Der Schriftsteller Johannes Freumbichler: 1881–1949. Leben und Werk von Thomas Bernhards Großvater 9783205116653, 3205775317, 9783205775317

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Der Schriftsteller Johannes Freumbichler: 1881–1949. Leben und Werk von Thomas Bernhards Großvater
 9783205116653, 3205775317, 9783205775317

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Böhlau

Literatur und Leben Band 69

Bernhard Judex

Der Schriftsteller Johannes Freumbichler 1881-1949 Leben und Werk von Thomas Bernhards Großvater

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. I S B N 3-205-77531-7 I S B N 978-3-205-77531-7 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2006 by Bühlau Verlag Ges. m. b. Η und Co. K G , Wien • Köln • Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Umschlagabbildung: Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Imprint, Slowenien

Inhalt

Univ.-Prof. Dr. Hans Höller Vorwort

7

Einleitung: Sichten und Ordnen Johannes Freumbichlers literarischer Nachlass 1.

2.

3.

„Herkunftskomplex" Henndorf Kindheit und Heimat. Eine literarische Urszene

15

Der konservative Rebell Jugend und Studentenzeit

35

Rastlose Zeit-Jahre der Flucht Heimatlosigkeit als Grunderfahrung

4.

11

61

Kein „geborenes Stadtvieh" Als unbekannter Schriftsteller in Wien. 22 Jahre Leben am Rand der Verzweiflung

5.

Lob des Landes - Die kurze Rückkehr Philomena Ellenhub als Beginn eines späten Erfolgs?

6.

91

129

Kämpfen am Schreibtisch Überleben in der NS-Diktatur und ein Buch an der Front

7.

159

Arbeiten „bis ich tot bin" Das Lebenswerk und die letzten Jahre in Salzburg

191

8.

Die Schreib-Maschine Thomas Bernhard und das literarische Erbe seines Großvaters

9.

221

Heimat, die nie war Johannes Freumbichler heute

251

Anmerkungen

255

Literatur

305

Register

323

Danksagung

330

Bildnachweis

333

Vorwort

,Ungewöhnlich' und ,wunderschön', das waren die Wörter, die Carl Zuckmayer verwendete, als er in den späten dreißiger Jahren Johannes Freumbichler seinen Lektüreeindruck von Philomena Ellenhub mitteilte. Noch viel ungewöhnlicher als damals muss einem heute, aus dem Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert, das Leben und Werk dieses literarischen Einzelgängers erscheinen. Ein Heimatromanschriftsteller, der die Fremde im eigenen Herkunftsort kannte und die Leiden des modernen Künstlers in die ländliche Welt seiner Romane hineinnahm. Johannes Freumbichler hat das ,malheur d'etre poete', verschärft durch eine heute schwer vorstellbare soziale Not, auf sich genommen und nur seinem Werk dienen wollen. Isolation, Armut, Scheitern und Verachtung, aber auch die bedingungslose Unterwerfung der ihm nächsten Menschen, sind die verstörenden Züge dieser Besessenheit vom großen Werk, die dann sein Enkel, der Schriftsteller Thomas Bernhard, in den eigenen literarischen Mythos des scheiternden Künstlers verwandeln konnte. Bereits der Großvater hatte diesen Typus des sich selber und der Welt entfremdeten Künstlers als einen beunruhigenden Widerspruch in die sonst von der Ideologie des Heilen und Bodenständigen besetzte Heimatromanwelt hineingetragen. Das eine wie das andere, moderne Fremdheit und konservative Geborgenheitssehnsucht, waren Teil seiner eigenen Zerrissenheit. Sie zeigt sich vor allem im dissonanten Verhältnis von Leben und Werk. Der Autor, der einer romantischen Idee unbedingter Künstlerschaft folgte und zum zurückgezogen lebenden Misanthropen wurde, wollte in seinem Werk zu einer katholisch religiös getönten „Vernunft und Fröhlichkeit" erziehen. Er schrieb das schöne Romanporträt der tatkräftig und weise handelnden Bauernmagd Philomena Ellenhub und nahm doch zugleich die misogynen Vorurteile des Philosophen Otto Weininger für bare Münze. Selber besitzlos, war er anfällig fur einen elitären Geistesaristokratismus, und obwohl er von früh an ein Gegner des Nationalsozialismus war, trat er zuletzt seiner Bücher wegen der Reichsschrifttumskammer bei. Was die Freumbichler-Forschung als „Vielstimmigkeit" im Leben und Werk bezeichnet hat, ist angemessener mit Dissonanz zu beschreiben. Denn eben die nicht aufgelöste Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit ergibt den Eindruck einer künstlerischen Existenz und eines Schreibens, das Carl Zuckmayer als in seiner ,Art ganz ungewöhnlich", dafür aber „vollkommen dichterisch" genannt hat.

8

Vorwort

Bernhard Judex hat die dissonanten Seiten dieser Künstlerexistenz nicht zu glätten versucht. Ihm ging es um die Rekonstruktion des sozialen und geschichtlichen Orts eines unbeirrbaren Schreibens und um die Darstellung des kaum bekannten literarischen Werks eines Außenseiters. All die neu in seine Untersuchung einbezogenen Materialien - das Ergebnis konzentrierter Archivstudien - vertiefen nur den Eindruck der unaufhebbaren Widersprüchlichkeit im Leben und Werk eines der ungewöhnlichsten Heimatschriftsteller Österreichs. Der weitaus größere Teil von Freumbichlers Schriften ist heute unbekannt, vieles ist nicht einmal aus der Öffentlichkeit verschwunden, sondern es war gar nie an die Öffentlichkeit gelangt, und die Tagebücher, die Aufzeichungen zu den Schreibprojekten und die Notate zum Alltag des Schriftstellers waren sowieso nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Ein halbes Jahrhundert nach Freumbichlers Tod wird nun, auf der Grundlage des umfangreichen Nachlasses, ein genauer Einblick in das Drama seines Schreibens ermöglicht. Anhand vieler authentischer Belege dokumentiert Bernhard Judex, wie dieses Schreiberleben fortwährend bedroht war, auf der einen Seite von Armut und Krankheit, auf der anderen Seite vom künstlerischen Scheitern an den riesigen Romanprojekten. Die ausgewählt zitierten Tagebuchnotate, die Judex als eine Art Leitfaden in seine wissenschaftliche Darstellung eingefügt hat, sind ein Versuch, dieser verzweifelten Schriftstellerexistenz eine individuelle sprachliche Spur im wissenschaftlichen Diskurs zu bewahren. Darüber hinaus kann diese Spur des Schriftstellerworts zum charakteristischen sprachlichen Ausdruck seines Enkels Thomas Bernhard hinführen. Unabweisbar wird so evident gehalten, ohne dass daran ständig erinnert werden muss, wie in Bernhards unverwechselbarer literarischer Stimme das misanthropische Patriarchenwort des Künstler-Großvaters nachklingt. Freumbichlers Verzweiflung am eigenen Leben und Schreiben dürfte, so legt es Bernhard Judex' Untersuchung nahe, neben seiner depressiven Veranlagung und allen sonstigen Widrigkeiten des Alltags nicht zuletzt aus dem künstlerischen Dilemma entsprungen sein, eine Balance zu finden zwischen seinen literarischen Allmachtphantasien und dem Machbaren, was ihm den Abschluss seiner Projekte so schwer ankommen ließ. An Begabung hat es nicht gefehlt, und noch weniger an der unermüdlichen, selbstruinösen Anstrengung. Die Geschichte der Entdeckung und Rettung des Romans Philomena Ellenhub durch Carl Zuckmayer und seine Frau Alice Herdan-Zuckmayer zeigt eine signifikante Möglichkeit, das angesprochene Dilemma zu lösen. Sie verweist uns wieder auf die Widersprüchlichkeit, die Freumbichlers Leben und Werk heraushebt aus

Vorwort

9

der konformen Heimatliteratur der Zwischenkriegszeit. Die beiden, damals auf der Flucht vor Hitler in Henndorf wohnhaft, wo sich auch Freumbichler in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre aufhielt, waren von Autor und Werk tief beeindruckt. Sie halfen bei der Schlussredaktion für eine letzte Romanfassung, deren Drucklegung sie ebenfalls in die Wege leiteten. Selbst den Staatspreis für Literatur, der Freumbichler in einem der letzten Monate des selbstständigen Osterreich zugesprochen wurde, verdankte er dem deutsch-jüdischen Emigranten und seiner Frau, die sich vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten des ungewöhnlichen Autors und seines ungewöhnlichen Werks annahmen. Siebzig Jahre danach erscheint nun eine umfassende Freumbichler-Monografie, die nicht mehr nur, wie in den vorangegangenen Jahrzehnten, das Werk des Künstler-Großvaters in dem des berühmten Enkels würdigt, sondern Bernhards Schreibvorfahren als einen erinnernswerten österreichischen Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt. Hans Höller, Salzburg, Mai 2006

Einleitung: Sichten und Ordnen Johannes Freumbichlers literarischer Nachlass

Leserinnen und Lesern von Thomas Bernhards Werk ist der österreichische Schriftsteller Johannes Freumbichler zumindest dem Namen nach ein Begriff. Als sein bekanntestes Werk gilt der Roman Philomena Ellenhub (1937). Wer aber hat ihn wirklich gelesen, ist mit dem Inhalt anderer Werke, etwa Auszug und Heimkehr des Jodok Fink (1942), vertraut oder erinnert sich an die postum veröffentlichten Mundartgedichte Rosmarin und Nelken (1952)? Johannes Freumbichler verdankt es vor allem seinem Enkel, zu den heute nicht zur Gänze Vergessenen zu gehören. Wie er dachte und schrieb, und dass seiner Literatur mit der Etikettierung als Heimatdichtung nicht beizukommen ist, deutet Thomas Bernhard wiederholt an. Als „für [s]ein ganzes Leben entscheidende Schule"1 bezeichnet er das Weltbild seines Großvaters, dem er bereits 1957 eine Hommage widmet: „In einer Zuckerkiste wurden über dreihundert vollgeschriebene Notizbücher gefunden, die sehr viel Unheil hervorrufen könnten, sollten sie einmal auszugsweise veröffentlicht werden. Denn unbequem war auch dieser Freumbichler, der von seinen Landsleuten genau das hielt, was sie sind." 2

Neben dem stets schwierigen Umgang seines Großvaters mit der Gesellschaft verweist Bernhard auf dessen umfangreiches, unveröffentlichtes Werk. „Das, was Freumbichler bedeutet, befindet sich in seinem Nachlaß."3 Das Verwandtschaftsverhältnis erwähnt er in dem Essay „Der Dichter aus Henndorf' übrigens mit keinem einzigen Wort. So vermag er, seinen persönlichen Einsatz für den Vergessenen geschickt hinter der objektiven Distanz eines scheinbar Unbeteiligten zu verbergen. „Unbequem" war Freumbichler in der Tat - für seine Eltern und für die Geschwister, für seine Frau und für die beiden Kinder, für seinen Enkel, dem er den Vater ersetzte, und schließlich für sich selbst. Nicht nur der Schriftsteller, auch seine Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Anna Bernhard sowie seine Tochter Herta, Thomas Bernhards Mutter, haben ihr Leben opferbereit unter ein ausschließliches Kunstprogramm gestellt. „Das Höchste im Auge"4, prägt Freumbichler ein außerordentliches Sendungsbewusstsein zwischen grenzenloser Selbstüberschätzung,

12

Einleitung

vernichtender Selbstkritik sowie existenzieller Bedrohung. Dabei lebt die Familie meist am Rande des materiell Möglichenjenseits des heute Vorstellbaren. Kleinste Gemütserregungen versetzen den empfindsamen, nur seinem Werk lebenden Dichter in maßlose Unruhe. E r könne „einen Raum mit anderen Menschen nicht lange Zeit teilen" 5 , schreibt er in einem seiner Notiztagebücher. Sein Leben lang fühlt er sich von seiner Umwelt bedroht und vom „Gift der Erfolglosigkeit" 6 bis zur Selbstaufgabe durchdrungen. Dennoch hält er am Glauben an den Erfolg und die Wirkung seines Schaffens fest: „Ich werde ein großer Künstler, und jedes Wort, das ich sage, muß auf die Menschen wirken." 7 Die vorliegende Monografie öffnet gewissermaßen den Deckel der ominösen „Zuckerkiste". Zum 125. Geburtstag Johannes Freumbichlers wird nach mehr als dreijähriger Forschungsarbeit, die in der erstmaligen systematischen Sichtung und Ordnung seines Nachlasses, der Transkription vieler, zum größten Teil handschriftlicher Materialien sowie einer literaturgeschichtlichen Einstufung bestand, Einsicht in ein aus heutiger Sicht nach wie vor aufschlussreiches Leben und Werk genommen. Ziel dieses Porträts ist es freilich nicht, „Unheil" hervorzurufen. Doch das Bemühen und die Hoffnung, die vorliegende Darstellung so authentisch wie möglich zu gestalten, macht so manche Stellen in Freumbichlers Werk sowie zahlreichen Briefen und persönlichen Notizen offenkundig, aus denen ein von sehr viel Unglück und Leid geprägtes Dasein sprechen. Betont werden muss, dass dieses L e bensbild in erster Linie den reichhaltigen Quellen aus dem literarischen Nachlass Johannes Freumbichlers folgt, der gemeinsam mit dem seines Enkels im ThomasBernhard-Archiv (Gmunden, Oberösterreich) aufbewahrt und betreut wird. Rund 15.000 Blatt Notizen, Entwürfe und Werkmanuskripte, 1.600 Korrespondenzen, 150 Notiztagebücher (,nur' die Hälfte der von Thomas Bernhard genannten Zahl) und viele weitere Archivalien dokumentieren ein ergreifendes Schicksal und ein noch kaum entdecktes literarisches Werk, dessen Entstehung und literaturhistorische Stellung beleuchtet werden sollen. Es ist auffällig und kein Zufall, dass in vielen Texten Thomas Bernhards Erbschaften und Nachlässe eine wichtige Rolle spielen. Der Ich-Erzähler im Roman Korrektur will Roithamers Nachlass „ordnen und sichten"8 und ist mit dieser Aufgabe überfordert. In „einem Augenblick möglicherweise der totalen Sinnesverwirrung" hat er „die Papiere vollkommen durcheinandergebracht".9 Um dieser Gefahr zu entgehen, folgt die vorhegende Darstellung chronologisch den einzelnen biografischen Stationen. Dabei ist das Leben der Familie Freum-

Einleitung

13

bichler-Bernhard-Fabjan ebenso wie das unermüdliche Schaffen des „unnahbaren Geistesarbeiter^] hinter der Polstertür" 10 , wie Thomas Bernhards Halbbruder Peter Fabjan seinen Großvater einmal treffend bezeichnet hat, im sozialgeschichtlichen Kontext zu verstehen. Friedbert Aspetsberger hat erkannt, dass Freumbichlers L i teratur „kaum auf ein,Programm' gebracht werden kann". 11 Dieser Schriftsteller ist mit der Seele seiner Heimat und mit der widersprüchlichen Mentalität Österreichs seit dem Ende der Donaumonarchie auf das Engste verbunden. Jene von Hans Weigel als Charakteristikum der österreichischen Literatur empfundene „Kavalkade des Verkennens, Verkanntwerdens und Selbstzerstörens" 12 zeichnet sich bei Freumbichler deutlich ab. Seine nachhaltige Wirkung auf die schriftstellerische Entwicklung Thomas Bernhards bildet mit einem Blick auf dessen unveröffentlichtes Frühwerk das Schlusskapitel dieser Monografie. Dass bislang unbekannte Texte und verschlossene Materialien zumindest in Ansätzen zugänglich gemacht werden konnten, ist mehreren Umständen zu verdanken. Neben der Quelle des Nachlasses, der zu folgen das Thomas-Bernhard-Archiv Gelegenheit gibt, konnte auf schon bestehende Arbeiten aufgebaut werden. Im Salzburger Literaturarchiv, wo sich der Nachlass von 1979 bis 1991 befand, begann Caroline Markolin mit der Transkription einzelner Tagebücher und Briefe und schuf eine erste lebensgeschichtliche Darstellung Johannes Freumbichlers, die mit Zitaten aus Bernhards autobiografischen Erzählungen kommentiert wird. 13 Eine unentbehrliche Quelle bietet Louis Huguets Chronologie mit ihrem detaillierten lebensgeschichtlichen Material. 14 Die Sammlung an Daten und Fakten ist nach wie vor ein „detektivisches Meisterstück" 15 , wenngleich ihre Angaben durch die neueste Forschung stets zu korrigieren sind. Für die vorliegende Untersuchung wurden die inzwischen als Vorlass im Thomas-Bernhard-Archiv befindlichen Materialien von Huguets Recherchen bei Privatpersonen und in Gemeinde- und Stadtarchiven gesichtet. Deren detaillierte Ordnung und Aufarbeitung wäre ein lohnendes Ziel zukünftiger Forschung. Im Anhang findet sich ein Überblick weiterer Literatur zu Johannes Freumbichler. Besonders hervorzuheben sind - neben Friedbert Aspetsbergers 1979 erschienenem Aufsatz über den Roman Philomena Ellenhub16 - Georg Unterbergers Dissertation zum Aspekt des Humors bei Johannes Freumbichler 17 , Manfred Mittermayers Beitrag zum Katalog der 1999 in Thomas Bernhards Wohnhaus in Obernathai (Ohlsdorf, Oberösterreich) erstmals gezeigten, mittlerweile international erfolgreichen Ausstellung „Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der

14

Einleitung

Nachlaß" 18 sowie Alexandra Ludewigs Studie über mythisierende Tendenzen in der Biografieschreibung und Bernhards Auseinandersetzung mit seiner Herkunftsgeschichte in einem gegen den Großvater gerichteten Schreiben. 19 Johannes Freumbichlers 125. Geburtstag scheint geeignet, um ihn nicht nur als Großvater Thomas Bernhards, sondern auch als vergessenen Dichter zu würdigen. Dass die kritische Auseinandersetzung mit diesem in seiner widersprüchlichen E i genwilligkeit faszinierenden Menschen lohnt, soll damit deutlich gemacht werden und einen Impuls schaffen, um sein literarisches Werk der Öffentlichkeit in der einen oder anderen Form neu zugänglich zu machen.

1. „Herkunftskomplex" 20 Henndorf 1 8 8 1 - 1 8 9 4 K i n d h e i t u n d H e i m a t . E i n e literarische U r s z e n e

„Ein friedliches Dorf im Sommer Beschirmte die Kindheit einst Unsres Geschlechts [...]" Georg Trakl

„Wo man her ist muß man sobald als möglich weg weil man sonst zugrunde geht" Thomas Bernhard

A l s i m J a h r 1942 der m i t autobiografischen E l e m e n t e n durchsetzte R o m a n und Heimkehr

Auszug

des Jodok Fink erscheint, bittet der R a i n e r W u n d e r l i c h Verlag in T ü -

bingen seinen A u t o r u m eine kurze D a r s t e l l u n g seines L e b e n s f ü r das V o r w o r t :

Johannes Freumbichler, 18 81 geboren, stammt aus Henndorf im Salzburgischen, wo sein Vater ein Bauernanwesen bewirtschaftete. Der lernbegierige Johannes kam mit fiinfjahren

in die Dorfschule, mit vierzehn Jahren in die Stadtschule. Nebenbei lernte

er von einem Vetter schnitzen und alle Bauernarbeiten. Nach vier Realschulklassen verschlug es ihm die Freude am Studium, als die Kadettenanstalt den Bewerber seiner Kurzsichtigkeit wegen abwies; er hatte nichts weniger als General werden wollen. Z u seiner Mißstimmung gesellte sich noch eine heftige Verliebtheit; er lief eines Tages von zuhause fort und begann ein abwechslungsreiches Wanderleben, das ihn vieles sehen und erkennen ließ, ihn aber mehrmals an den Rand des Abgrunds brachte. E r arbeitete in Fabriken und Schreibstuben und schaufelte bisweilen auch Schnee in den Straßen der Hauptstadt. In einer seiner tiefen Verzweiflungsstimmungen fing er zu schreiben an." 21

W a s sich als V i t a eines B o h e m i e n s liest, ist ein z u m T e i l erfundenes S t ü c k Prosa. Ä h n l i c h w i r d T h o m a s B e r n h a r d bei A b f a s s u n g seiner f ü n f autobiografischen E r zählbände „Stilisierungen und Mystifikationen" 2 2 einsetzen. K a u m ahnt man hinter

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ι. „Herkunftskomplex" Henndorf

Freumbichlers Darstellung die eigentlich tragische Dimension seiner Existenz. Dass er sich mit höchster Kraft und verzweifelter Anstrengung auf seine literarische Arbeit wirft, ist allerdings richtig. Sie ist ihm utopische Fluchtmöglichkeit aus der harten, oft unerträglichen Wirklichkeit. Wie sehr sich der wirkungsmächtige, politisch instrumentalisierte Mythos vom,Nährstand' in späteren Skizzen über den Schriftsteller behauptet, zeigt ein kurzes Porträt im Salzburger Bauernkalender von 1971 unter dem bezeichnenden Titel „Dichter und Bauer". Johannes Freumbichler, heißt es dort, „war Bauer und Dichter in einer Person und keiner weiß, was er lieber tat, den Pflug fuhren oder die Feder übers Papier gleiten zu lassen. [ . . . ] E r führte den Pflug und las dann in der Rastpause unterm Schatten eines Baumes einen griechischen Dichter." 2 3

Das bukolische Idyll entspricht ebenso wenig der biografischen Wirklichkeit wie den harten Lebensbedingungen auf dem Land. Bauer ist Johannes Freumbichler jedenfalls nie gewesen. Bereits sein Vater arbeitet als Kleingewerbetreibender und handelt mit Butter und Viktualien. Vergeblich hat der „Schmalz-Sepp" genannte Joseph Freumbichler gehofft, dass einer seiner Söhne das Geschäft übernimmt. Obwohl Johannes Freumbichler seine ländliche Heimat ebenso wie seine A b stammung stets voller Stolz betont, wird er sich von ihr abwenden. Das Aufbegehren gegen die Tradition sowie die Unzufriedenheit in der Enge des bäuerlichen Existenz- und Denkraumes einerseits, die Sehnsucht nach Ordnung und stabilen Lebensverhältnissen, wie sie das Land repräsentiert, andererseits kennzeichnen seine Lebensweise und sein CEuvre. In zunehmender Verbitterung gegenüber seiner Umwelt, der menschlichen Gesellschaft und sich selbst sucht er die Erlösung im Schreiben, in der dichterischen Erinnerung an die Heimat. Seine Literatur beschwört jedoch keineswegs ausschließlich ein Idealbild des Landes. Der W i derspruch zwischen der imaginär gestalteten Dorfwelt und dem eigenen Leben ist auffallig und tritt mitunter deutlich hervor. Damit hebt sich sein Schaffen von der Heimatkunst und der Blut- und Bodendichtung deutlich ab. Freumbichlers literarische Bauernsöhne sind wie ihr Autor oftmals widersprüchliche, gebrochene Charaktere mit modernen Zügen und repräsentieren individuelle sowie soziale Spannungen jener Generation, die von den raschen Veränderungen ihrer Zeit in eine ungewisse Zukunft fortgerissen wird. Aus der traditionsverbundenen Ordnung herausgefallen, in Konflikt mit dem Staat und den eigenen Vätern, erfüllt sie die rastlose Suche nach Orientierung, Lebenserwerb und existenziellem Sinn.

Kindheit und Heimat

!7

M i t dem Begriff .Heimatdichter' wird Johannes Freumbichler nur unzureichend charakterisiert. Für das Verständnis seiner Literatur und seines Lebens bieten die Wurzeln der Herkunft allerdings einen wesentlichen Schlüssel. Die mit der Landschaft verbundene Suche nach Identität wird auch für Thomas Bernhards Schreiben zu einem wesentlichen Moment. In seinem letzten veröffentlichten Roman Auslöschung befindet sich die Erzählerfigur Franz Josef Murau auf der Suche nach Klarheit über den „ganzen Herkunftskomplex" und erkennt, „daß wir so viele Hunderte und Tausende von Zetteln vollgeschrieben haben über diese Thematik, die unsere lebenslängliche Thematik ist, wir haben zweifellos und tatsächlich einen größeren, um nicht sagen zu müssen, einen großen Bericht abzugeben von dem, woraus wir schließlich entstanden und gemacht und von welchem wir die ganze Zeit unserer Existenz geprägt sind."24 Unverkennbar spielt Bernhard hier auch auf seinen Großvater an, der die Vergangenheit in seinen Notiztagebüchern, auf unzähligen Blättern über „Biographisches" und in oft gewaltige Ausmaße annehmenden literarischen Entwürfen auf seine Art bewältigt. Sein lebenslanger Versuch, die im Inneren tief verborgene bäuerliche Seele mit dem erst später erworbenen Intellekt und Künstlerdasein zu vereinen, gerät zum schwierigen Kampf um Selbstbehauptung. Im Hintergrund stehen die stille Forderung der gottesfürchtigen Ahnen nach Pflichterfüllung, ihr christliches Arbeitsethos, der konservative Wertekodex der dörflichen Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert und die ablehnende Haltung der Bauern gegenüber der ihrer A n sicht nach wertlosen Kunst und weltfremden Philosophiererei. E s ist ein belastetes Erbe, das Johannes Freumbichler einerseits abzuschütteln und andererseits in seine Vorstellungswelt zu integrieren versucht. Doch bei aller Kritik verteidigt er den Stand seiner Vorfahren liebevoll und mit idealisierendem Nachdruck. „Der Bauer ist der erste Mann, / Weil er die Welt ernähren kann!" 25 , heißt es im Roman Auszug und Heimkehr des Jodok Fink. Der Leitsatz ist an jene Sprüche angelehnt, die Freumbichlers Vater kultiviert hat. Einige der im Band Rosmarin und Nelken zusammengefassten humorvollen Mundartgedichte zitieren in knapper und kraftvoller Sprache Lebensweisheiten der Vorfahren („Da Ahnl", „An Ahnl seine Lehr'n", „Meine Mueda ihre Leibsprüch'"). Die Alten repräsentieren die Ordnung des fest in sich gegründeten Bauernstandes. Der junge Jodok Fink hingegen muss zunächst in die Welt hinaus, wo er sich „die Hörner

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ι. „Herkunftskomplex" Henndorf

abgestoßen" 2 6 hat, ehe er geläutert in seine H e i m a t zurückkehrt. I m Unterschied zu vielen anderen Texten Freumbichlers f o l g t dieser R o m a n recht deutlich dem traditionellen S c h e m a der Heimatliteratur. A u f die geschichtsträchtige Tradition der H e r k u n f t beruft sich auch K a r l H e i n rich W a g g e r l in seiner „inneren Biographie" und lässt dort den „Bergbauern" einen alten M y t h o s beschwören: „Mein Lehen ist uralt. Ich weiß nicht, wer der erste war, der hier heraufstieg und sich umsah, der die Quelle fand und eine sumpfige Blöße im Wald. Jedenfalls muß ihm die Gegend gefallen haben, er blieb und fing an zu roden und zu graben, lange Zeit. [...] Der Mann, sage ich, der zuerst da war und der zuletzt da sein wird, das ist der Bauer." 27 A u f g a n z ähnliche W e i s e spielt J o h a n n e s Freumbichler auf ein mächtig erscheinendes bäuerliches E r b e an. „ I c h meinerseits w a r jederzeit stolz darauf, e i n e m sechshundertjährigen Bauerngeschlechte zu entstammen." 2 8 S e i n e m S o h n Farald - der richtig H a r a l d R u d o l f Pichler heißt (s. Kap. 3) - schreibt er 1939: „Vergiß nie, daß alle unsere Vorfahren B a u e r n waren und daß ihre Sprüche die beste Weisheit sind, gut durchs L e b e n zu k o m m e n " . 2 9 D e n eigenen Familiennamen leitet er v o m väterlichen W o h n s i t z in B e r g bei H e n n d o r f am Wallersee ab:

„Ich bin 1881 in Henndorf bei Salzburg geboren. Meine Vorfahren waren Bauern. Eine richtige Bauerndynastie, denn sie reicht nachweisbar bis ins 13. Jahrhundert zurück. Wir hießen Friembichler. Friema, mittelhochdeutsch, anschaffen; Büheler ..., Bergler, also ,der auf dem Berge wohnende Anschaffer', welches nicht meine Eitelkeit, sondern der letzte Bürgermeister von Henndorf, Andrä Friembichler, Hofgartner Bauer, in dieser Weise ausgedeutscht hat." 30

L o u i s H u g u e t s akribischen F o r s c h u n g e n zufolge w u r d e Freumbichlers Vater in Steindorf bei Straßwalchen geboren und z o g mit seinen Eltern zunächst nach M i chaelbeuern ( G e m e i n d e K ö s t e n d o r f ) . 3 1 D e n in H e n n d o r f auf einem H ü g e l über dem Wallersee gelegenen H o f (Berg 22) erwirbt die Familie erst später. D e r N a m e „Friembichler" ist i m Salzburger F l a c h g a u verbreitet und verweist auf das ältere, ebenfalls in B e r g , auf dem ,Bühel frei stehende' - so die etymologisch großzügige A u s l e g u n g - ,Friembichlergut' (Berg 12 und 13). 3 2 D i e weit reichenden Verzwei-

Kindheit und Heimat

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gungen der Familiengeschichte inspirieren Johannes Freumbichler zu Bauernromanen und Erzählungen, in denen das genealogische Element ebenso gegenwärtig ist wie die Henndorfer Heimat als literarischer Schauplatz. Neben unzähligen unveröffentlichten Texten verweisen vor allem die Romane Eduard Aring (1918), Philomena Ellenhub (1937) und Auszug und Heimkehr des Jodok Fink (1942) auf die lebenslange Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft. Der von 1894 bis 1903 amtierende, klerikal-konservative Henndorfer Bürgermeister Andrä Friembichler (1856-1930) ist keine Erfindung des Autors und stammt vom Ho[p]fgartengut in Fenning

das Freumbichler in seinem unveröffentlichten Roman Eling. Das Tal

der sieben Höfe, an dem er bis zuletzt gearbeitet hat, verewigt. Johannes Freumbichler kommt am 22. Oktober 1881, um 22 Uhr, in Henndorf am Wallersee, rund 15 Kilometer nördlich der Landeshauptstadt Salzburg, als jüngstes von vier Kindern zur Welt. Die Eltern sind Maria (geb. Langer) und Joseph Freumbichler. Die Schreibweise des Familiennamens variiert immer wieder. In Dokumenten und Chroniken findet man neben dem ursprünglichen „Freunbichler" auch „Freinbichler", „Freumbüchler" oder „Friembichler".34 Getauft wird das Kind nach römisch-katholischem Ritus auf den Namen Johann Capistran".3S Auf dem Land ist man sich der christlichen Tradition bewusst. Der Tag der Taufe ist der 23. Oktober, der Gedenk- und Todestag des Geistlichen Johann von Capistran, der im 15. Jahrhundert als Wandermönch das erste österreichische Franziskaner-Kloster in Maria Enzersdorf bei Wien gegründet und gegen die Hussiten gepredigt hat. Von der frühesten Kindheit des kleinen Johannes ist außer den eigenen biografischen Erinnerungen nichts überliefert. Einige von Thomas Bernhards Gedichten, wie etwa „Mein Urgroßvater war Schmalzhändler"36, deuten auf die im Salzburger Flachgau weit verbreitete bäuerlich-kleinbürgerliche Herkunft. Dieser Urgroßvater Bernhards ist Joseph Freumbichler, geboren am 14. März 1830 in Steindorf bei Straßwalchen, Sohn einer Bauernfamilie, die sich 1852 in Henndorf, Berg 22, ansiedelt.37 Von diesem Zeitpunkt an nennt sich sein mit Anna Rutziger (1801-1871) wahrscheinlich seit 1829 verheirateter Vater, Michael Friembichler (1808-1882), ,Bauer zu Heising'.38 Als möglicherweise ältester nachweisbarer Vorfahre der Familie Freumbichler scheint in einem Taufbuch-Extrakt der Gemeinde Henndorf ein gewisser Philippus Freinpichler auf, geboren am 29. April 1646 als Sohn des „Balthasar Freinpichler de Freinpichel" und der „Christina uxor eius".39 Die damals schwer belegbaren und oft unsicheren familiären Verhältnisse wiederholen sich nicht nur innerhalb der Familien Freumbichler und Bernhard. Sie

20

ι. „Herkunftskomplex" Henndorf

sind für die - oft zu Unrecht - so genannte ,gute alte' Zeit charakteristisch. Das Heirats- und Bürgerrecht ist bis knapp vor Ende der Donaumonarchie streng geregelt und schließt Besitzlose von einer gesicherten Existenz - damals ein Privileg - aus. Das Heimatrecht, das heißt die Zuständigkeit zu einer Gemeinde, die eine soziale Unterstützung im Falle von Armut garantiert, wird erst nach mindestens zehn Jahren dauernden Aufenthalts vergeben. Die untere soziale Klasse, zu der viele Söhne und Töchter von Bauern zählen, ist paradoxerweise de iure oftmals zu einer quasi illegitimen Existenz gezwungen. Sie müssen sich als Dienstmägde und Knechte verdingen oder kommen in eine Lehre. Häufige Wechsel von Wohnsowie Arbeitsorten und uneheliche Geburten sind keine Ausnahme, wie Johannes Freumbichler in seinem Roman Philomena Ellenhub als sozialgeschichtliches Dokument einer heute vergessenen Zeit eindrucksvoll belegt. Auch der Zugang zur Bildung ist zu jener Zeit beschränkt. Zwar wird 1774 unter Maria Theresia die allgemeine Schulpflicht in Osterreich eingeführt. Aufgrund der Kinderarbeit und der am Land meist beschwerlichen Wege bleibt der regelmäßige Schulbesuch für viele Kinder aber noch lange ein Wunschgedanke. Johannes Freumbichlers Vater zählt zu der im 19. Jahrhundert großen Zahl von Analphabeten und lernt erst später mühsam das Schreiben und Lesen. Als Kanonier des k.u.k. Heeres von 1850 bis 1858 muss er die Feldpost an seine Eltern einem Kameraden diktieren.40 Der erste von drei erhaltenen Briefen stammt vom 4. Februar 1851 aus Vicenza und ist an die Heimatadresse in Michaelbeuern gerichtet. Die Nachricht vom kargen Sold, von hohen Preisen für die Verpflegung und von schlechten Quartieren, „daß es bey uns zu Haus schönere Schweine- und Roßställe gibt" 41 , entspricht dem realen Soldatenalltag.42 Im Allgemeinen galten die kaisertreuen Bauern der Alpenländer als „ausgezeichnete Soldaten".43 Joseph Freumbichler wäre lieber daheim und „froh, wenn es möglich sein könnte, frey zu werden, denn das Militärleben ist nicht gar am besten".44 Deshalb rät er seinen Eltern, den Hof rechtzeitig an den Bruder zu übergeben. Dies war, wenn man sich nicht um eine beträchtliche Summe vom Heer freikaufen konnte, die einzige Garantie, nicht als Soldat dienen zu müssen. Die anderen beiden Briefe stammen aus Kroatien, vom 20. Juli 1853 aus Zengg (Senj) und vom 24. November 1854 aus Karlstadt (Karlovac). Sie tragen bereits die Henndorfer Anschrift und geben Aufschluss über Joseph Freumbichlers genaue Dienstbezeichnung als „Vormeister beim 3.ten Feld-Artillerie-Regiment, 3. Kompanie in Karlstadt" 45

Kindheit und Heimat

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Später dürfte er oft von seinen Erlebnissen als junger k.u.k. Soldat, die ihn bis nach Cattaro (Kotor) in Dalmatien gefuhrt haben, geschwärmt haben.46 Johannes Freumbichler verarbeitet sie auf einer idealisierend fiktionalen Ebene in dem 1946 vollendeten, unveröffentlichten Roman Das Wunder vom Orangenbaum (auch Ljubica oder Die Perlenstickerin von Cattaro). Kriegerische Handlungen und der harte Soldaten-Alltag werden dabei bewusst ausgespart. Das Geschehen liest sich wie ein Bericht über den Erholungsurlaub junger Salzburger Bauernburschen unter südlicher Sonne, gewürzt mit einer Liebesbekanntschaft, die sogar die sprachlichen Hürden überwindet. Auch in anderen Texten greift Johannes Freumbichler immer wieder auf historische Stoffe vor allem des 19. Jahrhunderts zurück. Die Mutter, Maria Langer, geboren am 12. März 1843 in Henndorf, hat ebenfalls bäuerliche Vorfahren. Sie sind seit mehreren Generationen in Berg 21, am ,Gut zu Heising', ansässig.47 Die Eltern Johannes Freumbichlers wohnen also in unmittelbarer Nachbarschaft zweier stattlicher Bauernhöfe, lernen sich aber erst kennen, nachdem Joseph Freumbichler aus dem Militärdienst zurückgekehrt ist. Geheiratet haben sie überhaupt später, nämlich 1873. Zu diesem Zeitpunkt ist Joseph Freumbichlers erste Ehefrau, Katharina Haigerer (1822-1873) aus Henndorf, die in ihrer Sterbeurkunde als „Schmalzseppelin"48 erwähnt wird, gerade erst sieben Wochen tot. „Diese auffällig rasche Eheschließung untermauert die Vermutung, die erste Ehe sei von Seiten Joseph Freumbichlers aus materiellen Gründen geschlossen worden, um in den Besitz des Hauses Nr. 68 [recte: 82, Anm. B. J.] zu gelangen."49

Joseph Freumbichlers Tätigkeit bei der Errichtung der i860 eröffneten Eisenbahnlinie zwischen Salzburg und Wien wird öfters erwähnt, lässt sich aber nicht sicher belegen.50 Der damals vehement betriebene Bahnbau prägt die wirtschaftlichen Verhältnisse auch des Flachgaus und beschert der Region einen bescheidenen ökonomischen Aufschwung. Die Verkehrserschließung ermöglicht den Bauern und Händlern neue Absatzmöglichkeiten ihrer Waren und umgekehrt die Belieferung mit fremden Produkten. Anfangs mussten die Alpenländer allerdings mit gravierenden strukturellen Veränderungen und der Konkurrenz, etwa billig importierten Getreides aus Ungarn, kämpfen. Erst schrittweise erfolgt die Umstellung auf Viehzucht und Milchwirtschaft, verbunden mit extensiver Weide- und Wiesennutzung - die Lebensgrundlage vieler Familien, so auch der Freumbichlers.

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Schon während seiner ersten Ehe ab 1863 bringt es der so genannte „SchmalzSepp" mit dem Handel von Butter und Schmalz „zu bescheidenem Wohlstand".51 Joseph Freumbichler dehnt seine Verbindungen nach Salzburg, später bis auf den Wiener Naschmarkt aus, wo die Butter aus dem Flachgau feilgeboten wird.52 1888, als Johannes Freumbichler bereits die Schulbank seines Heimatdorfes drückt, wird sein kleines Geburtshaus, das ,Häusl an der Jägerleiten' unterhalb der Henndorfer Kirche, verkauft. An dessen Stelle erwirbt die Familie das größere,Binderhaus' (Nr. 68), heute Kirchenstraße 14, wo sie eine Viktualienhandlung einrichtet. Obwohl es in Henndorf mit 1.095 Einwohnern im Jahr 1880 bereits fünf Krämer und einen zweiten Gemischtwaren- und Viktualienhändler gibt, findet die Familie ihr gesichertes Auslangen.53 Auf dem Wochenmarkt in Salzburg bezahlt man 1890 für ein Kilogramm Butter oder Schmalz einen Gulden. Das entspricht damals in etwa dem Wert eines Arbeitshemdes oder dem durchschnittlichen Tageslohn eines Handwerkers.54 Bis unmittelbar nach 1900 bleibt Henndorf eine Gemeinde mit agrarischer Struktur. Die Bevölkerungszahl verändert sich „im langen 19. Jahrhundert" während des ,,Überleben[s] in Bedürftigkeit" 55 selbst bis Anfang der i93oer-Jahre kaum.S6 Viele Erneuerungen im Zuge der Industrialisierung ziehen an dem von Kleingewerbe und Landwirtschaft bestimmten nördlichen Alpenvorland vorüber. Die in der Heimatkunst beliebte Figur des Ahnl', also des Großvaters, beharrt in Philomena Ellenhub nicht zuletzt aus Gründen der Sparsamkeit auf dem klassischen Öllicht, das durch eine moderne Petroleumlampe ersetzt werden soll. Ebenso typisch für das traditionsverhaftete Denken ist Freumbichlers Erzählung „Der Tod der Kaiserin".57 Staat und Kaiser repräsentieren die weltliche Säule des von äußeren und inneren Veränderungstendenzen gleichermaßen gefährdeten ,Ordo Dei'. Obwohl sich die Bauern ihre Unabhängigkeit vom Feudaladel mühsam erkämpft haben, gilt ihnen die Monarchie als Garant politischer Stabilität und einer gesicherten Existenz. Bereits die Reformen Maria Theresias und Josefs II. sorgten für Verbesserungen, die ihnen beim Bauernstand eine bis zur Kaisertreue reichende Sympathie einbrachten. Das konservativ reaktionäre Element überwiegt. Dennoch profitieren auch die Salzburger Bauern von den Veränderungen durch die Revolution von 1848, allem voran von der durch Verfassungsbeschluss garantierten Grundentlastung und der Befreiung aus dem Untertänigkeitsverhältnis gegenüber den Grundherren. „Damit hatten die Bauern erlangt, was sie wollten, ihr Interesse an der Revolution, deren Fortgang das Erreichte gefährden konnte, begann zu erlö-

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sehen."58 Bereits Georg Büchner äußerte sich 1835 in einem Brief an Karl Gutzkow voll beißender Ironie über die politische Trägheit der Landbevölkerung: „Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden."59 Die nach jahrhundertelanger repressiver Herrschaft der Salzburger Erzbischöfe erreichte Selbstständigkeit fällt nicht nur zum Vorteil der Bauern aus. 1868 wird die aus dem Absolutismus stammende Einschränkung des freien Grundverkehrs aufgehoben. Das Land wird nicht nur teilbar, sondern kann auch hypothekarisch belastet werden. Zwangsversteigerungen verschuldeter Höfe sind die oftmalige Folge. Uberhaupt kommt es „in der zweiten Jahrhunderthälfte zu Krisenerscheinungen im österreichischen Bauerntum".60 Der Ausgleich mit Ungarn fuhrt zu einer verstärkten Konkurrenz für den alpenländischen Agrarraum, insbesondere für kleine Höfe oder Bergbauern. Salzburg fuhrt nach den verheerenden Napoleonischen Kriegen und der Befreiung aus bayerischer Herrschaft ab 1816 als kleinstes Kronland innerhalb der Monarchie eine Randexistenz. Die Gründung politischer Bauernbünde sowie von Kredit- und Betriebsgenossenschaften nach dem Vorbild Friedrich Wilhelm Raiffeisens gegen Ende des Jahrhunderts soll die Landwirtschaft stärken. Gegenüber dem größten Problem bleiben diese Maßnahmen allerdings wirkungslos. „Die Landflucht - an sich ein Phänomen fast aller Jahrhunderte der österreichischen und europäischen Geschichte - nahm in der Zeit der Hochindustrialisierung freilich an Umfang noch zu." 61 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sinkt der Anteil der Landbevölkerung kontinuierlich und liegt 1900 bei 53,6 %.62 Von den 100.000 Erwerbstätigen der insgesamt rund 170.000 im Land Salzburg lebenden Menschen sind 1880 noch 61 % in Land- und Forstwirtschaft und 16,2 % als Dienstpersonal - der Großteil davon wiederum bei Bauern - tätig. Bis 1910 sinkt dieser Anteil auf 50,9 % (Land- und Forstwirtschaft) beziehungsweise auf 11,1 % (Dienstpersonal), während die Anzahl der Beschäftigten in Industrie und Gewerbe von 17,8 % (1880) auf 22,4 % beziehungsweise in Handel, Verkehr, öffentlichem Dienst, Freiberufen und Militär als einer gemeinsamen Gruppe von 5 % (1880) auf 15,6 % steigt.63 Sozialgeschichtliche Verhältnisse liegen vielen Texten Freumbichlers zugrunde. Immer wieder ziehen Bauernsöhne und Mägde, von lockenden Versprechungen geblendet, in die Stadt und stürzen dort in Verzweiflung und materielles Elend. Der Autor spricht hier aus eigener Erfahrung, verbringt er doch die meiste Zeit seines Lebens fern von der Heimat und sehnt sich nach jenen klar geordneten

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Verhältnissen, wie er sie aus der Kindheit kennt. Umgekehrt stößt ihn das geistesfeindliche, konservativ-reaktionäre Umfeld des Landes ab. Obwohl sie von der Armut der Massen und von sozialer Kälte beherrscht wird, symbolisiert die Stadt Befreiung und Aufbruch. 1908 übernimmt Freumbichlers Schwester Rosina (27.2.1878-19.5.1943) unmittelbar vor ihrer Heirat mit Joseph Schlager (1879-1940) die Gemischtwarenhandlung der Eltern. Sie ist die sesshafte Erbin des kleinen „Einkaufs- und Verkaufsimperiums" 64 , das sich in Thomas Bernhards Darstellung großartiger ausmacht, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Als einziges der vier Kinder des Ehepaares Joseph und Maria Freumbichler bleibt sie der dörflich-bäuerlichen Tradition treu, „ein richtiges Kind der Idylle" 65 , wie Bernhard ironisch bemerkt. Die „Rosa Tante", wie sie seine Mutter nennt, die gelegentlich bei ihr arbeitet, klagt später über Krankheiten wie ihr Fußleiden und Sorgen mit dem Geschäft, so dass sie „manchmal [...] das Leben ganz satt"66 hat. M i t dem Handel von Butter und Schmalz ist ab Anfang des 20. Jahrhunderts immer weniger zu verdienen. Statt dessen wird die Zimmervermietung an Feriengäste zu einer wichtigen Einnahmequelle. Als Lebensmittelgeschäft existiert das ,Haus Nr. 68' aber noch bis in die i98oer-Jahre. Henndorf profitiert, wenngleich langsam, durch den um die Jahrhundertwende aufkommenden Tourismus. Immer mehr erholungsbedürftige Sommerfrischler strömen in das mittlerweile verkehrstechnisch erschlossene Gebiet der Trumer Seen und des Wallersees. Zwischen 1885 und 1905 verdoppelt sich die Zahl der Feriengäste allein im Land Salzburg - die Stadt nicht mitgerechnet - auf rund 210.000 Anmeldungen. 67 Ende 1887 wird die Eisenbahnstation Wallersee-Zell am gegenüberliegenden Seeufer eröffnet. Wenn - wie in einem von Freumbichlers Mundartgedichten - der Ruf „Übiführn, Übiführn" 68 ertönte, wusste der Fährmann, dass wieder jemand befördert werden wollte. Natürlich ist der Schiffsverkehr um die Jahrhundertwende moderner. Zwischen Zell und Henndorf verkehrt ein motorbetriebenes Boot. Romantischer sind die Fahrten mit der eigenen Zille, wie sie Johannes Freumbichler immer wieder unternimmt. Ist der See im Winter zugefroren, erreicht man die Bahnstation zu Fuß oder mit Schlittschuhen. Früh und erstaunlich vielfältig hat sich das künstlerische Leben der kleinen G e meinde entwickelt. 1807 wird hier der Schriftsteller Sylvester Wagner geboren und besucht in Salzburg das Gymnasium. In Wien findet er eine Anstellung auf der k.k. Sternwarte, engagiert sich für die Märzrevolution 1848 und muss schließlich fliehen. E r kehrt in seine Heimatgemeinde zurück und ist dort bis zu seinem Tod 1865 als

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1 Die Umgebung von Henndorf am Wallersee im Salzburger Flachgau,

2 Die Familie Freumbichler: Maria und Joseph Freumbichler mit ihrem Sohn Johannes, dahinter dessen Geschwister Marie (Ii.), Rosina und Rudolf (re.).

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3 Vater Joseph Freumbichler (1830-1909), im Alter von 65 Jahren.

4 Mutter Maria Freumbichler (18431920), im Alter von 62 Jahren.

5 Im 1888 erworbenen Wohnhaus in der Kirchenstraße (Henndorf) befand sich die Kramerei der Familie.

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6 Das Geburtshaus Johannes Freumbichlers in Henndorf steht heute unter Denkmalschutz

Fleischbeschauer und als eine Art Gemeindeschreiber tätig. Bekannt gemacht haben ihn seine Salzburga Gsanga, Gedichte und Lieder in Mundart. In Philomena Ellenhub widmet Freumbichler in der Figur von Philomenas Bruder, der in Wien studiert, als „Sterngucker" arbeitet und zum revolutionären Agitator wird, Sylvester Wagner eine kleine Hommage. Auch der 1802 in Großpiesenham bei Ried im Innkreis geborene Franz Stelzhamer fuhrt als Heimatdichter ein bewegtes Leben. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, geht aber ebenfalls in Salzburg auf das Gymnasium und studiert in Graz Rechtswissenschaften. Als „Piesenhamer Franz" wandert er durch das Land, hält Vorträge und schreibt volkstümliche Lyrik in Mundart und Dorfgeschichten. Erst die letzten Jahre bis zu seinem Tod 1874, die er in Henndorf mit einem Ehrensold des Landes Oberösterreich verbringt, bereiten der Armut und dem Vagantenleben ein Ende. Ohne den Einfluss dieser beiden mit ihrer salzburgisch-oberösterreichischen Heimat verwurzelten Dichter lassen sich Freumbichlers Mundartgedichte kaum denken. Eine Mappe mit der Aufschrift „Stelzhamer in Henndorf' aus Freumbichlers Nachlass enthält Notizen und Materialien zu einem geplanten Feuilleton über das geschätzte Vorbild. In den 1920er- und i93oer-Jahren wird Henndorf durch den Tourismus und die

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Salzburger Festspiele zu einem künstlerischen Tusculum.69 Carl Zuckmayer (18961977) erwirbt 1926 nach seinem Bühnenerfolg mit Derfröhliche Weinberg (1925) gemeinsam mit seiner Frau Alice Herdan-Zuckmayer (1901-1991) durch Vermittlung des Schriftstellers Richard Billinger die ,Wiesmühle' in Henndorf (Fenning 12). Der leidenschaftliche Wanderer Zuckmayer ist von der Landschaft des Flachgaus sofort begeistert. Das alte Gebäude gehörte dem Bräuwirt Carl Mayr, einem „abenteuerliche [n] Märchenkönig" 70 , dem Neffen des legendären und einflussreichen Caspar Moser, mit dem Joseph Freumbichler bekannt gewesen ist. Carls Bruder, Richard Mayr, ist Sänger an der Wiener Hofoper und wird in der Rolle des ,Ochs auf Lerchenau' in Richard Strauss' Der Rosenkavalier berühmt. Der Bräuwirt und Zuckmayers Haus zählen bald zu beliebten Treffpunkten erfolgreicher Künstlerinnen und Künstler mitsamt ihrem Anhang. Neben den Autoren Franz Theodor Csokor, Alexander Lernet-Holenia, Odön von Horväth - er vollendet in Henndorf seinen Roman Jugend ohne Gott (1937) - sowie Hans Schiebelhuth und Stefan Zweig zählen auch die Schauspielerin Grete Wiesenthal und ihre Kollegen Emil Jannings und Werner Krauss zum so genannten „Henndorfer Kreis". 71 Für Johannes Freumbichler wird die Familie Zuckmayer später eine entscheidende Rolle spielen (s. Kap. 5). Einen unbekannten Künstler heiratet 1898 in Henndorf Freumbichlers ältere Schwester Marie (24.3.1875-29.2.1952). Der aus Wien stammende Ferdinand Russ (geb. 1872, Sterbedatum unbekannt) ist ein mangels Erfolg um so abenteuerlustigerer und fantasiereicherer Kunstmaler. Aus der Verbindung stammen Fernanda (18991979), die später als Tänzerin und Sängerin in Varietes auftritt, und Kaspar Roland (1900-1982), der ebenfalls Maler wird. Die junge Familie bewohnt das Haus Fenning 30, die so genannte ,Marienklause', die sich bis 1910 im Besitz der Schwester Rosina und ihres Mannes befindet. Das von Thomas Bernhard geschilderte Atelier existiert in dieser Form nicht.72 Allerdings bietet das Grundstück am Wallersee ideale Voraussetzungen zur ungestörten künstlerischen Arbeit, so dass sich gelegentlich auch Johannes Freumbichler dorthin zurückziehen wird. In der von Leidenschaft, Kampf und Hass bestimmten jungen Ehe kommt es jedoch zu dramatischen Szenen. Der mit seinen Projekten erfolglose Russ ist in Geldnot und muss sich von seiner Schwiegermutter Maria Geld ausleihen. Johannes Freumbichler wohnt den Auseinandersetzungen bei und zeigt sich tief berührt von den heftigen „Erschütterungen und Aufwallungen des menschlichen Innern".73 Vergeblich hofft der empfindsame Jüngling, dass die „Liebe [...] den Sieg über die entfesselte Natur davon[trägt]".74

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Der „erste, große Aufruhr in [s]einem Seelenleben"75 hallt noch lange nach. Marie und Ferdinand Russ - dieser lebt zeitweise allein in der JVlarienklause', um zu malen - fuhren ein zerrissenes Leben zwischen Wien und Henndorf. Ursprünglich hätte Rudolf Freumbichler (13.4.1876-7.3.1902) als erstgeborener Sohn das Geschäft der Eltern übernehmen sollen. Doch er ist ein freiheitsliebender Schwärmer, den es in die Natur zieht. Ahnlich wie Johannes, der dem älteren Bruder zugeneigt ist, sticht Rudolf durch einen äußerst empfindsamen Charakter hervor, der ihm das tägliche Leben unter Menschen zur unerträglichen Qual macht. Er entflieht der Enge des Dorfes und will Jäger und Förster werden. Im Jahr 1900 arbeitet er als Jagdgehilfe unter dem Henndorfer Förster Georg Meisinger in den Wäldern von Lichtentann bei Henndorf am Fuße des Kolomansbergs. Das Praxisjahr ist die Voraussetzung, um zur Jagdprüfung anzutreten, die Rudolf Freumbichler vermutlich abgelegt hat. Seine Notiz- und Tagebücher im Nachlass seines jüngeren Bruders enthalten Lieder und Gedichte, literarische Versuche eines Jugendlichen, der sich Gedanken über „Das menschliche Leben" - so die Uberschrift zu einem Fragment - und die Ereignisse seiner Zeit macht. Aus den Aufzeichnungen geht auch hervor, dass die Familie Freumbichler ursprünglich aus fünf Kindern bestand. Der 1886 spät geborene Wolfgang stirbt im Alter von nur zwei Jahren. 76 Ihm wird Johannes Freumbichler den unveröffentlichten historischen Roman Die Himmelfahrt des Königs von Montbrison widmen, der das Schicksal des mit zehn Jahren in der Haft verstorbenen Prinzen Capet, Sohn von König Ludwig XVI., behandelt. In einem anderen Notizbuch schildert Rudolf Freumbichler ein geselliges Fest im Gasthaus Kienberg zu Ehren des alten Försters Meisinger. Bis funfUhr früh wird fröhlich gezecht. Doch der junge Jäger findet keine Anstellung und wird von Weltschmerz und Depressionen geplagt. Seine Kindheit dürfte Johannes Freumbichler unbeschwert verbracht haben. Das Soldatenspiel mit dem Bruder und Kameraden gegen die „Franzosenschädel" genannten Nachbarbuben - ein Nachhall der Napoleonischen Kriege - , sei eine seiner liebsten Beschäftigungen gewesen, schreibt er später.77 Über seine Familie und sein Verhältnis zu Eltern und Geschwistern geben erst spätere Briefe sowie Notizen unter dem Titel „Biographisches" Aufschluss. Aus ihnen spricht das Bedürfnis nach Vergegenwärtigung seiner Entwicklung. Er sucht nach möglichen Ursachen fur seine labile psychische Konstitution als Erwachsener. Der offenbar mangelnden Führung und dem fehlenden Interesse der ganz der Arbeit hingegebenen Eltern für die Belange ihres Sohnes steht der Vorzug großer Freiheit gegenüber.

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„Wir waren außer der Schulzeit ganz frei, die Eltern hatten zu tun und kümmerten sich nicht um uns. Den Schulranzen in die Ecke, einen Trunk, ein großes Stück Butterbrot und fort ging's - Wald, See, Wiesen, Gehölz, Auen - oh, alles stand uns wie ein Garten Gottes zur Verfugung. [...] Was mir am meisten gefehlt hat, war die liebevoll leitende, verständnisvolle Hand. Die beiden Alten liebten mich über alles, aber sie standen auf so niedriger Bildungsstufe, daß sie nichts tun konnten"78,

erinnert sich Johannes Freumbichler. Auf Familienstreitigkeiten sowie aufjede Art von nur andeutungsweise gewaltvollen Auseinandersetzungen reagiert der Junge wiederholt äußerst sensibel. Seine regelrechte Scheu vor Konflikten wird er sein Leben lang nicht ablegen. Der Vater erscheint als konservativer, unsentimentaler Patriarch, der in seiner Arbeit aufgeht. Einer seiner Leitsprüche verdeutlicht den unermüdlichen Fleiß des sparsamen Krämers: „Wenn dö oan aufgstandn hand - han i schon g'rast't" („Wenn die einen [= anderen] aufgestanden sind, habe ich schon gerastet").79 Im Dorf genießt er als Steuerzahler und Wahlberechtigter ein gewisses Ansehen. Erst als Johannes die Dorfschule besucht, lernt sein Vater als Kaufmann Grundzüge des Lesens und Schreibens. Mit ungelenker Hand schreibt er eine Widmung in das Stammbuch seines Sohnes von 1892/93: „Zum Andenken / Wenn ich einst gestorben bin / Geh zu meinem Grabe hin. / Beth fur mich und denk daran / Was ich hab fur Dich gethan. / Zur Erinnerung [an] Deinen Vather."80

Ähnlich gestaltet die gläubige Mutter ihre Eintragung nach dem Vorbild eines ,Memento mori'. Kritisch erwähnt Johannes die Trunksucht seines Vaters, der den sinnlichen Genüssen nicht abgeneigt ist. 81 Der Sohn reagiert mit einer Idiosynkrasie aller Unmäßigkeit gegenüber und ermahnt sich später selbst zur Enthaltsamkeit auf ganzer Linie. Rückblickend entwickelt er eine grenzenlos liebevolle Verehrung seiner Eltern, „die das Edelste und Schönste waren, was ich auf Erden gesehen habe".82 Schmerzhaft wird er sich der emotionalen Distanz bewusst, die er sein Leben lang zu seinem Vater verspürt hat. Ein näheres Verhältnis entwickelt er von Anfang an zu seiner Mutter, mit der er eine intensive Korrespondenz unterhält.83 „Oh Gott. Unser Briefwechsel! Was barg er im Grunde nicht für eine Seeligkeit!"84, notiert er. Maria Freumbichler unterstützt den geliebten Sohn mit großer Hingabe, so weit sie es vermag - auch finanziell.

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Mit einfachen Worten spricht sie ihm Mut zu und ermahnt ihn zu Sparsamkeit und Gottesfurcht: „Bete zu Gott dem Allmächtigen und der Allerseligsten Jungfrau, vertraue nur auf Gottes Barmherzigkeit und Du wirst erhört. Ich werde alle Tage beten, daß Du glücklich wirst. Gehe oftmals in die Kirche und höre eine ganze Messe [.. ,]"85

Immer wieder imaginiert sich Johannes Freumbichler als Kind und flüchtet in die Erinnerung an die sorglose Zeit im heimatlichen Henndorf. „Der Heuboden auf unserem Gute war mir der liebste Aufenthalt, nichts ging mir drüber! Stundenlang lag ich im duftenden Heu und träumte. Oft auch mein Bruder mit mir. Besonders an den Tagen, wo große Hitze herrschte, die Leute auf den Feldern arbeiteten, zogen wir uns in den kühlen Heuboden zurück. Mein Bruder voller Phantasien und toller Einfalle und ich mußte ihm um jene Zeit immer gehorchen."86

Zum späteren Leben in Armut, Einsamkeit und Verzweiflung steht die heile Welt in deutlichem Widerspruch. Setzt er auf der einen Seite seiner bäuerlichen Heimat ein Denkmal, scheint er es auf der anderen Seite anzugreifen. Viele seiner Figuren sind eigenwillige, oft kauzige Sonderlinge, die er mit liebevollem Humor beschreibt. Manches Mal fuhrt sie das Lebensschicksal gar an die Wende einer neuen Zeit und lässt sie auf tragische Weise untergehen. Freumbichler macht die Konflikte seines eigenen Lebens zur Literatur und schafft mit seinen Notiztagebüchern und Briefen einzigartige Dokumente. Das Schreiben bietet die Möglichkeit, sich die Heimat imaginär zu vergegenwärtigen. Die Mehrzahl seiner Arbeiten entsteht in der Fremde. Johannes Freumbichler ist ein ortloser Mensch, der sich in seiner „Denkkammer"87 mit den Büchern der von ihm geschätzten Dichter und Philosophen und in der eigenen Arbeit zu Hause fühlt. Die schmerzliche Sehnsucht nach einem imaginären Ursprung, in dem Glück und Gewissheit herrschen, ist als regressive gesellschaftliche Utopie auch Ausdruck einer Epoche. Ahnlich widersprüchlich wie in Freumbichlers Biografie und in seinem Werk gestalten sich die sozialgeschichtliche Entwicklung und das Lebensgefühl der letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie. Auf trügerische Art beschwört man, wie der ebenfalls 1881 geborene Stefan Zweig andeutet,

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„das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. [ . . . ] Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft." 8 8

Die Skepsis gegenüber Veränderungen teilt man im k.u.k. Staat mit seinem obersten Repräsentanten, dem Langzeit-Kaiser Franz Joseph II. Eine auch für den Historiker bemerkenswerte „Schilderung des typischen Entwicklungsmusters von verlangsamtem sozialen Wandetra tpoc aHem bit ffyönr ©elaflenljeit einte edjfin Scjä^Urf. 3Φ bitfen neuen, biefen tpirfiit^tn ©ίφίπ: - ίφ Begrüßt φη υοιι j^agtn. Ofefftrtfbr^Perfonig) (Sine iDatjrljafi urfprüng^e imb t'olfewrbunbtnt örgä^lung, üoUfommen ofyne iCortilb, »oüfoinmen Hunittecart$" unb bafcei vcUfommei bit^terifeb. Χ3ή£ίίφ tin tiarer ötitfl, ein lauleree 2ßa(fer, ein $immrl »oll @onne, foil 23eifer« laufen unb ©fernenmilbe, güiig, reif imb mtife. (OTewftreit^rtffr) PAUL

ZSOLNAY

VERLAG

24 Anzeige des Paul Zsolnay Verlags für den Roman Philomena Ellenhub (1937).

Philomena Ellenhub als Beginn eines späten Erfolgs?

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25 A n n a und Johannes Freumbichler, vermutlich bei ihrer Hochzeit 1938.

Philomena, deren Entwicklung zu „Liebe, Muttertum und Lebenssicherheit" 677 fuhrt, bildet als Integrationsfigur innerhalb der Familie und des Dorfes die Klammer zwischen Jung und Alt. In ihr manifestiert sich die Einsicht, „daß es vernünftiger war, weniger am Leben teilzunehmen und es mehr zu beschauen". 678 Ihr „Glassturz" 679 ist ein anderer als der aus Stolz und Unnahbarkeit geformte ihrer ersten Dienstgeber, der Haginghofer Bauern. Als die junge Magd von Lix, dem zukünftigen Erben des Hofes, schwanger wird und ihre neuen Umstände der Bäuerin eröffnet, wird sie als Lügnerin bezeichnet und verlässt den Hof. Die Problematik illegitimer Kinder ist ein auf dem Land weit verbreitetes Phänomen, vor allem der sozial ärmeren Schichten. Viele Dienstboten, die sich eine Heirat nicht leisten können, bleiben bis an ihr Lebensende ledig. 680 Die erzieherische und moralische Belastung trifft vorwiegend die Frauen, die Väter sind entweder nicht nachweisbar oder fliehen vor ihrer Verantwortung. Erst spät tritt der ,Vater Staat' an ihre Stelle: „Von 1889 bis 1 8 9 1 mußten die Salzburger Gemeinden 1 1 5 . 7 0 8 Gulden a n A l i m e n tationskosten aufbringen, von denen sie nur 2.649 Gulden 60 Kreuzer von den K i n -

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5· Lob des Landes - Die kurze Rückkehr

desvätern hereinbrachten. So tauchte der Plan auf, Väter, die die Zahlung verweigerten, kurzerhand ins Gefängnis zu sperren." 681

Vor einem ähnlichen Problem steht nicht zuletzt Herta Bernhard. In den 1930erJahren versucht man immerhin, per Gerichtsbeschluss und Exekutionstitel die Väter im Falle eines eindeutigen Nachweises zu Zahlungen zu zwingen. Alois Zuckerstätter hat sich deshalb über Vorarlberg nach Berlin abgesetzt und hält seinen Verdienst teils bewusst möglichst gering, an der Grenze zum Existenzminimum. Obwohl seine Vaterschaft amtsärztlich nachgewiesen werden kann, bleibt er Herta und Thomas Bernhard jede Verantwortung schuldig. In Berlin gründet er eine Familie und stirbt am 2. November 1940 an einer Gasvergiftung, vermutlich durch Selbstmord. Johannes Freumbichlers literarischer Anspruch ist es, vom mühsamen Alltag abzulenken, dem Leser Entspannung und Unterhaltung, aber auch Bildung und moralische Stärkung zu bieten. Der Archivar, der in Philomena Ellenhub an manchen Stellen erklärend als verborgene Stimme des Autors auftritt, 682 wirkt als integratives Bewusstsein. Seiner Auffassung nach ist echte Kunst „Gottesdienst" 683 in der Nähe zur Natur. In den Bauernstand setzt er eine heilsgeschichtliche Erwartung: „So geht auch, meines Erachtens, in tief verworrenen Zeiten ein Volk zum Bauerntum zurück, weil es instinktiv fühlt, daß hier der Weg fuhrt zur wahren Weisheit." 684

Nach der bewegten, die unterschiedlichen Ansichten der Dorfbewohner reflektierenden „Versammlung"685 am Vorabend der Märzrevolution und dem symbolischen Brand des Bräuwirts endet das Werk mit einem Loblied auf das Bauerntum, das der kosmisch götdichen Einheit zwischen Mensch und Natur den Weg weist. „Das Königtum wird stets aus dem Bauernvolk aufs neue wiedergeboren. Was mich anbetrifft, hab'ich keinen Zweifel, daß aller Leben Inbegriff hier ist, auf diesen Bergen, in diesen Tälern, hinter jenen steinbeschwerten Schindeldächern. Ich sehe schon die Zeit heraufkommen, wo die neue Wunderblüte sich entfaltet, merke schon die ersten Anzeichen; die Urkraft des Lebens, vielfach angekränkelt, kehrt in ihrem Drang zur Gesundheit an die Quelle zurück." 686

Philomena Ellenhub als Beginn eines späten Erfolgs?

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Philomena bestätigt mit dem Glockenpatronat ihre Rolle als gute, mütterliche Gestalt und reiht sich würdig in die Tradition der Ahnen ein. „Erhebet euere Herzen und glaubet daran: das Leben ist einfach, liebreich und gut.. ."687 In der weiblichen Titelfigur bündeln sich die polaren Welten, die der Heimatroman bewusst gegeneinander ausspielt: Tradition versus Erneuerung, alte gegen junge Generation, gesellschaftlich normierender Zwang contra Individualität, dörfliche Enge gegenüber Aufbruch und Fremde. So spiegeln die entwicklungsfähige Figur Philomena und ihr sozialgeschichtliches Umfeld die Veränderungen des 19. Jahrhunderts jenseits moralisierender Wertungen. Philomena Ellenhub steht im Zeichen einer versuchsweise differenzierten Charakterisierung der bäuerlichen Lebenswelt zwischen konservativer Tradition und individuellem Aufbruch, zwischen dumpf bedrückender Enge und Sehnsucht nach Offenherzigkeit. Deutlich deklariert sich darin das Wunschdenken des Autors, der die Distanz zum geordneten ländlichen Kosmos, in dem körperliche Arbeit, Demut und Lebenslust sinnstiftend wirken, schmerzhaft verspürt hat. Die Schaffenskraft und Daseinsfreude der Bauern demonstrieren die in den Text eingestreuten Lieder. Spiel, Tanz und Gesang überhöhen den Alltag und nehmen eine wichtige Position in Freumbichlers Werk ein.688 Komisches und Kosmisches stehen oft dicht nebeneinander. Lachen und Lächerlichkeit und die oft kauzig wirkende Eigenwilligkeit mancher Figuren, die als Typen dem Dorfleben nachempfunden sind, sollen die Spannungen der gegensätzlichen Welten ausgleichen.689 Auch in Freumbichlers Leben selbst blitzen neben der tragisch leidvollen Seite mitunter Schaffensfreude und Humor auf. Freilich verdankt der Eindruck „einer taufrischen dichterischen Schönheit"690 der Bearbeitung des ursprünglichen Manuskripts durch Alice Zuckmayer sehr viel. Adalbert Schmidts Eindruck vom „Werk aus einem Guß" 691 wird man angesichts der Entstehungsgeschichte des Romans widersprechen müssen. Doch die Verbindung von Mensch und Landschaft sowie die Dimension des Räumlichen als lebensgeschichtlich prägendes Moment und Ausdruck innerer Erlebnisse unterscheiden Philomena Ellenhub eindeutig von den ideologisch gefärbten, „konjunkturbedingten Bauerndichtungen, die aus der sentimentalen Natursehnsucht des Städters in die bäuerliche Welt hineinblicken".692 Friedbert Aspetsberger betont, wie „vielstimmig und tolerant"693 Freumbichler durch die komplexen Figuren - im Gegensatz beispielsweise zu Karl Heinrich Waggerls Brot (1930) oder Schweres Blut (1931) - unterschiedliche Aspekte wie die sozialgeschichtliche Problematik des

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5. Lob des Landes - Die kurze Rückkehr

Bauerntums differenzierter zu behandeln vermag. Die „Sprache des Erzählers gilt dem Prozeßhaft-Individuellen". 694 Mit gutem Recht lässt sich, ausgehend von der zentralen Titelfigur, von einem Entwicklungsroman sprechen, der das konventionelle Genre der Heimatliteratur sprengt und um eine „liberale Facette"695 erweitert, die man trotzdem nicht überbewerten sollte. Frei von konservativen Elementen und Klischees ist auch Freumbichlers Dichtung nicht, wie schon der Anfang zeigt, der in die „Landschaft" des Romangeschehens einführt. „Auf einem der großen Lehen nun saß das Geschlecht der Ellenhuber seit uralten Zeiten." 696 Die Einbettung der Handlung in einen ewig mythischen Naturraum und die traditionsbewusste bäuerliche Herkunft bezeichnet Karlheinz Rossbacher als für die Heimatdichtung geradezu klassische „Beschwörung eines ,Ur-Anfangs'". 697 Das Erscheinen des Romans Anfang 1937 soll marktstrategisch genutzt werden. Zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften des deutschen Sprachraums werden einzelne Kurzprosatexte Freumbichlers - korrigiert und ausgewählt wiederum durch Alice Zuckmayer - angeboten. Sie will sich weiterhin für den Dichter einsetzen und bittet ihn um Theaterstücke, die sie nach den Möglichkeiten einer Veröffentlichung und Aufführung prüft. „Jetzt ist gerade der richtige Zeitpunkt dazu und nichts ist mir lieber, als die weltlichen Dinge für Sie zu tun, die Sie gar nicht dürfen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie nahe mir das Erscheinen der Philomena geht und wie sehr mir ihr Wohlergehen am Herzen liegt! 698 ,

schreibt sie ihm im Januar 1937. In der rechts-nationalen „Monatsschrift für das deutsche Haus" Der getreue Eckart wird die 1928 erstmals veröffentlichte Erzählung „Der große Zauberer Arnos Teufel" gedruckt. 699 „Die beiden Todfeinde" erscheinen vermutlich im August 1937 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung (Berlin) 700 , später noch einmal in der Zeitschrift Bergland im Januar 1939. 701 „Für die Zeitungsabdrucke bekam der Autor durchschnittlich S[chilling] 20" 702 , nach heutigem Wert etwa 60 Euro. Im August 1937 veröffentlicht die Reichspost die Erzählung „Der Kardinal". 703 In einem Brief an den Autor geht Alice Zuckmayer ausführlich auf ihre Überarbeitung dieses Textes ein, der später unter dem Titel „Der reiche armselige Kirchenfurst" in den Geschichten aus dem Salzburgischen erscheint.704 Kommt Freumbichlers

Philomena Ellenhub als Beginn eines späten Erfolgs?

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von Jugend an kritische Einstellung gegenüber der katholischen Amtskirche in der ersten Fassung noch deutlich zum Ausdruck, ist er gezwungen, sie für die Veröffentlichung in der christlich-sozialen Tageszeitung abzuschwächen. Beim festlichen Empfang des Kardinals in seiner ländlichen Heimat kommt es zu einem Zwischenfall. Der Rauchfangkehrer ruft einige Mal laut „Los von Rom!" und fällt in den Brunnen. In einer schlaflosen Nacht reflektiert der Kardinal, ausgehend von dieser Szene, die Entwicklung und den Sinn seines bisherigen Lebens. In seinem Glauben irritiert, spürt er die Nähe des Todes. Schließlich begreift er, „jedes G l ü c k , das größte wie das kleinste, muß mit einer Plage, einer Pein, einem Schmerz erkauft werden. Durch Pein, Plage und Marter fuhrt ein schmaler Pfad zur höchsten Weisheit, zu Gott. In G o t t aber ist lauter G l ü c k .. Λ 7 0 5

Für den mittlerweile 56-jährigen Johannes Freumbichler scheint ein lange ersehnter Lebenswunsch in Erfüllung zu gehen. Spät, über viele Umwege findet sein Werk öffentliche Anerkennung. Unter bestimmten Voraussetzungen hätte dies vielleicht sogar den Beginn einer bescheidenen Karriere bedeutet. Doch der politische Umbruch wirft bereits seine Schatten voraus. Umwege zählen zu dieser Zeit für die meisten Künstler und Intellektuellen zu den ganz realen, leidvollen Erfahrungen. Dies betrifft - von der materiell immer noch angespannten Lage abgesehen - nicht einmal so sehr Freumbichler, dessen Dichtung kurz nach dem ersten Erfolg schon wieder bald in Vergessenheit gerät, sondern viel stärker die kritische Intelligenz, die, im Ständestaat gerade noch geduldet, aus politischen sowie ethnischen Gründen ab 1938 auch in Osterreich bedroht ist. Während der unbelangte Autor der Philomena Ellenhub auch nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland auf weitere Erfolge hofft, zählen seine Förderer Alice und Carl Zuckmayer zu den ins Ausland Vertriebenen. Dabei zögert der deutsche Schriftsteller seine Abreise bis zum Schluss hinaus. In letzter Minute gelangt er am 15. März 1938 von Wien aus in die Schweiz; seine Frau und die beiden Töchter sind schon in London in Sicherheit. Später emigriert die Familie in die Vereinigten Staaten. Noch aus St. Nikiaus bei Zermatt schreibt Alice Zuckmayer im Juli 1938 an Freumbichler: „Es geht uns so gut, als es einem gehen kann, wenn einem das Wesentliche genommen worden ist [ . . . ] M e i n M a n n arbeitet und ich meinerseits bin fest entschlossen, das zu bewältigen, was das Schicksal uns auferlegt hat." 706

5· Lob des Landes - Die kurze Rückkehr

Was dieses „Wesentliche" war, das Carl Zuckmayer den Abschied aus Österreich so schwer gemacht hat, beschreibt er eindrucksvoll in seiner autobiografischen Erinnerung. Die Erfahrung des Exils wird fur ihn zur „Austreibung" aus dem „Paradies", das er in Henndorf in der,Wiesmühle' gefunden hatte.707 „ Wo ist man daheim? Wo man geboren wurde oder wo man zu sterben wünscht? Damals glaubte ich es zu wissen - glaubte mit einer Stecknadel auf dem Globus den winzigen Punkt geographisch bestimmen zu können, der mir selbstgeschaffene, selbsterwählte Heimat war und wo ich mein irdisches Dasein auszuleben hoffte: es war der Ort Henndorf bei Salzburg, genau gesagt Haus Wiesmühl, im Grundbuch Neumarkt-Köstendorf als ,Fenning Nr. 3' mit anderthalb Joch Land und Wasserrecht eingetragen. Wenn man mich damals gefragt hätte, wo das Paradies gelegen sei, so hätte ich ohne Zögern geantwortet: in Osterreich, sechzehn Kilometer östlich von Salzburg an der Reichsstraße, dicht beim Wallersee."708

6. Kämpfen am Schreibtisch 1939-1945 Überleben in der NS-Diktatur und ein Buch an der Front

„Man hat die Politik die .Kunst des Möglichen' genannt, und tatsächlich ist sie eine kunstähnliche Sphäre [...]" Thomas Mann „In einem Krieg wird das Wort machtlos. Man macht ihn mit oder man schweigt." Carl Zuckmayer

Für Freumbichler gibt es auf Erden „nur ein letztes Glück: Dichten!!" 709 Sein absoluter Wille, literarisch durchzudringen, sich dabei aber zugleich - wie später Thomas Bernhards Figuren - in einem ,Denk- und Einsamkeitskerker' zu verschließen, um die Existenz vor der Niedrigkeit des lärmenden Alltags zu schützen, erscheint nicht zuletzt vor dem Hintergrund der damaligen politischen Ereignisse problematisch. Gerade die Kriegsjahre zählen für ihn zu einer produktiven Zeit, in der er vorhandene Entwürfe überarbeitet und vollendet sowie neue Vorhaben in Angriff nimmt. Sein Arbeitsprogramm aus dem Jahr 1940 beispielsweise ist so umfassend, dass nur ein Bruchteil des Geplanten tatsächlich verwirklicht werden kann. „Vormittag: 4 Romane, ihr Schaffen größfte] Lust Quirin

Alles

Heising und Hueb

bis

D[er] unheimliche] Bergkeller

ins Kleinste

Lichtentann

vorbereiten

Narr von Ottakring Nachmittag: Kurzgeschichten, Gedichte Ordnen (Ms. [Manuskripte, Anm. B.J.] und Bücher) Schreibmaschine

ι6ο

6. Kämpfen am Schreibtisch

Abends: Gedichte, Tal der 7 Höfe Kritische] H[efte] Lektüre

Erziehung] z[ur] Fröhflichkeit]

Sonette."710 Durch die Vermittlung an Zsolnay scheint sich zunächst ein Ende des aussichtslosen Weges abzuzeichnen. Als unmittelbar vor Weihnachten 1937 das Bundesministerium fur Unterricht und Kunst Johannes Freumbichler zum,Förderungspreis des Großen Osterreichischen Staatspreises' gratuliert, bedeutet das die seit langem ersehnte Anerkennung, der erste, wenn auch kleinen E r f o l g . 7 1 1 Die von 1934 bis 1937 verliehenen Osterreichischen Staatspreise fur Literatur, Musik und bildende Kunst haben als Instrument einer zentral gesteuerten kulturellen Öffentlichkeit im christlich-sozialen Ständestaat eine im Unterschied zu heute „direktere politische Dimension". 7 1 2 Anhand des Literaturpreises, der zu gleichen Teilen als Würdigungspreis für das Gesamtschaffen eines Dichters und als Förderungspreis für ein „nach Form und Inhalt gediegenes Werk [...], das auf dauerhafte Wertung A n spruch erheben d a r f ' 7 1 3 , ausgeschrieben wird, betont Friedbert Aspetsberger zwei wesentliche Aspekte der austrofaschistischen Kulturpolitik. Z u m einen sollte der Preis „für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet [ . . . ] der Literatur, die nach Form und Gehalt als dem deutschösterreichischen Kulturkreis zugehörig und als Bereicherung des deutschösterreichischen Kulturgutes" 714 anzusehen sind, den „Postulatscharakter" des in seiner Identität unsicheren Ständestaates legitimieren, ihm „Glaubwürdigkeit und vielleicht auch einige Wirklichkeit [ . . . ] verleihen". 715 Z u m anderen gleicht die christlich-soziale Kulturpolitik strukturell und inhaltlich jener des deutschen NS-Staates, obwohl die autoritären Regime zunächst alles andere als den Eindruck von Gemeinsamkeit erwecken wollten. 7 1 6 Doch das konservativkatholische und das völkisch-nationale Lager verbindet - spätestens seit dem JuliAbkommen 1936 - das „gleiche Angriffsziel: die bürgerlich-liberale Kultur, durch die sie bisher nicht zum Z u g gekommen war[en]". 7 1 7 Hatte der für 1935 nominierte österreichische Staatspreisträger für Literatur, Josef Wenter, aufgrund seiner offen bezeugten Sympathie für den Nationalsozialismus die Auszeichnung nicht erhalten, spielt seine Haltung ein Jahr darauf keine Rolle mehr. Die mit dem Juliputsch 1934 eingetretene „Eiszeit" in den politischen Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland ist zwei Jahre später überwunden. 718

Überleben in der NS-Diktatur und ein Buch an der Front

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1937 wird der Osterreichische Staatspreis zum letzten Mal vergeben - und erst in der Zweiten Republik neu ins Leben gerufen. Die Jury besteht unter Vorsitz des Universitätsprofessors Josef Nadler, dessen völkische Literaturgeschichte „der deutschen Stämme" im Dritten Reich erfolgreich wird 719 , aus Schriftstellern und Kulturfunktionären des austrofaschistischen Ständestaates: Eduard Castle (Literaturprofessor der Universität Wien), Ernst Scheibelreiter (Förderungspreis 1934), Karl F. Ginzkey (u.a. Vorsitzendes Mitglied des Staatsrats), Ernst Lothar (Direktor des Theaters in der Josefstadt) und Josef F. Perkonig (Würdigungspreis 1935). Der Würdigungspreis in der Höhe von 2.000 Schilling geht 1937 an Heinrich Suso Waldeck, den Förderungspreis zu je 1.000 Schilling teilen sich Erich August Mayer für den Gesellschaftsroman Der Umweg720 und Johannes Freumbichler für Philomena Ellenhub. Dass damit ein Werk ausgezeichnet wird, das nicht der klischeehaften Heimatkunst und der konformen österreichischen Spielart der Blut-undBoden-Ideologie entspricht, mag erstaunen. Friedbert Aspetsberger schreibt nicht nur die „Drucklegung", sondern auch die „Preisverleihung" dem mit vielen Größen des kulturpolitischen Lebens im Ständestaat bekannten Carl Zuckmayer zu: „[...] er wird über seinen Freund Or. Horch, der Lektor bei Zsolnay war, den Verlagskontakt hergestellt haben und über seine Bekannten um das Haus Werfel-Mahler, wo Minister Pernter und Staatssekretär Zernatto (die gewiß Einfluß auf die Jury hatten) verkehrten, auch die Auszeichnung eingeleitet haben."721

Schon im März 1937 teilte Zuckmayer Freumbichler mit, dass auch der Präsident des österreichischen PEN-Clubs, der Schriftsteller und Justizminister Hans Hammerstein-Equard, sowie Bundeskanzler Kurt Schuschnigg das Buch lesen würden.722 Nur zwölf Tage vor Ende der Einreichungsfrist legt der Zsolnay Verlag dem Autor nahe, sich für den ausgeschriebenen Preis zu bewerben.723 Im Oktober schreibt Zuckmayer, er habe „auch des Staatspreises wegen noch einiges unternommen". 724 Und noch Anfang Dezember 1937 bittet der in Wien lebende Schriftsteller Rudolf Holzer, ehemals Chefredakteur der Wiener Zeitung, den Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl, beim Minister für Unterricht und Kunst, Hans Pernter, für Freumbichler einzutreten: „Bitte, sprechen Sie umgehend mit dem Herrn Minister! Freumbichler lebt in bitterster Not! Seine Philomena Ellenhub ist das größte dichterische Werk aus österrei-

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6. Kämpfen am Schreibtisch

chischer Erde und salzburger [sie!] Geist der letzten Zeit. Er hat aber natürlich gar keine .Beziehungen'."725

Insgesamt scheint die Verleihung des Preises an Freumbichler „eher ein glücklicher Zufall gewesen zu sein".726 Sie ist einer der letzten Akte austrofaschistischer Kulturpolitik. Somit mag man die Entscheidung als Zugeständnis an einen im Unterschied zu den angepassten und viel bedeutenderen Kollegen untypischen, unbekannten Schriftsteller vor dem Hintergrund der bevorstehenden Ereignisse betrachten. Drei Monate später gehört der österreichische Staat der Vergangenheit an, die Auszeichnung wird bedeutungslos. Das frenetische „Sieg Heil!" der den Anschluss an Hitler-Deutschland begeistert begrüßenden Österreicher übertönt jeden Ruf nach neuen Büchern. Diese mussten inzwischen ohnehin anders beschaffen sein, als es dem Verlagsgründer Paul Zsolnay lieb gewesen wäre. 727 Auch für die christlich-konservativen Künstler beginnt eine Phase des Umdenkens. Ab 1938 verschärft sich für die im Dritten Reich verbliebenen Autorinnen und Autoren der „Kampf um die Futterkrippe".728 Immer zwingender wird der „Zusammenhang zwischen Affirmation der herrschenden Ideologie und gesellschaftlicher Aufwertung schriftstellerischer Tätigkeit".729 Viele von ihnen haben schon vorgebaut und vollziehen geschickt, auch nach außen hin, die politische Wende. Der Staatspreisträger von 1937, Johannes Freumbichler, der mit Politik am liebsten gar nichts zu tun hätte, zählt allerdings nicht zu den begeisterten Befürwortern des Anschlusses. Er ist kein Anhänger des Nationalsozialismus, den er als Massenbewegung ablehnt. Eine undatierte Eintragung in „Roman und Allgemeines" um 1943 lautet: „Hitler: Mein Kampf, ein Gemisch von 1/3 Reportage, 1/3 Biographie u. 1/3 Parteipropaganda. Diese Mischung ist genau das, was der Masse auf allen Gebieten am besten zusagt, wonach sie am meisten verlangt."730

Aus den Notiztagebüchern spricht kritische Distanz gegenüber der demagogischen Verfuhrung der Menschen, die in erster Linie „unterhalten sein" wollen.731 „Daher fallen die Millionen Dummköpfe einem solchen Rattenfänger wie Hitler zu. Es ist die Dummheit, die sie ihm zutreibt. Sie sehen sich in ihm wiederum selbst, ins

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Maßlose vergrößert. E r ist ihnen das, was sie selber gerne sind und sein möchten: E i n befehlender, tyrannischer Stiefelmensch." 7 3 2

M i t seinem Neffen Roland Russ, der als illegaler Nationalsozialist während der i93oer-Jahre in Wien verhaftet wird, und mit der Schwester Marie ist es aufgrund unterschiedlicher politischer Anschauungen zu Zerwürfnissen gekommen. Schon 1925 notierte Freumbichler, das „Geheimnis der NS-Bewegung" sei die Ablehnung der Religion und die Betonung von „Brutalität, Zwang, Gewalt". 733 E r bringt den Nationalsozialisten als „Massenspekulanten" 734 keine Sympathie entgegen und verabscheut als deklarierter „Einzelsiedler" 735 den „dummen, schauerlichen Massenwahn". 736 Umgekehrt sieht er sich zur Anpassung an die Verhältnisse gezwungen. A u f fällig ist dabei seine politische Naivität, derzufolge er nach 1945 glaubt, das „deutsche Volk" besinne sich jetzt, da es wie nach dem Ersten Weltkrieg „in die tiefste Not abgestürzt" sei, auf seine eigentliche Vergangenheit, seine „Vorfahren" und „seine Wurzeln, auf das Bauerntum". 737 Solcherlei Rückgriffe auf die Tradition und den geschichtlich belasteten Topos Heimat sind eine Konstante innerhalb der österreichischen Literatur. Gerade für das konservative Lager wird das Erbe um so bedeutender, je mehr sich seine Bedrohung im Rahmen der sozialgeschichtlichen Entwicklung abzeichnet. Bis Mitte der i95oer-Jahre sinkt der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten auf unter 30% und nimmt von nun an rapide ab. Die sozioökonomischen Veränderungen können die christlich konservativen Kulturfunktionäre nach 1945 ebenso wenig aufhalten wie in den i93oer-Jahren die faschistische Kulturpolitik des Ständestaates den Erfolg des Nationalsozialismus. Dabei warnte man bereits damals auf beiden Seiten eindringlich vor dem Verfall der ländlichen Tradition. Christlich-Soziale und Nationalsozialisten identifizierten sich gleichermaßen mit der heimatlichen Scholle als vom bäuerlichen Nährstand zum Kulturgut erhobenen und bewahrten Stück Land. In Freumbichlers Nachlass findet sich eine Ausgabe der österreichischen Zeitschrift Die deutsche Frau von 1935. Dort heißt es in einem Beitrag „Dorf und Bauer": „ D e m Bauer ist sein Ackerland ursprünglich das Mittel zur Existenz, nicht aber eine Quelle des Gelderwerbes, seine Arbeit ist ihm Bedürfnis - innerliches, religiöses B e dürfnis, wie einem echten Gelehrten oder Dichter oder Künstler. E i n Schielen nach G e w i n n bedeutet bei allen genannten Berufen bereits den Beginn des Verfalles. S o

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6. Kämpfen am Schreibtisch

war denn auch das Dorf ursprünglich - lang ist es her! - ein abgeschlossener Wirtschaftsorganismus [.,.]" 7 3 8

Freumbichler hat diese Stelle annotiert und im dörflichen Mikrokosmos der Philomena Ellenhub sichtbar zum Ausdruck gebracht. Als Träger des Förderungspreises und mit der eigenen Rückbesinnung auf das Bäuerliche ist er keineswegs frei von jener kulturkonservativen Tendenz, wie sie in Osterreich unabhängig von den politischen Verhältnissen wirksam ist. Dennoch bleibt er über die Jahre hinweg ein isolierter Einzelkämpfer und eine Ausnahmeerscheinung in der Literatur. Kurzfristig mag ihn der Erfolg des Jahres 1937 aufgerichtet haben. Doch schon bald überkommt ihn von Neuem das Gefühl des „Gestorbenseins" 739 , eine Lähmung der Arbeit und der ganzen Existenz macht sich breit. In einem „verzweifelten Versuch [...], als .freier Schriftsteller' zu bestehen" 740 , bietet er dem Zsolnay Verlag eine Reihe bereits seit längerem fertig gestellter Manuskripte an, die er bloß zu überarbeiten braucht und für die er um Vorauszahlungen bittet: „Ist man von materiellen Sorgen gequält, gibt es kein Schaffen. A m allerwenigsten bei meiner Natur, die nur in einer Art Begeisterung und Fanatismus etwas zustande bringen kann. Woher aber sollte ich diese nehmen, wenn ich kein Holz im Ofen und keine Milch im Topf habe??" 741

Inzwischen hat er zwanzig „Dorfgeschichten" den letzten Feinschliff bis zur Druckreife verliehen. Sie liegen seit Jahren so gut wie fertig in seinem Bücherschrank und erscheinen im Februar 1938 als Geschichten aus dem Salzburgischen mit einer Auflage von 2000 Stück. 742 Die vom Autor ursprünglich gewünschte Widmung an Alice Zuckmayer findet beim Druck keine Berücksichtigung. Der Titel verweist auf das dörflich-bäuerliche Milieu als Rahmen der Erzählungen. Carl Zuckmayer charakterisiert sie als „Schildereien von breughelscher Deftigkeit", die Bauernfiguren selbst „sind im Grunde aufrührerisch, nicht frömmlerisch". 743 Für Freumbichler ist das Bauerntum eine schöpferische Quelle, der Ursprung für die „eigentliche Kunst der Erzählung. Sie ist die nämliche, die in der Bauernstube herrschte [...]: Naives Naturerzählen". 744 In den Dorfgeschichten soll diese Tradition mit der literarischen Gestaltungskunst verbunden werden. Möglicherweise wird die sozialkritische Tendenz der meisten Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbachs Dorf- und Schloßgeschichten (1883-1886) inspiriert.

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Freumbichler schildert die dörfliche Gemeinschaft nicht einseitig als ideales Idyll. Aus eigener Erfahrung ist ihm das Dorfleben im 19. Jahrhundert noch unmittelbar, anschaulich und wirklichkeitsnah im Bewusstsein. Die damals drängende Frage der Alters- und Armenversorgung wird zum Beispiel ebenso angesprochen wie der Umgang mit den am Rande der Gesellschaft stehenden Außenseitern und Sonderlingen. ,Aufruhr im Armenhaus" bleibt zwar unveröffentlicht, spielt jedoch auf ein Ereignis an, das sich in der Chronik Henndorfs wiederfindet. Der Gemeindeausschuss beratschlagte in seiner Sitzung vom 1. Mai 1887, wie man mit den renitenten Bewohnern der Sozialeinrichtung verfahren sollte.745 Ein späteres Fragment zum Projekt Bauernroman mit dem Titel Heising und Hueb, ebenfalls in Freumbichlers Heimat lokalisiert, erwähnt die Geschichte der „Harmonika-Brigei", die bereits als Schwester Philomena Ellenhubs aufgetreten ist. Der Entwurf beschreibt sie als „Randfigur [...] Sie spürte die Zurücksetzung, die sie ob ihrer äußeren Unscheinbarkeit erlitt, und legte ihr Leben ins Innere".746 Die eigenwilligen Charaktere der teils humorvollen, teils nachdenklich stimmenden oder schaurig grotesken Stillleben - nicht zufällig lautet ein früherer Titel des Erzählbandes Großvaters Gruselgeschichten - spiegeln das Närrische und Schicksalhafte des Lebens. Die Zeitung Pester Lloyd rezensiert den Erzählband wohlwollend. „Die größten Dinge, wie Tod und Göttliches, mischt Freumbichler mit Alltäglichem, Groteskem und dennoch wirken sie überzeugt. Keine Spur von falschem Sentimentalismus oder holder Romantik." 747 Figuren wie der eigenwillige Bauer Iselin („Irrwisch"), das arme „Nannei", der „Schneider Hupfauf', der „Opferstockmarder" oder der verrückte Selbstmörder „Piston" schaffen durch den entlastenden Humor eine direkte Beziehung zum Leser. A m Schluss der Erzählungen offenbart sich das Menschliche ebenso wie die göttliche Theodizee. Aber auch das konservative Element im Weltbild des Autors kommt in den Geschichten aus dem Salzburgischen zum Tragen. Georg Unterberger hat an der längsten Erzählung „Irrwisch", die ursprünglich den Titel des Bandes bilden sollte, die polaren Bereiche von umgrenzter Heimat und lockender Ferne analysiert. Der Wunsch des „Narrenbauern Iselin", aus seiner dörflichen Umgebung auszubrechen, lässt ihn der schönen Zigeunerin Desenka folgen, endet jedoch im Unglück, nachdem sie ihn finanziell ruiniert hat. A m Schluss der Erzählung, als Iselin gebrochen zu seiner streitsüchtigen Ehefrau zurückkehrt, offenbart sich das Geheimnis des Krückstocks, den er von seinem verstorbenen Freund geerbt hat. Voller Zorn wirft ihn Iselin in die Ecke, so dass er zerbricht. Mit den in ihm verborgenen Geldscheinen rettet er den verschuldeten Hof. Durch die

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„komische Grundfigur"748 gelingt Freumbichler ein harmonisierender, entlastender Ausgleich gegensätzlicher Lebensbereiche. Schematisch zeigt sich jedoch, „daß der Erzähler, zurückhaltend allerdings, die Partei für die Bewahrer ergreift, soviel Sympathie er auch den Erneuern entgegenbringen mag".749 Das Element des Unheimlichen in manchen Erzählungen ließe sich auf Sigmund Freuds Aufsatz (Das Unheimliche, 1919) zurückfuhren, demzufolge es nichts Fremdes, sondern etwas bereits Bekanntes sei, das verdrängt wurde und zum Vorschein komme.750 Sinnbildlich verdeutlicht dies „Der große Zauberer Arnos Teufel", der die maskierten Burschen, die ihn am Heiligen Abend überfallen wollen, als seine Nachbarn erkennt und entlarvt. In „Das jüngste Gericht" lässt ein nächtlicher Sturm die Totenschädel aus einer Kapelle in das Dorf rollen. Sie erinnern die entsetzten Dorfbewohner als .Memento mori' an ihre früheren an den Verstorbenen begangenen Untaten. In der Literatur, so Freud, wirke das Unheimliche weniger bedrohlich und diene nicht zuletzt einer Erkenntnisfunktion. Für Freumbichler steht diese wie in seinem Roman Philomena Ellenhub im Zeichen der göttlichen Natur. Am 1. März 1938 notiert der Dichter, er sei wieder einmal „ohne Groschen Einkommen". 751 Obwohl der Verlag seinen nicht gerade bescheidenen Bitten um Vorschuss bis 1939 nachkommt, äußert er sich kritisch und meint, „die Leistungen Szolnays [sie!] sind so klein, daß man nicht weiß, wie man sich über Wasser halten soll."752 Vermutlich sind Darstellungen wie diese sowie in den Briefen an den Verlag bewusst übertrieben. Zumindest lässt sich am 21. November 1938 ein lange gehegter Wunsch erfüllen, der bislang mangels Einkommen und Besitz unmöglich gewesen ist: die Hochzeit mit Anna Bernhard. Die amtliche Legitimation der nunmehr 34-jährigen Lebensgemeinschaft vor dem Salzburger Standesamt ist auch eine Absicherung gegenüber dem neuen politischen System, dem ungeklärte Lebensverhältnisse verdächtig sind. Unmittelbar daraufkommt es zu einem neuerlichen Ortswechsel. Da der Mirtlbauer in Seekirchen selbst in sein Austraghaus einzieht, übersiedeln Johannes und Anna Freumbichler Anfang 1939 von der „Ostmark" ins, Altreich", ganz in die Nähe von Tochter Herta. In Ettendorf, Gemeinde Surberg, eine halbe Stunde Fußmarsch von der Kleinstadt Traunstein entfernt, bezieht das Ehepaar eine Wohnung in einem Bauernhaus, das heute nicht mehr existiert. „Ettendorf 5 1/2, Hufschlag" lautet die Anschrift nahe der Kirche auf dem von Freumbichler und Thomas Bernhard so genannten „heiligen Berg von Ettendorf'. 753 Rückblickend beschreibt Freumbichler seine Ankunft in Deutschland in einem an den Enkel gerichteten Gedicht:

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„ D u weißt, mein Sohn, im Jahre '39 ohne Ansehn, ohne Geld, / K a m ich gefahren in das schönste Städtchen dieser Welt: / Traunstein in Bayern [,..]" 7 5 4

Thomas Bernhard stellt der Begeisterung des Großvaters ein anderes Bild gegenüber und beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung Ein Kind, ausgehend von der Lage der Wohnung in Ettendorf auf dem Hügel, Freumbichlers Bedürfnis nach Abgrenzung. Durch die Verachtung der Gesellschaft erhöht der Künstler sich selbst und bestärkt umgekehrt seine Isolation und das Gefühl, nicht verstanden zu werden. „Traunstein unten liegt auf einem Moränenhügel, aber Ettendorf liegt noch viel höher, sozusagen vom Berg der Weisheit blickte man auf die Niederungen des Kleinbürgertums hinunter, in welchem, wie mein Großvater zu sagen nicht müde wurde, der Katholizismus sein stumpfsinniges Szepter schwang. Was unterhalb Ettendorf lag, war nur die Verachtung wert." 7 5 5

Inzwischen haben die neuen politischen Verhältnisse zu wichtigen Veränderungen im Zsolnay Verlag gefuhrt. Auch wenn das Programm 1938 noch von Paul Zsolnay und Felix Costa verantwortet wird, handelt es sich nicht mehr um den alten Verlag. Bereits am 16. März 1938 übernehmen nationalsozialistische Funktionäre die kommissarische Leitung. Allerdings verläuft die .Arisierung' nicht so .planmäßig' wie sonst üblich. Paul Zsolnay bleibt vorerst in Wien und fuhrt selbst von seinem späteren Londoner Exil aus ein Jahr lang, bis zum Frühjahr 1939, die Geschäfte inoffiziell weiter.756 Formal jedoch scheiden sowohl er als auch Felix Costa aus der Geschäftsführung aus. Bis 1941 wird der Verlag durch den Treuhänder Wilhelm Hofmann verwaltet. Mit dem Roman Atahuala oder Die Suche nach einem Verschollenen erscheint im November 1938 in einer Auflage von knapp 3000 Exemplaren Freumbichlers drittes und letztes Buch bei Zsolnay innerhalb von nicht einmal zwei Jahren. Auch dieses Manuskript befindet sich schon seit längerer Zeit in der Schublade. Die Arbeiten an dem Abenteuerroman, ursprünglich unter dem Titel lo ti vedo, reichen bis 1927 zurück und werden 1935 intensiviert. Zentrales Motiv ist „die Vater-Idee", Freumbichler zufolge „eine der größten Menschheitsideen" 757 , die ihn schon sein „ganzes Leben, vom vierten Jahr an, [...] mehr oder weniger erfüllt".758 In einem Werbetext für den Verlag beschreibt er den Inhalt folgendermaßen:

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„Während des Weltkriegs geht ein Wiener Maler und Forscher, aus einem berühmten Künstlergeschlecht, ins unbekannte Gebiet von Brasilien. Uberdruß an Europa und ein Zwist mit dem eigenen Sohn, der ein höchst oberflächliches Leben fuhrt, sind die mitbestimmenden Motive. Vier, fünf Jahre vergehen. Der Forscher kehrt nicht mehr zurück. Der Sohn, von einer großen Unruhe erfaßt, schließt sich einer Expedition an, die ein Freund des Verschollenen ausrüstet. Nach Uberwindung großer Schwierigkeiten finden sie ihn, bei dem bisher unentdeckten Volk der weißen Indianer, aber - tot. Durch die Dienste, die er diesem Volk geleistet, war er zu hohen Ehren gekommen und, nach seinem Ableben, sogar in dem .Tempel der heiligen Ahnen' aufgenommen worden. Zwischen tausend Hoffnungen und tausend Entmutigungen sucht jeder Sohn das Bild des Vaters, nicht das des leiblichen, sondern ein Ideal an Mut und Weisheit, zu dem er sich durch die Düsternis der Umwelt hinarbeiten will." 759

Als reale Vorlage des Stoffes erkennt man unschwer die abenteuerliche Reise von Freumbichlers Schwager Ferdinand Russ, der unter ungeklärten Umständen in den brasilianischen Urwäldern verschollen bleibt. Auch Thomas Bernhard, den die Vater-Sohn-Problematik Zeit seines Lebens beschäftigt - sie ist Thema vieler seiner Texte

wird diese Episode literarisch verarbeiten.760

Hauptfigur von Atahuala ist der junge Maler Ruhland, der sich mit einer Expedition auf die Suche nach dem „Geheimnis des Vatertums" 761 macht. Nach zahlreichen Abenteuern, die die erste Hälfte des Buches ausmachen, entdeckt man in einer Höhle das Skelett des Vaters mit einem rätselhaften Hinweis auf einen verborgenen Schatz. Er offenbart sich symbolisch im Land der „weißen Indianer" und der Stadt Atahuala, einem Zentrum mystischer Vater-Verehrung. Der Titel des exotischen Romans ist eine Anspielung auf den letzten, von den Spaniern hingerichteten Inka-Führer Atahualpa. Der Bezug bleibt allerdings ebenso undeutlich, wie die Wahl des Sujets glücklich genannt werden kann. In einer Art Vorrede heißt es, das Erzählte sei „Erlebnis, ohne Erfindung und Ausschmückung" und trage die „Signatur einer Wiener Malerdynastie". 762 Der Erzähler gibt sich als getreuer Chronist eines Geschehens aus, das ihm jedoch selbst fremd bleibt. Freumbichlers Kenntnisse über Brasilien aus Büchern oder Zeitungen bleiben oberflächlich und mangelhaft recherchiert. Gegenüber den bisherigen Veröffentlichungen fällt dieser Text deutlich ab und macht die Schwierigkeiten des Autors mit dem Stoff offenkundig.

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Vom Erfolg des Romans vor allem beim jüngeren Lesepublikum überzeugt, begründet Freumbichler seine Forderung nach dem außerordentlich hohen Vorschuss von 2.000 R M (Reichsmark - nach heutigem Wert fast 9.000 Euro) mit der Notwendigkeit, „daß sich meine äußere Lage etwas ändert, um mehr und besser arbeiten zu können."763 Er träumt von Auflagen in Höhe mehrerer Hunderttausend. „Millionen sollen erregt werden von Io ti vedo\"7(A Der Verlag zeigt sich von Anfang an skeptisch, da „ein Buch dieses Inhalts sich ganz gewiss nicht leicht verkaufen wird. Dazu ist die Fabel zu kompliziert und werden zu sehr reife Menschen für die Lektüre vorausgesetzt."765 Demgegenüber bezeichnet Freumbichler, der sich mit einem Vorschuss von 800 R M zufrieden geben muss, das Thema des Romans „als die Einfachheit selber [...], als eine der zwölf Urideen, um die sich das menschliche Leben dreht. Der Sohn sucht den Vater! Millionen Söhne auf Erden suchen den Pfadfinder, den Führer, das Urbild der Vollendung in irgendeiner Hinsicht". 7 6 6

Aus ideologischer Hinsicht scheint die Idee keineswegs ungeschickt gewählt. Sie hätte sich 1938 möglicherweise gut in den Dienst des Führer-Kults des Dritten Reichs stellen lassen können. Dennoch ist der Lektor Hermann Leber nicht wirklich überzeugt. Neben inhaltlichen Fehlern, die auch Freumbichlers ungebremster Lust am Fabulieren zuzuschreiben sind, sieht er sich dazu gezwungen, „eine ganze Reihe von Stellen [ . . . ] in einer Zeit wie der heutigen, in der man von jedem Schriftsteller gewisse Stellungnahmen zu weltanschaulichen Problemen als abwegig betrachtet, als für den Vertrieb des Werkes schädlich ansehen zu müssen. Wenn z.B. gesagt wird, ,daß aus der Vermischung der Rassen nicht nur die intelligentestenf,] sondern auch die apartesten Menschenkinder hervorzugehen pflegen', so ist das zweifellos eine Stellungnahme zu einem Thema[,] über das im heutigen Deutschland nicht mehr diskutiert werden kann. Ferner scheinen uns viele Aussprüche des Professors Adamas über den Wert und die Bedeutung des Menschen in Widerspruch zur A u f fassung, die heute von kultureller staatspolitisch führender Seite gefordert wird, zu stehen". 767

Ebenso kritisiert der dem NS-Regime loyale Leber die als zu religiös empfundenen Gespräche zwischen Pater Benedikt und dem jungen Ruhland. Freumbichler reagiert verstimmt und irritiert auf den Brief des Lektors und fragt sich in of-

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fenkundiger Naivität, „warum eine solche Stellungnahme als ,abwegig' bezeichnet wird". 768 Trotzdem ist er schnell bereit, die explizit bezeichneten Stellen zu korrigieren, geht es ihm darum, zu veröffentlichen. Nachdem man sich auf den endgültigen Titel geeinigt hat, schickt er das mit Hilfe seines Sohnes Farald überarbeitete Manuskript im September 1938 nach Wien. Die Drucklegung erfolgt unter großem Zeitdruck, so dass einige Fehler bestehen bleiben. In einer späteren Anfrage eines Lesers drückt sich berechtigt Erstaunen aus, dass das Sternbild der Kassiopeia oder in Südamerika fremde Tierarten auftauchen. 769 Das „mit Blut geschrieben[e]" 770 Buch wird alles andere als ein Kassenschlager, die Vorbehalte des Verlags bestätigen sich. A n Alice Zuckmayer schreibt der enttäuschte Freumbichler im März 1939, er habe in seiner „totalen Einsamkeit noch kein einziges Wort" über seinen Roman gehört. „Ich wünschte es und wage es doch nicht zu bitten, daß Ihr Mann ihn liest und mi[r] darüber ein paar Worte zukommen läßt. Der Verlag schrieb mir seinerzeit, das Buch hätte noch weniger Aussicht, als Ellenhub (das kein Mensch kauft!) [...] Der Verlag scheint sich verändert zu haben. Jedenfalls sind die alten Namen ganz verschwunden. Um Geld zu bekommen, bedarf es großer Geduld."771 M i t der Ablehnung einiger längerer Erzählungen - darunter auch die im Band Oer Wunderbrunnen von St. Kolomann vereinigten Texte „Die Heiligen von Waldprechting" und „Christophl, der Millionär" - , die Freumbichler dem Zsolnay Verlag im M a i 1939 in großer Erwartung zugesendet hat, zeichnet sich die weitere Entwicklung ab. Gekränkt antwortet der Dichter: „Wie ich Ihrem Schreiben entnehme, hat der Verlag seine Meinung über meine literarischen Arbeiten geändert, oder besser ausgedrückt, das innere Wesen des Verlages hat sich geändert, mit den neuen Männern. Ginzkey sagte mir einmal wörtlich: Ihre Sachen sind vor allem so deutsch und so volkstümlich! - Das kommt wohl daher, weil ich das Deutsche und Volkliche [sie!] als Erbe aus Jahrhunderten übernommen habe. Sie haben mich mit Ihrer Abweisung ins Herz getroffen."772 Trotzdem bemüht er sich bis Herbst 1939, den Kontakt nicht abreißen zu lassen und erneuert seine Bitten um Vorschüsse, die aber abgewiesen werden. „Nach einem fast zweimonatlichen Stillstand jeglicher dichterischer Arbeit" 773 aufgrund

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der Enttäuschung über die Abweisung bietet er die beiden Romane Christian Notwinkel - eine weitere Vorstufe zu Auszug und Heimkehr des Jodok Fink - und 1 am alone (auch Die letzte Fahrt der Jam alone) zur Veröffentlichung an. Der „Notwinkel", schreibt er, sei ihm „das liebste Kind aus allen [sjeinen Büchern".774 Die Fabel des Jahre zuvor in Wien begonnenen Ich-Romans, den er bis März 1940 fertig gestellt haben will, charakterisiert er folgendermaßen: „ E i n bäuerlicher Holzschnitzer, von Neugier, Wissensdurst und Abenteuerlust getrieben, verläßt, schon lang von allerlei Schein und G l a n z geködert, seinen väterlichen H o f , Notwinkel geheissen, und geht in die Klein-, Mittel- und Großstadt. Seine einfaltige Sinnesart, sein ungeschwächtes Naturauge und nicht zuletzt seine durch nichts zu trübende Urteilskraft, ein Erbteil aus dem Blut seiner tausendjährigen Vorfahren, lassen ihn nun, halb ein Weiser, halb ein Tölpel, die Dinge der Welt anders sehen und erleben, als der M e n s c h des nüchternen Alltags sie zu sehen und zu erleben pflegt. A u f diesem W e g e erfährt er dann die gründlichste Enttäuschung seiner früheren Enttäuschung und kehrt zuletzt, in einem Zustand von Rausch und Entzückung, in sein Bauerndorf, zu seinen Feldern und Äckern zurück. M a n könnte sagen, ein altes Thema: aber es bleibt trotzdem ewig neu." 7 7 5

I am alone, wie Atahuala ein Abenteuerroman, handelt von einem gesunkenen Schiff. Im Winter 1939/40 tippt Emil Fabjan das Manuskript auf der Schreibmaschine ins Reine, um die angegriffenen Augen seines Schwiegervaters zu schonen. Als er zum Krieg an die polnische Front eingezogen wird, vermisst Freumbichler die gemeinsamen „Sprech- und Rauchabende"776, Männergespräche, von denen die eigenen Kinder und Frauen freilich ausgeschlossen bleiben. Zu dieser Zeit beginnt er die Romane Die ungleichen Brüder und Der unheimliche Bergkeller, eine Vorstufe zum späteren Roman Eling. Das Tal der sieben Höfe. Die Vorschusszahlungen sind längst aufgebraucht, die Familie muss jede Ausgabe überlegen. In seinem Arbeitszimmer misst Freumbichler im Dezember 1939 eine Raumtemperatur von 12 Grad Celsius.777 Im August hatte ihn der als Schriftsteller selbst wenig erfolgreiche Geschäftsführer des Zsolnay Verlags, Erich Landgrebe, noch ermuntert, die Ablehnung des „früheren Buches nicht so schrecklich tragisch zu nehmen".778 Von Oktober 1939 bis Mai 1940 herrscht, von den Verlagsabrechnungen mit eher spärlichen Beträgen abgesehen, Funkstille zwischen Wien und dem „fast 1000 Meter hoch"779 gelegenen Ettendorf, ein Bild, das in leichter Uber-

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treibung die gesellschaftliche Abgeschiedenheit und geistige Weltflucht des Dichters unterstreicht.780 Schrittweise geht der Verlag, der - immer noch treuhänderisch gefuhrt - einen neuen Käufer sucht, auf Distanz. Der Autor kann und will das Unabwendbare nicht einsehen, er hofft nach wie vor auf neue Chancen zur Publikation. Dabei zeichnet sich klar ab, dass nicht nur keine neuen Manuskripte mehr veröffentlicht werden, sondern auch die gedruckten Werke kaum noch abgesetzt werden. Ende 1939 äußert sich Freumbichler in einem Brief an seinen Sohn Farald, der in Norwegen als Soldat dient, abfällig über den mangelnden Geschmack der „Deutschen", die „den Quark nicht von Kunst zu unterscheiden" vermögen. „Sie sind das, [...] als was Hölderlin sie im letzten Kapitel von Hyperion bezeichnet, sie haben sich hierin in keiner Weise verändert."781 Erst nach seinem Tod würde man als Dichter zu Erfolg gelangen, stellt Freumbichler verbittert fest. Im Mai 1940 versucht er noch einmal, sich mit einigen Vorhaben dem Verlag in Erinnerung zu rufen. Er schickt das vollendete Manuskript Die letzte Fahrt der I am alone nach Wien, weiters ist von Gedichten in Salzburger Bauernmundart, einem neuen Band Dorfgeschichten sowie dem Filmmanuskript Schulmeister Quirin und Napoleon, das den historischen Stoff der Besetzung Salzburgs durch französische Truppen in den Jahren 1800/1801 aufgreift, die Rede. Die im Frühjahr 1942 vollendete Filmvorlage stößt auf ebenso wenig Echo 782 wie die Prüfung einer Verfilmung des Romans Atahuala durch die UFA (Universum-Film A G ) in Berlin.783 Schließlich fällt auch das Urteil Hermann Lebers über I am alone regelrecht vernichtend aus. Der Leser, so heißt es, bleibe „vollkommen unbefriedigt", viele Dinge seien „anachronistisch", dem Autor gehe „oft die Phantasie durch" und sie stehe „ohne jede Logik wildwuchernd zwischen allen Figuren und Geschehnissen."784 Neben „psychologischen Schwächen, die das Buch aufweist", empfindet Leber „die Romantik des Ganzen als vollkommen wirklichkeitsfremd und widerspruchsvoll" und fragt sich zu Recht, warum Freumbichler von der ursprünglichen Linie seiner ersten beiden Bücher bei Zsolnay, „die so wundervolle Perspektiven zuließ", abgewichen sei.785 Im Januar 1941 kündigt der Autor dem Verlag das Optionsrecht auf seine Manuskripte; der endgültige Bruch mit dem Hause Zsolnay ist vollzogen. Leber scheint damit bereits gerechnet zu haben. Auch der Eugen Salzer Verlag kann mit dem „eigenartigen Sujet"786 von I am alone nichts anfangen und schickt das Manuskript, das sich nicht mehr im Nachlass befindet, zurück. Freumbichler wendet sich seinen Notizen und dem Briefverkehr vor allem mit seinem Schwiegersohn Emil Fabjan und Sohn Farald zu. Als Soldat in Norwe-

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gen lernt dieser die literarisch interessierte Agathe Wibe aus Mosj0en kennen, mit der die Familie Freumbichler nach dem Krieg in freundschaftlichem Briefkontakt bleibt. Freumbichler berichtet seinem Sohn vom „häßlichen Hahnenkampf' zwischen Herta und Thomas, der ihren Hass auf Alois Zuckerstätter zu spüren bekommt und wird auf seine Weise vertraulich: „Was jeder Frau fehlt, ist Gerechtigkeit. Ja, die Weiber haben davon nicht einmal einen Begriff. Sie haben auch von anderen Dingen höherer Art keinen Begriff, was einer edlen Seele oft sehr schmerzlich ist." 787

Mit pädagogischen Belehrungen wird nicht gespart. „Versuche dich ständig, bei jeder Gelegenheit, in Sprache, Stil, Ausdruck zu üben, das wird dir später von größtem Vorteil sein." 788 In einem anderen Brief rät er, man müsse ,,[d]as Leben wie einen Kampf leben, im Kleinsten und im Großen". 789 Das Verhältnis zu Farald scheint dennoch entspannter, obwohl dessen Hochzeit mit der Tochter eines Maurers, Franziska (Fani) Hopfner, im Juli 1939, kurz vor der Einberufung, noch einmal für Unmut gesorgt hat. Neben Skizzen, Zeichnungen und Fotografien macht Farald Tagebucheintragungen und literarische Notizen. Der Vater denkt sogar an eine spätere Zusammenarbeit. 790 Glaubt man Thomas Bernhard, ist Farald „der Spaßmacher der Truppe". 791 Ende 1942 befindet er sich nach einer Kriegsverletzung zur Erholung in Salzburg. Emil Fabjan ist 1940 in Polen in der Nähe von Lodz stationiert. Kurz darauf wird er „Gefreiter", bekommt „eine neue Uniform und ist ein fescher, deutscher Soldat" 792 , wie Freumbichler stolz berichtet. 1942 gelangt seine Kompanie nach Sarajevo, später bis an die dalmatinische Küste nach Ragusa (Dubrovnik) und auf die Insel Korcula. Seine Berichte inspirieren den Schwiegervater bei der Arbeit am Roman Das Wunder vom Orangenbaum (auch Ljubica oder Die Perlenstickerin von Cattaro), in dessen Mittelpunkt die Erlebnisse von Joseph Freumbichler als k.u.k. Soldat stehen. 793 Jetzt recherchiert Emil vor Ort für den Roman, erzählt von südländischen Schönheiten, dem Handwerk der Perlenstickerinnen und dem starken Tokajer-Wein. Freumbichler schwärmt selbst von einer Reise an die dalmatinische Küste und nach Italien. Doch erst Thomas Bernhard wird diesen Traum gemeinsam mit seinem ,Lebensmenschen' Hedwig Stavianicek (1894-1984) verwirklichen können.

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Der Dichter auf dem Ettendorfer Berg bleibt von einem Kriegseinsatz verschont. Er ringt mit sich sowie mit seinem Werk — ein Zustand, den er aber auch genießt: „Im Winter 1940/41 wo ich, bei mangelnder Heizung, am Küchenfenster sitzend, Jodok vollendete, war ich einer der glücklichsten Menschen der Welt."794

Der Roman Auszug und Heimkehr des Jodok Fink hat eine lange Vorgeschichte durchlaufen (s. Kap. 4). Freumbichler identifiziert sich mit der autobiografisch angelegten Figur, wie schon die gemeinsamen Initialen nahe legen. Die von den Verlagen bis jetzt zurückgewiesenen Manuskript-Varianten {Der seltsame Wandervogel Blasius Droll, Jörg Hoffegott und zuletzt Christian Notwinkel) stehen sinnbildlich für die schicksalhafte Reise des Romans, die er mit seinem Protagonisten teilt. Dem Autor wächst seine geistige Schöpfung, als deren „Vater"795 er sich empfindet, um so stärker ans Herz. Immer wieder spricht er von seinem „Sohn Jodoki"796, der wie ein Kind „das Leben selber"797 sei. Dass der Roman endlich das „Licht der Welt erblicken"798 kann, verdankt Freumbichler dem Verleger Hermann Leins, der ihn im Juni 1941 in Traunstein besucht. Vermittelt hat den Kontakt der Lektor und Autor Georg Schwarz aus München, der schon früher Freumbichlers Talent als „sehr urwüchsig"799 gelobt hat. Bereits einen Monat später wird der Vertrag für den Roman unterzeichnet.800 Im September 1941 fährt Freumbichler nach Tübingen zur Besprechung des Manuskripts. Sein Enkel Thomas Bernhard erhält eine Postkarte mit einer Stadtansicht, auf der der Hölderlin-Turm mit einem Kreuz markiert ist.801 Die Begegnung mit dem engagierten Verleger, der 1926 den Rainer Wunderlich Verlag in Tübingen übernommen hat, fuhrt zu einem Bucherfolg, der den von Philomena Ellenhub bei weitem übertrifft. Durch die Wertschätzung, die Leins Jodok Fink und seinem Autor entgegenbringt, entwickelt sich eine bedeutende Beziehung. In einem Brief an Farald schreibt Freumbichler, „Herr Leins ist mir im Lauf dieser kurzen Bekanntschaft fast das geworden, was man mit dem Namen ,Freund' zu bezeichnen pflegt. Er ist wirklich ein einzigartiger, ja großartiger Mensch. Er bezeichnet es als ein Wunder, daß wir uns auf unseren Lebenswegen getroffen haben. ,Das Buch haben nicht Sie, sondern der liebe Gott geschrieben,' sagte er."802

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Wiederum hegt der Dichter die Hoffnung, dass sein Werk den gewünschten Erfolg und die finanzielle Erlösung bringen muss: „Ich habe, wenn dies B u c h vollendet ist, den Deutschen einen R o m a n geschrieben, wie sie keinen haben, und kann ruhig sagen, daß er sich denen von Goethe, H a u p t mann, Thomas M a n n getrost an die Seite stellen kann." 8 0 3

So wie er im Sommer 1941 „die Niederringung Rußlands" sowie den rasch folgenden Frieden für wahrscheinlich hält, glaubt er „fest an den Endsieg [s] einer Sache".804 Hermann Leins reißt ihn aus seiner Isolation und führt ihn zu „einer Periode des Aufschwungs". 805 Der Verleger versteht Freumbichlers Nöte: „Es ist nun einmal so, dass der Dichter stellvertretend leidet'."806 Zur selben Zeit interessiert sich ein anderer Verlag fur eine der Erzählungen. Eugen Händle in Mühlacker, für den Georg Schwarz als Lektor tätig ist, möchte Die Heiligen von Waldprechting (= Die Reise nach Waldprechting) in der „Buchreihe der Erzähler" veröffentlichen. Freumbichler muss sich allmählich Gedanken über seine Zukunft in der Literatur des Dritten Reichs machen. Längst hätte er - wie viele seiner Kollegen - der Reichsschrifttumskammer (RSK) beitreten können, jener nach dem Reichskammergesetz von 1933 ins Leben gerufenen nationalsozialistischen Organisation, die das kulturelle Leben auf ein ideologisch gleichgeschaltetes Programm reduziert. Die R S K ist „der organisatorische Zusammenschluß für alle Gruppen, die an der Herstellung, Verbreitung oder Vermittlung des Kulturgutes Buch mitwirkten"807, eine von insgesamt sieben einzelnen Kammern der Reichskulturkammer (RKK) unter Joseph Goebbels. Die besondere Perfidie dieser Organisationen liegt in ihrer unausgesprochenen und doch deutlichen Zwangsmitgliedschaft als Voraussetzung kultureller Berufsausübung, die wiederum an die Prüfung der so genannten politischen Zuverlässigkeit' und beruflichen Eignung, an eine Offenlegung der bisherigen Publikationstätigkeit und der finanziellen Einkünfte sowie an den Nachweis,rassischer Abstammung' gebunden ist. Bereits die frühere Institution RDS (Reichsverband Deutscher Schriftsteller) hatte unumwunden deutlich gemacht, dass eine „Mitgliedschaft in Zukunft entscheidend dafür sein wird, ob ein Schriftwerk in Deutschland verlegt werden kann oder nicht".808 Interessiert den Schriftsteller in Ettendorf wie bisher nichts anderes als zu schreiben, sieht er im Zuge der Vorbereitungen zur Veröffentlichung seines Ro-

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mans Auszug und Heimkehr des Jodok Fink die Notwendigkeit, die Sache zu regeln. A m i.Juli 1941 unterschreibt er den Antrag auf Aufnahme in die R S K (Landesleitung Gau München, Oberbayern). 809 Die Zuverlässigkeit' des Autors beurteilt die Kreisleitung der N S D A P Traunstein in einem beigelegten Schreiben - datiert mit August 1940 - mit vorsichtigen Worten. D a er „früher nicht im Kreisgebiet ansässig" war, kann „eine lückenlose politische Beurteilung über ihn von hier nicht erstellt werden. E r gehört weder der Partei noch einer ihrer Gliederungen an. Seinem ganzen Verhalten nach aber kann angenommen werden, daß er den national]sozialistischen] Staat bejaht, zumindest ist in politischer Hinsicht mit Ausnahme, daß er sich nirgends beteiligt, nichts Nachteiliges über ihn bekannt geworden". 810

E r selbst gibt an, dass er sich „nur nebenberuflich schriftstellerisch betätigt". Sein Einkommen aus literarischer Tätigkeit innerhalb der letzten zwei Jahre bezeichnet er kurzerhand mit „keines". 811 Damit wird der Antrag nicht bewilligt. Stattdessen erhält Freumbichler so genannte Befreiungsscheine für Die große Reise des Bauern Jodok Fink (= Auszug und Heimkehr des Jodok Fink) und Die Heiligen von Waldprechting sowie nachträglich für Geschichten aus dem Salzburgischen und Atahuala. Solche Befreiungsscheine haben nebenberuflich tätige Schriftsteller erhalten, die nicht Mitglied der R S K gewesen sind und um jede Buchpublikation einzeln ansuchen mussten. Alle vier Scheine sind vom Präsidium der R S K in Berlin mit 6. August 1941 datiert. Den geplanten Veröffentlichungen scheint nichts mehr im Wege zu stehen. A n einem RSK-Beitritt kommt Freumbichler vorerst vorbei. So perfekt organisiert die NS-Diktatur nach außen hin schien oder zumindest scheinen wollte, waren einzelne Stellen vom Vorgehen anderer Abteilungen nicht immer informiert. Dies erklärt, dass der Zsolnay Verlag ein vom 29. August 1941 datiertes Schreiben der in Leipzig ansässigen „Abteilung III (Buchhandel)" der R S K erhält, in dem der „Verstoß gegen Kammeranordnungen" angezeigt und eine Strafe angedroht wird. Der Verlag habe, so heißt es, seine „Nachprüfungspflicht verletzt", indem er mit Johannes Freumbichler sowie dem Autor Lorenz Grabner, die weder eine Mitgliedschaft der R S K noch eine dementsprechende Befreiung besitzen würden, Verträge abgeschlossen hat. 812 Doch auch im Verlagsgebäude in der Prinz-Eugen-Straße in Wien herrscht unmittelbar vor einem neuerlichen Führungswechsel das perfekte Chaos. Die noch vom Treuhänder Wilhelm Hofmann

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unterzeichnete Rückfrage erhält Freumbichler nicht, da man sie an seine alte Seekirchener Adresse schickt. Erst mit einiger Verzögerung gelangen die Befreiungsscheine am 10. Oktober 1941 nach Wien, von wo aus man die Leipziger Behörden schließlich beruhigen kann. Schon seit längerem interessiert sich der als „Entjudungsreferent"813 ausgerechnet in der oben erwähnten Abteilung III der RSK tätige Karl Heinrich Bischoff für das Wiener Verlagsunternehmen. Am 1. Oktober 1941 übernimmt er den von nun an unter seinem Namen bezeichneten Zsolnay Verlag zu unwahrscheinlich günstigen Konditionen, die aufgrund gesonderter Vereinbarungen ausgehandelt worden sein dürften.814 Nach der so genannten „Scheinarisierung" des Hauses Zsolnay und der Zeit treuhänderischer Verwaltung erfolgt jetzt die endgültige ideologische Gleichschaltung815 innerhalb der ab 1941 massiv eingeschränkten Buchproduktion. In seiner Eröffnungsrede zur ,Woche des Deutschen Buches' im Oktober 1941 in Weimar hat der Reichspropagandaminister und Leiter der RKK, Joseph Goebbels, die zahlreichen Schwierigkeiten der Branche, unter anderem den Papiermangel, den Vorrang der Rüstungsindustrie sowie den notwendigen Kriegseinsatz vieler Verlags- und Druckereiarbeiter unterstrichen. Die Aufgabe „für das deutsche Schrifttum, vor allem seine elementarste Pflicht der kämpfenden Front gegenüber zu erfüllen" 816 , stehe außer Frage. Dies heißt nichts anderes, als die Soldaten mit geeignetem Lesestoff zu versorgen. Um den „Fluß des Schrifttums"817 aufrecht zu erhalten, kommt es zu so gut wie keinen Wiederauflagen von Büchern - wie sie Freumbichler für Philomena Ellenhub gerne gesehen hätte. Wenigstens den Anschein ungehinderten Kulturschaffens sowie ungestörter Buchproduktion will die NS-Kulturpolitik erwecken. In Wirklichkeit hat sich die Zahl der Verlage seit 1941 deutlich reduziert. Alle Kräfte konzentrieren sich auf die Rüstungsindustrie und auf die Totalmobilmachung. Die Regale der zivilen Buchhandlungen sind beinahe leer, das Buch wird zum Mittel der Stärkung der Kampfmoral an der Front. Trotz planmäßiger Vorgaben kommt es unter den noch bestehenden Verlagen zum Machtkampf um die Zuteilung von Papier beziehungsweise Druckgenehmigungen. Diese bleiben „kriegswichtige[n] Schrifttumsgebiete[n]"818 vorbehalten, zu denen auch „apolitische Trivialliteratur"819 und Unterhaltungsromane zählen. Zu einem lukrativen und begehrten Geschäft entwickeln sich die Feldpostausgaben für den Frontbuchhandel, sofern die Verleger ihre Beziehungen zu den fur Papierzuteilung zuständigen Stellen, zur Wehrmacht und zu einflussreichen Mittelsmännern geschickt bis zur Korruption ausnützen.820

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„Ab 1944 überlebten dann nur mehr jene Verlage, die durch eine Ermächtigung des Präsidenten der Reichskulturkammer und Generalbevollmächtigteten für den totalen Kriegseinsatz (so die Berufsbezeichnung!), Joseph Goebbels, als kriegswichtig anerkannt wurden und ihre Verlagsarbeit fortsetzen durften." 821

Im Oktober 1942 erscheint Freumbichlers humorvoll satirische Erzählung Die Reise nach Waldprechting im Verlag Eugen Händle. Im Nachlass befindet sich die Kopie eines korrigierten Typoskripts, das auf den ursprünglichen Titel Die Heiligen von Waldprechting hinweist. Die Bewohner des Dorfes - reales Vorbild ist ein gleichnamiger Weiler in unmittelbarer Nähe von Freumbichlers früherem Wohnsitz in Seekirchen - sind alles andere als,Heilige'. „Totalität, Kosmisches, Welttheater, Komik und Humor" sind Georg Unterberger zufolge die einander bedingenden „Strukturzüge der Erzählung".822 Ausgangspunkt ist die auf rätselhafte Weise verschwundene, schon längst renovierungsbedürftige Figur des Heiligen Nepomuk. Dem vagabundierenden Maler Beverluk, der nach Waldprechting kommt, gelingt es nicht nur, die Statue neu zu gestalten. A m Schluss rettet er sein Ansehen und widerlegt geschickt den ursprünglichen Verdacht, den Heiligen entwendet zu haben, um ins Geschäft zu kommen. Beverluk entlarvt seinen Auftraggeber, den Pfarrer, der eines Nachts die alte Figur in den Fluss geworfen hat. Immer wieder trifft die Geistlichen die Kritik des Autors an der katholischen Kirche.823 M i t Ausnahme des Pfarrer Hobian in Eling. Das Tal der sieben Höfe gestaltet er die Vertreter des Klerus gerne in ihrer Doppelbödigkeit, als Gefangene ihrer Scheinmoral und als zu schwach gegenüber ihren Vorgesetzten. Dass der schelmische, in Till-Eulenspiegel-Manier handelnde Held Beverluk in der ursprünglichen Textfassung Kommunist sein sollte, wird vom Lektor Georg Schwarz in München als unzeitgemäß beanstandet. „Um Gotteswillen, das darf er nicht sagen, auch wenn er's wäre!"824 Übrig bleibt ein „geborener Rebell"825, während eine andere Stelle, die man damals als mindestens ebenso regimekritisch hätte ansehen können, unverändert bleibt:

„Das ist also die berühmte,Scholle', von der die Geistesidioten so viel Gerede machen ... Ich werde sie euch noch einmal malen, diese Scholle! - Und doch, recht betrachtet, sie ist gut: Erde, tu'dich auf und schluck mich ein! Berge mich in deinem Schoß!" 826

Bedient sich der Autor germanischer Formeln, etwa auch jener von der „alten deutschen Eiche" 827 , betont er umgekehrt in der Rede des Organisten „Siebenschein",

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ein kauziges, rebellisches Original, „das souveräne Ich". 828 Dem nationalsozialistischen Kunstverständnis gegenüber erlaubt sich die Erzählung kleine Freiheiten. Einfache Bilder, tiefe Menschlichkeit und der versöhnliche Schluss, der Beverluk und den Pfarrer zu freundschaftlichen Komplizen macht, wiederholen die versöhnlich harmonische Botschaft, die der Autor seinen Lesern schon am Ende von Philomena Ellenhub zugerufen hat: „das Leben ist einfach, liebreich und g u t . . ,". 829 In Beverluk erhebt Freumbichler sein eigenes Schicksal zum Programm. Der Maler gibt sich ganz seiner künstlerischen Berufung hin und hört nicht auf die Einwände der Gesellschaft. „Schon in meiner Kindheit hat etwas in meinem Kopf gezeichnet und gemalt, ohne mein Zutun [...] Wenn ich aus Not Taglöhnerarbeit machen mußte, und dies passierte mir hundertmal, war ich der unglücklichste Mensch der Welt."830 Mit der Erzählung verdient Freumbichler immerhin 1.175 R M 8 3 1 (nach heutigem Wert etwa 5.000 Euro) und bemerkt zu Recht, wie unberechenbar die Entscheidungen der für Papierzuteilung zuständigen Kommission im Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung sind. Während der Eugen Händle Verlag nach längerem Ringen immerhin Papier für 10.000 Stück Auflage der gerade 90 Seiten umfassenden Erzählung genehmigt bekommt, gestaltet sich die Drucklegung des Romans Auszug und Heimkehr des Jodok Fink im Rainer Wunderlich Verlag zur selben Zeit wesentlich schwieriger und bleibt bis zuletzt ungewiss. In einer Notiztagebuch-Eintragung Freumbichlers findet sich einer der wenigen Hinweise auf den Ablauf der Ereignisse: „Anfangs Dezember 41, Brief: Reise n[ach] Holland, Druck von 30 Tfausend] gesichert etc. Ich lebe in Stolz, Freude, Mut. Arbeite sehr viel, weder Armut, noch Kälte, noch Alter können Macht über mich gewinnen. Da, Ende Jänner 42: Das Ministerium] f[ür] Propaganda, Abt. Schrifttum hat Jodok für nicht,verlegungswürdig' erkannt. Alles [sie!] Hoffnungen gefallen in nichts."832 Dass es im Herbst 1942 schließlich doch zum Druck von zunächst „5.000 Stück [...] in Tübingen, 10.000 Stück in Holland" 8 3 3 und später weiteren Etappen kommt, verdankt Freumbichler dem Einsatz sowie vermutlich geschickten M a növern von Hermann Leins. Der Verleger dürfte bereits Ende 1941 in Holland auf

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illegalem Weg Papier für 30.000 Stück Auflage beschafft haben. Möglicherweise hat dabei ein Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre um Matthias Lackas bestanden. 834 Da in den Nachlass-Materialien nur Andeutungen darauf zu finden sind, wäre zu prüfen, in welchem Ausmaß Freumbichlers Roman Auszug und Heimkehr des Jodok Fink sowie die Erzählung Die Reise nach Waldprechting durch im Schwarzhandel organisiertes Papier gedruckt werden und erfolgreich verlegt werden konnten. 835 Zuvor muss Johannes Freumbichler allerdings eine weitere, unerwartete Hürde nehmen. U m das Propagandaministerium zufrieden zu stellen, sind Änderungen am Text notwendig. Bei jenen wenigen Stellen, die das Soldatenleben und den Krieg positiv erwähnen 836 , handelt es sich, wie Georg Unterberger festgestellt hat, tatsächlich um ,Alibipassagen". 837 Der Autor hat das martialische „Lob des Militärischen"838 im Sinne der herrschenden Ideologie offenbar nachträglich eingefugt, um „die Duldung des Romans" 839 gegenüber den NS-Behörden zu erwirken. Da im Nachlass keine früheren Textstufen oder korrigierten Typoskripte zu diesem Werk existieren, lässt sich die genaue Entstehungsgeschichte nicht mehr rekonstruieren. Wie sein Titelheld nach „drei Geburten" 840 erblickt auch der Roman auf komplizierten Wegen das Licht der Öffentlichkeit. Für Johannes Freumbichler wird es der größte Erfolg seines Lebens. Allein bis Ende 1943 setzt der Wunderlich Verlag 26.799 Exemplare zum offiziellen Preis von vier Reichsmark ab. Vom beinahe verhinderten und für nicht „verlegungswürdig" erklärten Druckwerk wird Auszug und Heimkehr des Jodok Fink zum ideologisch angepassten Unterhaltungsroman, gelangt in Leihbibliotheken und wird schließlich als Frontbuch an die Soldaten verkauft. 841 Dank dieser Umstände hat Freumbichler mit seinem Buch tatsächlich „den Nagel auf den Kopf getroffen" 842 , wie er selbst feststellt. Zum ersten und einzigen Mal verdient er wirklich große Beträge - bis 1945 die unglaubliche Summe von rund 16.800 R M (entspricht heute etwa 70.000 Euro). 843 Die Einreichung des Werks für den,Kulturpreis für bäuerliches Schrifttum' 1944 erfolgt allerdings zu spät.844 Obwohl er einfaches und natürliches Erzählen in den Vordergrund stellt, will Freumbichler in diesem Roman die Natur nicht bloß nachahmen, sondern literarisch gestalten. „Je mehr ich mich von der,Natur' entferne, je mehr ich erfinde, desto besser wird es." 845 M i t Auszug und Heimkehr des Jodok Fink schreibt er einen Ich-Roman, in dem die eigenen Empfindungen auf den Leser direkt wirken. Auch wenn sie autobiografische Züge trägt, bleibt die Figur fiktional. Unbestrit-

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ten hat dieser Text seinem Dichter sehr viel bedeutet und ist regelrecht aus seiner „Seele gewachsen".846 Adalbert Schmidt bezeichnet ihn 1962 als „das menschlich aufschlußreichste Buch Freumbichlers".847 Neben der Ich-Perspektive des Erzählers ist die immer wiederkehrende Dreiteiligkeit charakteristisch. Sie beginnt mit den drei Gründen Jodok Finks, „sein Leben" 848 aufzuschreiben, und mit seinen „drei Geburten" 849 : der „Geburt des spintisierenden Geistes in meinem Kopfe", der „Geburt der jubelnden Menschenfreude in meinem Herzen" 850 und schließlich der Erkenntnis, dass es „auch ein schaurigsüßes Reich der Leiden" 851 gibt. Die dreiteilige Struktur setzt sich in den für Jodok wichtigen Frauenfiguren fort: der Magd Käthe (kindlich ,unschuldige' Anziehung), der Base Klaude (erotisches Erwachen) und der Tänzerin Bergild (Leidenschaft und Untergang). Uberhaupt folgt die Entwicklung des Protagonisten drei Stadien. Er wächst im Dorf auf, zieht in die Fremde - zunächst in die „smaragdene Stadt" (Kleinstadt), später in die „purpurne Stadt" (Großstadt) - und kehrt am Ende in die Heimat zurück. Die „Abenteuer des Lebens" - so der Untertitel des Buches - machen den Hauptteil aus. Die Struktur suggeriert eine christliche Dreieinigkeit als kosmisches Ordnungsprinzip. Jodok findet, nachdem er sich „die Hörner abgestoßen"852 hat, geläutert in die ihm bestimmte „Welt in heiliger Ordnung" 853 , das Bauerntum, zurück, ohne sich und seine künstlerischen Ambitionen völlig zu verraten. Damit ist der Roman Freumbichlers versöhnlichstes und konservativstes Buch. Friedbert Aspetsberger vergleicht ihn mit Gottfried Kellers Der grüne Heinrich^* Die Parallelen Freumbichlers mit dem Schweizer Autor, der viele Jahre ohne rechten Plan seinen musischen Ambitionen nachgeht und von seiner Mutter unterstützt wird, sind ebenso deutlich wie die literarische Verarbeitung der eigenen Biografie als Lebensschicksal einer zum Künsder bestimmten Figur. Anleihen bei Johann Wolfgang von Goethes Entwicklungsroman Wilhelm Meister nimmt das Motiv der fahrenden Schauspieler, die Jodoks Faszination erwecken. Schon der Titel verweist auf das Modellhafte des bäuerlichen Heimatromans, dessen schützender Sphäre die abenteuerliche Grenzüberschreitung und die leidvollen Erfahrungen gegenüber gestellt werden. Der „Auszug" ist der zur geläuterten „Heimkehr" notwendige Umweg. Erst dadurch wird das Eigene erworben und zum unwiederbringlichen Gut - eine Einsicht, die zur wohlbekannten Formel konservativer Literatur geworden ist. Deutlich kommt dabei die in der Tradition verankerte Heimatideologie zum Ausdruck, wie sie beispielsweise Karl Heinrich Waggerls Roman Schweres Blut (1931) zugrunde liegt. Dabei hat der Wagrainer Schriftsteller,

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wie Freumbichler, mit negativen, von existenziellen Krisen beherrschten Figuren begonnen und gegen die idealisierenden Tendenzen des Heimatromans verstoßen. Waggerls Erzählungen aus den i92oer-Jahren - etwa Das Abenteuer (1926), Peter (1926) oder Arbeit (1930) - gestalten ebenso wie Eduard Aring und andere Texte aus Johannes Freumbichlers Nachlass Schreckensszenarien und Extremsituationen eines von Armut, Unverstand und harter Arbeit beherrschten ländlichen Lebens.855 Erst in der Prosa ab den i93oer-Jahren entwickelt Waggerl sein bekanntes literarisches Konzept, das sich erfolgreich am Publikumsgeschmack orientiert und auf Harmonie sowie „Gleichgewicht" abzielt, „nicht mehr Verzweiflung zum Ausdruck bringen, sondern Trost spenden, nicht Probleme anbieten, sondern Lösungen"856 vermitteln will. Freumbichler folgt ihm darin zumindest in Auszug und Heimkehr des Jodok Fink und erkennt, dass eine zu dramatischem Pessimismus neigende Sozialkritik, welche die biografischen Leidenserfahrungen und familiären Konflikte zum Ausdruck bringt, nicht gerade der Stoff sind, nach dem die Leser verlangen. Um das „Gesetz von Köder und Angel" 857 , übertragen auf das Buch, zu verstehen, fragt er sich: „Welche Art Menschen willst du mit deinen Bücher fangen?"858 Der „Genuß"859, den er den Lesern seiner Bücher bereiten will, wird dabei zum Stichwort. „Reizvolle Sprache, Sätze, genußreiche Kunst, Spiel, Trug"860, heißt es in der Mappe „Schriftsteller-Brevier". Dass sich solche Auffassungen von Kunst gut instrumentalisieren und in die im Dritten Reich herrschende Ideologie integrieren lassen, ist auffällig, war jedoch ursprünglich nicht beabsichtigt. Durch die Inspiration des Fräulein Eilengart erlebt Jodok die „höheren Schülerfreuden"861 des Künstlers. Nicht die eigenen Interessen, klärt sie ihn auf, dürften für diesen vorrangig sein, sondern „sein Ringen nach Klarheit, sein Suchen nach [...] dem Weg des Lebens".862 Im Sinne einer höheren Weihe der Kunst für das Allgemeinwohl seien „Künstlerschaft und Martyrium unauflöslich miteinander verbunden".863 Schon die frühere Begegnung mit Meister Turteltei in der „smaragdenen Stadt" lässt den schwärmerischen Jodok die Mühen auf dem langen Weg zum wahren Künstler ahnen. „Ein Künstler sein, heißt ein Lichtbringer sein, unter Millionen und Abermillionen ein Auserwählter!"864 Turteltei lobt den jungen Bauernsohn mit genau jenen Worten, die Franz Karl Ginzkey bereits 1919 für Johannes Freumbichler gefunden hat.865 „Sie sind ein originales Talent. Das, was Sie machen, ist vor allem echt deutsch. Sie bringen mit den einfachsten Mitteln starke Wirkungen hervor",866 heißt es im Roman.

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Im Nationalsozialismus wird die Vorstellung vom Künstler als Auserwählten und Leidenden mit einer antimodernen Haltung versehen und missbraucht. „Alles Große und Heilige im Himmel und auf Erden war und ist einsam" 867 , heißt es beschwörend in Freumbichlers Atahuala. So wollte man den ,deutschen Künstler' sehen, der in heroischem Kampf gegen die Welt, die ihn nicht zu verstehen vermag, für sein Volk und dessen Ideologie einsteht. Die herausragend einsame Stellung des Künstlers, die ihn zugunsten des Schöpferisch-Geistigen vom ernüchternden materiellen Uberlebenskampf entbinden soll, bildet ebenso wie die idealisierende Verherrlichung seiner Produkte eine der tragenden Säulen der Kulturpolitik des autoritären NS-Regimes. „Kunst soll überhöhen, repräsentieren, verklären, etwas für den Sonn- und Feiertag, nach des Tages Mühen" bieten, setzt „der Nationalsozialismus eine Radikalisierung des kleinbürgerlichen Kunstgeschmacks"868 bewusst gegen die .entartete' Avantgarde der Moderne. In Ansätzen war dies bei Freumbichler bereits vor 1938 erkennbar. Auch in der Heimatkunstbewegung in der Ersten Republik und im Ständestaat zielte Literatur auf die Erbauung und Entspannung der vom Alltag geplagten Menschen ab. Karlheinz Rossbacher verweist etwa auf Friedrich Lienhards um 1900 geprägte poetologische Bekenntnisse zu einer „Höhenkunst", die als weihevolle, .sonntägliche' Erfüllung des literarischen Ideals den harten Alltag und das Irdische transzendiert und so „gesellschaftlichem Desengagement" Vorschub leistet.869 In kriegerischer Metapher schreibt Freumbichler an Emil Fabjan nach Ragusa: „Jeden M o r g e n , ab 4 Uhr, schwinge ich mein Schwert, das heißt meine Feder [ . . . ] Ich bin entschlossen, mich durch nichts mehr aus meiner Ruhe und meiner Arbeit kriegen zu lassen." 870

Der stilisierte Vergleich des Dichters mit einem auf dem Felde Kämpfenden findet sich im Kontext nationalsozialistischer Terminologie wieder. Das Buch ein Schwert des Geistes lautet der martialische Titel der vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda herausgegebenen Liste für in Leihbibliotheken empfohlene Bücher. 871 Auszug und Heimkehr des Jodok Fink wird dort allerdings nicht angeführt, obwohl der Roman als Frontbuch erfolgreich ist. 1944 erfolgt auf Anordnung der NS-Behörden die Schließung nicht unmittelbar kriegswichtiger Verlage, zu denen der Eugen Händle Verlag ebenso wie der Wunderlich Verlag unter Hermann Leins zählt. 872 Der aus dem Zsolnay Verlag

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in Wien hervorgegangene Κ. H . Bischoff Verlag gehört zu jenen 220 Häusern, die auch das letzte Kriegsjahr überleben und weiterhin produzieren.873 Erstaunlich ist, wie korrekt, ja geradezu zuvorkommend sich der frühere RKK-Funktionär Bischoff Freumbichler gegenüber verhält. Dieser äußert seine Unzufriedenheit und seine „Lösung vom alten Zsolnay Verlag [...], der einen minimalen Absatz meiner B ü cher erzielte und bei dem mir jede persönliche Förderung und Beratung fehlte". 874 Bischoff bittet den Autor, sein Urteil nicht gleich auf die neue Führung zu übertragen. Z u einer Neuauflage der Philomena Ellenhub kann er sich trotzdem nicht entschließen. Verärgert bezeichnet Freumbichler Bücher anderer Autoren, für die es offensichtlich genug Papier gibt, als „Schaumblasen, die vom Wellengewoge der Zeit emporgetrieben werden". 875 Nachdem Hermann Leins erwägt, ihn als Autor mit seinem Gesamtwerk zu übernehmen, ersucht Freumbichler um Freigabe der alten Rechte bei Zsolnay. Bischoff reagiert höflich und ergreift die Gelegenheit, das ,Sorgenkind' Atahuala freizugeben. Philomena Ellenhub und die Geschichten aus dem Salzburgischen bleiben aber beim Κ. H . Bischoff Verlag. Dessen Plan, im März 1944 einen Auszug aus den Geschichten aus dem Salzburgischen unter dem Titel der Erzählung Dergottesßirchtige Ochs als Feldpostausgabe mit 25.000 Stück Auflage zu veröffentlichen, wird nicht mehr verwirklicht. „Nach der Werkkarte in der Herstellkartei wurde die Feldpostausgabe ,In der Herstellung vernichtet.'"876 Durch den Russlandfeldzug spitzt sich die Lage immer weiter zu. Den bis jetzt durch ihre Mitgliedschaft bei der R K K vom Kriegsdienst freigestellten, .unabkömmlichen' Künstlern droht per Verordnung vom 27. Januar 1943 der Einsatz an der Front oder zumindest für eine Ersatztätigkeit in Schreibstuben, in Lazaretten oder später beim so genannten ,Volkssturm'. Karl H . Bischoff kann kaum glauben, dass Johannes Freumbichler bis dahin noch nicht Mitglied der R S Κ ist. Der Verleger will seinen Autor vor einer Kriegsverpflichtung bewahren und hält es für sinnvoll, „daß die vorhandenen Kräfte da eingesetzt werden, wo sie für die gesamte Kriegsleistung am meisten nützen können, und das kann sehr oft das kulturelle Gebiet und Ihr Schreibtisch sein". 877

Freumbichler, der bei einer amtsärztlichen Untersuchung Anfang März in Traunstein fur einsatzfähig erklärt worden ist, sieht dies genauso. „Hier, am Schreibtisch, kann ich etwas leisten, vielleicht sogar für die Gesamtheit", antwortet er, der sich

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„zu allen praktischen Arbeiten schon immer unfähig" 878 gesehen hat. Seiner inneren Einstellung nach ist er Pazifist. In einem Brief an den gegen die Partisanen kämpfenden Emil Fabjan bricht allerdings kriegsverherrlichende Romantik durch: „Wenn ich hätte mit dem Gewehr mittun können und an deiner Seite in den bosnischen Bergen herumlaufen, ja, aber hier, als Tintenkuli in einem übelriechenden Büro, mit Leuten zusammen, die ich nicht schmecken kann, das hat mich in jener Zeit gänzlich verstört." 879

Bischoff rät Freumbichler, der einen Arbeitseinsatz befurchtet, dringend der R S K beizutreten. 880 In einem neuen Antrag vermerkt der Dichter, hauptberuflich schriftstellerisch tätig zu sein, und führt seine gesamten bisherigen Veröffentlichungen sowie den für Anfang 1944 geplanten Roman Allein unter den Sternen (früher lam alone oder Die letzte Fahrt der I am alone) an. „Aus dieser Aufstellung ist zu ersehen, daß meine Tätigkeit ausschließlich in schriftstellerischen Arbeiten besteht und nebenbei einen anderen Beruf auszuüben, mir ganz unmöglich wäre." 881

Am 31. März 1943, jedoch bereits „mit Wirkung vom 1. Januar 1943", erfolgt schließlich die Aufnahme Johannes Freumbichlers als Mitglied der RSK. 8 8 2 Inzwischen wird die NS-Diktatur von den Alliierten immer stärker in die Enge getrieben. Im August 1944 verfugt die R K K - analog zur Schließung vieler Verlage - „eine grundsätzliche Aufhebung aller auf dem kulturellen Sektor noch bestehenden Uk-Stellungen". 883 Ist das RSK-Mitglied Freumbichler wie andere Kunstschaffende bis jetzt als ,unabkömmlich' (Uk) eingestuft und vor einem Kriegseinsatz bewahrt, muss er sich wie nahezu alle seine Kollegen bis 15. September 1944 zu einem Arbeitsdienst' melden.884 Bis unmittelbar vor seiner erzwungenen Schließung interessiert sich auch der Eugen Handle Verlag für das Gesamtwerk des Autors und seinen Roman I am alone. Das Manuskript wird bei dem vom „Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum" (Berlin) initiierten „Preisausschreiben für unterhaltendes Schrifttum 1942" eingereicht.885 Mit dem Lektor Georg Schwarz, den Freumbichler als einen „Mann von höchstem künstlerischen Geschmack und umfassendem Wissen

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in der Literatur" 886 schätzt, werden Korrekturen besprochen. D e r englische Titel soll unbedingt geändert werden, man einigt sich auίAllein unter Sternen. Das Urteil des Lektors bezüglich vieler „Anachronismen" und ,,zahlreiche[r] im ersten Wurf zu leicht genommene[r] Stellen" 887 deckt sich mit der Einschätzung Hermann L e bers bei Zsolnay. Eugen Händles Vorschlag, das Buch direkt der Wehrmacht anzubieten 888 , lässt sich nicht verwirklichen. Verärgert bemerkt Freumbichler, er „habe mit 1' am alone nichts wie Arbeit und Ärger". 8 8 9 Georg Schwarz vermittelt den Kontakt zum Piper Verlag in München. 8 9 0 Freumbichler wartet indes noch immer auf eine Entscheidung bei Händle, der in einem Schreiben an den Dichter die Schwierigkeiten der Veröffentlichung betont, obwohl das Manuskript „verschiedene Zensuren bereits mit Erfolg passiert hat und mit bei der Endentscheidung vorliegt". 891 Doch das Regime hat längst andere Sorgen. Z u einer Veröffentlichung des Romans kommt es ebenso wenig wie zur offiziellen Vergabe des Preises. Diese dürfte im Zuge des Untergangs des Dritten Reichs eingestellt worden sein. Nach der Reinschrift seiner Sammlung neuer „Salzburger Dorfgeschichten" unter dem Titel Pelargonien und Nelken formuliert Freumbichler 1944 einen Briefentwurf an Hermann Leins und gibt darin Einblick in seine weltanschauliche und ästhetische Auffassung: „Die Grausamkeit und, wie mir scheinen will, Sinnlosigkeit unserer Zeit hat mich in jenes Land getrieben, wo die Erinnerung nur selige Bilder aufzuweisen hat. Wenn ich jetzt, wo das kleine Büchlein reingeschrieben vor mir liegt, drin lese, muten sie mich [...] wie gute Bilder aus einem versunkenen Märchenlande an. Ich denke, so könnte es bei der Lektüre auch manchem andern gehen. Meiner Meinung nach werden die Menschen nach der Katastrophe nur noch fur das Allereinfachste Sinn haben."892 Rückzug und innere Versenkung, Weltflucht und Abkehr vom Politischen, prägen Johannes Freumbichlers Verhältnis zur Wirklichkeit sowohl vor als auch nach 1945. Z u einem mutigen Kritiker des N S - R e g i m e s fehlen ihm die Voraussetzungen, er bleibt ein stiller Dulder, der sich nach außen hin anpasst, seiner inneren Uberzeugung nach Hitler, den Krieg und den Völkermord aber zutiefst verabscheut. D e r E r f o l g von Auszug und Heimkehr des Jodok Fink bleibt ein Einzelfall, der Dichter selbst eine Randfigur auch innerhalb der nationalsozialistischen Literatur. Dass das Buch Frontsoldaten als Unterhaltungslektüre dient, ist überraschend, kann aber nicht als politisches Bekenntnis des Autors gewertet werden.

Überleben in der N S - D i k t a t u r und ein B u c h an der Front

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26 Buchumschlag des erfolgreichen Romans Auszug und Heimkehr des JodokFink (1942).

J O H A N N E S FR Ε U M B I C H L E R

JODOK F I N K EIN B U C H VOM A B E N T E U E R D E S

LEBENS

D i e Entstehungsgeschichte des Romans zeigt, dass er in unterschiedlichen Fassungen verschiedenen Verlagen bereits ab 1925 ohne Erfolg angeboten wurde. Dass Freumbichler, der mitunter fern der Realität lebt, sein hohes Einkommen aus dem Verkauf des Buches bis nach Kriegsende auf einem Konto der Kreissparkasse Traunstein angelegt hat, wird sich allerdings als fataler Fehler erweisen.

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28 Die Familie bei einem Ausflug in der Umgebung von Traunstein (von links: Anna Freumbichler mit Peter Fabjan, E m i l und Herta Fabjan, Thomas Bernhard, dahinter J o hannes Freumbichler).

29 Johannes Freumbichler in Traunstein.

7. Arbeiten „bis ich tot bin"893 1946-1949 Das Lebenswerk und die letzten Jahre in Salzburg

„Es schreibt keiner wie ein Gott, der nicht gelitten hat wie ein Hund." Marie von Ebner-Eschenbach

„Ich werde schreiben, solange ich dazu die Kraft habe, ich werde noch im Sterben zu schreiben versuchen."894 Diesen Satz des Schriftstellers Upton Sinclair zitiert Johannes Freumbichler immer wieder. Auch nach dem Krieg versucht er, „ein göttliches Programm von 10 Arbeiten" zu realisieren. „Arbeitend muß man sterben"895, lautet seine Devise. Schon 1940 hat er „Armut, Alter und Tod" als „drei Freunde" bezeichnet, mit denen er sich jetzt tagtäglich beschäftigen müsse.896 Der Titel, den Freumbichler im Dezember 1948 fur seine geplante Lebensrückschau wählt, ist programmatisch: Die Kunst zu leiden. In diesem kleinen Buch will er die „Weisheiten" aus seinen Notiztagebüchern, aber auch Empfindungen wie „Not, Hunger, Kälte, Enttäuschungen in Liebe und Freundschaft und Verwandtschaft" wiedergeben. „Ein großer, heiliger Wille und Vorsatz ermöglicht das scheinbar Unmögliche."897 Gerade die letzten Jahre seines Schaffens stehen im Zeichen einer ungeheueren, an „Fanatismus"898 grenzenden Arbeitsanstrengung. Das „Höchste im Auge" 899 , wie Thomas Bernhard später in seinen autobiografischen Erzählungen schreibt, will Freumbichler sein „Lebenswerk"900 ohne Rücksicht auf sich und andere vollenden. Obwohl sein Augenleiden und allgemeine körperliche Beschwerden immer stärker werden, steht er, seinem „Lebensprogramm"901 gemäß, früh morgens auf und beginnt hinter verschlossener Türe seine schriftstellerische Arbeit, was der Enkel einen quälenden und erbarmungslos geführten „Prozeß"902 nennt. Dennoch genießt Freumbichler die morgendliche Stille und träumt vom Leben als erfolgreicher Schriftsteller, der seine Bücher in „Millionen-Auflagen"903 verkauft. „Punkt vier Uhr täglich bei meiner Arbeit, bis ich m[ein] Ziel: H[aus] i[m] Salzburgischen, Köchin, Bad, Wagen erreicht habe"904, notierte er Ende 1942, als sich der erste Erfolg von Auszug und Heimkehr des Jodok Fink abzuzeichnen beginnt - ein maßloser Wunschtraum, der freilich unerfüllt bleiben wird.

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Die „Glassturzphilosophie", die in Philomena Ellenhub anklingt, will er fur sich selbst „zum höchsten System ausbauen. [...] Nicht nur gegen .fremde' Menschen, sondern vielmehr und gerade gegen die Allernächsten!!"905 Man mag den Rückzug von der Gesellschaft ins Innerliche als resignative Reaktion auf die Orientierungslosigkeit infolge der politischen Verhältnisse und als Schutzmechanismus vor dem ewigen Scheitern ansehen. Wer nur noch in seiner Kunst leben will, ohne den Anspruch auf eine Auseinandersetzung mit der Außenwelt zu erheben, lebt in der Illusion der Unangreifbarkeit, begibt sich aber auch in das gefährliche Fahrwasser der affirmativen Akzeptanz des Bestehenden, wie sie von totalitären Regimes gefordert wird. „Nicht .teilnehmen', unbewegt bleiben, wie in einem Glassturz wandeln - Höchste Wahrheit und Weisheit! Auch Du, ein Mönch [...] Einsiedler [...], Heiliger!! Siehe Buddhismus. Das ist die höchste Lehre des Lebens" 906 ,

formuliert Freumbichler seinen abgehobenen, bewusst distanzierten Ästhetizismus. „Gleichgültigkeit" und „Bedürfnislosigkeit"907 sollen die existenzielle Problematik ertragen helfen und treten vor eine konkrete politische Haltung. „Am äußerlichen Leben muß man nur scheinbar, spielend teilnehmen"908, hat er schon 1938 geschrieben. „Amor fati" heißt es in einem Notiztagebuch: „Das Notwendige [...] lieben."909 Was aber ist dieses Notwendige? Gottfried Benn entwickelt im Doppelleben (1955) ebenfalls während der Kriegsjahre eine ähnliche Haltung. Alles Gesellschaftliche als äußere Sphäre des Lebens umgibt etwas Scheinbares und Unwirkliches, in dem man nur zufällig seine Rolle zu spielen hat. Das wahre Leben findet hinter diesen Kulissen statt, in den Tiefenschichten einer abgegrenzten Existenz. Für Benn gibt es nur „den großen, objektiven Gedanken, er ist die Ewigkeit, er ist die Ordnung der Welt, er lebt von Abstraktion, er ist die Formel der Kunst."910 In diesen geheimen Bezirk, den man selbst absteckt, wird der Anspruch des Großen verlegt. Der Rückzug ins Private wird zum literarischen Programm, etwa auch bei Karl Heinrich Waggerl: „Was draußen in der Welt geschieht, kümmert mich wenig." 911 Eine der wenigen Bekanntschaften Johannes Freumbichlers der letzten Jahre in Traunstein ist die mit dem aus Ostpreußen stammenden Maler Erwin SchulzCarrnoff (1913-1990). Gemeinsam mit Kollegen initiiert dieser in dem bayerischen Städtchen eine der ersten Kunstausstellungen nach der NS-Diktatur und gründet

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die Gruppe „Roter Reiter". 912 Freumbichler kann dem sozialistischen Engagement Schulz-Carrnoffs wenig abgewinnen, betont dessen „Überheblichkeit" 913 und spricht abfällig über seine Bilder. „Für meine noch verbleibenden Jahre ist vollkommene Abschließung, auch von den nächststehenden Personen Lebensbedingung" 914 , ist er sich sicher. Der Radikalität seines Rückzugs scheint er sich bewusst, plant er doch eine Dorfgeschichte über einen in seiner Isolation verrückt gewordenen „Glassturzmenschen". 915 Neben der scheinbaren und erzwungenen Gleichgültigkeit dem Leiden und dem Leben gegenüber - Thomas Bernhard nimmt hier durchaus Anleihen zu einem stilistischen Prinzip 916 - ist die Haltung Freumbichlers durch äußerste Härte und Zwanghaftigkeit gekennzeichnet. „Pferdedecke und Ledergurt" 9 1 7 gehören zu den Insignien des Schreibenden. Bei „Feldbett" und „Wassersuppe" 918 fuhrt er mehr das Leben eines mit eiserner Disziplin funktionierenden Soldaten als das eines kreativen Künstlers. „Man muß seinen Körper wie einen Hund schinden" 919 , zitiert er Friedrich den Großen. Umgekehrt empfindet er in Anlehnung an Epiktet das Leben als „nichts wie ein Spiel" 920 und strebt nach jener ,,höchste[n] innere[n] Heiterkeit", wie sie seiner Ansicht nach viele „unglückliche Genies" 921 - er nennt Hölderlin, Kleist, Lenau, Nietzsche oder Stelzhamer — zuletzt erreicht haben. „Bei allen Geistesarbeiten kommt es darauf an, daß man die Kraft der Konzentration besitzt, d.h. für eine gewisse Z e i t des Tages für alle Dinge, alle Ereignisse, alle M e n schen, alle Verhältnisse unempfänglich, völlig teilnahmslos, ja blind sei!" 922

Dabei muss er sich selbst eingestehen: „Meine Menschenabneigung grenzt an Wahnsinn." 923 M i t Nietzsche sowie Weininger verbindet ihn die fundamentale Ablehnung der Masse, die unfrei und geistlos dem bloßen Broterwerb nachgeht. „Man kann kein hoher Mensch sein, ohne die grenzenlose Niedrigkeit des Durchschnittsmenschen zutiefst zu erkennen." 924 Im Zuge seiner Arbeiten am „Roman aus christlicher Vorzeit" mit dem Titel Primus, der Römer im Kloster Adelholzen, mit dessen erster Niederschrift er 1939 beginnt und im Winter 1945/1946 zum Abschluss kommt, spricht er in Anlehnung an die „drei Geburten" des Romanhelden Jodok Fink über das „vierfache Glück des Lebens" und erinnert sich an seine beschützte Kindheit:

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„30. Jänner 42 - Gang gegen Traunstein, Erin[nerun]g, wie ich als Bub an solchen Wintertagen durchs Dorf lief, den Schlitten hinter mir. Was war damals diese unfehlbare Glücksempfindung?"925 Neben dem „ G e f ü h l der absoluten Freiheit und Selbstbestimmung", dem „unbegrenzte[n] Schauen" und der „Wiedergabe des Schauens im künstlerischen Werke" als „Glück des Schöpfers" habe die Geborgenheit des Vaterhauses, in das er jederzeit wie „ins Himmelreich" 926 zurückkehren konnte, zu dem Glücksgefuhl beigetragen. Schon als Kind empfindet Freumbichler Angst vor dem Verlust dieses seligen Zustandes: „Das ungeheuer schmerzliche Gefühl daheim, die Verzweiflung, wenn dieses Paradies durch Familienszenen gestört wurde, durch Streit, durch häßliche Worte. So auch jetzt. Ziehe einen heiligen Kreis um dein Altersparadies und schließe alle aus, die es mit ihren üblen Eigenschaften stören wollen."927 In ,,heilige[r] Ruhe" 9 2 8 möchte der Dichter Großes schaffen. Doch immer wieder dringt von außen Bedrohliches durch den Schutzschild hindurch. „Das Eintreten unerwarteter Dinge, Ausgaben, böse Überraschungen, das ist es, was mich immer wieder fur Tage aus der Arbeit wirft." 9 2 9 Ein solches Ereignis ist der Selbstmordversuch seines Enkels. „3. August 45. Selbstmordversuch Thomas mit 7 Schlaftabletten wegen der schlechten Behandlung von Seiten seines Stiefvaters." 930 E s bleibt nicht bei diesem einen Versuch. A m 2. M a i 1948 notiert Freumbichler einen weiteren beunruhigenden „Vorfall mitTh[omas]" und einen „Selbstmord"-Versuch. 931 D e r depressiven Verzweiflung des Knaben geht der Verlust seines Kindheitsparadieses, wie er es in Seekirchen erlebt hat, voraus. Für ihn ist die Zeit in Traunstein alles andere als einfach. „Ich ging auf den Dachboden und schaute auf den Taubenmarkt hinunter, senkrecht. Z u m erstenmal hatte ich den Gedanken, mich umzubringen" 932 , schreibt Bernhard über seine damaligen Empfindungen. Keineswegs lassen die äußeren Ereignisse Freumbichler so unberührt, wie seine Parolen glauben machen. Als Täuschung eines am gesellschaftlichen Leben am Rande Teilnehmenden erweist sich die von ihm erwartete Einkehr der Deutschen nach dem NS-Terror und dem Grauen des Kriegs. Während „dieses nationale[n] Unglück[s]" der Jahre 1933 bis 1945 beobachtet er das „Zurücksinken in die T i e r heit" 933 . Dass „1945 [ . . . ] wieder alles Nationale (Hitlerismus) verweht" sei und

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„12 Jahre Tollheit des deutschen Volkes" 9 3 4 mit einem M a l weggewischt werden könnten, bleibt aber ein Wunschdenken. Schon während des Kriegs muss Freumbichler die Absurdität des Rückzugs ins Schneckenhaus des Künstler-Ichs erkannt haben. Ein undatierter, wohl um 1946 verfasster Entwurf eines Briefs an Carl Zuckmayer berichtet über die vergangene Zeit: „Im Jahre '41 hatte ich das Glück, für mein neues Buch Auszug und Heimkehr des Jodok Fink einen kleinen, aber sehr tüchtigen Verlag in Tübingen zu finden, der ziemlich große Auflagen verkaufte. Zum ersten Mal in meiner Schriftstellerlaufbahn waren wir ohne Geldsorgen. Das war ein herrliches Gefühl, aber leider von kurzer Dauer. Die Jahre '43, '44 waren schlimm. Das Halbjahr '45 übersteigt das Maß dessen, was ein etwas feiner gearteter Mensch aushalten kann. Ja, 2 mal [pro] Tag, ebenso nachts wurden [wir] von den Bomben ins Freie gejagt. Da unser Haus knapp an dem Bahngeleise liegt, war es notwendig, die wichtigsten Manuskripte, Kleider, Wäsche jedesmal auf einem Schubkarren in den nahen Wald zu fahren."935 Dabei prognostiziert Freumbichler schon knapp nach Kriegsbeginn in unzähligen Briefen an seinen Sohn Farald und den Schwiegersohn E m i l an der Front, aus denen teilnehmende Sorge um deren ungewisses Schicksal spricht, ein schnelles Ende des Schreckens, dessen Ausmaß das Erwartete jedoch immer wieder von Neuem übertrifft. Erst im Frühjahr 1945, nach den Bombenangriffen der Alliierten, die auch Traunstein und Salzburg treffen, erfolgt die Erlösung vom Terror. Die Hoffnung auf einen Neubeginn bedeutet - fur Schriftsteller nicht weniger - den Aufbruch in eine unsichere Zeit. Neben allem Lebensnotwendigen ist Papier nach wie vor Mangelware, die meisten Verlagshäuser und Druckereien sind zerstört oder werden von den Alliierten streng kontrolliert. Freumbichler verfolgt auch jetzt unter allen Umständen eine Veröffentlichung seiner Werke. Die Bevölkerung, ist er der Ansicht, habe nach entspannenden Büchern, die über das Grauen der Zeit hinweghelfen sollen, nicht weniger Bedürfnis als nach Nahrung. „Was die M e n schen von heute nötig haben, wie der Hungrige ein Stück Brot, ist Freude", wie sie ein „Mensch, ein Buch, eine Lehre, eine Wissenschaft, eine Philosophie, eine Religion" 9 3 6 vermitteln können. In seinem ersten Schreiben an den Verleger E u gen Händle nach eineinhalb Jahren, im Januar 1946, erkundigt er sich nach dessen Schicksal, möchte aber auch wissen, was mit dem Manuskript I am alone passiert

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sei. U m wieder „Mut zu neuen Arbeiten aufbringen zu können" und die „dauernde Ungewißheit" zu überwinden, hofft er, dass Handle, „sobald die Möglichkeit des Druckes besteht, nicht zögern [wird], eine Mindestauflage von 20.000 Stück herauszubringen. Die Buchhandlungen sind total leer und warten auf Bücher wie ein ausgedürstetes Land auf einen Regen".937 Else Händle, die Frau des Verlegers, macht in ihrem Antwortschreiben deutlich, dass es gegenwärtig andere Probleme gebe. Eine Lizenz der Alliierten für die W i e deraufnahme der Verlagstätigkeit werde frühestens Mitte 1946 erfolgen, inzwischen sei der Verlag „verpachtet". 938 Dass Eugen Händle nicht selbst antwortet, liegt daran, dass er seit Sommer 1945 in einem Internierungslager in Kornwestheim bei Stuttgart in Untersuchungshaft ist. Während Hermann Leins, dessen Verlag wie jener Eugen Händles 1944 von den NS-Behörden geschlossen wurde, der jedoch „in keinem Verlagswerk seine Reverenz vor den Ideen und Männern des Dritten Reiches machte" 939 , in der französischen Zone die erste Lizenz zur Neugründung erhält, scheint Eugen Händle durch deutlichere Konzessionen an das Nazi-Regime belastet. Uber zwei Jahre lang wird er in dem Lager festgehalten und verhört. A u f eine Bitte des Lektors Georg Schwarz entlastet Freumbichler seinen ehemaligen Verleger mit einer eidesstattlichen Erklärung. 940 Im Juni 1947 ersucht Händle selbst Freumbichler um ein weiteres positives Zeugnis, dessen Inhalt er folgendermaßen vorgibt, „[...] daß sich Ihr Dichten in der Richtung bewegt hat, nämlich in der einer freien, weitherzigen, katholischen Weltanschauung[,] und daß es Ihnen in der damaligen Zeit außerordentlich schwer war, ein Manuskript bei einem entsprechend ausgerichteten Verlag unterzubringen^] daß Sie aber in dem Eugen Händle Verlag einen Verleger fanden, der schon durch die Auswahl der seitherigen Autoren und auch seines Lektors Georg Schwarz, Ihnen die Gewähr gab, daß er sich gerade um Schriftsteller annahm, die, wie Sie, besonders unter der Kulturpolitik des Dritten Reiches, mit Ihrem Schaffen zu leiden hatten. Wenn Sie dann noch hinzufügen können, daß Sie nicht Pg. [Parteimitglied, Anm. B. J.] waren und Nachteile hatten usw.".941 Auch dieser Bitte um Entlastung kommt Freumbichler nach und fugt ergänzend hinzu, dass

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„Goebbels den Druck einer anderen Arbeit, die in einer großen Auflage in Holland hergestellt werden sollte, vereitelte, wie ich jederzeit aus den Briefen meines Verlegers beweisen kann. Ich habe mich mehrmals geweigert, der Partei beizutreten und bin auch niemals Pg. [Parteimitglied, A n m . B. J . ] gewesen. M e i n e freimütigen Ä u ßerungen haben mir einigemale die Drohung zugezogen, nach Dachau gebracht zu werden". 9 4 2

Bei dem erwähnten Buch handelt es sich wohl um den Roman I am alone. Inwieweit das Reichspropagandaministerium den in Holland geplanten Druck tatsächlich „vereitelt" hat, geht aus der im Nachlass vorhandenen Korrespondenz Freumbichlers mit Eugen Händle und dem Verlag aber nicht klar hervor.943 Im Sommer 1946 stellt sich heraus, dass das Manuskript, das Freumbichler an den Verlag geschickt hat, nach den Luftangriffen gegen Ende des Kriegs „in Berlin verschollen" 944 ist. Auf Basis einer früheren Fassung, die er noch bei sich hat, will er bis Februar 1947 eine neue Druckvorlage erstellen und, wie er in Anspielung auf die Romanhandlung schreibt, sein „gesunkenes Schiff, die I am alone, flottmachen".945 Gegenüber Alice und Carl Zuckmayer bekennt sich Freumbichler ebenfalls als Gegner der „Naziterroristen".946 Er erinnert sich an die für ihn entscheidende Begegnung in Seekirchen beziehungsweise Henndorf 1936 und versucht, den unterbrochenen Briefkontakt wieder herzustellen. „Ich hatte ja das einzige Glück, in Ihnen, Meister, den ersten Künstler großen Stils kennen zu lernen",947 schmeichelt er Zuckmayer. Nur kurz spricht er dessen Situation als Exilant an und versucht, sich in seine „Emigration hineinzudenken".948 Gleich daraufkommt er auf sein eigenes Schicksal und die angespannte Situation der letzten Kriegsjahre sowie gegenwärtig zu sprechen. „Wir leiden bestimmt wahrhaft unschuldig. Den Hitlerismus haben wir immer gehaßt." 949 Dieser und weitere Briefe haben den Empfänger in Vermont in den Vereinigten Staaten jedoch nie erreicht. Freumbichler nimmt an, sein früherer Förderer habe ihn vergessen; ein Missverständnis, wie Alice Zuckmayer unmittelbar nach dem Tod des Dichters seiner Frau Anna betroffen mitteilen wird. Im August 1946 erfolgt für die Familie Freumbichler-Fabjan die so genannte „Repatriierung".950 Bereits ein Jahr zuvor wurde die Rückkehr jener in Deutschland ansässigen Österreicher in ihre frühere Heimat angeordnet, die ihre alte Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollten. Freumbichler hätte sich zur deutschen Identität bekennen müssen, um in Traunstein bleiben zu können. Herta ist mit ihrer Familie

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schon früher nach Salzburg gezogen. 9 5 1 Versetzte ihn die Nachricht von einem neuerlichen Umzug zunächst erneut in Unruhe, so dichtet er am 1. September ein fröhliches Lied über die „Heimkehr" in die Stadt, die er vor über 40 Jahren als junger Student verlassen hat: „Ganz wie Gottes Morgenglocken, Klingt der Heimatglocke [Klang] mir Und es jauchzt mein Herz vor Glück Daß ich wiederum bin hier. Heimaterde, Heimatlaut Ach wie wundersam und traut, Nichts gleicht deinen Wundertönen Ringsum blüht das Wunderkraut Das die Menschen muß versöhnen."952 Thomas Bernhard, der seit Herbst 1945 die jetzt wieder - wie vor dem Anschluss an das Dritte Reich - katholisch geführte Andräschule besucht, soll die D r e i zimmer-Wohnung in der Radetzkystraße 10 in Salzburg-Aiglhof für die ganze Familie besorgt haben. I m November schreibt Freumbichler an Alice Zuckmayer, „die Wohnung ist fur acht Personen zu klein, [ . . . ] und ich muß unbedingt allein leben". 9 5 3 Immer wieder kommt es zu Streitigkeiten. D e r Dichter beansprucht ein eigenes Zimmer fur seine Arbeit und hat wenig Verständnis dafür, dass Herta mit ihrer Familie für sich leben möchte. E r erwägt, mit A n n a Freumbichler aufs Land, in seine Henndorfer Heimat, zu ziehen. Alice Zuckmayer gegenüber deutet er sogar sein Interesse an der,Wiesmühle' an, sollte diese verkauft oder verpachtet werden. 954 Die weitaus größere Katastrophe ist finanzieller Natur. Niedergeschlagen stellt er fest, „daß ich meine Ersparnisse aus dem Absatz meines letzten Romans in Traunstein zurücklassen mußte, da man pro Person nur 100 R M ausgefolgt bekam". 9 5 5 Tatsächlich kann Freumbichler die durch den E r f o l g von Auszug

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Heimkehr des Jodok Fink als Frontbuch bei der Traunsteiner Kreissparkasse angelegten Ersparnisse, um die er sich einige Monate vorher spielend eine großzügige Wohnung hätte kaufen können, nicht nach Osterreich mitnehmen. Sein Reichsmark-Konto wird von den alliierten Behörden gesperrt und später offenbar liquidiert - eine wirtschaftspolitische Maßnahme zur Absicherung gegen eine drohende

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Inflation. Das Geld existiert nur noch in der Erinnerung an den Bucherfolg, erneut steht der Dichter vor dem Nichts. Die bittere Erfahrung lehrt ihn, dass die bloße Tatsache, Bücher zu veröffentlichen, noch keine Garantie auf ein gesichertes Einkommen bietet. In Zukunft, so eine Notiz, wolle er in krisensicheren US-Dollar oder Schweizer Franken bezahlt werden: „Ich bin zweimal um den L o h n meiner Arbeit betrogen worden. Das erstemal 1920, wo ich einen Roman an ein Familienblatt verkaufte, meinte, mit dieser Summe, die ich bekam, etwas für meine Z u k u n f t tun zu können, und ich mir später um dasselbe Geld ein Gulasch kaufen konnte. U n d jetzt wieder bei Jodok, ist [es] ganz dasselbe." 956

Damit ist auch die erste Begeisterung über die Heimkehr verflogen. In Salzburg „redet man [...] von Kultur, tut aber nichts dafür" 957 , ist er der Ansicht.Thomas Bernhard wird sich einige Jahre später in einem Artikel in der österreichischen Wochenzeitung Die Furche ähnlich äußern, wenn er dem Salzburger Landestheater vorwirft, zum „Rummelplatz des Dilettantismus" und der „Geschmacklosigkeit" zu verkommen, wodurch es zum ersten gegen ihn geführten Gerichtsprozess kommt.958 Hermann Leins, der jetzt den Wunderlich Verlag in Tübingen sowie den Stuttgarter C. E. Poeschel Verlag fuhrt, möchte Auszug und Heimkehr des Jodok Fink neu herausbringen. Dazu kommt es erst 1950, nachdem sich die schwierige Lage der Nachkriegsjahre entspannt und die Buchproduktion langsam normalisiert hat.959 Insgesamt wird der Roman von 1942 bis 1955 in über 39.000 Stück Auflage gedruckt. Inzwischen schlägt der Autor seinem Verleger andere, während des Kriegs begonnene und zum Teil bereits fertig gestellte Projekte zur Veröffentlichung vor. Die Sammlung Pelargonien und Nelken. Salzburger Spinnstubengeschichten, die „das wahre Element der deutschen Erzählkunst in sich tragen, so einfach sie auch sonst sein mögen" 960 , liegt Freumbichler ebenso am Herzen wie der vollendete Roman Das Wunder vom Orangenbaum, das riesenhafte Romanfragment Eling. Das Tal der sieben Höfe und die unter dem Titel Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit geplanten Lehrgedichte „für die Jugend von Sechzehn bis Sechzig". 961 Auch Paul Zsolnay hat seinen Verlag wieder übernommen und hält sich abwechselnd in London und Wien auf. Sein Brief vom Juli 1946, adressiert an „Thomas Niklas Bernhard, Salzburg, Schrannengasse 4, Studentenheim", erreicht Freumbichler allerdings nicht.962 Dieser wiederum schreibt im September dem K.

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7- Arbeiten „bis ich tot bin"

H. Bischoff Verlag, den es längst nicht mehr gibt, er sei „vor einigen Tagen, nach siebenjähriger Abwesenheit, in [s]eine Heimat zurückgekehrt" und habe „gute Arbeiten mitgebracht".963 In einem Notiztagebuch skizziert er den Plan zur Vollendung beziehungsweise Veröffentlichung folgender Werke: „1947 Montbrison 1948 Ljubica 1949 Eling, Gedichte 1950 Erzfiehung] Z[ur] Fröhlichkeit] 1951 Quirin u. kl. Gedicht Bände."964

Dies sind noch nicht einmal alle für die nächsten Jahre geplanten Arbeiten. Nach der finanziellen Misere durch den Verlust der Ersparnisse in Traunstein bittet er den Verlag, freilich ohne Erfolg, um „eine Vorauszahlung von je 1000.- Schilling" fur die „seit Jahren zugesichert[e]" Neuauflage der Philomena Ellenhub und der Geschichten aus dem Salzburgischen. Der 1942 in Deutschland begonnene, unmittelbar bei Kriegsende ins Reine geschriebene, 165 Manuskriptseiten umfassende Roman Die Himmelfahrt des Königs von Montbrison (auch: Die Himmelfahrt des Prinzen Capet) wird abgelehnt. Gewidmet ist das unveröffentlichte Werk seinem früh verstorbenen Bruder Wolfgang. Der historische Stoff, der den Tod des Sohnes von Ludwig XVI. und das Ende der Bourbonen-Herrschaft zum Thema hat, ist zu entrückt. Verlage und Leser nach 1945 verlangen nach anderem; etwa angloamerikanischen Autorinnen und Autoren wie Pearl S. Buck (Literaturnobelpreis 1938) und John Galsworthy (Literaturnobelpreis 1932), H.G. Wells oder Graham Greene, die speziell in den ersten Nachkriegsjahren bei Zsolnay erscheinen, weil „das amerikanische und britische Besatzungselement daran interessiert ist und uns für diese Zwecke Papier zur Verfügung stellt. Für die Produktion heimischer Bücher haben wir zwar wiederholt und seit langem um Zuteilung angesucht, aber kein Papier erhalten".965

Auch der historische Roman um Johannes Freumbichlers Vater als Soldat in Cattaro, Das Wunder vom Orangenbaum, den das Lektorat Anfang 1947 prüft, hat keine Chancen. Hermann Leins, die Amandus Edition (Wien), der Osterreichische Bundesverlag (Wien) und Otto Müller (Salzburg) lehnen das Manuskript

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Das Lebenswerk und die letzten Jahre in Salzburg

ebenfalls ab. Paul Zsolnay fasst seine Bedenken zusammen, „dass der Roman trotz unbestreitbarer literarischer Qualitäten doch in seiner Fabel- und Problemstellung sich nicht recht den Bedürfnissen der Gegenwart anpasst." 966 D e m 1945 von Wolfgang Schaffler und Alois Hofmann in Salzburg gegründeten Festungsverlag bietet Freumbichler Ljubica ebenso erfolglos an. 967 Jahre später wird Thomas Bernhard zu einem wichtigen Autor in Wolfgang Schafflers Residenz Verlag. Als 17-Jähriger setzt er sich flür seinen Großvater ein und fragt für ihn im Juni 1948 beim Bermann-Fischer Verlag in W i e n nach Publikationsmöglichkeiten. 968 Noch während des Kriegs entstehen Notizen zu Sonetten vom heiligen Berg in Ettendorf {= Ettendorf er Sonette). Einige der bruchstückhaften Entwürfe hat Freumbichler seinen Vorbildern wie zum Beispiel Epiktet, Hölderlin, Schopenhauer oder Stelzhamer gewidmet. In anderen Gedichten möchte er seine Lebensstationen beschreiben und darstellen, „was [er] in der groß[en] Einsamkeit [s]ein[es] L e bens erlebte". 969 Dazu greift er auf die früheren Lieder eines Erwachenden

zurück.

Z u bestimmten Titeln wie „Ilmenau", „Basel", „Rosenegg", „Meran", „Liebhartstal", „Ettendorf' und „Mönchsberg" existieren Entwürfe. „Im Mittelpunkt eines jeden Gedichts steht ein tiefes Erlebnis, eine tiefe Erkenntnis etc." 970 Hat er seine Ettendorfer Behausung auf der Anhöhe mit einem schmerzhaften .Golgatha' verglichen, führen ihn Spaziergänge in Salzburg durch die Altstadt und auf den nahe der Wohnung gelegenen Mönchsberg. „Du meinst, ich wäre arm gewesen, wohnt' stets in einer Hütte nur, Oh, täusch'dich nicht, ich hab'bewohnt den Sonnenpalast der großen Natur."971 Seit seiner Jugend wie Nietzsche mit dem Notizbuch wandernd und beim Gehen schreibend, lässt er sich von der beeindruckenden Topografie zwischen Müllner Bräu, Altstadt und Kloster Nonnberg, am Fuße der Festung, inspirieren. „Die Platzmusik vom Mirabellplatz

Sonette

die Frühlingswärme, die Berge, die grünen Matten, wer das erleben darf, stirbt gern, denn mehr kann keinem Erdmenschen je zuteil werden. [...] das ewige Rauschen der grünen Salzach, seit Jahrtausenden, die Juvavums Roms nordisches Juwel war."972

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η. Arbeiten „bis ich tot bin"

In den Religiösen Liedern nimmt er sich vor, ,,[s]ein ganzes weiteres Leben und Wirken zu einem Lobgesang Gottes zu gestalten", den er als,Aufgabe" und „Mittelpunkt aller [s]einer Dichtungen"973 ansieht. Ungeachtet der sich zusehends verschlechternden Gesundheit will er „arbeiten, als ob [er] völlig gesund und [s]ein Alter völlig gesichert wäre"974, und entwirft weiter Arbeitspläne, die zu erfüllen auch ein gesunder Mensch titanenhafter Anstrengungen bedürfte. Seinen Enkelkindern will er Geigen-, Mal-, Tanz- und Englischunterricht finanzieren. Er träumt von einer Reise nach Dalmatien und vom Kauf eines kleinen Hauses auf dem Land. Außerdem möchte er Farald sowie Emil Fabjan den Weg zu unternehmerischer Selbstständigkeit ermöglichen. Dazu bedarf es erfolgreicher Vertragsabschlüsse fur seine Werke. Am 31. Dezember 1946 fasst er den Vorsatz: „Mache das Jahr 47 zu einem Jahr unerhörtester Arbeit. Und dann wirst du am Ende sehen, was du geleistet hast[,] und ob es sich lohnt, noch weiter auf diesem elenden Scherbenhaufen zu leben." 975

Im Herbst 1947 gelangt Philomena Ellenhub zur Wiederauflage bei Zsolnay. In gekürzter Fassung erscheint der Roman ab Mai in der illustrierten Zeitschrift Frau von heute. In den i95oer-Jahren wird er im Osterreichischen Rundfunk gelesen. Die Rechte an den Geschichten aus dem Balzburgischen gibt der Verlag Ende 1948 an den Autor zurück. Zum 25-jährigen Bestehen von Zsolnay gratuliert Freumbichler in einem Almanach: „Für mich ist der Name Zsolnay von schicksalhafter Bedeutung geworden. Wäre er zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht in meine Laufbahn getreten, so hätte sich fur mich kein anderer Ausweg gezeigt, als das Schreiben und das Leben zu liquidieren." 976

Am 4. Januar 1949 schickt er Pelargonien und Nelken. Balzburger Spinnstubengeschichten, eine Fortsetzung der Geschichten aus dem Salzburgischen, zur Prüfung an das Lektorat.977 Er vergleicht sie mit Erzählungen von Gide, Gogol und Reymont. In einem Entwurf zur Vorrede kommt er auf die am Land verbreitete Tradition mündlichen Erzählens zu sprechen:

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„ E s ist ein A b e n d zwischen Weihnacht und Dreikönig, beim Unterholzer Bauern, weitab vom D o r f . E s ist die alte Bauernstube wie einst vor hundert, vor zwei- und dreihundert Jahren, der alte Bauernofen und fast auch noch die gleichen alten B a u ernmenschen, wie sie gewesen sein mochten vor Urzeiten, wo Hirsch und Auerochs hier geweidet hatten." 978

Um sich die „Rauhnächte" kurzweilig zu vertreiben, bitten die Kinder den Großvater, eine Geschichte zu erzählen. Nach einiger Widerrede lässt sich der Ahnl erweichen. „Eine Welt versinkt, die des Alltags, eine andere tut sich in der Phantasie der Zuhörer auf, eine Welt voller Wunder und Köstlichkeiten."979 Seit rund dreißig Jahren sammelt und entwirft Freumbichler Stoffe für die Texte, deren Anordnung und Auswahl er immer wieder variiert. Einen ersten Eindruck vom „kraftvoll und bildreich erzählt[en]"980 Charakter der anschaulichen Geschichten vermittelt eine kleine kommentierte Auswahl von Hildemar Holl, die neben der Vorrede die Erzählungen „Der Gigickserhiesl und das weiße Reh", „Das Spektiv" und „Das Begräbnis der Frau Kaiserin" umfasst. 981 Auch weitere, bislang unveröffentlichte Texte wie „Die Auferstehung oder das Jesukind im Dreckgäßchen" und „Die verwunschene Mühle" 982 sind überzeugende Szenen aus dem dörflichen Alltag. Den „Geldhiesl", wie ihn Freumbichler in einer Geschichte porträtiert, hat es in Seekirchen tatsächlich gegeben. 983 Mathias Bayrhammer (1769-1845) begann als Hausknecht in Salzburger Gaststätten und brachte es durch Zwischenhandel mit Wein, durch Wechselgeschäfte und geschickte Geldanlage zu einem enormen Vermögen. In seinem umfangreichen Testament regelte er die Verteilung von nicht weniger als 241.130 Gulden, was damals in etwa dem Wert von 50 großen Stadthäusern entsprach, auf verschiedene Wohltätigkeitsvereine und bestimmte die Gründung einer eigenen Armenstiftung. 984 In seinem Brief an Zsolnay Anfang 1949 erwähnt Freumbichler ein weiteres Projekt. Der Roman Eling. Das Tal der sieben Höfe kann mit Recht den Anspruch auf den Titel „Lebenswerk" 985 erheben und bleibt sein literarisches Vermächtnis. Bis Mitte 1950 will er das 1130 Maschinschreibseiten umfassende Opus magnum, an dem er seit 1940 zunächst unter dem Titel Eling. Die Geschichte einer seltsamen Jugend schreibt, fertig gestellt haben. Die Vorarbeiten reichen noch weiter, unter anderem in die Seekirchener Zeit zurück, wo nach der realen Vorlage des alten Bräukellers unterhalb des ^Mirtlbauernhäusl' der Stoff zu Der unheimliche Bergkeller entsteht, den Freumbichler schließlich auf Eling überträgt.986 Der Bräukeller ist

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7- Arbeiten „bis ich tot bin"

„eine alte, historische Saufstätte der Bauern, wo schon mein Vater gesessen und zu meiner Kinderzeit davon geschwärmt hatte. Hier saufen die Bauern an gewissen Tagen, an sogenannten schlechten Feiertagen und fuhren dann eine Art AfFentänze auf, unter fürchterlichem Getöse und Gebrüll, bis in die späteste Nacht hinein .. .Wieder eine empfindliche Strafe fur den begeisterten Bauernfreund .. ,"987 So lästig dem Dichter die nächtlichen Umtriebe gewesen sind, vermag er dabei die dörflichen Originale eingehend zu studieren. Durch die lange Entstehungszeit wächst der Roman zu einer „mehrschichtigen Textcollage" 988 . Voller Stolz spricht der Autor von seinem „Eindruck, daß ich damit etwas geschaffen habe, das man mit dem Ehrentitel ,Werk', der so oft mißbraucht wird, bezeichnen kann." E r möchte darin zeigen, „welchen Zwiespalt Glauben und Unglauben, Seele und Nichtseele im Menschenschicksal hervorbringen". 989 In einem Finale gestaltet er mit großer A n strengung noch einmal seine lebenslangen Generalthemen wie Herkunft, Kindheit, Heimat und Bauerntum auf weltanschaulich philosophische Weise. Schließlich sei es die Arbeit an diesem Roman gewesen, die ihn „zerstörte und ins Grab warf' 9 9 0 , behauptet Thomas Bernhard zu Recht. Im Juni 1945 notiert Freumbichler selbst: „,Ich kann nur in Fanatismus arbeiten.' So, in einem grenzenlosen Fanatismus, in einer Art Wahnsinn, will ich Eling bis Weihnacht '45 als mein Weihnachtsgeschenk durchgearbeitet haben."991 Doch die Arbeit dauert viel länger. Bis zuletzt widmet er dem gigantischen Projekt seine Energie und verfolgt ein unerbittliches Arbeitsprogramm bis zur Selbstzerstörung. M i t diesem Roman möchte er „einer Million [Lesern,] Frauen 80%, junge Männer 20%, für fünf bis sechs Tage Ergötzen, Unterhaltung, Vergnügen bereiten". 992 Anmaßend durchdringt ihn die „feste, jähe Erkenntnis: ein Roman, ein[e] Schönheit, eine Tiefe, wie Deutschland keinen zweiten besitzt, nicht bei Goethe, nicht bei Knut Hamsun!" 9 9 3 Selbst als in Traunstein beinahe täglich Fliegeralarm herrscht, arbeitet er vertieft weiter. „Bücher sind die großen Zauberer, denn es gilt, die Seele eines Volkes zu wandeln" 9 9 4 , ist er von seiner Mission überzeugt und schreibt „ohne Rücksicht auf mich oder mir liebe Menschen an £7z?zg[,] bis ich durch bin oder am Schreibtisch umfalle." 995 Angeregt hat den Titel der Weiler Oiling bei Henndorf, wo Johannes Freumbichlers Halbbruder Josef, aus der ersten Ehe seines Vaters, einen H o f besitzt.

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Charakteristisch auch für Eling ist der Versuch der Rückerinnerung an das versunkene Glück, das „selige, überselige Kinderparadies im sommerlichen Henndorf 9 9 6 . Freumbichler beschwört die Frühzeit der Existenz, in der das Leben eine grenzenlos offene Möglichkeit ist. Im Schreiben lebt er ,,[t]äglich [...] 1 - 2 Stunden und oft mehr in diesem Paradiese".997 Die dichterische Imagination eröffnet den Fluchtweg aus dem Alltag und rettet die Vergangenheit vor dem Vergessen. „Ist dies wirklich alles restlos versunken? - In Eling lebt es weiter!"998 Trotzdem ist er sich bewusst, „daß die Erinnerung das Leben so wunderbar vergoldet, verschönt, verklärt" und die „damaligen unangenehmen Dinge [...] gleichsam durch einen Zuckerhut verdeckt".999 Wie langwierig die Entstehung von Eling gewesen ist, zeigen die im Nachlass enthaltenen Materialien: zahlreiche Notizen und Entwürfe, ein in drei Bänden gebundenes Manuskript und schließlich ein Typoskript mit Korrekturen und Uberarbeitungsspuren von fremder Hand. Mit der größten Wahrscheinlichkeit stammen sie von Alice Zuckmayer, die sich nach Freumbichlers Tod für eine Veröffentlichung einsetzt und an das Jahr 1936 erinnert fühlt, in dem sie Philomena Ellenhub redigiert hat. Ein Notizbuch Freumbichlers mit dem Titel „Eling. Von Heimat zu Heimat" 1000 stammt gar aus dem Jahr 1916. Nirgends deutlicher als in Eling manifestiert sich die umständliche und verzweigte Arbeitsweise des Dichters in Form von Notizen, Montagen, Uberschreibungen und dem Wechsel von Textblöcken, die oft unerwartet abbrechen. Freumbichler bezeichnet sich selbst als „Bergmann" und „Schatzgräber, [...] der einen Stein von noch nie dagewesenem, wunderbarem Glanz gefunden hat", den es in mühsamer Arbeit „zu schleifen und zu glätten" 1001 gilt. Frühere Notiztagebücher durchsucht er nach brauchbaren Inhalten und annotiert dabei verschiedene T i tel, die als Programm stehen: Von Heimat zu Heimat, Geschichten aus Kinderland oder Geschichten eines seltsamen Knaben,1002 In dem Typoskript-Auszug „Besuch in der Heimat" kehrt der Ich-Erzähler Johannes zu seiner Mutter aufs Land zurück. Beim Besuch der alten Elise erinnert sich diese an ihren verstorbenen Mann Sylvester, dessen Kunst lange Zeit unbekannt und erfolglos geblieben, schließlich aber mit einem Denkmal gewürdigt worden ist - abermals eine Anspielung auf Sylvester Wagner. In ihrer Erinnerung stimmt die Greisin „das Hohe Lied der Liebe" 1003 an. Der so genannte Bauernroman mit den einzelnen Titeln Die ungleichen Brüder, Die ungleichen Höfe, Die Mißratenen sowie Väter und Söhne geht ebenfalls in Eling auf. Eine genaue werkgenetische Einschätzung, die die Chronologie und die the-

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matischen Zusammenhänge erschließt, ist kaum möglich, da zu diesen Titeln lediglich undatierte Notizen und Entwürfe, aber keine Manuskripte existieren. 1004 A u f den ersten Blick erscheint Eling konventionell, als nicht mehr denn eine Weiterführung bereits bekannter Stoffe. Die Hauptfigur Konrad Hofgartner, ein mittelloser Student, der ein großes „Buch von der unsterblichen Menschenseele" 1005 verfassen will, kehrt von der Großstadt angewidert in sein Heimatdorf Eling zurück. Im Unterschied zu Jodok Fink bleibt er bis zum Schluss heimatlos, ein rastloser Wanderer zwischen den Zeiten und Welten, ein „Seelensucher" 1006 , in dem sich der Autor selbst porträtiert. Bei seinem Aufenthalt im so genannten „Bergkeller" 1007 , einem Gasthaus und einer Art Armenpension, die seine Base Lena fuhrt, begegnet er zahlreichen grotesken, ja unheimlichen Figuren. Unvergleichlich sind der in wahnsinnigen Monologen sprechende „Kapitän" Luigi del Monte vulgo Ludwig Berg, das gewitzte Untersberg-Männlein, der ewige „Selbstmörder" Friedolin oder die alte Besenbinderin als Verkörperung des abgrundtief Bösen. Schließlich erfährt Konrad, dass sein großbürgerlicher Freund Julius Stephenson, den er in Wien kennen gelernt hat, schwer erkrankt ist. E r besucht ihn in Nizza ein letztes Mal vor dessen Tod und erhält eine Erbschaft, die ihn aus seiner misslichen Lage befreit. Die Mutter des Verstorbenen und dessen Schwester Ursula laden Konrad auf ihr Landgut in Meran ein. Dort erfährt er das Geheimnis der „Liga der Weltmütterlichkeit", die seine Mutter für ihre lebenslangen Verdienste um ihren Sohn auszeichnet. Nach der neuerlichen Rückkehr in seine Heimat ist die Base erkrankt. Der „Bergkeller" wird bei einem Brand zerstört, kurz darauf stirbt seine über alles geliebte Mutter. Der Aufbruch zu einem neuen Leben als Schriftsteller an der Seite von Ursula, die er heiraten wird, kündigt sich an. Z u einer der eigenwilligsten Ideen des Textes zählt sicherlich die so genannte „Liga der Weltmütterlichkeit". Frauen haben in Freumbichlers eigenem Leben stets eine zentrale Rolle gespielt, eine Erfahrung, die er mit seiner literarischen Figur Konrad teilt. Der Roman würdigt die großen Verdienste von Maria Freumbichler. In Frau Stephenson ist unverkennbar die Gönnerin Ciarita Thomsen porträtiert, während Julius Züge Rudolf Kaspareks trägt. 1008 Bereits 1915 wollte Freumbichler „der .größten Fee Ciarita' in einem [s]einer Werke ein unsterbliches Denkmal setzen". 1009 A n sein eigenes Leben muss ihn wohl auch die Lektüre von Schuld und Sühne (= Verbrechen und Strafe, 1866) des öfters als Vorbild erwähnten russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewskij erinnert haben. Bereits sprachlich formale Ähnlichkeiten

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wie der innere Monolog der Hauptfiguren sind auffällig. Konrad ist in einigen Passagen, etwa gleich zu Beginn, an Raskolnikow angelehnt. Beide Figuren wohnen in beengten Verhältnissen - Konrad im so genannten „Hofkabinett" 1010 - , haben Mietschulden und furchten, im Stiegenhaus jemandem zu begegnen und in ein nutzloses oder aufreibendes Gespräch verwickelt zu werden. „Raskolnikow war es nicht gewohnt, unter Menschen zu sein, und floh, wie schon gesagt, jede Gesellschaft, besonders in letzter Zeit." 1011 Ahnlich geht Konrad seiner Vermieterin Frau Grobisch, die seiner Ansicht nach wie viele Menschen „eine Maske" der Täuschung trägt, um „ihren wirklichen Charakter restlos verbergen" 1012 zu können, aus dem Weg. „Das Verlassen seines Kabinetts, das Auf- und Zusperren der Wohnungstüre, nahm er stets in einer solchen Weise vor, daß ihn womöglich niemand hörte, niemand sah [.. ,]" 1013 Dem Autor ist dieses Verhalten, wie seine Notiztagebücher aus der Zeit in Wien gezeigt haben, keineswegs fremd. In Konrads Begegnungen mit dem monologisierenden „Kapitän" Luigi del Monte 1014 spiegelt sich das Gespräch des Studenten Raskolnikow mit dem geschwätzigen Marmeladow wider. Freumbichlers „Bergkeller" mit seinen eigenartigen Bewohnern wirkt wie ein im Dorf gestrandetes ,NarrenschifF, das Konrads attraktive Base Lena - wie Philomena eine lebenstüchtige, selbstbewusste Frauengestalt — zu lenken versucht. Das Sammelsurium gescheiterter Figuren bleibt der Schandfleck des Dorfes und bezeichnet das soziale Außenseitertum der Schwachen, Armen und Wehrlosen. Die in einzelnen Facetten spürbare Modernität von Eling als vielschichtiger, nicht überarbeiteter Kanon verschiedener Stimmen des Autors erweist sich durch den grotesken, bis ins Absurde gesteigerten Humor. 1015 Immer wieder bricht Konrad ausgerechnet in Momenten bedrückender Verzweiflung in ein krankhaftes Lachen aus, das er nicht zu beherrschen vermag. Der Literaturtheoretiker Michail Bachtin bewertet diese Art von Humor im Sinne unzensierter, karnevalistischer Tendenz als Entlastungsfunktion speziell der unterprivilegierten sozialen Schichten. 1016 Das Moment einer Wiedergeburt des Menschen durch Komik und Humor deutet sich auch in Eling an. Auf gesellschaftliche Veränderung zielt schließlich Konrads geplantes Buch über „Die Wiedergeburt der menschlichen Seele". Das im Alltag verdrängte wahrhaft Göttliche soll durch den jungen Philosophen, in dem sich der Autor selbst porträtiert, ins Bewusstsein der Menschheit gelangen. In den Gesprächen mit dem greisen Pfarrer Hobian erkennt Konrad, dass der Mensch von Geburt an mit Schuld beladen ist. Erst die Uberwindung der Unfreiheit ermöglicht ihm, sein Le-

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ben selbst in die Hand zu nehmen. Hier zeigen sich Anklänge an Leo Tolstois Auferstehung (dt. 1901), von Freumbichler im Roman als eines der „größten Bücher" 1017 neben dem Evangelium bezeichnet. Gemeinsam mit Hobian entwickelt Konrad seine Uberzeugung von der „Unsterblichkeit"1018 und der Wiederkehr der menschlichen Seele. Durch ihre Rettung im Urchristentum könne „das größte Teufelswerk der Welt, der Materialismus"1019, überwunden werden. In einer Notiz zum Roman spricht Freumbichler von der,Allseele [...]. Diese aus dem Urgrund des Menschen strömende,Wärme' ist der Strom aus dem Gottheitszentrum selber [...]" 1020 Kosmische Einheit und Natur werden - mit einem direkten Verweis auf Jakob Böhme 1021 - im Begriff der „Urseele" zur erlösenden Kraft. Dabei wird die bewusste Langsamkeit der Natur dem rasenden Wechsel der Zeiten gegenübergestellt.1022 Deutlich treten hier Freumbichlers philosophische Neigungen zutage. Neben Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewskij sind es Johann Wolfgang von Goethe, Knut Hamsun, Friedrich Nietzsche, Friedrich Schiller, Franz Stelzhamer oder Oswald Spenglers Oer Untergang des Abendlandes (1918-22), die das Weltbild in Eling beeinflussen und als Lektürespuren erwähnt werden. Freumbichler möchte mit diesem Buch, das „einer der größten Romane der Weltliteratur"1023 werden soll, einen Beitrag zur Menschheitsgeschichte und ihrer Erlösung schaffen. Als Konglomerat unterschiedlicher Diskurse fasziniert das Werk. Formal jedoch, aufgrund seiner umständlichen, oft retardierenden Erzählweise und deutlicher Längen, wirkt es unfertig und bleibt problematisch. Alice Zuckmayer hat erkannt, dass sich der Autor durch die „Einsamkeit [...] in einem Zustand zwischen Monolog und Zwiegespräch mit sich selbst befunden"1024 hat. Er vermag den Stoff nicht mehr zu bewältigen und scheitert an seinen Ansprüchen, den traditionellen Heimatroman zu überwinden und zugleich ein epochales Werk zu schaffen. Immer wieder bricht der altmodische, überfrachtete Erzählstil des Autors durch und gewinnt die Oberhand. So folgt der historisierende, in die Zeit um 1900 versetzte Roman einerseits der konservativen literarischen Tradition, andererseits lassen sich Anzeichen moderner Erzählformen beobachten. Im Kontext der österreichischen Literatur nach 1945 nimmt Eling eine besondere Stellung ein. Eling ist auch ein kritischer Gesellschaftsroman, der das Grauen der Menschheit nach zwei Weltkriegen anspricht. 1025 Freumbichler gelingt es an manchen Stellen, die ausgetretenen Pfade jener „Literatur der Reichsverweser", die dem herkömmlichen Heimatbgeriff verpflichtet bleibt und in Österreich nach 1945 „kanonisiert wurde" 1026 , zu überwinden. In vorsichtigen Ansätzen ließe

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Μ

1 1 ^ÄwiiA o ·. ms

30 Aus dem Notizheft zu den Dorfgeschichten. Links der Bauernhof „Eling" bei Henndorf (Oiling), rechts Freumbichlers Geburtshaus in Henndorf.

sich der R o m a n mit H a n s H e n n y j a h n n s Flußohne

Ufer (ab 1949), G e o r g e Saikos

Auf dem Floß (1948), H a n s Leberts Die Wolfshaut (i960) und nicht zuletzt Thomas Bernhards Debütroman Frost (1963) vergleichen. M i t Heimatkunst hat Eling tatsächlich nur mehr auf den ersten Blick zu tun. Bei näherer Betrachtung kann man das Prosawerk als „ersten Antiheimatroman" 1 0 2 7 bezeichnen, der ansatzweise auf Bernhards literarisches K o n z e p t vorausdeutet. 1 0 2 8 Vor allem der innere M o n o l o g Konrads sowie einzelne Szenen, Figuren und Gespräche lassen Parallelen zu seiner Prosa erkennen. Freumbichlers Verständnis von H e i m a t wird zur weiter gefassten Idee, die der Entwurzelung des modernen M e n s c h e n entgegenwirken möchte. Ein einfaches Lösungsmodell im Sinne der konservativen Heimatkunstbewegung existiert in Eling nicht mehr. D i e Wunschfantasie einer harmonischen Rückkehr in den engeren Daseinsbereich mit seiner fest gefugten O r d n u n g klingt immer wieder an, wird aber dekonstruiert und ihres utopischen Gehalts entlarvt. Konrad ist dem

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ERSTES BÜCH

Das H o f k a b i n e t t

T i e r w e i ß g e t ü n c h t e Mauerwände, d i e den Renschen umgrenzen, e i n Holzboden u n t e r den Füßen, e i n e Decke zu H S u p t e n I n n e r e e i n e s W ü r f e l s od,sw e i n e r l e i s t e ' b i l d e n das Seheimnis des Raums, und d i e s e s ü b t i n manchen F ä l l e n e i n e so g r o ß e Wirkung a u s , daß s e i n e l e t z t e r Sinn kaum j e m a l s ganz auszurauchen s e i n v . i r d . Daher kommt es v.ohl a u c h , dsß e i n e so u n ü b e r b r ü c k b a r e H ü f t b e s t e h t « , s c h e i n t zwischen den Zimmern d e r H e i c h e n , mit ihrem Prunk und i h r e r P r a c h t und den Armutsh a h l e n , den Wohnungen des Y o l k e s , d i e h e r r l i c h zu g e s t a l t e n man ihm s e i t z w e i t a u s e n d J a h r e n r e g e l m ä ß i g v e r s p r i c h t , j e d o c h n i e m a l e h ä l t , ' und e i n e e b e n s o l c h e K l u f t zu b e s t e h e n s c h e i n t zwischen den Menschen, d i e in d i e s e n K i s t e n oder Würfeln g e b o r e n werden, l e b e n und s t e r b e n . W i r , d i e w i r uns h i e r z u r Aufgabe gemacht haben, d i e R o l l e des E r z ä h l e r s zu s p i e l e n , haben das Leben sowohl im ä r m s t e n a l l e r « 4 i r f e l , im H o f k a b i n e t t , e r l e b t , a l s euch im r e i c h s t e n , rait s e i n e r S e i d e und seinem S i l b e r und e n d l i c h auch auf dem g o l d e n e n M i t t e l weg, in der e i n f a c h e n , 4-rattürtjlien-iBf u e r n s t u b e , und w o l l e n d i e E r l e b n i s s e s c h i l d e r n , d i e w i r in Häw.i d r e i i r d i s c h e n Würfeln g e h a b t h a b e n , w e i l v,ir g l a u b e n , daß es in e i n e r Z e i t , w o r e i n Keer von Jammer\§iciT)Uber unatir YolV •• rgl«B < -, e i n ü e - t i r r r - T r o s t s e i n kann, e i n e r s o l c h e n S c h i l d e r u n g , d i e in e i n e r ü b e r a u s g l ü c k l i c h e n 2 e i t s p i e l t , zuzuhorchen und aus i h r neue L e b e n s f r e u d e i n s i c h zu s a u g e n .

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Das Lebenswerk und die letzten Jahre in Salzburg

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Saf^&ucgec sJcfinucicegen Vor Johannis Fre amhirhler Ο Salaiburger Schnürircgn, Wei biet so berühmt. Weil dei TriUchtratsch, dei Tr»t*chtritedi Koa End' η immer nimmt. öa rftprt tag und Wachi. Und öt regn» an oen Ding. Ob i bei'