Figuren sich nicht entziehen. 1. 2. 3. 4.

Tb5t Taöt Le3t Dc-54:

Ka6 Kb6 c5

Von der Beurteilung der Stellungen in der Praxis. P

129

Sch.

Hier fallen sofort die offenen Zugänge zur schwarzen Königsstellung auf, außerdem die Richtung sämtlicher weißer Figuren auf den schwarzen Königsflügel. Da nun auch der König wegen der zerstreuten und schlechten Stellung der übrigen Figuren ganz schutzlos ist, so ist ein Mattangriff ganz unabwehrbar. 1. Lh6 Kh8 2. Df5 u. gewinnt. Bei allen diesen Fällen war das gegenseitige Verhältnis der eigenen Figuren und das der feindlichen zu unserem Spiel für die Beurteilung maßgebend; außerdem hat sich noch gezeigt, wie äußerst wichtig das Vorhandensein oder die mögliche Öffnung von Zugstraßen für die feindlichen Figuren in unser Spiel ist. Nebenbei spielte die Randstellung auch eine Rolle. K

Sch.

Da die weißen Figuren auf den König hauptsächlich gerichtet sind, so leidet seine Stellung am meisten und er wird bald matt. 1. Tdl Se5: 2. Lc5:f Ke6 3. De8f Se7 4. d5^=

Morphy.

W.

Die schwarze Stellung ist krank. Links: Hereindrohen einer feindlichen Figur. R e c h t s : Anhäufung. Eingedrungensein einer feindlichen Figur. Mitte: Ebenfalls. G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

9

130 E. Morpby.

Zweiter Teil. Sch.

Man sieht hier, daß der König unter dem Druck der feindlichen Figuren am meisten leidet; in der Tat wird er in wenigen Zügen matt. 1. . . . Dc4 2. T f 7 : f Kg8 3. Tf8=j=

Morphy.

W.

Man bemerke, daß die schwarze Stellung alle Anzeichen einer schwerkranken Stellung hat. L i n k e r F l ü g e l : Anhäufung von Figuren. M i t t e : Eingedrungensein feindlicher Figuren und Hereingähnen ihrer Schlaglinien. R e c h t e r F ü g e l : Vereinzelung von König und Turm.

Zwölftes Kapitel.

Von den schwachen Punkten der Stellung. Dies ist die Stelle, wo ich verwundbar bin.

Wodurch wird die Stellung einer Figur schwach? Dadurch, daß sie exponiert steht, feindlichen Angriffen preisgegeben; oder dadurch, daß ihr die anderen Figuren nicht zu Hilfe eilen können, im Falle sie von feindlichen Figuren sollte angegriffen werden. Man hüte sich daher ja, in der Wahl der Standfelder einer Figur leichtsinnig und voreilig zu Werke zu gehen. Viele, sehr viele Partien gehen nur dadurch verloren, daß eine Figur auf ein Feld gestellt wird, wo sie nur schwer oder gar nicht verteidigt werden kann. Zu den schwachen Punkten gehört die Stellung des v e r e i n z e l t e n B a u e r n , dann die des a u f g e r i s s e n e n K ö n i g s f l ü g e l s , ferner die der e i n z e l n e n F i g u r , welche t i e f im feindlichen Spiel steht.

Von den schwachen Punkten der Stellung.

131

Es gibt dreierlei Arten schwacher Punkte: 1) die ungedeckten, 2) die schwach gedeckten, 3) die ebenso oft gedeckten als angegriffenen. Man gewöhne sich überhaupt daran, alle schwachen Punkte einer Stellung und namentlich die exponierten Figuren bei jedem Zuge zu überblicken. Da sie Motive zu den Treibzügen geben, ist dies von höchster Wichtigkeit. Man wird jetzt begreifen, warum ich so sehr darauf dringe, bei jedem Zuge immer das ganze Brett mit allen Figuren zu überschauen: weil man nur so ermessen kann, wo eine Figur hilflos und verlassen steht; und warum ich bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit des Zusammenspiels aller Figuren betone: weil nur dadurch alle Figuren sich gegenseitig unterstützen und schützen; zu Schutz und Trutz, zu Angriff und Verteidigung gleich fest zusammenstehen. Man wird einsehen, warum der schwache Spieler hier ganz ohnmächtig ist und immer über Abgründen wandelt. Bei seinem beengten Blick, der nie die ganze Stellung erfaßt, ja nicht einmal die ganze Wirkungssphäre einer Figur klar überschaut, ist er ganz außerstande, die schwachen Punkte einer Stellung in ihrem ganzen Umfange zu erkennen oder bei seinen Zügen sich zu hüten, solche zu veranlassen. So sehen wir in der Tat, wenn ein solcher Spieler mit einem Meister spielt, der die schwachen Punkte seiner Stellung 'klar überschaut und darauf das Zusammenspiel seiner Figuren richtet, sein Spiel sofort zusammenfallen, da er gewöhnlich erst im letzten Augenblick, wenn schon die Katastrophe unvermeidlich ist, auf die Gefahren aufmerksam wird. Nur so wird man sich die instinktive Unsicherheit und Befangenheit erklären können, die jeder schwache Spieler hat, wenn er mit einem Meister spielt. Er hat immer das dunkle Gefühl, daß in der Stellung etwas vorgeht, wovon er keine Ahnung hat. Er ist in derselben Lage wie jener Damokles, dem das Schwert über dem Haupte hing. Wie ein Mensch, der unter dem Eindruck einer großen Gefahr steht (z. B. bei Erdbeben oder anderen Naturereignissen),. aber nicht weiß, von woher sie droht, alle Ruhe und Überlegung verliert, und von einer unheilvollen Panik ergriffen wird, die ihn gerade in sein Verderben treibt, so geht es auch einem solchen Spieler. Sein Spiel ist voll Unsicherheit, ohne Selbstvertrauen und Überlegung, und so macht er Fehler auf Fehler und verliert die Partie, ohne nur zum Bewußtsein zu kommen, wie. 9*

132

Zweiter Teil.

Daher weiß der schwache Spieler auch so oft nicht, welchen Zug er machen und wohin er seine Angriffe richten soll; es entgehen ihm fast immer die eigentlich schwachen Punkte; er macht seine Angriffe ohne Rücksichtnahme darauf. Darum lege ich immer wieder ans Herz: Man suche vor allem die Anschauungskraft zu stärken, den Schachblick weit zu machen, sonst wird man, und wenn man hundert Bücher durchstudiert hätte, nie in der Lage sein, eine Stellung richtig zu behandeln, eine Partie korrekt durchzuführen! Morphy.

Sch.

Durch Opfer des Springers g5 auf f3 wird dem h-Bauer seine natürliche Stütze entzogen, und da die übrigen Figuren zu seinem Schutze nicht herankönnen, wird er durch Dame h4 leicht erobert. 1. . . . Sf3t 2. gf: Dh4 3. T h l Lh3: 4. Ld2 Tf6 u. gewinnt. Riviere.

W.

Schutzschwache Stellung des h-Bauern, Morphy.

Stellung des Bauern h3 ist schwach, da er von den übrigen Figuren schwer geschützt werden kann. 1. Td3 und Weiß muß die Dame geben, um den Punkt h3 verteidigen zu können. 1. . . . Td3! 2. Dd3: Sd3: 3. Ld3: Dd6f 4. f4 Dd3: u. gewinnt. St. Amant.

Über die Motive.

133

Dreizehntes Kapitel. Über die Motive. Was man von der Minute ausgeschlagen, Gibt keine Ewigkeit zurück. S c h i l l e r , Resignation.

Um in die Motive Ordnung hineinzubringen, teile ich sie ein in allgemeine und episodische. A l l g e m e i n e nenne ich alle jene, die eine Aufbesserung meiner Stellung bezwecken, weil die stete Positionsverbesserung ja das allererste, die ganze Partie gleichmäßig durchziehende Hauptmotiv aller meiner Züge sein muß. E p i s o d i s c h e nenne ich hingegen alle jene, welche die Folge momentaner Erfordernisse sind, wie Angriff, Verteidigung, Hemmung feindlicher Figuren usw. Zu den allgemeinen Motiven gehören also: alle Motive zur Verbesserung des eigenen Spiels. Zu den episodischen gehören: 1) Alle Motive zur Verschlechterung des feindlichen Spiels. 2) Alle Angriffs- und Verteidigungsmotive. 3) Alle Treibmotive. Das Motiv zur Verbesserung des eigenen Spiels besteht darin, alle Hemmungen aus unserer Stellung zu entfernen, und zieht sich die ganze Partie hindurch fort. Immer ist an der Verbesserung unserer Stellung zu arbeiten. Es ist das allgemeinste, heiligste Motiv, das bei keinem Zuge versäumt und vernachlässigt werden darf. Das Motiv der Verschlechterung der feindlichen Stellung kommt unserem Spiel auch zugute, insofern es dadurch immer gewinnt, wenn feindliche Figuren gehemmt werden. Es muß also, so oft sich irgendeine Gelegenheit bietet, mit starker Hand erfaßt werden. Das Angriffsmotiv ist sehr wichtig, weil die Angriffszüge Treibzüge sind. Jede Gelegenheit zu einem Angriff soll daher wahrgenommen werden, wenn er die Stellung der zu verwendenden Angriffsfigur verbessert. Das Verteidigungsmotiv ist da, wenn Verschlechterung der Standfelder unserer Figuren durch feindliche Angriffe droht. Das Treibmotiv, das in Gelegenheiten zu Abtauschen, Opfern, Angriffszügen besteht, soll man beherzt und kräftig beim Schöpfe fassen, aber ja nicht durch farblose ängstliche Ausrottungstausche, faule Opfer, ungeschickte Angriffe das eigene Spiel schwächen und ruinieren.

134

Zweiter Teil.

Es ist nun, um all diese Motive benutzen zu können, ein offenes Auge nötig, und dies ist viel wichtiger als alle Grübelei. Jeder Zug, soll er gut sein, hat zweien Motiven genugzutun: dem allgemeinen, auf Verbesserung der eigenen Stellung gerichteten, und dem besonderen, episodischen, momentan geforderten (Angriff, Verteidigung, Abtausch, Opfer usw.). Sollten aber einmal diese beiden Motivarten in Kollision geraten und sich nicht in einem Zuge vereinigen lassen, so daß man vor der Wahl steht, entweder das allgemeine oder das episodische Motiv außer acht lassen zu müssen, so geht das allgemeine vor, wenn es sich nicht um große Verluste handelt. So ist ein Bauer z. B . getrost hinzugeben, wenn seine Verteidigung die Stellung verschlechtern würde, und lieber dafür ein starker Befreiungszug zu machen. Der damit erzielte positionelle Vorteil wird den materiellen Nachteil aufwiegen. Hier Beispiele dieser Kollision der Motive. (Siehe Diagramm.) Der weiße Turm ist angegriffen. Soll er wegziehen ? Bin wichtiges Tempo geht verloren und jeder mögliche Zug mit ihm ist matt und kraftlos. Sein Abtausch gegen den Läufer mag also erfolgen, wenn nur der andere Turm frei ist, wiedernehmen und die wichtige e-Linie besetzen kann. Der positioneile Vorteil der weißen Stellung ist dann mächtig, der materielle Nachteil kommt dagegen gar nicht in Betracht! Also Ignorierung des episodischen Motivs zugunsten des allgemeinen und Entwicklung des Springers 1. Sd2! Deacon.

Sch.

Die weitere Portsetzung mag zeigen, wie schnell die schwarze Stellung zusammenbrach! 1. Sbd2, L e i : 2. T e l : , Db6 3. Se4, Lf5 4. Sföf, Sf6: 5. Df6:, Le6 6. Le6:, fe: 7. De6:, D b 5 t 8. K g l , Dd7 9. Dd6:, Dd6: 10. Ld6:, Tf7 11. Sg5, Tg7 12. Se6, Kd7 13. Sg7:, K d 6 : 14. Te6f, Kd7 15. Th6, Tc8 16. Th7:, Tc3: 17. Sf5, Ke6 18. Se7:, Tc7 19. Sg6! u. gewinnt. Morphy.

W.

Schlußbetrachtungen zum zweiten Teil.

Marache.

W

Wie soll Schwarz die episodische Drohung 1. Lh7f parieren ? 1. . . ., g6 ist lahm und schwach. Also Kollision der Motive! — Er spielt 1. . . ., Lf5ü, gibt Turm gegen Springer und erlangt eine scharfe Angriffsstellung. Es folgt: 1. . . ., Lf5! 2. Lf5:, Sf5: 3. La3, Dg6 4. Lf8:, Dg5:! 5. La3, de: 6. Lei, Dg6 7. Lf4, Td8 8. Dc2, Sd4 9. De4, Sg3ü 10. Dg6:, Se2 f .

Meek.

135

W.

Was soll Schwarz tun ? Es droht Abzugsschach mit Turmverlust. 1. . . ., Kh7 ist ein kraftloser, passiver Zug. Die Kollision der Motive ist da. — Er spielt Le6ü und opfert Bauer und Turm gegen Springer, um sich machtvoll zu entwickeln. Es folgt: 1. . .., Le6! 2. Db7:, Lh3:! 3. Se7f, De7: 4. Da8:f, Kh7 5. Kh2, T g 2 ? 6. Kh3:, De6f und Matt in 4 Zügen.

Vierzehntes Kapitel. Schlußbetrachtungen zum zweiten Teil. O! Nimm die Stunde wahr, eh sie entschl&pft. So selten kommt der Augenblick im Leben, Der wahrhaft wichtig ist und groß. S c h i l l e r , Die Piccolomlnl.

Man findet häufig selbst tüchtige Spieler in Verlegenheit geraten, welche Figur sie ziehen sollen. Es fehlt ihnen ein Motiv, die eine oder andere Figur zu bewegen. Nun gibt es allerdings in vielen Partien tote Punkte. Momente, wo scheinbar kein befriedigendes Motiv für die Fortsetzung des Spiels sich darbietet. Im allgemeinen sind aber die Spieler einfach motivblind oder sie jagen imaginären Ideen nach, die keine Wurzeln in den jeweiligen Positionen, die sie behandeln sollen, haben.

136

Zweiter Teil.

Und das ist ein Hauptfehler vieler sonst tüchtiger Spieler, daß sie eine große Anzahl Lieblingsideen, Vorzugsstellungen stets im Kopf herumtragen, die sie gar zu gerne am Brett verwirklichen möchten. Gibt ihnen irgendeine Stellung nur die geringste Hoffnung hierzu, so spielen sie, blind für alle in ihr liegenden wirklich guten Motive, auf die Realisierung ihrer Lieblingspläne und Schachträume und verlieren natürlich die Partie. Jeder Zug soll aber nur nach festen, wirklichen Motiven erfolgen, die in der jeweiligen Stellung liegen, und alle Phantasiegebilde sind strengstens zu verbannen. Es gibt immer in jeder Stellung genug Motive, wenn man nur ernstlich sucht, so daß öfter die Wahl schwer wird, aber niemals ein wirklicher Mangel daran ist. Also nicht phantasieren am Schachbrett, keine Luftschlösser bauen, keine Lieblingspläne, Utopien verwirklichen wollen, sondern nach reellen Motiven Umschau halten, die eigene Stellung zu bessern, die feindliche zu verschlechtern. Dieser Blick für Motive muß gebildet werden, dann werden alle nebelhaften Phantasiegebilde von selbst erblassen und verschwinden. Man wird sich gewöhnen, auf festem Boden zu gehen und nicht immer in den Wolken zu schweben. Man bilde ihn durch das Studium der Werke eines großen Meisters wie Morphy oder Anderssen. Bei diesen tritt er besonders kräftig und machtvoll hervor. Der Schüler, der ihre Partien mit Eifer, Fleiß und Hingabe durchstudiert, wird bald die charakteristischen Motive, die immer wiederkehren, herausfinden und durch Übung sich aneignen können. Ein großer Meister lehrt uns vor allem die -vielen falschen Tendenzen meiden, in die der Neuling immer verfällt, und die ihn an allem Fortschritt hindern. Er lehrt ihn, allem Schablonenhaften und Phantastischen gleich weit aus dem Wege gehen und immer die augenblickliche Lage scharf erfassen und voll ausnutzen. So kommt Stil und Charakter in sein Spiel; er eignet sich nicht nur allmählich den künstlerischen Blick für vorhandene Motive an, er lernt auch, sich Rechenschaft geben über Wert und Folgerichtigkeit seiner Züge. Eine durch überkonsequentes Spiel erlittene Schlappe betrübt ihn nicht, und ein zufälliger Gewinn freut ihn nicht mehr. Er lernt seine eigenen Wege gehen und durch Dick und Dünn, durch Glück und Unglück seinen Überzeugungen folgen und lieber mit ihnen und durch sie fallen, als durch ihre Verleugnung einen Scheinsieg erringen ohne Wert, der ihm keine Freude machen kann.

Dritter Teil. Erstes Kapitel. Über die Eroberung von Figuren. Ein Gesetz muß kurz sein, daß es leichter von Unkundigen behalten wird. S e n e c a , Episi.

Im Grunde genommen streben die allermeisten Spieler mit aller Macht nach Eroberung feindlicher Figuren, und dieser Gesichtspunkt gibt ihrem Spiel die Richtung. Wie aber Pilze sehr viel Unheil anrichten, wenn nicht sorgfältig darauf geachtet wird, ob sie eßbar oder giftig sind, so auch die Eroberungen, wenn nicht darauf gesehen wird, ob die Stellung darunter leidet oder nicht. Oft gewinnt ein Spieler eine Figur, verliert aber die Partie, wenn sein ganzes Augenmerk nur auf Eroberung gerichtet war. Man vergesse nie, daß die Eroberungen auch zu den episodischen Motiven gehören. Wenn das Allgemeine, die Verbesserung der Stellung zu stark darunter leidet, werden sie tödlich. Oft greift ein Spieler auch einen uneroberbaren Punkt an, verschlechtert seine Stellung mit zwecklosen Versuchen, ihn einzunehmen, vergeudet seine Zeit und verliert schließlich die Partie in der Folge. So sehen wir auf großen Turnieren und bei ernsten Matchen unsere Schachkoryphäen, wenn sie den Gewinn forcieren wollen, wenn sie da, wo ihnen von Seiten des Gegners keine Motive vorliegen, dieselben erzwingen wollen, eklatante Niederlagen selbst von weit schwächeren Gegnern erleiden. Dies alles ist aber nur darum möglich, weil wir so ganz im Dunkel sind über die Gesetze, unter denen sich jede Figureneroberung vollzieht. Darum passiert es uns so häufig, daß unsere Bemühungen fruchtlos sind, ja daß wir selbst dabei zu Schaden kommen. Also auch hier gilt es, wieder erst feste Grundsätze aufzustellen, Richtmaße zu finden, wonach wir beurteilen können, ob eine feindliche Figur eroberbar ist.

138

Dritter Teil.

Und da sage ich, es herrscht für die Eroberung einer jeden Figur, den König mit eingeschlossen (sowie jeden Zugfeldes des Brettes), ein einfaches, großes, unumstößliches Gesetz, das nicht zu umgehen ist und welches lautet: J e d e M a j o r i t ä t von Figuren auf eine feindliche, zugsunfähige F i g u r oder auf einen P u n k t v e r e i n t , erobert die F i g u r , b r i n g t den P u n k t in unsere a b s o l u t e Gewalt. Oder, leichtfaßlicher ausgedrückt: Jede Figur muß erst bewegungslos und schutzlos sein, um erobert werden zu können. Bewegungslos aber wird sie durch die eine oder andere Hemmungsart oder mehrere zugleich, schutzlos durch die Stellung der anderen Figuren zu ihr. J e weniger Spielraum die Figuren haben, je mehr sie sich gegenseitig hemmen oder von den feindlichen Figuren eingeengt werden, um so weniger sind sie in der Lage, sich gegenseitig im Fall einer Bedrohung beizuspringen, desto schutzunfähiger sind sie also. Es setzt also jede Eroberung einer feindlichen Figur nicht nur deren eigene Bewegungslosigkeit voraus, sondern auch starke Hemmungen unter den übrigen feindlichen Figuren. Man hat daher fast immer unrecht, einen bestimmten Zug für den Verlust des Spieles verantwortlich zu machen, vielmehr ist dieser in den allermeisten Fällen die Folge fortgesetzter Hemmungs- und Befreiungsfehler. Anfänglich werden diese Verstöße nur als gedrücktes Spiel und Verteidigungsschwierigkeiten empfunden, bei großen gegnerischen Attacken aber versagt dann durch ihre Schuld der ganze Verteidigungsapparat plötzlich und die Katastrophe bricht herein. An der M a n ö v r i e r u n f ä h i g k e i t der einzelnen Figuren gehen in letzter Linie die weitaus meisten Partien verloren. Zweites K a p i t e l .

Das Eroberungsgesetz. Welle kommt und Welle geht. Doch der Strom allein besteht. Grillparzer.

Zahllose und immer neue Gruppierungen bilden die Figuren, und schier unerschöpflich scheint die unabsehbare Menge möglicher Stellungen. Aber es herrscht ein Gesetz in der Erscheinungen Flucht. Millionen von Stellungen entstehen und vergehen rasch am Schachbrett, aber ewig unwandelbar bleibt das Gesetz, und wer es recht erfaßt und erkannt hat, den kann die Fülle der Bilder nicht beirren noch verwirren.

Das Eroberungsgesetz.

139

Die wahre Schachkunst besteht darin, im rechten Augenblick eine überlegene Figurenmenge auf den entscheidenden, ausschlaggebenden Punkt werfen zu können. Es gilt das Gesetz für alle Partieführung. Da dieselbe nur die Tendenz haben kann, Punkte der feindlichen Stellung zu erobern oder solche der eigenen zu schützen, so kommt es in dem ersten Fall darauf an, die Majorität der Figuren auf einen Punkt zu vereinen, in dem zweiten sie zu verhüten. Weil also dies Gesetz ausnahmslos alles Figurenspiel beherrscht, nenne ich es das Schachgesetz oder Eroberungsgesetz. Es ist jetzt auch klar, daß alles Angriffsspiel darin besteht, die Majorität der Figuren auf einem Punkt der feindlichen Stellung zu erreichen; alles Verteidigungsspiel, sie auf einen Punkt der eigenen Stellung zu hindern. Es ist ferner klar, daß der Ausdruck „der Angriff ist unwiderstehlich" nichts weiter besagen soll als: „die Majorität der Figuren auf einen Punkt ist nicht mehr abzuwenden." Es ist auch leicht ersichtlich, daß zum Behufe der Erlangung einer eigenen sowie der Verhütung einer feindlichen Figurenmajorität ein Zusammenspiel mehrerer, ja meist aller verfügbaren Figuren nötig ist. Ich nenne diese kombinierte Spielführung h a r m o n i s c h e s Spiel, sie bildet den höchsten Partiestil, und werde ich später ausführlich darüber handeln. Ich gebe nun einige Stellungsbilder, in denen eine Partei die Majorität der Figuren an irgendeinem Punkte glücklich erreicht hat. Bauerngewinn (3—2). A. Morphy.

Seh.

Durch Tausch des Springers e7 erlangt Weiß auf d5 die Majorität dreier Figuren gegen zwei. 1. . . . Lc6 2. b4 b6 3. Le7: De7: 4. Sd5:

Morphy.

W.

140

Dritter Teil.

Eroberung des Punktes f6 (3—2). P

Morphy.

Sch.

W.

Weiß belagert den Punkt f6 mit einer Majorität von Figuren und erobert ihn. 1. Lg5 Ld4: 2. e5 Le5: 3. Tel 0—0 4. Te5: de: 5. Sf6: gf: 6. Lf6: u. gewinnt.

Läufergewinn (2—1). Morphy.

Meek.

Sch.

W.

Turm und Dame gewinnen gegen Dame allein die Majorität auf f4. 1. . . . De4 2. Lei Lf4: 3. Lf4: Td4: 4. beliebig Df4:

Nun wird es auch erst recht verständlich werden, warum ich so sehr auf ein Z u s a m m e n s p i e l aller F i g u r e n dringe. Es hängt doch in tausend und wieder tausend Fällen allein der Gewinn der Partie davon ab, ob wir noch eine Figur mehr auf den angegriffenen Punkt anstürmen lassen. Sind nun alle meine Figuren leicht beweglich und verfügbar, so habe ich hundertmal mehr Chancen, daß mir das gelingt, und ich werde viele Partien noch gewinnen, die ein anderer, der durch müßige Bewegungen einzelner Figuren das Zusammenspiel aller vernachlässigt hat, verliert oder nur remis macht. Laßt es euch darum nochmals ans Herz gelegt sein, sucht um jeden Preis und in erster Linie das Zusammenspiel aller eurer Figuren so schnell als möglich zustande zu bringen, und wenn es durch Angriffe des Gegners gestört wurde, arbeitet sofort wieder daran, es herzustellen; glaubt mir, es ist das Allerwichtigste, es

Ein Fall, wo das Schachgesetz scheinbar nicht anwendbar ist.

141

ist die Seele aller Partieführung, weil sich nur damit leicht eine Figurenmajorität auf einem Punkt erreichen läßt. Warum gewinnt der Stümper seine Partie so mühselig und im Schweiße seines Angesichts ? Nur weil er seine Figuren nicht zusammenzuspielen versteht, mit einzelnen allein verlorene Operationen unternimmt und derweilen eine kostbare Zeit verliert für die Mobilmachung der anderen. Und so ist sein Spiel nie harmonisch, immer h a r m o n i e l o s , und seine Figurenstellungen sind wüste und dem Auge unerfreulich und tragen immer den Stempel tiefer Erkrankungen an sich. Sie sind voller alt gewordenen Hemmungen, auch stehen seine Figuren zerstreut und ohne Zusammenhang auf allen Teilen des Brettes, weil ihm eben der Uberblick über das ganze Brett fehlt und damit die Rücksichtnahme bei Bewegung einer Figur auf alle übrigen. Wie ganz anders ist dagegen das Spiel des echten Schachspielers! Da bewegt sich keine Figur ohne Berücksichtigung aller anderen, da muß jeder Zug dienen dem einen großen, ihm immer vorschwebenden Ideal: das h ö c h s t e Z u s a m m e n s p i e l s e i n e r F i g u r e n , die h ö c h s t e H a r m o n i e u n t e r e i n a n d e r zu erreichen. Daher sind auch seine Stellungen dem Auge wohltuend, es weht ein gesunder Hauch darüber hin, sie sind voll Lebenskraft und Stärke und flößen Vertrauen und ein stolzes Gefühl der Sicherheit ein. Also merkt euch: das harmonische Spiel ist das höchste Ideal aller Spielführung; es allein ermöglicht rasche und glänzende Figurenmajoritäten auf allen Punkten einer Stellung.

Drittes

Kapitel.

Eilt Fall, wo das Schachgesetz scheinbar nicht anwendbar i s t Alle Zweifel schwinden.

Ja, wird man sagen, bei Eroberung niederer oder gleichwertiger Figuren oder irgendeines Punktes mag das Schachgesetz unbestreitbare Gültigkeit haben und die Majorität der Figuren die Entscheidung bringen. Wie verhält es sich aber beim Angriff auf eine höhere Figur, kann da auch von einer Majorität der Figuren die Rede sein? Es genügt doch schon der Angriff einer niederen Figur, die höhere zu erobern, wenn sie nur sich

142

Dritter Teil.

demselben durch die Flucht nicht entziehen kann, und hierher gehören vor allem alle Partiegewinne durch Mattsetzen des Königs und alle durch Qualitätsgewinn. Auf diese Art werden mindestens ebenso viele Partien gewonnen als auf die andere, wo das Majoritätsgesetz unbestritten gilt. Wo es sich um den absoluten Besitz eines wichtigen, strittigen Punktes, einer entscheidenden Figur handelt, koste es was es wolle, wie bei Mattführungen, da tritt es auch hier sofort in volle Kraft. Ich gebe hier ein Beispiel: Stamma.

Seh.

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Sc6f Da8f! Ta8^ Ta7f Sd6f Tf7f.

Ke8! Sa8: Kd7 Ke8 Kf8

w. Hier handelt es sich um den absoluten Besitz des Feldes a8 und hier entscheidet daher das Majoritätsgesetz die Partie sofort. Das Matt ist nichts als die tatsächlich unausgeführte Eroberung des Königs. Diese muß unterbleiben, weil die mattgesetzte Partei nicht mehr ziehen kann, die mattansagende also zwei Züge hintereinander machen müßte, was nicht angeht. Nun ist die Partieführung einfach, klar, sicher und für alle die Millionen und Millionen Fälle, wo es sich um Eroberung handelt, dieselbe, und kein Gewinn ohne das Schachgesetz, ohne Majorität der Figuren möglich, nun gilt ein einheitliches Schachgesetz, ein einheitlicher Schachprozeß, ein einheitliches Zusammenspiel der Figuren für alle Partien, die je gespielt wurden und für alle, die noch gespielt werden, solange das Schachspiel bestehen wird.

Der Schach- oder Eroberungsprozeß.

Morphy.

W.

Majorität einer Figur. Durch Qualitätsopfer lenkt Weiß den Bauer von d6 ab, erobert diesen Punkt und damit die schwarze Dame, die wegen Zeithemmung (gleichzeitiger Angriff auf den König) auf ihr Standfeld festgebannt ist. 1. Tb6, cd: 2. S d 6 f , K ~ 3. Sf7:.

Viertes

Meek.

143

W.

Nach Königs 1. 2. 3. 4. 5. hat die jorität.

Festsetzung des weißen durch ... Tg2:f Kh3: De6| Kg2: Dg4f Kh2 Sf3f Khl Dame auf h3 die Ma-

Kapitel.

Oer Schach- oder Eroberungsprozeß. Durch diese hohle Gasse muß er kommen, Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht. S c h i l l e r , Teil.

Ich kann die Majorität der Figuren auf einem P u n k t auf zweierlei Weise erreichen, nämlich einmal durch H i n r i c h t e n m e i n e r F i g u r e n auf den Punkt oder durch A b h a l t e n respektive A b t r e i b e n d e r f e i n d l i c h e n F i g u r e n davon, und diese beiden vereinigten Tätigkeiten der Figuren auf einen Punkt, ihn zu erobern, bilden den Schachprozeß. Keine Eroberung einer Figur oder eines Feldes, kein Matt ist ohne diesen Prozeß denkbar und kann anders als durch Erlangung der Majorität der Figuren zustande gebracht werden.

144

Dritter Teil.

Es gibt also nur einen großen Schachprozeß, der sich unzählige Male, unter den verschiedensten Figurengruppierungen wiederholt. Jede Partie ist eine fortlaufende Reihe von Versuchen, ihn an irgendeinem Punkte durchzuführen. Da es leicht ist, festzustellen, wieviel Figuren iph und der Gegner in einer bestimmten Stellung auf einen Punkt vereinen und hinlenken können, so läßt sich mit voller Gewißheit bestimmen, ob derselbe eroberbar ist oder nicht, und das ist die eigentliche Aufgabe der Analyse. Mit Fragen aber, wie, ob b2—b4 im Evansgambit gut oder schlecht ist, und ähnlichen, die in das Gebiet des Hemmungs- und Befreiungsspiels fallen, sollte sie sich füglich nicht abgeben, da sie hier gar nichts entscheiden kann, weil es ihr an festen Grundsätzen fehlt und diese der Synthese als deren eigentliche Domäne überlassen, sonst setzt sie sich leicht der Gefahr aus, in Mißachtung und Verruf zu kommen, wenn ihre angesehensten Wortführer sich wie Rasende widersprechen und einer das Gegenteil von dem behauptet, was der andere für gut hält, und schließlich keiner Vertrauen verdient, da sie alle nur schwankende Meinungen äußern, die sich nicht auf unumstößliche Grundsätze stützen, sondern auf subjektive Ansichten oder eine zweifelhafte Praxis.

Fünftes Kapitel. Das Wesen des Schachprozesses. Wer bist du, wunderbares Mädchen, sprich! S c h i l l e r , Jungfrau.

Der Eroberungsprozeß hat zwei Phasen, erstens die H e m m u n g der zu e r o b e r n d e n F i g u r , zweitens den Angriff m i t einer M a j o r i t ä t von F i g u r e n . Da aber die Majorität der Figuren auf zweierlei Weise erlangt werden kann, einmal durch Anlenken einer größeren Anzahl Angriffsfiguren, als der Gegner Schutzfiguren beibringen kann, dann durch Abdrängen, Ablenken der feindlichen Schutzfiguren, so entstehen hier zwei gesonderte Verfahren, die teils vereint, teils einzeln, je nach Möglichkeit, zur Erlangung der Figurenmajorität angewandt werden. Das Hinrichten setzt eine große Beweglichkeit der eigenen Figuren voraus, also ein starkes, gesundes Befreiungsspiel, eine ungesäumte, stetige Entwickelung aller Figuren, ohne Aufenthalt, ohne verschwenderische Bewegungen mit einer einzelnen Figur

145

Das Wesen des Schacbprozesses.

zum Nachteil der übrigen. Das Hintanhalten dagegen setzt ein energisches Hemmungsspiel gegen die feindlichen Figuren voraus, wodurch diese nicht zur allseitigen Beweglichkeit, und zum Zusammenspiel nur unvollständig kommen können. Denn haben die feindlichen Figuren die gleiche Beweglichkeit wie die meinen, so ist nicht abzusehen, wie an irgendeinem Punkte eine Majorität zu erzielen ist. Ihr seht aus allem Gesagten, wie das Zusammenspiel der Figuren Lebensbedingung für jeden erstrebten Sieg wird. Es ist der Angelpunkt, worum sich die ganze Partieführung dreht. Nur wer die größte Beweglichkeit und Disponibilität aller seiner Figuren erreicht, hat berechtigte Aussicht auf den Gewinn einer Partie, weil er die Figurenmajorität an irgendeinem Punkte meist leicht und schnell erreichen wird. Solche Partien, die vom allerersten Anbeginn durch ein großartig angelegtes Harmoniespiel, ein stetig emsiges Zusammenspiel aller Figuren bis dahin, wo sie mit überwältigender Majorität irgendeinen Punkt der feindlichen Stellung erobern, gewonnen werden, nennt man d u r c h g e f ü h r t e Partien. Mit der Durchführung des Schachprozesses tritt dann der Fall des Punktes, die Eroberung der Figur, das Matt ein. Im letzten Fall ist die Partie gleich aus, in den anderen beiden Fällen erlangt die siegreiche Partei gewöhnlich ein so großes Übergewicht an Terrain oder Figuren, daß weitere erfolgreiche' Schachprozesse dem ersten bald folgen und schließlich eine solche Übermacht an Figuren oder Terrain erreicht wird, daß ein Mattprozeß leicht durchführbar wird. Es kommt aber auch häufig vor, daß der Schachprozeß unvollendet bleibt, weil es dem Gegner gelingt, ebenso viele Figuren auf dem bedrohten Punkt zu vereinen. Dann beginnt er an einer anderen Stelle und so immerfort, bis es irgendwo gelingt oder die Unmöglichkeit seiner Durchführbarkeit offen vor Augen liegt. Der Schachprozeß ist es demnach, der allen Plänen und Kombinationen bewußt oder unbewußt zugrunde liegt und die Partie auf die eine oder andere Art entscheidet, und außer ihm ist kein Gewinn.

G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

10

146

Dritter Teil.

Sechstes

Kapitel

Die Hauptarten des Schachprozesses. Viele Wege führen nach Rom.

Da jeder Eroberungsprozeß die vollständige Hemmung der zu erobernden Figur zur Voraussetzung hat, so kann man, je nachdem die eine oder andere charakteristische Hemmungsart dabei hauptsächlich zur Anwendung gelangt, fünferlei Hauptarten unterscheiden: 1) den Umdrohungsprozeß, 2) „ Bindungsprozeß, 3) „ Fesselprozeß, 4) „ Verstellprozeß, 5) „ Zeitprozeß. Die Randhemmung allein ist zu schwach, um einen Eroberungsprozeß zu verstatten, da sie der gehemmten Figur noch einen gewissen Spielraum verstattet. Es muß immer noch die eine oder andere Hemmungsart hinzutreten (Umdrohung oder Verstellung). Ich werde nun die einzelnen Schachprozeßarten der Reihe nach an Beispielen vorführen, wodurch alles viel verständlicher und klarer werden wird. Siebentes

Kapitel.

Der Umdrohungsprozeß. Besetzt hält der Achäer alle Tore. Schiller.

Die Festhaltung der zu erobernden Figur wird hier durch Umdrohung ihrer sämtlichen freien Zugfelder bewerkstelligt; nebenbei wirken oft noch Verstellungs- und Randhemmungen mit. Die meisten Mattführungen sind Umdrohungsprozesse. Der Umdrohungsprozeß kommt besonders häufig an den kurzschrittigen Figuren vor, die eine beschränkte Zugsphäre haben (König, Springer, Bauer), bei den Linienfiguren nur dann, wenn sie schon unter anderen starken Hemmungen stehen (Verstellungsund Randhemmung). Nachdem die feindliche Figur bewegungslos gemacht ist, wird sie von einer Majorität von Figuren angegriffen. Hier einige Beispiele.

Der Fesselprozeß.

147

Matt. Herzog v. Braunschweig.

Morphy.

Sch.

W.

Abdrängen der Schutzfiguren vom schwarzen König und Umdrohung aller seiner Zugfelder. 1. Td7: Td7: 2. Tdl De6 3. Ld7:t Sa7: 4. Db8t Sb8: Anlenken des Turms. 5. Td8=(=

Achtes

Mac Donnell.

Seta.

De la Bourdonnals.

W.

H e m m u n g : Umdrohung des Königs. A b d r ä n g e n der Schutzfiguren; 1. . . . Dg3: 2. Tg3: A n l e n k e n des Springers. 2. . . . Sei 3. ~ Sc24=

Kapitel.

Oer Fesselprozeß. Und ich bin nichts als ein gefesselt Weib. S c h i l l e r , Jungfrau.

Die Festhaltung der zu erobernden Figur erfolgt hier ausschließlich durch Fesselung. Diese Hemmungsart ist so kräftig, daß sie allein genügt, eine Figur bewegungsunfähig zu machen. Durch den Fesselprozeß können alle Figuren außer dem König verloren gehen. Der Vorgang ist sehr einfach. Die zu erobernde feindliche Figur wird durch eine Linienfigur, wenn sich ein Motiv dazu bietet, gefesselt, und dann mit einer Majorität von Figuren angegriffen. Beispiele: 10*

148

Dritter Teil.

Springerfall. F.. .

Morphy.

Springergewinn. Scb.

Faalsen.

Scb.

W.

Morphy.

W.

Hemmung: Fesselung des schwarzen Springers d5. A b d r ä n g e n der Schutzfiguren. 1. Sc3 de: 2. T e l t Se5 3. Lf4 Lf6 4. Le5: Le5: Ke5: 5. T e 5 : t Kd4 6. T e l t 7. L d 5 : t und gewinnt.

Neuntes

Hemmung: Fesselung des weißen Springers durch Turmopfer. 1. . . . Tg2+! 2. Kg2: f5 3. f3 fe: 4. fe: Dg6t und gewinnt.

Kapitel.

Der Bindeprozeß. Es prüfe, wer sich . . . bindet. S c h i l l e r , Glocke.

Die Festhaltung der zu erobernden Figur geschieht hier dadurch, daß diese durch Schutzverpflichtungen an ihr Standfeld gebunden ist. Alle Figuren außer dem König können auf diese Art verloren gehen. Der Vorgang' ist einfach der, daß die gebundene feindliche Figur mit einer Majorität von Figuren angegriffen wird; entweder geht sie dann selbst verloren, oder sie muß den Schutz derjenigen

Der Verstellungsprozeß.

149

Figur aufgeben, die unter ihrer Obhut steht, und diese geht verloren. Beispiele: Läufergewinn. Marshall.

I,. . .

Seil.

W.

Hemmung: Bindung des weißen Königs durch das Schlagen des f-Bauern. 1. . . . Dg3ü 2- i g : ? Auf 2. Dg3: gewinnt 2. Se2f 3. K h l , S g 3 ^ 4. K g l , Se2t nebst 5. Tc3; auf 2. hg:. Se2=j=. 2. . . . Se2f 3. K h l Tfl Zehntes

T.öwenthal.

Morphy.

Scta.

W.

Hemmung: Bindung des schwarzen Springers g4 wegen der bedrohten Lage des Läufers h2. A b d r ä n g e n der Schutzfigur. 1. f3 ef: 2. gf: Se5 3. Te3 f6 4. Kh2:

Kapitel.

Der Verstellungsprozeß. Hier Ist die Welt mit Brettern verschlagen.

Die Festhaltung der zu erobernden Figur geschieht hier durch Verstellung ihrer sämtlichen freien Zugfelder, nebenbei wirken oft Rand- und Umdrohungshemmungen mit. Alle erstickten Matt sind Verstellungsprozesse. Außer bei dem König kommen die Verstellungsprozesse besonders häufig bei den Bauern vor, wegen ihrer beschränkten Zugsphäre, doch können auch alle anderen Figuren durch sie verloren gehen.

Dritter Teil.

150

Der Vorgang ist einfach.. Nachdem der zu erobernden Figur alle Zugfelder, über die sie verfügt, durch andere Figuren (eigene oder feindliehe) verstellt sind, wird sie von einer Majorität von Figuren angegriffen. Beispiele: ßryan.

Morpby.

Matt.

Sch.

W.

Hemmung des schwarzen Königs durch Verstellung (Zug 3—6) und A b d r ä n g e n der Schutzfigur (Zug 1—2). 1. e5 Dg5 2. h4 Dg4 3. D a 3 t Kg8 4. Se7t Kf8 5. S g 6 f t Kg8 6. Df8f Tf8: A n l e n k u n g des Springers. 7. Se7 +

Turmgewinn.

MasoD.

Plackburne.

Hemmung: Verstellung schwarzen Turmes h6. A n l e n k e n des f-Bauern. ]. Sg5t fg: 2. fg:

Seh.

w. des

Elftes Kapitel. Der Zeitprozeß. Des Menschen Engel ist die Zeit. S c h i l l e r , Wallenstein.

Hier entsteht die Festhaltung der zu erobernden Figur durch Doppel- oder Abzugsangriff. Indem zwei feindliche Figuren, die irgendwie exponiert stehen, zugleich angegriffen werden, fehlt es an der nötigen Zeit, beide

Der Zeitprozeß.

151

zu schützen. Die hier allein wirkende Hemmungsart ist die Zeithenmung. Alle Figuren außer dem König können auf diese Art verlortn gehen. Der Zeitprozeß unterscheidet sich dadurch von den anderen Ertberungsprozeßarten, daß hier Hemmung und Erzwingung einer Figirenmajorität in ein und demselben Zuge erfolgt, gleichsam blitzartig; er ist daher der weitaus gefährlichste von allen Schachprozessen. Der Abzugsangriff gibt oft Gelegenheit zu glänzenden Mattführungen. Schbgel in Sagan.

Sch.

H e m m u n g : Gleichzeitiger Angriff von Turm und Springer auf den schwarzen König (Abzug). 1. D e l t ü Kel: 2. Sf3t! Kfl 3. Tel 4=

w. Mojnhy.

H e m m u n g : Gleichzeitiger Angriff auf König und Dame (Abzugsangriff). 1. c3 Te4:!! 2. De4: Sg3ü 3. Dh7: Sde2=)=

Bouiserolle.

152

Dritter Teil.

Zwölftes Kapitel, worin es sich um den Besitz wichtiger Punkte handelt. Gebt mir den Angelpunkt, und ich -will die Erde aus ihrer Achse heben. Archimedes.

Hiermit hätten wir den Schachprozeß unter Zugrundelegung verschiedener Hemmungsarten durchgeführt, sowohl am König als an den anderen Figuren. Es waren die Punkte, um deren Besitz gekämpft wurde, somit zugleich immer Standfelder von Figuren. Nun wollen wir denselben auch an leeren Feldern (bloßen Zugfeldern) durchführen. Es ist ersichtlich, daß, da es sich hier auch nur wieder darum handeln kann, irgendein Zugfeld mit Majorität zu beherrschen, durch Bedrohung dieses Feldes mit einer überwiegenden Anzahl von Figuren oder durch Abhalten der feindlichen davon. Es gehören hierher vor allem alle Endspiele, wo es darauf ankommt, einen Bauer zur Dame zu führen oder von der Dame abzuhalten, und zwar insofern es sich um das Eingangsfeld in die Dame handelt. Maurlan.

Sch.

Morphy.

W.

B e s i t z n a h m e des Feldes a8 durch Weiß. Abdrängen des schwarzen Läufers von a8. 1. Tf5: Lf5: 2. a8 wird Dame.

Morphy.

Hammond.

B e s i t z n a h m e der ersten Reihe durch Schwarz. A b d r ä n g e n des Turmes von der ersten Reihe. 1. . . . Td7: 2. Td7: Tbl=j=

Schlußbetrachtung zum Schachprozeß.

Dreizehntes

153

Kapitel.

Schlußbetrachtung zum Schachprozeß. Nicht alles dienet uns auf gleiche Weise; Wer vieles brauchen will, gebrauche jedes In seiner Art, so ist er wohl bedient. G o e t h e , Torquato Tasso.

Von den Hemmungen geht alles Verderben aus. Nun liegt es klar und offen da. Nur die b e w e g u n g s l o s e F i g u r , die a l l s e i t i g g e h e m m t e , kann erobert werden; aber auch nur dann, wenn sie nicht genügend von den übrigen geschützt zu werden vermag, sie also s c h u t z l o s ist. Das setzt aber dann immer voraus, daß auch die anderen Figuren stark gehemmt sind. So ist kein Zweifel mehr möglich, alles Unheil entsteht im letzten Grunde durch die Hemmungen. Alles Heil geht dagegen allein von dem Z u s a m m e n w i r k e n , dem Z u s a m m e n s p i e l eurer Figuren aus. Nur dadurch wird es euch möglich, Figurenmajoritäten an dem einen oder anderen Punkte der feindlichen Stellung zu erlangen oder zu verhindern, daß der Gegner sie an einem Punkte eurer eigenen Stellung erreicht. Der g r o ß e e i n h e i t l i c h e S c h a c h p r o z e ß aber vermittelt ausnahmslos jeden Partiegewinn. Für den, der ihn voll begriffen hat, wird die Partieführung klar und leicht, er braucht keine Formeln mehr; das M a j o r i t ä t s g e s e t z zeigt ihm einen sicheren Weg zum Gewinn. Das Majoritätsgesetz klingt dem gewöhnlichen Hausmannsverstand gar leicht paradox, aber alle Gerechtigkeit im Schach fußt in der Tat darauf. Kein Angriff kann siegreich durchdringen, wenn er nicht mindestens eine Krafteinheit mehr einsetzen kann, als die Verteidigung. Den meisten Opfern, allen bedeutsamen Kombinationen liegt es bewußt oder unbewußt zugrunde. Bs durchbricht e l e m e n t a r die Schranken des QualitätsVerlustes und zerstört den Wahnglauben, diese könnten das Schicksal hemmen, das Verhängnis aufhalten. Vierzehntes

Kapitel.

Über das harmonische Spiel oder Zusammenspiel der Figuren. Wir wollen sein ein einig Volk von BrQdern, In keiner Not uns trennen und Gefahr. S c h i l l e r , Teil.

Da das harmonische Spiel die Seele aller Partieführung ist, das* immer angestrebte, selten oder nie erreichte Ideal des echten Schachkünstlers, so will ich noch einige Worte darüber sagen.

154

Dritter Teil.

Es hat zum Prinzip höchste Beweglichkeit aller Figuren und stete Rücksichtnahme dabei auf alle Figuren untereinander. Es verwirft daher jede einseitige Stellungsverbesserung auf Kosten anderer Figuren, die dadurch gehemmt werden. Es hat immer die knappste Bewegung jeder einzelnen Figur zur tiefen Grundlage, um so nötige Zeit zu sparen, alle möglichst schnell bewegen zu können. Steht eine Figur halbwegs gut und es befinden sich in der Stellung andere, die noch jeder Beweglichkeit entbehren, dann wird die eine ohne ganz zwingende Gründe nicht bewegt, solange die anderen noch nach Befreiung und Leben schmachten. Weil aber jede feindliche Figur, die sich unserer Stellung nähert, sofort einen großen Druck und Störungen in der Beweglichkeit einzelner Figuren hervorruft, so wird mit Argusaugen gewacht, daß keine ins Spiel eindringt, und wenn es doch nicht zu verllindern war, sofort unablässig in erster Linie an ihre schleunige Hinausschaffung gegangen, wie der Körper einen in die Haut gedrungenen Splitter sofort ausschwärt. Weil die feindlichen Figuren, sobald sie nur offene Schlagbahnen haben, auch von weitem die Beweglichkeit unseres Spiels äußerst beeinträchtigen und stören können, so wird jede Öffnung einer Linie oder eines Feldes für eine Figur des Gegners mit ängstlicher Sorgfalt vermieden und alles getan, ihn zu hindern, sich freie Zugstraßen für dieselben zu öffnen, dagegen mit aller Macht und größter Ausdauer daran gearbeitet (und oft unter Bringung schwerer Opfer), unseren Figuren Straßen ins Spiel des Gegners freizulegen. Und so ist gleichmäßige Beweglichkeit aller Figuren und freie Straßen für sie zum Wirken das stete Losungswort alles harmonischen Spiels. Und dieses unablässige, konsequente Ringen nach Befreiung macht das Spiel so stark, so lebenskräftig, daß selbst da, wo durch Überstürzungen und Versehen der Verlust droht, ein solches Spiel unerschöpflich an Hilfsquellen und Rettungsmitteln ist. Der Gewinn aber wird fast immer spielend leicht und meist glänzend, nicht mühselig und im Schweiße des Angesichts, wie bei dem harmonielosen Spiel, wo die ganze Spannkraft meist darauf gerichtet ist, dem Gegner einen Bauern abzulauern und dann unter zäher und kümmernisreicher Verteidigung ihn zur Geltung zu bringen. Von einem solchen Spieler kann man sagen: Bauernjäger, Gewinner träger. Wahrlich, es gibt kein schöneres, großartigeres Schauspiel für den begeisterten Schachfreund, als wenn in e i n e m gewaltigen

Über das harmonische Spiel oder Zusammenspiel der Figuren.

155

Akkord alle Figuren einer Partei zusammenwirken. Da ist kein Widerstand, keine Gegenwehr möglich für einen Gegner, dem diese Kunst der Spielführung fremd ist. Machtlos, hilflos bricht sein Spiel jäh zusammen vor dem wuchtigen, vereinten Ansturm aller feindlichen Figuren. Beispiellose Sicherheit, blendende Eleganz, höchste Energie und bewunderungswürdige Tiefe sind die stolzen Zeichen dieser grandiosen Spielführung, und ihre makellose Durchführung ist das Angebinde des höchsten Genies. Wollt ihr diese Spielführung euch aneignen, so studiert die Partien M o r p h y s durch, hier kommt sie zum höchsten, reinsten Ausdruck. Weidet euch an diesen Perlen der Schachspielkunst, widmet dem erhabenen Genius, der sie schuf, den vollen Zoll eurer Bewunderung und Liebe. Verzagt darum aber nicht an euch selbst. Wenn ihr euch auch nicht zu einer so eminenten Harmonie der Spielführung solltet je emporschwingen können, so wißt, daß, so ihr auch nur in einem mittleren Grade dieses Ziel erreicht, ihr als Gegner geachtet und gefürchtet sein und viele überraschende und schöne Siege feiern werdet. So stark, so unüberwindlich ist diese Spielweise, daß sie jeden, der ihr treu ergeben ist, wenn er sie nur einigermaßen zur Geltung zu bringen weiß, hoch emporhebt über den Troß gewöhnlicher Schachspieler und ihm reiche Lorbeeren auf den Weg streut. Also Mut, Ausdauer und Fleiß! Ein hohes Vorbild leuchtet voran und zeigt den einzig rechten Weg, um in der Schachspielkunst Großes, Gediegenes, Schönes, Dauerndes zu leisten. Man beachte in den folgenden Partien das überwältigende Zusammenspiel der von M o r p h y geführten Figuren. Morphy 1. e2—e4 e7—e5 2. Sgl—f3 Sb8—c6 3. Lfl—b5 a7—a6 4. Lb5—a4 b7—b5 ? Der Zug treibt den Läufer in eine bessere Stellung und leistet nichts. 5. La4—b3 Lf8—c5 ? Hier steht er exponiert. 6. c2—c3 d7—d6 7. d2—d4 Lc5—b6 ?

Mangelhafter Überblick! Nun ist ein Bauer verloren. 8. d4 xe5 Dd8—e7 9. Lb3—d5! Deckt und greift an! Lc8—b7 9 f7—f6 10. Lei—g5 Sg8xf6 11. e5 x f 6 12. 0—0 De7—d7 13. L g 5 x f 6 ! Ein guter Tausch. Der lästige Springer wird beseitigt, eine wichtige Linie geöffnet!

156

Dritter Teil.

13 g7 xf6 14. Sf3—d4 Lb6xd4 15. Ddl—h5t! Ke8—d8 16. c3xd4 Kd8—c8 17. Tfl—cl! Daß ihm der Spruch nicht einfiel: „Ich fürchte die Danaer, und mehr noch, wenn sie schenken." ! 17 Sc6xd4 Wehe, nun haben sie in den Apfel gebissen, nun gehören sie der Unterwelt an! 18. L d 5 x b 7 t Kc8xb7 19. Dh5—d5f Sd4—c6 Die tödliche Fesselung! 20. a2—a4 Kb7—b6 21. a4—a5 Kb6—b7 22. Tal—a3; aufgegeben. Der Springer geht verloren. A. de R i v i ö r e Morphy 1. e2—e4 e7—e5 2. Sgl—f3 Sb8—c6 3. Lfl—c4 Sg8—f6 4. Sf3—g5 d7—d5 5. e4 x d 5 Sc6—a5 6. d2—d3 h7—h6 7. Sg5—f3 e5—e4 8. Ddl—e2 Sa5xc4 9. d3xc4 Lf8—c5 10. h2—h3 0—0 11. Sf3—h2 Sf6—h7 12. Sbl—d2 ? Noch so unentwickelt und doch so wenig sparsam mit der Zeit! Das endet schlecht. 12 f7—f5 13. Sd2—b3 Lc5—d6 14. 0—0 Ld6xh2t! 15. Kgl x h2 f5—f4! Das Danaergeschenk! So oder

so, die Entwickelung ist mißlungen, die Partie verloren. 16. De2xe4 Sh7—g5 17. De4—d4 Jetzt eine Bresche geöffnet, ein schneller Ansturm und der Tag ist unser! 17 Sg5—f3f!! 18. g2 x f 3 Dd8—h4 19. Tfl—hl Lc8xh3 20. Lei—d2 Tf8—f6 und gewinnt. Morphy N. M a r a c h e 1. e2—e4 e7—e5 2. Sgl—f3 Sb8—c6 3. Lfl—c4 Lf8—c5 4. b2—b4 Lc5 x b4 5. c2—c3 Lb4—a5 e5 xd4 6. d2—d4 7. e4—e5 ? Schwach, gibt dem Gegner Spielraum, öffnet ihm d5! 7 d7—d5 8. e5 xd6 Dd8xd6 9. 0—0 Sg8—e7 10. Sf3—g5 ? Zeitverlust, treibtnurdenGegner in sichere Stellung u. leistet nichts! 10 0—0 11. Lc4—d3 ? Verlorene Zeit bringt Leid, auch der Zug leistet nichts. 11 Lc8—f5!! Gesundheit ist besser denn Reichtum, Turm fahre hin! 12. L d 3 x f 5 Se7xf5 Dd6—g6 13. Lei—a3 Dg6xg5 14. L a 3 x f 8 d4xc3 15. Lf8—a3[ s Dg5—g6 16. La3—eil 17. Lei—f4j

Über die Aufbesserung kranker Stellungen.

0 die schöne Zeit, sie kehrt nicht wieder! 17 Ta8—d8 18. Ddl—c2 Immer noch dasselbe wahnsinnige Treiben! Aber hier ist jeder R a t schlecht. 18 Sc6—d4 19. Dc2—e4 Nun blitzt und donnert es gewaltig, Gott behüte! 19 Sf5—g3! 20. D e 4 x g 6 Sd4—e2z(=

Morphy

Herzog Karl v. Braunschweig, Graf Isouard

1. e2—e4 e7—e5 2. Sgl—f3 d7—d6 3. d2—d4 Lc8—g4 ? Führt zu einem schlechten Tausch, entwickelt den Gegner. 4. d4 x e5! Lg4xf3 5. Ddl x f3 d6xe5 6. Lfl—c4 Sg8—f6 ? Übersieht ganz die mögliche Doppeldrohung. 7. Df3—b3 Dd8—e7 Der Not gehorchend! Verstellt

Fünfzehntes

157

den Läufer, lähmt die Entwicklung und verschlechtert die Stellung gewaltig. 8. Sbl—c3 c7—c6 9. Lei—g5 b7—b5 ? Die offenen Linien, das ist der Tod in beengten unentwickelten Stellungen! 10. S c 3 x b 5 ! c6xb5 11. L c 4 x b 5 t Sb8—d7 12. 0—0—0! Nun zum Sturm geblasen! Koste es was es wolle. Die Besatzung ist fast kampfunfähig, der Sieg sicher. 12 Ta8—d8 13. Tdl x d7 Td8xd7 14. T h l — d l De7—e6 Sf6xd7 15. L b 5 x d 7 t Sd7xb8 16. Db3—b8f! 17. Tdl—d8=j= M o r p h y scher Stil! Ein Sturmwind, der über die Erde braust, alles niederwirft und auch Eichen entwurzelt! Das berühmte M o r p h y - B u c h enthält alle bekannt gewordenen Partien (Verlag: Veit & Comp., Leipzig).

Kapitel.

Über die Aufbesserung kranker Stellungen. Für jedes Übel, wie groß es sei, Gibt es zu jeder Zeit Arznei; Nur wollen die meisten sich siebt bequemen, Was ibnen zur Heilung dient, zu nehmen.

Immer tausendmal besser, sich seine Stellung von Anfang an gesund und gut erhalten, als an einer verpatzten herumkurieren. Ist die Stellung schon sehr schlecht, so können nur heroische Mittel noch helfen: Opfer, scharfe Gegenangriffe oder ein glück-

1,58

Dritter Teil.

lieh erreichtes Patt. Glück zu wünschen ist dem, der seine kranke Stellung als solche zeitlich erkennt und nach Hilfe ausschaut. „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung." Es gibt so viele mit todkranken Stellungen, welche sie für kerngesund und lebensfähig halten; denen ist nicht zu raten, noch zu helfen. Wir wissen, daß jede Stellung krank ist, wenn viele und schwere Hemmungen in ihr vorkommen, einzelne Figuren gar keine oder nur eine kümmerliche Beweglichkeit haben, ein Zusammenspiel aller daher ganz unmöglich ist. Dringt dann der Gegner mit einer großen Anzahl Figuren auf einen Punkt unserer Stellung ein, so ist es nicht möglich, die Figuren schnell genug zur Verteidigung heranzuholen, da ihre Beweglichkeit ganz oder teilweise durch Hemmungen unterdrückt ist und sie nicht mit Leichtigkeit nach verschiedenen Punkten des Brettes dirigiert werden können. Es tritt dann die Krisis ein. Gelingt es doch noch, eine ebenso große Anzahl, als der Gegner zum Angriff führt, heranzulenken oder den Anmarsch einer feindlichen Angriffsfigur noch aufzuhalten, so ist Rettung möglich, im anderen Falle vollzieht sich der Schachprozeß an dem bedrohten Punkte und er fällt. Jeder Aufbesserungsversuch kann daher nur zwei Tendenzen haben, einma.1 die Hemmungen der eigenen Figuren schleunigst zu beseitigen und das gestörte Zusammenspiel derselben um jeden Preis wieder herzustellen, also Befreiung der eigenen Figuren. Zweitens das Zusammenspiel der feindlichen Figuren um jeden Preis zu hindern oder zu stören, also Hemmung der feindlichen Figuren. Zusammenspiel der eigenen Figuren nach dem bedrohten Punkte hin, Abdrängen und Abhalten der feindlichen davon. Eine Verbesserung unserer schlechten Stellung, eine Rettung der Partie ist nur möglich, wenn es gelingt, diese Hemmungen aus dem Spiele noch rechtzeitig zu entfernen, ehe die Katastrophe hereinbricht, d. h. ehe die feindlichen Figuren in übermächtiger Anzahl einen schwachen Punkt der Stellung angreifen und erobern können. Gewöhnlich ist in solchen Fällen keine Zeit mehr zu größeren Befreiungsmanövern, die Hilfe muß schnell gebracht Werden und das Andringen der feindlichen Figuren zugleich wenigstens für den Augenblick aufgehalten werden. -

Über die Aufbesserung kranker Stellungen.

Nur außergewöhnlich kräftige Maßnahmen können dann das Schicksal noch wenden. Es sind die Treibzüge, die im günstigsten Falle in so prekären Lagen noch eine Handhabe zur Rettung bieten, die also die eigenen Figuren schnell zu befreien und zugleich die feindlichen in ihrem Ansturm aufzuhalten vermögen. 1) das Opfer, 2) der Gegenangriff, 3) der Abtausch. Durch das O p f e r wird der Gegner gezwungen, indem er den gebotenen Stein schlägt, seinen Angriff zu unterbrechen, eine momentane Pause darin eintreten zu lassen. Die eigenen Figuren erhalten aber Luft und Spielraum, so daß sie noch rechtzeitig zur Verteidigung herangezogen werden können. Das O p f e r ist daher das stärkste, wirksamste Mittel in verzweifelten Lagen, an einem übermäßig bedrohten Punkt noch Hilfe zu bringen: die feindlichen Figuren werden dadurch gehemmt, die eigenen befreit. Wir sehen geniale Spieler immer in gefährlicher Stellung lieber die besten Figuren, ja selbst die Dame ruhig hingeben, um nur so rasch wie möglich das gehemmte Zusammenspiel ihrer Figuren wieder herzustellen und so ihr Spiel wieder verteidigungsfähig zu machen und hoffnungslose Partien noch zu retten. Während der Stümper sich nicht dazu aufzuraffen vermag, aus eigenem Antrieb, freiwillig auch nur das geringste Bäuerlein hinzugeben, um seinen Figuren Zugänge zu den bedrohten Punkten zu verschaffen oder die feindlichen davon abzuhalten. Diese Kurzsichtigkeit wurzelt in einer Überschätzung des materiellen Übergewichts. Gewiß, in vielen Fällen genügt selbst der Mehrbesitz eines Bauern schon zum Gewinn, aber in hundert und tausend Fällen gewinnt der Spieler, der, wenn auch um eine oder mehrere Figuren schwächer, alle seine Figuren zu einem kräftigen Zusammenspiel zu bringen vermag. Während der Gegner von seinem materiellen Übergewicht, wenn seine Figuren sich gegenseitig im Wege stehen, keinen Nutzen hat. Nie kommt es vor, daß ein Spieler, bei schlechter Stellung, ohne Zusammenwirken seiner Figuren den Sieg zu erringen vermag. Alle Chancen liegen also immer auf Seiten desjenigen Spielers, der das Zusammenspiel seiner Figuren um jeden Preis hochhält. Er kann einem materiell stark überlegenen Gegner noch den Sieg entreißen oder die Partie wenigstens zum Remis führen, und die täglichen Erfahrungen, die

160

Dritter Teil.

überraschenden Ausgänge von Turnier- und Matchpartien, wovon der Telegraph die erstaunte Schachwelt in Kenntnis setzt, beweisen es immer aufs neue, daß das p o s i t i o n e i l e Übergewicht, das harmonische Zusammenwirken aller Figuren weit wichtiger ist, als das m a t e r i e l l e . Auch durch den G e g e n a n g r i f f kann eine schwer bedrohte Stellung noch gerettet werden, indem die feindlichen Figuren zum Schutze des eigenen Spieles von dem Angriffe abstehen oder wenigstens zum Teil ihn aufgeben müssen, wodurch der Druck derselben auf unser Spiel vermindert wird und wir Zeit und Mittel finden, die bedrohten Punkte genügend zu schützen. „Gegenangriff ist die beste Verteidigung." (Anderssen.) Als drittes Mittel kommt noch der A b t a u s c h in Betracht, doch setzt dies immer eine nicht ganz schlechte Stellung voraus. In ganz schweren Fällen kommt die bedrängte Partei selten mehr dazu, davon Gebrauch zu machen. Dadurch, daß man die eine oder andere feindliche Figur tauscht, wird das feindliche Zusammenspiel der übrigen abgeschwächt und so dem Angriff viel von seiner Stärke genommen. Alle drei Methoden basieren auf einer schnellen Herstellung des Zusammenspiels der eigenen Figuren und auf einer Unterbrechung des feindlichen, und nur, wenn sie dies im einzelnen Falle leisten, können sie noch Hilfe bringen, sonst ist die Partei rettungslos verloren.

Morph7.

Anderssen.

1 Tg2: 2. Tg2: Tc6 und droht nach g6 zu gehen und den gefesselten Turm nochmals anzugreifen; es ist dann keine Hilfe mehr möglich, da die schwarzen Figuren in Überzahl ins weiße Spiel eindringen. Weiß kann aber durch ein Bauerno p f e r den Anmarsch des Turmes aufhalten und sich so retten. 3. e6 Te6: 4. Tc5: und gewinnt.

Ü b e r die A u f b e s s e r u n g k r a n k e r S t e l l u n g e n . ADderssen.

Seh.

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1. Se7t 2. Dc8t 3. Df8 + 4. Th8^=

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Te7 Sf8 Kf8

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Göring.

Hier konnte Schwarz sein Spiel noch retten, wenn er den Turm auf e7 nach dem Damenschach auf c8 o p f e r t e (auf e8), so dem König das Zugfeld e7 zur Flucht öffnete und ihn aus der Verstellung seiner eigenen Figuren, an der er zugrunde ging, befreite. Bilguer, Endspiele.

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1. Tfl b2 2. T g l f Kh6 3. Kf6 und droht nun durch stete Opposition des Königs matt, da Schwarz das Feld h2 mit seinem König nicht betreten darf wegen Turm b l , wo dann durch Zugzwang und Mattdrohung die beiden Bauern verloren gehen.

w.

Hier kann, wie ich seinerzeit gefunden habe, Weiß noch seine Rettung durch G e g e n a n g r i f f bewerkstelligen, indem er Turm und König auf den schutzlosen König zusammenspielte. G u t m a j - e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

11

162 Stamma.

Dritter Teil. Sch.

W.

Stamma.

Weiß steht hoffnungslos, das Matt auf g2 oder h l ist nicht zu decken. Durch einen Gegena n g r i f f aber kann er sich retten, indem er durch Damenopfer schleunigst die b-Straße seinem Turm freimacht und durch Zusammenspiel von Springer, Läufer und Turm den schutzlosen schwarzen König matt setzt. 1. Da6t Sa6: 2. Lb7f: K beliebig 3. S4=

Sch.

Weiß steht trostlos, nur ein G e g e n a n g r i f f rettet. Durch schwere Opfer wird schleunigst die Zugstraße für den Turm freigelegt, der mit dem Springer nun im Zusammenspiel den schwarzen König matt setzt. 1. Ta5f Ka5: 2. Dc5: de: 3. Sc4f K beliebig 4. T4= W. Verzagtheit und Mutlosigkeit in schlechten Stellungen kommt selbst bei den starken Spielern häufig vor. Aber wir haben immer noch die Chance, wenn unsere Stellung wirklich eine verlorene sein sollte, daß der Gegner die stärksten Züge verfehlt und uns Gelegenheit und Zeit gibt, unsere Stellung zu verbessern. Also den Kopf immer oben behalten und mit Besonnenheit und Ausdauer alle Rettungsmöglichkeiten ins Auge gefaßt. So manche verlorene Partie wurde so noch gerettet.

Die G u t e r h a l t u n g unseres Spieles.

Sechzehntes

163

Kapitel.

Die Guterhaltung unseres Spieles. Der kann nicht klagen über harten Spruch, Den man zum Meister seines Schicksals macht. S c h i l l e r , Wilhelm Teil.

Wir loben gern den findigen Spieler, der sich durch Besonnenheit und Kühnheit noch im letzten Augenblick aus der Patsche zieht und dem schon triumphierenden Gegner ein Schnippchen schlägt, aber unsere Bewunderung, unsere Begeisterung gehören dem, der es versteht, sein Spiel so zu leiten, daß er in so verzweifelte Lagen gar nicht hineinkommen kann. Und das ist nicht nur möglich, nein, das ist bei einer fehlerfreien, musterhaften Spielführung so gewiß, wie zweimal zwei vier sind. Denn alle schlechten Stellungen entstehen nur durch fortgesetzte Versündigungen gegen den Geist des Spieles, durch eine größere oder geringere Anzahl von Befreiungs- und Hemmungsfehlern resp. Schutzfehlern. Die Grundsätze für ein solches korrektes Spiel, das zu einem schnellen und starken Zusammenspiel aller Figuren führt und den Spieler, der ihm treu bleibt, unbesiegbar macht, habe ich bereits entwickelt; hier möchte ich nur noch die höchsten Prinzipien einer gesunden Partieführung kurz andeuten. Die Guterhaltung des Spiels hängt in erster Linie ab von der s t e t i g e n , k o n s e q u e n t e n D u r c h f ü h r u n g des a l l g e m e i n e n M o t i v s : der Verbesserung der Stellung bei jedem Zuge. Nur wenn mit Beharrlichkeit und Besonnenheit bei allen episodischen Vorkommnissen das allgemeine Motiv: die P o s i t i o n s v e r b e s s e r u n g als Hauptnorm, als Kompaß durch alle Stürme der Partieführung hochgehalten wird, kann dieses vielleicht durchaus erreicht werden. Die Gesunderhaltung der Stellung wird ihr Augenmerk auf folgende Grundsätze zu richten haben: 1) K n a p p s t e B e w e g u n g j e d e r e i n z e l n e n F i g u r , S p a r s a m k e i t in allen F i g u r e n m a n i p u l a t i o n e n . Alle noch- so geistreichen Kombinationen, noch so hübschen Ideen, wenn sie die Stellung nicht verbessern, müssen unterbleiben, sind zu verwerfen. Kein freies Spiel der zügellosen Phantasie! Jede Idee, jede Kombination muß zuletzt der Verbesserung der Stellung dienen. 11*

164

Dritter Teil.

Ebenso sind alle langatmigen Bewegungen mit einer Figur, unter denen das Zusammenspiel aller leidet, zu unterlassen. Unnütze eitle Bauernzüge, wozu Stümper besondere Hinneigung zeigen, sind auch ganz verwerflich. Nur die zwei Mittelbauern sollen gezogen werden. Alle anderen nur der Not gegehorchend. 2) H i n a u s w e r f e n aller f e i n d l i c h e n F i g u r e n aus u n s e r e m Spiel. Eine feindliche Figur im eigenen Spiel ist wie ein Splitter im Fleisch. Sie ruft immer mannigfache Hemmungen hervor. Sie ist eine stete drohende Gefahr, muß also in erster Linie fortgeschafft, vertrieben, getauscht, geschlagen werden. 3) G u t e P l a c i e r u n g u n s e r e r F i g u r e n . Die eigenen Figuren dürfen sich nicht gegenseitig auf den Z u g b a h n e n s t e h e n , damit sie jeden Augenblick disponibel sind. Sie dürfen niemals Plätze beziehen, wo sie e x p o n i e r t , f e i n d lichen A n g r i f f e n ausgesetzt sind. Sie sind sonst stets in Gefahr, durch Doppel- oder Abzugsangriffe verloren zu gehen. Außerdem können sie jeden Augenblick verjagt und zu nutzlosen Zügen, die dem Gesamtspiel verloren gehen, gezwungen werden. Die kostbare Zeit geht so verloren. 4) Ö f f n u n g u n d F r e i h a l t u n g von Z u g s t r a ß e n für die Figuren. Da dies Verkehrswege sind, Zugstraßen, wo sie zum Angriff anstürmen müssen oder zur Verteidigung herbeieilen, so ist dies nicht genug ans Herz zu legen. Immer sind Zugstraßen freizulegen, Linien zu öffnen, damit die Figuren leicht nach jedem Punkte dirigiert werden können. 5) V e r s p e r r u n g der S c h l a g b a h n e n der f e i n d l i c h e n F i g u r e n , die in unser Spiel hereingähnen. Es darf um keinen Preis ruhig geduldet werden, daß eine feindliche Figur eine Straße, die tief in unsere Stellung führt, beherrscht, denn auf derselben wird der Gegner früher oder später seine Figuren zum Angriff anstürmen lassen. Hütet euch aber vor allem, dem Gegner selbst Zugstraßen zu öffnen, wie Stümper so gern tun, seine Figuren freizumachen, dusch unüberlegte Figurenbewegungen ihm Felder und Linien gangbar zu machen, durch frivole unmotivierte Abtausche ihm Spielraum für seine Figuren zu geben. 6) V e r s c h l e c h t e r u n g der f e i n d l i c h e n S t e l l u n g ist eine indirekte Verbesserung der eigenen. Jedes Motiv, das sich aus den feindlichen Zügen' ergibt, um irgendeine gegnerische Figur

165

Die Guterhaltung unseres Spieles.

zurückzuwerfen, nach dem Rande oder auf die anderen Figuren, muß mit scharfem Auge erspäht werden. Nächst der Parade feindlicher Drohungen ist dies das vorzüglichste episodische Motiv, das bei jedem gegnerischen Zuge im Auge zu halten ist. Dies wären die leitenden Grundsätze einer gesunden Spielführung. Wer sie immer als heilig achtet, wird stets ein starkes Zusammenspiel seiner Figuren schnell fertig bringen, das ihm siegreiche Angriffe oder erfolgreiche Verteidigungen ermöglicht. In seiner Stellung werden sich dann nie Hemmungen in einer so großen Anzahl ansetzen oder in so schwerer, böser Art auftreten können, daß dieselbe krank wird. Und ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, bei dieser Spielführung ist überhaupt kein Verlust der Partie möglich. Wie ein gesunder Mensch nicht sterben kann, es sei denn aus Altersschwäche, Unglücksfälle von außen her ausgenommen, so kann eine gesunde Stellung nicht zertrümmert werden. Darum gibt auch eine solche Spielführung ein außerordentliches Gefühl der Sicherheit und eine Ruhe, die keine Überraschungen fürchtet, weil sie in der gesunden Kraft der Stellung und dem hohen Zusammenspiel aller Figuren immer überreichliche Mittel schöpfen kann, jeden feindlichen Angriff siegreich abzuschlagen. Ich gebe noch einige kurze Partien M o r p h y s zur Belehrung und Erquickung. 1. Morphy A. B. Meek 1. e2—et e7—e6 2. d2—d4 c7—c5 Schlecht, der wichtige Befreiungszug 2. d5 ist nun verscherzt. 3. d4—d5! e6—e5 Planlos, zeitvergeudend! 4. f2—£4 d7—d6 5. Sgl—f3 Lc8—g4 6. f4 x e 5 Lg4xf3 Falscher Tausch, entwickelt die weißen Figuren. 7. Ddl x f 3 d6 x e 5 8. L f l — b 5 f Sb8—d7 9. Sbl—c3 Sg8—f6 10. Lei—g5 Lf8—e7

Die schwarze Stellung ist beengt und kritisch, eine offene Linie und sie ist verloren! 11. d5—d6!! Le7xd6 Aufgegeben. 12. 0—0—0 2.

Morphy

Laroche

1. e2—e4 e7—e5 2. Sgl—f3 Sb8—c6 3. Lfl—c4 Lf8—c5 4. b2—b4 Lc5xb4 5. c2—c3 Lb4—a5 6. d2—d4 Sg8—f6 ? Schlecht, exponiert den Springer. 7. d4 x e 5 Sf6—g4 8. Lei—g5 f7—f6

166

Dritter Teil.

Volle Deroute, nun stehen die Tore offen. 9. e5 xf6 Sg4xf6 9. gf: war wenigstens Gegenangriff! Nun stürmt Weiß die Stellung. 10. e4—e5 h7—h6 11. e5 xf6 h6 xg5 12. f6 xg7 Dd8—e71 13. Ddl—e2!! Aufgegeben. 3. J. B u d z i n s k y Morphy 1. e2—e4 e7—e5 2. f2—f4 e5 x f 4 3. Lfl—c4 d7—d5 Durch 3 Dh4t 4. Kfl, f5 5. Sc3, fe4 6. Se4:, c6 7. De2, Kd8 usw. wird eine interessante Verwicklung herbeigeführt. 4. Lc4xd5 Sg8—f6 5. Sbl—c3 Lf8—b4 6. d2—d31 Führt zu einem schlechten Tausch. Nun erhalten die schwarzen Figuren mächtigen Spielraum. Besser wäre 6. Df3 oder 6. Sf3. 6 Sf6xd5 7. e4 xdö 0—0 8. Ddl—f3 Tf8—e8t 9. Sgl—e2 Eine gefährliche Fesselung bei so primitiver Stellung. 9 Lb4xc3t So früh schon ein Eroberungsangriff ! 10. b 2 x c 3 Dd8—h4t 11. g2—g3 Lc8—g4 12. Df3—f2 Dh4—e7! und gewinnt.

4. J. W. S c h u l t e n Morphy 1. e2—e4 e7—e5 2. f2—f4 e5 x f4 3. Lfl—c4 Sg8—f6 4. Sbl—c3 Lf8—b4 5. e4—e5 d7—d5 6. e5 xf6 d5xc4 7. f6 xg7 Th8—g8 8. Ddl—e2t Lc8—e6 9. a2—a3? .... Schlechter Angriff, der Läufer stand auf b4 mittelmäßig! 9 Lb4—c5 10. Sgl—f3 Sb8—c6 11. Sc3—e4 Sc6—d4! Ein sehr guter Tausch, der das Feld h4 öffnet. 12. Sf3xd4 Lc5xd4 13. c2—c3 .... Wieder unnütz! Wieder Zeitverlust ! 13 Dd8—h4t 14. Kel—fl Auf Kdl spielt Schwarz zunächst 14 0—0—0. 14 Ld4—b6 15. d2—d4 ? öffnet dem Feinde die Tore! 15 c4xd3 16. De2xd3 Ta8—d8 17. Dd3—e2 Td8—dltü Aufgegeben. 5.

Morphy J. J o u r n o u d 1. e2—e4 c7—c5 2. d2—d4 c5xd4 3. Sgl—f3 e7—e5 Habgier! 3. e6 paßt besser zu 1. c5.

Die Guterhaltung unseres Spieles.

4. Lfl—c4 Lf8—e7 5. c2—c3 d7—d6 6. Ddl—b3 d4xc3 Offene Linie bei beengter Stellung, das führt zu schneller Deroute ! 7. L c 4 x f 7 | Ke8—f8 8. Sbl x c3 Sb8—c6 9. L f 7 x g 8 Th8xg8 10. 0—0 Dd8—e8 11. Sf3—g5 Le7xg5 12. L c l x g ö Lc8—e6 13. Sc3—d5 h7—h6 14. f 2—f4 ! Noch eine offene Linie! Der Todesstoß! Auf hg: folgt 15. fgt und 16. g6! 14 De8—d7 15. f4xe5t Kf8—e8 16. Sd5—c7t Dd7xc7 17. D b 3 x e 6 t Aufgegeben. 6.

Morphy Lord L y t t l e t o n 1. e2—e4 e7—e5 2. f2—f4 eöxfi 3. Sgl—f3 g7—g5 4. h2—h4 g5—g4 5. Sf3—e5 d7—d6 6. S e 5 x g 4 Lf8—e7 7. d2—d4 Le7xh4t 8. Sg4—f2 Lh4xf2t? Schlechter Tausch, entwickelt — den Feind! 9. K e l x f 2 Sg8—f6 10. Sbl—c3 Dd8—e7 11. Lei x f4 Sf6xe4f? Die offene Linie, die offene Linie! Das ist der Tod! 12. S c 3 x e 4 De7xe4 13. L f l — b ö t ! Nun ein gewaltiger Ansturm

167

aller Figuren und der Feind liegt im Staub! 13 Ke8—f8 14. Lf4—h6f Kf8—g8 15. Thl—h5 Lc8—f5 16. Ddl—d2 Lf5—g6 17. Tal—el Aufgegeben. Morphy H. H a m p t o n 1. e2-—e4 e7—e5 2. Sgl—f3 Sb8—c6 3. Lfl—c4 Lf8—c5 4. b2—b4 Lc5xb4 5. c2—c3 Lb4—c5 6. 0—0 d7—d6 7. d2—d4 e5 x d 4 8. c 3 x d 4 Lc5—b6 9. Sbl—c3 Sg8—f6 ? Exponiert den Springer! 10. e4—e5 d6 x e5 Unglückselige Folge! Die offenen Linien! Wehe! Wehe! 11. Lei—a3 Lc8—g4 12. Ddl—b3 Lg4—h5 Deckt zwar, aber bessert nichts, ist zu passiv! Die Krankheit ist aber schon unheilbar. 13. d4 x e 5 Sf6—g4 14. T a l — d l Dd8—c8 15. e5—e6 f7—f6 Der Feind hat alle Tore schon besetzt, unnützer Widerstand! 16. Db3—b5 Lh5—g6 17. Lc4—d5 und gewinnt. 8.

Th. L i c h t e n h e i n 1. e2—e4 2. Sgl—f3 3. d2—d4 4. Lfl—c4

Morphy e7—e5 Sb8—c6 e5 x d 4 Sg8—f6

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Dritter Teil.

5. e4—e5 d7—d5 6. Lc4—b5 Sf6—e4 7. Sf3xd4 Lc8—d7 8. Sd4 x c6 b7xc6 9. Lb5—d3 Lf8—c5 10. Ld3xe4 Dd8—hi! Keine Gelegenheit verpaßt zur schleunigen Entwicklung! 11. Ddl—e2 d5 xe4 12. Lei—e3 ? Wäre gut, wenn der f-Bauer nicht gefesselt wäre! Jetzt ist die Dame gebunden und kann sich in der Stellung nicht behaupten, das führt zur Katastrophe !

12 Ld7—g4 13. De2—c4 Lc5xe3 14. g2—g3 Die Figur wird zurückerobert, aber die vielen offenen Breschen! Ein Ansturm, und alles ist aus! 14 Dh4—d8 15. f2 xe3 Dd8—dlt 16. Kel—f2 Ddl—f3f 17. Kf2—gl Bei 17. Kel, D e 3 ^ 18. Kfl, Lh34=. 17 Lg4—h3 18. Dc4xc6f Ke8—f8 19. Dc6xa8f Kf8—e7 Aufgegeben.

Siebzehntes Kapitel. Die Partie und ihre Hauptphasen. Gehorcht der Zeit und dem Gesetz der Stunde! S c h i l l e r , Maria Stuart.

Millionen von Partien sind schon gespielt worden, Millionen werden noch gespielt werden. Immer dasselbe Schauspiel, die gleiche Tragödie oder Komödie und doch ewig jung und neu. Man hat immer noch nicht ausgelernt, wird es wohl auch nie. Das Genie durchschaut das Wesen dieses ewig sich erneuernden Kampfes und stellt es in klaren Bildern dar. Der Grübler quält sich vergebens, es auf Formeln zu bringen und mathematisch zu fixieren. Der Stümper aber steht ratlos und verzweifelnd vor dieser Fülle von Phänomenen, die er nicht durchdringen, nicht beherrschen kann. Ist doch die Schachpartie ein steter Kampf wie das Leben, ein ewiges Ringen mit den eigenen Schwächen und gegen feindliche Gewalten. Wer nun großsinnig die Partie als einheitliches Schauspiel auffaßt, wo jede Phase einem Akt gleicht und alle dem glücklichen oder verderblichen Schlüsse zudrängen, wo jeder Zug einen Schritt zum Verderben oder eine Staffel zum Sieg bedeutet, der wird mit sicherer Hand durch alle Stürme und Strudel des Partiekampfes seine Figuren zum Siege oder Remis führen.

Die Partie und ihre Hauptphasen.

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Sein Spiel wird Festigkeit und Folgerichtigkeit haben. Den zwei großen Gesetzen, womit die Natur ihre besten Werke vollbringt: S t e t i g k e i t im Streben, S p a r s a m k e i t in den Mitteln, unterwirft er auch sich! Den Blick hat er beharrlich auf das Ziel gerichtet: seinem Spiele höchste Kraft, größte Vollkommenheit zu geben. Unter den vielen möglichen Kombinationen wählt er nur die, welche dieses Ziel fördern. Wer aber nur der Not des Augenblicks gehorcht bei seinen Zügen, dessen Spiel ist immer ohne tieferen Zusammenhang, ohne Halt und bricht bei den leichtesten Anlässen schnell zusammen. Jede Partie ist ein einheitliches Ganzes. Sie beginnt mit einer schlechten Stellung, die voller Hemmungen, allerdings der leichteren Arten (Rand- und Verstellhemmungen) ist; sie müssen vor allem gehoben werden. Diese Bestrebung nennt man die E r öffnung. Sind die Figuren von den Rand- und Verstellhemmungen befreit, so beginnt das M i t t e l s p i e l , d. h. die Bemühungen mit denselben erfolgreich in das feindliche Spiel einzudringen. Es ist klar, daß hier alles auf eine gute Eröffnung ankommt, darauf daß die Figuren alle schnell und leicht zusammenwirken können und womöglich in höherem Grad als die gegnerischen und in größerer Anzahl. Denn nur so können Aussichten sein, in das feindliche Spiel zu dringen, da dann die Widerstandskraft geringer ist als die Angriffsstärke. Nun gilt es durch Ablenkung, Beeinflussung der feindlichen Figuren sich Zugänge in das feindliche Spiel zu schaffen. Die Figuren werden demselben möglichst nahe gerückt. Der entscheidende Moment tritt aber immer erst ein, wenn es gelingt, eine Zugstraße tief in die feindliche Stellung zu öffnen, wo die Figuren hineinstürmen können. Gelingt dies, so sind schwere Hemmungen die Folge. Sind dann alle Figuren verfügbar, so daß sie auf die geschaffenen schwachen Punkte mit Übermacht angelenkt werden können, so ist die Krise da, die Katastrophe unvermeidlich. Zur Öffnung solcher Zugstraßen ist es meist nötig, schwere Opfer zu bringen. Leichte Offiziere, ja Turm und Dame werden oft hingegeben, um einen Weg zu bahnen in die feindliche Königsstellung. Man richtet hauptsächlich den Angriff auf den König und die Bauern, weil es die bewegungslahmsten Figuren sind, die durch Flucht sich nicht leicht einem Angriffe entziehen und am leichtesten auf ihren Plätzen festgehalten werden können, bis es gelingt,

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Dritter Teil.

die anderen Figuren in Uberzahl auf sie hinzulenken, womit ihre Eroberung eintritt. Hat der Gegner seine Figuren ebenfalls zu einem gesunden Zusammenspiel gebracht, so gelingt dies nicht. Er setzt den Angriffsfiguren eine gleiche Zahl Verteidigungsfiguren entgegen und die Punkte werden uneinnehmbar. In dem dabei stattfindenden nahen Zusammentreffen der Figuren beider Spieler werden durch Tausch immer mehr vom Brett entfernt, die Stellungen lichten sich und es ist mit den verbleibenden Figuren kein erfolgreicher Angriff mehr möglich. Ihre Zahl ist bereits zu schwach und die gegnerischen haben schon zuviel Spielraum, um eine Überrumpelung eines Punktes noch möglich zu machen. Aber eine Chance ist noch übrig: jeder Bauer kann sich in eine Dame verwandeln, sobald er auf die achte (oder erste) Reihe gelangt ist. Gelingt dies, dann ist die Mithilfe einer neuen mächtigen Figur gewonnen, dann ist das Zusammenspiel unserer Figuren wieder stark und dem Gegner weit überlegen, dann können wir wieder mit Aussicht auf sicheren Erfolg den einen oder anderen Punkt attackieren. Eine Figurenmajorität ist uns sicher. Jetzt fängt das E n d s p i e l an. Nun beginnt ein eifriges Streben, einen Bauer, der besonders weit vorgerückt schon ist, oder dessen Zugbahn frei ist, in die Dame zu führen. Es ist oft eine Art Wettrennen der Bauern; wer zuerst hineinkommt, gewinnt. Der Gegner setzt aber auch alle Kräfte ein, um den Anmarsch der Bauern zur Dame zu verhindern. Er belagert mit allen Figuren seine Zugstraße und macht alle Anstrengungen, ihn von der letzten Reihe noch abzuhalten. Nun nähert sich das Ende der Partie; ihr Schicksal entscheidet sich, je nachdem der Bauer doch durchdringt oder es dem Feind gelingt, ihn abzuhalten. Sie bleibt meist unentschieden im letzteren Falle, im ersteren wird sie gewonnen. Oft aber wird auch zuerst auf schwachstehende Bauern Jagd gemacht und ihre Eroberung versucht, was bei ihrem Bewegungsmangel und dem der hauptsächlichsten Schutzfigur, des Königs, der nicht immer rechtzeitig an Ort und Stelle sein kann, oft gelingt. So rächen sich Versündigungen im Anfang der Partie, wo man einen Bauern rückständig oder vereinzelt gemacht hat, erst spät am Schluß, oder die Fehler in der Eröffnung, die zu einem unvollkommenen Zusammenspie] der Figuren geführt haben, geben dem Gegner Gelegenheit zu einem glänzenden Angriff im Mittelspiel. Mit seinen besser entwickelten Figuren dringt er in überlegener Anzahl auf einen Punkt ein, während unsere Figuren noch teils bewegungslos stehen. Wir

Von den Eröffnungen überhaupt.

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können ihm nicht die gleiche Anzahl gegenüberstellen; er erobert ihn und gewinnt damit die Partie. So hängen alle Partiephasen innig zusammen und die gutgeführte Eröffnung trägt ihren Lohn im Mittelspiel und Endspiel. Für uns gibt es daher eigentlich keine abgetrennten Partiephasen mehr, sondern nur immer das einheitliche Bestreben, die ganze Partie hindurch die Figuren zu befreien von allen Arten von Hemmungen, ihnen die größtmöglichste Beweglichkeit und damit das stärkste Zusammenspiel zu verschaffen, die feindlichen aber an ihrer Bewegungsfähigkeit, so gut es nur geht, zu hindern und es nicht zuzulassen, durch Ausübung jedes nur möglichen Drucks, daß auch sie zu einem kräftigen Zusammenwirken kommen, weil nur so Eroberungen möglich sind. Jede Kombination, jeder Angriff, jede Figurenoperation, die nicht das Zusammenspiel der eigenen Figuren zu fördern als letzten Zweck hat, ist schlecht und falsch und trägt früher oder später böse Früchte. Es gibt nur eine gesunde T e n d e n z im Schachspiel, und die ist, ein möglichst vollkommenes Zusammenspiel seiner Figuren möglichst schnell zu erreichen und möglichst i n t a k t die ganze Partie hindurch sich zu erhalten. Der Ausgang jedes Angriffs und jeder Verteidigung hängt davon ab; es ist die wahre Basis für alle großen Erfolge im Schach.

Achtzehntes

Kapitel.

Von den Eröffnungen überhaupt. Aller Anfang ist schwer! Das mag in einem gewissen Sinne wahr sein; allgemeiner aber kann man sagen: aller Anfang ist leicbt, und die letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen. G o e t h e , Wanderjahre.

Wenn man sieht, mit welcher Nonchalance und Gleichgültigkeit viele Partien eröffnet werden, selbst auf Turnieren und bei ernsten Matchen, so wundert man sich nicht mehr, daß man so selten wirklich musterhafte Partien zu Gesicht bekommt, an denen man eine reine Freude, ein wahres Behagen haben kann. Ich warne jeden, die Eröffnung nonchalant und oberflächlich zu behandeln, nichts ist verrückter, nichts rächt sich so sehr. Keine andere Phase der Partie bedarf so vieler Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Jedem Zuge gebührt hier die reichlichste Erwägung, und warum? Weil das Schicksal der ganzen Partie abhängt davon,

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Dritter Teil.

ob es uns gelingt, unsere Figuren zu einem v o l l e n , k r ä f t i g e n Z u s a m m e n s p i e l zu bringen — und f r ü h e r als der Gegner. H i e r i n liegt die K u n s t , die M e i s t e r s c h a f t des E r ö f f n e n s . Aber sieht man sich in der Praxis um, so muß man leider gestehen, daß sie selten ist. Würde man die verschiedenen Eröffnungsarten von diesem Gesichtspunkte aus betrachten, wie viele müßte man da unter das alte Eisen werfen, auf immer in die Rumpelkammer stellen. Die Praxis und Theorie steckt auch hier noch tief in irrigen Anschauungen. Wie l e i c h t ist die Eröffnung, wenn man nichts weiter will, als seinen Figuren gute Plätze geben, wie s c h w e r wird sie unter den spitzfindigen Forschungen unserer Analytiker. Der wahre Zweck der Eröffnung ist ein g u t e s Z u s a m m e n s p i e l der Figuren. Merkt euch daher, ihr habt in der Eröffnung keine andere Aufgabe, als allen euren Figuren freien Spielraum zu verschaffen, auf daß sie zusammenwirken können. J e nachdem das gelingt, gut, mängelhaft oder schlecht, je nachdem wird der Ausgang der Partie erfreulich oder mißlich werden. Wie die Saat, so die Ernte! Man sehe die Eröffnung für den a l l e r w i c h t i g s t e n Teil der Partie an und wird dabei wohlfahren. Das Mittelspiel und Endspiel wird dann keine Schrecken haben und in dieser oder jener Partiephase wird der Lohn der Mühe nicht ausbleiben. Die Sorgfalt, die man der Eröffnung hat angedeihen lassen, wird in der Folge reiche Früchte tragen: leichte, glänzende und wohlverdiente Siege. Wie traurig, wie trostlos ist es, wenn man von vornherein sich den Weg verlegt, die Chancen selbst nimmt und alle Aussichten verpfuscht. Ist aber darum die Eröffnung mit großem Ernste und weiser Umsicht zu behandeln, so braucht man deshalb nicht hundert Eröffnungsformeln einzupauken. Einmal kann ein findiger Gegner gerade die hundertundeinte spielen, die man nicht eingetrichtert hat. Dann sind sie überhaupt zweifelhaft, stetem Wechsel unterworfen, der Mode Untertan. •\ Der originelle Spieler wird gerade hier auf eigenen Füßen stehen wollen. Das feste Ziel im Auge: seinen Figuren das größtmöglichste Zusammenspiel zu schaffen und das gegnerische tunlichst zu hindern, wird er selbst Wege und Mittel suchen, wie er dies in der jedesmaligen Eröffnung erreicht und oft wissentlich von der BuchWeisheit abirren.

Die zwei Haupttendenzen bei der Eröffnung.

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Wie soll, wer in der Eröffnung auf Krücken geht, im Mittelspiel kräftig auftreten ? Selbständigkeit und Urteilskraft verraten gerade hier den guten, vertrauenerweckenden Spieler. Wer sich auf andere verläßt, ist immer verlassen, wer auf sich selber baut, weiß, was er will und kann. Zu einer solchen Spielführung gehört allerdings Charakter. Man darf seiner Phantasie nicht die Zügel schießen lassen, nicht am Schachbrett phantasieren. Mit Beharrlichkeit muß man die als richtig erkannten Grundsätze in allen Stellungen durchführen. Mit Besonnenheit an steter Positionsverbesserung arbeiten und mit Klugheit alle Gelegenheit benutzen, die der Gegner bietet, das eigene Spiel zu heben, das feindliche zu bedrücken. Mit einem Worte: immer die Züge des Gegners zu widerlegen suchen, als schwach, fehlerhaft, ungenügend; nie aber dem Gegner die Handhabe bieten, die eigenen zu widerlegen. Neunzehntes Kapitel. Die zwei Haupttendenzen bei der Eröffnung. Es führt so mancher Weg zum Ziel.

Wir haben gesagt, die Haupttendenz der Eröffnung ist: das Zusammenspiel der eigenen Figuren schnell und gut zustande zu bringen und den Gegner darin womöglich zu überflügeln. Aus welchem letzterem Bestreben sich die zweite Tendenz ergibt, das Zusammenspiel von dessen Figuren zu hintertreiben. J e nachdem nun die eine oder die andere dieser beiden Tendenzen vorherrscht, nimmt die ganze Partie einen anderen Charakter an, und da fragt es sich vorerst, ob diese beiden Tendenzen gleichberechtigt sind, oder welche den Vorzug zu beanspruchen hat. Offenbar die erste, denn das Zusammenspiel unserer eigenen Figuren zu fördern, muß unsere erste Sorge sein; davon hängt alles Wohl und Wehe für uns ab. Die zweite Tendenz kann nur nebenbei, soweit sie die erste nicht stört, für uns mit in Betracht kommen. Nach der ersten Tendenz werden wir daher vor allem nach offenen Linien und guten Plätzen für unsere Figuren streben; man nennt diese Spielweise das o f f e n e Spiel. Nach der zweiten werden wir vor allem suchen, den Gegner darin zu hindern, offene Linien und gute Plätze für seine Figuren

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Dritter Teil.

zu erobern; also alle Linien zu schließen suchen. Man nennt diese Spielweise das g e s c h l o s s e n e Spiel. Das erste Verfahren ist p o s i t i v , das zweite n e g a t i v ; mit dem ersten will man etwas e r r e i c h e n , mit dem zweiten etwas verhindern. Wir haben schon gesehen, daß das zweite als leitendes Prinzip falsch ist, da es in hundert Fällen gegen die erste Tendenz verstoßen wird, d. h. wir werden nur den Gegner in seiner Entwickelung beschränken und hindern können, um den Preis, auch in dem eigenen Spiel nur langsame Schritte vorwärts zu tun. Dies ist das Grundübel der geschlossenen Spielweise. Ihre Devise ist, dem Gegner womöglich kein freies Feld und keinen freien Zug zu lassen, um den Preis, in die gleiche Kalamität sich wissentlich zu begeben. Diese Devise ist grundfalsch und bringt nur verschrobene, unerquickliche Partien zustande, die langwierig, mühselig, geistlos und unschön sind, während aus dem ersten Prinzip, wenn es mit Kraft und Genie befolgt wird, von jeher die Perlen der Schachkunst, die durchgeführten, klassischen Partien, hervorgegangen sind, schön, energisch und kurz. Es kann nun auch der Fall eintreten, daß die anziehende Partei offen spielt, die nachziehende aber geschlossen, wo dann das Spiel einen gemischten Charakter erhält; man nennt solche Spiele h a l b o f f e n e oder h a l b g e s c h l o s s e n e . Die nachziehende Partei kommt dadurch immer in mehr oder weniger beengte Stellungen und erlangt nur ein kümmerliches Zusammenspiel ihrer Figuren. Zwanzigstes

Kapitel.

Offene und geschlossene Spielweise. Geduld ist gut für Memmen. S h a k e s p e a r e , Heinrich IV.

Man kann mit Becht behaupten, daß ein Spieler, der mit Vorliebe im Anzug geschlossen spielt, ein wenig starkes Talent besitzt. Sonst würde er nicht verzichten auf Gelegenheiten, auf die Figuren des Gegners einen großen Einfluß auszuüben, welche die offene Spielart im höchsten Grade gewährt und die geschlossene fast gar nicht. Daher ziehen schwache Talente diese Spielart vor, weil ihr Mangel an Gestaltungskraft ihnen die andere instinktiv verhaßt

175 macht. Die geschlossene Spielweise schützt sie einigermaßen gegen einen genialen Gegner, weil sie hinter ihrem Bauern wall versteckt nicht in dem Maße heftigen Angriffen ausgesetzt sind, wie beim offenen Spiel. Das offene Spiel dagegen ist das Prärogativ des Genies, des gestaltungskräftigen, schöpferischen Geistes. Ihm ist diese lahme, geschlossene Spielweise verpönt und widerlich, die ihm nur Hemmschuhe anlegt in seiner hohen Kunst, Stellungen zu schaffen und umzugestalten. Phantasie und Kunst haben liier von jeher ihre schönsten Siege gefeiert, ihre unvergänglichsten Lorbeeren erkämpft. Wer denkt nicht an die u n s t e r b l i c h e Partie und die i m m e r g r ü n e Partie von A n d e r s s e n , an die herrlichen Partien Morphys gegen B i r d und P a u l seil mit Bewunderung und Begeisterung zurück? Die geschlossene Spielweise ist ein notdürftiges Bollwerk für arme Talente, die offene aber ist die Arena für das Genie.

Einundzwanzigstes

Kapitel.

Das Wesen der Eröffnung. Hin Mensch, der eigner Urteilskraft entbehrt Und nur durch vieles l.ernen ward gelehrt. Der faßt auch nicht den öinn, der in den Büchern steckt, So wie der Löffel nicht die Brühe schmeckt.

Der einheitliche Charakter aller Eröffnungen liegt in der allen Eröffnungen gemeinsamen Absicht, den B a u e r n w a l l , der die F i g u r e n z u d e c k t , an i r g e n d e i n e r S t e l l e zu öffneil und diese dann ins f r e i e F e l d zu f ü h r e n , und die ganze Diversität der einzelnen Eröffnungen entspringt nur aus den Schwierigkeiten, die dieser Plan hat, und aus den verschiedenerlei Versuchen, ihn durchzuführen; ist das gelungen, so ist die Eröffnung aus. Es wird dies noch klarer werden, wenn man bedenkt, daß die erste Aufstellung eine durchaus kranke Stellung ist, wo Verstellungsund Bretthemmungen im höchsten Maße vorliegen. Die ersteren können nur beseitigt werden dadurch, daß die verstellenden Steine weggerückt werden, und da dies vor allem die Bauern sind, so ist das Rücken derselben das erste Erfordernis, was ich oben ö f f n e n des B a u e r n w a l l s genannt habe. Die letzteren können nur durch Platzwechsel der Figuren selbst beseitigt werden. Es ist daher nötig, sie auf günstigere Plätze des Brettes, mehr der Mitte zu, wo sie einen größeren Spielraum

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Dritter Teil.

haben, zu ziehen, was ich das H i n a u s f ü h r e n der F i g u r e n auf f r e i e s F e l d genannt habe. Ich werde nun über die Öffnung des Bauernwalles, d. h. die Freilegung von Zugstraßen für den Austritt der Figuren zuerst einige Worte sagen, weil sie es sind, die jeder Stellung einen bestimmten Charakter geben.

Zweiundzwanzigstes

Kapitel.

Die Öffnung des Bauernwalls. Denn aus der Kräfte schön vereintem Streben Erhebt sich, wirkend, erst das wahre Leben. S c h i l l e r , Die Huldigung: der Künste.

Man kann den Bauernwall vor allem in der Mitte öffnen, indem man so bald als möglich die zwei Mittelbauern zwei Schritte vorstößt; dadurch werden den Läufern und der Dame Zugstraßen geöffnet, so daß sie nun leicht auf freies Feld geführt werden können. Dadurch bekommen, nachdem dies ebenfalls mit den Springern geschehen ist, die Türme für ihre Bewegung die letzte Linie frei. Damit ist die eigentliche Eröffnung zu Ende, da nun alle Figuren sich bewegen und zusammenspielen können. Man hat den Bauernwall auch an anderen Stellen zu öffnen versucht, 1. b3 und 1. g3, aber es ist leicht ersichtlich, daß diese Öffnungen nicht so gut sind, als 1. e4 oder 1. d4. Bei 1. b3 und g3 erhält der Läufer eine Eckenstellung (Bretthemmung). Die Beweglichkeit, die die Figuren durch diese Öffnungen erhalten, ist viel kümmerlicher als bei 1. e4 oder 1. d4. Ich werde von diesen schwächeren Öffnungen nichts weiter sagen, und rate jedem Spieler ganz entschieden ab, sie je anzuwenden. Nicht, daß sie direkt fehlerhaft wären, aber das Zusammenspiel der Figuren wird hierbei viel langsamer und unvollkommener erreicht. Welcher echte Spieler wird aber, mit Bewußtsein und Absicht, das Zusammenspiel seiner Figuren, von dem doch in erster Linie der Gewinn der Partie abhängt, schwächen wollen? Ich will daher lieber etwas ausführlicher über den Vorstoß der beiden Mittelbauern sprechen: Da sind die Schachspieler in zwei Lager geteilt, auf der einen Seite heißt es hie 1. e4, auf der anderen hie 1. d4. Es ist nun die Frage, was ist besser, richtiger, was ermöglicht ein vollkommeneres, schleunigeres Figurenzusam* menspiel 1. e4 oder 1. d4?

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Die Öffnung des Bauernwalls.

Ich sage darauf, entschieden 1. e4. Es ist deshalb wichtig, diesen Zug z u e r s t zu machen, weil ihn, da das Feld e4 ungeschützt ist, der Gegner sonst sofort auf lange Zeit verhindern kann, während es viel leichter gelingt, das Feld d4 zu besetzen, das schon von der Dame gedeckt ist. Bleibt aber der e-Bauer zurück, und ist man genötigt, ihn nur einen Schritt zu ziehen, so wird der Damenläufer eingeschlossen, der gerade eine äußerst starke Angriffsfigur ist; das Zusammenspiel der Figuren ist also viel schwächer, als bei 1. e4, wo dieser Läufer auf e3 oder g5 ausgezeichnete Plätze erhält. Ich verwerfe daher auch den Zug 1. d4 ganz; nicht, daß er fehlerhaft wäre an und für sich, aber ich muß auch hier wieder betonen: das schleunige, kräftige Zusammenspiel aller Figuren muß immer das höchste Ideal des echten Schachspielers sein, und nie soll er sich wissentlich und aus freier Wahl dagegen versündigen. Fort daher mit 1. d4 im ersten Anzüge. Der große M o r p h y , der erste unter den Schachmeistern aller Zeiten, hat ihn in seinem ganzen Leben nicht einmal angewandt. Trotzdem hat sich dieser Zug leider in neuerer Zeit sehr eingebürgert, und dadurch ist in das Schachspiel eine ganz falsche Tendenz gekommen. Sonst war der Anzug das Prärogativ des Angriffs und eine kräftige Angriffsstellung das höchste Ziel der Eröffnung. Durch 1. d4 wird ihm der Geist der Defensive aufgeprägt, denn d4 ist ein Verteidigungszug, er verhindert 1. e5 (das offene Spiel). Jede Partie ist also mit 1. e4 zu beginnen; wenn nun der Gegner darauf seinen Königsbauer auch zwei Schritte zieht, was aus den gleichen Gründen auch für ihn das beste ist, so kann unser Damenbauer nicht sofort ohne Nachteil vor. Da hat man nun verschiedene Wege eingeschlagen, denselben schnell vorzubringen. 1) Man hat den f-Bauer geopfert, um den feindlichen e-Bauer von der Beherrschung des Feldes d4 abzulenken (Königsgambit). 2) Man hat den d-Bauer selbst geopfert (Mittelgambit, schottisches Gambit. Spanische Partie, italienische Partie). 3) Man hat den b-Bauer geopfert, um dann mit Zeitgewinn den c-Bauer vorstoßen zu können, der das Vorgehen des d-Bauern unterstützen soll (Evansgambit). 4) Man hat durch Vorstoßen des c-Bauern einen Schritt dasVorgehen des d-Bauern zu unterstützen gesucht (Giuoco piano,, englisches Spiel). 5) Man hat ihn eventuell nach Entwickelung des Königsläufers nur einen Schritt gezogen in einigen schwächeren Varianten G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

12

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Dritter Teil.

der italienischen und spanischen Partie, was ich daher nicht empfehlen möchte. 6) Man hat durch Schlagen des feindlichen d-Bauern, wenn es anging, ihm das feindliche Feld d4 gangbar gemacht (russische Partie). 7) Man hat ihn, wo es möglich war, gegen den feindlichen e-Bauer getauscht (französisches Springerspiel). Man hat also eigentlich vier verschiedene Wege eingeschlagen: entweder 1) wird das Feld d4 erst ohne Nachteil für ihn gangbar gemacht: Königsgambit, Evansgambit, Russische Partie, Griuoco piano, Englisches Spiel; oder 2) man hat ihn getauscht: oder 3) geopfert:

Französisches Springerspiel; Spanische Partie, Italienische Partie, Mittelgambit, Zweispringer spiel, Schottisches Gambit;

oder 4) nur einen Schritt gezogen. Außer den beiden Mittelbauern empfiehlt es sich auch, sobald als möglich noch weitere Öffnungen in den Bauernwall zu machen durch c3 für Austritt der Dame nach b3 oder a4 und durch f4, um dem Königsturm freien Spielraum zu geben. Für den Nachzug ist es natürlich gleich wichtig, so schnell wie möglich die beiden Mittelbauern vorzustoßen, um gleichfalls seine Figuren ins freie Feld führen zu können. Schwarz wird daher, sowie es irgend angeht, seinen Läufer auf c5 spielen, um d6 ziehen zu können, ohne ihn einzusperren, zu verstellen. Als weitere Zugstraße wird für ihn die f-Reihe sich empfehlen, die er durch Vorstoß des f-Bauern bald zu öffnen suchen muß. Die Modernen, welche das materielle Gleichgewicht über alles schätzen und daher jedes Bauernopfer zugunsten einer schnellen Entfaltung der Angriffskräfte perhorreszieren, haben alle geistreichen Spielanfänge, womit die früheren großen Meister des Angriffs unsterbliche Siege errangen, als inkorrekt und zweifelhaft verworfen und die Eröffnungskunst auf wenige defensive geschlossene

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Die Öffnung des Bauernwalls.

Anfänge herabgedrückt. Und was haben sie damit erreicht ? Unendliche Remisen! Es liegt nicht in der Natur der Eröffnungen, greifbare Vorteile zu geben. Alles, was man berechtigterweise von ihnen verlangen kann, ist ein gutes und schnelles Zusammenspiel der Figuren, und das leisten alle normalen Eröffnungen gleichmäßig, die Gambits mehr als die anderen auf Kosten kleinerer Opfer. Der starke Spieler wird mit jeder normalen Eröffnung in Vorteil kommen, der schwache in Nachteil. Das Bestreben, schon in der Eröffnung die Partie zu gewinnen, ist ganz verfehlt und führt zu solchen Einseitigkeiten, wie wir sie bei den Modernen sehen, daß sie e i n e Eröffnung als die alleinseligmachende ansehen und alle anderen auf den Index setzen. Alle normalen Eröffnungen bieten für beide Teile nahezu gleiche Gewinnchancen. Der ideenreichere, weiter blickende Spieler wird mit jeder, im Anzug oder Nachzug, in Vorteil kommen, den talentärmeren, geistig beschränkteren wird keine vor Nachteil bewahren können. Man soll sie daher alle gleichmäßig üben und spielen, um Vorurteile und Aberglauben von sich weit abzuschütteln und so die geistige Freiheit auch hier zu wahren. Jedenfalls aber die offenen Spielarten bevorzugen, da in ihnen der Geist des Schachspiels vorzüglich klar zutage tritt und sie daher eminent bildend auf den Schachjünger wirken. Wer nur geschlossen spielt, und den Gefahren des offenen Spiels, seiner Angriffskraft, seinem Kombinationsreichtum feig ausweicht, wird immer im Schachspiel auf einer niedrigen geistigen Stufe stehen bleiben. Er wird weder in die eigentlichen Tiefen der Schachspielkunst eindringen, noch auf ihren sonnigen Höhen anlangen, wo der Blick weit und der Geist frei wird. Er bleibt sein lebelang ein gebildeter Stümper, dem große Erfolge durchaus versagt bleiben. Hier noch eine kurze K r i t i k der E r ö f f n u n g e n . Das Problem, welches jede Eröffnung zu lösen sucht und unternimmt, ist: Wie bringt man in kürzester Zeit ein starkes Zusammenspiel der Figuren zuwege? Je nachdem jede Eröffnung diese Aufgabe mehr oder minder vollkommen löst, um so höher steht sie. Nun lassen sich alle wichtigeren Eröffnungen von vorneherein in zwei große Gruppen scheiden: die e - B a u e r e r ö f f n u n g e n und die d - B a u e r e r ö f f n u n g e n , je nachdem Weiß 1. e2—e4 oder 1. d2—d4 zieht. 12*

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Dritter Teil.

Nur die e-Bauereröffnungen ermöglichen ein rasches, kräftiges Zusammenspiel der Figuren und geben offene Linien für den Angriff. Sie sind alle miteinander durchaus Angriffsspiele, mit reichen Chancen und guten Gewinnaussichten. Die d-Bauereröffnungen atmen einen ganz anderen Geist. Hier soll durch Verhinderung von 1. . . . e7—e5 der Gegner von vorneherein bedrückt und beschränkt werden in der freien Entfaltung seiner Streitkräfte und alle Maßnahmen werden getroffen — nicht um die feindliche Stellung kühnlich anzugreifen —, um sich zu verschanzen und vor jedem feindlichen Angriff zu verbarrikadieren. Die offene, mutige Feldschlacht wird nicht gewagt, sondern ein wohlbefestigtes Lager bezogen, um von da mit sorgfältiger Maulwurfsarbeit die feindliche Stellung zu unterminieren. Über allen Maßnahmen schwebt ein bleierner Geist der Defensive. Das mutige Selbstvertrauen fehlt, das, auf eigene Tüchtigkeit gestützt und vertrauend, mit wuchtigen Schlägen und kräftigsten Vorstößen die feindliche Phalanx zu zertrümmern unternimmt. Dagegen wird ein langsames, langwieriges, schleichendes Verfahren, ein minutiöses Ansammeln und Ausnutzen kleiner, unscheinbarer Vorteile versucht. Man glaubt zwei feindliche Maulwurfsheere im Kriege zu sehen. Offenbar ist die Zeit der Heroen vorbei. Auf die Iliade folgt der Frosch-Mäuse-Krieg. Von den d-Bauereröffnungen ist somit in bezug auf Zusammenspiel der Figuren nichts Rühmliches zu berichten. Ich stelle sie daher in den Hintergrund. Wer sie liebt, mag sie spielen. Vom künstlerischen Standpunkt aus sind sie minderwertig. Ich betrachte lieber die e-Bauereröffnungen. Das kräftigste Zusammenspiel der Figuren gewähren zwei Gambiteröffnungen: das E v a n s g a m b i t und das M u z i o g a m b i t . Daß beide nicht inkorrekt sein können, folgt schon daraus, daß man sie fürchtet und flieht wie den Teufel und daß sie fast immer siegreich durchdringen. Das M u z i o g a m b i t opfert einen Springer, erlangt aber dafür, wenn der mächtige Angriff wirklich sollte abgeschlagen werden, was selten gelingt, ein genügendes Bauernäquivalent. Das E v a n s g a m b i t opfert nur 1—3 Bauern und Weiß erlangt ebenfalls einen formidablen Angriff, gegen den schwer anzukämpfen ist. Es gibt heutzutage keine Schachhelden mehr, die sich getrauen, diese Gambite anzunehmen und zu verteidigen, wie Morphy, A n d e r s s e n , P a u l s e n und S t e i n i t z .

Herausführen der Figuren auf freies Feld.

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Vorsicht ist besser als Tapferkeit, denkt man. Ein gutes Figurenzusammenspiel und starke Angriffe gewähren auch das g e w ö h n l i c h e S p r i n g e r g a m b i t und das L ä u f e r g a m b i t . Aber auch die s p a n i s c h e P a r t i e , das s c h o t t i s c h e G a m b i t , die i t a l i e n i s c h e P a r t i e und das Z w e i s p r i n g e r s p i e l . Schwächere Eröffnungen sind das L ä u f e r s p i e l , die engl i s c h e P a r t i e , die W i e n e r p a r t i e und das V i e r s p r i n g e r s p i e l . Dagegen bekommt Weiß ein überwiegendes Angriffsspiel bei anderen Gegenzügen statt 1. . . . e7—e5. Die f r a n z ö s i s c h e und s i z i l i a n i s c h e P a r t i e sind daher für Schwarz minderwertig, während alle bisher betrachteten Spiele auch für Schwarz bei besonnener und ausdauernder Spielführung ein gutes Zusammenspiel der Figuren hoffen lassen. Man halte fest: Alle e-Bauerneröffnungen sind durchaus gut und gesund, geben kräftige Angriffsmöglichkeiten und reiche Gewinnchancen. Eröffnungen mit Garantie für Gewinn gibt es nicht, wie sehr auch die Modernen sich abmühen, ihr D a m e n g a m b i t und ihre s p a n i s c h e P a r t i e zu solchen privilegierten Eröffnungen auszubilden. Das Fazit ist — ein greuliches Fiasko. Jeder muß schließlich seine Natur kennen ^und ihr folgen. Wer Maulwurfstalente in sich fühlt, der versuche es getrost mit den d-Bauerneröffnungen. Er wird gute Erfolge erringen, aber Kunstwerte kaum produzieren. Wer die Natur des Adlers oder Löwen hat, der wird am besten fahren mit den e-Bauerneröffnungen. Seine Siege werden den Vorzug haben, groß, glänzend zu sein und einen dauernden Kunstwert zu haben, weil sie den echten Geist des Schachspiels, rein wie ein klarer, tiefer Bergsee, widerspiegeln.

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Herausfähren der Figuren auf freies Feld. Ein Wütender auf einem Barberroß, Im Tigerfell, sprengt vor mit den Gendarmen. S c h i l l e r , Jungfrau.

Da es vor allem darauf ankommt, alle unsere Figuren so schnell als möglich beweglich zu machen, und man zu diesem Zwecke jede mindestens einmal bewegen muß, so muß man mit der Bewegung jeder einzelnen Figur äußerst s p a r s a m umgehen, ohne Not keine m e h r a l s e i n m a l ziehen; dann kann man bereits nach

182

Dritter Teil.

8—10 Zügen sie alle kampfbereit im Spiel haben. Dann erst kann man Versuche machen, den einzelnen Figuren etwa noch günstigere Plätze zu verschaffen, nie aber, bevor man nicht alle anderen befreit hat; es müßte denn mit den bereits verfügbaren sich irgendwie ein Schachprozeß durchführen lassen, was aber nur bei sehr fehlerhaftem Spiel des Gegners möglich ist. Man beachte es also als o b e r s t e n G r u n d s a t z der Spieleröffnung: keine Figur ist ohne dringende Not oder augenscheinlichen Vorteil mehr als einmal zu ziehen, solange noch andere gar nicht sich bewegen können. Für die Postierung der einzelnen Figuren gelten dieselben großen leitenden Grundsätze wie für die ganze Partie: Einmal so, daß sie sich nicht gegenseitig im Wege stehen, die größtmögliche Beweglichkeit haben und keine Zugstraßen versperren; dann womöglich in der Reihenfolge und so, daß sie immer zugleich die Figuren des Gegners in ihrer Beweglichkeit hemmen. Ich will nur soviel bemerken, daß die b e s t e n P l ä t z e für die S p r i n g e r f3 und c3 im Anzüge, f6 und c6 im Nachzuge sind. Für die L ä u f e r c4 und g5 resp. c5 und g4, für die D a m e d2 und d7, für die T ü r m e el und dl resp. e8 und d8. Ohne Not weiche man hiervon nicht ab. Überhaupt merke man, für die Postierung aller Linienfiguren gilt der Grundsatz: Sie sind auf die in der jedesmaligen Stellung vorhandenen offenen guten Linien zu stellen. Es darf nicht die geringste Willkür in ihrem Placement herrschen. Die Brettverhältnisse müssen allein den Ausschlag geben. Daher kann es kommen, daß bald die Türme auf einer Linie verdoppelt werden müssen, wenn es die einzige freie Zugstraße für sie ist; bald jeder allein auf einer offenen Linie eine gute Stellung findet. Wer ein offenes Auge hat für die freien Gänge in jeder Stellung, wird nie im Zweifel sein, wo die eine oder andere Figur am besten zu postieren ist.

Vierundzwanzigstes

Kapitel.

Das Bauernopfer in der Eröffnung. Du mußt glauben, du mußt wagen, Denn die Götter leihu kein Pfand; Kur ein Wunder kann dich tragen In das schöne Wunderland. Schiller.

Der Doppelschritt der zwei Mittelbauern ist für beide Parteien unbedingt erforderlich, soll das Spiel frei sein und die Entwicklung der Figuren schnell vonstatten gehen.

Das Bauernopfer in der Eröffnung.

183

Der Doppelschritt des Königsbauern (1. ei, e5) ist daher für beide Teile die beste Eröffnung der Partie. Der Doppelschritt des Damenbauern ist dann für den Nachziehenden selten erreichbar, für den Anziehenden auch in den meisten Fällen nur unter Aufopferung des Bauern selbst ( M i t t e l g a m b i t ) . M i t t e l g a m b i t ist in den meisten Spielarten die stärkste Fortsetzung. Die Vorteile liegen auf der Hand. Einmal gewährt das Opfer des Damenbauern einen wichtigen Vorsprung in der Entwicklung, dann werden Linien und Felder von Bedeutung dadurch geöffnet und für die Aufstellung der Figuren ein freier Spielraum geschaffen. Das sind alles Vorteile, die in der Hand eines starken Spielers wohl den temporären Verlust eines Bauern reichlich aufwiegen. Daß er endgültig sei, ist gar nicht einmal gesagt. Schwarz wird, um seinerseits zur Entwicklung zu gelangen, genötigt sein, den gewonnenen Bauern wieder aufzugeben, oder er wird in beengte und kritische Stellungen hereinkommen. Ängstlichen Naturen, die gern sicher gehen, bleibt es ja immerhin überlassen, minder energische und aussichtsvolle Fortsetzungen (sog. Angstvarianten) zu spielen, den Damenbauer in Gottes Namen nur einen Schritt zu ziehen oder gelegentlich gegen den feindlichen Königsbauer zu tauschen. Sie werden dann teils ein beengtes, teils ein mattes Spiel erlangen und sich die ganze Partie mit toten Stellungen herumschlagen, aber sie haben dafür das Bewußtsein, keinen Bauern weniger zu haben. Angriffslustige und wagemutige Herzen werden lieber zwei als einen Bauern opfern, wenn sie dafür ein chancenreiches, tüchtiges Spiel bekommen. M i t t e l g a m b i t ist also unbedingt die stärkste, aussichtsreichste Fortsetzung der meisten offenen Spiele. Wir wollen die beliebteren unter diesem Gesichtspunkt kurz Revue passieren lassen. S p a n i s c h e P a r t i e . 1. e4, e5 2. Sf3, Sc6 3. Lb5, a6! 4. La4, Sf6 5. d4, ed: 6. e5, Se4 7. 0—0, Le7. Weiß hat eine sehr starke Stellung mit vielen Chancen. Oder auch: l.e4, e5 2. Sf3, Sc6 3. Lb5, Sf6 4. d4, ed 5. e5, Se4 6. 0—0, a6 7. La4, Sc5 8. Lc6:, de. Beide Spiele sind chancenreich. I t a l i e n i s c h e E r ö f f n u n g . 1. e4, e5 2. Sf3, Sc6 3. Lc4, Lc5 4. d4, Ld4: 5. c3 mit freiem Spiel und allseitig offenen Linien. E v a n s g a m b i t . 1. e4, e5 2. Sf3, Sc6 3. Lc4, Lc5 4. b4! (am stärksten), Lb4: 5. c3, La5 6. d4, ed 7. 0—0 mit starkem Angriffsspiel.

184

Dritter Teil.

Oder auch: 1. e4, e5 2. Sf3, Sc6 3. Lc4, Lc5 4. b4!, Lb4: 5. c3, Lc5 6. 0—0, d6 7. d4, ed: 8. cd, Lb6 9. Sc3 mit sehr kräftigem, gutentwickeltem Spiel. S c h o t t i s c h e s G a m b i t . 1. e4, e5 2. Sf3, Sc6 3. d4, ed: 4. Lc4!, Lc5 5. 0—0, d6 6. c3, Sf6 oder Lg4 usf. mit gutem Angriffsspiel für Weiß. Z w e i s p r i n g e r s p i e l im Nachzug. 1. e4, e5 2. Sf3, Sc6 3. Lc4, Sf6 4. d4, ed 5. 0—0 mit starkem Angriff. R u s s i s c h e s S p r i n g e r s p i e l . 1. e4, e5 2. Sf3, Sf6 3. d4, ed 4. e5, Se4. Weiß hat ein freies Spiel und kann den Bauern nach Belieben zurückgewinnen. P h i l i d o r s S p r i n g e r s p i e l . 1. e4, e5 2. Sf3, d6 3. d4, ed, 4. Lc4!, Le7 5. c3 mit chancenreichem, feinem Spiel. L ä u f e r s p i e l . 1. e4, e5 2. Lc4, Lc5 3. d4, ed 4. Sf3 mit starkem Spiel. A b g e l e h n t e s K ö n i g s g a m b i t . 1) 1. e4, e5 2. f4, Lc5 3. Sf3, d6 4. c3, Lg4 5. Lc4, De7 6. d4, ed 7. 0—0 mit gutem Spiel für Weiß. 2) 1. e4, e5 2. f4, d5 3. ed, e4 mit freiem, leichtem Spiel für Schwarz. L ä u f e r g a m b i t . 1. e4, e5 2. f4, ef: 3. Lc4, d5 4. Ld5:, Sf6; hier erhält Schwarz durch sein Bauernopfer ebenfalls ein starkes Spiel. S i z i l i a n i s c h e P a r t i e . 1. e4, c5 2. d4, cd 3. Sf3, mit gutem Angriffsspiel; der gegebene Bauer ist nach Belieben wieder zu haben. Die Flügelgambits ( S p r i n g e r - , L ä u f e r g a m b i t s ) geben auch alle ein starkes Angriffsspiel. Das jüngste Kind der Gambitlaune ist das S c h w e i z e r g a m b i t . Yivat sequens! Ich empfehle die G a m b i t s jedem kraftvollen Spieler. Er wird weiter kommen, als mit den totsicheren, totlangweiligen, totremisigen Fortsetzungen. Man darf auch nicht außer acht lassen, daß der Theoretiker, der eine Variante aufstellt, ein bestimmtes Resultat, einen greifbaren Vorteil oder Nachteil erzielen und vorzeigen will, und daß ein faßbares, zählbares Figurenplus ihm leicht bedeutsamer erscheint, als eine noch so chancenvolle Möglichkeit, die sich doch nur in Meisterhand in Wirklichkeit verwandeln kann, daß also der Theoretiker immer materielle Vorteile überschätzen, positioneile unterschätzen wird. Man wird daher gut tun, ihre Warnungen in den Wind zu schlagen; ihre Tafeln mit verbotenen Wegen, ihre ausgesteckten roten Laternen zu übersehen, über ihre Schreckschüsse aber die Achseln zu zucken.

Das Wesen des Mittelspiels.

Fünfundzwanzigstes

185

Kapitel.

Das Wesen des Mittelspiels. Uud wenn an ED 1 scheidung&tagen Ich Euch sage: losgeschlagen! Stürzt dann in den Feind mit Macht, Tief ins Herz der vilden Schlacht; Augen zu! und links und rechts Kreuzt die Blitze des Gefechts. Fallt Ihr, war's Euch so bestimmt; Siegt Ihr, sprechen wir vom Lohne: Mancher fand so eine Krone. G r i l l p a r z e r , Traum ein Leben.

Nirgends ist für geniale Konzeptionen, für gewaltige Inspirationen, ein so reiches, üppiges Feld, wie im Mittelspiel, wo die besten, reichlichsten Kräfte zu Gebote stehen für großgedachte, tieferfaßte, erschütternde Kombinationen. Hier feiert das Genie seine höchsten Triumphe und schafft Werke von unvergleichlicher, hinreißender Schönheit und ewiger Dauer. Der kalte Grübler, der trockene Rechenmeister wird sich ewig vergebens abmühen, auf einem Gebiete Großes zu leisten, wo nur Geistesblitze das Dunkel zu verscheuchen und in das Meer der finsteren Nebel des Möglichen helles Licht zu tragen vermögen. Der Charakter des Eröffnungsspiels liegt in einer schnellen und allseitigen Befreiung aller Figuren, damit sie zusammenspielen, zusammenwirken können zu Schutz und Trutz, zu Angriff und Verteidigung; der Charakter des Mittelspiels in dem Bestreben, m i t d e n F i g u r e n g l ü c k l i c h in d a s f e i n d l i c h e S p i e l zu d r i n g e n , um das Zusammenspiel der feindlichen Figuren zu vernichten, und dann mit einer überlegenen Figurenzahl sich auf den einen oder anderen schwachen Punkt der feindlichen Stellung zu werfen. Die Hauptsache im Mittelspiel ist daher die Ö f f n u n g v o n F e l d e r u n d Z u g s t r a ß e n ins f e i n d l i c h e S p i e l , auf denen unsere Figuren zum entscheidungsvollen Angriff anstürmen, die feindliche Stellung zertrümmern und die eine oder andere Figur in überlegener Anzahl überfallen, festsetzen und erobern oder glänzende Mattkombinationen durchführen können. Daneben läuft ein fortwährendes Bestreben, u n s e r e n F i g u r e n n o c h b e s s e r e P l ä t z e zu v e r s c h a f f e n , als es bei der Eröffnung möglich war, und vor allem alle Hemmungen, unter denen die eine oder andere Figur noch leidet, aus der Stellung zu entfernen. Gelingt dies nicht, gibt uns der Gegner keine Motive und Gelegenheiten dazu, so werden nach und nach im gegenseitigen

186

Dritter Teil.

Ringen immer mehr Figuren abgetauscht, die Hauptfiguren verschwinden so vom Brett, das Mittelspiel ist zu Ende, ist resultatlos verlaufen, und es beginnt das Endspiel. Jeder Gegner sieht sich nach dem Stand seiner Bauern um, ob er einen etwa zur Dame fähren könne, um so sich noch zuletzt doch eine überlegene Figurenanzahl zu verschaffen, durch die er dann die eine oder andere feindliche Figur erobern und so den Sieg schnell und leicht erringen kann. Da der König und der Bauer, und eventuell auch der Springer, diejenigen Figuren sind, welche die geringste Bewegungsfähigkeit haben und namentlich die ersten beiden sich nur schwer durch die Flucht einem feindlichen Angriff entziehen können, so sind es naturgemäß auch sie, die am leichtesten erobert werden. Die meisten Partien werden daher im Mittelspiel entschieden, entweder durch Gewinn von Bauern oder durch Mattführungen. Die Eroberung der anderen Figuren, die leicht beweglich sind und sich jedem Angriff durch eine schnelle Flucht entziehen, gelingt meist nur, wenn sie durch eine starke Hemmung ein bestimmtes Standfeld nicht verlassen können, also wenn sie gefesselt, verstellt, gebunden sind oder wenn sie einem Doppelangriff ausgesetzt werden. Im Mittelspiel sind alle Figuren beweglich und parat. Die reichsten Mittel sind vorhanden zur Durchführung aller möglichen Kombinationen. Das Mittelspiel ist das Feld, wo Ideenreichtum und Kombinationskraft zur Geltung kommen, wo eine reiche Phantasie und eine fruchtbare Erfindungsgabe ungeahnte Siege feiern können. Nur ein Tor wird daher durch unnötige Abtausche (Ausrottungstausche) sein Spiel vorzeitig schwächen.

Sechsundzwanzigstes

Kapitel.

Der Durchbruch der feindlichen Stellung. Erstiegen ist der Wall, vir sind im Lager. S c h i l l e r , Jungfrau.

Das Hauptmoment im Mittelspiel ist die Öffnung einer Linie in die feindliche Stellung, damit die Figuren in sie eindringen und sie zerütten können. Von dem Gelingen des Durchbruchs hängt in den weitaus meisten Fällen der Gewinn der Partie ab.

Beispiele für den Durchbruch im Mittelspiel.

187

Sowie nämlich eine Linie in die feindliche Stellung freigelegt ist, können unsere Figuren darauf in das feindliche Spiel eindringen, dies ist dann die K r i s i s der P a r t i e . Vermag der Gegner ihr Eindringen noch zu verhindern oder sie wenigstens schnell wieder herauszuwerfen, so ist die Partie meist noch zu retten, im anderen Fall ist sie unrettbar verloren. Der D u r c h b r u c h im Mittelspiel gehört zu den größten Schwierigkeiten der Spielführung. Er ist ja nichts weiter als die Öffnung einer Linie, eines wichtigen Feldes, aber das ist hier nicht so leicht wie in der Eröffnung, wo noch alle feindlichen Figuren bewegungslos waren und daher keinen Widerstand leisten konnten. Jetzt haben sie Spielraum und Bewegungsfreiheit, jetzt können sie jeden solchen Versuch energisch vereiteln. Es kann daher nur ein Spieler, der nicht nur mit seinen eigenen Figuren zu spielen weiß, sondern der auch durch Drohungen, Tausch, Opfer die Bewegungen der feindlichen Figuren zu seinen Gunsten zu beeinflussen versteht, der mit einem Worte über eine künstlerische Gestaltungskraft verfügt, hier Großes leisten und Erfolge erzielen. Jeder andere Spieler wird nur dann gewinnen, wenn sein Gegner selbst ihm die Gelegenheit gibt (durch Fehler) in sein Spiel einzubrechen. Auch in dieser Kunst, den Einbruch in das feindliche Spiel meisterhaft vorzubereiten und unwiderstehlich durchzuführen, steht P a u l M o r p h y unerreicht da. Seine Partien bieten viele glänzende, ungemein lehrreiche Beispiele dafür dem Schachjünger dar, sie sind die reinste Quelle für klassische Mittelspielführung.

Siebenundzwanzigstes

Kapitel.

Beispiele für den Durchbruch im Mittelspiel. Die Gegner sie wanken, die Gegner sie weichen, Wir mutig und jach, den Fliehenden nach Über Freundes und Feindes Leichen. G r i l l p a r z e r , Traum ein Leben.

Man beachte, mit welcher schöpferischen Gewalt und hohen Gestaltungskraft M o r p h y die F i g u r e n s e i n e s G e g n e r s aus den ihm hinderlichen Stellungen drängt, wie er sich freie Bahn in das Herz des feindlichen Spiels erzwingt und den Sieg im Fluge davonträgt.

188

Dritter Teil.

L

Sch.

1. 2. 3. 4.

Morphy.

Tg7|: De7f Df8| Df7f

Kg7 Kg8 Kh7

W.

Perrin.

Sch.

Lichtenhain.

Morphy.

1. 2. 3. 4. 5. 6.

f5 Sf5: Tf5: gf: Dh5f Kd7 Df7f De7 e6f Kd8 Lg5 und gewinnt.

1. 2. 3. 4. 5. 6. wenigen

Sch.

W.

e5 Le5: De5: Le5: Td7 Dg7 Dc4 Te7 Ke7!: Te7: Telf und setzt Zügen matt.

in

Beispiele f ü r den D u r c h b r u c h i m Julien.

Sch.

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m

Morphy.

W.

A. Morphy.

Sch.

Morphy.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

W.

La6 Tel Da5: Da6f: Tc6: ! Tc7f: Dc6f Tb8 Te7| Td8f: Te8=f

Sa5 Lc6 ba: Kd7 Df5 Ke8 Dd7 Dc6: Kf8 De8

Mittelspiel.

189

1. Td6: Dd6: 2. Df7| Kd8 3. Db7: Dd7 4. Da8|: Dc8 5. Sf7f Ke7 6. D a 7 f : Sd7 7. Sh8: Dh8: 8. Tdl Dc8 9. bc: Aufgegeben. Schwarz kann den Abtausch auf d7 und die siegreiche Geltendmachung des weißen Freibauern nicht mehr abwehren.

Lichtenhain.

Morphy.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Td7: Kd7: Lc6f bc: Ke7 Tdlf Se5: Dg5: Ke8 Td7| Dc6: De5: Tc7f Kf8 Da8f De8 Tc8 Dc8: Dc8|: und gewinnt.

Sch.

Dritter Teil.

190

Morphy.

W.

1. 2. 3. 4. 5.

1. e6 Le6!: 2. T e 6 f fe:! 3. Se5 u n d gewinnt.

s

Sch.

Warnsdorff.

W.

Zukertort.

Db4ü Tc8-c5 Tf8|!! Kh7:! De4? Kg7 Le5f Kf8 Lg7f und gewinnt.

N.

Scb.

'MM

A iL

* ^

P^ji• i

H•

1. Lg7 + 2. D h 6 f 3. Sf5=(=



Kg7: Kh6:

W.

A. Neuinano.

1. 2. 3. 4.

De3 Dh6+Ü Th8^ Th5=f

W.

Te7 Kh6: Kg5

191

Beispiele fiir den Durchbruch im Mittelspiel.

1. Ld8|

2. 3. 4. 5. 6.

Ta6+! Dd7f Dc8f Lb6f Db8f

Ka7 ba: Ka8 Ka7 Kb6:

W.

Andersten.

1. Tf5:! 2. Dh5 3. Dh6

gf: Dd6 Aufgegeben.

Hier noch einige glänzende Mattführungen: Kolisch.

Hirschfeld.

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Scb.

Lc7 + Sb5f Sd6 Te8f De8+ Sb5f

Kc7: Kd8 Dd7 De8: Kc7

W.

Tarraach.

K. Eckart.

1. . . . 2. Kf2: 3. Le3

Df2f Tdlf Le3f

W.

Dritter Teil.

192

Winawer.

W.

1. D g 5 f ! 2. T e 8 | 3. T f 8 f

Dg5+ Lf8

O. Goedel.

1. Dh6f 2. L f 8 f

Seh.

Carl Schultz.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Sd5 Lc7: Dg4ü Te6: Sf6f Ld6f! Dc8f Sg8f.

Julius Kitter T. Kleeberg.

W.

Dd8 Dd7 Te6! De6: Kf8 Dd6: Ke7

W.

Kh6:

N.

Sch.

W. Cook.

1. Dh5:!! 2. D h 7 f ! ! ! 3. hg: 4. T h 8 f

W.

Lg5 + Kh7: Kg8

193

Das Wesen im Endspiel.

1. 2. 3. 4.

Achtundzwanzigstes

Dg8+Ü Teg7+! Tg8f Tg7*

Kg8: Kh8 Kh7

Kapitel.

Das Wesen des Endspiels. Jeder Soldat trägt den Marschallstab iiu Tornister. N a p o l e o n I.

Das was in den Lehrbüchern alles unter Endspiel zusammengewürfelt wird, ist zum Teil ohne praktischen Wert für die Partie. Das Endspiel ist die Domäne des Bauernkampfes, wie das Mittelspiel die des Figurenkampfes. In letzterem bildeten die großen Mattkombinationen den Schluß- und Glanzpunkt, in diesem die Metamorphose des Bauern, seine Umwandlung in die Dame. Ist nämlich die Stellung einer Partie eine derartige geworden, daß mit den am Brett noch vorhandenen Figuren sich augenscheinlich keine Majorität mehr erzielen läßt, weil es an genügender Anzahl von Figuren fehlt zu einem erfolgreichen Zusammenspie] gegen den König oder eine andere feindliche Figur (um dieselbe starken Hemmungen zu unterwerfen und dann mit Mehrheit anzugreifen), so muß die Partie als unentschieden aufgegeben werden, wenn nicht noch Bauern am Brett sind, die (da sie die Eigenschaft haben, sich auf der letzten Reihe in eine beliebige Figur zu v e r w a n d e l n ) die Möglichkeit an die Hand geben, durch Schaffung neuer Figuren das Zusammenspiel der übrigen so zu verstärken, daß wieder ein Schachprozeß durchführbar wird. Der D u r c h b r u c h des B a u e r n d u r c h d e n f e i n d l i c h e n B a u e r n w a l l b i s z u r l e t z t e n R e i h e ist also in allen dergleichen Fällen das letzte G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aull

13

194

Dritter Teil.

endgültige Mittel, noch die Partie zu entscheiden, und mißlingt dies, so ist alle Hoffnung auf Gewinn zu Ende. Da nun diese Führung des Bauern nach der letzten Reihe wegen der Langsamkeit seiner Bewegung und der Hindernisse und Gefahren, die bei so weitem Wege ihm von Seiten der feindlichen Figuren drohen einerseits, als auch wegen der Schwierigkeiten, die der Durchbruch des feindlichen Bauernwalls verursacht, ein eigenes sorgfältiges Spiel erheischt, mit dessen Gelingen oder Mißlingen alle Versuche, die Partie zu gewinnen, zu Ende sind, so nenne ich dieses Spiel vorzugsweise Endspiel. Man sagt, das Endspiel sei wesentlich und hauptsächlich Rechenarbeit, und es prävaliere hier der mathematische Kopf. Große Kombinationen sind freilich nicht mehr möglich, dazu fehlt es an Figuren. Aber ist das Mittelspiel die beste Partiephase für großangelegte Kombinationen, glänzende Mattführungen, erstaunliche Figureneroberungen, so ist das Endspiel die Partiephase für tiefe, großangelegte Pläne, weitvorbereitete Hineinführungen der Bauern zur Dame. Nur wer es vermag, weitsichtige Dispositionen zur Vorbereitung der Bauernmetamorphose zu konzipieren, kann im Endspiel große Erfolge erzielen. Mit einem Bauer in dem rechten Moment zur Dame stürmen, unerschrocken, unbeirrt, in der sicheren, klaren Voraussicht, daß man ankommen muß am Ziel und dann alles gewonnen ist, das erfordert eine so weitsichtige, scharfsinnige Erfassung der Position, wie sie nur dem genialen Spieler zu Gebote steht. Phantasie, Urteilskraft und geniale Konzeption sind auch hier die besten Eigenschaften; dazu aber kommt allerdings auch Rechnungstüchtigkeit. Weil hier von einem Tempo, einem Zuge mehr oder weniger oft Heil oder Verderben abhängt. Neunundzwanzigstes Kapitel. Der Ourchbruch des Bauern im Endspiele. Was du tust, tue klag und bedenk« das Ende. Gesta Romanorum.

Der Bauer, der zur Dame geht, hat einen langen, mühsamen und gefahrvollen Weg zurückzulegen. Die Zugstraße, die er gehen muß, ist von feindlichen Bauern versperrt oder bedroht. Er muß diesen Bauernwall erst durchbrechen, um Aussicht zu haben,

Der Durchbruch des Bauern im Endspiele.

195

das letzte Feld zu erreichen, oder wie die Theoretiker sagen, er muß f r e i g e m a c h t werden, zum F r e i b a u e r werden. Mit diesem Durchbruche tritt die e n t s c h e i d e n d e K r i s i s im E n d s p i e l e ein. Es fragt sich dann: Kann ihm der Gegner noch den Eintritt in die Dame wehren durch Besetzung des Eingangsfeldes mit einer Figurenmajorität oder nicht? Es ist der letzte harte Kampf um den Besitz des Umwandlungsfeldes, der das Schicksal der Partie endgültig und unwiderruflich entscheidet. Wenn der Gegner dieses wichtige Feld preisgeben muß, dann bleibt ihm nichts weiter übrig, als den Bauer im Augenblick, wo er es betritt, zu schlagen gegen Hingabe einer Figur, um wenigstens die Erstehung einer neuen Dame zu verhindern. Durch den erlittenen Figurenverlust wird aber sein Spiel so geschwächt, daß sicherer Untergang unvermeidlich ist. Andrerseits aber drohen dem freigewordenen Bauer auf seinem Wege nach der Dame stete Gefahren. Er, der kurzschrittigste Stein, der nur Feld um Feld rücken kann, vermag sich einem Überfall feindlicher Figuren nicht durch schleunige Flucht zu entziehen, er muß also fast immerfort geschützt und geleitet werden; bedarf gewissermaßen einer Eskorte, die ihn vor feindlichen Anfällen sicher stellt, muß, wie die Theoretiker hier sehr bezeichnend sagen, hineingeführt werden zur Dame. Zwei wichtige Aufgaben sind also im Endspiel zu erfüllen: 1) D u r c h b r u c h des B a u e r n durch den feindlichen Bauernwall ( F r e i m a c h u n g ) ; 2) E s k o r t i e r u n g desselben durch den König oder andere Figuren auf seinem Weg zur Dame ( H i n e i n f ü h r u n g ) . Im Mittelspiel war der Durchbruch unserer F i g u r e n in die feindliche Stellung das Hauptmoment, im Endspiel ist es der Durchbruch unserer B a u e r n . Es bedarf derselben Kunst, die feindlichen Figuren in ihren Bewegungen zu unseren Gunsten zu beeinflussen wie im Mittelspiel. Auch hier wird daher wieder nur der mit schöpferischer Ge j staltungskraft begabte Spieler Großes zu leisten vermögen. Die Endspiele M o r p h y s können als glänzende Beispiele und lehrreiche Proben guter Endspielführung gelten, da dieser geniale Meister auch hier in präziser, energischer und ideenreicher Spielführung unerreicht dasteht. Ich gebe nun einige Beispiele, die dies alles viel klarer und anschaulicher machen werden. 13*

196

Dreißigstes

Kapitel.

Beispiele für den Durchbruch des Bauern zur Dame. Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen. ( C a l d e r o n , „Das Leben ein Traum".) Heek.

Scb.

1. 2. 3. 4.

Freimachung. Se4xd6 Te6xd6 Te3—d3 Tf8—d8 Td3xd6 Td8xd6 Tdl x d6 c7 x d 6

Hineinführung. 1. c6—c7 Dh6—e6 2. D a 3 x d 6 De6—c8 3. Dd6—d8f Dc8xd8 4. c 7 x d 8 D f Morphy. Dechapelles.

Sch.

Berger.

Sch.

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H 1Ä 811 • •A A&

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Cochrane.

Hineinführung. 1. Td8f ! ! Td8: 2. Tf8f! Kf8: 3. c d : D t

W.

H. y« Gottscbali.

1. 2. 3. 4.

W.

Hineinführung. De6f! Te6: Df8: Td8f Tf8f Kf8: gh: aufgegeben.

Beispiele für den Durchbrach des Bauern zur Dame. Amaeur.

Seh.

Morply.

W.

Freimachung. 1. Tg6! Dg6: 2. D g 6 : hg: Hineinführung. 3. h7 Telf 4. K e l : Ke7 5. L g 8 u n d gewinnt.

197

Thompson.

1 2. 3. 4.

Freimachung. a7—a5 Kg2—f3 a5—a4 Kf3—e2 Lc5—d4 Ke2—d3 Ld4xb2

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Hineinführung. Sd8—f7 Lb2—e5 Kd3—c2 Kd5—c4 Sf7—d8 a4—a3 Sd8—b7 a3—a2 Sb7—a5f Kc4—b4 Sa5—b3 Kb4—a3

W.

198

Dritter Teil.

Segala.

Sch.

Stamina.

Sch.

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l I

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Morphv. 1. 2.

W. Freimachung. f4—£5 g6 x f 5 g4 x f 5 h6—h5

3. L c 5 — b 6 4. e5—e6 5. f5xe6t

Sd8—b7 i l x e6t Kd7—e7

m «.„,„ c ü m Sé 0à Jm.

w.

1. 2. 3. 4. 5.

Hineinfährung. Lei! Lei: b6 Le3 b7f Ka7 b8Dt Ka6 D a 8 f und gewinnt.

Hineinführung. 1. K d 5 — c 6 Sb7—d8| 2. L b 6 — d S f Ke7xd8 3. K c 6 — d 6 Kd8—e8 4. e 6 — e 7 u n d gewinnt. N.

Sch. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Statuite.

W.

h7f! h8D Kf7 Lf6| Kf6: g7 Kf7 g8D Dg3 Dh4f

Kg7 Kh8: Tflf Tf6f Kg8 Kh7 Kh6 Kh5 Kh6

Beispiele fur den Durchbruch des Bauern zur Dame.

Morphy.

Freimachung. 1. . . . Th8 2. hg: Th7: 3. gh: Kd7 Hineinführung. 1. Lg7 beliebig 2. h8D Paulsen.

W.

Sch.

Morphy.

199

W.

Freimachung. Dh3xf5 Df4xf5 e6—e7f und setzt in zwei Zügen matt.

Lolli.

Sch.

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Wm L j i f l L J f c Morphy.

Hineinführung. 1. Kd4: 2. c7 Th8 3. b6 Kc5 4. b7 und aufgegeben.

W.

W

Hineinführung. 1. Tb5! Kb5: 2. b7 blD 3. b8D und gewinnt.

200

Dritter Teil.

Lasker.

Freimachung. 1. Dg8fü Kg8: Hineinführung. 2. f7f Kf8 3. La3f Ta3: 4. Se6f Ke7 5. f8D Kd7 6. D d 8 f

W.

Hiheinführung. 1. Tc8f Tc8: 2. Da7f! Ka7 3. bc8: S und gewinnt.

Einunddreißigstes Kapitel. Die Metamorphose des Bauern. Wie wird mein Pudel lang und breit! Er hebt sich mit Gewalt, Das ist nicht eioes Hundes Gestalt! Welch' ein Gespenst bracht' ich ins Haus. Schon sieht er wie ein Nilpferd aus. G o e t h e , FaustI.

Aus der stillen Raupe entpuppt sich der muntere, lebensvolle Schmetterling. Erst ein träger Wurm, dann ein leichtbeschwingter Sommervogel. Der schwache Bauer verwandelt sich in die machtvolle Dame. Erst der lahmste Stein am Brett, dann der beweglichste, glückt es ihm, das Umwandlungsfeld zu erreichen. Dieses Feld ist für ihn die Pforte des Paradieses. Hier tauscht er seine schlichte Bauernnatur gegen die Gestalt irgendeiner kraftvollen Figur.

201

Die Metamorphose des Bauern.

Der Augenblick entscheidet ! Oft wird er als Springer, Läufer, T u m einzige Dienste verrichten, wo er als Dame gänzlich versagt. Darum keine Voreiligkeit, keine Überstürzung bei der Metamorphose. Wo die machtvolle Dame nur ein armseliges Patt erzwingt, triumphiert ein Springer, Läufer, Turm oft leicht. Beispi«le sollen es zeigen. Wieie.

Sch.

W.

1. Ta8 2. c b : L 3. L e 5 f

Shinimaim.

Lb8 ~

Anonymus.

Seh.

Labooe.

W.

Hineinführung. 1. Tf8f Tf8: 2. D h 7 f ü Kh7 3. gf8Sf u. gewinnt. Sch. •MvZv//.

1. Da3 2. c8L! 3. L f 5 f

Kbl Kc2

202

Dritter Teil.

Galitzky.

Sch.

Shinkmann.

Sch.

JBLjBlwmwm. yma wm- Ä m mm WMW/

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1

m.

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wm, | B L „„ wm. Ä wm m .wm., wm„ Ü J ü Ww 1. 2. 3. 4.

Lf7 gf: f8T! Th8=f=

Lf7: Kh7 Kh6

1. 2. 3. 4.

c8T! Kc2 Tc4: Ta4f

Ka2 K~ K~

In allen diesen Fällen hätte die Metamorphose in eine Dame zum Patt geführt. Die letzten drei Stellungen sind entnommen den „Schachminiaturen" von 0 . Blumenthal. Die anregendste Sammlung von Problemen! Ganz wenig Figuren, durchaus wohlgefällige Stellungen und welcher Reichtum an Ideen! Wer sie kennt, wird Problemfreund! (Verlag V e i t & Comp., Leipzig.)

Zweiunddreißigstes Kapitel. Zwei unheimliche Faktoren des Endspiels. Die Notwendigkeit kennt keine Gründe. CurtiuB VII.

In vielen Endspielstellungen, wo nur mehr die Könige und wenige Bauern auf dem Brette stehen, greifen zwei gleichsam elementare Momente hemmend in den Gang des Spieles ein, beeinflussen seinen natürlichen Verlauf und fördern ganz unerwartete Resultate zutage. Es sind dies: 1) das Patt; 2) der Zugzwang.

203

Über das Patt.

Nur wenn man diesen doppelten Druck, der auf vielen Endspielen lastet, verstellt und stets im Auge behält, wird man die oft so verschiedenartigen Resultate bei ähnlichen Stellungen begreiflich finden und hierin gleichsam das blind wirkende Fatum im Schachspiel erkennen, wo durch eine höhere Macht (nicht die der Spieler) die Figuren sich bewegen müssen, und wenn sie auch direkt ins Verderben rennen. Der kluge Spieler wird daher solche Stellungen, wo nicht er mehr Herr seiner Figuren ist, möglichst zu vermeiden suchen und sich hüten, die l e t z t e Figur abzutauschen, wenn der Vorteil davon nicht augenscheinlich ist und auf der Hand liegt. In Stellungen, wo außer den beiden Königen noch die eine oder andere Figur am Brett ist, kommen diese beiden Phänomene natürlich weit seltener und nur ganz ausnahmsweise vor, geben aber dann oft Veranlassung zu unerwarteten, äußerst überraschenden Wendungen und zu geistvollen, ideenreichen Schlußspielen.

Dreiunddreißigstes

Kapitel.

Über das Patt. Zeige bei trübseliger Zeit dich tapfer Und von unerschüttertem Mut, doch lern' auch, Schwellt ein allzugünstiger Wind das Segel, Kittglich es einziehen! H o r a z , Oden.

Das P a t t übt einen starken Druck auf die stärkere Partei aus, indem dieselbe immer unter dem Zwange sich befindet, dem Gegner seine Zugfreiheit nicht ganz zu rauben, weil sonst das Spiel nicht fortgesetzt und daher auch nicht gewonnen werden kann. Durch diese Notwendigkeit muß er viele Züge, die für ihn sonst gut wären, unterlassen und Stellungen, die auf den ersten Anblick gewonnen scheinen, Remis lassen. Das Patt ist die vollständige, totale Hemmung aller Steine einer Partei, ohne gleichzeitigen Angriff auf ihren König. Kann aber kein Stein sich bewegen, so kann auch kein Zug gemacht und die Partie nicht fortgesetzt werden. Sie ist null und nichtig, gezwungenermaßen unentschieden. Das Patt ist daher der Strohhalm, an den sich der auf Verlust stehende Spieler klammert, um eine total verlorene Partie noch im letzten Augenblick zu retten.

204

Dritter Teil.

Und es glückt ihm nur dann, wenn die siegesgewisse Partei ungeschickt oder leichtsinnig genug ist, ihm alle Zugfelder zu nehmen. Der Gewinner in spe ist dann um den Sieg geprellt. Er hat es aber auch nicht besser verdient. Den Gegner in die Unmöglichkeit zu versetzen, seiner elementarsten Pflicht nachzukommen, ist die größte Dummheit, die ein Spieler begehen kann im Siegesrausch und Gewinntaumel, und fordert Spott und Hohngelächter heraus. Sich selbst aber in diesen heillosen Zustand zu versetzen, in hoffnungsloser Lage durch feine, versteckte Züge oder zwingende Opfer, ist immer eine große Heldentat und findet überall Lob und Preis. Darum muß der siegesfreudige Spieler mit Argusaugen wachen, daß er nicht noch knapp vor dem Ziele strauchle. Er muß sich hüten, solche Stellungen aufzubauen, wo das Patt, dieses letzte Rettungsmittel der Verzweiflung, in der Luft liegt. Da aber im gegnerischen Spiel schon lange vorher sehr schwere und viele Hemmungen vorhanden sein mußten, wenn es überhaupt zu einer Pattstellung soll kommen können, so ist bei einiger Achtsamkeit das Übel wohl und leicht zu vermeiden. Manchmal läßt sich das Patt allerdings durch feine, überraschende Opfer erzwingen, namentlich wenn es gelingt, den Gegner vor die unangenehme Wahl zu stellen, unsere letzte bewegliche Figur zu schlagen oder in Nachteil zu geraten. „Zwischen Lipp' und Kelchesrand Schwebt der finstern Mächte Hand." Vierunddreißigstes

Kapitel.

Beispiele zum Patt. Fürchterlich iBt einer, der nichts zu verlieren hat. G o e t h e , Die natürliche Tochter.

Not macht erfinderisch. Schon manche grundverlorene Partie wurde durch teuflisch ersonnene, tiefversteckte Züge noch gerettet. So reich ist das Schachspiel an Hilfsmitteln, daß selbst im letzten Augenblick, wenn alle Stricke reißen und der Untergang unabweislich droht, ein erfinderischer Kopf zuweilen sich noch zu helfen vermag. Dies sollen die folgenden Beispiele zeigen.

Beispiele zum Patt.

Bier.

W.

Durch ein verblüffendes Damenopfer erzwingt P a u l s e n das Patt. 1. Tfg7: Dg3+Ü 2. K h l Dg2f! 3. Kg2: patt.

205

J. G. Campbell.«

W.

Weiß rettet sich durch ein außerordentlich fein erdachtes, schwer zu durchschauendes Manöver. 1. Ld2! g2 2. La5 glD 3. b4 und ist patt.

Riock.

1. 2. 3. 4.

Lf5 Th2f Tg2 Tcg3

Lf5: Kg7 Le4 Dg3: patt.

w. * Handbuch der E n d s p i e l e von Berger, eine Arbeit von erstaunlichem Fleiß und großer Gediegenheit. Wohl das Beste auf diesem Gebiet! (Verlag Veit & Comp., Leipzig.)

Essen.

W.

B a r m e n greift zu schnell zu, mit 1. . . . Kg2: gewänne er leicht, mit 1. . . . Kh4: bringt er seinen König in eine Pattstellung. 1. . . . Kh4: 2. Kf4 g5f 3. Kf3 g4f 4. Kf4 g3 5. Kf5 patt.

Snosko-Borowski.

W.

Eine verzweifelte Stellung, aber Weiß findet einen Zug, der seinen Gegner um den Gewinn bringt. 1. Ta8! Ta8: 2. h8D Th8: 3. patt.

Hier noch einige Pattkompositionen bedeutender Meister: Rinck.

Sek.

1. Lf5! 2. Ke3! 3. Tdlf

w.

patt.

gi: blD Ddl

w. 1. .23. 4. 5.

Td8f Tg8f Tg6f Sf5f Df6f

Jiamdheim.

1. Tf8t 2. Sg6f 3. h g f

Kg7 Kh6 fg: giSf6:

w. 1. 2. 3. 4.

fef Tel! Lb3f Sg5f

Ke6 bcS! Sb3: Lg5:

patt. Sch.

W. Tf8: hg: Dh2: patt.

Binck*

Sch.

1. 2. 3. 4.

Le4| Kc8 Ld5! Lc6!

w. Sb7 Da6! b4 Dc6: patt.

* 150 E n d s p i e l - S t u d i e n von H e n r y Rinck,' einem großen Meister dieses Faches, elegant, lebensvoll, überraschend, auch dem Schachpr&ktiker interessant. (Verlag Veit & Comp., Leipzig.)

208

Dritter Teil.

W.

1. 2. 3. 4. 5.

g7 Sd3f! g8D Kg4 Kf3! patt.

Pillsbury.

Tel! ed: Thlf Tglf Tg8:

1. . . . 2. D g 2 f ! patt.

Fünfunddreißigstes

W.

Dfl Dg2

Kapitel.

Über den Zugzwang. Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb. S e l i i l l e r , Die Braut von Messina.

Zugzwang ist der zweite Druck, unter dem beide Parteien oft im Endspiel leiden, wenn nur mehr Könige und einige Bauern am Brett sind. Wenn dann diese letzteren sich gegenseitig noch den Weg versperren, sich in ihren Bewegungen beschränken, so tritt, da der Zugpflicht unter allen Umständen genügt werden muß, für den schwächeren Teil fast immer, für den stärkeren aber auch oft die Notwendigkeit ein, den König zu bewegen ä tout prix und hierdurch günstige Positionen aufzugeben und in ungünstige Stellungen gedrängt zu werden. Zugzwang — der Namen schon sagt es — ist der absolute, brutale Zwang, zu ziehen. Ob nun dadurch der Schlüssel der ganzen Stellung preisgegeben, ob materieller Verlust, ob ein unabwendbares Matt möglich werde, gleichviel, es muß gezogen werden.

209

Über den Zagzwang.

Die Zugpflicht, die elementarste, unabweislichste Pflicht im Schach muß durchaus erfüllt werden. Nur in zwei Fällen muß sie unterlassen werden: beim Matt und beim Patt, weil in beiden Fällen sie auszuüben keine Möglichkeit da ist. Beim Matt, weil der König weder fliehen noch sich decken kann; beim Patt, weil keine Figur zugfähig ist und die Partie in beiden Fällen sofort aus ist. Beim Matt kann der König nicht mehr geschlagen werden, weil der Gegenzug fehlt, beim Patt kann deshalb die Partie nicht fortgesetzt werden. Der Zugzwang ist dem Patt verwandt, insofern auch er voraussetzt, daß alle feindlichen Figuren gehemmt, unbeweglich sind — bis auf die eine oder andere, welche man dann auf ganz bestimmte Felder zwingen kann dadurch, daß man ihr alle anderen ungangbar macht. Es genügt aber in vielen Fällen schon, sie überhaupt zu einer Bewegung zu nötigen, wenn sie dadurch einen wichtigen Verteidigungspunkt aufgeben muß, mit dessen Fall das Schicksal der Partie entschieden ist. Die Zugzwangszüge üben wie die Schachzwangszüge absoluten Treibzwang aus. Mit elementarer Gewalt werden die gegnerischen Figuren in die trostlosesten Lagen gedrängt und zu den zweckwidrigsten, abenteuerlichsten Bewegungen genötigt. Zuweilen gelingt es auf diese Weise, Stellungen von wunderbarer Kunst und Feinheit aufzubauen, die das Auge jedes Schachfreundes entzücken, und so denkwürdige Siege zu erkämpfen. Hier einige Beispiele: Morphy.

Seh.

M o r p h y am Zuge spielt 1. . . . K a 3 ! . T h o m p s o n muß nun, da er unter Zugzwang steht, einen der beiden Verteidigungspunkte aufgeben. Zieht der Springer, so geht der Bauer in die Dame, zieht der König, so ist der Springer verloren. Er gibt daher die Partie auf. Thompson.

W.

G-utmayer, Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

14

210

Dritter Teil.

Thomas.

Sch.

Morphy.

W.

P. Morphy.

Sch.

T h o m a s leidet in dieser Stellung unter dem Drucke des Zugzwangs. Zieht der Turm von der Randlinie weg, so geht der hBauer in die Dame. Zieht aber der König, so folgt 1. h8D und nach 1 . . . . Th8:, 2. Ta8f, und der schwarze Türm geht verloien. Er muß also dem weißen König das Feld c5 freigeben und die schwarzen Bauern gehen verlogen 1. . . . Th4t, 2. Kc5 T M f , 3. Kc6: und gewinnt.

Herlin.

Sch.

W.

W.

Eine Seltenheit! Eine problemartige Komposition von Morphy! Schwarz steht unter bitterem Zugzwang. Er kann genötigt werden, das Feld b7 dem weißen Bauer freizumachen, zu räumen. Das Matt ist dann unabwendbar. 1. Ta6! ba: 2. b 7 f

Weiß zwingt die schwairzen Figuren, die Mattdeckung autfzugeben. 1. Thl Ka8! 2. T a l f Sa7 3. b6 Sc6 4. Ta6ü 5. b 7 f oder T a 7 f

211

Über den Zugzwang. Loyd.

Scb.

Cheney.

Sch.

W.

W.

Weiß erzwingt die Verstellung des letzten Fluchtfeldes des schwarzen Königs.

Weiß zwingt den schwarzen Springer, die Mattdeckung aufzugeben.

1. Sh3! 2. Kf2! 3. Sg3f

Cheney.

gh: h2

1. 2. 3. 4.

Le6 Sd4 Lf2ü b7f

Se6: Sd4: S~

Seh.

Weiß zwingt den b-Bauern, sich gegen den Läufer zu tauschen. 1. 2. 3. 4.

Lc4! Kb3 Kc4: Ta6f

b5 bc: Ka4

14*

212

Dritter Teil.

Galitzky.

Sch.

•A,

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A ^

IM" 'Wk *

w. Weiß zwingt den schwarzen b-Bauer, seinem Bauer das Feld zu räumen. b5 1. L d l ! b4 2. Kc5 ba 3. Sa3! 4. b 4 f

Weiß zwingt den g-Bauffirn, sich einzustellen auf g4, wo ihn der weiße Bauer schlägt rand mattsetzt. 1. h3! gh^! 2. Kf4 g5f 3. Kf5 g4 4. h g : *

Morphy.

w.

Da die schwarzen Bauernzüge schnell verbraucht sind,, so wird der schwarze König aus seiner Verteidigungsstellung duirch den Zugzwang herausgewoirfen und der weiße e-Bauer gehtfc in die Dame. 1. e7! b4 2. h4! Kf7 3. Kd7 und gewinnt.

Über den Zugzwang.

213

N.N.

Sch.

Salve.

W.

"VV.

Weiß erzwingt die Freimachung seines g-Bauern, der nun in die Dame geht und in fünf Zügen matt setzt. 1. Tdif Tbl Tel 2. Tel! 3. Kcl : h5 4. gh: g4 5. h6 g3 6. h7 g2 7. h8D=|=

Weiß baut eine Mattstellung durch Zugzwang auf. 1. Dc8! a2 2. L a l ü Kai: 3. D c l f

Cai'penter.

Bayer.

Sch.

Sch.

Weiß zwingt den g-Bauern, seinem König das letzte Fluchtfeld zu nehmen. 1. Th3! gh: 2. Sg4! h2 3. Sf2f

w.

Dritter Teil.

214 Galitzky.

W.

Rosenberg u. Hofmann.

Sch.

W.

W.

Weiß zwingt den Gegner, seine Pattchance aufzugeben, ohne ihn aus dem Mattnetz zu lassen. 1. Lf6! gf: 2. Kf8 3. Sf7f

Weiß zwingt den b-Bauern, seinem König ein Fluchtfeld zu verstellen. 1. Dg2 f3 2. Df2! b2 3. Da7f

Die 4 letzten Stellungen sind aus den „ S c h a c h m i n i a t u r e n " .

Troitzky.

Sch,

Weiß zwingt den g-Bauern, dem schwarzen König das einzige Fluchtfeld zu nehmen. 1. Lc6! Tblf! Thl:! 2. Ke2 Kg2: 3. Lg2tü 4. Sf4| Kgl 5. Rèi ! ! g2 6. Se2f W.

Kurzer historischer Überblick.

215

Sechsunddreißigstes Kapitel. Kurzer historischer Überblick. Das Leben liebt und haßt, der Toten Buhm Ist der Geschichte heilig Eigentum. G r i l l p a r z e r , Napoleon I.

Jeder Gartenfreund weiß, daß Obstbäume, die ein Jahr besonders stark tragen, das nächste aussetzen. Die Natur scheint eine ununterbrochene Produktivität nicht zu vertragen und auf stark produktive Epochen gern unproduktive folgen zu lassen. Diesen Wechsel tätiger und passiver Zeitläufte zeigt auch die Welthistorie und — die Schachgeschichte. Es gibt zwei ursprüngliche Richtungen in der menschlichen Natur: eine defensive, weibische, listig-hinterhältige und eine wuchtig aggressive, männliche, wagemutige. Diese prägen den ganzen Partiestil und führen auf einer Seite zu verrammelten, verschanzten Stellungen, zu listigen, versteckten Schleichzügen und geduldiger Maulwurfsarbeit, auf anderer zu kühnwuchtigen, scharfen Angriffen. Dem zähen Defensivspieler stehen die großen Angriffsspieler drohend gegenüber. Es scheint nun, als ob eine gewisse Erschöpfung an aggressiven Genies von Zeit zu Zeit eintreten müßte. In diesen Intervallen treten dann die fleißigen, geduldigen Defensivspieler in- den Vordergrund und erlangen eine gewisse Geltung. Große, gewaltige Anregungen vermögen von ihnen nicht auszugehen, da ihr ganzer Stil kleinlich-zaghaft ist und auch künstlerisch unbefriedigend. Aber sie füllen die Lücke aus, sind so lange die Helden des Tages,- bis ein neuer Schachheros sie in ihre Dunkelheit zurückscheucht. — Im achtzehnten Jahrhundert tritt aus der Nacht der Vergessenheit ein glänzender Stern erster Größe: der Araber S t a m m a . Er schenkt der Schach weit h u n d e r t W e t t s p i e l e , entzückt sie durch hohen Ideenflug und bisher' unbekannte Kombinationskraft. Ihm ebenbürtig folgen die drei großen modenesischen Meister: R i o , Lolli und P o n z i a n i , und es blüht die italienische Schule auf. P a o l o di Boi, Michele il Moro, G i a c o m o G r e c o , P o l e r i o , große, kühn-gewaltige Praktiker, Meister des Angriffs, ersinnen neue kühne Angriffsspiele (das Muziogambit), begründen durch geistvoll aggressive Spielweise den großen Stil und hinterlassen

216

Dritter Teil.

eine Reihe klassischer. Proben ihrer Kunst. Ein duftiger Blumenstrauß. Es tritt eine Pause ein, und der französische Meister P h i l i d o r , der erste große Defensivspieler, der Schätzer, ja Überschätzer der Bauern, macht von sich reden (1777).

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,1 am no gambler!" (Ich bin kein Berufsspieler!)

Faul llorphy.

War der Angriff die Seele der großzügigen Spielweise der I t a l i e n e r , so zeichnet sich sein Stil durch klug-vorsichtige Defensive aus. Die Figuren dienen vornehmlich zur Durchführung feiner, weitvorbereiteter Bauernmanöver. Kühne Kombinationen fehlen ganz. Dagegen ist er ein erstaunlich scharfer Rechner. Diese Präzision seiner Rechenkunst hat ihm eine theoretische Berühmtheit eingetragen. Seine Spielrichtung tritt in den Hintergrund, sowie das gewaltige Dioskurenpaar: der Franzose L a b o u r d o n n a i s und der Engländer M a c d o n e l l (1834) zum Kampfe um die Welt-

Kurzer historischer Überblick.

217

meisterschaft in die Schranken treten. 80 hart ausgefochtene Wettspiele produzieren sie und entzücken die Schachwelt durch großangelegte, tiefdurchdachte Kombinationen, seltene Geistesblitze

,Der Gegenangriff ist die beste Verteidigung."

Adolf Anderssen.

und eine kräftige, gesunde Spielführung. Um sie scharen sich bedeutende Talente, wie Captain E v a n s , C o c h r a n e , L e g a l , D e c h a p e l l e s u. a. Auch sie sinken ins Grab und es folgt eine stillere Zeit. Zwei andere Kämpen treten in die Arena (1843): der Franzose St. A m a n t und der Engländer S t a u n t o n . Es sind keine produktiven Naturen.

218

Dritter Teil.

Ihre Spielart zeigt ängstliche Zurückhaltung und kleinliche Defensive. Sie gehen fast spurlos vorüber. Aber schon hat sich die große Rasse der Angriffsspieler neu verjüngt. Ihr größter Held, ihr stolzester Sprößling und höchster Genius, der junge Amerikaner Paul Morphy, der Meister aller Meister, wagt 1858 die Meerfahrt, um die großen europäischen Meister seiner Epoche ( S t a u n t o n , L ö w e n t h a l , Harrwitz, Anderssen) zu besiegen und in den Staub zu treten. Er geht mit dröhnenden Heroenschritten über die Weltbühne — unerreicht, unbesiegt und läßt der erstaunten, begeisterten, enthusiasmierten Schachwelt eine glänzende Perlenschnur wundervoller, kühn-gewaltiger Meisterpartien, klassische Kunstwerke, zum ewigen Andenken zurück. Die Epoche ist überreich an großen Schachgenies, und die große Höhe, zu welcher der Schachgenius sich aufschwingt, läßt einen tiefen Fall vorausahnen und fürchten. Zugleich mit Morphy steht in Deutschland der große Turnierheld und tiefe Schachdenker Adolf Anderssen auf. Ein genialer Geist, der alle Provinzen der Schachkunst mit gleicher Meisterschaft beherrscht, ein großer, gewaltiger Praktiker und ein bahnbrechender Problemdichter ist. Um ihn scharen sich alle jungen Talente (Hirschfeld, Neumann, Suhle, Zukert o r t , S c h a l l o p p u. a.). K o l i s c h , der österreichische Matador, auch ein Meister des großen Stils und dem vorigen ebenbürtig, gefeierter Turnier- und Matschsieger, begründet die Wiener Schule und vereint alle jüngeren Talente um sich (Weiß, E n g l i s c h , F a l k b e e r , Marco u. a.). Gleichzeitig lebt auch ein großer Defensivspieler: Louis Paulsen. In seiner Art bahnbrechend und bedeutend, kann er aber neben so vielen großen Helden nicht zur vollen Geltung gelangen. Man kann ihn den großen Verteidiger nennen. Er weicht den Angriffen seiner gewaltigen Zeitgenossen nicht aus, er sucht sie zu widerlegen, durch kühne Verteidigungsmanöver abzuschwächen und unwirksam zu machen. Er feiert manchen schönen Sieg. Eine Reihe glänzender, tiefsinniger Partien blühen wie duftige Märchenblumen empor, berauschen und entzücken. Die großen Meister des Angriffs sterben hin und haben keinen Erben. Es tritt eine unproduktive Zeit ein. Auf die hellen Sonnentage folgen graue Nebel und ein böses Regenwetter. Wann wird es wieder schön ? Man fäpgt an, mit Uhren zu spielen. Das einzige Mittel gegen eine Taktik, die durch Hin- und Herziehen, durch unverhältnismäßigen Zeitverbrauch den Gegner totzusitzen droht.

Kurzer historischer Überblick.

219

Schon Louis P a u l s e n war in dieser Art fürchterlich. In einer Turnierpartie gegen M o r p h y verbraucht er 15 Stunden, dieser nur 4. Die Welt hat keinen Meister mehr, aber sie bekommt dafür von nun an — Weltmeister.

„Jedes Gambit läßt sich verteidigen, es abzulehnen, halte ich für eine Schwäche." Louis Paulsen.

Es tritt nun ein großer Meister der Defensive auf: der Österreicher Wilhelm S t e i n i t z , der die Bauern wieder in den Vordergrund rückt, alle kühnen Opfer verfehmt und eine feine Minierkunst lehrt. Er empfiehlt die Akkumulierung kleiner, minutiöser Vorteile als solides, gewinnbringendes, gefahrloses Geschäftsverfahren (er war Professionsspieler) und warnt vor allen großen opfermutigen Unternehmen, die er als schwindelhaft und unsicher perhorresziert. Er nimmt den Kampftitel „ W e l t m e i s t e r " an. Er hat eine Menge gelehriger Schüler in allen Weltecken ( L a s k e r , T a r r a s c h , R u b i n -

220

Dritter Teil.

s t e i n u. a.), große Talente in ihrer Art, die seine Kunst weiter ausbauen und vervollkommnen. Im Matsch bleibt er bis in sein spätes Alter unbesiegt, und erst dem jungen E m a n u e l L a s k e r gelingt es mit Glück und

„Der Eckbauer ist der stärkste Bauer, weil er von dem feindlichen König am weitesten ab ist." Wilhelm Steinits.

K r a f t , den spätjährigen, alternden Mann in den Staub zu ringen. Er trägt als Beute den Weltmeistertitel aus dem Kampf davon, den er energisch mit hoher Kunst und Überlegenheit gegen alle Prätendenten ( T a r r a s c h , J a n o w s k i , M a r s h a l l , S c h l e c h t e r u.a.) festhält.

Schlußwort zum dritten Teil.

221

Trotz mancher großartigen Talente ( P i l l s b u r y , T a r r a s c h , R u b i n s t e i n , S p i e l m a n n u. a.) bleibt diese Periode unproduktiv. Künstlerische Leistungen im großen Stile bleiben ihr versagt. Nur einmal scheint es, als ob die große Rasse der Angriffsspieler wieder Oberhand gewinnen würde. Der junge Ungar C h a r o u s e k schreitet mit Glanz und Glück schnell die Staffeln zum höchsten Ruhm hinauf. Eine kühn-machtvolle Spielweise zeichnet ihn aus und er erinnert an die dahingegangenen Heroen. Aber siehe da, eine tückische Krankheit stürzt den jungen, verheißungsvollen Kämpfer ins frühe Grab. Seine Partien, Juwelen der Schachspielkunst, kaufen die Engländer auf. Und so steht die edle Rasse der Angriffsspieler wieder verwaist und harrt noch eines neuen großen Helden. Aber Geduld, laßt erst wieder einen Genius kommen, der das Gesetz seines Wirkens in der eigenen Brust trägt, und das Licht seines Geistes wird mit sonniger Kraft alle diese dunklen Nebel und dieses Meer von Finsternis verjagen, und alles Schachvolk wird wieder zu seinen alten Heiligen wallfahren und sie aus der Rumpelkammer holen, und vor allem seinem größten Propheten wieder Altäre errichten und Weihrauch streuen — dem amerikanischen Schachheros P a u l M o r p h j .

Siebenunddreißigstes

Kapitel.

Schlußwort zum dritten Teil. Fürst und Volk und Überwinder, Sie gestehn zu jeder Zelt, Höchstes GIDck der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit. Goethe.

Das Buch ist zu Ende. W o r a u f es in der S c h a c h p a r t i e a n k o m m t , ist darin unzweideutig und klar zum ersten Male ausgesprochen. Mehr als dies kann wohl ein Schachbuch nicht gut leisten. Die S c h a c h s p i e l k u n s t s e l b s t ist im höchsten Sinne ebenso u n i e h r b a r wie jede andere Kunst. Sie bedarf als unentbehrliches Fundament einer intensiven A n s c h a u u n g s f ä h i g k e i t , die das Wesen jeder Stellung mit klarem Blick durchschaut, und einer hohen G e s t a l t u n g s k r a f t , die in einer künstlerisch schwungvollen Phantasie wurzelt. Beides Gaben, welche die gütige Natur nur ihren Schoßkindern und Lieblingen gewährt. Die Reflexion

222

Dritter Teil.

reicht im Schach (wie in jeder Kunst) nicht aus, sie bringt nur Mittelmäßiges zuwege. Wem «iaher diese Gaben nicht vergönnt sind, der kann zwar immerhin achtenswerte Fortschritte in der Schachspielkunst machen, aber zur Höhe echter, wahrer Meisterschaft wird er nimmer aufsteigen. Ich halte in diesem höchsten Sinne das Schach nicht für lehrbar. Wohl aber kann ich auch denen, die über kein starkes, eminentes Talent verfügen, zum Tröste sagen, daß die Mühe, die sie auf das Studium meines Buches anwenden, durchaus für sie nicht verloren ist, denn sie werden dadurch erst recht befähigt werden, die großen Schachgenies ganz zu verstehen und deren Leistungen voll zu würdigen. Und was kann es nächst der Selbstproduktion Erfreulicheres und Erhabeneres geben, als das Nachempfinden der Schöpfungen großer, seltener Geister? Soweit aber kann es jeder bringen. Wer einen Morphy voll würdigen und ihm nachempfinden kann, steht gewiß geistig sehr hoch, genießt dieselbe reine Freude, die jener empfand bei dem t Schaffen seiner klassischen Partien. Und dies ist ein so hoher Lohn, daß er für alle Mühe reichlich entschädigt. Und so hoffe ich, daß keiner, der mit Ernst und Eifer mein Buch in die Hand nimmt, es unbefriedigt und verdrossen weglegen wird. Unter den Schachfreunden, die mir die Arbeit erleichtert haben, sage ich vor allem meinen Dank den Herren W a l t e r F ü r und O t m a r Schenk in Innsbruck sowie auch der Firma Veit & Comp, in Leipzig, die mir ihre namhaften Bibliotheken bereitwillig zur Verfügung gestellt haben, dann namentlich meinem alten Freund Herrn K a r l S c h u l t z in Hannover, der mich bei Durchsicht des Buches löblich unterstützt hat und auch sonst mit Rat und Tat bei der Hand war. Und so möge nun diese neue Auflage neue Freunde und Anhänger werben einer Spielweise, die nie veralten wird, solange künstlerischer Sinn im Schach nicht ausgestorben ist. Wenn du yon allem dem, was diese Blätter füllt, Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden: So sei mir wenigstens für das verbunden, Was ich zurückbehielt. ( L e s s i n g , Abschied an den Leser.)

Anhang. Aphorismen: Aussprüche und Batschläge. Zwanzig Jabre ließ ich gehn Und genoß, was mir beschicden, Eine Reibe völlig schön Wie die Zeit der Barmelciden. G o e t h e , Diran.

Paul Morphy am Schachbrett. Philadelphia Oktober 1859.

Lewis Elkin.

P a u l Morphy.

224

Anhang.

A) Zum Schachspiel. Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst. Schiller.

(Schachspiel.) Das Schachspiel soll eine geistige Erholung sein nach schwerer Berufsarbeit, ein Sonnenstrahl, der das Alltagsleben verklärt und vergoldet, ein Stückchen blauer Himmel in dem Wolkenmeer der Sorgen und Mühen des Lebens. Das Schach ist ein Weltspiel von kosmopolitischer Bedeutung. M orphy.

Das Schachspiel — das Spiel der hundert Sorgen. Arabisch. Das Wesen des Schachspiels ist zu betrachten als ein Kampf — zweier Gehirne. Em. Lasker. Das Schach ist eigentlich ein Sport, in seinem Wesen aber ist es eine Kunst. — Gewährt nicht das Schach dieselbe ästhetische Befriedigung wie jede andere Kunst? Es ist zwecklos wie jede Kunst. Und ist nicht jede Kunst in ihrem Grund ein Spiel 1 Tarrasch.

Das Schach ist nie etwas anderes gewesen und kann nie etwas anderes sein als ein reines Erholungsmittel; es sollte daher nie zum Nachteil wichtigerer Beschäftigungen getrieben werden und niemals den Sinn seiner Anhänger ganz einnehmen. Morphy. Man hat das Schach als Spiel hingestellt — als ein Ding, das keine ernsten Zwecke haben kann, nur zum Zeitvertreib, zur Erholung gut ist, wohl mit Unrecht. Wäre das Schach nur ein Spiel, nie hätte es der zerstörenden Macht der Zeiten in dem Laufe so vieler Jahre seit seiner Geburt Widerstand leisten können. Enthusiasten wollen das Schach gar zur Wissenschaft, zur Kunst emporheben, wohl unrecht. Sein Hauptcharakter liegt, so scheint es mir, in etwas, was die menschliche Natur am meisten schätzt, im Kampf. Wähle diesen Standpunkt, und das Schach wird dir als ein geschlossenes Ganzes voll innerer Harmonie erscheinen. Em. L a s k e r .

Schach ist dem 'Wesen nach ein Spiel, der Form nach eine Kunst, der Darstellung nach eine Wissenschaft. H. von d e r L a s a .

Mäßig gepflegt, ist das Schach von hohem hygienischen Wert. Es hilft über trübe Stunden hinweg, die den Kränklichen so oft heimsuchen, es lenkt ab von grillenhaften Selbstbetrachtungen, zu denen die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur so reichhaltigen Anlaß gibt. Die Lust am Kombinieren erheitert das Gemüt,

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Zum Schachspiel.

die Fähigkeit in die Zukunft zu blicken erhöht das Selbstbewußtsein und schafft geistige Genüsse, wie sie kaum eine andere Erholung zu bieten vermag. So wird das Schach ein Sorgenbrecher. Es konserviert, stärkt, erheitert und wirkt daher lebensverlängernd. Marco.

( S c h a c h s p i e l e r . ) Alle Schachspieler aus irgendeinem Nebeninteresse, alle, die aus Langeweile, die um Geld zu verdienen Schach spielen, sind zwar Schachspieler — aber keine Schachkünstler. Nur wer aus reiner Passion, aus Liebe zur Schachkunst spielt, das ist der echte Schachkünstler, der nach dem Wahren und Schönen auch im Schach strebt. — Der wahre Künstler ringt nie um bloßen Gewinn, sondern, großherzig der Schönheit einer Idee sich hingebend, um ihre Ausprobung und Durchführung. Gelber. Wer es mit der Kunst ernst meint, soll nicht die Masse der Zähler, sondern den geistigen Gehalt der Partien ins Auge fassen. Marco. Die Vorzüge des Schachspielers sind schließlich doch immer nur Annäherung an das Ideal. Irgendwo hat jedermann eine Schwäche, vorzugsweise eine Schwäche der Furcht, des übertriebenen Mutes oder der ungenauen Beobachtung. Lasker. Es ist schwer geworden, Schach zu spielen. Man muß heutzutage ein großes Talent, ausgezeichnete Schule, vorzügliche Gesundheit besitzen, und dann kann man auch nur zuweilen bescheiden mittun, denn es gibt in der Jetztzeit sehr viele Meister, die über dies alles ebenso frei verfügen. Falk. Es ist nicht genug, daß man ein guter Spieler sei, man muß auch gut spielen. Tarrasch. Ein mittelmäßiger Schachspieler glaubt göttlich, ein bedeutender vernunftgemäß zu spielen. Alb in. Die Tätigkeit des Berufschachspielers hat etwas ungemein Verführerisches: sie ermöglicht ein freies und ungebundenes Dasein, gewährt dem Ehrgeiz Befriedigung und züchtet ihn sogar durch die dem berühmten Schachmeister allwärts in den zuständigen Kreisen zuteil werdende Anerkennung, ihn in aller Herren Länder führend. Er bekommt auf seinen interessanten romantischen Schachfahrten in einem Jahre mehr von der Welt und den gebildeten Kreisen der Gesellschaft zu sehen, als die weit überwiegende Mehrzahl der sonstigen Berufsmenschen ihr ganzes Lebelang! Freilich hat er nicht eigentlich ein festes Haus; er schlägt vielmehr sein Zelt bald hier, bald da auf — trubadurähnlich, wie es das Schicksal oder die Neigung will. Große Reichtümer wird er freilich nicht G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

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erwerben, dagegen, wenn er sein Augenmerk darauf gerichtet hält, einen reichen Schatz von Erfahrungen aller Art zu sammeln imstande sein. Minckwitz. Der Todeszug der Schachmeister führt an Hospitälern, Nervenheilanstalten und Irrenhäusern vorüber! Kraus.

Wettkampf von A n d e r s s e n und S t e i n i t z zu London im Jahre 1866.

B) Zum Turnierspiel. Prüft das Geschick dich, weiß es wohl warum: Es wünscht dich enthaltsam! Folge stumm. Goethe.

Auf Olympiaden bezogen die alten Griechen alle wichtigen Lebensereignisse, auf große Schachturniere der passionierte Schachspieler. Das sind die Marksteine seines Schächerlebens, die Glanzpunkte seiner Schachpraxis.

Zum Turnierspiel.

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Das Turnier ist die Arena, wo er sein Talent der ganzen Welt offenbaren kann, wo sein Fleiß, sein Studium, seine Begabung Anerkennung und Lohn finden. Das Turnier ist das ernste Examen, das er ablegen muß über sein Können. Wo er durchfällt, wie im Schulexamen, wenn er unbefähigt, unvorbereitet, leichtfertig es absolviert, wo er aber, wie dort, das Reifezeugnis erhält: den Titel S c h a c h m e i s t e r ! , so er es mit Glanz besteht und den ersten Preis erobert. Als Schüler tritt er an den Turniertisch, als Meister verläßt er ihn. Lob und Auszeichnung harren seiner. Sein Name erhält Klang und Geltung. Häufiger sind freilich die bitteren Enttäuschungen. Der frivole Aberglaube an Unbesiegbarkeit und Überlegenheit erfährt hier eine Radikalkur. Nur der junge Heißsporn glaubt mit dem ersten Anlauf den Lorbeer an sich reißen zu können. Der rutinierte Spieler kennt die Schwierigkeiten, weiß, daß, wo so viele tüchtige Kämpen aus aller Herren Länder zusammenströmen, nur Ernst und Fleiß und Talent auf Erfolg hoffen darf. Immer wird das starke Talent, der feste Charakter auf Turnieren das Prävenire spielen. Es gibt kein Rezept, das den Erfolg garantiert; er hängt von zuviel unbeeinflußbaren und unkontrollierbaren Bedingungen und Umständen ab. Aber man kann die Klippen zeigen, woran der Turnierfahrer scheitern muß, und ihm böse Erfahrungen ersparen. Was hier in diesem Sinne geboten wird, sind die Erfahrung eines alten Turnierfahrers wie Aussprüche und Ratschläge großer Turnierhelden. Um einigermaßen Ordnung in den überreichen Stoff zu bringen, teile ich ihn in vier Abteilungen: 1) V o r b e r e i t u n g z u m T u r n i e r ; 2) T u r n i e r f a h r t ; 3) T u r n i e r k a m p f ; 4) T u r n i e r g e g n e r . — Turniere sind die Lehrjahre, und hat man nichts erreicht, dann beginnen die Wanderjahre. Albin.

1. Vorbereitung zum Turnier. Früh übt sieb, wer ein Meister werden will.

Wie man sich sorgfältig auf ein Examen vorbereitet, will man es ehrenvoll bestehen, so auch auf ein Schachturnier. Zwei Dinge sind unumgänglich erforderlich: Ü b u n g , S t u d i u m . (Übung.) Als solche können nur ernste Partien gelten, kleine Matsche, Lokalturniere, wie sie größere Klubs veranstalten, um 15*

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ihre Vorkämpfer trainiert ins Feuer zu schicken. Nebenbei Schnelloder Blitzpartien, um den raschen Blick zu üben. — „Wer rastet der rostet", ist auch im Schachspiel angebracht. Falk. Der Mangel an Übung zeigt sich besonders in einer gewissen Ungleichmäßigkeit des Spiels. Lange. Der Rost untätiger NichtÜbung vermag unter Umständen selbst das Metall des Genies zu beflecken. Anderssen. Seine Meisterschaft darf man nicht in ein Glasschränkchen setzen und wie ein Kleinod aufbewahren, um es erforderlichenfalls zur Hand zu haben; man wird sie vielmehr allein durch dauernde und gediegene Übung erhalten. Anderssen. P r a x i s ohne Buchkenntnis wiegt schwerer als Buchkenntnis ohne Praxis. Minckwitz. (Studium, theoretisches.) faßt Eröffnungen und Endspiele.

Das Studium der Theorie um-

(Eröffnungen.) Es ist nicht nötig, nicht einmal ratsam, alle Eröffnungen einzupauken; solche Krücken erweisen sich selten als tragfähig. Man mache sich zum Gesetz, bei so ernstem Anlaß nur Eröffnungen zu wagen, die man gut kennt, für die man Vorliebe, Verständnis hegt, die man daher in der Praxis oft probiert hat. Diese studiere man, um die gebotenen Buchvarianten zu übersehen und ihnen — aus dem Wege zu gehen. Man suche durch gesunde, aber wenig besprochene Züge der gewählten Eröffnung eine neue Seite abzugewinnen und den Gegner auf seinen eigenen Scharfsinn anzuweisen. Man wird den Buchgelehrten, der ungewohnt ist, auf eigenen Füßen zu stehen, leicht außer Fassung bringen, nimmt man ihm seine Krücken weg. So werden viele Partien auf Turnieren gewonnen. (Endspiel.) Die typischen Endspiele muß man lernen, mehr ist nicht nötig; in dem einzelnen Falle ist man doch auf sich selbst angewiesen. — Die Theorie der Eröffnungen ist, vom Standpunkt des Einzelschächers betrachtet, im Grunde nur „ P r a x i s der anderen. Tarrasch.

Was unter dem Namen „Theorie der E r ö f f n u n g e n " allen Amateuren und insbesondere Anfängern Ehrfurcht einflößt, stellt in vielen Fällen vorläufig nur eine in chaotischer Gärung befindliche Masse von Irrtümern dar. Es geht den Schachmeistern nicht

Zum Turnierspiel.

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besser wie anderen Forschern. Die Wahrheit fällt uns nicht mühelos in den Schoß, sie muß oft jahrelang gesucht werden. Marco. Die Meister wissen, daß die sogenannte „Theorie" nur ein winziges Eiland in dem unermeßlichen Ozean unserer Unwissenheit ist. Daher die zahllosen unangenehmen Überraschungen auf hundertfältig begangenen Wegen. Marco. Die Theorie ist gewissermaßen ein Beißkorb, den wir dem Gegner anzulegen versuchen, um uns vor seinen Bissen nach Möglichkeit zu sichern. Natürlich schützt sich dieser auf dieselbe Art. Aber die Beißkörbe sind sehr verschieden: aus Leder geflochten, weitmaschige Drahtgitter oder engmaschige Drahtnetze. Am unangenehmsten ist das Damengambit. Marco. ( S t u d i u m v o n M e i s t e r p a r t i e n . ) Es hat den Zweck, den Stil zu bilden und zu heben. Jeder hat ja irgendeine Vorliebe für einen bestimmten großen Meister, je nach Temperament und Geistesrichtung. Dessen Partien forsche er gründlich durch, alle anderen lasse er beiseite. Er zersplittert sonst seine Kräfte, wird innerlich zerrissen, da jeder echte Meister eigene Wege geht, und kommt überhaupt zu keiner Klarheit. — M o r p h y s Genius war angeboren, ursprünglich, freitätig (spontaneous), während die Inspiration der modernen Meister nicht dem Sinne des wahren Genius, sondern nur des angeeigneten (erworbenen) Talents entspricht. M o r p h y s Spielweise war stets furchtlos und aggressiv, doch nicht unbekümmert waghalsig. G. Reichhelm. Die Partie zweier Meister ist ein Drama ohne Worte. Die Schachfiguren sind die handelnden Personen. Sie spielen ohne Gebärde. Ihr Ausdrucksmittel ist nur der Begriff. Man kann für dieses Drama ohne weiteres alle Kunstregeln anwenden: Einheitlichkeit, Folgerichtigkeit müssen da, soll die Partie gefallen, walten. Lasker.

Große Schachmeister werden ebenso selten wie geniale Musiker geboren. Falk. Der Blick für das Mikroskopische kennzeichnet den Meister. Marco.

Der wesentliche Besitz eines Schachmeisters: die Urteilsfähigkeit im Abwägen des Für und Wider. Laaker. Meister im Schach sind oft Stümper im Leben. Minckwitz. Ist der Schachjünger so geübt, belehrt, trainiert, so kann er das Herz voll froher Hoffnungen, den Koffer packen und die Turnierfahrt antreten.

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2. Turnierfahrt. Ins Kriegsgewühl hineiD will es mich reißen, Es treibt mich fort mit Sturmes UngeBtOm, Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen, Das Schlacht roß steigt und die Trompeten klingen. S c h i l l e r , Jungfrau.

(Disposition, körperliche.) Es ist zu bedenken, daß man an einem fremden Orte weilt, wo fremde Sitten und Gebräuche bei jedem Schritte aufstoßen, liebe Gewohnheiten unangenehm gestört werden. Um das physische Gleichgewicht zu erhalten, muß man sich möglichst unabhängig machen, ein P r i v a t l o g i s nehmen und auf seine Lebensweise genau achten. Das ganze Spiel hängt zuletzt von der körperlichen Disposition ab. Vor allem daher strenge, mäßige Diät halten! Sich nicht mit Speise und Trank überladen, nicht halbe Nächte durchschwärmen! Sonst drückt man seine natürlichen Gaben herunter und setzt sich einem besonnenen Gegner gegenüber von vornherein in ernsten Nachteil. Jeder muß seine Natur kennen. Nur, was ihr durchaus bekömmlich ist, darf er sich gestatten, wenn es ihm ernst ist, Bedeutendes zu leisten. Das Spiel beginnt zu bestimmter Stunde. Manche Spieler haben die unleidliche Gewohnheit, zu spät zu kommen. Das sind die liederlichen, die Nachtvögel! Es zeigt immer Frivolität und Mangel an Ernst und ist ein schlechtes Vorzeichen für das Ende. — Schon manchem großen Sieger hat ein verdorbener Magen die Früchte langwieriger Kämpfe entrissen. New-Yorker Staatszeitung.

( D i s p o s i t i o n , seelische.) Die Ruhe des Gemüts, der innere Friede und die Freiheit des Geistes sind noch wichtiger! Ungezügelter Ehrgeiz oder schnöde Geldgier sind beiden verhängnisvoll. Alle Skrupel, alle ungerechtfertigten Besorgnisse muß man sich kategorisch aus dem Kopfe schlagen. Sie drücken den Geist nieder, hindern seinen Flug. Mit frohem Mut an die Aufgabe schreiten, etwaige Mißfälle, Ausgleitungen, gelassen und gefaßt ertragen, ohne sich gleich deprimieren zu lassen! Vor Augenblicken momentaner Schwäche, zeitweiligem Versagen des Positionsblickes sind auch die größten Meister nicht gefeit. Den gemachten Fehler sich rückhaltlos eingestehen, ohne Beschönigung, ohne Bemäntelung, ohne Animosität gegen den Gegner die mögliche moralische Belehrung daraus

Zum Turnierspiel.

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ziehen und dann den ganzen Vorfall endgültig aus dem Gedächtnis streichen und vom neuen Tag neue Siege erhoffen, ist verständig und bringt vorwärts. — Eine Partie, in welcher man reüssieren konnte, aber nicht reüssiert hat, deprimiert in ihrem Ausgang weit mehr, als eine andere, in gewöhnlicher Weise verloren gegangene! Minckwitz. Wenn die Ruhe des Gemüts und die Klarheit des Beschauungsvermögens gestört ist, nützt auch die reichlichste Bedenkzeit nichts. Marco.

Ruhe ist nicht nur des Bürgers erste Pflicht, sondern auch eine unerläßliche Vorbedingung des Erfolges für den Meister, wenn er seine Schachmeisterschaft demonstrieren will. Je rascher ein Meister das seelische Gleichgewicht verliert :— in dem wochenlangen Ringen, unter den wuchtigen Keulenschlägen der Feinde wird es bei allen erheblich gestört —, desto schlimmer die Prognose. Nicht lorbeerbekränzt, sondern völlig zermürbt wird er die Arena verlassen. Marco. Es gibt Naturen, die einen Mißerfolg nicht ertragen können und die unzweifelhaft das Sprichwort erfunden haben: „Ein Unglück kommt selten allein". Lasker. Im allgemeinen bleibt der Schachmeister von heute bei gutem Humor. Der Gewinner wird gefrotzelt, wenn der Sieg nicht erzwungen sondern ein Schwindel war. Wenn der Verlierende sich ärgert, so tut er es im Stillen. Lasker. Eine gute Schachpartie kann durch tausend Rücksichten paralysiert werden. Personen und Gegenstände üben ihren Einfluß und fühlt man sich beengt, so ist die eine Hälfte des Ichs abwesend. Albin.

( G e s p e n s t e r f u r c h t . ) Furcht ist Schwäche. Geistesschwäche, wenn sie von Unklarheit des Denkens herrührt, Willensschwäche, wenn von unbestimmten Angstgefühlen, Körperschwäche, wenn von Sinnestäuschungen, Halluzinationen! Wirkliche Gefahren müssen scharf ins Auge gefaßt, nur mögliche ganz ignoriert werden. Durch Einbildungen verpfuscht, verpatzt, verdirbt man sich das Leben und auch die Schachpartie. Gutmayer. ( S p a n n k r a f t , g e i s t i g e . ) Stundenlange ernste, geistige Arbeit strengt an; man findet daher häufig gut begonnene Partien schlecht enden. Dagegen ist wenig zu tun. Weises Haushalten mit seinen geistigen Kräften, Vermeidung aller unnützen Grübeleien, Bevorzugung einfacher, klarer Fortsetzung vor komplizierten, schwer

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durchschaubaren möchten wohl die einzigen Präservativmittel in dem Falle sein. Im Alter hilft auch das nicht. Darum verschwinden die meisten Turnierhelden mit den Fünfzigern von der Bühne. Die Zunahme an Routine und Erfahrung kann das Nachlassen der Energie und geistigen Spannkraft nicht wettmachen. — Wie müde, wie totmüde ist man immer nach einer Turnierpartie! V i d m a r.

Die Einrichtung, daß man sich nicht über eine gewisse Grenze anstrengen kann, selbst wenn man will, ist zwar daran schuld, daß die Erfolge der Schach- und anderer Meister verringert werden, hat aber ihre ganz bedeutende Entschuldigung. Bei vielen Insekten fehlt dieser Instinkt, und man kann beobachten, daß sie sehr plötzlich und sehr bald bei anscheinend voller Arbeitskraft sterben. Lasker. Es scheint, daß mit Beginn der fünfziger Jahre die Schachkraft nachläßt. So ging es A n d e r s s e n , so geht es S t e i n i t z und auch B l a c k b u r n e . Tarrasch. Die geistige Energie eines Menschen ist eine sehr variable Größe. So wird es erklärlich, daß ein Meister, der in einer Phase der Depression klägliche Niederlagen erleidet, uns bei nächster Gelegenheit durch Emanationen des Genies erfreuen kann und alle Gegner zu Boden schlägt. Marco. Am Ende großer Turniere bemächtigt sich der Spieler eine Abspannung. Tarrasch. Man ist einer starken Anstrengung weit fähiger als einer langen Ausdauer, nicht in der kurzen, aber in der langen Partie geht man seiner Früchte verloren. Albin. ( Z e i t b e s c h r ä n k u n g . ) Die Uhren sind eine Last und eine Wohltat zugleich. Eine unleidliche Last für den Grübler, der unverhältnismäßige Zeit zu seinen Zügen braucht; eine große Wohlt a t für den Spieler, der Inspirationen hat und intuitiv die Stellung erfaßt. Den schützen sie vor dem — Totsitzen! Je nach Temperament und Talent ist zu verfahren. Der Grübler muß allen Gelegenheiten zum Skrupulieren sorgfältig aus dem Wege gehen, Komplikationen wie das Feuer fürchten, nur nach Vereinfachung des Spieles streben; der intuitive Spieler sich zügeln, daß er sich nicht übereile, überstürze! Komplikationen sind ihm sehr zuträglich. Sie zwingen, langsam zu spielen. Sitzt der Spieler einmal an dem Brett, so bleibe er auch sitzen. Er renne nicht nach getanem Zuge im ganzen Turniersaal

Zum Turnierspiel.

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herum. Das zerstreut, dann geht ihm die Zeit verloren, die sein Gegner verbraucht und die er zur Nachprüfung und Kontrollierung der Stellung sehr gut nutzen kann. Ernste Spieler laufen nicht herum. Die flüchtigen tragen selten die Siegespalme davon. — Es ist bei beschränkter Bedenkzeit immer mißlich, sich auf Opferschwindeleien einzulassen. Marco. Die Z e i t b e d r ä n g n i s macht jedes feinere Spiel, jede tiefere Überlegung unmöglich. Tarrasch. Langsames Spielen ist häufig eine pure Angewohnheit. Minckwitz.

Manche Spieler haben offenbar die Absicht, ihren Gegner durch Langeweile zu töten — eine in Turnieren nur allzu beliebte Methode. Marco. Stümper spielen im Turnier drauf los, der Meister sitzt und überlegt. R. Auernheim. 3. Turnierkampf. Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, Das nicht die Vorwelt schon gedacht? G o e t h e , Faust.

Ist es so weit, daß die Turnierpartie losgehen kann, so kommt alles auf die Z ü g e , den S t i l , das P o s i t i o n s v e r s t ä n d n i s an. (Züge.) Ein schwacher Zug verdirbt die ganze Stellung, verscherzt alle mühsam errungenen Vorteile, gibt den Gewinn aus der Hand, bringt in Verluststellung. — Fünfzig gute Züge reichen zuweilen nicht aus, um eine Partie zu gewinnen, dagegen genügt ein schlechter sie zu verlieren. Marco.

Nichts ist schwerer im Schach, als von zwei anscheinend gleich guten Zügen den stärkeren, der häufig der einzig richtige ist, herauszufinden. Tarrasch. Mit Ausnahme des Mattzuges gibt es keinen Zug, der nicht irgendeine Stelle schwächt. Tarrasch In vielen Stellungen gibt es nur einen wahrhaft guten Zug. Wir treffen ihn nicht immer; nichtsdestoweniger ist er sicher vorhanden, und jeder andere als eben jener ist schwach und genügt nicht, um das Spiel durchzuführen. Alb in. Ein ungünstiger Zug hat mit Notwendigkeit weitere schlechte Züge zur Folge. Tarrasch.

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Es gibt Züge, die stark aussehen und sich als schwach erweisen, und es gibt Züge, die schwach erscheinen, in Wirklichkeit aber stark sind. Bei jedem Zuge tritt an den Spieler die Aufgabe heran, festzustellen, welche starken Züge schwach, und welche schwachen Züge stark sind. Diese Feststellung ist das Problem, dessen Lösung auch dem Größten oft mißlingt. Marco. Die besten Züge werden oft aus den verwerflichsten Motiven gemacht. —r.— (Stil, Strategie.) Ein charakterloses, planloses Spiel kann nie reüssieren. Man muß wissen, was man will, und muß es mit rückhaltloser Energie unentwegt durchführen. Besser zu fallen durch überkonsequente Durchführung der anerkannten, in Fleisch und Blut aufgenommenen Grundsätze, als zu siegen durch Gelegenheitsspiel. Ein solcher Sieg bringt keine Ehre, stärkt nicht innerlich, schadet mehr, als der gewonnene Zähler nützt, weil er lax und gleichgültig macht. — Kleine Vorteile geduldig ansammeln, bis der Moment gekommen ist; verlockende Augenblicksbeute verschmähen, wenn sie von der Erreichung des Zieles ablenken. Das alles sind Stratagemma der modernen Schachkunst. o. Blumenthal. Nichts unternehmen, was mit den vorhandenen Kräften unerreichbar ist; dagegen nichts unterlassen, was sich durchführen läßt! Darin zeigt sich die wahre Feldherrnkunst. Marco. Früher spielte man Gambits und stürzte sich kopfüber in Gefahren, um durch wütende Angriffe das feindliche Lager zu stürmen. Der moderne Geist arbeitet anders. Er schnürt den Gegner ein und hungert ihn aus.

Marco.

Die moderne Strategie sucht kleine Vorteile zu erlangen und allmählich zu vergrößern. Tarrasch. Auf die Erfolge der Schachstrategie kann das Wort Moltkes Anwendung finden: „Glück im Kriege hat auf die Dauer nur der Tüchtige." Marco. Die Drohung ist stärker als die Ausführung, ist ein Grundsatz von großer Feinheit des modernen Schachspielers. Marco. ( P o s i t i o n s - und K o m b i n a t i o n s s p i e l . ) Der Positionsspieler bemüht sich, den Entwicklungsvorteil festzuhalten und allmählich zu vergrößern. Kombinationsspieler begnügen sich aber nicht mit dem Ertrage beharrlicher Arbeit; sie wollen mit einem Schlage reich werden. Daß auf einen Treffer viele Nieten kommen, schreckt sie nicht ab; denn auch wenn ihre Anschläge mißlingen, bleiben

Zum Turaierepiel.

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sie nicht wirkungslos; sie ermüden die Wachsamkeit des Gegners, zehren an seiner Kraft und erschöpfen seine Geduld. Je rascher, je mannigfaltiger ihre Kombinationen aufeinander folgen, je weniger sie untereinander in kausalem Zusammenhang stehen, desto mehr sind sie geeignet, den Gegner zu verwirren und zu überrumpeln. Das P o s i t i o n s s p i e l : die Vorbereitung der Krisis. Lasker. Echtes P o s i t i o n s s p i e l : Stets ein und dieselben Debüts, zähes Festhalten des errungenen Vorteils, Furcht vor Opfern. Falk. Auf P o s i t i o n spielen, das heißt: seine Truppen in die wirksamsten Stellungen führen. Marco. ( A n g r i f f s s p i e l , O p f e r . ) Angriff ist immer besser denn Verteidigung. Man gibt dem ganzen Spiel die Richtung, hält den Feind in Atem und hat das erhebende Gefühl freier, zielbewußter Tätigkeit. Freilich, soll der Angriff durchdringen, geht es selten ohne Opfer ab. Und hier verdirbt Verzagtheit alles, Tollkühnheit aber wirft die Partie weg. Immerhin ist der letzte Fehler der kleinere. Kühne Angriffe mit überraschenden Opfern dringen leicht durch, wenn auch etwas Schwindel dabei ist. Jedes Opfer wirkt schon deprimierend auf den Gegner: „Kann er sich das leisten, so steht es schlecht mit mir", denkt er unwillkürlich. Dann läßt die Zeitbeschränkung ein ruhiges Überdenken der Gegenchancen kaum zu. — Eine a l t e Gewohnheit, als der Angreifende Verluste gering zu achten, wissend, daß ein Mißgriff in der Verteidigung tötet. Anderssei).

Eine brillante Opfei'kombination kann ein J u w e l sein oder — ein Schwindel! Marsball. Ein kecker Angriff hat auch gegen den stärksten Spieler Aussicht durchzudringen. Marco. Ein A n g r i f f , der mit unzureichenden Kräften unternommen wird, kann keinen guten Ausgang haben. Marco. Objektive berechtigte Angriffe sind mit auf kürzester Linie geführten und heftigen Schlägen durchzuführen. Lasker. Es fällt den meisten Spielern sehr schwer, im richtigen Moment den Angriff abzubrechen. Tarrasch. Es gibt eine Gerechtigkeit im Schach. Diese liegt in der millionenfach erprobten Wahrheit, daß kein Angriff, wie geistvoll er auch geplant, wie glänzend er auch angelegt sei, zwingend durchgeführt werden kann, wenn der Angreifer nicht eine objektive Über-

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legenheit an Kraft oder in der Stellung, oder der Verteidiger eine Schwäche hat.

Lasker.

Man soll nicht etwa dort angreifen, wo man gerade will, sondern wo der Gegner es einem zeigt, wo sich eine, wenn auch noch so leichte Schwäche seines Spieles offenbart. Tarrasch. Der starke Praktiker kümmert sich nicht darum, ob sein Opfer immer korrekt ist. Er sucht den Gegner zu verwirren, in Verlegenheit zu stürzen, in Zeitnot zu bringen, und das gelingt seltener durch absolut korrekte Züge, als durch waghalsige Unternehmungen. Marco. Das ist der moralische Erfolg eines Opfers, wenn es nur einen Schimmer von Korrektheit besitzt: Es versetzt dem Gegner einen physischen Chok, es erschüttert ihn und reißt ihn aus seinem seelischen Gleichgewicht, worauf die Fülle der Gesichte, die sich nach einem Opfer gewöhnlich darbietet, ihn vollends verwirrt; endlich tritt Gespenstersehen dazu und die Katastrophe ist fertig. Tarrasch.

Sei vorsichtig, wenn der Gegner ein Opfer anbietet; stecke die Hände in die Taschen und ziehe sie ja nicht rasch heraus, denn zum Anbeißen hast du ja immer Zeit. Treibe aber die Vorsicht nicht allzu weit, sonst könnte es dir passieren, daß du als Falle ansiehst, was nur eine Vogelscheuche ist, die dein schlauer Gegner in sein Weizenfeld gesetzt hat, um dich einzuschüchtern. Ergreifst du dann vor dem erschreckend aufgeputzten Krampus die Flucht, so hast du nicht bloß den Schaden, sondern auch den Spott dazu. Marco.

Seine Figuren in Stellungen bringen, wo sie „arbeiten", wo sie nutzvoll tätig sind, dies Verfahren hat seinen eigenen Nainen erhalten: es heißt Angriff. Angriff ist ein V e r f a h r e n , w o d u r c h m a n H i n d e r n i s s e b e s e i t i g t , aus dem Weg r ä u m t . Das gilt für jeden Kampf, sei es die Schlacht, der Schwertkampf oder der Boxkampf. Diese Definition stimmt immer. Lasker.

Gerade nach einer Opferkombination des Gegners muß man sehr umsichtig spielen, um den stärksten, den einzigen Gegenzug ZU finden.

Tarrasch.

Große Meister gehen nie der Gefahr, sondern nur der Niederlage aus dem Wege. S t e i n i t z z. B. pflegte sich in die schrecklichsten Abenteuer zu stürzen, wenn er die Aussicht zu haben glaubte, einen Bauer zu erobern und andauernd zu behaupten. Marco.

Zum Turnierspiel.

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Wenn man als A n z i e h e n d e r das Erstgeburtsrecht des Angriffs für das Linsengericht eines Bauern hergibt, ist man ein Esau. Tarrasch.

( V e r t e i d i g u n g . ) Sich verteidigen müssen ist immer ein mißlich Ding, das Geduld, Aufmerksamkeit, äußerste Wachsamkeit erfordert. Bei Zeitbeschränkung noch mißlicher und fataler! Man meide daher rein defensive Spielweisen, strebe solche an, die Gelegenheit zu Gegenangriffen bieten, sonst wird man sich selten des Sieges erfreuen. — Der Gegenangriff ist die beste Verteidigung. Anderssen. Geduld ist die Tugend des eine schwierige Position Verteidigenden. Lasker. Viele große Meister werden klein, wenn sie zufällig einmal in eine mißliche Stellung geraten und stundenlang auf die Defensive beschränkt sind. In verschwommenen Stellungen alle Drohungen des Gegners zu erspähen und dagegen die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, ist ungemein schwer. Die Kunst der Verteidigung ist daher nur wenigen gegeben. Marco. Sind die Stellungen gleichwertig, ausgeglichen, und der Gegner macht dennoch Vorbereitungen zu einem Angriff — ignoriere ihn, entwickle kaltsinnig noch verfügbare Kräfte, trete aber dem feindlichen Angriff nur mit den geringstmöglichen, tunlich leichtesten defensiven Anstrengungen und Maßnahmen entgegen — ignoriere ihn, soweit es geht. Lasker. Ein Angriff läßt sich niemals durch Verteidigung, sondern immer nur durch Gegenangriff parieren. Tarrasch. Ohne Gegenangriff kann man auf die Dauer keinen Angriff aushalten. Tarrasch. Die Verteidigung ist viel schwieriger als der Angriff, weil der Verteidigende für alle Überfälle gerüstet sein muß. Marco. Die Kunst der Verteidigung besteht häufig darin, wenn der Gegner durch Figurenopfer eine beherrschende Position gewonnen hat, den richtigen Augenblick nicht zu verpassen, sich durch ein Gegenopfer zu befreien. Meistens bleibt dann der Verteidiger im Vorteil. H. v. Gottschall. (Tausch.) Der Spieler, der sich verteidigt, strebt naturgemäß nach Abtausch, um die Kraft des Angriffs zu brechen. Das ist auch ganz gut; nicht aber ein prinzipielles Tauschen aller kräftigen Figuren, um imaginäre Gefahren zu vermeiden.

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Jeder Ausrottungstausch zerstört eine Menge Gewinnchancen und führt im besten Falle zu einem glatten Remis. Tausche öffnen immer viele Linien, und diese werden dem unachtsamen, furchtsamen, sich überstürzenden Täuschler leicht verderblich. Durch Tausche gehen viele Vorteile verloren! — Durch nichts kann man das Spiel des Gegners mehr fördern, wie durch einen unüberlegten Abtausch, der die feindlichen Figuren entwickelt. Tarrasch. Durch jeden Schlagfall werden den eigenen Truppen Felder und Linien freigemacht, aber auch den feindlichen zugänglich. Sind mehrere Schlagmöglichkeiten vorhanden, so wird die Wahl selbst für Meister oft zur Qual, denn leider ist es in vielen Fällen unmöglich, die Folgen mit hinlänglicher Genauigkeit zu berechnen. Marco.

( P o s i t i o n . ) Jeder Zug baut eine andere Stellung auf. Darum ist die Stellung nach jedem Zug durchzuprüfen im Hinblick auf die Wandlungen, die sie erfahren hat. Eine solche strenge Kontrolle wird vielen Fehlern vorbeugen, dem Spiele Sicherheit und Kraft geben. — Ein Denkfehler ist es, eine noch nicht geklärte Position nicht noch einen Schritt weiter zu verfolgen. Tarrasch. Ich betrachte jede Position als ein Problem, mit der Forderung, den stärksten Zug zu finden, und suche dieses Problem zu lösen. Ausdrücke wie „auf Remis", „auf Gewinn spielen", halte ich für Tarrasch. ganz schief. Auch bei gewonnenen Stellungen darf die Aufmerksamkeit nicht einen Moment nachlassen. Marco. In beschränkten Stellungen pflegen Versehen sich einzustellen. Tarrasch.

Im Schachspiel kommt es nicht darauf an, den Feind zu kennen, sondern die Position nicht zu verkennen. Albin. Ruhig und vernünftig die Position betrachten, ist zu keiner Zeit schädlich, und indem wir uns gewöhnen, über die Chancen anderer zu denken, stellen sich die unseren unvermerkt selbst an ihren Platz, und jede falsche Kombination, wozu uns die Phantasie lockt, wird alsbald gern von uns aufgegeben. Albin. ( P o s i t i o n s b l i c k . ) Das unbedingteste Erfordernis für den Turnierspieler, das über alle Schwierigkeiten leicht hinweg hilft! Anschauungskraft, Intuition, Inspiration ist die beste Gabe auch für den Schachspieler.

Zum Turnierspiel.

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Wo der Grübler verzagt Auswege, Rettung, Hilfe zu finden, zeigt dem intuitiven Spieler ein Geistesblitz den einzigen schmalen Weg zur Rettung und zum Sieg. Man soll daher alles tun, diese göttliche Gabe in sich zu wecken und wirksam zu erhalten. Nichts ertötet sie mehr als Grübelei, als Verfolgung egoistischer Zwecke. Das Spiel muß selbstlos sein. Reine Hingabe, völlige, tiefe Versenkung in die Stellung, nur mit dem Streben, sie voll zu erfassen, auszunutzen, alles aus ihr herauszuholen, erweckt und hält sie lebendig. — Ermüdet jenes feine Organ des Schachmeisters, das man Positionsgefühl nennt, so sinkt die Spielstärke um verschiedene Grade herab. Lasker. ( P o s i t i o n s u r t e i l . ) Zeigt die Anschauung den Weg, gibt sie die Ideen, so muß die Urteilskraft kontrollieren, ob sie ausführbar sind, ob die Phantasie nicht mit dem Verstände durchgegangen ist. Vor Ausführung jeder Kombination scharfe Prüfung durch die unbestechliche, nüchterne Urteilskraft, ob sie richtig und ob die Stellung, die daraus resultiert, wünschenswert, vorteilhaft ist! — Das Positionsurteil ist der Berater und Lehrer der Phantasie. Es drängt die unbändige Einbildungskraft in die rechten Bahnen. Lasker.

Das Betrachten aller Möglichkeiten hilft nichts; man muß auch unterscheiden können, welche uns tauglich ist. Marco. Positionsurteil ist ein blitzschnell den Spieler leitender Instinkt, der am wesentlichsten aus übereinandergeschichteten Schacheindrücken und deren vielfachen Assoziationen besteht. Lasker. ( P a r t i e p h a s e n . ) Die E r ö f f n u n g ist mit großer Sorgfalt zu behandeln, ja nicht törichterweise Zeit sparen, hastig und schablonenhaft sie herunterhaspeln! BuchVarianten ist aus dem Wege zu gehen, um theoretische Grübler von vornherein aus dem Sattel zu heben. Man bilde sich nicht ein, die Partie schon in der Eröffnung gewinnen zu können, man kann sie höchstens verlieren, wenn man vorzeitig angreift und nachlässig mobilisiert. — Es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß der Führer der Weißen in der Art, wie er die Entwicklung der Streitkräfte vollzieht, mindestens eine Zeitlang das „Gesetz des Handelns" bestimmt. Er kann nach Wahl und Eigenart offene oder geschlossene Aufstellungen anstreben, mehr aggressiv oder zurückhaltend vorgehen, mit anderen Worten: seinem Temperament und seiner Eigenart besser entgegenkommen als der Nachziehende. Lasker.

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Anhang.

Wenn man eine sehlechte Eröffnung nicht widerlegt, kommt man meist selbst in Nachteil. Tarrasch Eröffnungsfehler sind schwerlich wieder gut zu machen. Albin.

Ist die Eröffnung gut, dann klappt alles vortrefflich, wenn auch immer bei jedem Zuge unsere volle Aufmerksamkeit erforderlich ist. Ist die Eröffnung aber schlecht angelegt oder verfehlt, so ziehen sich die Fehler durch die ganze Partie. Albin. Wenn man eine bizarre Eröffnung wählt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn man eine Partie verliert. Steinitz. Die schlimmen Folgen einer schlechten Eröffnung kann auch ein Genie nicht abwenden. Marco. Entwicklung ist das erste Postulat eines gesunden Spiels. Marco.

Dem Feldherrn gleich, mobilisieren auch wir zu allererst unsere Truppen, lassen sie in Gefechtsstellungen einrücken, bemächtigen uns wichtiger Linien und Punkte, die noch unbesetzt sind. Dazu braucht man in der Regel s e c h s Züge. Unterlassen wir es, und der Gegner nutzt es aus und überfällt einen lebenswichtigen Punkt unserer Stellung, so haben wir keine Figuren ihm gegenüberzustellen. Der Kampf ist aus, ehe er noch recht begonnen hat.. Lasker.

Man kann in der Eröffnung unbeschadet einen Bauern w e n i g e r haben (Gambitspiele), nie aber soll man einen m e h r haben. Tarrasch.

( M i t t e l s p i e l . ) Hier heißt es: „Selbst ist der Mann". Ideenreichtum, Kombinationsgabe entscheiden. Gerade in dieser Partiephase ist der Hang zum Phantasieren am Schachbrett recht lebhaft, weil reiche Kräfte und Mittel zu Gebote stehen und der Tätigkeitstrieb dadurch den größten Ansporn erhält. Bei leichten Partien mag es hingehen, im Turniersaal ist es durchaus verpönt. Die Motive, die der Augenblick bietet, sind mit starkem Geist zu erfassen, auf ihrer Grundlage Kombinationen aufzubauen, chancenvolle Ideen zu konzipieren. — Man sieht immer und immer wieder, daß lediglich die bessere Entwicklung und Stellung und nicht das materielle Übergewicht den Ausschlag gibt, daß also auf den 64 Feldern der Geist über die Materie triumphiert. Tarrasch. Ich kann nur immer betonen, daß freies Figurenspiel das allerwichtigste Erfordernis ist, und daß die Bauernstellung erst in zweiter Linie in Betracht kommt. Ich befinde mich darin in ausgesprochenem Gegensatz zu P h i l i d o r und S t e i n i t z . Tarrasch.

Zum Turnierspiel.

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(Endspiel.) Hier heißt es genau rechnen! Jedes Tempo spielt eine große Rolle. E i n vergeudeter Zug kann den Gewinn verscherzen, zum Verlust führen. — Man muß mit den Bauern im Endspiel, selbst wenn man schon auf Gewinn steht, immer noch sehr ökonomisch umgehen. Tarrasch.

Ist man im Endspiel durch eventuelle feindliche Freibauern bedroht, so ist es im Prinzip ratsam, tunlichst viele Bauern zu tauschen, denn jeder feindliche Bauer hat ceteris paribus die Chance, frei und bedrohlich zu werden. Alapin. Dem Endspiel eigen ist es, daß der König, in den anderen Partiephasen ein Gegenstand zartester Fürsorge, ängstlichster Bewachung, der, ohnmächtig, kaum zum Schutz der wenigen Bauern tauglich ist, die selbst einen Schutzwall um ihn bilden, — nun ein scharfer, gefährlicher Angreifer wird. Lasker. (Fehler.) Gedächtnisfehler, Rechenfehler, Konzeptionsfehler und gar noch Fingerfehler, alle drohen dem eifrigen Turnierfahrer die Früchte seiner Mühe und seines Schweißes zu rauben. Es gibt kein anderes Rezept, als die Augen offen halten, mit Leib und Seele bei der Partie sein, alle Zerstreuungen (Bummelei im Turniersaal, Betrachtung anderer laufender Partien usw.) zu vermeiden. Das Siegen ist nur möglich, wenn der Gegner Fehler macht. Je weiter die Theorie fortschreitet, je mehr die Einsicht in die Mechanik des Spiels sich vertieft, desto seltener werden die Fehler, desto seltener die Siege und desto häufiger die Remispartien. Marco.

Leute von Temperament sind schweren Übersehen immer ausgesetzt, phlegmatische Naturen selten. Arabische Vollblutrenner haben sich schon öfters das Genick gebrochen. Ochsen meines Wissens noch nie. Drum empfehle ich stets die Methode des Ochsen: Prüfe bei jedem Schritt, ob du festen Boden unter dir hast — springe nicht über Abgründe und Hindernisse, du wirst dich dabei ein wenig verspäten, aber dafür sicher und mit heiler Haut ans Ziel gelangen. Marco. Der Verlust einer Partie ist immer grammatikalisch korrekt. Die Entschuldigung heißt: Der Fehler, Die Übereilung, Das Übersehen. Albin. Es ist schon eine große Kunst, den Feind dahin zu bringen, daß er Fehler begeht. Marco. G u t m a y e r , Der Weg zur Meisterschaft. 2. Aufl.

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Nach, langem, ermüdendem Kampf sind Fehler erklärlich. Marco.

Man kommt häufig in Nachteil, wenn man einen Fehler des Gegners unbenutzt läßt. Tarrasch. Verrechnungen kommen in allen Turnieren vor. Bei jedem Schritt stützt sich der Schachmeister auf Prämissen, deren Richtigkeit sich bei beschränkter Bedenkzeit nicht immer erweisen läßt. So kommt es, daß seine hübschen Luftschlösser zuweilen ins Wanken geraten und ihn im Sturze unter ihren Trümmern begraben. Marco.

In einer Partie ist es klug, nicht nur den inneren Wert eines Zuges, sondern auch seine Einfachheit in Betracht zu ziehen, da man sonst in Gefahr gerät, Fehler zu machen. — Ein Fehler zieht häufig andere mit Notwendigkeit nach sich. Tarrasch. ( G l ü c k und P e c h . ) Daß es so etwas im Schachspiel gibt, trotz aller Beteuerungen und Versicherungen mancher Theoretiker, daß der Zufall im Schach nichts, zu tun habe, gesteht jeder Schachveteran gerne zu. Alle die Imponderabilien, die den Spieler von außen umgeben und ihren Einfluß auf ihn ausüben, alle die feinen oder groben Störungen seines inneren Friedens und seines körperlichen Behagens, alle diese unberechenbaren, unmeßbaren und doch oft so störenden Momente, wenn sie einen Spieler an der vollen Kraftentfaltung seines angeborenen Talentes im entscheidenden Momente hindern, sind das, was man Pech, wenn sie ihn verschonen und den Gegner dafür plagen, das, was man Glück im Schach nennen kann. Ganz gefeit ist keiner gegen diese tückischen Eingriffe des Zufalls, aber es gibt allerdings auch im Schach besondere Glückspilze und Pechvögel. Dem einen gerät alles, die anderen verunglücken oft auf die unglaublichste Art und Weise. Was läßt sich dagegen machen? Man muß die Stiche dieser Zufallsmücken nicht beachten, sich damit trösten, daß keiner vor ihnen gefeit ist und sie den anderen kleinen Plagen des Lebens zuzählen. — Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man mit verbrauchten Kräften oder ermüdet und zermürbt in den täglich sich erneuernden Kampf zieht, ob die Gegner sich in der denkbar besten oder in der schlechtesten D i s p o s i t i o n sich befinden, ob man mit dem Stolz des Siegers oder mit der Resignation des Besiegten zu rechnen hat; mit einem Wort, das Glück ist auch im Schachturniere ein sehr wesentlicher Faktor. Marco.

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Zum Turnierspiel.

In der praktischen Partie mit ihren zahlreichen Wechselfällen reichen oft I m p o n d e r a b i l i a zum Siege. Marco. ( P a r t i e s c h l ü s s e . ) Durchaus auf G e w i n n spielen ist eine Art Hochmut, die gewöhnlich mit Verlust der Partie bestraft wird. Man kann nur auf ein gutes Zusammenspiel der Figuren spielen, im übrigen muß man dem Schicksal seinen Lauf lassen, alle Gelegenheiten benutzen und abwarten, was dabei herauskommt. — Niemals muß man sorgfältiger spielen, als wenn man schon im Siege ist. Tarrasch. Gewinnen wollen, heißt den Mut haben, sich Gefahren aussetzen. Marco. Auf Wunder soll der Schachspieler niemals hoffen. Marco. Nichts ist schwerer, als eine gewonnene Partie gewinnen. Albin.

Die neunmal Weisen, die beweisen wollen, daß M o r p h y s und A n d e r s s e n s Gegner ihnen den Gewinn leicht gemacht haben, waren sogar schon da, als Kolumbus Amerika entdeckte. — r. — (Remis.) Ist besser denn Verlust! Darum soll man in zweifelhaften Stellungen seine Kräfte schonen und sich damit begnügen. Aber vorsätzlich auf Remis spielen taugt nichts. Es ist ebenso verkehrt, wie partout auf Gewinn spielen. Man vernachlässigt die reellen Motive, jagt Phantomen nach und kommt in Verluststellungen, stellt sich überdem ein testimonium paupertatis aus! Bei jedem Turnier müssen die stärksten Spieler Remis vorgeben. Tarrasch. Es ist ungeheuer leicht, eine Partie zu gewinnen, wenn der Gegner grobe Fehler macht. — Dagegen ist es enorm schwer, Remis zu erzielen, wenn der Gegner immer das Beste spielt. Marco.

Das Remismachen ist nicht so leicht, wie allerhand Leute in ihrer unmaßgeblichen Befangenheit meinen. Man muß alle Drohungen des Gegners erkennen, und zwar nicht nur die gegenwärtigen, sondern auch jene, die tief im Schöße der Zukunft liegen; man muß für jede Drohung rechtzeitig und oft von langer Hand die entsprechende Parade vorbereiten, man muß endlich, da der Angriff oft die einzige Verteidigungsmöglichkeit bietet, im geeigneten Moment, eventuell unter großen materiellen Opfern, den Gegenangriff annehmen. Marco.

Diejenigen, die sich nur im Remisfahrwasser wohlfühlen, sind dazu geboren, und wider die Natur kann eben der Mensch nichts tun. Falk.

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4. Turniergegner. Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher als sie sind. Goethe.

Der Gegner übt einen guten oder schlechten Einfluß auf das Spiel aus. Ist er berühmt, so wird das Spiel leicht befangen; ist er ein Neuling, so unterschätzt man ihn. Dem allen weicht der sicher von vornherein aus, der sich gar nicht an den Gegner kehrt, nur an die Position, die er zu behandeln hat. Ritterlichkeit gegen jeden Gegner ist eine Tugend, die jeder bessere Schachspieler gerne übt; aber — vor allen Beeinflussungen, die nur zu oft vorkommen, von Seiten des Partners, muß man sich fernhalten. Keine Kameraderien, keine Beachtung von etwaigen Äußerungen, aber auch keine Animosität gegen den Gegner, wie es oft vorkommt, bei Verlust. Das nimmt die Ruhe und ist auf jeden Fall kleinlich und kindisch. Will man sich durchaus ärgern, gut, so ärgere man sich über sich selbst. Das ist vernünftig und trägt gute Früchte für ein anderes Mal. Das andere schadet nur, weil es die eigene Schuld auf fremde Schultern zu wälzen sucht. Man betrügt sich selbst, um seine Eitelkeit zu schonen, und macht keine Fortschritte. — Wenn wir mit Geringschätzung des Gegners uns ans Brett setzen, so zeigt oft der Ausgang, daß wir uns selbst überschätzt haben. Minckwitz. Nichts rächt sich so sehr in der Schachpraxis, als die maßlose Unterschätzung des Gegners. Albin. So hätten wir den musterhaften Turnierfahrer skizziert. Er ist mäßig, besonnen, beharrlich und weitherzig! Aber noch eine Tugend darf ihm nicht fehlen: er muß selbstlos sein. Er muß sich in sein Spiel vertiefen können mit dem Ernste und der Freude eines Künstlers, um Preise sich wenig scheren, durch Zähler sich nicht irremachen lassen. Er muß vor allem sich selbst genug tun wollen, sein inneres Ideal äußerlich am Brett mit heiligem Ernst zu verwirklichen streben. Ob er hundertmal dabei strauchle, immer und immer muß er es versuchen. So bekommt er ein felsenfestes Selbstvertrauen auf seine Kraft, sein Spiel, seinen Charakter.

Zum Matchspiel.

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Große Spieler sind immer aucli große Charaktere. Ein Wetterhahn schwankt immer hin und her, ohne Richtung, ohne Halt. Zuletzt entscheidet freilich das Talent. So weit es jeden trägt, soweit kommt er. Wenn er dessen Grenzen kennt, so wird er innerhalb dieser Gutes und Brauchbares leisten; was darüber ist, gar nicht unternehmen. So reichen Talent und Charakter sich die Hand und bilden jene kräftigen, originellen Spieler, die immer sie selbst, durch ihre Konsequenz und Unbeirrtheit hinreißen und entzücken. — Eines taugt nicht für alle. Auch für Schachmeister gilt das Wort des griechischen Weisen: „Erkenne dich selbst". Marco. C) Zum Matschspiel. Hier halt' ich Ben kriegerischen Schild vor meinen Leib. Fall' ans, triff, und verdammt sei, wer zuerst Ruft: Halt, genug! S h a k e s p e a r e , Macbeth.

(Der Matsch.) Viel ernster und bedeutsamer als das Turnierspiel ist das Matschspiel. Einmal ist das Risiko groß und gewaltig. Es steht ein nicht unbedeutender Einsatz auf dem Spiel, und was noch weit mehr gilt: der Ruf, die Spielehre, das Renommee. Aus einem Turnier als Outsider heimkehren, ohne Preis, ist schon betrüblich; aber ungleich bitterer ist der Verlust eines Matsches. Der Einsatz ist verloren, immerhin ein empfindlicher Schlag! Aber was ist aller materieller Nachteil gegen das unselige, niederschmetternde, vernichtende Mißgefühl, vor aller Welt niedergerungen, besiegt, in den Staub getreten zu sein! Was gegen das marternde Bewußtwerden der engen Grenzen des eigenen Talentes! Der Mißerfolg spricht eine laute Sprache. Dagegen frommt keine Selbsttäuschung. Die Tatsachen beweisen. Ist es da zu verwundern, wenn ein Gefühl innerer Verzweiflung das arme gequälte Herz manchmal beschleicht, wenn der tiefgekränkte Stolz einen nagenden Kummer gebiert, der die Lebenskraft verzehrt, oder wenn ein schleichender Wahnsinn das Gehirn zerstört? Man denke an S t e i n i t z , an Z u k e r t o r t ! Der Matsch ist ein ernstes, gewaltiges Ringen zweier Naturen, ein Kampf zweier Talente um den Vortritt vor der ganzen Welt. Sein Ausgang ist immer tragisch. Denn es ist jedesmal traurig, seiner Unzulänglichkeit so offenkundig inne zu werden.

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Es ist daher der erste Rat, der zu geben wäre, nicht leichtsinnig einen Matsch zu entrieren. Große Turniererfolge sind noch gar kein Maßstab für Befähigung zum Matschspiel. Vor allem gehört dazu ein felsenfestes Selbstvertrauen, das in einem tiefen Einblick in die Schachkunst und in dem Bewußtsein, über alle Ressourcen derselben suverän zu verfügen, wurzelt. Nur wer darüber gebietet, ist der echte, wahre Matschspieler. Ebenso wichtig ist Originalität der Spielweise, des Stils und Charakterstärke. Vom Glück kann der Turnierspieler manchen schönen Erfolg erhoffen, der Matschspieler — nichts. Denn immer derselbe Gegner sitzt ihm gegenüber, den er nur endgültig besiegen kann durch die Wucht seines stärkeren Talentes, nie durch den Zufall der Stunde. Hat man sich nun trotz aller Bedenken dazu entschlossen, einen starken Gegner zum Matsch zu provozieren — und wer könnte es einem jungen, kräftigen Talent übel deuten, wenn ein edler Wagemut es auf der Bahn des Ruhmes vorwärts zu stürmen und nach den Lorbeern zu greifen antreibt —, dann ist der zweite Rat: den Kopf oben halten, mag kommen, was da will. Mit ruhiger Besonnenheit die Schwächen und Stärken im Spiele des Gegners im lebendigen Ringen abschätzen und mit aller Kraft der Seele nutzen, die eigenen Grundsätze aber heilig halten, denn nur innere Festigkeit kann durchdringen, Wankelmut ist sicherer Verlust. Mißlingt dann die Niederwerfung des Gegners doch, so wird wenigstens die Niederlage nicht erdrückend werden. Im Bewußtsein eines mutigen, achtunggebietenden Widerstandes wird man den Schauplatz seiner Niederlage zwar in gedrückter Stimmung, aber nicht niedergebrochen verlassen und sich trösten „mit dem allgemeinen Schicksal, „das immer wechselnd seine Kugel dreht" (Schiller). — Sieg oder Niederlage in der ersten Partie gibt immer eine Vorbedeutung für den Ausgang des ganzen Wettkampfes. In den allermeisten Wettkämpfen ( S t e i n i t z - Z u k e r t o r t , L a s k e r S t e i n i t z , T a r r a s c h - W a l b r o d t , J a n o w s k i - M a r s h a l l , Mars h a l l - T a r r a s c h , L a s k e r - M a r s h a l l ) war der Gewinner der ersten Partie auch der Sieger im Wettkampf. Tarrasch. Ohne mich irgendwie e i n z u s p i e l e n , mußte ich in diesen Wettkampf (mit Lasker) gehen, während mein Gegner in seiner Zeitung schreiben konnte: „Ich habe jetzt noch sechs Wochen, um mich zu t r ä n i e r e n . " Tarrasch. Es gehören zum Matchspiel ganz andere moralische Eigenschaften als zum Turnierspiel; es bedeutet ein gewaltiges Ringen

Kurze Gespräche.

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zweier Individualitäten, lind daß der stärkere Charakter schließlich obsiegt, hat man im Wettkampf S t e i n i t z - Z u k e r t o r t gesehen, wo der bessere Spieler dem unbeugsamen Charakter der Gesamtindividualität des Gegners nicht standhalten konnte. Tarrasch. Wie zwei Heere vorerst miteinander Fühlung nehmen, um hier die Stärke, dort die Schwäche des Feindes tastend zu erkunden, und sich dann erst der Schlachtplan wuchtig enthüllt, so erkunden die Matschgegner ihre psychologischen Stärken und Schwächen, bevor sie zielbewußt ihre nachhaltigen Attacken einsetzen. Beinahe unbewußt, vielleicht sogar ungewollt, macht jeder der Spieler sich von der Stärke des anderen ein plastisches Bild. Und daher bedarf die Erkundung der psychologischen Stärkeverhältnisse einer Reihe von Partien, in denen die Gegner sich in den verschiedensten Lagen gegenüberstehen. Die Etappe von 3 Points (auf einer Seite) bedeutet, daß das Werk der Erkundung vorbei sein müsse. Sie ist der Punkt, bis wohin der eine den anderen fast ohne Gefahr gelangen lassen kann, wofern er nur dessen Eigenart dabei erkannt hat. In dem weiteren Kampf sind dann die erworbenen Kenntnisse zu verwerten. Lasker.

D) Kurze Gespräche. 1. W. Steinitz und Baron Epstein. In einer Partie zwischen beiden trifft es sich, daß S t e i n i t z über einen Zug länger nachdenkt. E.: (ungeduldig) „Nüh, Nüli!" S t e i n i t z sagt nichts und macht seinen Zug. Bald darauf kommt E p s t e i n in schlechte Stellung und sinnt lange nach. St. (sarkastisch): „Nüh?!" E.: „Herr, wissen Sie, wer ich bin?!" St.: „ 0 ja, Sie sind der Epstein auf der Börse, hier — bin ich Epstein!" 2. Em. Lasker and Carl Schultz. L a s k e r gibt im Schachklub zu Hannover eine große Simultanvorstellung. Seh. „Darf man fragen, ob Sie sich in Stimmung — aufgelegt fühlen?" L.: „Ich bin n i c h t s c h l e c h t disponiert, ob ich g u t disponiert bin,' weiß ich noch nicht."

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3. Zukertort und Dufresne. D.: „Wie kann man einem die Dame vorgeben! Braucht doch nur auf einen Augenblick v e r n ü n f t i g zu werden — ist es gleich vorbei." Z.: „Ach was, ich gebe ihm vor, was er haben will. Er wird schon den Zug finden, der ihn matt macht." 4. Zukertort und Amateur. A.: „Sie konnten doch soeben eine Figur gewinnen?!" Z.: „Ich will keine Figur gewinnen, ich will die P a r t i e gewinnen." 5. Dufresne und Amateur. A.: „Man wird das Schachspiel bald zu den Berufsarten zählen müssen." D.: „Wie kann man mit Schachspielen Geld verdienen wollen! Da hacke ich lieber Holz, dann habe ich doch wenigstens eine gesunde Bewegung." 6. Max Lange und Gutmayer. G.: „Die modernen Partien zeigen immer mehr eine beängstigende, bandwurmartige Länge." L.: „Nur k u r z e Partien sind gut, die langen taugen alle nicht viel." 7. Charousek und Max Lange. Während des Kölner Kongresses in einem Wirtshausgarten beim Bier. Ch.: „Von dem Springergambit will ich es nicht sagen, aber das L ä u f e r g a m b i t halte ich für v o l l k o m m e n k o r r e k t . " . L.: „Ich habe mit einem sehr starken Schachfreund zwölf Muziogambits im A n z u g gespielt. Wer in Nachteil kam, mußte einen Korb Champagner geben. Ich gewann die Wette. Ich hatte immer ein genügendes Äquivalent an Bauern für meinen Springer." 8. Walbrodt und Amateur. W a l b r o d t hat in seinem Schachklub eine große S i m u l t a n v o r s t e l l u n g gegeben mit großartigem Erfolg: 32 Leichen und 8 Kampfunfähige. A.: „Welche Kunst, welches Genie erfordert es, um in so kurzer Zeit vierzig zum Teil sehr tüchtige Kämpen niederzuzwingen!" W.: (ablehnend): „Die Leute machen sich janz alleene matt, jeder jeht an sich selbst zu Jrunde."

Quellen zu den Aphorismen.

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9. Otmar Schenk und Gutmayer. Sch.: „Nun, glauben Sie, diesmal den Widerstand der stumpfen Welt besiegen und die matten Seelen so vieler Schacher begeistern zu können?'' Gr.: „Ich habe den Feuerbrand in ihre Seelen geschleudert. Mir ist, als läge ich im Grab und über mir stürmt, tost, braust — meergewaltig, ohne Ende — der Schrei der Nachwelt: Hoch der Weg zur Meisterschaft!" Quellen zu den Aphorismen. T a r r a s c h : D r e i h u n d e r t P a r t i e n . Die beste Partiesammlung des Tages. Seine beiden N ü r n b e r g e r K o n g r e ß b ü c h e r und verschiedene M a t s c h b ü c h e r , alle ausgezeichnet durch Freiheit des Geistes und den Blick ins Große. (Verlag: Veit & Comp., Leipzig.) M a r c o : K a r l s b a d e r K o n g r e ß b u c h . Der berühmte Causeur hat liier ein Meisterwerk geliefert. Ich kenne kein Turnierbuch, das besser wäre. Die verschiedenen J a h r g ä n g e der W i e n e r S c h a c h z . e i t u n g : eine Fundgrube für gesunden Humor und Schachherrlichkeiten jeder Art. (Verlag: G. Marco, Wien, Schwarzspanierstraße 15.) L a s k e r , E m . : C o m m o n sense in chess. Ein kurzes — aber inhaltsreiches, sehr tiefsinniges Büchlein des großen Meisters und Philosophen. (Nur in Englisch.) Albin: Aphorismen. Eine treffliche Sammlung witziger Gedanken und genialer Einfälle des humorvollen Verfassers, der eine Fortsetzung zu wünschen wäre. (Selbstverlag Wien.) M i n c k w i t z , J.: H u m o r im S c h a c h s p i e l . Ein heiteres Büchlein des trefflichen Meisters. ( R o e g n e r s Verlag, Leipzig.) Bilder. Die Bildnisse von M o r p h y , wie das Genrebild: M o r p h y und E l k i n sind dem berühmten Morphybuch* entnommen, welches Werk nicht genug empfohlen und gelobt werden kann. Die Bildnisse von A n d e r s s e n , P a u l s e n und S t e i n i t z , wie das Genrebild: A n d e r s s e n und S t e i n i t z , sind dem Anderssenbuch* von H e r m a n n v o n G o t t s c h a l l entlehnt, ein hochbedeutsames, köstliches Buch, das viel Freude gewähren kann. L a s k e r s Bild ist dem Nürnberger Kongreßbuch* von 1896 entnommen, einem Musterbuch moderner Spielführung. * Verlag von V e i t & Comp, in Leipzig.

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Nachlese: Zusätze und Nachträge. S c h a c h a m a t e u r e . Der vielbewunderte, vielbesungene Chalif H a r u n - a l - R a s c h i d , der Held so vieler Märchen, der edelste und klügste Nachtwandler, den die Welt je sah, — war auch ein leidenschaftlicher, starker Schachspieler. — E r o b e r u n g s z ü g e . Man kann sie auch einteilen in reine, wenn eine feindliche Figur glatt gewonnen wird, und in Tausche r o b e r u n g s z ü g e , wenn nur eine höhere gegen eine niedere, — nur die Q u a l i t ä t . Im letzteren Fall braucht es dazu natürlich nicht erst einer Figurenmajorität. Es genügt die vollständige Hemmung der bedrohten höheren Figur. Das Majoritätsgesetz erleidet hier eine scheinbare Ausnahme. — H i s t o r i s c h e r Überblick. Ein Nachwort dem großen Max L a n g e , dem Könige aller Theoretiker und dem unvergeßlichen Verfasser des Morphybuchs. Sein Name lebe immer in dem Mund jedes eifrigen Schachjüngers und sein Andenken verlösche nie! Er hat der Schachspielkunst tiefe Gesetze — und einen Heros gegeben. — Turnieraphorismen: Wenn man zum Schach dich animiert. Sei auf das Äußere des Mann's nicht pikiert. Minckwitz.

Auf den Meisterturnieren. Durch kühne Opfer pflegen Den Sieg sie zu erstreben: Oft n i m m t den Preis entgegen, Wer vieles preisgegeben.

Minckwitz.

Willst du ein Turnier gewinnen, Mußt du vorher lange sinnen, Ob der Zug, den du sollst machen, Gut ist, — aber nicht hernachen; Denn vorbedacht und dann getan Steht stets dem richtigen Spieler an. I n d i s c h e r S i n n s p r u c h des Sassa D a h i r .

Der Turniersaal ist nicht der Ort für Experimente, deren Ergebnisse nur durch 20zügige Analysen festgestellt werden können. Marco.

Das Schachspiel ist ein Prüfstein des Gehirns.

Goethe.