Der Medizinische Orient: Wien und die Begegnung der europäischen Medizin mit dem Osmanischen Reich (1800–1860) 3515131930, 9783515131933

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begegnet die deutschsprachige Medizin dem "Anderen": dem als "Orient"

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Der Medizinische Orient: Wien und die Begegnung der europäischen Medizin mit dem Osmanischen Reich (1800–1860)
 3515131930, 9783515131933

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung: Kontexte der Begegnung der Europäischen
Medizin mit dem Osmanischen Reich
1.1 Wissen
1.2 Denken
1.3 Politik
2 Die Geschichte des Gipsverbands: Außereuropäisches Wissen in den Händen von „Reformern“ und „Orientalisten“
2.1 Die „Erfindung“ des Gipsverbandes und die Verbreitung von Idee und Urheberschaft
2.2 Gipsanwendungen bei Knochenbrüchen – die verschwiegene Vorgeschichte
2.3 Der Sieg der „Reformer“
3 Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens: Zur Zirkulation von Wissen zwischen dem Osmanischen Reich und der europäischen akademischen Medizin
3.1 Die „Einimpfung“ und ihre Rezeption in der Medizin der Aufklärung
3.2 Die Frage des Anton de Haen
3.3 Die Kuhpockenimpfung
3.4 Der Kampf um die Köpfe der Menschen
3.5 Wien, ein Mittagessen und die Kuhpocken
3.6 Wissen im Glasrohr
3.7 Mit den Pocken gegen die Pest: Versuche zur Kreuzimmunität im „Orient“
3.8 Konzeptionen der Krankheitsentstehung und der Umgang mit lokalem Wissen
3.9 Impfung und Fatalismus. Wie sich das Bild vom „rückständigen Orient“ verfestigte
4 Von der Angst, das Gesicht zu verlieren: Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa
4.1 Augenkrankheiten in Ägypten und Europa
4.2 Die Expedition Napoleons nach Ägypten
4.3 Die „Ägyptische Augenentzündung“ erreicht die Wiener Medizin
4.4 Die Epidemie von Klagenfurt
4.5 Kontagiös, oder doch nicht?
4.6 Eine oder mehrere Krankheiten?
4.7 Die Augenentzündung wird „orientalisch“
4.8 Die Entfernung der „Ägyptischen Augenentzündung“ vom „Orient“
5 Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung: Medizinische Diskurse über den „Orient“ als Krankheitsherd
5.1 Die Pest als ärztliche Idee
5.2 Der Pestkordon. Krieg gegen eine Krankheit
5.3 Die Vorstellung vom „Orient“ als Pestherd
5.4 Der „Orient“ als Versuchslabor
5.5 Der Fatalismus und die Entstehung der Pest
5.6 Ägypten und die Sphinx der Pest
5.7 „Orient“, Geschichte und Geographie der Medizin
6 Im Kampf gegen Pest und Cholera: Wie der „Orient“ zum Aktionsfeld für Medizin und Politik wurde
6.1 Die Cholera in Wien
6.2 Die Gründung der Gesellschaft der Ärzte und ihre Wechselwirkung mit der Sanitätspolitik der Monarchie
6.3 Eine Sphinx tritt ab: Die Verlegung der Pestfront ins Osmanische Reich
6.4 Die Vermessung des „Orients“: Ärztliche Berichte aus dem Osmanischen Reich und Ägypten
6.5 „Pestkämpfe“: Medizin und europäische Politik im Osmanischen Reich und Ägypten
7 „Ein einziger denkender Arzt kann ein Land vor dem Untergang retten“: Die deutschsprachige Medizin auf „Zivilisierungsmission“
7.1 Der „Zustand der Heilkunde“ im Osmanischen Reich
7.2 „A doctor may do what he likes“: Von der Macht des Arztes und dem Kampf der europäischen Medizin gegen die „Scharlatanerie“
7.3 Die Sanitätsräte als Plattformen für mittelbare Einflussnahme
7.4 Medizinische Schulen als „reiche Quelle des Segens“
7.5 „Die schönsten Talente verkümmern“: Meinungen europäischer Ärzte über Forschung und Lehre im Osmanischen Reich
7.6 Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern
7.7 „Der Orient ist kein gelobtes Land“: Scheitern am eigenen Anspruch
8 Ausblick auf eine Wirkungsgeschichte des „Medizinischen Orients“
9 Quellen- und Literaturverzeichnis
9.1 Archivalien und Übersicht der verwendeten Medizinischen Periodika
9.2 Literaturverzeichnis

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Marcel Chahrour

Der Medizinische Orient Wien und die Begegnung der europäischen Medizin mit dem Osmanischen Reich (1800–1860)

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 81

Franz Steiner Verlag

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Gegründet von robert Jütte Herausgegeben von Marion Baschin Beiheft 81

Marcel Chahrour

DER MEDIZINISCHE ORIENT Wien und die Begegnung der europäischen Medizin mit dem Osmanischen Reich (1800–1860)

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH

Umschlagabbildung: Titelblattabbildung aus: Carl Ignaz Lorinser: Die Pest des Orients: wie sie entsteht und verhütet wird; 3 Bücher. Berlin 1837. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout, Satz und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13193-3 (Print) ISBN 978-3-515-13194-0 (E-Book)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst 2020 als Dissertation an der Universität Wien verteidigt. Davor lagen für mich lange Jahre der Beschäftigung mit diesem Thema. Ich habe im Jahr 2005 begonnen, mich mit den Biographien einiger Ärzte aus der Habsburgermonarchie zu beschäftigen, die im Osmanischen Reich und Ägypten tätig gewesen waren. Damals, am Ende meines Studiums der Geschichte war ich freudig entschlossen, dem Diplomstudium ein Dissertationsstudium unmittelbar folgen zu lassen. Der gleichzeitige Einstieg in ein fachfremdes Berufsleben und die Gründung einer Familie haben meinem Leben in den folgenden zehn Jahren andere Schwerpunkte gegeben. 2013 habe ich erstmals einen Versuch unternommen, das Studium wieder ernsthaft aufzunehmen. Tatsächlich in die Tat umsetzen konnte ich das Vorhaben erst ab Oktober 2017, nachdem ein beruflicher Wechsel es mir erlaubt hat, mich neben meiner Familie ein Jahr lang stärker auf diese Arbeit und die begleitenden Herausforderungen zu konzentrieren. Mein Diplomstudium habe ich 2004 mit einer Arbeit über Studierende aus Ägypten in der Habsburgermonarchie abgeschlossen. Dieses „Nischenthema“ hat mir einen Einblick in das unvergleichlich reichere Themengebiet der wissenschaftlich-kulturellen Beziehungen zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich eröffnet. Ursprünglich hatte ich vor, eine prosopographische Arbeit über österreichische Ärzte zu verfassen, die sich im 19. Jahrhundert in Ägypten und dem Osmanischen Reich aufhielten. Auch nach Unterbrechung der durchgehenden Arbeit an dieser Dissertation habe ich seit 2005 immer wieder Gelegenheit gehabt, Teilergebnisse meiner Forschungen zu publizieren. Manche Ergebnisse haben (insbesondere in Kapitel 7) Eingang in diese Arbeit gefunden. Während zu Beginn das Suchen und Finden immer neuer biographischer Fakten wesentlichste Triebfeder war, veränderte sich mit zunehmender Dauer mein Interesse hin zur Art, wie diese Männer dachten und wie sie das, was sie sahen und taten, selbst verwerteten. (Es sind nur Männer, von denen in dieser Arbeit die Rede ist. Nur eine einzige Frau findet sich, eine Wiener Hebamme, die in Konstantinopel im Rahmen der Entsendung einiger Wiener Mediziner zur Arbeit an den dortigen medizinischen Einrichtungen tätig war.) Aus dieser jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema entstand der Gedanke, exemplarisch Muster im Denken und

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Vorwort

Handeln dieser Ärzte zu suchen und dieses ärztliche Denken mit dem Konzept des Orientalismus zu verbinden. Zu diesem Zweck habe ich für diese Arbeit einige mir interessant erscheinende Fallbeispiele ausgewählt, von denen mir erschien, dass sie dazu tauglich sind, die Vielschichtigkeit der Beziehungsgeschichte zwischen dem Denkkollektiv deutschsprachiger Ärzte und einem von ihnen imaginierten Orient sowie den konkreten politischen Verhältnissen zu illustrieren. Die Arbeit will bewußt keine „abschließende Behandlung“ des Themas sein. Sie enthält Beispiele für das Verhältnis zwischen europäischer akademischer Medizin und osmanischer Gesellschaft und Medizin; ebensogut hätte man dieses Verhältnis an anderen Krankheitsbildern oder epidemischen Phänomenen zeigen können. Wesentlich erscheint mir, dass die Entwicklung der Medizin im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum (und wahrscheinlich auch darüber hinaus) nicht ohne die Beziehung zu diesem „Orient“ gedacht werden sollte. An vielen für die Entwicklung der Medizin als Wissenschaft wesentlichen Wendepunkten traten das Osmanische Reich, Ägypten und andere Gebiete des heutigen Nahen Ostens stark in Erscheinung. Hätte es diese Beziehung nicht gegeben, wäre die Art, wie die deutschsprachige Medizin beispielsweise über nicht-akademische Praxen spricht, strukturelle Andersartigkeit erklärt und wie sie im Aufbau europäisierter medizinischer Strukturen agiert, eine andere. Wenn diese Arbeit denjenigen, die sich für die Medizin des Osmanischen Reiches und die Entwicklung der europäischen Medizin zu Beginn des 19. Jahrhunderts interessieren, Anregungen für eigene, weitergehende Forschungen zu diesen Fragen geben kann, ist ihr Ziel erreicht. Nur wer selbst eine solche Arbeit verfasst und abgeschlossen hat, wird verstehen, wie mühselig und kräfteraubend der Wechsel des Fokus, das Zweifeln an den eigenen Interessen und der Hang zur Detailverliebtheit manchmal sein kann. Dies umso mehr, als ich in all diesen Jahren nicht in einem eigentlich akademischen Beruf tätig war und die Zeit für diese Forschungen neben meinem eigentlichen Erwerbs- und Familienleben aufbringen musste. Das Ende einer so langen Arbeit ist zwangsweise nur ein vorläufiges; forscht und sucht man lange, so findet man viel mehr, als man eigentlich verwerten kann. Die Arbeit, die Sie in Händen halten, enthält vieles nicht, was sie vielleicht enthalten könnte oder sollte. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass das eben so ist. „Rousseau beantwortete einst die, von der Akademie zu Dijon aufgegebene, Preisfrage, ‚ob die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften zur Besserung der Sitten beigetragen‘, negativ. Eben so könnte man bisweilen in Versuchung kommen, zu bezweifeln, ob die ungeheueren Fortschritte in Kunst und Wissenschaft zur Ausbildung und Verbreitung des gesunden Menschenverstandes beigetragen.“1 Das Zitat stammt aus der Einleitung der

Friedrich Alexander Simon, Pezzoni und Oppenheim oder die Pest ist also doch kontagiös und die Quarantainen also doch nothwendig, Hamburg 1843, I.

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Vorwort

Streitschrift „Pezzoni und Oppenheim“ des Hamburger Arztes Friedrich Alexander Simon (1793–1869), in der die Frage der Aufhebung der Quarantänen in den 1840erJahren diskutiert wird und die im Kapitel über Pest und Politik vorkommt. Das Buch Simons ist wie so viele Werke aus dieser Zeit heute digitalisiert und im Internet auf „google books“ abrufbar. Das Original, das zur Digitalisierung herangezogen wurde, steht in der Wiener Nationalbibliothek – wie viele Bücher zur Thematik Quarantäne und Orient. Dieser technische Fortschritt von dreizehn Jahren hat sich auch auf die vorliegende Arbeit jedenfalls positiv ausgewirkt. Durch die unglaublichen Digitalisierungsprojekte der letzten zehn Jahre ist es möglich geworden, Literaturen zu erschließen, die mir trotz andauernden Interesses und vielerlei Bibliotheksbesuchen in den zehn Jahren davor, in denen ich mich ebenfalls durchgehend für den Themenkreis „Österreich und Naher Osten“ interessiert habe, verborgen geblieben sind. Wer schreibt, ist einsam. Mein Dank gilt allen, die diese Einsamkeit in den vergangenen 16 Jahren durch Interesse und Teilnahme aufgebrochen haben. Zuvorderst möchte ich Frau Univ.-Prof. Dr. Marianne Klemun danken, die über viele Jahre der Begeisterung und Abschweifung meinerseits nicht das Interesse am Thema und seiner Bearbeitung verloren hat. Ich verdanke ihr wesentliche Hinweise auf die Art, wie ich als wissenschaftlich Schreibender auf die Dinge blicken kann. Ich hoffe, ihren freundlichen, aber immer auch bestimmten und wesentlichen Hinweisen gerecht geworden zu sein. Manches konnte ich durch die Hinweise kritischer Leser schärfen. Auch hier steht zuvorderst Marianne Klemun sowie meine Kollegen in dem von Prof. Klemun ins Leben gerufenen „Lesezirkel“. Thomas Tretzmüller, Brigitte Kriszanits und Robert Hrabovsky möchte ich für die begleitenden Kommentare zur entstehenden Arbeit herzlich danken. Für die Abfassung dieser Arbeit verdanke ich wertvolle Hinweise Univ.-Doz. Dr. Sonia Horn, Univ.-Prof. Dr. Mitchell Ash, Univ.-Doz. Dr. Johannes Feichtinger, Univ.Doz. Dr. Gabriela Schmidt-Wyklicki, Univ.-Doz. Dr. Manfred Skopec, dem Präsidenten der Österreichischen Ophthalmologischen Gesellschaft, Dr. Peter Gorka, Herrn Dr. Hermann Zeitlhofer von der Gesellschaft der Ärzte und meinem Bruder, Dr. René Chahrour. Verbunden bin ich auch Univ.-Prof. Dr. Walter Sauer, der in den ersten Jahren nach 2005 als Betreuer fungierte, sowie Dr. Johanna Holaubek, Univ.-Prof. Dr. Edith Specht, Dr. Felicitas Seebacher, Mag. Elmar Samsinger, Mag. Tomislav Kajfez vom Slowenischen Nationalmuseum und Univ.-Doz. Dr. Miroslav Sedivy von der Universität Pilsen für Interesse an meiner Arbeit und Unterstützung in den verschiedensten Bereichen. Wo immer es möglich war und mir interessant erschien, habe ich die Quellen selbst sprechen lassen. Es erschien mir wichtig, dass vor der Leserin und dem Leser nicht nur die Ansichten des Autors, sondern auch jene der Zeitgenossen erstehen. Ihre Sprache, ihre Argumente und ihre Schlussfolgerungen habe ich deshalb oft großzügig in den Text einfließen lassen, was mancherorts ungewöhnlich erscheinen mag. Grundlegend war für mich dabei die Frage, wie weit Interpretationen der Quellen und darauf auf-

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Vorwort

bauende Verallgemeinerungen gehen können. Im Sinne der von Clifford Geertz vorgeschlagenen Methode der „dichten Beschreibung“ – Geertz spricht von Daten, die die Ethnologin sammelt – habe ich mich hier entschieden, die Quellen als Datenbestand möglichst umfangreich einzubinden und meine Schlussfolgerungen auf eine breitere Basis zu stellen. Ich hoffe, dass es gelingt, damit auch für die Leserin und den Leser das Fenster auf die Zeit und ihre Menschen weiter zu öffnen. Ich habe mich in meiner Arbeit fast ausschließlich auf deutschsprachige Texte gestützt. Das gilt auch für Bücher oder Texte, die zunächst in einer anderen Sprache erschienen sind, denn letztlich geht es in dieser Arbeit darum, wie der „Orient“ im deutschen Sprachraum verhandelt und behandelt wurde; diese Fokussierung darf uns nicht vergessen lassen, dass durch die Übersetzungen vielfache Modifikationen passieren konnten. 1816 erschien eine solche Übersetzung des „Taschenbuches für Militär-Wundärzte“ des damals angesehenen italienischen Arztes Assalini in einer Übersetzung des bayrischen Arztes Dr. Ernest Grossi. In der Vorrede dazu schrieb der Verfasser Assalini über seine Art, mit der vorhandenen Literatur umzugehen: „… der Zweck meiner Schrift veranlaßte[n] mich, Sie nicht mit Zitaten zu beladen, welche oft nur ein glänzendes Zeugniß eines erbettelten Wissens, oder der Deckmantel eigner Geistesarmuth und Unbehülflichkeit sind.“2 Ich habe mich bemüht, es nicht ganz so formlos zu halten, wie Assalini seinen Umgang mit den Methoden der Wissenschaft verstand. Die Freude an der Erzählung überwog dennoch an manchen Stellen das nüchterne Abwägen von Details und das Bemühen um einen möglichst massiven bibliographischen Fußnotenapparat. Die Leser und Leserinnen dieser Arbeit mögen es mir nachsehen.

2

P. Assalini / E. Grossi, Taschenbuch für Wundärzte und Ärzte bey Armeen, Wien 1816, V.

Inhalt

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Einleitung Kontexte der Begegnung der Europäischen Medizin mit dem

...................................................... 1.1 Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Osmanischen Reich

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13 15 25 33

Die Geschichte des Gipsverbands Außereuropäisches Wissen in den Händen von „Reformern“

und „Orientalisten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die „Erfindung“ des Gipsverbandes und die Verbreitung von Idee und Urheberschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gipsanwendungen bei Knochenbrüchen – die verschwiegene Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Sieg der „Reformer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens Zur Zirkulation von Wissen zwischen dem Osmanischen Reich und der europäischen akademischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 48 52 58

62 66 69 77 79 83 86

Die „Einimpfung“ und ihre Rezeption in der Medizin der Aufklärung . . . . . Die Frage des Anton de Haen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kuhpockenimpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kampf um die Köpfe der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wien, ein Mittagessen und die Kuhpocken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissen im Glasrohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit den Pocken gegen die Pest: Versuche zur Kreuzimmunität im „Orient“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.8 Konzeptionen der Krankheitsentstehung und der Umgang mit lokalem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.9 Impfung und Fatalismus. Wie sich das Bild vom „rückständigen Orient“ verfestigte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

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Inhalt

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4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 5

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 6

Von der Angst, das Gesicht zu verlieren. Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Augenkrankheiten in Ägypten und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Expedition Napoleons nach Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Ägyptische Augenentzündung“ erreicht die Wiener Medizin . . . . . . . . Die Epidemie von Klagenfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontagiös, oder doch nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine oder mehrere Krankheiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Augenentzündung wird „orientalisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entfernung der „Ägyptischen Augenentzündung“ vom „Orient“. . . . . .

112 115 118 122 132 137 145 149 160

Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung Medizinische Diskurse über den „Orient“ als Krankheitsherd. . . . . . . . . . . . . . . . . .

170 Die Pest als ärztliche Idee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Der Pestkordon. Krieg gegen eine Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Die Vorstellung vom „Orient“ als Pestherd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Der „Orient“ als Versuchslabor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Der Fatalismus und die Entstehung der Pest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Ägypten und die Sphinx der Pest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 „Orient“, Geschichte und Geographie der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Im Kampf gegen Pest und Cholera Wie der „Orient“ zum Aktionsfeld für Medizin und Politik wurde. . . . . . . . . . . . . .

235 6.1 Die Cholera in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.2 Die Gründung der Gesellschaft der Ärzte und ihre Wechselwirkung mit der Sanitätspolitik der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 6.3 Eine Sphinx tritt ab: Die Verlegung der Pestfront ins Osmanische Reich. . . 253 6.4 Die Vermessung des „Orients“: Ärztliche Berichte aus dem Osmanischen Reich und Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.5 „Pestkämpfe“: Medizin und europäische Politik im Osmanischen Reich und Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 7

„Ein einziger denkender Arzt kann ein Land vor dem Untergang retten“ Die deutschsprachige Medizin auf „Zivilisierungsmission“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

7.1 Der „Zustand der Heilkunde“ im Osmanischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 7.2 „A doctor may do what he likes“: Von der Macht des Arztes und dem Kampf der europäischen Medizin gegen die „Scharlatanerie“ . . . . . . . . 299 7.3 Die Sanitätsräte als Plattformen für mittelbare Einflussnahme . . . . . . . . . . . . 307 7.4 Medizinische Schulen als „reiche Quelle des Segens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

Inhalt

7.5 „Die schönsten Talente verkümmern“: Meinungen europäischer Ärzte über Forschung und Lehre im Osmanischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 7.6 Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 7.7 „Der Orient ist kein gelobtes Land“: Scheitern am eigenen Anspruch . . . . . 347 8

Ausblick auf eine Wirkungsgeschichte des „Medizinischen Orients“

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9 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 9.1 Archivalien und Übersicht der verwendeten Medizinischen Periodika . . . . 371 9.2 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

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Einleitung Kontexte der Begegnung der Europäischen Medizin mit dem Osmanischen Reich

Für das Verständnis der Entwicklung der deutschsprachigen Medizin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der heutige Nahe Osten ein bedeutender Raum. Das Osmanische Reich und Ägypten waren die ersten, mehrheitlich außerhalb Europas liegenden Gebiete, in denen hier ausgebildete, deutschsprachige Ärzte in größerer Zahl praktisch medizinisch und organisatorisch im Gesundheitswesen tätig wurden. Mehrere hundert deutschsprachige Ärzte, vorwiegend aus der Habsburgermonarchie, die zum überwiegenden Teil in Wien studiert hatten, arbeiteten im Lauf des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich und Ägypten. Ihre Wirkungsfelder waren vielfältig. Deutschsprachige Mediziner praktizierten als niedergelassene Ärzte in Städten und nahe von Verkehrsknotenpunkten. Sie waren vielfach im Dienst der Osmanischen Armee sowie in verschiedenen Krankenhäusern anzutreffen. Ihr Rat wurde auch von politisch einflussreichen Persönlichkeiten im Osmanischen Reich geschätzt. Nicht selten führte die Arbeit als persönlicher Arzt („Leibarzt“) eines Herrschers zur Betrauung mit wichtigen administrativen oder organisatorischen Funktionen. So wirkten diese Ärzte auch in internationalen Sanitätsgremien, Universitäten sowie militärmedizinischen Einrichtungen und nahmen Einfluss auf Bereiche der staatlichen Gesundheitsversorgung. Sie prägten mit ihrer Arbeit den Aufbau europäisch gestalteter medizinischer Strukturen und durch ihre Berichte das Bild vom Osmanischen Reich in Europa. Nicht selten hatte Wissen aus dem Osmanischen Reich auch wesentlichen Anteil an der Ausformung bestimmter wissenschaftlicher Diskurse in Europa. Von ihren Aktivitäten als Praktiker, Organisatoren und Kommentatoren liest man an vielen Stellen. Reisende begegnen ihnen und berichten darüber, manchmal ausführlich, oft enthusiastisch. Die im Osmanischen Reich tätigen Ärzte publizierten ihre Erfahrungen und Forschungsergebnisse in medizinischen Medien in Mitteleuropa. Einige verfassten kleinere und größere Monographien, die  – wie das Buch Lorenz Riglers „Die Türkei und deren Bewohner in ihren naturhistorischen, physiologischen und pathologischen Verhältnissen vom Standpunkte Constantinopel’s“ – auch Jahrzehnte spä-

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Einleitung

ter noch rezipiert wurden. Ihre Arbeit wurde aber auch in nicht-wissenschaftlichen Periodika wahrgenommen. Die Einflussmöglichkeiten der Ärzte hatten für die Habsburgermonarchie auch politische Dimensionen. Entlassungen und Nachbesetzungen waren manchmal Anlass für diplomatische Affären, bei denen es um die Durchsetzung von nationalen Interessen ging. Für die Ärzte wurde vonseiten Österreichs politisch interveniert, im betreffenden Land war ihr Einsatz natürlich umgekehrt ebenso eine Frage von politischer Bedeutung. Der „Orient“, den sie für sich erschlossen und bereisten, interessierte, er faszinierte und er erschreckte. „Orientalisch“ waren für die Medizin die beiden großen Seuchen Pest und Cholera, von den Verhältnissen im Orient betroffen waren Reisende und Händler wie auch Diplomaten. Auch in den feuilletonistischen Seiten einiger Wiener Blätter finden sich über die Jahre Briefe, Berichte und Kommentare zur medizinischen Tätigkeit der Ärzte im Osmanischen Reich und zur Medizin jenseits des „Pestcordons“ – so nannte man die Sanitätseinrichtungen an der Grenze zwischen dem Habsburgerreich und dem Osmanischen Reich bis ins 19. Jahrhundert. So entstand durch die in Wien und im gesamten deutschen Sprachraum über den und aus dem „Orient“ veröffentlichten Publikationen ein spezifisch medizinisches Orientbild, das aus den Erfahrungen und Selbstdarstellungen der im Osmanischen Reich tätigen Ärzte, dem laufenden Wissensaustausch und den Erwartungshaltungen an die Medizin in Seuchenfragen konstruiert wurde. Wie seit den späten 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung gezeigt worden war, war der in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte vorhandene „Orient“ nicht gegeben, sondern das Produkt eines komplexen Konstruktionsprozesses, in dem Erfahrungen verallgemeinert und in ein zunehmend komplexes Schema von Erwartungen an diesen „Orient“ eingereiht wurden. Der „Orient“ war für Wissenschaft und Kultur kein klar abgegrenzter geographischer Raum, sondern eine geistige Projektionsfläche für die Andersartigkeit außereuropäischer, oft islamischer Kultur. In dieser systematisierten Andersartigkeit fanden die europäische Gesellschaft und mit ihr die aufstrebenden Wissenschaften jenen Kontrast, um auch sich selbst beschreiben und rechtfertigen zu können. Für die „Wiener Medizin“ bildete das Osmanische Reich durch seine Andersartigkeit lange Zeit eine wichtige Projektionsfläche für solche Identifikationsprozesse. Gleichzeitig gelangte über diese Berichte Wissen aus einem nicht europäischen medizinischen System in die Kreisläufe der europäischen akademischen Medizin: Erfahrungswissen von Heilkundigen genauso wie spekulatives, manchmal in heute zweifelhaft erscheinenden Versuchen von Europäern generiertes Wissen. Der Orient war für die europäische Medizin auch ein „Erfahrungsraum“. Die diskursive Rolle, die der Orient in den medizinischen Debatten der Zeit spielt und die verschiedenen Ebenen der dahinter liegenden Beziehungsgeschichte sind Thema dieser Arbeit. Zunächst soll es um die Kontexte gehen, in denen sich diese Beziehung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte.

Wissen

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Wissen

Der Wiener Arzt Jean de Carro (1770–1857), einer der Pioniere der Einführung der Kuhpockenimpfung in Österreich, schrieb in der Einleitung zu seiner „Geschichte der Kuhpockenimpfung in der Türkei“ im Jahr 1803, der „Orient sei [sowohl] die Wiege der Menschenpocken und ihrer Impfung gewesen.“1 Der Blick des Arztes richtete sich ins Osmanische Reich – sowohl was die vermeintliche Entstehung der Krankheit betraf, als auch für das damals gerade einen Aufschwung erfahrende Schutzmittel. Tatsächlich wurde die Praxis der Einimpfung von Pocken zur Immunisierung gegen eine Ansteckung im 18. Jahrhundert in Konstantinopel beobachtet und von dort aus in den Bestand europäischen akademischen Wissens integriert. Zugleich wurde im 19. Jahrhundert eine Pathohistorie konstruiert, die den „Orient“ pauschal zum Ursprungsort aller möglichen Krankheiten erklärte. De Carro, der sich in seinem Werk sehr ausführlich mit dem Versuch beschäftigte, nachzuweisen, dass die Pocken im „Orient“ entstanden waren, schlussfolgerte: „Wenn ihm [dem Orient, Anm.] der Occident Vorwürfe über ein durch ihn erhaltenes Übel zu machen hat, so muß er ihm auch für das dagegen empfangene Schutzmittel Dank wissen.“2 Auf den ersten  Blick scheint es für Leser und Leserinnen aus dem europäischen Kulturkreis verwunderlich, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Wissen aus der außereuropäischen  Welt im 19. Jahrhundert einen Beitrag zur Entwicklung der modernen Medizin leistete. Der deutsche Historiker Jürgen Osterhammel stellte 2005 in seinem Werk „Die Verwandlung der Welt“ fest, dass ein „umgekehrter“ Wissenstransfer von Asien nach Europa im 19. Jahrhundert kaum stattfand.3 Aber war der Weg des Wissens im 19. Jahrhundert tatsächlich eine Einbahnstraße? Der von de Carro hier eingeforderte Dank ist dem „Orient“ vorenthalten geblieben. Wem solle man da danken, mag der/die kenntnisreiche Historiker/in fragen. Den „Orient“ gibt es nicht, er ist eine Konstruktion der europäischen Literatur und des Wissenschaftsbetriebs des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Tatsache der Konstruiertheit des Orients führt mitten in das Thema der Beziehungen zwischen der (mittel-)europäischen Medizin des 19. Jahrhunderts und dem Osmanischen Reich. Der Orient – egal ob konstruiert oder real – war per definitionem niemand, dem man dankte. Teile dieser Beziehung sind leicht zu beschreiben. Mancher konkrete Wissensbestandteil wurde von Reisenden punktuell aufgegriffen, berichtet und in das System des europäischen Wissens eingespeist. Die Provenienz dieser Wissensbestandteile ist in Vergessenheit geraten. Wissen entsteht fast nie nur als geniale Eingabe, punktuell,

Jean de Carro / Friedrich Gotthilf Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung in der Türkey, in Griechenland, in der Moldau, in Ostindien, und in Persien, Breslau 1804, 2f. 2 Ebd. 3 Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 1. Aufl. der Sonderausgabe, 2011, Historische Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung, München 2011, 277. 1

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einmalig und ohne Vorgeschichte. Es entwickelt sich vielmehr aus vielen Schichten und Elementen, bleibt dynamisch, oft in Netzwerken, entlang gesellschaftlicher Prozesse, wird erratisch und dogmatisch verformt und zementiert, um schließlich erneut hervorgezogen, verbogen, um nicht selten völlig umgekehrt und an zeitliche Bedürfnisse angepasst zu werden. Die Medizingeschichtsschreibung gefiel sich lange in der möglichst engen Zusammenziehung dieser Prozesse zu Heldengeschichten. Der Moment, in dem ein Zusammenhang aus einem Wissenskomplex sich zu einer wissenschaftlichen Tatsache verdichten lässt, ist der klassische Heldenmoment des Arztes oder medizinischen Forschers. Oft entsteht ein Bild, das sich förmlich greifen lässt: Im September 1928 erkannte der britische Arzt und Wissenschaftler Alexander Fleming (1881–1955) in einem Reagenzglas am Fensterbrett, in dem er Monate zuvor Bakterien angesetzt hatte, dass Schimmel die Bakterien abgetötet hatte. Aus diesem kurzen Blick entwickelte sich die Erzählung von der Erfindung des Penicillins, einem der revolutionärsten Medikamente des 20. Jahrhunderts. Diese Szene bleibt im Gedächtnis haften und es wird unerheblich, dass beispielsweise der in Wien forschende Chirurg Theodor Billroth (1829–1894) bereits fünfzig Jahre davor auf die bakterienzerstörende Kraft der Penicilline hingewiesen hatte. Ebenso gilt dies für den in der Medizingeschichtsschreibung fast legendären Kampf des Geburtshelfers Ignaz Philipp Semmelweis (1818–1865) um die Handhygiene. Seine statistischen Auswertungen über den Zusammenhang zwischen dem Händewaschen und der Sterblichkeit der Wöchnerinnen in einer der geburtshilflichen Kliniken in Wien gelten als Geburtsstunde der Antisepsis. Dass die Grundlagen für die Handhygiene schon in den Jahrzehnten davor im Zusammenhang mit der „ägyptischen Augenentzündung“ wissenschaftlich diskutiert wurden, bleibt in den einschlägigen medizinhistorischen Darstellungen meist unerwähnt. Das Suchen nach den Wegen des Wissens lässt sich nicht auf den Nachweis reduzieren, dass der eine oder andere Forscher vielleicht schon vor jenem Helden dieselbe Idee hatte. Wissen über einen Sachverhalt legt eine lange Strecke zurück, bis es bei seinem „Helden“ ankommt. Der polnisch-jüdische Arzt Ludwik Fleck (1896–1961) hat in seiner Studie „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ 1935 auf diese „soziale Bedingtheit“ von wissenschaftlichen Erkenntnissen hingewiesen. Für Fleck stellt das Erkennen die am stärksten sozial bedingte Tätigkeit dar. „Gedanken kreisen vom Individuum zum Individuum, jedesmal etwas umgeformt, denn andere Individuen knüpfen andere Assoziationen an sie an. Streng genommen versteht der Empfänger den Gedanken nie vollkommen in dieser Weise, wie ihn der Sender verstanden haben wollte. Nach einer Reihe solcher Gedanken ist praktisch nichts mehr vom ursprünglichen Inhalte vorhanden. Wessen Gedanke ist es, der weiter kreist?“4 Ludwik Fleck  / Lothar Schäfer  / Thomas Schnelle, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 11. Aufl., Bd. 312: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2017, 58.

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Den Großteil der Vorgeschichte der Auseinandersetzung mit den Bakterien und der Entfaltung ihrer Kraft in der Entstehung einer Krankheit hat der Betrachter des Bildes von Fleming am Fensterbrett nicht vor Augen. Ähnlich verhält es sich mit medizinischem Wissen aus dem Osmanischen Reich und Ägypten, ohne das, so die These dieser Arbeit, die Weiterentwicklung europäischen medizinischen Wissens im 19. Jahrhundert nicht möglich gewesen wäre. Im Unterschied zum meist personenbezogenen Wissen wissenschaftlicher Zeitschriften ist es im Falle der Begegnung mit einem Raum oder einer Gesellschaft nicht ohne Weiteres möglich, dieses Wissen und seine konkrete Veränderung und Anpassung im Fleckschen Sinne lückenlos nachzuverfolgen. Wissen aus dem Osmanischen Reich beeinflusste das europäische akademische medizinische System auf verschiedene Weisen. Ein Weg bestand in der direkten Übernahme von Praxen: Wie in dieser Arbeit gezeigt werden wird, sind medizinische Standards wie die Behandlung von Knochenbrüchen oder die Impfung wesentlich durch konkrete Vorbilder aus der außereuropäischen Welt beeinflusst worden. Zum anderen diente der heutige Nahe Osten als Forschungsraum, in dem Therapien erprobt, Theorien überprüft und adaptiert werden konnten. Das galt für Konzepte der Krankheitsentstehung wie im Falle der Pocken oder insbesondere bei der Pest. Wissen aus den osmanischen medikalen Kulturen wurde durch das Agieren von in Europa ausgebildeten Ärzten in das System der europäischen Wissenschaften eingespeist. Mit der Erfahrung der medizinischen Praxis und ihrer diskursiven Verhandlung durch verschiedenste medizinische Schriftsteller entstand schließlich der Orient als Erfahrungsraum der Medizin. Auch ohne diesen imaginären Raum wäre die europäische Medizin, die sich an den dort verorteten Zuständen reiben konnte, nicht zu dem geworden, was sie heute ist. Die in Alexander Flemings Heldenmoment verdichtete Entdeckung des Penicillins markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Gesundheit von Menschen. Das mit ihm verbundene Wissen wird heute uneingeschränkt positiv als Produkt einer zunehmend spezialisierten, hochgradig vernetzten, europäisch geprägten medizinischen Wissenschaft der Zwischenkriegszeit gewertet. Was hier am Beginn der nun folgenden Überlegungen ins Gedächtnis gerufen werden soll, ist dies: Die Gleichung: europäisches medizinisches Wissen = positives, überlegenes medizinisches Wissen ging sehr lange Zeit nicht auf. Spürbar wird das besonders dort, wo dieses Wissen aus dem „System europäische Wissenschaft“ in den Kontrast zu einem anderen medikalen System trat. Ärzte aus Europa genossen mit ihrem Wissen in der Praxis sehr lange überhaupt keine Vorrangstellung gegenüber anderen heilkundigen Personen im Osmanischen Reich. Adolphus Slade (1804–1877), ein britischer Marineoffizier, der ab 1849 an wesentlichen Positionen der Osmanischen Marine tätig war, schrieb in einem seiner Bücher über die europäischen Chirurgen: „[…] they often justify the saying of a venetian Bail, that the Italians always carried on the crusade against the

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Moslems; first with arms, then with recipies.“5 In Tunis wurden die europäischen Ärzte verdächtigt, die Cholera selbst zu verbreiten, durch bösen Blick oder Atem, oder auch, weil man glaubte, sie wollten, eventuell im Auftrag des Herrschers, Panik oder Unruhe stiften. Auch am Krankenbett genossen sie keinerlei Superiorität. Der italienische Arzt Lumbroso6 berichtet in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass die Europäer oftmals arabischen Ärzten oder Heilkundigen Platz machen mussten.7 Wer die zahlreiche Literatur liest, die in diesen Jahren über die therapeutischen Methoden der europäischen Ärzte Zeugnis gibt, ist versucht, sich ebenfalls einen traditionellen Heilkundigen herbeizuwünschen. Der Beziehung zwischen Wissen und Praxis kommt gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eminente Bedeutung in der Entwicklung der europäischen Medizin zu. Jene Personen, die im Netzwerk der europäischen akademischen Medizin agierten (und dies waren bei Weitem nicht nur akademische Ärzte) vermochten sowohl passiv (als Lesende) als auch aktiv (als Schreibende, Beitragende) an einem komplexen Wissensnetzwerk teilzunehmen, in dem Informationen aus der ganzen Welt aufgenommen, abgewogen, kanonisiert oder verworfen werden konnten. In dieser Assemblage verlor jegliches nicht einer Person zuordenbare Wissen seinen spezifischen Charakter und wurde zu Allgemeingut. Dieses Allgemeingut wurde nach Belieben von Wien nach Konstantinopel, von dort nach Basra und zurück nach London geschickt. Europa hatte für all dieses Wissen um Theorien und vor allem um Praktiken das ideale Medium gefunden. Der expandierende Markt an wissenschaftlichen Zeitschriften brachte in Form von Rezensionen, Zusammenfassungen und Kritiken verschiedenste, oft kurze Notizen mit Auszügen aus anderen gelehrten Zeitschriften. Die „zu Hause Gebliebenen“ konnten in den Zeitschriften ihre eigenen Ansichten bestätigt finden, andere Erfahrungen kennenlernen und fanden in ihnen auch die Plattform, Gegensätzliches kontrovers, in einem heute fast wüst erscheinenden Stil zu diskutieren. Gerade diese Beschreibungen fremder medizinischer Praktiken sind ungeheuer aufschlussreich, wenn man verstehen will, wie jene Menschen dachten und die Begegnung mit anderen medizinischen Systemen interpretierten. Selbst in der genauesten Beschreibung einer Praktik wurde nicht immer das erkannt, was heute für wissenschaftlich richtig gehalten wird. 1822 berichtete die Salzburger „Medicinisch-chirurgische Zeitung“8 über eine Staroperation, die russische Ärzte in Georgien beobachtet hatten. Vgl. Adolphus Slade, Slade’s travels in Turkey. Turkey and the Turks, and a cruise in the Black Sea, with the Captain Pasha, a record of travel, New York 1854, 49. 6 Es dürfte sich um den Vater des Ägyptologen Giacomo Lumbroso (1844–1925) handeln. Genauere Lebensdaten waren für diese Arbeit nicht auffindbar. 7 Vgl. Nancy Elizabeth Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1780–1900, 1. Aufl., Cambridge Middle East library, Cambridge 1983, 57. 8 Die „Medicinisch-chirurgische Zeitung“ wurde von Johann Jacob Hartenkeil (1761–1808) in Salzburg herausgegeben. Sie war im gesamten deutschsprachigen Raum verfügbar und erreichte Auflagen von bis zu 2.500 Stück. Hartenkeil stammte aus Mainz; während seiner Ausbildung war er dem Salzburger Erzbischof 5

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Der Operateur wird in dem Text als ein „tatarischer Okulist“ bezeichnet, der sich in Tiflis aufhielt und von den „russischen Medizinalbehörden“ gezwungen wurde, seine Fähigkeiten zu beweisen.9 Vor den Augen einer Kommission hatte er eine Operation durchzuführen, die seit der Antike in ganz Europa und Asien bekannt war. Die bei Starerkrankungen eingetrübte Linse wird dabei in den Augapfel gedrückt, um wieder Licht durchlassen zu können. Minutiös wurde der Bericht, wie er in Russland zunächst veröffentlicht worden war, in der Salzburger Zeitschrift wiedergegeben: Dem Kranken ward das nicht zu operierende Auge verbunden, und der Operateur, der sich vor ihm niederkauerte, befestigte des Kranken Hände in seinem Gürtel. Ein Gehülfe, der hinter dem Kranken stehen mußte, hielt den Kopf desselben, und der Operateur zog mit zwey Fingern der freyen Hand die Augenlieder auseinander und fixierte zugleich den Augapfel. Dann nahm er in die andere Hand eine Aderlaßlanzette, die stumpf und rostig war, und welche er vorher mit Kochsalz eingerieben, und zwey Linien weit von der Spitze mit in Kochsalz getränkter Baumwolle umwickelt hatte, um eine Blutung zu verhindern. Diese stieß er, eine Fläche nach oben und nach dem Mittelpuncte des Auges die Spitze gerichtet, in die Sclerotica, drey bis vier Linien vom äußern Rande der Cornea, ein, und zog sie sogleich wieder heraus. Die Augenlieder wurden geschlossen, mit trockener Baumwolle bedeckt, und zur Stillung der Schmerzen blies er einige Minuten auf dasselbe. Dann ward das Auge geöffnet, und in den Stich wurde eine dreyseitige, stumpfe und an einem knöchernen Stiel befestigte kupferne Nadel, die ebenfalls mit Salz eingerieben war, eingebracht. Diese hielt er anfangs in derselben Richtung wie die Lanzette, dann kehrte er den Stiel aber nach unten und vorwärts, und ließ ihn auf der Wange des Kranken liegen. Die Nadel im Auge lassend, zog er die Augenlieder zusammen und bedeckte das geschlossene Auge von neuem mit trockener Baumwolle, gegen die er einige Minuten lang mit aller Kraft blies. Nun ward das Auge geöffnet, der Operateuer faßte die Nadel wie eine Schreibfeder und führte sie über die verdunkelte Linse, die er zurückzulegen sich bemühte, und wenn sie sich nicht wieder erhob, so zog er die Nadel aus wie er sie eingebracht hatte. Das Auge ward wieder angeblasen; es ward versucht, ob der Kranke die vorgehaltenen Gegenstände sehen konnte; dann wurde dasselbe, nachdem etwas Urin von einem Kinde einetröpfelt war, mit Baumwolle bedeckt und mit einem Tuche verbunden. Der Operierte

als fähiger Chirurg empfohlen und von diesem zunächst zur weiteren Ausbildung nach London und Paris geschickt worden. Auf seinen Reisen knüpfte er ein weitreichendes persönliches Netzwerk, auf das er die Herausgabe seiner Zeitschrift gründen konnte. Zu Hartenkeil vgl. Constant Wurzbach von Tannenberg, Biographisches Lexicon des Kaiserthums Österreich, enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 bis 1850 im Kaiserstaate und in seinen Kronländern … gelebt haben, Wien 1856–1891, Bd. 7, 389 f. Zu Hartenkeils Tätigkeit in Salzburg vgl. Alfred Stefan Weiß, Salzburger Medizin um 1800 – Der Arzt Dr. Johann Jakob Hartenkeil (1761–1808), sein Leben und Wirken in der Stadt Salzburg, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 148 (2008), 105–127. 9 Rezension: Vermischte Abhandlungen aus dem Gebiethe der Heilkunde. Petersburg, in: MedicinischChirurgische Zeitung, 4.4.1822, 25–28. Diesen eindrucksvollen Text gebe ich seiner Klarheit und Plastizität wegen in großem Umfang wieder.

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mußte nun drey Mal 24 Stunden auf dem Rücken liegen, und durfte weder husten noch nießen. Dieser rohen Operation ging eine Vorbereitungscur voraus, die in Folgendem bestand: sechs Wochen lang mußte der Kranke eine magere Diät führen und wöchentlich zwei Mal purgieren; der Wein ward untersagt, der Beyschlaf aber angerathen, eine Falle ward die Schläfe der Seite, auf der er das Auge operieren wollte, mit dem Glüheisen angebrannt. Diese Entzündungshemmende Cur ward nach der Operation fortgesetzt und es ist wohl ihr allein zuzuschreibem, daß der Operateur das Glück hatte, sein Unternehmen gekrönt zu sehen.10

Der heutigen, naturwissenschaftlich gebildeten Leserschaft sticht der Hinweis auf den sterilen Kinderurin ins Auge, um dessen reinigende Wirkung der tartarische Operateur gewusst haben mag. Für die europäischen Beobachter jener Zeit stellte sich die Sache ganz anders dar. Der Mehrwert der Beschreibung lag in ganz anderen „entzündungshemmenden Maßnahmen“, die der tartarische Operateur begleitend zu setzen verstand: Diät führen, Purgieren und der Hinweis auf Beischlaf und Weinverzicht waren jene therapeutischen Mittel, die man zu erkennen verstand. Der Blick war bereits auf den Kern des Problems gerichtet, aber noch war er von den eigenen, humoralpathologisch geprägten Vorstellungen gelenkt. Trocken, aber doch respektvoll heißt es in der Salzburger Zeitschrift: Ref. glaubt aus dieser hier umständlich mitgetheilten Operationsmethode den Schluss ziehen zu dürfen, daß man bey Staroperationen die Entzündung nie aus dem Auge verlieren, und ihr, wenn sie auch nicht zu befürchten steht, immer vorbauen muß. Gewiß würden manche unserer Staroperationen, die gegen die mitgetheilte ein wahres Spielwerk zu nennen sind, glücklicher ablaufen, wenn man der Entzündung gehörig vorzubauen suchte.11

Solche Berichte zirkulierten durch die Zeitschriften, wurden immer aufs Neue abgeschrieben, übersetzt, gekürzt und mit Kommentaren versehen. Und je nach persönlichem Netzwerk des Herausgebers kam dem einen oder dem anderen Forscher größere oder kleinere Bedeutung und Würdigung zu. Gelehrte Zeitschriften konnten in Buchhandlungen bezogen oder (zumindest in den Habsburgischen Erblanden und in Salzburg sowie im süddeutschen Raum) postalisch subskribiert werden, sodass sie auch für Ärzte und Wundärzte zugänglich waren, die nicht am Ort der Herausgabe lebten. Einige erreichten überregionale Bedeutung, viele andere wurden nur lokal gelesen. Der Informationsstand der jeweils im Einzugsgebiet eines Mediums lebenden Gelehrten hing mithin neben den Kontakten des Herausgebers auch davon ab, welche Zeitschriften der Herausgeber seinerseits subskribiert hatte und auszuwerten geneigt war. Dabei konnte auch ein Sprachraum nicht notwendigerweise immer überblickt werden. 1805

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Vgl. Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 4.4.1822, 25–27. Vgl. ebd., 28.

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schrieb der Herausgeber der in Leipzig erscheinenden Zeitschrift „Geist und Kritik der medicinischen und chirurgischen Zeitschriften Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert“, Johann Joseph Kausch (1751–1825), dass das von Pascal Joseph Ferro (1753–1809) seit einigen Jahren in Wien herausgegebene „Medicinische Archiv von Wien und Österreich“ im nördlichen Deutschland bislang wenig bekannt gewesen sei. Das sei, so Kausch, die Schuld des Buchhandels, der zwischen den österreichischen Provinzen und dem deutschen Norden eine „nur sehr geringe Gemeinschaft“ unterhalte. Kausch musste drei oder vier Mal schriftlich urgieren, um die Zeitschrift aus Wien zu erhalten.12 Die medizinische Literatur bot eine Menge an Informationen, selbst Details waren Ärzten in Europa im Wege der in den medizinischen Journalen immer wieder aufs Neue verarbeiteten, diskutierten und kommentierten Berichte zugänglich. In London erschien unter dem Titel „Half-yearly Abstract of the Medical Sciences“ eine Zusammenfassung der wichtigsten medizinischen Zeitschriften. Die darin rezipierten Zeitschriften umfassen im Jahr 1865 16 britische, zwei amerikanische, vier aus den Kolonien, 18 französische, 17 deutsche und eine italienische Zeitschrift. Wien war keine „Peripherie“ in dieser Drehscheibe des Wissens. Von den 17 deutschsprachigen Titeln erschienen zumindest vier in Wien.13 In Wien standen dem Arzt J. F. Draut bei der Abfassung seiner „Geschichte der Einimpfung“ um das Jahr 1830 Informationen darüber zur Verfügung, dass in Mossul, im heutigen Irak, Ausrufer durch die Stadt gehen würden, wenn die Möglichkeit zum Blatternkauf bestünde. Selbst die Zahlungsform – nämlich Rosinen, Feigen und „andere Kleinigkeiten“ – werden erwähnt. Draut bezog seine Informationen darüber aus britischer Literatur. Dabei war es nicht immer so, dass man am Ort des Geschehens selbst oder dort, wo ein wichtiger Knotenpunkt für Informationen lag, über die besten Informationen verfügen konnte: Obwohl der in Wien lebende Jean de Carro um 1800 zu den weltweit bestinformierten Personen in Sachen Kuhpockenimpfung zählte, wähnte sich der Herausgeber der „Annalen der Literatur und Kunst“14 1805 durchaus zu wenig über die Fortschritte der „Kuhpockenimpfung“ informiert. Der Grund dafür sei, dass die „Annalen für Kuhpockenimpfung“ in Wien zu bald eingestellt worden seien und zum anderen, „weil wir kein medicinisches periodisches Werk in unseren Staaten ha-

Vgl. Johann Joseph Kausch (Hg.), Geist und Kritik der medicinischen und chirurgischen Zeitschriften Deutschlands für Aerzte und Wundärzte fürs neunzehnte Jahrhundert., Bd. 5, Leipzig/Breslau 1803, 247. 13 William Harcourt Ranking / Charles Bland Radcliffe / William Dommett Stone (Hg.), The half-yearly abstract of the medical sciences: being a digest of British and Continental medicine, and of the progess of medicine and the collateral sciences, London 1845–73, Bd 41, o. S. 14 Die „Annalen der österreichischen Literatur“ waren eine österreichische Zeitschrift, die von 1802 bis 1812 in Wien erschien. Herausgeber war in der früheren Phase Joseph August Schultes (1773–1831) – ob diese Aussage ihm zuzuschreiben ist, ist allerdings aufgrund der unklaren Autorenschaft der frühen Jahre nicht sicher. 12

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ben“.15 De Carro hatte zunächst für die Veröffentlichung seiner Korrespondenzen und Informationen Journale in Genf und Breslau benutzt. De Carros internationales Informationsnetzwerk in Wien war angesichts der Bedeutung, die man ihm als Drehscheibe für den Impfstoff beimaß, überaus dicht: Im Dezember 1802 berichtete der englische Wundarzt Milne aus Basra detailliert über die Verbreitung der Kuhpockenimpfung in Indien und lieferte genaue Zahlen über die im tausende Kilometer entfernten Basra geimpften Personen nach Wien. Wien lag also nicht abseits von Informationen aus den entlegensten Teilen der Welt, auch wenn man das mangels einer eigenen expansiven Kolonialpolitik glauben könnte.16 Anerkennung ist die Währung, mit der am Marktplatz des Wissens bezahlt wird. Die Tätigkeit der Wundärzte und Ärzte aus Europa im Osmanischen Reich blieb in ihrer Heimat dank dieser Netzwerke keineswegs unbemerkt: Der oben erwähnte Milne, der fernab seiner Heimat in Basra und in Persien tätig gewesen war und, wie später gezeigt werden wird, laufend Nachrichten über die Verbreitung der neuen Technik der Kuhpockenimpfung nach Europa sandte, erhielt von der Universität Aberdeen für seine Verdienste um die Kuhpockenimpfung noch während seiner Tätigkeit im Osmanischen Reich 1803 das Doktorat der Arzneikunde verliehen.17 Die konstante, verlässliche Teilnahme am „System Wissenschaft“ konnte im Gegensatz zur medizinischen Praxis Anerkennung bringen: Preise und Auszeichnungen waren das eine, die eigene wissenschaftliche Karriere das andere. Nicht wenige gründeten auf ihren Aufenthalten im Ausland eine eigene wissenschaftliche Karriere. Das galt nicht für das Osmanische Reich und seine namenlosen Heilkundigen. Ihre Arbeit wurde oftmals beschrieben und bewertet, aber selbst dort, wo sie sich als überlegen zeigte, selten anerkannt. Das Wissen, das dieser Arbeit zugrunde lag, verlor die Anknüpfung an seine Urheber und wurde zum Gemeingut, auf dessen Basis die europäischen Ärzte am Haus ihrer Wissenschaft weiterbauen konnten. Die Geschichte der Verbreitung des europäischen Wissenschaftsmodells wurde lange als Geschichte der Verbreitung eines aufgeklärten und daher überlegenen europäischen Wissens erzählt. Über viele Jahrzehnte bildete das vom amerikanischen Wissenschaftshistoriker George Basalla entwickelte Modell der „Diffusion“ das gängige Erklärungsschema für die Mobilisierung von Wissen zwischen Europa und der

N. N., Auszug „Aus den Genfer Annalen“, in: Annalen der Literatur und Kunst in den Österreichischen Staaten, August 1805, 78–82. 16 Vgl. hierzu allgemein den Sammelband von Moritz Csáky  / Johannes Feichtinger  / Ursula Prutsch (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Bd.  2: Gedächtnis–Erinnerung–Identität, Innsbruck 2003. Hier wurden von Johannes Feichtinger Aspekte kolonialistischen Denkens innerhalb der k. k. Monarchie aufgedeckt. Walter Sauer hat mit dem Sammelband Walter Sauer (Hg.), k. u. k. kolonial Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien [u. a.] 2002 für den afrikanischen Raum eine erste umfassende Untersuchung vorgelegt, die zeigt, dass es darüber hinaus auch kolonialpolitische Interessen der Habsburgermonarchie im afrikanischen Raum gab. 17 Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 158. 15

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außereuropäischen Welt.18 Nach Basalla erfolgte die Ausbreitung eines geschlossen westeuropäischen Wissenschaftsmodells als dreistufiger Prozess, bei dem in einer ersten Phase Gelehrte aus Europa außereuropäische Länder zunächst bereisten und wissenschaftlich erfassten. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten europäische Siedler und einheimische wissenschaftliche Eliten begonnen, eigenständige Forschungen zu betreiben, wobei sie allerdings von der jeweiligen wissenschaftlichen Metropole abhängig blieben. Eigenständige Strukturen entwickelten sich laut dieser Theorie erst in einer dritten Phase, die meist zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt.19 Basallas Modell stammt aus den 1960er-Jahren und gilt heute als überholt. Das Phasenmodell ließe sich grundsätzlich auch sehr gut auf das Ausgreifen der europäischen wissenschaftlichen Medizin auf die islamische Welt anwenden: Allen von Basalla erwähnten Elementen kann man in der Darstellung der Beziehungsgeschichte der medikalen Systeme begegnen. Trotz seiner auf den ersten Blick schlüssigen Anwendbarkeit führt es in seinen Konsequenzen zu einer wesentlichen Verkürzung. Basalla ging wie viele Historiker von einer grundsätzlichen Überlegenheit eines europäischen (i. e. westlichen) Wissenssystems gegenüber außereuropäischen Formen der Wissensproduktion und -vermittlung aus. Indigenes Wissen aus jenen Kulturen, die mit der europäischen Wissenskultur des 19. Jahrhunderts in Kontakt kamen, bleibt in diesem Bild völlig ausgeblendet. Nicht-akademische Experten und ihr Wissen haben in diesem System keinen Platz und auch die Rolle, die Gebiete außerhalb Europas für die Generierung neuen Wissens spielten, wird – wie im Übrigen auch bei vielen Methoden der europäischen traditionellen Medizin – negiert. Neuere Forschungsansätze betonen stärker die Vernetzung und die Zirkulation von Wissen; man könnte auch sagen: den sich wandelnden Charakter von Wissen, während es von Kopf zu Kopf und von Ort zu Ort geht. Dabei sind vor allem die Wege, die das Wissen zurückgelegt hat, und die Geschichte seiner Veränderung auf diesem Weg von Interesse. In diesem Zusammenhang wird heute allgemein von „Wissenszirkulation“ gesprochen, also dem Zusammenspiel verschiedensten Faktoren und Wissensbeständen bei der Entstehung von Wissen.20 Auch außereuropäische Wissenskulturen haben einen wesentlichen Anteil an der Entstehung und Verbreitung von Wissen, indem Elemente dieser Kulturen in einen europäischen Wissenskanon Eingang gefunden haben. Eine wichtige Rolle spielen sogenannte „Intermediaries“, Vermittler, die als Akteure im Wissenstransfer durch Biographien großer Forscherpersönlichkeiten negiert wurden: Dazu gehören zum Beispiel Dolmetscher, Händler, verschiedene Dienstleistende und Zuerst veröffentlicht als G. Basalla, The spread of Western science. A three-stage model describes the introduction of modern science into any non-European nation, in: Science (New York, N.  Y.) 156/3775 (1967), 611–622 und bis heute vielfach rezipiert. 19 Vgl. Harald Fischer-Tiné, Pidgin-Knowledge. Wissen und Kolonialismus, 1. Aufl., Perspektiven der Wissensgeschichte, Zürich/Berlin 2013, 7f. 20 Für die daraus entstandenen Modelle zur Wissenszirkulation: Kapil Raj, Relocating modern science. Circulation and the construction of knowledge in South Asia and Europe, 1650–1900, Basingstoke 2010. 18

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auch die Kolonien an „Expatriates“, die merkbar verdichtet im 18. Jahrhundert in vielen großen Städten zu finden waren.21 Der Schweizer Wissenschaftshistoriker Harald Fischer-Tiné hat aufbauend auf den Ideen von Peter Galison in seinem Aufsatz „Pidgin-Knowledge. Wissen und Kolonialismus“ 2013 anhand des Beispiels von Indien herausgearbeitet, dass sich scheinbar „europäisches“ Wissen immer wieder mit indigenem Wissen verbunden hat oder im Zuge der Berührung sogar neues Wissen geschaffen wurde. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer polyzentrischen Wissenswelt, in der eine „unangefochtene westliche Wissenshoheit ins Reich imperialer Mythen“ gehöre.22 Gleichzeitig stellt er die katalysatorische Wirkung der Integration außereuropäischer Länder in ein „westlichen“ Interessen dienendes Weltsystem außer Streit: Das Zeitalter der imperialen Globalisierung habe zu einer Verdichtung transkultureller Austauschbeziehungen geführt und damit auch die Wissensproduktion beschleunigt. Fischer-Tiné zeigt in seiner Auseinandersetzung mit diesem Phänomen unter anderem, dass scheinbar periphere Gebiete sehr wohl wesentliche Impulse für die Generierung neuen Wissens geben konnten23 und dass es zwei Arten gab, sich mit diesem Wissen auseinanderzusetzen: Auf der einen Seite sogenannte „Orientalisten“, die offen mit neuem Wissen umgingen und auch keine Berührungsängste hatten, neues Wissen zu integrieren. Auf der anderen Seite „Anglicists“ (hier im Folgenden „Reformer“), die die Bezugnahme auf Wissen aus der jeweiligen Kultur rundweg ablehnten. Wie gezeigt werden wird, dominieren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der deutschsprachigen Literatur die „Orientalisten“, die offen mit diesen Wissensbeständen umgingen. Erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts setzen sich wie in fast allen Bereichen auch hier die „Reformer“ durch. Sie haben einen klaren Trennstrich zwischen ihr europäisches Wissen und das medizinische Wissen des Osmanischen Reiches gezogen. Dem Ersten, der eine neue wissenschaftliche Erkenntnis publiziert, kommt eine besondere Bedeutung zu. Jeder bahnbrechenden, weithin übernommenen Entwicklung wird ein „Erfinder“ zugeschrieben, dem das Verdienst der Einführung einer neuen Technik zukommt. Die Verbreitung und Verbesserung einer solchen Erfindung über mehrere, meist schematisch wiedergegebene Stationen ist schon für sich genommen ein Beispiel für eine „Zirkulation von Wissen“, bei der bestimmte Rezipienten dem empfangenen Wissen Neues hinzufügen. Der Beitrag dieser Rezipienten wird in späteren Beschreibungen eines solchen Prozesses meist ebenso gewürdigt, der Ruhm kommt dennoch meist in erster Linie einem „Erfinder“ zu, auf den sich spätere Bearbeitungen eines Themas beziehen. Charakteristischerweise ist dieser „Erfinder“ nicht immer jener, der tatsächlich eine technische oder diagnostische Neuerung ersinnt,

Beispiele in verschiedener Form zuletzt bei: Rebekka Habermas, Intermediaries, Kaufleute, Missionare, Forscher und Diakonissen, in: Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel (Hg.), Von Käfern, Märkten und Menschen: Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013, 28–48. 22 Vgl. Fischer-Tiné, Pidgin-Knowledge, 2013, 8. 23 Ebd. 21

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sondern derjenige, dem die Bekanntmachung einer solchen Neuerung gelingt. Jedenfalls ist dieser Prozess – wenn man Fleck und seinen Überlegungen folgen will – nur in den seltensten Fällen das Ergebnis einer genialen Eingabe, sondern im Gegenteil bloß die Feststellung von „bei gewissen Voraussetzungen gegebenen zwangsläufigen Ergebnissen“.24 Für das System Wissenschaft ist der Umgang mit Urheberschaft ein zentrales Element „guter wissenschaftlicher Praxis“. Wer sich fremde Gedanken aneignet, ohne auf den/die Urheber/in hinzuweisen, verletzt diese Standards. Die Frage der „Priorität“ einer Erkenntnis war bereits in der Formationsphase der modernen medizinischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert ein umkämpftes Terrain. Anhand der „Erfindung“ des Gipsverbandes soll gezeigt werden, dass Wissen, das von außerhalb des „Systems Wissenschaft“ kam, keinen Anspruch hatte, als solches gekennzeichnet zu werden. Medizinische Systeme, die auf die Identifikation einzelner „Erfinderpersönlichkeiten“ verzichteten, hatten (und haben) keinen Anspruch, in diesem System guter wissenschaftlicher Praxis Berücksichtigung zu finden. Das Wissen innerhalb eines Denkkollektivs war, so Fleck, für die Ansichten der jeweiligen Teilnehmer zu allen Zeiten systemfähig, bewiesen, anwendbar, evident. Alle fremden Systeme waren für sie widersprechend, unbewiesen, nicht anwendbar, phantastisch oder mystisch.25 Der Einsatz des Gipsverbandes durch die europäische Chirurgie im 19. Jahrhundert ist ein Beispiel dafür, wie Wissen aus außereuropäischen Kulturen trotz der Zugehörigkeit zu einem fremden Wissenssystem schleichend in das System der europäischen Wissenschaft Eingang gefunden hat, um schließlich zu einem im Sinne Flecks „zwingenden“ Bestandteil zu werden. 1.2

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Wer vom Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert schreibt, ist vom „Orient“ geprägt. Das gilt damals wie heute. Der „Orient“ ist in der Beschreibung von Reisenden, Künstlern und Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts ein Raum, der sich von Europa in seinen wesentlichen Grundzügen unterscheidet. Er erscheint „weiblich, irrational und primitiv“ im Gegensatz zum „maskulin-rationalen“ Westen.26 Der „Orient“ existiert als solcher nicht; er wird durch seine europäischen Beobachter gleichsam erschaffen. Reiseberichte und wissenschaftliche Bücher behandeln ihn, Vorträge werden gehalten und

Fleck (2017), 56. Ebd., 34. María Do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Orientalismus und postkoloniale Theorie, in: Iman Attia (Hg.), Orient- und IslamBilder: Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, 1. Aufl., Münster 2007, hier: 35.

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seit dem späten 18. Jahrhundert beschreiben Wissenschaftler in einer neu entstehenden wissenschaftlichen Disziplin den „Orient“. Sie nennen sich selbst „Orientalisten“. Aus dem „Orient“ entsteht Europa. Die Idee einer europäischen Identität fand ihren wichtigsten Ausdruck in der Konfrontation mit etwas Anderem, etwas Fremdem: mit Byzanz im Mittelalter, dem Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit, dem „Orient“ im Zeitalter des Imperialismus. Die Begegnung mit anderen Zivilisationen, mit anderen Kulturen, formte zivilisatorische Werte: Das „Wir“ war richtig, das „Andere“ falsch, oder zumindest unterlegen.27 Die Wurzeln dieses Prozesses liegen in der Aufklärung, die viele außereuropäische Einflüsse in sich aufnahm, veränderte und aus der Summe aller Einflüsse – der eigenen wie der aus der Fremde gewonnenen – einen moralischen Auftrag formulierte. Die Welt muss besser werden und am Wesen der „Aufklärung“, die nichts anderes ist als ein europäisches Konzept, letztlich genesen. Was ist aber mit all jenen, deren kulturelle Praxen dem Vernunftdenken der aufgeklärten Wissenschaften widersprechen? Aus dem hehren Anspruch der Aufklärung erwuchs, wie der Historiker John Hobson gezeigt hat, ein „impliziter Rassismus“.28 Der implizite Rassismus ist die Vorstufe des „expliziten“, wissenschaftlichen Rassismus, den die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorbrachte. Der wissenschaftliche Rassismus des 19. Jahrhunderts erlebte im 20. Jahrhundert seinen Kulminationspunkt im Wahnsinn der nationalsozialistischen Ideologie. Er ist heute zwar nicht ausgestorben, aber verdrängt: Ein biologistischer Rassismus gilt in akademischen Kreisen als verpönt. Anders verhält es sich mit dem „impliziten“ Rassismus. Er entstand laut Hobson parallel zum Imperialismus im späten 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er begleitet die Europäer auf ihrem Weg in die Welt und hat die „Zivilisierungsmission“ als zentrale Berufung: Der „Orient“, der unfähig ist, von selbst „europäisch“ zu werden, muss dazu gemacht werden. Der Orientale ist nicht biologisch unterlegen – wie es der biologistische Rassismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert immer stärker postuliert, denn diesen Gedanken lassen Denkstil und Wissen der Zeit noch nicht zu –, aber ist in seinen Institutionen, seiner Kultur und seiner Umwelt zurückgeblieben. Europa, das „Wir“, muss ihm helfen. Für die Medizin ist die Begegnung mit dem „Orient“ noch greifbarer. Krankheiten und Seuchen werden mit dem „Orient“ verbunden. Der „Orient“ als solcher wird zum medizinischen Objekt, das erforscht werden muss. Letztlich muss er auch in Besitz genommen werden, um beherrscht und „rationalisiert“, entwickelt werden zu können. Die Notwendigkeit dazu ist im Spiegel der Literatur der damaligen Zeit fast materiell greifbar: Weil der „Orient“ chaotisch, unstrukturiert und daher gefährlich ist, kann nur der Einzug europäischer Ordnungen die Sicherheit bringen, nach der die Medizin Ich folge in dieser Überlegung John Hobson und seinem spannenden Buch „The Eastern Origins of Western Civilsation“, das ausführlich darlegt, dass Europa ohne Asien und Afrika undenkbar wäre. John M. Hobson, The Eastern Origins of Western Civilisation, Cambridge, UK/New York 2004, 219–225. 28 Hobson sagt: „implicit racism“. Ebd., 220. 27

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sucht. Expliziter Rassismus ist in den Texten, die dieser Arbeit zugrunde liegen, dabei tatsächlich selten.29 Der Anspruch, „Zivilisation“ zu bringen, ist dagegen omnipräsent. Die Medizin in Mitteleuropa, um die es in dieser Arbeit geht, sucht sich in dieser Zeit selbst. Zwischen der „Ersten Wiener Medizinischen Schule“ des Leidener Arztes und Beraters Maria Theresias, Gerard van Swieten (1700–1772), und der „Zweiten Wiener Medizinischen Schule“ der Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihren in Wien omnipräsenten Heroen Joseph Skoda, Ferdinand Hebra und Karl Rokitansky liegen für die klassische Medizingeschichte Jahre der Stagnation.30 Dieses Urteil der Stagnation hängt wohl mit einer historischen Veränderung von Denkkategorien zusammen, die sich in diesen Jahren anbahnt. Der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault (1926–1984) nannte die Unterbrechung dieses herrschenden Denkstils „Diskontinuität“, nach Thomas Kuhn wird heute von einem „Paradigmenwechsel“ gesprochen, der in den Jahren zwischen 1780 und 1840 stattfand.31 Foucault beschreibt eine „Reorganisation des sichtbaren und unsichtbaren Raumes“, die da stattfand: Ärzte lernten einen neuen Blick auf die Phänomene zu entwickeln, die ihnen begegneten.32 Seit der Antike dominierte in der Medizin das Konzept der Humoralpathologie, die „Säftelehre“. Alles menschliche Sein ist demgemäß durch das Gleichgewicht der Säfte im Körper bestimmt: Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim definierte der griechische Arzt Hippokrates als Grundlagen menschlicher Gesundheit und

Eine wichtige, leider noch wenig erforschte Ausnahme bildet der bayrische Arzt Franz Pruner (1808– 1882), der in den 1830er- und 1840er-Jahren in Ägypten tätig war und massiv auf die grundsätzliche Unterlegenheit der Bevölkerung hinweist. Pruner sieht im Denkstil der Anthropologie seiner Zeit „Menschenfamilien“, die (aus einem humoralpathologischen Denken heraus) durch die klimatischen Unterschiedlichkeiten ihrer Lebensräume geprägt werden. Für ihn ist – wie für die späteren deutschen und französischen Rassisten des 19. Jahrhunderts – der Orient bereits zur Unterlegenheit verdammt. 30 Das sagt für Wien vor allem die Wiener Medizinhistorikerin Erna Lesky (1911–1986), deren Opus Magnum „Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert“ in seinem Detailreichtum und seiner Lesbarkeit trotz dieses vielleicht leichtfertigen Urteils unübertroffen ist. Erna Lesky, Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Graz-Köln 1965. Weniger beachtet sind die beeindruckenden Zeitzeugenberichte, die Max Neuburger (1868–1955), einer von Leskys Vorgängern am Lehrstuhl der Wiener Medizingeschichte herausgegeben hat. Sie zeigen die persönliche Dimension der Protagonisten dieser „Stagnationsphase“. Max Neuburger, Die Wiener Medizinische Schule im Vormärz, Wien 1921. 31 Allgemein verweise ich für diesen Zeitraum auf das großartige Werk von Nelly Tsouyopoulos, das postum von Claudia Wiesemann herausgegeben wurde und das übersichtlicher in die Thematik ärztlichen Denkens einführt als Foucaults Klassiker „Die Geburt der Klinik“. Nelly Tsouyopoulos / Claudia Wiesemann (Hg.), Asklepios und die Philosophen. Paradigmawechsel in der Medizin im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Medizin und Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2008. Thomas Kuhns „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ und Ludwik Flecks „Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache“ erscheinen neben Foucault federleicht. Ludwik Fleck  / Lothar Schäfer  / Thomas Schnelle, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 11. Aufl., Bd.  312: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2017. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Aufl., 24. Aufl., Bd. 25: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2014. 32 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, 10. Aufl., Bd. 7400: Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 2016, 10. 29

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Krankheit; diese Säfte konnten „Qualitäten“ haben: warm, kalt, trocken und feucht. Gelbe Galle galt zum Beispiel als „warm und trocken“. Galen von Pergamon ergänzte das Konzept im 2. Jahrhundert nach Christus um die bekannten „Temperamente“, die er dem Überwiegen des einen oder anderen Saftes zuordnete. Dominierte etwa die gelbe Galle, so war man „Choleriker“. Die islamischen Ärzte al-Kindī und ibn Sīnā erweiterten wiederum diese Lehre im 9. und 11. Jahrhundert. Mit ihren Ergänzungen kam dieses System medizinischer Vorstellungen im Mittelalter zurück nach Europa, wo sie bis ins 18. Jahrhundert hinein die Grundlage medizinischen Denkens der Volksmedizin wie auch der akademischen Medizin blieb. Die Antike ist in der Medizin des 18. Jahrhunderts allgegenwärtig, sagt der Schweizer Wissenschaftshistoriker Philipp Sarasin.33 Galens Medizin wurde rezipiert und systematisiert, in drei wesentliche Teile gespalten. Der Bereich des „Gesunden“ besteht auf den sieben „res naturales“: Elemente, Temperamente, Körperteile, Säfte, Geist, Fähigkeiten und Handlungen. Der Bereich des Kranken enthält drei Dinge, die der Natur widerstreben; in der galenischen Medizin heißen sie: „res contra naturam“. Die Krankheiten, ihre Ursachen, ihre Symptome. Zwischen beiden stehen als Einflussfaktoren die „sex res non naturales“: Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen sowie Gemütsbewegungen. Diese sechs „Einflussfaktoren“ sind es, an denen im 18. Jahrhundert die beginnende „Hygiene“ ansetzt. Nicht von Sauberkeit und Ordnung ist die Rede, wenn in dieser Zeit von Hygiene gesprochen wird, sondern von eben jenen „sex res non naturales“, die seit Galen als Krankheitsfaktoren galten.34 Um im 18. Jahrhundert eine Krankheit zu erkennen, musste man, so Foucault, dorthin sehen, wo es „Trockenheit, Brennen, Reizung oder Feuchtigkeit, Verschleimung, Schwächung“ gab35. Der ärztliche Blick musste für all diese feinen Qualitäten offen sein, um alle Modulationen zu erkennen und die Krankheit durch die Einschätzung des Gleichgewichts der Faktoren zu entziffern. Der Kranke sei für den Arzt dieser Zeit ein „Portrait der Krankheit“ sagt Foucault, „gegeben im Relief, mit Schatten, Modulationen, Nuancen, Tiefe“. Die Arbeit des Arztes sei es, diese Dichte wiederzugeben.36 Die Therapie richtete sich nach den Symptomkomplexen und ihren Zeichen. Der Patient selbst ist es, der in dieser Medizin die „wahre Natur“ der Krankheit überdeckt: Der Mensch ist von cholerischem Temperament, deshalb überwiegt in ihm im Bild der Ärzte dieser Zeit die gelbe Galle. Trifft ihn nun eine Krankheit, in der die gelbe Galle eine Rolle spielt, so ist die Beobachtung doppelt schwer: Ist das Übermaß nun auf die Krankheit oder das Temperament zurückzuführen? Der Arzt

Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Orig.-Ausg., 1. Aufl., Bd. 1524: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2001, 34. 34 Ebd., 36. 35 Foucault, Die Geburt der Klinik, 2016, 30. 36 Ebd., 31–34. 33

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muss beobachten und beurteilen. Noch komplizierter wird es, wenn der Mensch aus seiner natürlichen Umgebung gerissen und hospitalisiert wird, wie es im 18. Jahrhundert immer öfter der Fall wird. Angst, Krankheiten des Krankenhauses und Ähnliches überdecken die „wahre Krankheit“ noch mehr. Eine „wahre Krankheit“, als Einheit gesprochen, war für den Arzt dieser Zeit greifbar, auch wenn sie heute kaum mehr wiedererkennbar scheint. Die Entwicklung der Naturwissenschaften hat in der Medizin des 18. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen. Der Vorliebe für Klassifikationssysteme folgend wurden Krankheiten nach Merkmalen klassifiziert. Für den Arzt des 18. Jahrhunderts sind die Fieber für sich genommen Krankheiten. Sie sind gastrisch, Gallfieber oder „billiös“; die gelehrte „Nosologie“ gliedert diese Fieber wie Pflanzen und schafft Einteilungen dieser Krankheitseinheiten in Arten, Klassen, Ordnungen. In der Medizin der Arten, sagt Foucault, habe die Krankheit von Natur aus Formen und Zeiten, die dem Raum der Gesellschaften (und der dort stattfindenden Verfälschung) fremd sind: Es gibt eine wilde Natur der Krankheit, die zugleich ihre wahre Natur ist und ihr vernünftigster Verlauf: Allein, frei von Intervention, ohne medizinische Künstlichkeit bringt sie die fast pflanzenhafte Ordnung ihres Wesens zur Erscheinung. Aber je komplexer der gesellschaftliche Raum wird, in dem sie situiert ist, umso mehr wird sie denaturiert. Vor der Zivilisation haben die Völker nur die einfachsten und notwendigsten Krankheiten. Bauern und Leute, aus dem gewöhnlichen Volk bleiben dem ursprünglichen nosologischen Tableau noch nahe; dessen vernünftige Ordnung kommt bei der Einfachheit des Lebens noch zur Geltung: bei ihnen gibt es nicht diese vielfältigen, komplexen, gemischten Nervenleiden, sondern solide Schlaganfälle und freimütige Tobsuchtsausbrüche.37

Notwendig folgt aus diesem Gedanken, den Foucault in Bezug auf das Spital als der Zivilisation ähnlichen Ort münzt, die Suche nach der Unverfälschtheit. Die Medizin des beginnenden 19. Jahrhunderts sucht sie und findet sie zu Hause und in der Ferne: im Osmanischen Reich. Der „Orient“ als konstruierter Raum tritt, wie in allen Bereichen des Wissens und der Kunst, auch in der Medizin auf. Ärzte suchen im Osmanischen Reich nicht nur nach Wissen, nach einer Lebensgrundlage oder einem Abenteuer, sie suchen auch nach Erkenntnis in der von Foucault beschriebenen Form. Die Bewohner des Osmanischen Reiches, der islamischen Länder und Gebiete, die Europa im Süden und Südosten umschließen, werden zu Orientalen, deren Qualitäten untersucht, beobachtet und identifiziert werden. Die unverfälschten Krankheiten werden gesucht und gefunden. Meist sind diese Krankheiten aber verfälscht und immer durch ihre Umwelt beeinflusst. Treten solche Krankheiten gehäuft auf, werden sie im Blick des Arztes jener Zeit zur Epidemie. (Beinahe) jede Krankheit kann auch nur sporadisch auftreten, nur

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Foucault, Die Geburt der Klinik, 2016, 33.

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Einzelne betreffen. Trifft sie auf die richtige „Konstitution“, die richtige Konstellation mehrerer natürlicher Erscheinungen wie „Beschaffenheit des Bodens, Klimaverhältnisse, Jahreszeit, Regen, Trockenheit, Verpestungen, Teuerungen“38, so kann sie zur Epidemie werden. Die Beschäftigung mit den Epidemien kompliziert das Bild von der Krankheit als klassifizierbare Naturerscheinung. „Bei den Epidemien geht es um die Integration der Zeit und um die Feststellung der Kausalitätsbeziehung [zu diesen Faktoren, Anm.], bei den Arten um Definition einer hierarchischen Stellung und um Auffindung einer wesenhaften Kohärenz; handelt es sich hier um die nuancierte Wahrnehmung eines komplexen historischen und geographischen Raumes, so geht es dort um Definition einer homogenen Ebene, auf der Analogien abzulesen sind“, schreibt Foucault.39 Hier geht es nicht um den Versuch, der Medizin und ihrer Probleme zum Ende des 18. Jahrhunderts mit den Methoden der Naturwissenschaft Herr zu werden. Die „nuancierte Wahrnehmung eines komplexen historischen und geographischen Raumes“ ist es, die diesen Gedanken weiterführt. Wer Krankheiten eben nicht nur nosologisch, sondern auch in ihrer Masse als Seuche beschreiben will, der kommt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht um die Geographie und die Geschichte herum. Diese Arbeit will daher auch zeigen, wie sich geographisch-topographische Beobachtungen und historische Untersuchungen in die Geschichte der Medizin jener Zeit eingeschrieben haben. Der Arzt dieser Medizin des „Zeitalters der Diskontinuität“ integrierte die Historie in seine Krankheitsbeschreibungen ebenso wie Klimatologie und physische Geographie. Aus dieser Vermengung von Wissensgebieten entsteht der „Medizinische Orient“, der im Sinne der damaligen Ärzte seine eigene Konstitution und seine spezifischen Eigenschaften hat. Cholera, Pest und Ägyptische Augenentzündung holen diesen „Medizinischen Orient“ nach Europa und machen ihn zum Gegenstand einer Auseinandersetzung. Daraus entspringt einer der für diese Arbeit leitenden Gedanken, dass nämlich Gemeinschaften verschiedener Art nicht solchen Zirkulations- oder Mobilisierungsprozessen vorausgehen, sondern der Austausch von Wissen für die Identitätsfindung von Gemeinschaften konstitutiv ist.40 Demnach stünden auch die Themen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem „Medizinischen Orient“ finden, in einem direkten Zusammenhang mit den konstituierenden Elementen einer „Wiener Medizinischen Schule“. Die medikalen Verhältnisse im Osmanischen Reich waren für Ärzte aus der Habsburgermonarchie die Form, aus der die Umrisse des eigenen Selbstbildes herausgeschnitten werden konnten. Zum Ende des 18. Jahrhunderts geriet das Gedankengebäude der Humoralpathologie ins Wanken. In Edinburgh in Schottland trat der Arzt John Brown (1736–1788) mit einer neuen Lehre hervor, die sich innerhalb weniger Jahre enormen Zuspruchs erfreute. Seine Lehre von der Irritabilität bestritt die Bedeutung der Körpersäfte und rückte die Reizbarkeit, die Irritabilität, in den Vordergrund. Bestimmend für den Orga38 39 40

Foucault, Die Geburt der Klinik, 2016, 38. Ebd., 42. Siehe: Margrit Pernau, Transnationale Geschichte, Grundkurs neue Geschichte (UTB), Göttingen 2011.

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nismus sei das Fehlen oder Überwiegen eines Reizzustandes; Behandlung bestand in der Hinzufügung von Reizen oder ihrer Abwehr. Die Körpersäfte waren nur mehr von sekundärer Bedeutung.41 Brown veränderte auch den ärztlichen Blick: Jeder Reizung lag eine Ursache zugrunde, die zu finden notwendig war. Eine lokale Entzündung, die den Organismus reizte, konnte in diesem Denkstil besser als lokale Erkrankung verstanden und bekämpft werden. Für eine junge Generation von Ärzten war diese Veränderung des ärztlichen Blicks zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Offenbarung: In ihr liegt die Wurzel der als „Solidarpathologie“ bezeichneten Hinwendung der Medizin zu den Organkrankheiten im 19. Jahrhundert.42 Noch ein zweiter Gedanke sollte auf das Denken einer neuen Generation von Ärzten wesentlichen Einfluss haben. Brown sah im Organismus eine Einheit, die sowohl im Zustand der Krankheit als auch im Zustand der Gesundheit denselben Gesetzen folgte. Brown schreibt: „Die Vorstellung, als wenn Gesundheit und Krankheit zwey verschiedenartige Zustände wären, wird dadurch widerlegt, daß die Wirkung der Potenzen, welche dieselben hervorbringen und wegschaffen, eine und dieselbe ist.“43 Die deutsche Medizinhistorikerin Nelly Tsouyopoulos sah darin die Entfernung aller Schranken zwischen Physiologie, Pathologie und allgemeiner Therapie und die Ermöglichung einer produktiven Beziehung zwischen theoretischer Medizin und Praxis.44 In Edinburgh war Brown zunächst ein Paria. An der Medizinischen Fakultät waren seine Lehren verpönt, Studenten durften seine Arbeiten in ihren Dissertationen nicht zitieren. Seine Lehre blühte an der akademischen Peripherie. Im Privatunterricht, der den nach Edinburgh kommenden internationalen Studenten allerorten angeboten wurde, traf man auf seine Ideen. Am „Royal College of Surgeons“, der von der Universität getrennten Chirurgenschule, fanden sie Platz zur Entfaltung. Auch in Wien (und in Paris) war an der Medizinischen Fakultät kein Platz für die Lehren Browns. Johann Peter Frank (1745–1821) und sein Sohn Joseph Frank (1771–1842), die die Lehre Browns aus Pavia mit nach Wien gebracht hatten, pflegten seine Ideen im kleinen Kreis einer ersten, privaten ärztlichen Vereinigung.45 Auch hier setzten sich seine Ideen schließlich eher an der militärischen Chirurgenschule, dem Josephinum fest, was im Kampf um die Interpretation der Ägyptischen Augenentzündung 1823 deutlich wird. In Frankreich ist es der oberste Militärarzt René-Nicolas Dufriche Desgenettes (1762–1837), der mit Napoleon nach Ägypten gezogen war, der Browns Lehren am meisten vertritt. Als er Frankreich verließ, gewannen seine Gegner um den Arzt Philippe Pinel (1745–1826) wieder die Oberhand; Browns Lehre ist eine so große Gefahr, dass sie der Häresie Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 81. Vgl. ebd., 80–84. Aus der deutschen Übersetzung von: John Brown / Christoph Heinrich Pfaff / Samuel Lynch, John Brown‘s System der Heilkunde, Kopenhagen 1804, zitiert nach Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 81. 44 Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 81. 45 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 26. 41 42 43

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gleich verfolgt wird. Die stärkenden Mittel, die Brown für die Sthenie empfahl, wurden verhöhnt: „Weinselig“ erscheint Brown bis heute in der historischen Literatur, weil er empfohlen hatte, neben Wein Moschus, Kampfer, Bibergeil und Opiate anzuwenden. Man warf ihm vor, zu hohe Dosen an Wein und Opium zu verordnen; seine Verteidiger meinten dagegen, seine Lehren würden missverstanden.46 In Wien setzt sich der konservative Leiter des Medizinalwesens Andreas Joseph von Stifft (1760–1836) gegen die Franks durch; Johann Peter Frank, der große Pionier der Sozialmedizin, verließ 1804 die Stadt. Für die Therapie hatte die Schule Browns eine handfeste Folge: Wenn es um Reizungen ging, dann musste man überlegen, wodurch sie hervorgerufen wurden. In der Humoralpathologie hatte die „kathartische Therapie“, die Reinigung und Entleerung, eine zentrale Behandlungsmethode gebildet: Aderlässe und Entleerungen des Darms durch Abführmittel waren die wichtigsten Mittel, um zum Beispiel bei der Gruppe der als „Faulfieber“ verstandenen Krankheiten zu einer Reduktion der „Fäulnis“ im Körper zu kommen. Mit Brown begann man zu erkennen, dass die Krämpfe, die solchen Entleerungen folgen konnten, kein weiteres Zeichen dieser Fäulnis, sondern durch die Therapie selbst hervorgerufene, sogenannte „iatrogene“, medizingemachte Einflüsse waren. Der Aderlass als Mittel der Wahl in fast allen Therapien verlor erstmals an Bedeutung.47 Auch konservative Mediziner mussten die Wirksamkeit dieser therapeutischen Umstellung anerkennen; es entwickelte sich ein „Eklektizismus“, der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für vieles offen war, was sich als nützlich erwies. Wissen aus nicht-akademischen medizinischen Kontexten konnte in dieser Zeit besonders leicht absorbiert werden. Der „Orient“ als Ressource für praktisch erprobtes Wissen trat in Erscheinung. Einer der bedeutendsten Vertreter dieses Eklektizismus war der deutsche Arzt und Naturforscher Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), dessen „Journal der practischen Arzneykunde“ auch ein wichtiges Forum für Mitteilungen aus dem Osmanischen Reich war.48 Genau zu der Zeit, als sich die mitteleuropäische Medizin ihren „Orient“ konstruierte, vollzog sich das, was der polnisch-österreichische Wissenschaftstheoretiker und Arzt Ludwik Fleck als „Veränderung im Denkstil“ bezeichnete.49 Das Denkkollektiv der durch die Humoralpathologie jahrhundertelang geprägten akademischen Medizin wurde immer mehr und immer stärker mit neuen Denkstilen, dem von Brown, seinem französischen Nach-Denker Broussais und der Medizin der deutschen Romantik konfrontiert. Junge Ärzte verließen den Weg der Humoralpathologie; nicht plötzlich

Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 70–84. Ebd., 83. Hufeland war ein Gegner des Brownianismus. Er vertrat einen „Vitalismus“, der von einer alles bestimmenden Lebenskraft ausging. Vgl. Klaus Pfeifer, Medizin der Goethezeit. Christoph Wilhelm Hufeland und die Heilkunst des 18. Jahrhunderts, Köln/Wien u. a. 2000. 49 Fleck/Schäfer/Schnelle, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 2017. 46 47 48

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und abrupt, sondern schleichend und über Umwege, und fanden neue Arten, Dinge zu denken. Jahrzehntelang, bis zur Begründung der Zellularpathologie, die ihrerseits alle vorangegangenen Lehren überwand, rang die Medizin um einen neuen, einheitlichen Denkstil. Die Homöopathie ist ein letzter Zeuge dieses Ringens um Klarheit. Der „Orient“ wurde in diesen Jahren intensiv verhandelt. Sein Klima und seine Geographie als Krankheitskonstitution wurden (noch ganz im Stile der Humoralpathologie) entwickelt; aufbauend auf den Vorstellungen der Humoralpathologie und immer von Neuem abgewandelt. In vielem blieb der „Medizinische Orient“ ein Kind der Humoralpathologie. Doch im Unterschied zur akademischen europäischen Medizin, die sich im Ganzen einem neuen Paradigma zuwandte, verlor ihr Kind jene Eigenschaften, die ihm von seinem frühen „Denkkollektiv“ zugeschrieben wurden, nicht mehr. Der „Orient“ war und ist ungesund, krank und unheilbar. 1.3

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Der Wandel im Denken und der Einfluss neuen Wissens passierten nicht abgeschlossen in der Welt der Wissenschaft, sondern in einem Geflecht aus politischen und wirtschaftlichen Interessen. Das Osmanische Reich war jahrhundertelang Nachbar, Feind, Partner und Projektionsraum für die Politik und die Wirtschaft der Habsburgischen Erblande und später der Habsburgermonarchie. Eingebettet in diese Erfahrungen entdeckte die Wissenschaft der Habsburgermonarchie das Osmanische Reich für sich. Das Gesamtbild der Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft durch den Wissensaustausch in der Medizin zwischen Wien und dem Osmanischen Reich ist dabei grundsätzlich noch wenig erforscht. Diese Feststellung mag besonders medizinhistorisch interessierten Lesern und Leserinnen auf den ersten Blick überraschend erscheinen. Beziehungen zwischen der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich gehören – nicht zuletzt aufgrund der für Österreich identitätsstiftenden militärischen Auseinandersetzungen – zu den traditionellen Kerngebieten der österreichischen Historiographie. Aspekte der (wissenschaftlichen und medizinischen) Beziehungen waren und sind Gegenstand von Forschungen im Rahmen von Tagungen50 und auch in der Handbuchliteratur51 sowie innovativer Pro-

Relativ rezent, sehr umfangreich: Marlene Kurz u. a. (Hg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Wien, 22.–25. September 2004, Bd.  48: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsbände, Köln/Wien 2005; sowie zuletzt: Barbara HaiderWilson / Maximilian Graf (Hg.), Orient & Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl., Bd. 4: Forschungen zu Orient und Okzident, Wien 2017. 51 Klassisch-positivistisch, doch sehr gut lesbar dargestellt bei: Bertrand Michael Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999. 50

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jekte zur Geschichte der Militärgrenze52. Auch sind die Biographien von einzelnen im Osmanischen Reich tätigen Ärzten wiederholt Thema medizinhistorischer Tagungen gewesen53. Die internationale Forschung hat den deutschen Sprachraum vor allem für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als wenig in koloniale Prozesse involviert beschrieben. Edward Said meinte in seinem bis heute einflussreichen Werk „Orientalism“, dass deutsche Orientalisten im Unterschied zu ihren englischen und französischen Kollegen nie in eine enge Beziehung mit konkreten politischen Interessen ihrer Herkunftsländer im „Orient“ gekommen wären, ihre Wirkungsmacht daher viel geringer sei.54 Darstellungen zu inner-imperialem Orientalismus und internationalen kolonialen Verbindungen in Österreich haben dieses Bild wesentlich erweitert.55 Auch die österreichische Wissenschaftsgeschichte hat das Thema „Science and Empire“ breit rezipiert.56 Dennoch sind kritische Arbeiten speziell zu medizinischen Themen immer noch eher spärlich

Josef Ehmer, Migration und Grenzsicherung im Habsburgerreich. http://scilog.fwf.ac.at/kulturgesellschaft/4664/migration-und-grenzsicherung-im-habsburgerreich (abgerufen am 17.11.2017). 53 Die umfassende Aufarbeitung der Beziehungen der türkischen Medizin zur Medizin Österreichs ist den Bemühungen von Arslan Terzioğlu zu verdanken. Beginnend mit einem Symposium 1986 wurden im Rahmen einer über mehrere Jahre dauernden Zusammenarbeit viele, vor allem biographische, Informationen gewonnen. Der erste Tagungsband: Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius, Türk-Avusturya tıbbi ilişkileri 28 ve 29 Nisan 1986‘da İstanbul‘da yapılon simpozyuma sunulan bildiriler. Österreichisch-türkische medizinische Beziehungen. Berichte des Symposions vom 28. und 29. April 1986 in Istanbul, İstanbul 1987. Weiters: Arslan Terzioğlu / Erwin Lucius (Hg.), Mekteb-i Tıbbiye-i Adliye-i Şahane ve bizde modern tıp eğitiminin gelişmesine katkıları. Kuruluşunun 150. yıldönümü anısına 18 Eylül 1989‘da yapılan simpozyuma sunulan bildiriler = Die Hohe Medizinschule Galatasaray und ihre Bedeutung für die moderne türkische Medizin. Berichte des Symposions am 18.9.1989 anlässlich des 150. Gründungsjahres, Bd. 2: Kongre, simpozyum, panel dizisi, İstanbul 1993; Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius (Hg.), V. Türk-Avusturya tıbbi ilişkileri simpozyumu bildirileri. Verhandlungen des V. Symposions über österreichisch-türkische medizinische Beziehungen: 5. Oktober 1994, III: Acta Turcica Historiae Medicinae, İstanbul 1995; Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius, Kanûnî Sultan Süleyman‘ın doğumunun 500. yılı anısına düzenlenen I. Uluslararası Türk Tababeti Tarihi Kongresi bildirileri, 29–30 Eylül 1995. Proceedings of the First International Congress for the History of Turkish Medicine, organised in commemoration of 500th anniversary of Sultan Suleyman the Magnificent’s birth, 29.–30. September 1995, Bd. 3: Türk tıp tarihi yıllığı, İstanbul 1996. 54 Edward W. Said, Orientalism, 25. anniversary ed. with a new preface by the author, New York 2003, 19. Said sagt in seinem Vorwort unter anderem, dass der deutsche „Orient“ immer ein „gelehrter Orient“ gewesen sei, kein praktischer, wie für Chateaubriand oder Lane. Die Wirkungsgeschichte von Saids Buch im deutschen Sprachraum schildert sehr umfassend der Sammelband „Orient- und IslamBilder“, der gleichzeitig auch Saids Ausklammerung des deutschen Sprachraums widerlegt. Iman Attia (Hg.), Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, 1. Aufl., Münster 2007. Einen spezifisch österreichischen Blick eröffnet die sehr detaillierte Arbeit von Veronika Bernard über österreichische Reisende im Orient. Veronika Bernard, Österreicher im Orient. Eine Bestandsaufnahme österreichischer Reiseliteratur im 19. Jahrhundert, Bd. 9: Literarhistorische Studien Literatur aus Österreich und Bayern, Wien 1996. 55 Walter Sauer, Schwarz-Gelb in Afrika. Habsburgmonarchie und koloniale Frage, in: Walter Sauer (Hg.), k. u. k. kolonial Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien [u. a.] 2002, 17–78; zuletzt: Csáky/Feichtinger/Prutsch, Habsburg postcolonial, 2003. 56 Marianne Klemun (Hg.), Wissenschaft und Kolonialismus, Jg. 9, H. 2: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, Innsbruck 2009. 52

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zu finden.57 Im Feld der Wissenschafts- und Medizingeschichte hat auf internationaler Ebene vor allem das Beispiel Indiens breite Aufmerksamkeit erfahren. Dabei wurden seit den 1960er-Jahren bestehende Sichtweisen zur Ausbreitung europäischen Wissens in die außereuropäische Welt schrittweise überwunden. Beschrieben wird nicht mehr die Diffusion des europäischen Wissenschaftssystems als einseitiger Prozess nach Basalla, sondern die Entstehung von Wissen in einem komplexen Beziehungsgeflecht, das Wissen nicht nur in eine Richtung verpflanzt, sondern auch zirkulieren lässt58. Das in Österreich vorherrschende Bild der medizinischen Beziehungen zum Osmanischen Reich hat weder die Veränderung der Sichtweisen auf Wissenstransfer noch die Orientalismusdebatte mitgemacht. Die Geschichte des Ausgreifens des europäischen medizinischen Systems ist in Europa traditionellerweise als Geschichte verschiedener „Pionierleistungen“ geschrieben worden, die sich in das Diffusionsmodell Basalla einordnen lassen. Zur Geschichte der bilateralen Beziehungen zwischen „Österreich“ und dem Osmanischen Reich sind seit den 1970er-Jahren in dieser Tradition eine Reihe von meist biographischen Aufsätzen entstanden. Diese verdienstvollen, faktenreichen Arbeiten stehen in engem Zusammenhang mit der Selbstwahrnehmung einer spezifischen „Wiener Medizin“, die im 19. Jahrhundert eine hohe Wirkungsmächtigkeit innerhalb der europäischen Medizin erlangen konnte. Die in der älteren Historiographie als zweite ,,Wiener Medizinische Schule“ etablierte spezifische wissenschaftliche Tradition übte nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch darüber hinaus großen Einfluss aus; Studenten kamen ab Mitte der 1850er-Jahre nicht nur aus den USA, Schottland, Australien, Neuseeland, sondern auch aus Ägypten und dem Osmanischen Reich zum Studium nach Wien. Die internationale Vernetzung dieser Schule mit anderen Universitäten wurde nach einem stark personenbezogenen Muster von Zentrum – Peripherie („verehrungswürdiger Lehrer“ – „Pionierarbeit leistender Schüler“) bereits sehr früh betont.59 In der Medizingeschichtsschreibung hat die punktuelle Herausstellung von Erkenntnissen (oder Prozessen), eine besondere Tradition. Erst in den letzten Jahren haben einige neuere Arbeiten mit Fokus auf die Quarantänepolitik eine interdiszipli-

Teodora Daniela Sechel (Hg.), Medicine within and between the Habsburg and Ottoman empires 18th– 19th centuries, Bochum 2011. Darüber hinaus darf ich an dieser Stelle auf meine eigenen Arbeiten zu diesem Thema verweisen: Marcel Chahrour, ‚A civilizing mission’? Austrian medicine and the reform of medical structures in the Ottoman Empire, 1838–1850, in: Studies in history and philosophy of biological and biomedical sciences (2007), 687–705; Marcel Chahrour, Bildungsmissionen und Ärzteexport. Österreichischägyptische Medizinische Beziehungen im 19. Jahrhundert., in: Sonia Horn (Hg.), Wissensaustausch in der Medizin des 15. bis 18. Jahrhunderts: Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin, 1. Aufl., Sozialgeschichte der Medizin, Wien 2007, 253–277. 58 Hier sei nochmals auf Fischer-Tiné, Pidgin-Knowledge, 2013 verwiesen. 59 Erna Lesky (Hg.), Wien und die Weltmedizin. 4. Symposium d. Internat. Akad. f. Geschichte d. Medizin veranstaltet im Inst. f. Geschichte d. Medizin d. Univ. Wien, 17.–19. Sept. 1973, Bd. 9: Studien zur Geschichte der Universität Wien, Wien, Köln, Graz 1974. 57

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näre Perspektive auf das Thema der medizinischen Beziehungen zum Osmanischen Reich geöffnet.60 Die türkische Medizingeschichtsschreibung selbst war lange von den Zugängen der europäischen Medizingeschichte geprägt. Die Geschichte des medikalen Systems des 19. Jahrhunderts wurde in der heutigen Türkei als Geschichte der Verwestlichung erzählt, wobei die vorhandenen medikalen Strukturen auch in der älteren türkischen Geschichtsschreibung vorwiegend als „Hürden“ dargestellt wurden, die es zu überwinden galt. In diesem Kontext sind vor allem die Bewertung religiöser Voraussetzungen – zum Beispiel der Widerstand gegen Autopsien –, die Errichtung von aus europäischer Sicht ,,idealen“ Bildungssystemen und die Bewertung von gesellschaftlichen Voraussetzungen für Modernisierung immer wiederkehrende Themen. Der kemalistische Hintergrund dieses Forschungsansatzes erscheint unübersehbar. Erst in jüngerer Zeit haben sich MedizinhistorikerInnen bemüht, fest eingeschriebene Bewertungen osmanischer medikaler oder wissenschaftlicher Kultur zu hinterfragen61, und gänzlich neue Sichtweisen auf das medikale System des Osmanischen Reiches für eine nichttürkischsprachige Leserschaft erschlossen.62 Für die Erforschung der Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie sind solche Untersuchungen bisher noch nicht erfolgt. In diesem Sinne soll die Arbeit auch einen Beitrag dazu leisten, zu zeigen, dass die im 19. Jahrhundert eingeschlagenen Wege der „Modernisierung“ im Sinne einer „Europäisierung“ in einem starken Zusammenhang mit der Darstellung der vorhandenen medikalen Kultur durch europäische Ärzte standen. Die „Verwestlichung der Türkischen Medizin“ – so der Titel einer Veranstaltung zur Geschichte der medizinischen Beziehungen zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich in den 1980er-Jahren – war in ihrer konkreten Ausprägung nicht unbedingt der Ausdruck einer unaufhaltsamen, gleichsam „natürlichen“ Modernisierung, sondern Ergebnis eines aktiven, gewaltvollen Interventionsprozesses, der gleichermaßen von Politik wie von Wissenschaft angetrieben wurde. Betrachtet man solche Prozesse, drängt sich auch die Frage auf, welche Rolle bei der Zirkulation von Wissen um die Welt die politische Geschichte der Staaten und Völker spielt. Der Zeitraum, um den es in dieser Arbeit geht, liegt zwischen zwei Revolutionen: der französischen von 1789 und ihrer „kleinen Schwester“, der Revolution von 1848. Die Landkarte Europas erfuhr in diesem Zeitraum viele Veränderungen – die Beziehungen zwischen den medizinischen Akteuren deutscher, französischer und Besonders wertvoll waren für diese Arbeiten die Beiträge von Christian Promitzer, Stimulating the Hidden Dispositions of South-Eastern Europe. The Plague in the Russo-Turkish War of 1828–29 and the Introduction of Quarantine on the Lower Danube, in: Teodora Daniela Sechel (Hg.), Medicine within and between the Habsburg and Ottoman empires 18th – 19th centuries, Bochum 2011, 79–107 und (2018). 61 Sam White, Rethinking disease in Ottoman history, in: Int. J. Middle East Stud. (2010) und Mehmet Alper Yalcinkaya, „Their Science, Our Values“. Science, state, and society in the 19th century Ottoman Empire, [La Jolla] 2010. 62 Birsen Bulmuş, Plague, quarantines and geopolitics in the Ottoman Empire, Edinburgh 2012. 60

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englischer Sprache taten das ebenso. Die mitteleuropäische, deutschsprachige Medizin des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts schaute über ihre Grenzen, baute auf und sammelte; sowohl nach Osten hin ins Osmanische Reich als auch nach Frankreich und vor allem nach „Italien“. Kaum ein Jahr, in dem die deutschsprachigen medizinischen Medien nicht von italienischen oder französischen, auch englischen Werken berichteten, sie rezensierten und kritisierten und sie mit einer Selbstverständlichkeit behandelten, die glauben macht, man hätte es mit einer großen Familie zu tun, in der man streitet, sich belobigt und versöhnt und sich auch am anderen freut. In Norditalien hatte sich nach dem  Sieg Napoleons über Österreich ein unabhängiges Staatensystem gebildet, das zunächst zur Bildung zweier Republiken, dann einer geeinten „italienischen Republik“ und schließlich 1805 zu einem kurzlebigen napoleonischen Königreich Italien führte. Mit dem im Mailand in der dortigen Verwaltung tätigen Luigi Sacco (1769–1836) unterhielt der in Wien lebende Arzt und Impfpionier Jean de Carro 1802 einen freundschaftlichen Briefverkehr, und auch mit dem „Bürger Auban“ in Konstantinopel tauschte er sich wertschätzend aus und lobte ihn 1803 öffentlich. Den Briten sandte er seinen Kuhpocken-Virus um die halbe Welt. Man darf das Politische in diesen frühen Jahren also nicht überbewerten. De Carro ging es wie vielen Handelnden wohl um eine für ihn größere Sache: Ruhm und Ehre.63 Das 19. Jahrhundert veränderte die Akteure in ihrem Handeln miteinander aber nachhaltig. Als 1848 und danach in Alexandria über die Pest debattiert und gestritten wurde, bezogen Ärzte mit einem Mal auch klare politische Fronten: Ärzte aus dem deutschen Sprachraum sahen sich in einer Einheit mit ihren wissenschaftlichen Ansichten plötzlich als „Deutsche“, denen „unversöhnlich“ die Franzosen gegenüberstanden. Die politischen Ereignisse der Heimat, die fern war, gingen nicht mehr spurlos an der sich als objektiv verstehenden Wissenschaft vorüber. Diese Zusammenhänge zwischen Politik und Wissenschaft, die erst im Lauf des 19. Jahrhunderts virulent wurden, werden vor allem anhand des Beispiels der Debatte um die Pest greifbar. Die Pest war für die Historiographie lange „die Krankheit des Orients“ schlechthin; ihre dominante Rolle in der modernen (Krankheits-)Geschichtsschreibung wurde zuletzt mit gutem Grund hinterfragt.64 Deshalb habe ich mich entschieden, in dieser Arbeit exemplaZur hier genannten Korrespondenz von de Carro vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804. De Carros Bemühungen, die diesbezügliche Historiographie und vor allem seine Selbstdarstellung werden in Kapitel drei dieser Arbeit mit weiteren Details behandelt. 64 2010 diskutierte Sam White die Frage, ob die Bedeutung der Pest für die osmanische Geschichte nicht überdacht werden sollte, in dem für mich wichtigen Aufsatz: White, Rethinking disease in Ottoman history, (2010). White hält dabei fest, dass es eine zeitliche und eine quellenmäßige Schieflage gibt, was die Beschäftigung mit der Pest betrifft. So lag zwischen den mittelalterlichen Berichten über die Pest und den Forschungen über die Pest im Mittelmeerraum, die von den französischen Historikern Noel Biraben und Daniel Panzac vorangetrieben wurden, eine große zeitliche Kluft. Bezeichnenderweise moniert White in dem genannten Aufsatz auch, dass beinahe nur die englisch- und französischsprachigen Quellentexte (aus Reiseberichten) in die internationale Forschung Eingang gefunden haben. Von den enorem umfangreichen Quellen der deutschsprachigen medizinischen Literatur ist hier keine Rede. 63

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risch auch andere Fragestellungen zu analysieren, mit denen sich die Ärzte dieser Zeit beschäftigt haben: Die „Ägyptische Augenentzündung“, die Pocken und als Beispiel für eine medizinische Technik der Gipsverband finden in dieser Arbeit daher ebenfalls Berücksichtigung; es ist jedoch wichtig, hier im Hinterkopf zu behalten, dass auch diese Geschichten aus der Perspektive und mit dem Fokus auf die europäische Medizin geschrieben sind. Sie sagen daher mehr über die europäische Medizin als über die des Osmanischen Reiches aus. Erstere hat durch die Auseinandersetzung mit medizinischen Fragen, die mit dem „Orient“ verbunden wurden, wesentliche Impulse erhalten. Das Osmanische Reich und die von ihm abhängigen Gebiete in Nordafrika wurden im 19. Jahrhundert langsam von der europäischen Medizin durchdrungen. In Metropolen wie Konstantinopel und Handelsstädten der mittelmeerischen Welt wie (der Binnenstadt) Aleppo, Alexandria oder Smyrna (Izmir) mögen sich schon lange europäische Ärzte gefunden haben. In Ägypten sind Ärzte aus Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts anzutreffen; als Napoleon mit seinen Truppen 1798 nach Ägypten kommt, findet er bereits mehrere europäische Ärzte in Kairo vor. Die ersten europäischen Ärzte, die für den Dienst im heutigen Tunesien aktiv angeworben worden waren, kamen in den 1830er-Jahren,65 zur selben Zeit kamen Ärzte auch nach Persien.66 Österreich hatte seine Erfahrungen mit medizinischer Kolonisierung in dieser Zeit schon gemacht. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die medizinische Versorgung des heutigen Kroatiens durch zentrale Anstrengungen der Wiener Regierung verändert. Mit dem Sanitätsnormativ von 1770 war auf Initiative des Arztes und Politikers Gerard van Swieten eine einheitliche Grundlage für die Strukturierung des Medizinalwesens in den Erblanden und dem späteren „Österreichischen Kaiserstaat“ geschaffen worden. Van Swieten schickte seinen Schüler Jean Baptiste Lalangue (1743– 1799) nach Kroatien, um als Komitatsphysikus in Warasdin den Gesundheitsdienst zu reorganisieren. Lalangue kommt eine der Tätigkeit vieler österreichischer Ärzte im Osmanischen Reich vergleichbare Aufgabe zu: Er verfasste medizinische Literatur in der Landessprache, bemühte sich um die Reorganisation des Hebammenwesens und verfasste auch ein balneologisches Werk, in dem die heilenden Quellen Kroatiens behandelt wurden. In einer medizinhistorischen Schrift aus dem 20. Jahrhundert wird Lalangue deshalb als der „bedeutendste Arzt Kroatiens im 18. Jahrhundert“ bezeichnet, denn mit ihm sei „der Geist der [ersten] Wiener medizinischen Schule nach Kroatien verpflanzt worden“.67 Auch der Kampf gegen den Aberglauben ist ein Motiv dieses ProzesZur Ausbreitung der europäischen Medizin in Tunesien immer noch unverzichtbar: Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983. 66 Für Persien siehe die Arbeiten von Hormoz Ebrahimnejad, der viele Aspekte der Begegnung der europäischen Medizin mit Persien dargestellt hat. Hormoz Ebrahimnejad, Theory and practice in nineteenthcentury Persian medicine. Intellectual and institutional reforms, in: History of Science 38 (2000), 171–178. In den letzten Jahren widmete sich in Wien meine Kollegin Afsaneh Gächter dem Wirken des böhmisch-jüdischen Arztes Dr. Jacob Eduard Polak in einer Reihe von Publikationen. 67 Vgl. Lesky, Wien und die Weltmedizin, 1974, 120. 65

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ses und seiner Historiographie: 1758 wurden drei Frauen aus Kroatien nach Wien zur Untersuchung geschickt, um ärztlich feststellen zu lassen, ob sie denn Hexen seien. Der damals bekannteste und einflussreichste Wiener Mediziner Gerard van Swieten untersuchte die Frauen gemeinsam mit seinem Kollegen Anton de Haen und erklärte, dass dies natürlich nicht der Fall sei; für die Zeitgenossen war diese Feststellung ein ausdrückliches Zeichen, mit dem man sich klar von allen Arten der Irrationalität abwenden wollte. Auch in seiner bekannten Auseinandersetzung mit der Idee des Vampirismus bemühte sich van Swieten selbst um die Bekämpfung und anderer als „Aberglauben“ definierter magischer Praktiken.68 Diese Motive, die Überwindung des Aberglaubens und die Bekämpfung von Zuständen, die damit in Zusammenhang standen, lassen sich auch in der Begegnung der Wiener Medizin mit dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert wieder finden.69 Für das Osmanische Reich war Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Handelsmacht. Die 1830er- und 1840er-Jahre waren die große Zeit der österreichischen Orient-Politik. Außenminister und Staatskanzler Metternich verfolgte das Schicksal des Osmanischen Reiches nicht nur, sondern nahm wesentlichen Einfluss auf seine Entwicklung in diesen Jahren, wie zuletzt eindrucksvoll gezeigt wurde.70 Metternichs Herangehensweise war dabei nicht geringschätzend, sondern respektvoll. Metternich erwies sich als Konservativer im wahren Wortsinn: Ihm erschien das Osmanische Reich zur Aufrechterhaltung der Ordnung Europas unverzichtbar. Allein das mächtige Reich war aus Sicht der Europäer in einer Krise, der, wie man damals gemeinhin sagte, nur durch Reformen beizukommen wäre.71 Das Bild vom „kranken Mann am Bosporus“, das Teil der Historiographie des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhunderts Van Swieten als „Vampirjäger“ erfreute sich vor allem in der „Vampirrenaissance“ der Unterhaltungsindustrie der 2000er-Jahre wieder einiger Aufmerksamkeit. Das historische Vorbild schildert Norbert Borrmann, Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, 5. Aufl., Diederichs, Kreuzlingen/München 2001, 103. 69 Im Zuge der Strukturierung der medizinischen Versorgung nahm auch die Entsendung von Studierenden der Medizin nach Wien zu. Wien wurde spätestens um 1800 zu einem wesentlichen Bezugspunkt für die medizinische Ausbildung und Regulation für die Medizin im heutigen Kroatien. Dasselbe Muster wendete man wenige Jahre später im Osmanischen Reich an. Vgl. Lesky, Wien und die Weltmedizin, 1974, 121. 70 Der tschechische Historiker Miroslav Sedivý hat sich seit 2004 in einer Reihe von Publikationen mit der Rolle Metternichs in der internationalen Politik gegenüber dem Osmanischen Reich auseinandergesetzt. Ein in seinem Detailreichtum unverzichtbares Kompendium zur Österreichischen Orientpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet sein Buch: Miroslav Sedivý, Metternich, the Great Powers and the Eastern Question, 1st ed., Pilsen 2013. 71 Ein klassisches, noch immer zitiertes Werk in diesem Zusammenhang ist: Roderic H. Davison, Reform in the Ottoman Empire. 1856–1876, 2. print, New York 1973. Die früheren Reformversuche wurden in einer Vielzahl von Aufsätzen behandelt, die auch Detailprobleme beinhalten. Zur Orientierung wertvoll erwiesen hat sich: Suraiya Faroqhi, Approaching Ottoman history. An introduction to the sources, Cambridge 1999. Einen guten Überblick über die politische Geschichte des Osmanischen Reiches und die wesentlichen historiographischen Fragestellungen im für diese Arbeit relevanten Zeitraum bietet (inzwischen immer wieder neu aufgelegt): Donald Quataert, The Ottoman Empire, 1700–1922, Bd. 17: New approaches to European history, Cambridge 2000. Von den jüngeren Überblicksdarstellungen der Geschichte des Os68

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geworden ist, prägte diese europäische Sichtweise auf die osmanischen Verhältnisse.72 „Heilung“ sollten staatliche Strukturen nach europäischem Vorbild bringen. Den Veränderungen in Ägypten folgend waren die 1830er- und 1840er-Jahre für das Osmanische Reich eine Periode der „Reformen“, die den gesamten Staatsapparat durchdrangen. Dieses Eingreifen in vermeintlich Unverfälschtes erlebten auch Zeitgenossen im Sinne des Orientalismus als widersprüchlich. Nicht alle sahen diese Entwicklung übrigens positiv; der aus Europa geflohene Arzt Arnold Mendelssohn (1817–1854)73 zeigte sich in seinen in der Kölnischen Zeitung abgedruckten Briefen zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits völlig von klassisch „orientalistischen“ Vorstellungen erfasst und verurteilte die Reformen: Die „türkische Regierung und die Lebensweise der unter ihr stehenden Nationen“ repräsentiere „die Freiheit vor der Civilisation, oder wenigstens die Freiheit vor der europäischen Civilisation, während sich im Abendlande die Civilisation auf Kosten der Freiheit entwickelt“ habe. Die Liberalität der Regierung sei keine Schwäche, sondern vielmehr eine Folge des Mangels an Organisation und des Widerstandes gegen die europäische Zivilisation.74 Ähnliche Ansichten vertraten einige der Altersgenossen Mendelssohns; der Orientalismus hat in der Romantik und ihrem utopischen Liberalismus zwei wichtige Verwandte. Der aus den romantischen Ideen erwachsenen hier vorgestellten „orientalischen Freiheit“ stand das Umsichgreifen einer europäisch geprägten Ordnung gegenüber, einer Ordnung, deren Aufrechterhaltung und Verstärkung eines der wesentlichsten Kennzeichen des europäischen Ausgreifens auf den „Orient“ im 19. Jahrhundert werden sollte. Die unter europäischem Einfluss und mit europäischem Nachdruck durchgesetzten Ordnungen begannen nach und nach, tief ins Alltagsleben der Bewohner des Osmanischen Reiches einzugreifen. Strukturen, Reglements, Gesetze und Verwaltungen markierten die wichtigsten Eckpfeiler dieses technischen Zivilisationsbegriffs, der sich im Europa im 18. Jahrhundert entwickelt hatte. Mahmud II. ließ eine Volkszählung durchführen, organisierte die Provinzverwaltung des Osmanischen Reiches neu, ließ neue ständige Vertretungen des Osmanischen Reiches in Europa einrichten und gründete die erste offizielle Zeitung, den in französischer Sprache verfassten „Moniteur Ottomane“, der bald von einer türkischen

manischen Reiches im Ganzen besonders brauchbar ist vor allem das in deutscher Übersetzung 2018 erschienene: Douglas A. Howard, Das Osmanische Reich. 1300–1924, Darmstadt 2018. 72 Die Aussage, dass es sich beim Osmanischen Reich um einen „kranken Mann“ handle, wird dem russischen Zar Nikolaus I. zugeschrieben. 73 Arnold Mendelssohn (1817–1854) war der Cousin des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Er floh 1849 aus Europa, allerdings nur indirekt aufgrund der Revolution, sondern eigentlich nach einer gerichtlichen Verurteilung aufgrund eines unbedeutenden Diebstahls. Über Intervention Alexander von Humboldts kam er frei und trat nach einem Aufenthalt in Österreich in osmanische Dienste. Er starb 1854 im Zuge des Krimkriegs in der heutigen Türkei. 74 Ilse Rabien, Dr. med. Arnold Mendelssohn und seine „Levantinischen Briefe“, in: Mendelssohn-Studien 13 (2003), 177–200, hier: 191.

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Zeitung, „Takvim-i vekayi“, gefolgt wurde.75 Manche Veränderungen lagen mehr an der Oberfläche. Die vielleicht bekannteste Reform im Alltagsleben des Osmanischen Reiches dieser Zeit war die Einführung des Fez anstelle des bisher üblichen Turbans. Unter Sultan Mahmud II. wurde der Fez – eine ursprünglich aus Marokko stammende Hutform – zur verpflichtenden Kopfbedeckung für Staatsbedienstete im Osmanischen Reich. Der Fez wurde damit zu einem äußeren Symbol der Veränderung, die auf den „Orient“ auszubreiten Europa bestrebt war.76 Noch eine Maßnahme sollte die weitere Entwicklung der Öffnung des Osmanischen Reiches für westliche Einflüsse entscheidend beeinflussen: die Einrichtung eines staatlichen Übersetzungsbüros, das eigentlich nur den Verkehr mit den Vertretern der europäischen Mächte erleichtern sollte. In dem Büro wurde neben der regulären Arbeit Unterricht in Französisch, Geschichte, Arithmetik und anderen Fächern gegeben, was die Einrichtung zu einer wichtigen Bildungsstätte für den politischen Nachwuchs einer neuen Generation osmanischer Spitzenbeamter und Politiker machte, die ihren Blick auch nach dem Ausscheiden aus dem Büro nach Europa gerichtet hielten. Das Büro, ebenso wie die 1839 neu ausgerichtete Medizinische Schule, die 1838 eröffnete Schule für die Ausbildung von Staatsbediensteten und die militärischen Bildungsreinrichtungen öffneten mit ihrer Betonung des Französischen dem europäischen Gedankengut den Zugang zu einer neu entstehenden technokratischen Oberschicht. Gleichzeitig – und das sollte für die Stellung der Europäer vor allem im Osmanischen Reich und Ägypten bestimmend werden – gelang es den europäischen Mächten, ihre Untertanen in diesen Ländern und auch all jene, die sich dem Schutz eines ihrer Konsulate unterstellten, dem unmittelbaren Einflussbereich der lokalen Verwaltung zu entziehen. Die zwischen dem Osmanischen Reich (und Ägypten) und den europäischen Mächten ab Beginn der 1840er-Jahre geschlossenen „Kapitulationen“ sahen vor, dass Europäer betreffende Gerichtsverfahren vor eigens eingerichteten Konsulargerichten stattzufinden hatten, die unter direkter Kontrolle der europäischen Diplomatie standen.77 Mit dem Beginn der oben erwähnten Reformen und unter dem Schutz der durch die sogenannten „Kapitulationen“ garantierten Rechtssicherheit kamen viele Europäer in das Osmanische Reich. Konstantinopel zählte 1846 über 800.000 Einwohner, worunter sich nach den bei einem österreichischen Autor der damaligen Zeit veröffentlichten Angaben der ersten damals durchgeführten Volkszählung 1.851 „ÖsterreiVgl. Davison, Reform in the Ottoman Empire, 1973, 27. Die Tanzimatzeit behandelte handbuchartig zuletzt übersichtlich: Carter Vaughn Findley, The Tanzimat II, in: Resat Kasaba (Hg.), Turkey in the modern world, 1. publ, Cambridge 2008, 9–37. 76 Zum Fez und zu seiner Bedeutung als österreichisches Exportgut siehe v. a. die Dissertation: Markus Purkhart, Die österreichische Fezindustrie, Univ. Diss., Universität Wien, Wien 2006. Darin wird aufgezeigt, dass Österreich den Markt für dieses wesentliche Exportgut so gut wie vollkommen dominierte. 77 Davison, Reform in the Ottoman Empire, 1973, 29. Die Auswirkungen der Ausweitung der Konsulargerichtsbarkeit sind für den medizinischen Bereich noch kaum untersucht. 75

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cher“ befanden. „Österreicher“ – welcher Sprache auch immer – bildeten damals die größte europäische Kolonie. Zum Vergleich: Man zählte 825 Franzosen, 876 Russen, 405 Sardinier, 247 Neapolitaner, 211 Toskaner, 310 Engländer, 182 Belgier, 144 Preußen. Österreich fallen in dieser Zeit auch viele Angehörige deutscher Kleinstaaten zu, die sich dem österreichischen Schutz unterstellten, und auch viele, die heute wohl eher als Italiener bezeichnen werden würden.78 Diese Mischung gereichte Österreich aber keineswegs zum Nachteil. Moritz Wagner (1813–1887) aus Bayern unternahm Mitte der 1840er-Jahre eine Reise nach Persien und Kurdistan, von der er in zwei Büchern berichtete. Das erste Kapitel seines Buches „Reise nach Persien und dem Lande der Kurden“79 enthält eine sehr aufschlussreiche Abhandlung über die österreichische Orientpolitik. Wagner, der für die Augsburger Allgemeine Zeitung80 schrieb, traf Metternich vor seiner Abreise aus Europa, um von ihm Empfehlungsschreiben für das Osmanische Reich zu bekommen. Gleichzeitig seine Distanz zur politischen Grundhaltung Metternichs betonend, bezeichnete er sich doch als Freund der Habsburgermonarchie und forderte eine aktive Orientpolitik des Kaiserstaates ein.81 Österreichs Aufgabe sah er Anfang der 1850er-Jahre klar als die des Kulturbringers für den „Orient“: Noch mehr als seine geographische Lage beruft Österreich seine deutsche Bildung und Tüchtigkeit zur Rolle des Völkerführers an der östlichen Donau. Im Westen dem conservativen System huldigend, ist seine Aufgabe nach dem Orient entschieden eine progressive. Dort soll es Propaganda machen für abendländische Cultur und Gesittung. Nur wenn es letztere Aufgabe zugleich erfüllt, genügt Österreich seiner historischen Mission und überzeugt die Welt von der Notwendigkeit der Existenz und macht eines aus so verschiedenen Nationalitäten gemischten Staates.82 Die vorherigen Zahlen folgen der zeitgenössischen Aufstellung von Lorenz Rigler, Die Türkei und deren Bewohner in ihren naturhistorischen, physiologischen und pathologischen Vehältnissen vom Standpunkte Constantinopels geschildert, Wien 1852, 141. Ausführlich beschäftigt sich mit den Fragen der österreichischen Konsularverwaltung die von Rudolf Agstner begründete und von Elmar Samsinger herausgegebene Schriftenreihe „Österreich in Istanbul“ und insbesondere der zweite Band, der auch einen Abdruck der für österreichische Untertanen geltenden Konsularbestimmungen beinhaltet: Elmar Samsinger/Rudolf Agstner, Österreich in Istanbul, Bd. 13: Forschungen zur Geschichte des österreichischen Auswärtigen Dienstes, Wien 2017, 453–462. Der zuletzt erschienene Band Elmar Samsinger (Hg.), Österreich in Istanbul III: K. (u.) K. Präsenz im Osmanischen Reich. With Abstracts in English. Türkçe özetler ile, Bd. 14: Forschungen zur Geschichte des österreichischen Auswärtigen Dienstes, Wien 2018 setzt einen besonderen Schwerpunkt auf die Medizin in Istanbul; zur Zusammenstellung der in Elmar Samsingers Beitrag vorkommenden Ärzte durfte ich grundlegende Informationen beitragen. 79 Moritz Wagner, Reise nach Persien und dem Lande der Kurden, Leipzig 1852. 80 Zur Nähe der Augsburger Allgemeinen Zeitung zum Osmanischen Reich vgl. die ausführliche Monographie: Steffen L. Schwarz, Despoten – Barbaren – Wirtschaftspartner. Die Allgemeine Zeitung und der Diskurs über das Osmanische Reich 1821–1840, Köln/Wien 2016. Der Journalist Wagner hatte in den 1830erJahren auch schon Algier bereist. 81 Wagner sah Russlands Einfluss auf Kosten des schwachen Osmanischen Reiches immer weiter fortschreiten, während Österreich mehr oder weniger tatenlos zusehen musste. Metternichs Orientpolitik bezeichnete er als größten Fehler im System. Wagner, Reise nach Persien und dem Lande der Kurden, 1852, 39. 82 Ebd. 78

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Auch der Arzt und Naturforscher Karl Heinrich Koch (1809–1879) nannte die Österreicher dank ihrer zurückhaltenden Diplomatie zu dieser Zeit als das im „Orient“ beliebteste Volk, denn während „der Türke“ „den Engländer“ und „den Russen“ hasse, sei er dem Österreicher mit Liebe zugetan. Dies nicht zuletzt, weil sich Österreich gegenüber dem Osmanischen Reich und seinen Bewohnern im Gegensatz zu Frankreich und England uneigennützig gezeigt habe. Mehr als einmal wurden mir auf der Reise Beweise meiner Behauptung dargeboten, und mitten im pontischen Gebirge hörte ich einen früheren Räuberchef mit Achtung von Österreich sprechen. In Artwin am unteren Tschorok freue sich ein Angesehener des Ortes, einen Nemtsche zu begrüssen, da dieser zu dem einzigen Volke gehöre, das es gut mit den Türken meine.83

Das war der Spiegel, in den der deutschsprachige Besucher in den 1840ern blickte, wenn er das Osmanische Reich besuchte. Das Bild, das er dem britischen Besucher abgab, war anders: The Viennese are materialisty, if more properly speaking, senualists. Eating, drinking, smoking, dancing, and music form their enjoyments: withal they are an excellent hearted, placid-tempered people, and are perhaps the happiest in the world: They have passed the semi-barbarism of Asia, and have stopped short of the over-refinement of Europe. I doubt however, if anybody accustomed to the excitement and intelligence of England and France would like their society for a continuance.84

Wer diese Wiener waren, denen der britische Admiral Adolphus Slade (1804–1877) begegnet war, ist schwer zu sagen. Ungarn, Kroaten, Tschechen, Juden, Steirer, Tiroler und sogar Griechen: Die Identität der Menschen zu definieren, die Wien als ihren Wohnort oder Bezugspunkt sahen, ist heute nur mehr retrospektiv rekonstruierbar. Ein in Graz geborener Mann wie Lorenz Rigler (1815–1862), der in Wien studierte und lange im Osmanischen Reich arbeitete: Ist er ein Steirer, ein Österreicher oder doch zunächst ein Deutscher, wie es viele Zeitgenossen sahen? Wie verhält es sich mit Jean de Carro, einem gebürtigen Schweizer, der in Wien lebte und hier arbeitete, aber französisch schrieb? Diese Arbeit nimmt es, zumindest wenn man die biograhischen Eckdaten wie Geburts- und Sterbeort einer Person heranzieht, nicht immer ganz genau mit der Zuschreibung „Österreich“. Mit Thomas Winkelbauer möchte ich davon sprechen, dass unter Österreich bis 1918 „in etwa jener Raum verstanden [werden kann], der von einem oder mehreren auf dem Boden der heutigen Republik Österreich gelegenen politischen, sozialen und kulturellen Zentren aus beherrscht oder jedenfalls maßgeblich beKarl Heinrich Emil Koch, Wanderungen im Oriente, während der Jahre 1843 und 1844, Weimar 1846, 119. Koch gilt heute als bedeutender Botaniker und Begründer der Dendrologie. 84 Adolphus Slade, Travels in Germany and Russia. Including a steam voyage by the Danube and the Euxine from Vienna to Constantinople in 1838–39, London 1840, 93. 83

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einflusst wurde“85. Richtschnur für die Berücksichtigung in dieser Arbeit war die Zuordenbarkeit der handelnden Personen zum „Medizinischen Wien“ des 19. Jahrhunderts. Wer hier wirksam werden konnte, hat Platz in dieser Arbeit. Mit dem Krimkrieg endete Österreichs Einfluss in Konstantinopel abrupt. Bis Anfang der 1860er-Jahre waren sowohl aus dem Osmanischen Reich selbst als auch aus Ägypten die meisten österreichischen Ärzte, die sich dort in den 1840er- und frühen 1850er-Jahren in einflussreichen Funktionen befunden hatten, wieder nach Europa zurückgekehrt. Den „Medizinischen Orient“ brachten sie mit.

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Thomas Winkelbauer, Geschichte Österreichs, 3. aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart 2018, 11.

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Die Geschichte des Gipsverbands Außereuropäisches Wissen in den Händen von „Reformern“ und „Orientalisten“

Wissen und kulturelle Praxen aus dem Osmanischen Reich, dem „Orient“, prägen unseren Alltag bis heute. Die „Orient-Moden“ der frühen Neuzeit in Europa und besonders des 18. und 19. Jahrhunderts brachten Tulpen, Blasmusik und Kaffee; letzterer leistete einen bedeutenden Beitrag zur Ent-Alkoholisierung der europäischen Gesellschaft: Die neuen Genussmittel Tee und Kaffee (der im 16. Jahrhundert aus der arabischen Welt nach Konstantinopel und von dort im 17. Jahrhundert nach Europa kam) veränderten die Alltagstrinkgewohnheiten und das soziale Leben. Mit der Kultur des „Kaffeehauses“ fand das intellektuelle Bürgertum Ende des 19. Jahrhunderts einen wesentlichen Bezugspunkt.1 Nicht alle Praxen dieser Art und Übernahmen von Wissen sind als solche ausgewiesen. Indigenes Wissen aus der außereuropäischen Welt wurde im Zeitalter der „Orientalisten“ breitest rezipiert, seine Aufnahme war im deutschen Sprachraum eine Zeit lang um 1800 sogar richtiggehend Programm, wenn man den Reiseanleitungen des Grafen Leopold von Berchtold (1759–1809) glauben möchte, der eindringlich forderte, dass nützliche Fakten auf Reisen gesammelt und der Welt mitgeteilt werden müssten  – zu ihrer Verbesserung.2 Auch der Gipsverband ist ein solches Produkt europäischer Lernbereitschaft. Seine Geschichte geriet jedoch in Vergessenheit. Der Gipsverband zählt bis heute zu den bekanntesten Therapiemethoden der Chirurgie. Wenn ein Knochen bricht, so braucht er Stabilität und Ruhe, um wieder zu-

Nina Berman, Historische Phasen orientalisierender Diskurse in Deutschland., in: Iman Attia (Hg.), Orient- und IslamBilder: Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, 1. Aufl., Münster 2007, 71–84, hier: 76. 2 „Anweisung für Reisende, nebst einer systematischen Sammlung zweckmässiger und nützlicher Fragen.“ Sein Buch erschien 1789 in englischer Sprache als: „Essay to direct and extend the Inquieries of patriotic Travellers etc.“ (London 1789, 2 Bde.). Vgl. dazu Bernard, Österreicher im Orient, 1996, 3. 1

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sammenwachsen zu können. Man bekommt „einen Gips“3. Diese Fixierung muss, das wussten Heilkundige schon lange, so konstant wie möglich sein, wenn das Ziel einer möglichst vollständigen Wiederherstellung erreicht werden sollte. Das Wissen um diese Tatsache ist wohl so alt wie die Heilkunde selbst; die Methoden, dies zu erreichen, wandelten sich aber im Lauf der Jahrhunderte. Das Mittel der Wahl, um diesen Zweck zu erreichen, war für europäische Heilkundige über Jahrhunderte das Anlegen von Schienen, das Verbinden mit Stoff und das Ruhigstellen durch stilles Liegen der Patienten, doch das war in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. Die meisten dieser Verbände stellten nicht wirklich ruhig, weil es sich nur um mechanische Verbindungen handelte, die mit der Zeit an Festigkeit verloren. Und wer konnte schon stundenlang bewegungslos liegen? Erst die Einführung des Gipsverbandes als Therapiemethode etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts brachte eine wesentliche Verbesserung. Der „Gips“ ist bis heute, wiewohl technisch verbessert, ein Standard. Medizingeschichtliche Abrisse beschreiben die Einführung des Gipsverbandes Mitte des 19. Jahrhunderts entlang der Publikationen von europäischen Ärzten (und Chirurgen). Im Allgemeinen wird die Einführung der Anwendung des Gipsverbandes auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert, die Erzählung der wesentlichen Schritte dieser Entwicklung folgt dabei immer demselben Schema. Ein einfaches Beispiel mag das illustrieren: Im britischen „Journal of Bone and Joint Surgery“, einer Fachzeitschrift für orthopädische Chirurgie, wurde die Entwicklung des Gipsverbandes im Rahmen eines historischen Rückblickes im Jahr 2011 wie folgt beschrieben: Der französische Chirurg Dominique Jean Larrey (1766–1842) habe im Zuge der Schlacht von Borodino 1815 [sic!]4 beobachtet, dass die Wundheilung durch einen steifen Verband, der mit Alkohol und Ei versetzt worden war, verbessert werden konnte. Seine Beobachtung wurde durch den belgischen Chirurgen Louis Joseph Seutin (1793–1862) weiterentwickelt, der bei Waterloo Verwundete behandelte. Er tränkte seinen Verband in Stärke und verwendete Karton zur weiteren Verfestigung. Diese Methode erwies sich aber als unpraktisch, da die Masse zwei bis drei Tage zum vollständigen Trocknen benötigte. Erst der niederländische Militärchirurg Antonius Mathijsen (1805–1878) habe einen schnell trocknenden Verband entwickeln können. Er habe seine Binden aus rauem Leinen mit Gips in Pulverform verstärkt und durch Aufbringen von Wasser innerhalb von 8 bis 10 Minuten zum Trocknen gebracht. Zum Durchbruch sei die Erfindung des Niederländers im Krimkrieg 1850 [sic!]5 gekommen, als der russische Arzt Nikolai Pi-

Gips ist ein Mineral aus der Mineralklasse der Sulfate, das bereits in der Jungsteinzeit in Mesopotamien für das Handwerk eingesetzt wurde. Bezeichnenderweise sprechen wir bei der chirurgischen Anwendung heute immer noch vom „Gips“, obwohl der Gips zum Teil in der modernen Chirurgie schon durch andere Materialien ersetzt wurde. 4 Die Schlacht von Borodino fand 1812 im Rahmen von Napoleons Feldzug nach Russland statt. 5 Krimkrieg: 1853–1856. 3

Die Geschichte des Gipsverbands

rogoff (1810–1881) die Nützlichkeit der schnelltrocknenden Wirkung im Krieg erkannte. Diese Erzählung kann man mit geringen Variationen in vielen medizingeschichtlichen Publikationen finden.6 Es ist eine klassische Heldengeschichte der europäischen Medizin des 19. Jahrhunderts, mit der auch die üblich gewordenen Ehrenbezeugungen einhergehen: Der königlich niederländische Oberstabsarzt Mathijsen wird bis heute in den Niederlanden denkmalhaft verehrt. Das wichtigste Militärspital des Landes war bis zu seiner Zusammenlegung mit einem anderen Krankenhaus nach ihm benannt. Mathijsen selbst war eher ein Außenseiter der Wissenschaft; er saß auf keinem prominenten Lehrstuhl und hatte eine spezielle Anwendung von Gips bei Knochenbrüchen im Jahr 1852 als langjähriger Praktiker publiziert. Die von ihm vorgeschlagene Anwendung von mit Gips versetzten Stoffbinden verbreitete sich ungeachtet seiner Außenseiterstellung mit hoher Geschwindigkeit. Damit ging auch die Verankerung Mathijsens als „Erfinder“ des Gipsverbandes schlechthin einher. Eine der frühesten Zuschreibungen der Erfindung des Gipsverbandes an Mathijsen geht auf das Vorwort in Pirogoffs 1854 in Leipzig erschienener Schrift „Klinische Chirurgie. Eine Sammlung von Monographien oder die wichtigsten Gegenstände der praktischen Chirurgie“ zurück.7 Der zu dieser Zeit bereits sehr erfahrene Chirurg Pirogoff schreibt darin lapidar: „Vor kurzem hat man in Belgien [sic!] den Gypsverband vorgeschlagen der in einigen Beziehungen offenbar mehrere Vorteile verspricht.“8 Die Technik sei sehr wohl noch zu verbessern, aber immerhin. Pirogoff analysierte in seiner Schrift ganz ausführlich Vor- und Nachteile des „Gypsklebeverbandes“ gegenüber dem bisher dem Stande der Technik entsprechenden „Kleisterverband“, für den der Belgier Seutin aufs Heftigste unter den europäischen Gelehrten warb. Pirogoff glaubte nicht an den Kleisterverband, vor allem wenn es um militärischen Einsatz ging. Der Kleisterverband war mühsam herzustellen, da man dafür in der Regel kochendes Wasser und je nach Rezeptur auch Eier oder andere manchmal schwer zu beschaffende Bindemittel benötigte. Gerade am Rande eines Schlachtfeldes war das oft kaum zu finden. Der Gipsverband dagegen erschien Pirogoff leichter zu handhaben. Auch wenn die Vorbereitung der Binden mühsam sei und die Aufbringung schwie-

Vgl. S-A Phillips/L. C. Biant, The instruments of the bonesetter, in: The Journal of bone and joint surgery. British volume 93/1 (2011), 115–119, hier: 115–117, doi: 10.1302/0301-620X.93B1.25628. 7 Nikolaus Pirogoff, Klinische Chirurgie. Eine Sammlung von Monographien über die wichtigsten Gegenstände der praktischen Chirurgie. Der Gypsklebeverband bei einfachen und complicirten Knochenbrüchen und in seiner Anwendung beim Transport Verwundeter und auf dem Schlachtfelde, Leipzig 1854, 6. 8 Ebd., 7. Der Welser Unfallchirurg und Hobby-Historiker Fritz Povacz sah in seiner 1999 erstmals erschienenen, vielfach rezipierten „Geschichte der Unfallchirurgie“ Pirogoff als parallelen Erfinder des Gipsverbandes. Fritz Povacz, Geschichte der Unfallchirurgie, Berlin/Heidelberg 2013, 126. Hier zeigt sich sehr gut, wie sehr die Medizingeschichte selbst mit dem Konzept der Zuschreibung der „Priorität“ an einen bestimmten „Erfinder“ zu kämpfen hat. Povacz’ Buch gibt ansonsten eine sehr klassische, für eine Einführung in die Thematik aber sehr lesbaren Überblick über die Entwicklung aus medizinischer Sicht. 6

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Die Geschichte des Gipsverbands

rig, so würden insbesondere die Tatsachen, dass für die Anwendung kein kochendes Wasser notwendig sei und auf eine lange andauernde manuelle Extension verzichtet werden könne, für den Gips sprechen. Gerade wenn es um die schnelle Versorgung von Brüchen ging, war der schnell aushärtende Gips von Vorteil. Er benötigte wenig zusätzliche manuelle Unterstützung bei der Streckung der beiden Knochenteile, sondern bot selbst innerhalb von Minuten Halt. Auch äußere Verletzungen, die mit dem Bruch einhergehen, konnten nach Pirogoff durch einen solchen Gipsverband behandelt werden. In den frisch angelegten Gipsverband wurde einfach ein entsprechend großes Loch geschnitten, durch das die Atmung der Wunde sichergestellt werden könne. Soldaten, die nahe ihrem Verwundungsort versorgt würden, konnten innerhalb kürzester Zeit verlegt werden. Pirogoff hielt sich nicht lange mit der Geschichte der Entwicklung dieser Technik auf. Die Publikation Mathijsens, war ihm offenbar bekannt, das mag an Literatur gereicht haben. Dem praktizierenden Arzt war an der Weiterentwicklung einer zentralen Behandlungstechnik gelegen. Einen Hinweis darauf, wie naheliegend dieser Gedanke eigentlich sei, wollte er dennoch nicht unterdrücken: Schon längst sei es den Bildhauern bekannt gewesen, dass Leinwand mit Gipslösung bestrichen einigermaßen steif werde und jede ihr gegebene Biegung und Faltung beibehalte. Er selbst habe dieses einfache und jedem Gipsformer und Bildhauer bekannte Verfahren bei jedem noch so komplizierten Bruche angewendet, teilte Pirogoff seiner Leserschaft mit, nicht ohne zu betonen, dass er den Umgang mit Gips bei dem Bildhauer Stepanoff kennengelernt habe, der ihm auch einige andere „Kunstgriffe der Gypsmodellirkunst“ vermittelt habe.9 2.1

Die „Erfindung“ des Gipsverbandes und die Verbreitung von Idee und Urheberschaft

Der Niederländer Anton Mathijsen10 sah sich selbst als Erfinder des Gipsverbandes. 1860 wurde eine größere Publikation Mathijsens ins Deutsche übersetzt. Im Vorwort zu dem Buch heißt es: „In den beiden Abhandlungen zu der von mir erfundenen Methode, welche ich in den Jahren 1852 und 1854 herausgegeben habe, sprach ich die Vermutung aus, der Gypsverband sei wahrscheinlich noch vieler Modifikationen und Verbesserungen fähig. Die Erfahrung hat diese Annahme bald gerechtfertigt.“11 Tatsächlich brachte die breite Anwendung erste Schwierigkeiten und Probleme. Mathijsen wurde 1852 nach Venlo versetzt, wo er den dort niedergelassenen Arzt Johan Peter Hubert van de Loo

9 Pirogoff, Klinische Chirurgie. Eine Sammlung, 1854, 7f. 10 Der Name findet sich in der Literatur in verschiedenen

Schreibweisen, u. a. Mathyasen (z. B. bei Povacz, Geschichte der Unfallchirurgie, 2013, 125–127). Die hier gewählte Schreibweise entspricht der niederländischen. 11 Antonius Mathijsen/Petrus Bernardus Bergrath, Abhandlung ueber den Gypsverband, Leipzig 1860, 9.

Die „Erfndung“ des Gipsverbandes und die Verbreitung von Idee und rheberschaft

kennen lernte.12 Van de Loo, dem Mathijsen den Gipsverband 1853 demonstriert hatte, bemühte sich aus einer eher peripheren Position in der medizinischen Wissenschaft – zunächst offenbar gemeinsam mit Mathijsen – die Methode bekannt zu machen. Im Namen Mathijsens unternahm er Reisen zu den von ihm selbst so bezeichneten „Coripheen“ seiner Zeit, schrieb Briefe und Gegendarstellungen, wann immer sich ihm ein Kritiker in den Weg stellte, und hatte wohl auch mit der einen oder anderen Demütigung zu kämpfen. Insbesondere der Belgier Louis Joseph Seutin, der 1834 nochmals einen verbesserten Kleisterverband vorgestellt hatte, schien  – wenn man den Ausführungen van de Loos glauben möchte – dem neuen Gipsverband besonders kritisch gegenüber gestanden zu sein. In Belgien verwarf eine medizinische Kommission Mathijsens Vorschlag einer neuen Methode und erklärte, dass Seutins Kleisterverband den Gipsverband bei Weitem übertreffe und Mathijsens Anwendung in Vergessenheit geraten würde. Erst durch die Intervention van de Loos, der nach Brüssel reiste und dort selbst die Anwendung demonstrierte, kam es zum Meinungsumschwung.13 Zu der Zeit, als Mathijsen seinen Verband publizierte, waren auch die Wiener Chirurgen noch Anhänger des Kleisterverbandes. 1852 schreibt der Wiener Chirurg Carl Cessner in seinem  Handbuch der chirurgischen Instrumenten- und Verbandlehre, dass in Wien fast ausschließlich der Kleisterverband angelegt werde.14 An der Wiener Klinik wurden dafür Rollbinden verwendet, die zunächst um das gebrochene Glied gewickelt wurden und dann mit Kleisterstreifen in Längsrichtung verbunden wurden.15 Der anfängliche Widerstand in Belgien hielt van de Loo und Mathijsen nicht davon ab, energisch für die von ihnen verwendete Technik einzutreten. In einem Schreiben an die medizinischen Gesellschaften von Wien, Paris, Berlin und Petersburg argumentierte van de Loo all die Vorteile, die dem Gipsverband gegenüber den bisher üblichen Möglichkeiten zur Fixierung von Brüchen zukamen. Am Ende seiner Ausführungen verstieg sich van de Loo zu einer euphorischen Feststellung: Ich erlaube mir daher zu behaupten, […] dass dieser Gipsverband – einmal seinem wahren Werte nach anerkannt – der einzige sein wird, den man in ganz Europa anwendet! […] Meine Herren, wollen Sie eine so kühne Sprache nicht mißdeuten; aber der heiße Wunsch, von der Unübertrefflichkeit des Verbandes, welche für mich eine ausgemachte Wahrheit ist, auch Sie zu überzeugen und Jene zu bekehren, welche in Vorurtheilen befangen sind, zwingen mich, im Interesse der leidenden Menschheit, so wie im Interesse der chirurgischen Wissenschaft, solche Ausdrücke zu gebrauchen. Ich fühle, es ist nicht genug zu sagen, dass dieser Verband in ganz Europa angenommen werden wird; sondern ich muss noch weiter

Vgl. G. J. Bremer, The plaster of Paris bandage. Its invention by Antonius Mathijsen and its first applications, 1st ed., Nieuwkoop 1962, 14. 13 Vgl. ebd., 15. 14 Vgl. C. J. Cessner, Handbuch der chirurgischen Instrumenten- und Verbandlehre, 1. Aufl., Wien 1852, 319. 15 Vgl. ebd. 12

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gehen, obwohl ich Anstand nehme, es zu thun. Da es jedoch meine innigste Überzeugung ist, und da ich nichts zurückhalten will, so spreche ich meine Meinung dahin aus, dass dieser Verband nicht nur in Allem und überall angewendet werden wird, sondern auch, dass die Chirurgie in Bezug auf die Verbandarten der Knochenbrüche bei diesem Gipsverbande stehen bleiben wird und dass diese Methode, wenn sie gleich in der Ausführung verändert und vervollkommnet werden kann, nichts mehr zu wünschen übrig lässt, daher auch nie durch eine andere verdrängt werden wird. Das ist meine Überzeugung.16

Van de Loos überschwängliche Begeisterung über die als eigene Leistung verstandene Entwicklung ist symptomatisch für den Geist der europäischen Medizin jener Zeit. 1854 berichtete man in Wien in der k. k. Gesellschaft der Ärzte erstmals über die bis dahin auf Basis der Mitteilungen van de Loos gesammelten Erfahrungen mit dem Gipsverband. Der Berichterstatter der Gesellschaft antwortete auf van de Loos Schreiben: Gestützt auf die früher angeführten eigenen Erfahrungen, welche durch anerkennende Mittheilungen befreundeter Fachgenossen nicht unbedeutend noch vermehrt wurden, erlaube ich mir hiermit meine volle Überzeugung dahin auszusprechen, dass die chirurgischen Heilapparate für Knochenbrüche, Glenksentzündungen, Verkrümmungen usw. durch den Gipsbindenverband des Hrn. Dr. Mathijsen der leidenden Menschheit und der Wissenschaft einen sehr schätzbaren Dienst geleistet hat, endlich dass Hr. Dr. van der Loo [sic!] besonders durch seine Bemühungen im Interesse der Wissenschaft und der Wahrheit, durch seinen von keinen Hindernissen gebeugten Muth, durch seine bewunderungswürdige Ausdauer in seinem Bestreben, die Erfindung des Hrn. Dr. Mathijsen zur allgemeinen Kenntnis und verdienten Geltung zu bringen, sich den Dank der chirurgischen Heilkünstler im hohen Grade verdient hat.17

Der Gipsverband blieb bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Der weithin bekannte Wiener Chirurg Johann von Dumreicher (1815–1880) nannte den Gipsverband nach seinen Erfahrungen in den Feldzügen von 1866 einen „Faulenzer“, da er die Feldchirurgen dazu verleitete, notwendige Eingriffe zu unterlassen und stattdessen sofort zu „gipsen“ und die solcherart ruhiggestellten Verwundeten schleunigst abzutransportieren. Dumreicher hatte schon 20 Jahre früher gegen den Kleisterverband Bedenken geäußert, da die Fixierung des Bruches seiner Ansicht nach der Herausbildung der „heilsamen“ Entzündung hinderlich sei. Diese Entzündung sei für das Zusammenwachsen der Glieder

Van de Loo gibt den Text seines Schreibens in einem späteren Buch selbst wieder: Johan Peter van de Loo, Der unmittelbar amovo-inamovible Gipsverband und Tricot-Gipsverband. Die zweckmäßigen Verbände und einzig richtige Verband-Methode, welche allen Anforderungen entspricht, Köln [u. a.] 1876, 77. 17 Ebd., 87. Berichterstatter der Gesellschaft war, in einer sechsköpfigen Kommission, der bereits genannte Chirurg Cessner. Dazu: Povacz, Geschichte der Unfallchirurgie, 2013, 127. 16

Die „Erfndung“ des Gipsverbandes und die Verbreitung von Idee und rheberschaft

aber unabdingbar.18 Vor allem van de Loo kämpfte in zahlreichen wissenschaftlichen Schriften gegen solche Aussagen und um das Ansehen jener Weiterentwicklung der europäischen Chirurgie, die seinem Landsmann Mathijsen und ihm zugeschrieben wurde. Van de Loo hatte besonders dem Schreiben der Wiener k. k. Gesellschaft der Ärzte große Bedeutung beigemessen. Wie er selbst in einer späteren Schrift festhielt, hatte er durch dieses erste Antwortschreiben einer angesehenen wissenschaftlichen Gesellschaft die Legitimation erhalten, die Priorität der „Erfindung“ für sich beziehungsweise seinen Kollegen Mathijsen in Anspruch zu nehmen und damit die Geltung „der leidenden Menschheit und der Wissenschaft einen sehr schätzbaren Dienst erwiesen zu haben“. Die Verbreitung der wissenschaftlichen Methode „Gipsverband“ wurde ab da im europäischen Wissenschaftskontext mit der Person Mathijsen verbunden. Durch die Bindung einer bestimmten Praxis an eine Erfinderpersönlichkeit wird die Entwicklungsgeschichte dieser Praxis überlagert. Wer sich zunächst mit dem Thema beschäftigt, könnte glauben, dass Mathijsens Technik tatsächlich das Produkt einer genialischen Eingabe gewesen sei. Doch die Perspektive der „Erfinder“ auf die Vorgeschichte ihrer „Erfindung“ war weit differenzierter. Das Wissen darum ist einem Streit zwischen van de Loo und Mathijsen zu verdanken, der sich schon früh ereignet haben dürfte. Die von den beiden publizierte Idee hatte sich rasch verbreitet. Mit diesem Durchbruch mehrten sich aber auch die Kritiker an der Methode, da es immer wieder zu Komplikationen kam, die erst durch schrittweise Verbesserungen ausgemerzt werden konnten. Bereits im Jahr 1854 trennten sich vielleicht deswegen die Wege der beiden. Van de Loo, der sich die Weiterentwicklung der Methode offenbar zur Aufgabe gemacht hatte, versuchte rückblickend im Jahr 1876, seine Weiterentwicklungen von der ursprünglichen „Erfindung“ Mathijsens abzugrenzen. Viele der inzwischen beobachteten Komplikationen bei der Anwendung des Gipsverbandes seien der ursprünglichen Anwendung nach Mathijsen zuzuschreiben. Er selbst habe bereits wesentliche Verbesserungen vorgeschlagen, die solche Komplikationen verhindern würden. Dieser Streitschrift eines Enttäuschten kann man auch entnehmen, dass den Ärzten damals sehr wohl bewusst war, dass diese medizinische Praxis aus einem anderen Kulturkreis entlehnt worden war. Es handle sich ja gar nicht um die Erfindung Mathijsens, der Gipsverband sei schon den arabischen Ärzten bekannt gewesen, schrieb van de Loo nun. Auch wies er auf die Publikationen dieser Technik hin, die ihm zu jenem Zeitpunkt bekannt waren, wie die des deutschen Arztes Johann Friedrich Diffenbach (1792–1847) und des Franzosen Lafargue, der eine verfeinerte Methode der Anwendung des Gipsverbandes bereits 1839 an der Universität Montpellier vorgestellt hatte. Doch diese Versuche und Arbeiten fanden schlicht keine Verbreitung, was im Falle von Mathijsens „Erfindung“ dank der Bemühungen van de Loos nicht der Fall war. Rückblickend stellte van de Loo fest, dass Mathijsen selbst nur eine „neue Anwendung“

18

Vgl. Cessner, Handbuch der chirurgischen Instrumenten- und Verbandlehre, 1852, 320.

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vorgeschlagen habe, was im Übrigen auch im Titel seiner 1852 veröffentlichten ersten Schrift zu diesem Thema zum Ausdruck kommt, in dem lediglich von einer „Neuen Anwendung“ gesprochen wird. Wohl weil er sich um die Früchte seiner Bemühungen gebracht sah, fügte er am Ende einer betont langwierigen Abhandlung der verschiedenen Vorarbeiten lapidar hinzu: Viele würden an meiner Stelle nach dem, was vorgefallen ist, sagen: Da Mathijsen den Gipsverband nicht erfunden hat, weil schon lange vor 1852 mehrere Gipsverbände bestanden und Mathijsen nur der Erfinder einer neuen Art Gipsverband […] ist […] so hat Mathijsens Erfindung nicht viel zu bedeuten. Eine solche Redensart, dass die Erfindung von Mathijsen nicht viel zu bedeuten hat, werde ich nie führen. Ich werde gegenüber Mathijsen gerecht bleiben; hoffe aber auch, dass man mir gegenüber gerecht sein wird […].19 2.2

Gipsanwendungen bei Knochenbrüchen – die verschwiegene Vorgeschichte

Wenn es also nicht Mathijsen war, der den Gipsverband erfand, wer war es dann? Van de Loo siedelte in der Aufarbeitung seines Lebensthemas den Beginn der Auseinandersetzung mit dem Thema Gips um das Jahr 1814 an. Tatsächlich lassen sich Publikationen zum Thema „Gips“ in diese Zeit zurückverfolgen, es gibt Hinweise darauf, dass die ersten Versuche mit Gipsverbänden bereits um 1815 gemacht wurden.20 In Nordafrika und Teilen der arabischen Welt war die Behandlung von Brüchen durch das Umgießen mit Gips ein feststehender Standard chirurgischer Praxis. Die Vorteile dieser Technik waren so offenbar, dass sie in Reiseberichten europäischer Reisender mehrfach schon vor der Publikation Mathijsens Erwähnung fand. Der englische Reisende und Konsul William Eton21 versuchte Ende des 18. Jahrhunderts, auf diese Technik hinzuweisen. In seinem 1805 ins Deutsche übersetzten Buch „W. Eton’s Esqs. Englischen vieljährigen Residents in der Türkei und in Rußland Schilderung des Türkischen Reiches in politischer, moralischer, historischer, religiöser, wissenschaftl., statistischer, merkantilischer usw. Hinsicht“ schrieb Eton: In den östlicheren Theilen des Reiches habe ich eine Methode, Knochen einzurichten, kennen gelernt, die mir auch der Aufmerksamkeit unserer europäischen Wundärzte werth zu sein scheint. Auf das zerbrochene Glied legt man, wenn die Knochen in ihre gehörige Lage gebracht worden sind, Pariser Pflaster (oder Gyps), das ohne den geringsten Druck

Van de Loo, Der unmittelbar amovo-inamovible Gipsverband, 1876, 84. Vgl. Bremer, The plaster of Paris, 1962, 11. Für den Namen des britischen Gewährsmanns der Gipsverwendung gibt es sowohl die Schreibweise „Eaton“ als auch „Eton“. Die richtige Schreibweise ist wohl „Eton“.

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genau die Form des Gliedes annimmt und in wenig Minuten zu einer festen Masse wird. Ist es ein zusammengesetzter Bruch, so kann man den verwundeten Theil, aus dem ein zersplitterter Knochen genommen werden soll, ohne der Energie des Pflasterüberzugs etwas zu entziehen, unbedeckt lassen. Diese Substanz kann mit einem Messer leicht zerschnitten, abgenommen und durch ein frisches Pflaster ersetzt werden. Wenn sich die Geschwulst setzt und das Loch für das Glied zu groß ist, so kann man in das Loch oder die Löcher, welche zurückbleiben, flüssiges Gyps-Pflaster hineinlassen, das den Raum vollkommen ausfüllt und sich genau nach dem Gliede richtet. Ein Loch kann man anfänglich dadurch machen, dass man einen geölten Kork oder ein Stückchen Holz an dem Theile, wo es erforderlich ist, anbringt, und ist das Pflaster fest, so kann dasselbe wieder abgenommen werden. Enthält das Pflaster keinen Kalk, so schadet es nichts; es wird bald trocken und leicht, und das Glied kann mit Spiritus begossen werden, der durch den Überzug durchdringt. Beim ersten Auflegen des Pflasters kann auch Spiritus statt Wasser gebraucht oder damit (auch mit Weinessig) vermischt werden.22

Etons Beschreibung enthält fast alle Kennzeichen, die auch in der Diskussion der Vorteile von Mathijsens Gipsverband rund 50 Jahre später vorkommen: Das Material kann leicht bearbeitet werden. Wenn der Verband durch Zurückgehen einer Schwellung zu locker wird, kann er ausgegossen werden. Und der Gips lässt sich schnell verarbeiten. An der Vorderseite des Gipsverbandes brachten die arabischen Wundärzte eine Furche an, über die „Arack“, ein „Dattelschnaps“, aufgebracht wurde, um eine eventuell auftretende offene Wunde zu behandeln. Die vom europäischen Wundarzt vorgeschlagene Amputation des Beines konnte damit vermieden werden. Der Patient war nach fünf Monaten „ohne Entstellung des Fußes“ wiederhergestellt.23 Diese Berichte blieben in Europa nicht unbemerkt. Etons erster Brief mit der Mitteilung der neuen Technik ging nicht nach London, sondern an einen Arzt in Petersburg.24 Empfänger des Briefes von Eton war Mathew Guthrie, ein schottischer Arzt, der in Petersburg tätig war. Guthire sandte Etons Schreiben nach Edinburgh, wo es zunächst veröffentlicht wurde; noch vor 1800 erschienen auch Abdrucke in „Richter’s Chirurgischer Bibliothek“ und in der „Medicinischen National-Zeitung für Deutschland“.25 In einer Publikation, die Dr. Guthrie auf Basis des Schreibens von Eton vornahm, verwies er auch darauf, dass die Araber mit der Verwendung von Spirituosen für die

Eton/Bergk 1805, 236. Übersetzer des Werkes ist der Leipziger Philosoph Johann Adam Bergk (1769– 1834), der einiges an Reiseliteratur übersetzt zu haben scheint und im Vorwort Bezug auf viele zeitgenössische Werke der Orient-Literatur nimmt. Das englische Original erschien bereits 1798 und wurde noch vor der Übersetzung rezipiert. 23 Richter 1832, 9. 24 Vgl. Bremer, The plaster of Paris, 1962, 10. 25 Vgl. Bruno Valentin, Die Geschichte des Gipsverbandes, 1956, 5. 22

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Versorgung von Wunden vertraut seien.26 Die ersten Versuche mit dem Gipsverband wurden in Deutschland gemacht. In England erschien erst 1831 eine Publikation zu diesem Thema und der Autor gab später, als es wieder einmal zu Diskussionen um die Priorität einer Entdeckung ging, an, weder von Eton noch von dem deutschen Pionier Dieffenbach jemals gelesen zu haben. In den 1830er-Jahren fand der Name des NichtMediziners Eton auch keine Erwähnung in den französischsprachigen Publikationen zur Technik des Gipsens.27 Der preußische Militärarzt und Chirug A. L. Richter (1798–1876) zählte zu den ersten, die sich mit der Methode im deutschen Sprachraum auseinandersetzten. 1832 zitierte Richter in einer ausführlichen Abhandlung über die Behandlung von Knochenbrüchen 1832 den Artikel, der bereits 1798 in der „Medicinischen National-Zeitung für Deutschland“ veröffentlicht worden war28, mit knappen Worten: Mr. Eaton [sic!], ehemaliger englischer Consul in Bassora, hatte Gelegenheit, die Methode der Araber, Knochenbrüche zu heilen, bei seinem dasigen Aufenthalte näher zu beobachten, als einem arabischen Soldaten in seinem Gefolge, zu Bendereck am persischen Meerbusen, durch das Umfallen einer Kanone das Schienbein und der Fuß gebrochen wurden, daß die Knochen fast in Stücken zermalmt waren und die Knochenenden durch die Haut durchstachen. Der europäische Wundarzt, den er bei sich hatte, schlug, als das einzige Mittel zur Lebensrettung des Verunglückten die Amputation über dem Knie vor. In diese Operation stimmen aber fast alle Orientalen, besonders die Einwohner um Bassora, nie ein.29

Erzählungen von Fällen, bei denen fränkische Ärzte eine Amputation durchführten, die aus Sicht arabischer Ärzte gar nicht notwendig erschienen, sind bereits aus der Zeit der Kreuzzüge überliefert.30 Die Abneigung der Menschen im Osmanischen Reich gegen Amputationen und die Behandlungserfolge der einheimischen Heilkundigen beobachtete auch der deutsche Arzt Friedrich Wilhelm Oppenheim (1799–1852), der das Osmanische Reich um 1830 bereiste:

Vgl. Guido Majno/Isabelle Joris, On the history of the plaster cast and its roots in Arabic medicine, in: Gesnerus/Schweizerische Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften; Schweizerische Naturforschende Gesellschaft. begr. durch J. Strohl, 1986, hier: 16. 27 Vgl. Valentin, Die Geschichte des Gipsverbandes, 1956, 11f. 28 Adolph Leopold Richter, Medicinische Nationalzeitung für Deutschland und die mit selbigem zunächst verbundenen Staaten, Digitale Sammlungen/Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden Saxonica, Altenburg 1798, 100. 29 Richter 1832, 8. 30 Die Geschichte einer Amputation durch einen europäischen Feldscher erzählt bereits im 12. Jahrhundert der syrische Schriftsteller Usāma b. Munqiḏ. Ein arabischer Arzt führte nach dieser Erzählung die Behandlung eines Abszesses mit einem Umschlag durch. Der fränkische Feldscher ließ das Bein jedoch mit einem Schwertschlag amputieren, der Kranke starb sofort. Vgl. Bernard Lewis, The Muslim discovery of Europe, New York 2001, 222. 26

Gipsanwendungen bei Knochenbrüchen – die verschwiegene Vorgeschichte

Am aller stolzesten waren die Beinsetzer, welche geradezu behaupteten, jede auch noch so complizirte Fractur mit unzähligen Splittern, ohne Beeinträchtigung der Form und der Brauchbarkeit des Gliedes, heilen zu können, und hauptsächlich darin setzen sie den Vorzug der türkischen Chirurgie vor der europäischen, indem eine jede Abnahme des Gliedes, zu der wir, aus Unvermögen die Fracturen zu heilen, und das Glied zu erhalten, unsere Zuflucht nehmen, gänzlich unnöthig gemacht werde.31

Er habe die Verwendung von Baumwolle für das Verbinden von Wunden übernommen und gestand den Chirurgen im Osmanischen Reich Überlegenheit zu, besonders wenn es um die Behandlung von Brüchen ging. Auch davon, dass Richter mit dieser Methode experimentierte, hatte Oppenheim Kenntnis. Es bereitete ihm sichtlich Unbehagen, die Kenntnisse der Heilkundigen zu loben: So übertrieben, prahlerisch und großsprecherisch diese Äußerungen auch sind, so läßt es sich nicht leugnen, daß diese Leute, bei aller ihrer Unwissenheit die Knochenbrüche mit vielem Glücke behandeln. Ihr Verfahren, das Glied, nachdem es in die gehörige Lage gebracht ist, mittels eines Gyps-Futterals in derselben zu erhalten und so zu heilen, ist bekannt, und in der neuesten Zeit hat der so thätige Regimentsarzt, Dr. A. L. Richter in Düsseldorf, versucht auch für unsere Chirurgie bestimmte Anzeigen für diese Methode herzustellen.32

Oppenheim war selbst als Arzt in einer militärischen Einheit im Osmanischen Reich tätig. Sein Beispiel zeigt, dass ihm trotz seines großen theoretischen Wissens faktisch oft nichts anderes übrigblieb, als diese Überlegenheit einzelner Methoden anzuerkennen. Von einem Großwesir als persönlicher Arzt engagiert und damit den Wundärzten seiner Einheit vorgesetzt, kämpfte er, als der europäischen Schule verbundener Mediziner mit dem Widerstand eben jener Wundärzte. Oppenheim konnte sich mit seinem europäischen Wissen, das damals noch auf Klebeverbände und – wegen der häufigen Entzündungen – auch Amputationen aufbaute, nur selten durchsetzen. Hielt ich bei einer Schußwunde mit complicirter Fractur, eine Amputation oder Exarticulation für indicirt, so erklärten sie einstimmig, den Kranken ohne Operation heilen zu können, und dieser sowohl als die Beamten, widersetzten sich auf das bestimmteste jedem blutigen Eingriffe von meiner Seite. Kam die Sache bis zum Großvesir, so gelangte ich noch weniger zum Zwecke, weil ich die Frage, ob ich den Kranken durch die Operation retten würde, nicht mit Bestimmtheit bejahen konnte. Er that dann den demüthigen Ausspruch: wie schwach muss es mit deiner Kunst bestellt sein, wenn du dem Kranken erst ein

31 32

Oppenheim 1833, 116. Ebd., 116.

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Glied raubst, und er dann dennoch stirbt, während jene ihm Leben und Glied mit Sicherheit zu erhalten versprechen.33

Europäische Heilkundige oder Ärzte standen im Ruf, schnell zu amputieren, wenn es bei offenen Brüchen zu Komplikationen kam. Im Zeitalter vor Asepsis und Antiseptik drohte aber jede offene Wunde, sich zu entzünden. Solche Entzündungen, die heute mit antibiotischen Medikamenten behandelt werden, führten damals nicht selten zum Tod. Die europäischen Ärzte wussten zwar, dass durch die Amputation eines nur lokal betroffenen Körperteils die Gefahr des Todes verringert werden konnte, ausschließen konnten sie einen tödlichen Ausgang dennoch nicht. Der mit Alkohol versetzte Gipsverband der einheimischen Heilkundigen mag dagegen tatsächlich mehr Erfolg versprochen haben. Solange der Gipsverband als Methode der einheimischen arabischen Medizin gesehen wurde, fand er aber keine Anerkennung. Erst mit der Publikation Mathijsens gelang der Idee in modifizierter Form der Durchbruch – und damit der Schritt vom irrationalen Außenseiterwissen zum chirurgischen Standard. Noch ein weiterer Aspekt ist zu beachten. Das eingangs geschilderte Modell Fischer-Tinés unterscheidet im Umgang europäischer Medizin mit indigenem Wissen zwischen „Orientalisten“ und „Reformern“. Schon fünfzehn Jahre vor Oppenheim hatte der deutsche Arzt Ludwig Friedrich Froriep (1779–1847) in seiner Übersetzung der „Parallele der englischen und französischen Chirurgie“ des französischen Arztes Roux festgehalten, dass die „Mauren“ Gips für die Versorgung von Brüchen verwendeten. „Wenn ich so die mannichfachen Verbandarten bei Knochenbrüchen durchgegangen bin, habe ich mich oft gewundert, warum man nicht ein Verfahren, welches die Mauren an der Nordküste von Afrika anwenden sollen, – d. h. die Glieder, wo der Knochen gebrochen ist, mit Gyps zu umgießen – bei uns in Teutschland ausgebildet […] habe.“34 Im Sinne FischerTinés tritt Froriep hier als „Orientalist“ auf: Er befürwortete die Erprobung und Übernahme dieser Methode. Dies verwundert nicht, denn Froriep war nach Abschluss seines Studiums in Bonn im Sommer 1799 zu einem Studienaufenthalt in Wien. Genau in diesem Jahr hatte der damals bekannte Arzt Joseph Pascal Ferro in Wien (als erster Stadt auf europäischem Festland) die „Impfung“ mit Kuhpockeneiter vorgenommen und damit für Aufsehen gesorgt. Auch diese Technik, auf die im nächsten Kapitel genauer eingegangen werden soll, wurde in einer Vorform bereits 100 Jahre zuvor aus dem Osmanischen Reich nach Europa gebracht. Dieser Wissenstransfer war den Zeitgenossen bekannt.35 Es ist bemerkenswert, dass Froriep die Bildung der Chirurgen in Deutschland damit noch keineswegs über die ihrer Berufskollegen im Osmanischen Reich stellte. „Allein, wir können nicht läugnen, daß der größere Theil der Chirurgen in Teutschland in 33 34 35

Oppenheim 1833, 116. Roux/Froriep 1817, IX. Vgl. zur Einführung der Kuhpockenimpfung Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 28–32.

Gipsanwendungen bei Knochenbrüchen – die verschwiegene Vorgeschichte

der Lehre von den Brüchen sehr zurück ist, und zwar vorzüglich aus Mangel an hinlänglichen anatomischen Kenntnissen.“36 Hier tritt ein anderes Motiv ins Bild: Der Kampf der akademischen Mediziner um die Monopolisierung ihres Berufsstandes gegen die bis zu den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch selbstständigen „Chirurgen“. Die wissenschaftliche akademische Medizin war den praktizierenden Heilkundigen, die am flachen Land die Versorgung der Bevölkerung unternahmen, hauptsächlich in einem überlegen: im Wissen um Anatomie und Physiologie. Der Wissensvorsprung auch in pathologischer Hinsicht sollte der akademischen Medizin im 19. Jahrhundert zum Durchbruch verhelfen und alle anderen heilkundlichen Berufe verdrängen. Dieser Konflikt zwischen akademischen Ärzten, die uns das Gros der schriftlichen Quellen über die medizinischen Verhältnisse im Osmanischen Reich hinterlassen haben, und den anderen medizinischen Berufen mag den unbefangenen Blick auf die „Laienmethode“ des Gipsverbandes zusätzlich behindert haben. Es war der Krieg, der dem Gips schließlich zum Durchbruch verhalf. Nachdem der hellsichtige Chirurg und Arzt Froriep 1817 auf die Vorteile hingewiesen hatte, die ein solches Verfahren für die Militärmedizin haben könnten, und sich der erwähnte Chirurg Richter dieser Idee angenommen hatte, fanden in den Jahren 1828 und 1829 an der Berliner Charité Versuche mit der Verwendung von Gips bei der Behandlung von Knochenbrüchen statt, die auch in einer Dissertation mündeten. Dem Dissertanten Rauch blieb der Ruhm Mathijsens aber verwehrt, weil zunächst der Klebeverband von Belgien aus große Verbreitung erfuhr.37 Die frühen Versuche der Anwendung des Gipsverbandes gerieten um 1840, wie es scheint, in Vergessenheit. Mathijsen berichtete selbst schon 1852 in seiner ersten Publikation: Obwohl es bekannt ist, dass dieses Material schon in früheren Jahrhunderten benutzt wurde […] ist seine Anwendung überhaupt nicht verbreitet und es wird davon nicht einmal mehr gesprochen. Ich denke, dass dies nicht am Material liegt, sondern dass dies der unzweckmässigen Art der Anwendung zuzuschreiben ist. Eine Verbesserung der Methode kann daher möglicherweise das Material wieder zurückbringen.38

Der Gipsguss wurde 1852 in Wien im Handbuch der chirurgischen Instrumenten- und Verbandlehre von Cessner beschrieben und aufgrund der hohen Stabilität und der „Wohlfeilheit“ auch gelobt. Dennoch heißt es, der Gipsguss werde „an unserer Schule äußerst selten angewendet.“39 In der zweiten Auflage des Handbuches von Cessner referierte dieser bereits die von Mathijsen vorgeschlagene Methode zur Anwendung

36 37 38 39

Roux/Froriep 1817, IX. Richter 1832, 9. Bremer, The plaster of Paris, 1962, 12. Vgl. Cessner, Handbuch der chirurgischen Instrumenten- und Verbandlehre, 1852, 324.

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Die Geschichte des Gipsverbands

des Gipsverbandes.40 Die Methode Mathijsens habe in Wien häufige Anwendung und ziemlich allgemeine Anerkennung gefunden.41 In Wien führte die Diskussion rund um den Gipsklebeverband nach Mathijsen zu weiteren Experimenten; so schlug der Chirurg Ulrich 1855 „Gutta-Percha-Verbände“ als Alternative zum Gipsverband vor, um die Nachteile des Gipses  – namentlich der zu hohe Druck und die schwere Ablösbarkeit – auszugleichen.42 Der ursprüngliche Hinweis Etons auf die Anwendung des Gipsgussverfahrens war in Wien 1855 schon bekannt; Ulrich erwähnt Eton in seiner Schrift über den „Gutta-Percha-Verband“.43 Seutins Klebeverband verschwand in den nächsten Jahrzehnten relativ rasch.44 2.3

Der Sieg der „Reformer“

Um 1850 ist das Wissen darum, dass die Anwendung des Gipsverbandes bei Wundärzten im Osmanischen Reich eine lange gepflogene Technik war, zumindest in der medizinischen Literatur aus dem Orient kaum mehr der Rede wert. Lorenz Rigler, ein österreichischer Arzt, der mit „Die Türkei und deren Bewohner in ihren naturhistorischen, physiologischen und pathologischen Verhältnissen vom Standpunkte Constantinopels“ das umfassendste deutschsprachige Werk über die Medizin im Osmanischen Reich verfasste, erwähnte den Gipsverband überhaupt nicht. Lediglich der feste Glaube der Bewohner Konstantinopels an die Fähigkeiten jener Heilkundigen verwunderte Rigler.45 Das Hervorstreichen der Effektivität von Behandlungsmethoden eines einheimischen Heilberufes hätte vor dem Hintergrund der beginnenden Besitzergreifung der osmanischen medizinischen Strukturen durch europäische Denk- und Handlungsweisen nicht in die Erzählung gepasst, die damals von der traditionellen medizinischen Praxis geschaffen wurde. Was verbleibt, ist die für Rigler verwunderliche Beharrlichkeit seiner türkischen Patienten im Vertrauen auf die einheimischen Heilkundigen. Es fesseln die Bewohner des Orients so zahlreiche, erst im Laufe der Zeit auszurottende Vorurteile; sie hängen an so tief gewurzelten Ansichten über die Entwickelung der Bildungsfehler und die ursächlichen Verhältnisse von Krankheiten, dass sie sich – hingerissen durch den Fatalismus – geduldig in das Unvermeidliche fügen, und einen Versuch, durch Cessner, Handbuch der chirurgischen Instrumenten- und Verbandlehre, 1855, 427. Vgl. Cessner, Handbuch der chirurgischen Instrumenten- und Verbandlehre, 1855, 426. Vgl. F. X. Ulrich, Gutta-percha-Verbände bei Knochenbrüchen, Wien 1855, IV. Ebd. 257. Auch des vermeintlichen Gegenspielers Mathijsens wird heute noch gedacht. Der Kleisterverband Seutins war der erste Verband, der es Patienten ermöglichte, ihr verletztes Glied nach der Trocknung wieder einigermaßen normal in Verwendung zu bringen; auf Seutin geht die Erfindung der bis heute verwendeten, charakteristischen Gipsschere zurück. Vgl. Valentin, Die Geschichte des Gipsverbandes, 1956, 18–20. 45 Rigler 1852b, 351. 40 41 42 43 44

Der Sieg der „Reformer“

chirurgisches Eingreifen den Fortschritten eines Leidens Einhalt zu tun, häufig für sündhaft halten. Es scheint uns notwendig, dass ein Volk einen gewissen Grad von Bildung und Aufklärung über die Vorgänge unseres Lebens erlangt haben müsse, um selbst beim Chirurgen Abhilfe für bestehende Mißbildungen und anderweitige Leiden zu suchen.46

Es mag sein, dass die Technik des Gipsverbandes im Raum Konstantinopel, wo Rigler den Großteil seiner Zeit im Osmanischen Reich verbracht hatte, von den einheimischen Heilkundigen nicht angewendet wurde. Es mag auch sein, dass sie unter dem zunehmenden Auftreten europäischer Ärzte tatsächlich verdrängt worden war. An anderer Stelle beschrieb Rigler die Behandlung von Knochenbrüchen, wie er sie in den Militärkrankenhäusern und im österreichischen Nationalhospital gesehen hatte. „Die allgemeine Behandlung der Knochenbrüche in Konstantinopel bietet nichts Besonderes, sie ist den Schulen aller Nationen entlehnt; man bringt in Anwendung Schienen, Kleisterverbände, Contentivverbände, welche gewöhnlich den Extensivverbänden vorgezogen werden.“47 Nicht ohne Stolz führt Rigler jedenfalls an, dass die Tätigkeit einheimischer Wundärzte in den Militärspitälern, die in den 1840er-Jahren durch ihn reformiert worden waren, verboten war. „Unsere allgemeine Behandlung der Knochenbrüche in Constantinopel besteht manchmal in einem Aderlasse, öfters in einem Abführmittel, immer aber in kalten Umschlägen, welchen wir später die Arnica in der Tinctur oder im Aufgusse beifügen; in den Fällen von comminutiven oder complicirten Brüchen wenden wir während der Periode der heftigsten Entzündung dauernd die kalte Douche an.“48 „Reformerische“ Sichtweisen (im Sinne Fischer-Tinés) hatten sich durchgesetzt. Die europäische Medizin sollte dem Orient Zivilisation bringen, einheimisches Wissen war nicht mehr relevant. Ausgenommen hiervon war freilich der historische Rückbezug auf die Heroen der arabisch-islamischen Medizin.49 Für Mathijsen waren die Details des Einsatzes des Gipsverbandes im Osmanischen Reich zum Zeitpunkt, als er mit dem Gipsverband zu experimentieren begann, ebensowenig von Bedeutung. Wahrscheinlich war das Wissen um die Anwendung durch Wundärzte im Osmanischen Reich für ihn, wie auch für seine Zeitgenossen, irrelevant. Seinem Wegbegleiter und späteren Widersacher van de Loo war dieses Faktum lediglich nützlich, weil es dazu dienen konnte, den Ruhm seines Kollegen zu schmälern. Die Tatsache, dass außereuropäisches Wissen in den Kanon wissenschaftlichen Wissens europäischer Prägung Eingang gefunden hätte, war keiner Erwähnung mehr wert. Die Leistung Mathijsens, dem jedenfalls der Verdienst zukommt, durch die Auf-

Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 351. Ebd., Bd.2, 554. Ebd. Vgl. Majno/Joris, On the history of the plaster cast, 1986, 21. Interessanterweise erschien bereits 1841 eine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit der historischen Entwicklung des Gipsverbandes bei den Arabern befasste und die den Gipsverband auf den persischen Arzt Rhazes zurückführte.

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Die Geschichte des Gipsverbands

bringung des Gipses auf Leinen eine im europäischen Nutzungskontext verbesserte Anwendung dieses Materials vorgeschlagen zu haben, soll hier nicht geschmälert werden. Aber das Beispiel zeigt, welche Rolle Zuschreibungen für die Bewertung von Wissensbeständen spielen. Ist es vorstellbar, dass die Behandlungsweise eines Bruches mit Gips durch die Araber ähnliche Begeisterungsstürme hervorruft, wie sie in der Darstellung van de Loos zum Ausdruck kommt? Wohl kaum. Außereuropäische Systeme der Wissensproduktion und -vermittlung waren aus europäischer Sicht ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von vorneherein unterlegen. Die Zuschreibung einer „Erfindung“ gilt in diesem System immer einer Person (oder einem Denkkollektiv). Der Gipsverband, der von den arabischen Heilkundigen bei Basra eingesetzt wurde, hatte keinen solchen Urheber und auch keine Institution, die seine Verbreitung propagierte. Das Wissen um seine Nützlichkeit galt trotz der Überlegenheit der Methode als nicht wissenschaftlich. Ein wesentlicher Grund dafür ist das Selbstverständnis der europäischen Wissenschaft: Dass die Vernetzung des Wissens innerhalb des Systems durch Beiträge von Menschen, die in diesem System als ebenbürtig anerkannt werden, geschieht, ist eine Grundvoraussetzung dafür, zum System beitragen zu können – und auch seine Stärke. Eton, dessen Beschreibung des Gipsverbandes weiter oben als erstes in deutscher Sprache verfügbare Beispiel angeführt wurde, schreibt über die Wissenschaften in der Türkei: Der elende Zustand der Wissenschaften überhaupt rührt in der Türkei daher, dass es ihnen an Mitteln fehlt, die manigfaltigen Zweige und die Theorie mit der Praxis zu verbinden. […] Ein hoch civilisirtes Land hat den großen Vortheil, dass es diese Thatsachen schnell und sogleich miteinander verbinden, und sie zu allgemeinen Grundsätzen erheben kann, wodurch die Arbeit verkürzt und das Fortschreiten des Künstlers und Philosophen erleichtert wird. Es ist jedoch häufig der Fall, dass das barbarische Volk in einzelnen Kunstzweigen ein trefliches Verfahren oder eine mechanische Fertigkeit besitzt, worin es selbst seine gebildeteren Nachbarn übertrifft, und daher wird es nicht unnütz seyn, solche einzelnen Nachrichten von jedem Theile der Erde zu sammeln.50

Man kann fast greifen, wie Eton mit seiner Einsicht, auf eine überlegene Technik gestoßen zu sein, ringt: Außereuropäisches Wissen ist im Denkstil der Orientalisten unterlegen und scheint daher eine besondere Begründung für seine Anerkennung zu benötigen. Wie sehr die außereuropäische Herkunft des Gipsverbandes verdrängt wurde, zeigt die weitere Popularisierung der Erfindungsgeschichte. Eine der unerschöpflichsten Quellen für unglaubliche Querverbindungen und zeitgeistige Orientalismen sind die Werke von Karl May. Auch der Gipsverband hat in einem seiner Werke seinen Auftritt. Nachdem Mathijsen und van de Loo den Gipsverband den „Arabern“ sozusa-

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Eton/Bergk 1805, 235.

Der Sieg der „Reformer“

gen stillschweigend entwendet hatten, gab Karl May dem „Orient“ das Wissen über den „Gips“ zurück. In seiner „Reise zu den Shkipetaren“ lässt er den Ich-Erzähler einen Knochenbruch mittels Gipsverbands heilen und belehrt den einheimischen Heilkundigen  – nach überschwänglichem Dank desselben  – über den wahren Erfinder des Gipsverbandes. Da bedankt sich der eben mit Gipsverband behandelte bei seinem europäischen „Retter“: Effendim, dein Kopf ist die Wiege des Menschenverstandes, und dein Gehirn beherbergt das Wissen aller Völker. Dein Geist ist scharf wie die Schneide eines Rasiermessers und dein Nachdenken so spitz wie die Nadel, mit welcher man einen bösen Schwären öffnet. Darum hattest du das Kismet, die große Frage zu lösen, wie die Brüche, Verstauchungen und Verrenkungen zu behandeln sind. […] Auf der Platte des Denkmals wird dein Name in goldener Schrift glänzen. Bis dahin aber soll er in meinem Buche der Notizen stehen, und ich bitte dich, ihn mir zu nennen, damit ich ihn aufschreiben kann.

Im Wissen um Mathijsens im 19. Jahrhundert so großes Prestige lässt May seinen IchErzähler antworten: ‚Ich danke dir!‘, erwiderte ich ihm. ‚Die Wahrheitsliebe gebietet mir, dir mitzuteilen, daß nicht ich es bin, der die große Erfindung gemacht hat. In meinem Vaterland ist sie so verbreitet, daß alle Aerzte und Laien sie kennen. Willst du dir den Namen des Erfinders aufschreiben, so sollst du ihn erfahren. Der gelehrte Mann, dem so viele Leute ihre Wohlgestalt zu verdanken haben werden, hieß Mathysen und war ein berühmter Wundarzt im Lande Holland. Ich habe deinen Dank nicht verdient, aber es freut mich sehr, daß die Erfindung dir gefällt, und ich hoffe, daß du sie fleißig in Anwendung bringen wirst.‘51

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May 1892, 205 f.

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens Zur Zirkulation von Wissen zwischen dem Osmanischen Reich und der europäischen akademischen Medizin

Das vorherige Kapitel war der verschütteten Geschichte einer grundlegenden chirurgischen Behandlungstechnik gewidmet, deren Ursprung im Osmanischen Reich in der zeitgenössischen Darstellung in den Hintergrund gerückt wurde. Ganz anders verhielt es sich mit einer anderen grundlegenden medizinischen Technik: der Impfung. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts brachte eine englische Reisende die Kunde von dem Immunisierungsverfahren gegen die Pocken, wie es im Osmanischen Reich geübt wurde, nach England. Dort wurde diese Technik als „Variolation“ nach langen Auseinandersetzungen in die akademische Medizin übernommen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts publizierte ein englischer Arzt die Methode der „Vaccination“ – die Impfung mit den Viren der Kuhpocken. Diese Erkenntnis gilt bis heute als Beginn der modernen Immunologie und die Verbindung mit dem Osmanischen Reich wurde im Gegensatz zum Gipsverband nicht verdrängt Der „Impfgedanke“ wird in der Medizingeschichtsschreibung traditionell mit dem Osmanischen Reich in Verbindung gebracht. Wie verhält sich Wissen an der Schnittstelle zwischen europäischer akademischer Medizin und außereuropäischen medizinischen Systemen? Und welche Vorstellungen bewegten die europäischen Akteure, die an der Entwicklung dieser Gedankengänge beteiligt waren. Einige Wiener Ärzte waren um 1800 Teil eines dichten Wissens- und Praxisnetzwerks, mit dem der inzwischen in England modifizierte „Impfgedanke“ als europäische Technik im Selbstverständnis der handelnden Personen dem Osmanischen Reich gleichsam „zurückgegeben“ werden sollte. Praktische Erfahrungen mit der Kuhpockenimpfung zirkulierten in den Jahren nach 1800 zwischen Wien, England, Konstantinopel, Persien und Indien und trugen zur Weiterentwicklung dieser Technik bei. Wien war der Dreh- und Angelpunkt für viele dieser Informationen. Dieser Drehscheibenfunktion soll im Folgenden nachgegangen werden. Die Wissenschaftsgeschichte kennt für solche Prozesse verschiedene Erzähltraditionen: das bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit erwähnte Modell der Diffusion, das von dem univer-

Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

salistischen Konzept der Aufklärung geprägt ist und von der Ausbreitung einer universell gültigen europäischen Wissenschaft ausgeht.1 Der Beitrag des Wissens einer außereuropäischen Gesellschaft zur Entwicklung von Wissenschaft erscheint in diesem Modell irrelevant zu sein. Im Zusammenhang mit Kolonialismus wurde bei der Behandlung bestimmter Wissensbestände später ein Modell geschaffen, das ein wissenschaftliches Zentrum definiert und seine Beziehungen mit einer abhängigen Region – einer sogenannten Peripherie – beschreibt.2 Diese Ansätze wurden vor allem von Historikern und Historikerinnen aus ehemaligen Kolonien zu Recht kritisiert.3 Personen, die außerhalb des eigentlichen europäisch-akademischen Wissenschaftsbetriebs standen, kamen dadurch verstärkt in den Fokus der Forschung. Man nennt sie „Go-betweens“, Vermittler zwischen den Kulturen, die in polyglotten Grenzbereichen leben, als Dolmetscher fungieren oder in Assistenzfunktionen für europäische Reisende und Wissenschaftler fungieren.4 Wissen entsteht in diesem Ansatz nicht lokalistisch an einem Ort, der gleichsam als „Autorität“ Wissensbestände verwaltet und verteilt,

Das Modell nach Basalla, The spread of Western, 1967, überblickshaft kritisch diskutiert bei: Dhruv Raina, From West to Non-West? Basalla‘s Three stage model revisited, in: Science and Culture 8, 1999, 497–516. 2 Zur Verbindung von Imperialismus und Wissenschaft vgl. die kurzgefasste Diskussion bei Felix Brahm, Imperialismus und Kolonialismus, in: Marianne Sommer / Staffan Müller-Wille / Carsten Reinhardt (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, 287–294. Der Zusammenhang mit anderen Denkstilen in der Darstellung eines universalistischen Wissenschaftsmodells wird kompakt dargestellt bei: Kapil Raj, Introduction: circulation and locality in early modern science, in: British journal for the history of science 43/4, 2010, 513–517, doi: 10.1017/S0007087410001238, der seinerseits die Zirkulation als geeigneteres Modell vorschlägt. Grundlegend zur Auseinandersetzung über die Verbreitung von Wissen auch: Roy M. MacLeod, Nature and empire. Science and the colonial enterprise, 2nd ser., v. 15, 2000: Osiris a research journal devoted to the history of science and its cultural influences, Chicago 2001. 3 Aus dieser Kritik entstand eine ungemein fruchtbare neue Perspektive auf bestimmte Entwicklungen der Wissenschaftsgeschichte. Postkoloniale Auseinandersetzungen mit der Wissenschaftsgeschichte sind überblickshaft diskutiert bei: Nadin Heé, Postkoloniale Ansätze, in: Marianne Sommer / Staffan MüllerWille / Carsten Reinhardt (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, 80–92. Beispielhaft genannt seien hier: Feza Günergun / Dhruv Raina (Hg.), Science between Europe and Asia: historical studies on the transmission, adoption and adaptation of knowledge, vol. 275: Boston studies in the philosophy of science, Dordrecht 2011; zur Medizin am Beispiel Indiens: S. Irfan Habib / Dhruv Raina, Reinventing traditional medicine. Method, institutional change, and the manufacture of drugs and medication in late colonial India, in: Joseph S. Alter (Hg.), Asian medicine and globalization, Philadelphia 2005, 67–77. Durch diese Veränderung des Blickwinkels entstanden auch größer angelegte Werke zur indigenen Medizin dieser außereuropäischen Welt, die umfassende Einblicke ermöglichen. Als Gegenkonzept zu gängigen Enzyklopädien zu spezifischen historischen Themen siehe hier zum Beispiel: Helaine Selin, Encyclopaedia of the history of science, technology and medicine in non-western cultures, 2. Aufl., Dordrecht [u. a.] 2008. 4 Einen Überblick, der hauptsächlich die klassischen Zonen kolonialer Geschichte beinhaltet und die Medizin weitgehend ausblendet, gibt der Sammelband: Simon Schaffer et al. (Hg.), The brokered world. Gobetweens and global intelligence, 1770–1820, Bd. 35: Uppsala studies in history of science, Sagamore Beach, MA 2009. Für den hier behandelten Zeitraum ist der Beitrag von Kapil Raj im „Companion to the history of Science“ von Interesse: Kapil Raj, Go-Betweens, Travelers, and Cultural Translators, in: Bernard V. Lightman (Hg.), A companion to the history of science, Blackwell companions to world history, Chichester/ Malden, MA/Oxford 2016, 39–57. 1

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

sondern ist (durch Reisen und Begegnungen sowie Objekte verschiedenster Art) – gerade im 19. Jahrhundert – das Ergebnis von „Zirkulation“.5 Das Beispiel Wiens erscheint, wenn man diesen älteren wissenschaftshistorischen Ansätzen folgen möchte, zunächst völlig untypisch. Wien wirkt in diesen Jahren, um die es im Folgenden geht, nicht als Zentrum einer semi-dependenten Peripherie; Wien ist keine Metropole, die sich in eine klassische kolonialgeschichtliche Sichtweise einordnen lässt.6 Wien ist zu diesem Zeitpunkt auch kein zwingend notwendiger Bestandteil einer spezifischen wissenschaftlichen Dynamik. Die Medizinhistoriographie spricht für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Wien von einer Phase der „Stagnation“7, es gibt keine Strahlkraft, die einer „Medizinischen Schule“ in diesem Moment zugeschrieben werden kann. In Wien handeln Menschen, die hauptsächlich durch ihre persönliche Geschichte, ihre sprachlichen Fähigkeiten und vielleicht auch gerade durch eine gewisse Randständigkeit im akademischen Establishment eine Praxis aufgreifen und weiterentwickeln und diese dann auch verbreiten. Sie nutzen dazu keine österreichischen Institutionen, sondern hauptsächlich das Netzwerk der britischen Diplomatie und ihre persönlichen Verbindungen. Das Wissen von „GoBetweens“ wird in diesen Verkehr durch den Filter seiner Teilnehmer – hauptsächlich europäisch-akademischer Ärzte – aufgenommen und weiterverbreitet. Die Pocken (oder im Folgenden synonym: Blattern) waren über Jahrtausende eine der „Geißeln der Menschheit“. Als einzige der großen historischen Seuchen gelten sie heute – seit 1980 – als vollkommen ausgerottet.8 Die hochinfektiöse Pockenerkrankung erzeugte einen starken Ausschlag, rief grippeartige Symptome hervor und konnte unter Umständen zu Nierenversagen führen. Die Letalität lag im Durchschnitt bei 20 Prozent, Schätzungen zufolge starben phasenweise aber sogar fast die Hälfte aller Infizierten an den Pocken; wer überlebte, trug tiefe Narben davon, die von den vergleichsweise großen, flüssigkeitsgefüllten Pusteln herrührten, die die Pocken hervorriefen.9 Die historische Unterscheidung der Pocken von anderen epidemischen Krankheiten ist nicht immer einfach. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Pusteln bei

Kapil Raj, Circulation and locality in early modern science, in: British journal for the history of science 43/4, 2010, 513–517, hier: 516. 6 Vgl. dazu den grundsätzlich interessanten Beitrag von Brahm, Imperialismus und Kolonialismus, 2017 im Handbuch Wissenschaftsgeschichte, der deutlich zeigt, dass der Zusammenhang von „Imperialismus“ und Wissenschaft immer noch hauptsächlich als Teil der Kolonialismus-Forschung gesehen wird; für eine Beteiligung von Staaten oder Gebieten, die nicht direkt in die Systematik der kolonialen Machtverhältnisse eingebunden sind, fehlt offenbar das entsprechende Werkzeug. 7 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965. Vgl. dazu auch die Einleitung. 8 Zu den Pocken vergleiche allgemein: Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 42–50. 9 Neben den oft auch als „Menschenblattern“ bezeichneten Pocken waren auch die von den Blattern klar zu unterscheidenden „Windpocken“ bereits relativ früh bekannt. Die medizinische Literatur des 19. Jahrhunderts kennt darüber hinaus auch die sogenannten „Varioloiden“, ein Krankheitsbild, unter dem Sonderformen von fiebrigen Ausschlägen zusammengefasst waren. Vgl. Bleker/Brinkschulte, Windpocken, Varioloiden oder echte Menschenpocken, 1995, 99. 5

Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

den Pocken verstärkt an Kopf und Extremitäten auftraten und auch die Handinnenflächen und Fußsohlen betreffen konnten.10 Wie viele Seuchen entfalteten die Pocken eine enorme geschichtswirksame Kraft. Eine vollständige Geschichte der Verbreitung der Blattern im Kontext der Geschichte des Ausgreifens europäischer Machtpolitik in die Welt muss hier unterbleiben; es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Blattern in der politischen Geschichte der Welt, z. B. im Rahmen der Kreuzzüge oder der Eroberung Amerikas durch die Spanier, wesentliche Spuren hinterlassen haben. Das Wissen um diese geschichtliche Dimension der Blattern war bereits den zeitgenössischen medizinischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts bekannt. Ihre Zusammenstellungen der wichtigsten historischen Beschreibungen der Blattern sind bis heute für die entsprechende Fachliteratur von Bedeutung.11 Moderne Forschungsergebnisse geben Grund zu der Annahme, dass die Pocken schon zu Beginn der Jungsteinzeit in Afrika aufgetreten waren; im alten Ägypten sind sie durch archäologische Funde nachweisbar: Die Mumie des Pharaos Ramses V. trägt Pockennarben. Von Ägypten aus verbreiteten sie sich wahrscheinlich nach Indien und China, wo sie noch vor Christi Geburt beschrieben wurden. In Europa sind sie wahrscheinlich seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus aufgetreten.12 Ausgerottet werden konnten die Pocken dank der durchschlagenden Wirkung der Pockenimpfung. Wie beim Gipsverband handelt es sich auch bei der „Impfung“ um eine im Grunde lange bestehende Einsicht. Die Praxis, Menschen mit einer kleinen Dosis des „Pockengifts“, also dem aus der Wunde einer Pockenpustel austretenden Sekret, zu impfen, war wahrscheinlich schon tausende Jahre vor unserer Zeit bekannt. Mediziner des 18. und 19. Jahrhunderts verwendeten dafür den Begriff der „Variolation“ oder der „Einimpfung“. Die Übernahme dieser heilkundlichen Praxis in die akademische Medizin bildete die Grundlage für ihre Modifikation zur „Kuhpockenimpfung“. Die europäische akademische Medizin führte einen Kampf um die Durchsetzung zuerst der Variolation und später der Vaccination. In der medizinischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht die Auseinandersetzung um Nutzen und Schaden dieser beiden Praxen für den Kampf zwischen einer als fortschrittlich verstandenen europäischen Medizin der Aufklärung und vermeintlicher gesellschaftlicher Rückschrittlichkeit und ihren Begleitern: dem Aberglauben und der Religion. Im Folgenden soll anhand des Beispiels der Impfung zunächst gezeigt werden, wie das Wissen um eine heilkundliche Praxis in die europäische Medizin Eingang fand. Am Beispiel des von Wien aus agierenden Impfpioniers Jean de Carro werden danach die Mechanismen des Transports von modifiziertem akademischen Wissen um 1800 dar-

Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 43. Friedinger, Die Kuhpocken-Impfung, 1857, 10–34. Medizinhistorische Forschungen gehen heute davon aus, dass es sich bei der sogenannten „Antoninischen Pest“, die sich zur Zeit des Kaisers Marc Aurel in weiten Teilen des Reichs verbreitet hat, um Pocken gehandelt hat. Vgl. George C. Kohn (Hg.), Encyclopedia of plague and pestilence, New York 1995, 6.

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

gestellt und schließlich die im Zuge der Einführung der Praxis der Impfung auftretenden Erfolge und Misserfolge ihrer Wirkung nach analysiert. 3.1

Die „Einimpfung“ und ihre Rezeption in der Medizin der Aufklärung

Dem Verständnis des Grundprinzips der Impfung geht die Erkenntnis der Immunität voran. Die Geschichte der Einführung der Blatternimpfung spiegelt die verschiedenen Ausprägungen wider, die die Blattern kannten. Die Menschen erlebten in Epidemien schwere Formen, die Mortalitäten von bis zu jedem zweiten erkrankten Erwachsenen hervorriefen, und leichte Formen, die vor allem im Kindesalter leichter überstanden werden konnten. Aus Erfahrung erkannte man schnell, dass jene, die die Krankheit einmal überstanden hatten, kein zweites Mal erkrankten. Man begann daher, die vermeintlich leichten „Kindsblattern“ aktiv fortzupflanzen. Die genauen Gründe für die Immunisierung blieben dabei im Dunklen.13 Diese Praxis lässt sich lange zurückverfolgen. Etwa um das Jahr 1000 weiß man heute von den ersten Impfversuchen in China, bei denen Materie aus den Pockenpusteln mit Watte in die Nase von Kindern eingeführt wurde. Auch in Indien hatte man schon erkannt, dass bereits mit milderen Formen Infizierte nicht mehr an den schweren Blattern erkrankten, und eine eigene Methode entwickelt: Kinder wurden in die Decken und Textilien von bereits Erkrankten eingewickelt.14 Diese Praktiken blieben bis ins 18. Jahrhundert abseits des Fokus akademisch-medizinischer Auseinandersetzungen in Europa; sie galten daher in der akademischen medizinhistorischen Rückschau, wie auch der Gipsverband, als „nicht entdeckt“. Die oftmals wiederholte, gut durchforschte Erzählung der Einführung der Pockeneinimpfung beginnt mit einer Reise, die die britische Adelige Lady Mary Wortley Montague (1689–1762) Anfang des 18. Jahrhunderts ins Osmanische Reich unternahm. Montague war die Frau des britischen Botschafters bei der Hohen Pforte.15 Sie muss eine willensstarke, besonders intelligente Persönlichkeit gewesen sein. Schon auf der Reise schrieb sie aufmerksame, hellsichtige Briefe nach Hause, einer davon enthält die bis heute früheste Erwähnung der Hanswurst-Aufführungen in Wien.16 Während des

Man geht heute davon aus, dass nicht unterschiedliche Formen der Blattern für den Impfschutz verantwortlich waren, sondern die Form der Infektion. Durch den Schnitt in die Haut verbreitet sich das Virus langsamer als durch die Aufnahme z. B. über die Lunge. Die Impfung unter der Haut gibt dem Immunsystem daher die Möglichkeit, sich langsamer auf das Virus einzustellen. Vgl. Grundy, Montagu’s variolation, 2000, 4. 14 Dinc/Ulman, The introduction of variolation, 2007, 4262. 15 Die „Hohe Pforte“ bezeichnet eigentlich den Eingang zum Sultanspalast in Konstantinopel. In der Literatur des 19. Jahrhunderts steht der Begriff stellvertretend für die Osmanische Regierung. 16 Robert Kauf, Der Brief der Lady Mary Wortley Montagu. Ein Tadel der Wiener Hanswurstkomödie?, in: Maske und Kothurn 13/2–3, 1967, doi: 10.7767/muk.1967.13.23.109. 13

Die „Einimpfung“ und ihre Rezeption in der Medizin der Aufklärung

Aufenthalts in Konstantinopel kam Lady Montague in Kontakt mit der im Osmanischen Reich damals geübten Form des „Pockenkaufs“, einer Form der Immunisierung, bei der gesunde Menschen mit dem Pockensekret einer milden Form der Pocken immunisiert wurden. Der „Pockenkauf “ wurde in Konstantinopel von Frauen betrieben, die sich durch die Vermittlung dieser gutartigen Blattern ein Einkommen verschafften. Schon 1717 schrieb Montague in einem Brief nach Hause über diese Praxis, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. 1718 ließ sie in ihrem Sommerhaus in Konstantinopel eine alte Griechin kommen, um ihren damals fünfjährigen Sohn mit dem Pockenvirus infizieren zu lassen.17 Vielleicht lag in der Außenseiterrolle Montagues auch eine Stärke: Sie hatte sich nicht allzu sehr von der europäischen Reiseliteratur, die sie gelesen hatte, vereinnahmen lassen und bewahrte sich einen vergleichsweise unvoreingenommenen Blick auf die Zusammenhänge zwischen der Impfung und den gesellschaftlichen Verhältnissen.18 Vielleicht war die Zeit auch einfach reif für die Übernahme dieser Technik in den Kanon der akademischen Medizin, denn durch einen Hintereingang hatte diese Praxis schon einige Jahre zuvor die Bühne der europäischen Wissenschaften betreten. Es war aber nicht die resolute britische Schriftstellerin und Reisende, sondern ein Grieche, der dies erreichte. Ein lateinischer Aufsatz von Dr. Emanuel Timonius, gebürtig aus Chios, erreichte bereits 1713 die Londoner Royal Society und wurde dort auch rezipiert. Allerdings scheint es so, als ob keiner der dort von der neuen Technik Hörenden bereit gewesen wäre, das Risiko, sie auch einzusetzen, auf sich zu nehmen. Noch vor Timonius dürfte auch sein Studienkollege aus Padua, Iakovos Pylarinos, auf die Praxis der Inokulation aufmerksam gemacht haben. Pylarinos war ebenso wie Timonius in einflussreichen Stellungen tätig gewesen und hatte sich zeitweilig in Russland und Deutschland aufgehalten.19 Der Nachruhm, die vermeintlich osmanische Methode in Westeuropa eingeführt zu haben, fiel aber weder auf Pylarinos noch auf seinen Kollegen aus Chios.20 Nach ihrer Rückkehr nach England gelang es Montague, der Praxis der Variolation in Westeuropa zum Durchbruch in der akademischen Medizin zu verhelfen. In England nötigte sie den mit ihr aus Konstantinopel zurückgekehrten Arzt Charles Maitland (1668–1748), der die Impfung ihrer Kinder in Konstatinopel beaufsichtigt hatte, die Einimpfung zu wiederholen, was dieser nur in Anwesenheit

Dinc/Ulman, The introduction of variolation, 2007, 4263. Grundy, Montagu’s variolation, 2000, 4. Vgl. Stephanos Geroulanos, Iakovos Pylarinos (1659–1718) und sein Beitrag zur Variolation, in: Gesnerus 35, 1978, 264–275, hier: 265. 20 Timonius hatte bereits zuvor als Übersetzer gearbeitet. Im Zuge dieser Tätigkeit war er auch an der Britischen Gesandtschaft tätig, wo er Lady Worthley Montague kennengelernt hatte. Er selbst hatte keine Gelegenheit mehr, darauf hinzuweisen, denn sein Leben endete tragisch: Er verübte 1720 während seiner Teilnahme an den Verhandlungen für den Friedensvertrag von Passarowitz, bei denen er als Dolmetscher eingesetzt war, Selbstmord. Dinc/Ulman, The introduction of variolation, 2007, 4262. 17 18 19

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

von zwei Zeugen tun wollte – wohl aus Angst, im Nachhinein der Scharlatanerie bezichtigt zu werden. Den Höfen als Zentren der Macht kam im 18. Jahrhundert für die Durchsetzung der Variolation eine entscheidende Bedeutung zu. Im Unterschied zu anderen epidemischen Krankheiten machten die Pocken auch vor allerhöchsten adeligen Kreisen keinen Halt; Zar Peter II. von Russland, Ludwig XV. von Frankreich und Ludwig I. von Spanien starben in dieser Zeit an den Pocken. In England selbst war Königin Elisabeth I. im 16. Jahrhundert von den Pocken befallen worden, zum Dank für ihre Heilung wurde 1562 sogar eine Silbermünze geprägt. Montague fand deshalb für die Propagierung der neuen Technik im Hochadel das rechte Publikum. Widerstand und Misstrauen gegen die neue Technik der Impfung waren dennoch groß: Die Impfgegner in England begannen, sowohl das Geschlecht Montagues als auch die Herkunft der Impfpraxis aus dem Osmanischen Reich als wesentliche Argumente gegen die Impfung zu nutzen. Eine verbreitete Theorie zur Entstehung der Pocken besagte, dass die Pocken bereits im Mutterleib entstünden und durch die Mutter auf den Embryo übertragen würden, so seien Frauen also die Verursacher der Krankheit und noch dazu komme die Praxis der Einimpfung aus dem Land des Harems. 1722 hieß es in England in einer Predigt, die gegen die Einimpfung in St. Andrews gehalten wurde, die Praxis entstamme „a few Ignorant Women, amongst an illiterate and unthinking People“ und sei daher abzulehnen.21 In England gelang die Etablierung der Pocken-Einimpfung gegen diese Widerstände nur durch die starke Unterstützung des Hofes. Die Praxis der Einimpfung der Menschenblattern war aber bei Weitem nicht flächendeckend und schon gar nicht unumstritten; auch als sie nach Mitteleuropa kam. In der Diskussion rund um die Einführung dieser Methode spiegeln sich viele Fragestellungen wider, die sich später auch bei ihrer Einführung im Osmanischen Reich wiederholen sollten, daher lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die Wendepunkte der Durchsetzung der „Inokulation“ zu werfen. Im deutschen Sprachraum war die Einimpfung der Blattern schon in den 1730erJahren in Hannover durch englische Ärzte in den Methodenkanon der akademischen Medizin eingeführt worden. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint sie aber nur wenig verbreitet worden zu sein. Der erste Impfversuch in Berlin scheiterte spektakulär: Nach dem Vorbild der Lady Montague wollte ein preußischer Minister zwei seiner Kinder impfen lassen, doch beide starben. Die Einimpfungen mit Menschenblattern erlebten, nachdem sie von der meist nur lokal geübten Praxis zum Instrument staatlicher und/oder medizinwissenschaftlicher Aktivität geworden waren, in ganz Europa schwere Rückschläge: In Frankreich wurde die Impfung 1763 in den Städten sogar verboten, weil sich frisch geimpfte Personen noch während des Durchmachens der milden Krankheitsform in der Öffentlichkeit

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Grundy, Montagu’s variolation, 2000, 6.

Die Frage des Anton de Haen

zeigten und so zu einer vielfachen Übertragung der Krankheit beitrugen. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung gegen den Impfarzt Gatti und einem „Federkrieg“ unter Gelehrten in Frankreich, Deutschland und Großbritannien, die unter Einsatz von Sterbelisten und statistischen Methoden vehement über den Nutzen bzw. Schaden der Impfung stritten. Der Streit wurde schließlich durch eine königliche Anordnung entschieden, mit der die Impfung wieder erlaubt wurde; 1769 wurde der Arzt Gatti dann sogar ermächtigt, an der französischen Militärakademie zu impfen.22 3.2

Die Frage des Anton de Haen

Nach Wien kam die Einimpfung der Kindsblattern im Jahre 1768 noch während des Streits in Paris. Einer der schärfsten Gegner der Kuhpockenimpfung saß mit dem Boerhaave-Schüler und ausgezeichneten Lehrer Anton de Haen23 (1704–1776) eben hier. Zentrales Argument war nicht etwa ein medizinisches: Der schlichte Versuch, der Vorsehung durch die Impfung ein Schnippchen zu schlagen, wurde von de Haen auf das Schärftse kritisiert und verworfen. De Haens Vehemenz war beinahe legendär. In den 1970er-Jahren hat die Medizingeschichtsschreibung die Einstellung de Haens als „Aggressivität gegen die sogenannten Neuerer“ bezeichnet.24 Vieles davon mag dem Charakter dieses theologisch und medizinisch hoch gebildeten Mannes geschuldet gewesen sein; manches aber auch dem vorherrschenden Denkstil der Wiener Mediziner. Sowohl de Haen als auch van Swieten wandten sich gegen die theorielastigen Strömungen der medizinischen Systeme und betonten die Bedeutung der praktischen Erfahrung am Krankenbett. In die Medizingeschichtsschreibung eingegangen ist de Haens Auseinandersetzung mit Albrecht Haller um die Theorien der Irritabilität und der Sensibilität: Deren hypothetischer Ansatz war für den Pragmatiker de Haen „die Ausgeburt irregeleiteter Phantasie“. 25 Als das mag de Haen auch die Impfung gesehen haben. Schon bald nach seinem Tod wurde er als einer der wortgewaltigsten Gegner der Impfung im deutschen  Sprachraum angesehen. Der Wiener Arzt J. F.  Draut26 schrieb 1829 in einer historischen Würdigung der Impfung, de Haen könne in der Ge-

Vgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 52–60. Anton de Haen hatte ursprünglich katholische Theologie studiert und sattelte erst mit 27 Jahren auf das Studium der Medizin um. Mit dem großen Reformer der Wiener Medizin, Gerard van Swieten, war er seit Studientagen gut bekannt; de Haen hatte in Leyden unter anderem bei van Swieten studiert. 1754 zog de Haen nach Wien, wohin er auf Empfehlung seines Freundes berufen worden war. Zu de Haen und seinen Beiträgen zur Krankengeschichtsschreibung vgl. Christian Probst, Der Weg des ärztlichen Erkennens am Krankenbett. Herman Boerhaave und die ältere Wiener medizinische Schule, Bd. 15: Sudhoffs Archiv Beih, Wiesbaden 1972, 112–149. 24 Ebd., 148. 25 Ebd., 148. 26 Der Vorname Drauts ist unklar. 22 23

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schichte der Medizin bei all seinen vortrefflichen Eigenschaften als Arzt und Selbstdenker nicht ohne Vorwurf bleiben. Er habe mit Heftigkeit und Hartnäckigkeit viele richtige Lehren bekämpft und etwa behauptet, dass die Menschenblattern „bey weiten nicht so bösartig und verderblich seyen, wie man sie schildere, und dass man zwar Gottes Strafgerichte durch die Impfung abwenden wolle, dies aber nicht können werde.“27 Seinen Gegenwind bekamen frühe Impfbefürworter wie Balthasar Ludwig Tralles (1708–1797) in Breslau heftigst zu spüren.28 De Haen hatte zunächst versucht, die Gefährlichkeit der Einimpfung der Blattern mit statistischen Mitteln zu beweisen. In mehreren schriftlichen Auseinandersetzungen mit anderen Ärzten in Europa legte er seine Argumente für die Gefährlichkeit der Einimpfung dar. Als dies nicht überzeugend genug gelang, stellte de Haen ein theologisches Argument in das Zentrum seiner Gegnerschaft. Ausgehend von der Tatsache, dass auch bei Einimpfung zumindest einige Menschen zu Tode kommen könnten, wendete er die Argumentation auf eine religiöse Seite und stellte 1757 die Frage, ob es einem Menschen überhaupt erlaubt sei, ein solches Risiko einzugehen, um sein Leben zu schützen? Die Antwort auf die Frage gab de Haen selbst. „Von den Menschen hat niemand irgendein Recht auf sein eigenes Leben; und niemand hat so sehr ein Recht, sein Leben in klar ersichtliche Gefahr zu begeben. Die Inoculation bringt den Menschen in eine solche Gefahr. Also ist sie nicht zulässig.“29 Für diese Argumentation dürften auch die religiösen Ansichten de Haens eine Rolle gespielt haben. De Haen sympathisierte – wie die Kaiserin Maria Theresia – mit den Lehren des katholischen Reformers Jansen. Im Zentrum dieser Lehre stand die Betonung der göttlichen Gnade, auf die der Mensch keinen Einfluss nehmen könne. Die Impfung stand diesem Konzept diametral entgegen. Der Kampf um die Einimpfung der Menschenblattern sorgte nun in Wien für heftige Auseinandersetzungen. Als kaiserlicher Leibarzt lehnte Anton de Haen die Impfung mit Menschenblattern mit seiner ganzen Autorität vehement ab und veröffentlichte mehrere Schriften über seine Ansichten dazu.30 Die schnell verlaufende Blatternkrankheit, in deren Gang die Ärzte kaum eingreifen konnten, bot ein optimales Aktionsfeld für magische Praktiken und Experimente. Das Nebeneinander von Religion und Medizin wird durch die noch vorhandenen schriftlichen Zeugnisse am Wiener Hof aus dem 18. Jahrhundert überVgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 44f. Vgl. ebd., 62–65. In Deutschland bemühte sich Balthasar Ludwig Tralles aus Breslau um die Verteidigung der Impfung. Tralles, Mitglied der naturwissenschaftlichen Akademie „Leopoldina“, gab sich in derselben den Beinamen „Avenzoar II.“, nach dem arabischen Arzt Ibn Zuhr, der im 12. Jahrhundert in Andalusien unter anderem auch über die Pocken publiziert hatte. 29 „Quaestio haec sequentem includebat difficultatem. Mortalium nemo ullum in propriam vitam jus habet; adeoque neque jus habet suam vitam in evidens discrimen conjiciendi. In oculatio autem hominem in tale discrimen conjicit. Ergo illicita est.“ Anton de Haen, Quaestiones saepius motae super methodo inoculandi variolas. ad quas directa eruditorum responsa hucusque desiderantur; indirecta minus satisfacere videntur (etc.), Wien 1757, 11. Ich danke Frau Dr. Victoria Zimmerl-Panagl für die Herstellung dieser Übersetzung. 30 Vgl. Haen, Refutation de l’inoculation, 1759. 27 28

Die Frage des Anton de Haen

aus deutlich. Maria Theresia, stets umsorgt von ihrem Vertrauten, dem bedeutenden Arzt Gerard van Swieten (1700–1772) und von daher auch über medizinische Fragen bestens informiert, schickte ihren an Blattern erkrankten Töchtern Marianne und Josepha im April 1757 Kerzen, die man unter das Kopfkissen legen konnte. Heilkunst und Glaube gingen Hand in Hand. Am Hof teilten vielleicht genau deswegen manche die skeptische Haltung de Haens und bedienten sich ebenso religiöser Argumente. Die zweite Ehefrau des damaligen Thronfolgers Joseph II. schrieb etwa 1765: Wenn Gott mich haben will – ich bin in seiner Hand, er wird so oder so über mich verfügen, wie es ihm gefällt. Weder die Kaiserin noch ich haben sie gehabt und ich kenne eine Menge Leute, die ohne Blattern gestorben sind, und andere, die sie im hohen Alter noch überstanden haben. Dem Schöpfer müssen wir uns anvertrauen; es liegt an ihm, unsere Todesart zu bestimmen; wenn ich in seiner Gnade bin, ist mir alles andere gleich.31

Gott wollte sie haben: 1767 erkrankte sie an den Blattern und starb nach wenigen Wochen. Auch Maria Theresia, die schon Kinder durch die Pocken verloren hatte, wurde wenige Wochen später infiziert, überstand die Krankheit jedoch schwer gezeichnet. In der Erkrankungsphase mag es zu einem Meinungsumschwung gekommen sein: Der Hofarzt und Schützling Gerard van Swietens, Anton von Störck (1731–1803), wurde zum behandelnden Arzt bestellt und gewann ihr Vertrauen. Schon in den 1750er-Jahren hatten unter seiner Aufsicht Impfversuche in Wiener Krankenhäusern stattgefunden, die im Unterschied zu den Versuchen in Berlin glücklich verliefen. Diese Begegnung mag zu einem Umdenken bei Hofe geführt haben, denn selbst der als großer Reformer und enger Vertrauter Maria Theresias berühmte Arzt Gerard van Swieten hatte sich gegenüber der Einimpfung der Blattern zunächst skeptisch gezeigt. Die Einimpfung war bei Hof nun wieder aktuell. Durch den Gesandten am Englischen Hof wurden Gutachten und Impfverzeichnisse eingeholt, die alle so günstig von der Impfung sprachen, dass Maria Theresia zunächst den prominenten Impfarzt Daniel Sutton einladen ließ, nach Wien zu kommen, um in Österreich die „Inoculation“ einzuführen. Sutton lehnte diesen Antrag ab, und so kam sein Kollege Jan Ingenhousz (1730–1799), der zuvor die britische Königsfamilie geimpft hatte, aus England nach Wien.32 Um alle Zweifel zu beseitigen, ließ man zur Probe im Frühjahr 1768 unter Aufsicht Störcks, der selbst im Waisenhaus aufgewachsen war, „ungeachtet der unverschämten Lügen, welche Schmähsucht und Vorurtheil auszustreuen suchten“33 mindestens 100 Kinder eines Waisenhauses in Wien impfen. Der Erfolg dieses Versuches überzeugte van Swieten, der noch 1750 in seinem bedeutendsten Werk, den „Commenta-

31 32 33

Stollberg-Rilinger 2017, 512. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 69. Stollberg-Rilinger 2017, 514.

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ria“ zu den wesentlichsten Erkenntnissen seines Lehrmeisters Boerhaave34, geschrieben hatte, dass das Blatterngift von keinem Sinn begriffen werden könne, und dass es das Göttliche an diesen Krankheiten sei, dass es alle Bemühungen ärztlicher Kunst vernichte.35 Maria Theresia ließ darauf im September 1768 zwei ihrer Kinder und die einzige Tochter Kaiser Josephs II. inokulieren. Im Oktober und November 1770 veranlasste sie, dass beim Waisenhaus auf dem Rennweg in Wien ein „Inoculationshaus“ eingerichtet wurde.36 Hauptkritikpunkt der Gegner der Impfung mit Menschenblattern war die noch immer relativ hohe Sterblichkeit.  1782 stellte de Haen fest, dass die „Einimpfung ein fürchterlicher Feind des menschlichen Geschlechts sey, und daß sie den Ruhm dadurch viel Menschen am Leben erhalten würden, keineswegs verdiene“.37 De Haen war alles andere als ein dumpfer Hetzer gegen die Veränderung. Als Arzt in einflussreicher Position war er nachgerade gezwungen, eine Alternative aufzuzeigen. Das Gegenmittel gegen die Blattern sah er in sanitätspolizeilichen Maßnahmen. Seiner Ansicht nach sollten in jedem Land von „erfahrenen praktischen Ärzten“ Verordnungen herausgegeben werden, wie die Blattern zu behandeln seien. Dadurch wäre es möglich, die „alten Weiberregeln und die eingewurzelten schädlichen  Vorurtheile endlich durch vernünftige Vorstellungen“ abzulösen.38 Zentrale Motive der zukünftigen Auseinandersetzung mit der Frage der Kuhpockenimpfung tauchen hier auf: Irrationalität und Weiblichkeit stehen in diesem Bild im Gegensatz zu einer starken staatlichen Einflussnahme auf die Gesundheit der Menschen. Wenn die vorgeschlagene Prophylaxe nicht akzeptabel erschien, aber medizinische Alternativen fehlten, war es im Denken des aufgeklärten Absolutismus nur folgerichtig, dass de Haen nach Ordnung rief. Es sollten Gesetzte erlassen werden, mit denen die Ausbreitung der Blattern eingeschränkt werden konnten. Welche Maßnahmen denn nun gesetzlich verordnet werden sollten, ließ de Haen wohlweislich offen, denn es sei „schwierig“, die richtigen Maßnahmen zu finden. „Wenn man aber an mehr als einem Orte auf verschiedene Weise Versuche machte, so würde sich bald zeigen, was in den Einrichtungen zu viel oder zu wenig, was schädlich oder nützlich, was brauchbar und anwendbar, oder zu ändern wäre, und die dienlichen Vorkehrungen würden dadurch am besten ausfindig

Gerard van Swieten/Herman Boerhaave, Gerardi van Swieten … Commentaria in Hermanni Boerhaave Aphorismos de cognoscendis et curandis morbis, Lugduni Batavorum, https://ubdata.univie.ac.at/ AC06576928. 35 Vgl. Stollberg-Rilinger 2017, 505. 36 Vgl. Heinz Flamm/Christian Vutuc, Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, in: Wiener klinische Wochenschrift 122/9–10, 2010, 265–275, hier: 266, doi: 10.1007/s00508-010-1379-0. Die Zahlen der genau geimpften Personen sowohl im Versuch in St. Marx als auch bei Hof sind widersprüchlich. 37 Vgl. Haen/Platner/Weygandsche Buchhandlung, Anton von Haen kaiserlichen Leibarztes Heilungsmethode, 1782, 409. 38 Vgl. ebd., 409–411. 34

Die Frage des Anton de Haen

gemacht werden.“39 Mit dem Gedanken, man müsse hier mit staatlichen Maßnahmen gegensteuern, war de Haen nicht allein. Auch der spätere Präsident der naturwissenschaftlichen Vereinigung Leopoldina in Halle, Friedrich Delius, zeigte sich gegenüber der „Einpfropfung“ von milden Menschenblattern bei Kindern skeptisch. In seinen „Fränkischen  Sammlungen“ schrieb er 1758, dass Maßnahmen zur Vorbeugung und besseren Behandlung weit effektiver als die Einimpfung wären. In Wien wertete der Impfarzt Draut das sechzig Jahre später als „Anlehnung an die Türkische Schicksals  – Idee“, die jedoch zum Glück nur wenig Anhänger gefunden habe.40 Damals, um 1830, war es bereits der Orient, der als Gegenbild zu einer als fortschrittlich empfundenen Praxis herhalten musste. Die Verbreitung der Idee der Einimpfung ließ sich von diesen Diskussionen nicht aufhalten. Es scheint, dass zunächst jedoch nur vergleichsweise wenige Menschen von der Möglichkeit, sich oder ihre Kinder impfen zu lassen, Gebrauch machten.41 Durch die Praxis der Inokulation begann auch über die Therapie ein Lernprozess, der aufdeckte, wie viele tausend Menschenleben die ärztliche Praxis vor Beginn der Immunisierungen gekostet haben musste. Der bedeutende Wiener Sanitätsverwalter und Arzt Pascal Joseph Ferro (1753–1809) schrieb 1802, dass man ehedem auch in Österreich geglaubt habe, dass die Schutzkraft der Blattern umso höher sei, je der stärker der Ausschlag derselben sei, da der Ausschlag ein Zeichen für die Reinigung des Körpers sei. „Die Folge war, dass man alles anwandte, um den Ausschlag gleich im Anfange der Krankheit zu befördern, wodurch denn die Menge desselben, die Bösartigkeit und Gefahr der Krankheit beträchtlich vermehrt wurde.“ Erst durch die Einführung der Inokulation der milden Menschenblattern habe man verstanden, dass es nicht auf die Zahl der Pusteln ankomme, so Ferro.42 Diese Aussage fällt in die Zeit der Hochblüte der Lehre Browns, von dem bereits in der Einleitung die Rede war. Die kathartischen Therapien wie Blutentziehungen und Purganzen waren in der Krise: Ärzte begannen zu erkennen, dass man durch die zum Dogma erhobene humoralpatholgische Systematik Krankheiten verschlimmern konnte, anstatt sie zu heilen. Auch das Eskalieren der Krankheit zur Reinigung des Körpers gehörte zu diesen Methoden, die nun plötzlich infrage standen. Die Anwendung der Variolation sollte damit zu einer Veränderung im Wiener Denkkollektiv beitragen.43

Haen/Platner/Weygandsche Buchhandlung, Anton von Haen kaiserlichen Leibarztes Heilungsmethode, 1782, 410. 40 Vgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 45. 41 Vgl. ebd., 67. 42 Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802, 8f. 43 Dieser Denkstilwechsel betraf die gesamte Medizin und vollzog sich schrittweise; in Frankreich brachten die Lehren des von Brown beeinflussten François Broussais eine Renaissance der Blutentziehungen. Für Broussais beruhten sämtliche Krankheitsformen auf Entzündungen. Vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, 2001, 214. Er verortet den Umbruch im Denkstil, der von den Entleerungen weggeht, im Auftreten der 39

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Der Weg zur Durchsetzung der Impfprophylaxe war steinig. Tatsächlich starben Menschen an den Impfungen, wie die Gegner der Einimpfung, wie de Haen, stets zu betonen wussten. Die Impfung mit den Menschenblattern brachte unter diesen Umständen den Arzt an die Grenzen des Erträglichen, vor allem wenn die Rate der Impfopfer über ein bestimmtes Maß stieg. Während es in manchen Jahren nur einer von 400 gewesen sei, der der Impfung zum Opfer fiel, so wären es in anderen Jahren bis zu eine von 18 Personen berichtet Ferro. Das Grauen des durch die Impfung verursachten Todes machte in solchen Jahren vor keinem impfenden Arzt mehr halt. Der sonst so sachliche Mediziner Ferro fasste diese unerträgliche Position des Mediziners 1802 in Worte: Nun ist aber der Tod eines Kindes nie schmerzlicher, als wenn man sich als Urheber desselben denkt. Ich habe diese traurige Szene gesehen, habe den grenzenlosen Jammer der Aeltern, die Angst und Betäubung des Arztes bey dem Anblicke eines Kindes, das noch vor wenigen Tagen gesund und munter war, und durch die Impfung ein Opfer des Todes wurde, gesehen. Eine traurigere Lage für Aeltern und für einen Arzt kenne ich nicht.44

Ohne den staatlichen Druck und die Unterstützung seiner Institutionen wäre die Einimpfung der Menschenblattern unter diesen Umständen früher oder später wohl zusammengebrochen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde Wien dennoch zu einem Zentrum der Blatterneinimpfung. Aus rein rationalen, obrigkeitlichen Überlegungen war die Impfung trotz allem dem massenhaften Seuchentod vorzuziehen. Für die Erhaltung einer gesunden Bevölkerung war das Risiko des Todes Einzelner eine verschmerzbare Nebenwirkung. Während der Regierungszeit Josephs II. wurde am Allgemeinen Krankenhaus unter Störcks Nachfolger Joseph von Quarin (1733–1814) eine Impfanstalt eingerichtet, die auch den einfachen Stadtbewohnern offenstand.45 Der Staat des aufgeklärten ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte sich die Impfung als Mittel zur Beherrschung und Bewirtschaftung seiner Bevölkerung angeeignet. Die Medizin hatte sich  – wenn man Anton de Haen folgen möchte – über den Willen Gottes hinweggesetzt und durch die veränderten Krankheitsverläufe erkannt, dass grundlegende Elemente ihres Krankheitsverständnisses falsch waren. Gleichzeitig wurden die Grundlagen der Impfung als medizinischer Technik aus der außereuropäischen Praxis abgeleitet. Das Wissen um die Herkunft der Technik des Impfens, aus dem „irrationalen“, „weiblichen“ Orient blieb im medizinischen Sprachgebrauch erhalten. Einen Niederschlag fand dies in der Terminologie der Methodik, die durch die miteinander korrespondierenden, zunehmend im publizistischen Wettstreit stehenden Ärzte des 18. Jahrhunderts Cholera und folgt darin: Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, ungekürzte Ausgabe, Bd. 3317: Anthropologie, Frankfurt/M. 1977. 44 Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802, 14. 45 Vgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 73.

Die Frage des Anton de Haen

ständig verfeinert wurde. Parallel dazu begann man, bei den klassischen Autoren der Antike nachzugraben. Was das Krankheitsbild und seine Entstehung betrifft, war der „Orient“ der Herkunftsraum schlechthin und zwar sowohl was den Ursprung der Krankheit selbst als auch ihre wissenschaftliche Beschreibung betrifft. Die erste umfassende Beschreibung der Masern und der Pocken, die die Zeitgenossen entdecken konnten, stammte vom arabisch-persischen Arzt und Wissenschaftler Rhazes, der im 10. Jahrhundert in Bagdad lebte. Die Art der Beschreibung Rhazes’ nennt der in Wien praktizierende Impfarzt J. F. Draut um 1830 noch „classisch“ und meint, dass sie in den „meisten ihrer Zweige, selbst heut zu Tage noch, dem rationellsten Arzte zu genügen im Stande seyn wird.“46 Man suchte früheste Erwähnungen der Pocken, strebte danach, ungeklärte Krankheitsepidemien als Pocken zu identifizieren und forschte nach den historischen Wegen, auf denen sich Menschen bisher vor der Krankheit geschützt hatten. Draut unterschied in einer Geschichte der Impfung, die er im Jahr 1829 verfasste, aufbauend auf Sprengels „Pragmatischer Geschichte der Arzneykunde“, verschiedene Arten der Impfung. Ihm war bereits klar, dass nicht Lady Montague die Einimpfung entdeckt oder gar erfunden hätte. Im Streben nach Systematisierung und Kategorisierung ging es nun darum, die in der historischen Literatur wiederentdeckten Hinweise auf die verschiedenen Einimpfungsmethoden zu erfassen. Mit Sprengel identifizerte Draut fünf Arten der Einimpfung: Die erste sei die „Indische Methode“, bei der mit „Pocken-Materie“ getränkte Baumwolle auf aufgeriebene Hautstellen aufgebracht wird oder in derselben getränkte Fäden durch die Haut gezogen werden. Diese Praxis geht manchmal mit einer vorhergehenden Diät einher. Als „arabische“ Methode bezeichnet Draut das Durchstechen der Haut mit einer Nadel, als „chinesische“ das Stopfen nicht ganz getrockneten Pustelschorfs in die Nasen von Kindern. Das Anbringen kleiner Einschnitte auf der Haut am Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinder nennt er „afrikanische Methode“, Stiche auf Stirn Wange und Kinn, auf die dann das Pockengift eingerieben wird, die „griechische“.47 Draut wies auch darauf hin, dass die in England und Schottland schon lange (vor Lady Montague) angewendete Methode zur Übertragung des „Pockengifts“ mit jener verwandt zu sein scheint, die in Indien angewendet wird – auch wenn nicht geklärt werden könne, wann sie nach England gekommen sei.48 Die in Deutschland verwendete Methode der Pockenübertragung sei dagegen die „griechische“ gewesen.49

Vgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 22. Diese Ansicht teilt auch der frühe Medizinhistoriker Kurt Sprengel (1766–1833), der in seiner monumentalen Medizingeschichte Ende des 18. Jahrhunderts über die Methoden des Rhazes’ schreibt: „Wären die Ärzte der folgenden Zeiten allezeit bey diesen und ähnlichen Vorschriften, die ich der Kürze halber übergehe, geblieben, so würden mehrere tausend Kinder gerettet worden sein. Aber, was hat der Sektengeist schon für Verwüstungen des menschlichen Geschlechts angerichtet!“ Zititiert nach: Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 46 . Der direkte Bezug Drauts zu Sprengel ergibt sich auch aus dem Folgenden. 47 Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 13. 48 Ebd., 27. 49 Vgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 13. 46

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Diese Methode blieb bei manchen Impfärzten in modifizierter Form auch bis ins 19. Jahrhundert hinein in Verwendung, auch wenn es später um die Kuhpockenimpfung ging. 1834 schrieb der Wiener Impfarzt Zöhrer: „Die Anzahl der Impfstiche ist gewöhnlich zwei an jedem Arme. Drei Impfstiche werden in neuern Zeiten häufig mit besserm Erfolge gemacht, denn die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme bleibt bei drei Impfstichen, an jedem Arme grösser als bei zweien, oder gar nur bei einem.“50 Mit großer Leichtigkeit leitete Draut aus diesen Schilderungen der historischen Impfmethoden ab, dass die Pocken eigentlich aus dem „Orient“ stammten: Wir finden zwischen der Arabischen Impf-Methode – und zwischen der Griechischen eine solche Verwandtschaft, dass wir die letztere mit vielem Grunde von der ersteren ableiten können, nachdem uns auch die Geschichte für eine solche Ansicht sehr beachtenswerthe Stützpuncte darbiethet. Arabien ist ein Land aus der heißen Zone, welche die AusschlagsKrankheiten immer begünstiget; man hat die Blattern in dem Lande gefunden, als die auswärtigen Völker es kennen lernten, und ihre Diagnostik und Therapie ist zuerst von Arabischen Aerzten zu einer wissenschaftlichen Betrachtung erhoben worden. Rechnen wir nun noch hinzu, was die Geschichte näheres sagt, so sehen wir die Araber sich häufig mit den Persern berühren, das Persische Heer nach Griechenland ziehen, und somit eine lebhafte Wechselbeziehung zwischen den mitberührten Völkern des Kaukasus, den Persern und Griechen, eintreten; wie leicht konnte sich da nicht auch die Blatterkrankheit, und mit ihr zugleich die Arabische Impfkunst verbreitet und bis nach Europa verpflanzt haben?51

Mit dieser Krankheit habe sich, so Draut, auch der Blatternkauf, also die Immunisierung durch milde Blattern, die oft gegen Geld angeboten wurde, verbreitet: Nun geschah anfänglich dasjenige aus reiner Bonhomie, was später zu einem geldtragenden Geschäfte wurde, da sich die Angehörigen von solchen Kranken, die gutartige Blattern hatten, dafür bezahlen liessen, dass man gesunde Kinder hinführen durfte, damit sie auch milde Blattern bekämen. Diesen Verkehr nannte man in Deutschland das Blatternkaufen, das übrigens unter allen Völkern, wo man die Blattern kannte, einheimisch war, und später auch auf das künstliche Verfahren, die Blattern mitzutheilen, übertragen worden ist.52

Es verwundert nicht, dass Draut dann auch der Blatternkrankheit einen neuen Namen gab. Er nannte die Blattern „die arabischen Menschenblattern, diese fürchterliche Plage des menschlichen Geschlechts“.53 Der „Orient“ hatte sich in durch die Impfpraxis in die Blatterngeschichte eingeschrieben.

50 51 52 53

Vgl. Zöhrer, Abhandlung über die Einimpfung, 1834, 34. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 23f. Ebd., 21. Ebd., 77.

Die Kuhpockenimpfung

3.3

Die Kuhpockenimpfung

Ende des 18. Jahrhunderts wurde in England eine neue Methode zur Immunisierung propagiert, die das medizinische Handeln grundlegend verändern sollte. In vielen Orten Europas war schon lange bekannt gewesen, dass das „Durchmachen“ der Kuhpocken vor der Infektion mit Variola schützt. Dieses Wissen hatte an manchen Orten schon dazu geführt, dass Personen absichtlich der Ansteckung durch kuhpockenkranke Rinder ausgesetzt wurden.54 Auch dieses Wissen musste aber erst Eingang in den Kreislauf der wissenschaftlichen Kommunikation finden. Es bedurfte der Versuche des britischen Arztes Edward Jenner (1749–1823), um daraus eine wirksame prophylaktische Methode gegen die Pockeninfektion zu machen. Jenner überschritt damals einige heute gültige ethische Grenzen. Nachdem er bereits 1789 seinen anderthalbjährigen Sohn mit Schweinepocken geimpft hatte, übertrug er am 14. Mai 1796 Pustelinhalt von der Hand einer Melkerin, die an Kuhpocken erkrankt war, auf den Arm eines achtjährigen Knaben. Zum Beweis des wirklich vermittelten Schutzes infizierte er diesen am darauffolgenden 1. Juli mit echten Pocken, ohne dass der Knabe erkrankte. Erst nach Wiederholung seines Versuches publizierte Jenner ab 1798 diese und weitere Untersuchungen. Die Nachricht von Jenners Versuch verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ein zweiter Arzt holte von verschiedenen Meiereien in ganz England Nachrichten über die Verbreitung der Kuhblattern und die Häufigkeit der Menschenblattern ein und konnte wenig später Jenners Beobachtungen bestätigen. An vielen Orten wurden Versuche und Gegenversuche unternommen; vehemente Gegner waren ebenso rasch am Plan wie flammende Befürworter.55 Bis 1801 hatte Jenner bei ungefähr 7.500 Personen seine Impfung durchgeführt, durch deren Wirksamkeit bei der nachfolgenden Inokulation mit Pocken er die vielfach geäußerten Zweifel widerlegen konnte. Zur Unterscheidung der neuen Jennerschen Methode von der bisher geübten Einimpfung der Menschenblattern sprach man bald von „Vaccination“ für erstere und von „Variolation“ für letztere.56 In seiner Schrift „Über den Nutzen der Kuhpockenimpfung“ schätzte der Sanitätsreferent der niederösterreichischen Landesregierung, Pascal Joseph Ferro, 1802, dass in Europa jährlich über 600.000 Menschen an den Pocken sterben würden. In Österreich unter der Enns wären es im Durchschnitt 2.000 pro Jahr, davon allein in Wien 650. Diese Zahl konnte in Epidemiejahren noch steigen: Bei einer Epidemie im Sommer und Herbst 1800 starben allein in Wien 3.180 Kinder.57 Widerstand gegen die Blattern erschien zwecklos. Der Horror dieser Krankheit wird in Ferros Worten deutlich: „Selbst die Flucht, das Rettungsmittel vor der Pest, ist hier unkräftig, und so ist nun dieses Übel ein 54 55 56 57

Vgl. allgemein dazu: Flamm/Vutuc, Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, 2010. Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802, 24. Flamm/Vutuc, Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, 2010, 266. Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802, 5.

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Erbtheil für alle Menschen geworden.“ Die Sterblichkeitsraten waren katastrophal: Jeder Fünfte starb an den Blattern, von befallenen Erwachsenen jeder Dritte und zu Zeiten von Epidemien manchmal sogar jeder Zweite.58 Das Jahr 1800 war ein Blattern-Katastrophenjahr im Reich und besonders in Wien. „Seit Menschengedenken“ seien nicht mehr so viele Kinder gestorben, berichtete Ferro. Die Krankheit hatte sich an Wien angeschlichen. 1799 hatten die Blattern in Regensburg gewütet; dort hatte Johann Ulrich Gottlob Schäffer (1753–1829) beobachtet, dass jedes dritte Kind an den Blattern starb und – entgegen den sonst günstigeren Verhältnissen auch eines von 18 Kindern, die mit den milden Blattern geimpft wurden. Dabei hatte man sich zunächst in Wien sicher gefühlt. Im Mai 1800 schienen die Blattern in Wien fast verschwunden zu sein, den impfenden Ärzten fiel es schwer, überhaupt Kinder mit Blattern zu finden. Als man sie doch fand, zeigten sich die Impfblattern auch hier plötzlich besonders aggressiv. Auch in Wien starb eines von 18 geimpften Kindern und manche waren nur „mit äußerster Mühe beym Leben erhalten“ worden.59 Im Sommer brach in der Stadt eine furchtbare Epidemie aus, die womöglich durch die Impfung erst verbreitet worden war. Unter diesen Umständen konnte sich die Inokulation nicht durchsetzen. Das Misstrauen blieb groß und selbst die „Sanitätsverwaltung“, die sich in Österreich so sehr für die Einführung der Inokulation eingesetzt hatte, musste die ihre Anwendung reglementieren: In Städten, wo Menschen eng zusammen lebten, fordere „das Bürgerwohl sie auf, Behutsamkeit anzubefehlen, die Impfung in volkreichen Städten zu verbiethen und dieselbe nur in entlegenen, geräumigen Wohnungen zuzulassen, wo die Ausbreitung der Krankheit weniger zu fürchten ist“60, musste selbst der Impfbefürworter Ferro feststellen. Die Kunde von Jenners Publikation war inzwischen auch nach Wien gedrungen. Am 29. April 1799 unternahm Ferro – ein gebürtiger Bonner und Sohn eines aus Tarvis stammenden Offiziers – die erste Impfung mit Kuhpocken in Wien und auch in Kontinentaleuropa. Ferro impfte seine Kinder. Um zu sehen, wie sich die Materie bei der Verpflanzung von Mensch zu Mensch verhielt, bat er einen jener Kollegen, die die Impfversuche an seinen Kindern beobachtet hatten, ihm sein Kind für einen weiteren Versuch zu überlassen. Der gebürtige Schweizer Jean de Carro, der in Edinburgh studiert hatte, stellte dafür seinen 10 Monate alten Buben zur Verfügung. De Carro war es, der den Kuhpockenimpfstoff nach Wien gebracht hatte: Er hatte den Impfstoff von einem seiner Studienkollegen aus Edinburgh erhalten, Alexander G. Marcet (1770–1822), der damals im Guy’s Hospital in London tätig war.61 Mitten in der Angst und Unsicherheit der Blatternepidemien von 1799 in Regensburg und 1800 in Wien traf die Nachricht von der Kuhpockenimpfung auch auf Widerstand. Es waren Ärzte, die sich der Kuhpockenimpfung entgegenstellten. Einer der 58 59 60 61

Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802, 7. Ebd., 14. Ebd., 15. Auch Marcet stammte aus Genf. Vgl. A. M. Be1, 983, 455–509, hier: 477.

Der Kampf um die Köpfe der Menschen

mächtigsten Gegner der Kuhpockenimpfung unter den Privatärzten war in den folgenden Jahren der Kinderarzt Leopold Anton Gölis (1764–1827), der behauptete, dass die Kuhpocken andere Krankheiten hervorriefen, die weit schlimmer seien als die Menschenblattern.62 Ferro, der dem medizinischen Establishment der Stadt angehörte, blieb also vorsichtig. Während er seine Versuche zunächst vorübergehend einstellte, setzten zwei andere junge in Wien ansässige Ärzte, die weniger zu verlieren hatten als Ferro, diese Versuche fort: Jean de Carro und Luigi Careno (1766–1810).63 Diese beiden Wahl-Wiener – de Carro aus Genf und Careno aus Norditalien – hatten wesentlichen Einfluss auf die Verbreitung der Kuhpockenimpfung ins Osmanische Reich. Ihr Tun und ihre nachgelassenen Schriften sollten den Diskurs über den Orient und seine Seuchen in den nächsten Jahren sehr wesentlich prägen.64 3.4

Der Kampf um die Köpfe der Menschen

Nachdem die Pocken im Sommer 1800 in Wien fürchterliche Verwüstungen angerichtet hatten, nutzte de Carro die erhöhte Risikobereitschaft der Bevölkerung und nahm am 10. Dezember 1800 in Brunn am Gebirge die erste Massenimpfung in Kontinentaleuropa vor.65 Sein Kollege Ferro zählte damals zu den treibenden Kräften einer Reform des Gesundheitswesens und war in Wien wohl einer der prominentesten Ärzte. Als er gesehen hatte, dass sich die Thesen Jenners als zuverlässig erwiesen, Careno Jenners Schrift ins Lateinische übersetzt und damit zumindest für die medizinische Führungsschicht zugänglich gemacht und de Carro seine Versuche vorangetrieben hatte, warf Ferro das Gewicht seiner Funktion in die Waagschale. Gemeinsam mit de Carro unternahm er 1801 an der Klinik von Johann Peter Frank im Allgemeinen Krankenhaus in Wien in Gegenwart vieler Ärzte einen großen Impfversuch, bei dem 26 Kinder „mit Kuhpockenstoff eingeimpfet worden“.66 1802 verfasste er eine wichtige populäre Schrift „Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung“67, mit der die Vorteile der neuen Methode propagiert werden sollten. In Österreich erfreute sich die Kuhpockenimpfung einer enormen Konjunktur – zumindest in den Kreisen der Sanitätsverwaltung. Die Impfung breitete sich vergleichsweise rasch über die Grenzen des Erzherzogtums unter der Enns aus: In Brünn

Vgl. Friedinger, Die Kuhpocken-Impfung, 1857, 10f. Gölis war später auch Kinderarzt bei Hof und wurde zum bedingten Impfbefürworter, forderte jedoch als erster die „Re-Vakzination“. 63 In deutschsprachigen Schriften oft: Alois Careno und Johann de Carro. 64 Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802, 28. 65 Flamm/Vutuc, Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, 2010, 267. 66 Ebd. 67 Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802. 62

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impfte Dr. Alois Carl im Jahr 1802 bereits 162 Kinder.68 Im selben Jahr machte ein erstes Circular auf die positiven Ergebnisse aufmerksam, 1807 wurde eine Verordnung erlassen, nach der alle Kinder, die noch nicht geblattert hatten, im Mai und Juni eines jeden Jahres zu vakzinieren seien. 1808 folgte mit Hofkanzleidekret eine Norm für die Durchführungen der Impfungen. 1812 wurden erste Zwangsmaßnahmen angeordnet. Mit echt (nach-)josephinischer Rigorosität wurde verfügt, dass an Blattern verstorbene Kinder zwar vom Priester eingesegnet werden, aber weder von ihm noch von ihren Eltern zur Begräbnisstätte begleitet werden dürften. An Häusern, in denen blatternkranke Kinder aufhältig waren, sollten Tafeln mit entsprechenden Hinweisen angebracht werden.69 In „Schauenstein’s Handbuch der öffentlichen Gesundheitspflege in Österreich“, einem frühen gesundheitspolitischen Standardwerk, wurde das Engagement der Behörden 50 Jahre später fast mit Verwunderung kommentiert. Es werde „eine hygienische Maßregel mit einem in anderen Gebieten der Gesundheitspflege ganz unerhörten Eifer durchzuführen gesucht, und die Verbreitung der Vakzination mit einem Fanatismus angestrebt, wie er sich sonst nur in religiösen und politischen Fragen zu entwickeln pflegt“.70 Schauenstein sah sich 1863 immer noch genötigt festzuhalten, dass der Wert der Impfung „nüchtern zu prüfen“ sei. 71 „Volksschriften“ waren die eine Waffe im Kampf um die Köpfe der Menschen und die Anerkennung der Kuhpockenimpfung. Sie wurden massiv verbreitet. In Tirol wurde mittels 1.000 Exemplaren der Schrift „Aufmunterung zur Kuhpocken-Impfung durch Errichtung einer Impfanstalt in Tyrol“72 im „Volk“ für die Impfung geworben. In Salzburg wurden „auf Befehl der hochfürstlichen Salzburgischen Regierung“ 2.000 Exemplare der „Belehrung des Landvolkes über die Schutzblattern. Nebst einem kurzen Unterrichte über die Impfung derselben für die Wundärzte“73 gedruckt, mit der ausdrücklichen Anweisung an „sämtl. Pfleg = Stadt = und Landgerichte“, die Stücke unentgeltlich „an die Ortschirurgen, Ausschüsse und andere verständige Mitglieder der Gemeinde abzuliefern“. Den Text dieser anonymen Schrift hatte Joseph Servaz von d’Outrepont (1776–1845) verfasst, der im Mai 1801 als erster in Salzburg Kuhpockenimpfungen vorgenommen hatte.74 Das wäre in Salzburg 1801 (wenige Jahre vor der Säkularisierung des kirchlichen Fürstentums) kaum möglich gewesen, wäre nicht auch die Kirche hinter der ImpfpraAlois Carl, Art zu Impfen und den Pockenstoff in flüssiger Gestalt aufzubewahren, nebst einigen Beobachtungen und Erfahrungen zur Kuhpockenlehre, Wien 1807, 15. 69 Vgl. Auspitz, Gutachten, 1864, 25. 70 Adolf Schauenstein, Handbuch der öffentlichen Gesundheitspflege in Österreich. Systematische Darstellung des gesammten Sanitätswesens des österreich. Staates, Wien 1863. 71 Ebd., 526. 72 M. C. Scherer, Aufmunterung zur Kuhpocken-Impfung durch Errichtung einer Impfanstalt in Tyrol, Innsbruck 1804. 73 Joseph Servaz d‘Outrepont, Belehrung des Landvolkes über die Schutzblattern. Nebst einem kurzen Unterrichte über die Impfung derselben für die Wundärzte, Salzburg 1802. 74 Flamm/Vutuc, Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, 2010, 268. D’Outrepont war Professor an der medcinisch-chirurgischen Akademie in Salzburg. 68

Der Kampf um die Köpfe der Menschen

xis gestanden. Religiöse Implikationen hatten, wie bereits gezeigt wurde, in der Auseinandersetzung um die Frage der Impfung im 18. Jahrhundert immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt. Wo sich die katholische Kirche in ihrem Deutungsmonopol bedroht sah, gab es kein Pardon. In Spanien wurde der Druck einer Schrift für die Blatternimpfung verboten, weil der Verfasser einen protestantischen Arzt als „Medicorum princeps“ bezeichnet hatte.75 Bezeichnenderweise bediente sich die katholische Kirche in Österreich im 18. Jahrhundert auch medizinischer Begriffe, wenn es um die Bekämpfung des Protestantismus ging: Gewisse Gebiete seien vom „Gift“, von einer „Seuche“, „infiziert“ hieß es um 1752 im höfischen Sprachgebrauch. In den „infizierten Gegenden“ wurde systematisch mit der Ausrottung des „Übels“ begonnen.76 In Österreich war die Lage zum Ende des 18. Jahrhunderts eine andere geworden. Religiöse Fragen waren im streng katholischen Hause Habsburg nach wie vor bedeutend, doch die Kirche stand unter starkem Einfluss des Kaiserhauses; die einst mächtigen Jesuiten waren von einem Arzt, dem Reformer van Swieten, vom Hofe verdrängt worden. Wer das Ohr des Kaisers und seiner obersten Autoritäten hatte, dem konnte sich auch die Kirche nicht widersetzen. Der Vatikan hatte sich unter Clemens XIII. bereits für die Impfung ausgesprochen.77 Ab 1802 setzten staatliche Autoritäten mit aller Wucht auf die Einführung der Kuhpockenimpfung. Nachdem man die Einimpfung der Menschenblattern 1802 weitgehend und 1803 ausdrücklich verboten hatte, wurde die Einführung der Kuhpockenimpfung nicht nur durch Anweisungen an die Physikate, sondern auch unter Nutzung der kirchlichen Institutionen propagiert. Schon 1802 warfen sich auch Priester für die Kuhpockenimpfung ins Zeug. Die Impfung wurde nachgerade zur religiösen Notwendigkeit erklärt. Ein Pfarrer aus dem niederösterreichischen Waldviertel predigte: „So ist es wohl unnöthig, erst beweisen zu wollen, daß es Pflicht, daß es eine Gewissenssache sey, in einer so gefährlichen, so allgemeinen Krankheit, wie die Blattern sind, die nöthigen Heilmittel anzuwenden. Ich sage nur: Die Kuhpocke ist ein solches, durch vieljährige Erfahrung geprüftes Mittel. Dasselbe ist sicher, unschädlich und leicht anwendbar.“78 Auch auf das Argument, die Impfung sei ein Verstoß gegen die göttliche Vorsehung, ging die Predigt ein und bemühte das biblische Buch Jesus Sirach (38,6): „Nach dem Zeugnisse des göttlichen Geistes sollen die Menschen hieraus in die Erkenntnis der göttlichen Macht kommen, den Höchsten in Seinen verwunderlichen Geschöpfen ehren, dessentwegen hat er ihnen diese Wissenschaft mitgetheilet.“79 Adressiert werden musste auch die Übertragung einer tierischen Krankheit, die offenVgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 71. Stollberg-Rilinger 2017, 651. Vgl. Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 45. Vgl. Landpfarrer (N. N), Predigt über den allg. anerkannten Nutzen der Kuhpockenimpfung. Von einem Landpfarrer der St. Pöltener Diözes‘ seiner lieben Pfarrgemeinde vorgetr. am 2. May 1802, Wien 1802, 5f. 79 Ebd., 11. In Jesus Sirach 38 wird die Medizin als von Gott gegebene Weisheit dargestellt: „Er gab dem Menschen Einsicht, / um sich durch seine Wunderkräfte zu verherrlichen“, heißt es in Vers 6, hier nach: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Lizenzausgabe der katholischen Bibelanstalt Stuttgart 2016, 786. 75 76 77 78

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bar manchen als falsch erschien. Auch hierauf ging der Prediger ein und sah darin kein Problem. Manche würden zwar meinen, dass diese Übertragung ein Problem darstelle, „doch ich denke: wenn uns das Fleisch und die Milch von eben diesem nützlichen Hausthiere bis an den heutigen Tag keinen Schaden gebracht hat; so werden wir auch von den Pocken desselben nichts zu fürchten haben.“80 De Haens Frage und seine Antwort wurde nun in klerikaler Dialektik just ins Gegenteil abgewandelt: „Bedenket: daß ihr euch des schändlichsten Undankes gegen den gütigsten Schöpfer der Menschen selbst schuldig machet; wenn ihr ein Heilmittel, das augenscheinlich von Ihm, dem Geber aller Freuden kömmt, ohne Prüfung verwerfen wollet.“81 Hier kommt die Impfung von Gott; sie widerspricht nicht seinem Willen, sondern erfüllt ihn. Auch die Klosterneuburger Chorherrn und viele andere Landpriester wurden zu Propagandisten des Impfwesens gemacht. Die Religion wurde in den österreichischen Erblanden der späten Aufklärung unter dem Druck des Staates zur Waffe im Kampf um die Köpfe der Menschen.82 Den Pfarrern wurde im Rahmen der Pfarrorganisation eine große administrative Aufgabe zugeteilt. Sie sollten nicht nur gewährleisten, dass ihren Pfarrkindern mindestens zwei Mal im Jahr die Impfung „von der Kanzel ans Herz“ gelegt werde. Sie hatten darüber hinaus den Eltern bei jeder Taufe ein Schreiben mit den Vorteilen der Impfung auszuhändigen und mussten Register der bereits geimpften Personen führen. Im Fall der „Renitenz“ von Eltern mussten sie an der Meldung der Familie an das zuständige Kreisamt mitwirken. Die Macht der Kirche, als Gegenentwurf zur Wissenschaft aufzustehen, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest innerhalb der nach-josephinischen Pfarrorganisation gebrochen. Sie wurde im Gegenteil zum Vollzieher des staatlichen Willens und der Erkenntnisse der akademischen Medizin. 1831 schrieb Severin Pfleger, Domherr von St. Stephan in einer Instruktion für Pfarrer: Ein jeder Pfarrer oder Pfarrverweser wird immer nach Verlauf von drey Monaten, mithin vier Mal im Jahre, diejenigen, welche in den verflossenen drey Monathen in seiner Pfarre etwa an den natürlichen Blattern verstorben, – mit Namen und Stand von der Kanzel ablesen, dann in einer Rede die Vortrefflichkeit der Kuhpockenimpfung zeigen […] und es bestimmt heraussagen; dass diejenigen, deren Kinder oder Angehörigen an den Blattern sterben, weil sie die Kuhpockenimpfung vernachlässigen, vor Gott über den Tod derselben verantwortlich werden.83 Vgl. Landpfarrer (N. N), Predigt, 1802, 14. Ebd., 16. Alfons Labisch, Homo hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt/Main 1992, 105. Er spricht im Zusammenhang mit diesem verstärkten Einsatz der Priester in den Habsburgischen Erblanden von einer Rückentwicklung und einer Aufwertung der eigentlich überholten Pastoralmedizin im Vergleich zu den staatsstärkenden Tendenzen der mariatheresianischen und josephinischen Reformen. In diesem Beispiel erscheint die Rolle der Kirche doch eher als eine nützliche Unterstützung staatlicher Interessen denn als ein Rückschritt. 83 Vgl. Ritter von Wertenau (Severin Pfleger), Der Pfarrer in seinem Amte., Bd. 3, Wien 1831, 13. 80 81 82

Wien, ein Mittagessen und die Kuhpocken

Religiöse Argumente gegen die Impfung waren durch die erzwungene Kollaboration der kirchlichen Institutionen damit im katholischen Kontext unmöglich geworden. 3.5

Wien, ein Mittagessen und die Kuhpocken

Die Pocken-Inokulation war, wann immer sie ab dem 19. Jahrhundert in der Geschichte der Medizin erzählt wurde, die Geschichte der Lady Montague und des Osmanischen Reiches gewesen, dies war auch den Zeitgenossen bewusst. Die Medizin der Aufklärung war für Impulse aus fremden Kulturen im Vergleich zu späteren Jahren offen; auch die Volksmedizin wurde wahrgenommen und ihre Erkenntnisse wurden in die medizinische Praxis integriert.84 Der Umgang, den man in dieser Zeit mit dem Osmanischen Reich pflegte, ist noch von diesem Geist geprägt. Noch bevor die Kuhpockenimpfung durch Ferros Engagement unter staatlicher Anordnung und mit Unterstützung kirchlicher Institutionen verbreitet worden war, entwickelte sich Wien in der Verbreitung des Kuhpockenimpfstoffes zu einer globalen Drehscheibe: Der Kuhpockenimpfstoff ging von hier nicht nur nach Konstantinopel, sondern auch nach Indien.85 Jean de Carro und Luigi Careno, die beiden Ärzte, die für Ferro das Risiko einer vertieften Erprobung der Kuhpockenimpfung auf sich genommen hatten, nahmen dabei eine bedeutende Stellung ein. Beide publizierten immer neue wissenschaftliche Aufsätze, Briefe und Volksschriften und korrespondierten mit der gelehrten Welt innerhalb und außerhalb Europas. Durch sie fand der Kuhpockenimpfstoff Verbreitung in der Welt des „Orients“ und durch sie fand der „Orient“ einen bedeutenden Eingang in die medizinischen Debatten ihrer Zeit. Besonders Jean de Carro wurde von der Medizingeschichtsschreibung mit Verdienst versehen, den Impfstoff von Wien nach Konstantinopel und Indien weitergeschickt zu haben. Die Ereignisgeschichte dieses Vorganges ist durch ein bisher wenig beachtetes Werk de Carros86 Das vorherrschende Paradigma der Zeit war die aus der Antike kommende Humoralpathologie, die sowohl die Volksmedizin als auch die akademische Medizin verband und beeinflusste und auch im islamischen Kulturraum vertreten war. Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 48. 85 Kochhar, Smallpox, 766. 86 Jean de Carro, Histoire de la vaccination en Turquie, en Grece, et aux Indes orientales, Vienne 1804; ins Deutsche übersetzt durch den Breslauer Arzt Friedrich Gotthilf Friese (1763–1827): Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804. Friese hatte in Breslau bereits im Jahr 1800 einen Text von William Woodville (1752–1805) und 1803 die „Practischen Beobachtungen über die Impfung der Kuh-Pocken“ des schottischen Arztes James Bryce übersetzt, darüber hinaus scheint sich Friese zeitlebens mit Übersetzungen beschäftigt zu haben, so mit Texten zu Erkrankungen der Haut und zum Einsatz der Chinarinde. Die „Geschichte der Kuhpokkenimpfung in der Türkey, in Griechenland, in der Moldau, in Ostindien, und in Persien“ gibt einen großen Teil der Korrespondenz de Carros mit seinen wichtigsten Partnern wieder. Abgleiche der französischen Version „Histoire de la vaccination en Turquie, en Grece, et aux Indes orientales“ mit den in der ÖNB erhaltenen Originalschreiben zeigen eine hohe Texttreue. Die im Folgenden gegebenen Auszüge aus den Korrespondenzen de Carros richten sich, wenn nicht anders angegeben, nach der Übersetzung Frieses. 84

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und einen Teil seines Briefnachlassesdokumentiert.87 De Carro hatte in den Jahren 1800–1805 intensiv mit ärztlichen Kollegen in Großbritannien, Deutschland und Italien sowie mit Europäern im Nahen Osten korrespondiert.88 Seiner historischen Rolle als Drehscheibe für Informationen zur Kuhpockenimpfung und den Versand der Kuhpockenlymphe war er sich mehr als bewusst. Schon 1803 schrieb er ein Werk, dass er die „Histoire de la vaccination en Turquie, en Grece et aux Indes orientales“ nannte.89 Jean de Carro hatte schon ein Jahr zuvor seine Schrift „Beobachtungen und Erfahrungen über die Impfung der Kuhpocke“ dem englischen Botschafter am kaiserlichen Hof in Wien gewidmet.90 De Carro war in Genf geboren und hatte in Edinburgh studiert. Er war damit in der für seine weitere Tätigkeit glücklichen Lage, nicht nur Französisch und Deutsch, sondern vor allem auch die englische Sprache so gut zu beherrschen, dass er sowohl für Diplomaten als auch für Berufskollegen von den britischen Inseln eine erste Adresse gewesen sein muss, denn die Kenntnis des Englischen war damals am Kontinent bei Weitem keine Selbstverständlichkeit. Sein Kontakt ins Osmanische Reich begann mit einem Mittagessen, das in Wien genau in jenen Tagen stattfand, als die Stadt von der schwersten Epidemie der Pocken seit Menschengedenken erschüttert wurde, von der bereits die Rede war: „Im Sommer des Jahres 1800 befand ich mich, mit Herrn und Madame Nisbet, an der Mittagstafel des Lord Minto, Großbritannischen Ministers am Kaiserlichen Hofe. Sie reisten durch Wien, um ihre Tochter, Mylady Elgin, die Gemahlin des Gesandten zu Constantinopel zu besuchen“91, berichtet de Carro. Das Ehepaar Nisbet war am Weg nach Konstantinopel, weil ihre Tochter schwanger und kurz vor der Entbindung war. Das Tischgespräch mit dem hier angetroffenen Arzt drehte sich daher nicht zufällig um die Kinder und die Gefahren, die ihnen von allen möglichen Krankheiten drohten. „Die Unterhaltung führte auf die Kuhpockenimpfung, welche in Wien schon eine Art von Consistenz gewonnen hatte“, so de Carro. Die beiden besorgten Großeltern versprachen, „alles aufzubieten, um das Kind, zu dessen Empfang auf der Welt sie die lange Reise unternommen hatten, aufs baldigste an dieser Wohlthat Theil nehmen zu lassen.“92 Tatsächlich dürfte es ihnen gelungen sein, ihren Schwiegersohn in Konstantinopel von der Sinnhaftigkeit der Kuhpockenimpfung zu überzeugen. Am 23. September 1800 verfasste der britische Botschafter bei Die Österreichische Nationalbibliothek bewahrt im Nachlass de Carros Briefe von Marcet, William Scott aus Konstantinopel, Andrew Jukes in Bushir, Frederick North of Guilford (1766–1827) aus Colombo, Thomas Christie aus Colombo, John Ring, John Ludlow, Antonio Pezzoni aus Konstantinopel, einem nicht eindeutig identifizierbaren Dr. Lafont aus Saloniki, sowie dem französischen Arzt Alexandre Balthazar Auban in Konstantinopel. Von besonderem Interesse sind dabei die Schreiben aus Indien, die sehr ausführlich die Praxis der Einführung schildern. 88 Der Briefwechsel mit Marcet wurde ausgewertet von: Henry E. Sigerist, Letters of Jean de Carro to Alexandre Marcet: 1794–1817, in: Bulletin of the history of medicine Supplement 12, 1950. 89 Carro, Histoire de la vaccination, 1804. 90 Johann de Carro, Beobachtungen und Erfahrungen über die Impfung der Kuhpocke, Wien 1802, o. S. 91 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 3. 92 Ebd., 3. 87

Wien, ein Mittagessen und die Kuhpocken

der Hohen Pforte einen persönlichen Brief an den Arzt in Wien. Er habe sich von der schützenden Wirkung der Kuhpockenimpfung überzeugen lassen und bitte um die Zusendung des Impfstoffes.93 Die erste erfolgreiche Impfung brachte jedoch nicht den völligen Durchbruch. Mit Kuhpockenlymphe impfen ließen sich zunächst nur Angehörige des diplomatischen Corps und Familien der Kaufleute der Stadt, was de Carro dem „Mangel an Uebereinstimmung unter den fremden zu Constantinopel etablirten Aerzten“ ebenso wie den Schwierigkeiten zurechnete, „den Türken die Vortheile der Kuhpockenimpfung begreiflich zu machen.“94 Einige Monate später erhielt die Kuhpockenimpfung einen unerwarteten Aufschwung. Joseph Portenschlag95, einer jener Ärzte, die in Wien zu den Pionieren der Impfung mit Kuhpocken gezählt hatten, korrespondierte mit dem nach Konstantinopel emigrierten, offenbar deutschsprachigen Arzt Dr. Hesse96. Letzterer hatte in Wien bei dem bekannten Ophthalmologen Georg Joseph Beer (1763–1818) studiert und sich nach Konstantinopel begeben, um dort eine Praxis als Augenspezialist zu eröffnen. Die Geschäfte gingen aber schlecht – man kann nur darüber spekulieren, ob die traditionell ausgebildeten Starstecher und Augenheilkundigen zu dieser Zeit nicht doch das attraktivere Praxisangebot besaßen. Hesse war eben dabei, sich wieder zurück auf den Weg nach Wien zu machen, als ihn der besagte Brief Portenschlags erreichte. Eigentlich nur als Nebensache enthielt das Schreiben auch eine Glasröhre mit einem infizierten Faden. Am 22. August 1801 vaccinierte Hesse in Konstantinopel sieben Kinder, von denen bei zweien die Kuhpocken tatsächlich ausbrachen. Die Lymphe dieser beiden Kinder Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 4. Ebd., 6. Im Dezember 1801 berichtet der britische Gesandtschaftsarzt Scot aus Konstantinopel an de Carro nach Wien: „Ob wir gleich Ursach hätten, mit unsern Fortschritten bey der zweiten Einführung der Kuhpocke in diesem Lande zufrieden zu seyn, so ist sie doch nur beinahe ausschließlich in den angesehenen Familien der Franken und bei den Kindern ihrer Domestiken angewendet worden. Die Türken, die Griechen, die Armenier u. s. w. welche bei weitem den größten Theil der Volksmenge dieser Hauptstadt ausmachen, scheinen von Vorurtheilen gegen diese Methode eingenommen zu seyn, oder alle dadurch zu erreichenden Vortheile nicht einzusehen.“ Zitiert nach Carro/Friese 1804, 8. Im englischen Originalschreiben in der ÖNB lautet die Passage: „Although we had reason to be satisfied with the complete success which attended its second introduction into this quarter, yet is has been chiefly confined to the superior class of Frank families & the children & their servants. Most of the Turks, Greeks, Armenians etc comprising the great mass of population seem either to labour under prejudices or are indifferent to the advantages that would arise from its more general use.“ ÖNB Sammlung von alten Handschriften und alten Drucken. Sammlung Wenzel La Croix von Langenheim, William Scot an Jean de Carro, 1. Dezember 1801, Konstantinopel. Durch die Übersetzung vom Englischen ins Französische und aus der französischen Version ins Deutsche durch Friese ist erstaunlich wenig an Inhalt verloren gegangen. 95 Joseph Portenschlag (1768–1828) war Sohn des gleichnamigen Salzburger Arztes und studierte in Wien. Er übersetzte aus dem Französischen de Carros (Carro, Beobachtungen und Erfahrungen über die Impfung der Kuhpocke, 1802) Werk über die Kuhpocken und begann im selben Jahr die Herausgabe der „Annalen der Kuhpockenimpfung“, die jedoch bald wieder eingestellt wurden. Danach redigierte er mehrere Jahre das Wiener Journal der „Sammler“ und wurde Dekan der Medizinischen Fakultät und zweiter Stadt-Physikus von Wien. Er war der Bruder des Botanikers Franz von Portenschlag. Zur Familie Portenschlag vgl. Wurzbach von Tannenberg, Biographisches Lexicon des Kaiserthums, 1856–1891, Bd. 23, 127. 96 Zu diesem Dr. Hesse fehlen detaillierte biographische Informationen. Die hier vorliegenden Schilderungen zu Hesse folgen: Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804. 93 94

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nutzte Hesse, um anstelle der gescheiterten Tätigkeit als Augenarzt zumindest eineinhalb weitere Jahre als Impfarzt in Konstantinopel leben zu können.97 Wahrscheinlich im Sommer 1801 wurde der britische Arzt William Scott an die britische Gesandtschaft nach Konstantinopel gerufen. Auf dem Weg dorthin traf er in Wien de Carro, mit dem er in der Folge korrespondierte. Im Dezember 1801 berichtete Scott an de Carro nach Wien: „Während den Monaten September und Oktober sind von mir mehr als 30 Personen geimpft worden, bei denen die Pustel den regelmäßigen Verlauf nahm, so wie er uns durch den scharfsinnigen Jenner und durch Sie beschrieben worden ist.“ Dr. Hesse habe eine weit größere Anzahl an Impfungen vorgenommen und auch der Arzt der spanischen Gesandtschaft, Dr. Pezzoni, habe sich an den Impfungen beteiligt.98 1802 verließ Hesse doch Konstantinopel. Er hatte bis dahin als der rührigste Impfarzt gegolten, anlässlich seiner Abreise aber offenbar das Interesse daran verloren, sich in Abstimmung mit den anderen Ärzten um eine Fortpflanzung des Impfstoffes zu kümmern. Im Sommer 1802 schrieb Scott nach Wien, dass der Impfstoff erloschen sei.99 3.6

Wissen im Glasrohr

Wesentlichste Aufgabe der Drehscheibe Wien war die Mittlerrolle für den Impfstoff selbst, über dessen Beschaffenheit die ersten Praktiker so gut wie gar nichts wussten. Wie konnte de Carro der Versand des Impfstoffes gelingen? Jenner hatte in England ursprünglich empfohlen, die mit dem Sekret der Kuhpocken getränkten Fäden zwischen zwei Glasplatten einzuschließen, doch viele der solcherart übersandten Proben vertrockneten sofort.100 De Carro hatte zunächst damit begonnen, einen mit „Lymphe“ getränkten Faden in ein Glasröhrchen zu stecken und es zu verschließen. Auch diese Form der Übermittlung erwies sich als nicht zu hundert Prozent zuverlässig. Für den ersten Kuhpocken-Impfversuch in Konstantinopel brauchte der Arzt Elgins, Dr. Douglas Whyte101, immerhin drei Mal, wobei Carro einmal im Herbst neuen Impfstoff schicken musste.102 Sobald die Lymphe an einem Ort angekommen und eine Impfung erfolgreich durchgeführt worden war, konnte der Impfstoff an Ort und Stelle weiterproduziert werden, solange am Körper der geimpften Person Pusteln geöffnet und

Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 7. Scott an de Carro, 1. Dezember 1801, zitiert nach: Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 8. 99 Scott an de Carro, 7. November 1802, zitiert nach: ebd., 10. 100 Andrea Rusnock, Catching cowpox: the early spread of smallpox vaccination, 1798–1810, in: Bulletin of the history of medicine 83/1, 2009, 17–36, hier: 22, doi: 10.1353/bhm.0.0160; Rusnock behandelt die verschiedenen Transportmethoden ausführlich und zeigt, dass das frühe Netzwerk des Wissensaustausches zwischen den „Impfpionieren“ über alle Landesgrenzen hinweg zur Verbreitung neuer Techniken beitrug. 101 Zu Whyte siehe auch das Kapitel über die Pest und die Selbstversuche. 102 Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 4. 97 98

Wissen im Glasrohr

Lymphe entnommen werden konnten.103 Mit der Übermittlung von Fäden in Glasröhrchen und erläuternden Briefen war es aber nicht getan. De Carro sandte noch im Herbst 1801 auch zwei Pakete mit seinen „Oberservations et experiences sur la vaccination“ nach Konstantinopel.104 Der erste Pflock zur Verfestigung der veränderten medikalen Technik der Impfung war damit eingeschlagen: Verwendbar war die Information nur für jene, die auch französisch lesen konnten – oder sich in die direkte Informationsabhängigkeit eines Arztes begaben, der sie unterwies. Für eine Rücktransferierung dieser eigentlich der traditionellen Technik eng verwandten Praxis in den Bestand des medikalen Systems des Osmanischen Reiches war dieser Vorgang ungeeignet. De Carro verfolgte aber mit Interesse die Versuche der in Konstantinopel impfenden Ärzte, die Idee auch im Umfeld des Sultans zu propagieren, die sich klar auf die Erfahrungen in Europa bezogen.105 Ein am Palast tätiger Arzt namens Roini veranlasste auch eine erste Übersetzung der Schrift de Carros ins Türkische.106 Der britische Botschafter sandte einige von de Carros Schriften nach Morea und den „Archipelagus“. Der französische Arzt in Saloniki, Lafont107, ließ sich von de Carro aus Wien neuen Impfstoff und auch spezielle Lanzetten schicken, die de Carro aus Elfenbein hatte anfertigen lassen, damit sie nicht rosten konnten.108 Scott verteilte de Carros Schrift unter den Ärzten in Konstantinopel. Der Schreibtisch des britischen Botschafters in Konstantinopel entwickelte sich zur Drehscheibe für Anfragen aus verschiedensten Ecken des Reiches: „Man wendet sich so häufig an mich, man verlangt ihn nach Bassora, Indien und Ceylon, ich ersuche Sie daher auf das dringendste, den Doctor de Carro dahin zu vermögen, mir mit jeder reitenden Post welchen zu senden, bis ich ihm die Nachricht ertheile, damit inne zu halten“, schrieb der britische Botschafter Elgin an seinen Kollegen Paget in Wien.109 Der erste Versuch, selbst Impfstoff herzustellen und zu versenden, war missglückt. Der britische Konsul in Basra hatte seinen Sohn impfen lassen, und zwar mit Impfstoff aus Konstantinopel. Die Impfung der Kuhpocken Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 4–6. Mit dem Schreiben vom 1. Dezember 1801 bestätigt Scott den Erhalt der Pakete. Ebd., 9. Ebd., 12–16. De Carro kommentiert selbst in offenbar im Jahr 1802 geschriebenen Notizen, die in das Buch Eingang gefunden haben, auf S. 16: „Wenn die Meinung der Souveraine über die Aufmunterung welche sie der Kuhpockenimpfung geben sollen, von den Ideen der Sachverständigen abhängt, die sie umgeben, wie man dies an den verschiedenen Höfen von Europa hat bemerken können, so scheint es, daß die des Großherrn keinesweges den andern nachstehen darf.“ 106 Auban an de Carro, 26. Oktober 1802. Ebd., 15. 107 Im Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek ist der volle Name des Absenders mit Gabriele Gregoire Lafont-Gouzi angegeben. Dabei handelt es sich aber m. E. nicht um den Korrespondenzpartner de Carros, da der genannte mit den Lebensdaten 1777–1849 versehen ist und Professor in Toulouse gewesen zu sein scheint. Siehe dazu die Personalia am Frontispiz von Lafont-Gouzis: Caractères propres, préservatifs et remèdes des contagions pestilentielles Material description, Toulouse 1821. Ebd., 12 spricht davon, dass Lafont 1802 bereits „seit mehreren Jahren in Saloniki niedergelassen“ sei. 108 Vgl. ebd. 109 Auszugsweise Wiedergabe eines Schreibens von Elgin an Paget bei Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 17. 103 104 105

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schien nicht funktioniert zu haben, stattdessen erkrankte der Junge an Menschenpocken und wäre fast gestorben. Nun wollte man also Impfstoff aus Wien. De Carro begann, seine Methoden zur Herstellung und Versendung des Impfstoffes weiter zu verfeinern. Die Lanzetten rosteten sehr rasch; innerhalb von drei Tagen konnte sich der Rost auf den eisernen Instrumenten ausbreiten. Er schickte Lanzetten aus Silber, vergoldete Lanzetten und Lanzetten aus Elfenbein; er tränkte englisches Charpie mit Kuhpockensekret und schloss den Stoff zwischen zwei Glasplatten ein. Diese Versandmethode hatte Edward Jenner vorgeschlagen und praktiziert. De Carro ließ sie, „um die Verflüchtigung oder Verdünstung des Impfstoffes unmöglich zu machen, und ihn vor dem ‚Einfluß des heissen Climas zu schützen‘“, von einem Wachszieher in heißes Wachs tauchen, sodass sie zu Wachskugeln wurden. Diese Wachskugeln verpackte er in eine mit Papierschnitzeln angefüllte Schachtel. Der Impfstoff kam so – gemeinsam mit sechs Exemplaren seiner Schrift – in Bagdad an. Die Impfung damit war erfolgreich. 110 Es ist bemerkenswert, dass auf diese Art ein möglicherweise wochenlanger Transport möglich wurde, der wohl auch den in den Habsburgischen Erblanden tätigen Ärzten zugutekam. Zahlreiche Ärzte beschäftigten sich mit der Verbesserung der für die Impfung notwendigen Gerätschaften. Der Brünner Arzt Dr. Alois Carl berichtet in seiner Impfschrift 1807, er habe 1802 den Pockenstoff (gemeint ist die Kuhpockenlymphe) an 116 Orte versandt. Diese Versendungen waren 1803 mit zwei getränkten Spaten, zwei getränkten, gelöffelten silbernen Nadeln und seiner Schrift „Die Ausrottung der Menschenblattern durch Kuhpocken“ versehen.111 Man weiß zu wenig über die genauen Transportmodalitäten, um die exakte Reisezeit abzuschätzen, die der Impfstoff in dieser Zeit (noch etwa 35 Jahre vor Einführung des Dampfschiffverkehrs im Mittelmeer) von Wien nach Bagdad oder Basra brauchte. Durch die Antwort von Sir Hartford Jones, dem britischen Konsul in Bagdad, lässt sich aber zumindest sagen, wie lange ein Brief mit der Mitteilung der erfolgreichen Impfung von Bagdad nach Wien benötigte: Das am 5. April 1802 verfasste Dankschreiben kam am 10. Mai 1802 in Wien an. Just an dem Tag, als de Carro in Wien von Kollegen zu einem Essen eingeladen worden war, mit dem man den Jahrestag der erfolgreichen Einführung der Kuhpockenimpfung in Wien begehen wollte.112 Der Versand des Impfstoffes und der Austausch über Methoden und Erfahrungen waren längst zu einer internationalen Angelegenheit geworden. De Carro orientierte sich an Jenners Methoden zum Versand und entwickelte sie weiter; der Impfstoff, den er in Wien für die Verwendung in Bagdad vorbereitete, stammte von lombardischen Kühen und war ihm und anderen Ärzten aus Mailand von Luigi Sacco, dem dortigen Impfpionier, geschickt worden. De Carro und Portenschlag übertrugen das Virus auf ein „sehr gutwil110 111 112

Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 19. Vgl. Carl, Art zu Impfen, 1807, 15. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 20.

Wissen im Glasrohr

liges Kind“ und nutzten den entstehenden Kuhpockeneiter dieses Kindes für den Weiterversand nach Bagdad.113 Auch an seinem Ankunftsort verbreitete sich der Impfstoff nun schnell: Anfang April hatte die Impfung des Sohnes des britischen Konsuls in Bagdad Erfolg gehabt; bereits im Juni schrieb der Wundarzt der britischen Gesandtschaft in Basra nach Wien, er habe 40 Menschen erfolgreich mit dem Impfstoff immunisiert. Auch er bemühte sich, den Impfstoff weiterzugeben: Mit dem lombardischen Kuhpockenvirus aus Wien wurden in Basra im Frühjahr 1802 Matrosen geimpft, die auf dem Weg nach Bombay waren. Ihnen gab der Wundarzt „mit Kuhpockenstoff geschwängerte Materialien“ samt Instruktionen mit, um in Indien die Kuhpockenimpfung einzuführen. Auch nach Bushir in Persien und Maskat im Oman sandte der britische Wundarzt aus Basra den Impfstoff aus Wien mit den notwendigen Instruktionen.114 Als der Impfstoff aus Basra in Indien ankam, hatte man bereits erfolglos versucht, Impfstoff aus Großbritannien zu erhalten. Edward Jenner hatte selbst Schriften und Vakzine nach Indien geschickt, doch das Schiff war auf der Reise untergegangen.115 Andere Versuche, Impfstoff zu erhalten, waren offenbar nicht geglückt, weil er selbst nicht in der Lage gewesen war, den Impfstoff richtig zu verpacken. Auch der Impfstoff aus Basra brauchte 40 Versuche, bis ein Kind an den Kuhpocken erkrankte. Am 14. Juni 1802 impfte der britische Kolonialmediziner Dr. Helenus Scott in Bombay die dreijährige Anna Dusthall erfolgreich. Der aus ihr gewonnene Impfstoff diente nun zur Weiterverbreitung der Impfung in Indien. Weil man sich auf die Übermittlung des Virus in Glasbehältnissen nach den Erfahrungen mit dem aus Großbritannien geschickten Viren nicht mehr verlassen wollte, ging man in Indien dazu über, Kinder als Träger der Kuhpockenlymphe zu verwenden. Um den Virus in Indien von Madras nach Calcutta zu bringen, benötigte man fünf Kinder und fünf Wochen.116 Auch de Carro nutzte zum Transport des Virus Kinder: Am 1. Dezember 1802 reiste de Carro mit einem böhmischen Gutsbesitzer und einem „vaccinirten Kinde, das eine eben reife Kuhpocke hatte“ auf ein böhmisches Gut und impfte dort 17 Kinder und 6 Schafe „mit 3 Stichen an der inneren Seite der Hinter und Vorder-Schenkel.“ Während die Übertragung des Virus auf die Schafe keinen Erfolg zeitigte, soll die Impfung an den Kindern funktioniert haben. De Carros Ehrgeiz, die Impfung an den Schafen mit Kuhpockeneiter von den eben geimpften Kindern zu wiederholen, wurde von den Eltern der Kinder gebremst, die dies nicht erlaubten.117 Warum war es Jenner, dem Entdecker der schützenden Wirkung der Kuhpocken, und der bedeutendsten Marinemacht der Welt nicht gelungen, den Impfstoff nach In-

Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 22. Ebd., 22–25. Rusnock, Catching cowpox, 2009, 25. Foege, House on fire, 2011, 92. Vgl. aus den Genfer Annalen, in: Annalen der Literatur und Kunst in den Österreichischen Staaten, August 1805, 78–82, 79. 113 114 115 116 117

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dien zu bringen? De Carro spekulierte in seinem Werk 1803, es sei der Teergeruch, der auf all diesen Schiffen allgegenwärtig sei, der auf den Impfstoff gewirkt habe. Er riet, zur Zusammenleimung der Platten eine „klebrige, geruchlose Substanz zu wählen, oder was noch besser ist, einen Tropfen dicken Schleim des arabischen Gummis, welches nebst dem Siegellack, womit man die Ränder der Platten überzieht, den Kuhpockenstoff gänzlich vor dem Einfluss der atmosphärischen Luft verwahrt“.118 Um die weiten Entfernungen besser überbrücken zu können, die der Impfstoff zurücklegen musste, experimentierten die Ärzte in Mitteleuropa mit Aufbewahrungs- und Transportmethoden. Der Mailänder Sacco berichtete de Carro, er habe es geschafft, den Impfstoff in einer mit einem mit Wachs versiegelten und mit einem Holzstoppel verschlossenen Glasröhre vierzehn Monate lang an „einem kühlen und dunklen Orte“ aufzubewahren.119 Auch das ärztliche Instrument bildete einen Gegenstand gelehrter Auseinandersetzungen. De Carro schwor auf die von ihm erfundene Lanzette aus Elfenbein, die gegen Rost und sonstige Korrosionen unempfindlich sei. Lediglich gegen das Licht müsse man die Lanzetten beim Transport schützen. Im April 1803 schrieb de Carro an Jenner nach England und informierte ihn ausführlich, wie er die Lymphe verpackt und eingeschlossen hatte.120 De Carros Wissen um diese Techniken dankte man ihm im Britischen Empire schon 1802 mit einem Artikel in einer in Bombay erscheinenden Zeitung, in dem seine Rolle für die Zusendung des Impfstoffes gewürdigt wurde. Stolz verwies de Carro darauf, dass auch der Leibarzt der Zarenwitwe in Moskau von einer seiner Elfenbeinlanzetten Gebrauch gemacht hatte.121 De Carro selbst war von dieser „Zirkulation“ des Elfenbeins als Material aus dem „Orient“ begeistert und bemühte das Motiv der „Rückgabe“ einer einst von dort übernommenen Technik: So werden die Erzeugnisse eines Landes, ihm zuweilen unter einer andern Gestalt, zum Behuf eines äusserst nützlichen Gegenstandes, wiedergegeben. Ein kleines Theilchen der ungeheuren Waffe des Elephanten, durch einen Wiener Künstler zur Lanzette geformt, und mit einem aufgetrockneten Tröpfchen eines Krankheitsspross versehen, den das Genie eines englischen Arztes aus dem Euter einer Kuh zu erhalten wußte, um es als Vertilgungsmittel einer der größten Landplagen anzuwenden, ein so kleines Theilchen eines indischen Products, bringt diesem Lande aus Europa eine der größten Wohlthaten zurück.122

Von Mesopotamien aus wurde die Technik der Kuhpockeneinimpfung nach Persien gebracht. Der in Bagdad tätige Wundarzt Milne musste die Stadt wegen nicht näher

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Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 32–34. Ebd., 1804, 79. De Carro an Jenner, 22. April 1803, zitiert nach: Rusnock, Catching cowpox, 2009, 26. Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 35. Ebd., 36.

Wissen im Glasrohr

definierter „politischer Geschehnisse“ verlassen und ging in die Handelsstadt Bushir.123 Auch in Persien gelang die Einführung der Kuhpockenimpfung mit Impfstoff aus Wien, allerdings nicht mit den von de Carro so geschätzten Lanzetten, sondern mit einem anderen Trägermedium. Am 15. Jänner 1804 schrieb der dortige Wundarzt Jukes, der mit dem britischen Wundarzt Milne zusammengearbeitet hatte, an de Carro in Wien: Es traf sich eben, daß mein Freund, der Doctor Milne zu Bushire war, als Ihre Briefe nebst dem Kuhpockenstoff im verwichenen November ankamen. Ich impfte unverzüglich drey Kinder an beiden Armen, und hatte das Glück, eine Pustel hervorzubringen, welche den regelmäßigen Verlauf einer ächten Kuhpocke nahm. Ich gestehe, daß ich wenig Hoffnung hatte, die Krankheit mittelst einem Impfstoff, zu erzeugen, der bereits über drey Monate alt war; und es wird Ihnen vielleicht nicht unlieb seyn, zu erfahren, daß es die getränkte, zwischen den beiden Glasplatten aufbewahrte, Charpie war, wodurch mir die Impfung gelang, wogegen der Versuch mit den Elfenbein-Lanzetten fehlschlug.124

Über die Bekanntheit der Kuhpockenimpfung in Persien gab es schon zehn Jahre nach den Aktivitäten Jukes’ und Milnes unterschiedliche Meinungen. Der britische Konsul Bruce berichtete 1813 aus Bushir, dass er gehört habe, dass die Impfung mit Kuhpocken in Indien und Persien schon seit langer Zeit bekannt sei.125 Er habe mit Angehörigen des Stammes der Eliaats gesprochen, wobei ihm 40 oder 50 Personen bestätigt hätten, dass die Kühe an einer Krankheit litten, die auf den Menschen übertragbar sei und die vor den Blattern schütze. Dies war allerdings zehn Jahre nach den Bemühungen Milnes um die Verbreitung dieser Nachricht in Bushir.126 Die von de Carro durch seine Beziehungen zum Osmanischen Reich bedeutend weiterentwickelten Versandmethoden wurden jedenfalls zum medizinischen Standard. Der Versand der Kuhpockenlymphe wurde nach der Methode de Carros noch in den 1830er-Jahren zwischen zwei Glasplatten mit „beinernen Lancetten“ empfohlen.127 Und auch wenn in dem bereits erwähnten „Schauensteins Handbuch“ keine Rede mehr vom Schutz vor dem Licht ist, wenn es um die Pocken geht, so haben sich doch die Erfahrungen de Carros aus seinen Jahren der Kommunikation mit dem Osmanischen Reich erhalten: Sollte ein Arzt nicht über frische Vakzine verfügen, so habe er Milne an de Carro, 4. Dezember 1803. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 156. Ebd., 160. Vgl. Hervé Bazin, Vaccination. A History From Lady Montagu to Genetic Engineering, [Médecine Sciences. Sélection], Montrouge 2011, 69. William Bruces Brief an William Erskine in Bombay wurde in den Londoner „Annals of Philosophy; or, magazine of chemisty, mineralogy, mechanics, natural history, agriculture and the Arts“ (S. 390), im Jahr 1819 abgedruckt. 126 Bazin, Vaccination, 2011, 69. Es ist möglich, dass die Nutzung der Kuhpocken zur Immunisierung gegen die Blattern auch in der Türkei bereits vor Jenner bekannt war. Zumindest berichtet das: A. Süheyl Ünver, An outlook on the history of smallpox vaccination during the last century in Turkey and in the whole world, Istanbul 1948, 286. 127 Vgl. Zöhrer, Abhandlung über die Einimpfung, 1834, 44. 123 124 125

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

zwischen Glasplatten aufbewahrten oder auf elfenbeinernen Nadeln eingetrockneten Impfstoff zu verwenden.128 Wien war eine wichtige Drehscheibe für Informationen dieser Art geworden. De Carro sandte 1801–1804 laufend Informationen ins Osmanische Reich. Auch Jenner selbst wurde über de Carros Wirken umfangreich informiert129 und stand mit de Carro auch im direkten Briefverkehr.130 Diese internationale Vernetzung scheint de Carro wenige Jahre nochmals genutzt zu haben; 1807 soll de Carro als Erster chinesischen Bergreis nach Europa gebracht haben.131 3.7

Mit den Pocken gegen die Pest: Versuche zur Kreuzimmunität im „Orient“

Um 1800 breitete sich in der europäischen medizinischen Fachliteratur eine Idee zur Krankheitsentstehung aus: Die Blattern seien durch eine Verbindung der Kuhpocken mit der Pest entstanden132 Daraus leitete man ab, dass die Kuhpockenimpfung auch gegen die Pest schützen könne. Mit der Vermutung, die Kuhpocken könnten auch vor anderen Krankheiten schützen, war man nicht allein: In Deutschland publizierte ein Arzt, man könne damit auch den Scharlach abwenden, aus Frankreich las man in Wien, dass damit auch dem Keuchhusten vorgebeugt werden könne.133 Die moderVgl. Schauenstein, Handbuch der öffentlichen Gesundheitspflege, 1863, 540. John Baron, The Life of Edward Jenner M. D, Cambridge 2014, 415–420. Barons Klassiker, der von Cambridge University Press neu aufgelegt wurde, gibt unter anderem Auszüge aus dem Briefverkehr Jenners mit Scott, de Carro und anderen wieder. Rusnock, Catching cowpox, 2009 stützt sich breitest auf diese Edition. 130 Im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek findet sich nur ein kurzes Schreiben Jenners an de Carro: Jenner an de Carro, 23. Jänner 1801. Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung von alten Handschriften, Sammlung Wenzel La Croix von Langenheim. 131 Darauf weist ein Artikel in der Neuen Allgemeinen Wiener Handlungs- und Industriezeitung im Jahr 1827 hin, in dem die Geschichte der Verpflanzung des Bergreises (Oryza montana l.) nach Europa aufgrund einer Prioritätsfrage neu aufgerollt wird. Suum Cuique!, in: Neue allgemeine Wiener Handlungs- und Industrie-Zeitung, oder Mittheilungen des Neuesten … aus dem Gebiethe des Handels, des Fabriks- und Gewerbswesens, der Haus- und Landwirthschaft und der Kunst, 6.10.1827, 109–111, https://books.google. at/books?id=t69QAAAAcAAJ. So soll de Carro den Reis im k. k. botanischen Garten in Wien-Hietzing (wohl dem Garten des Baron Hügel) kultiviert haben und die gewonnenen Samen kostenlos in der Monarchie verteilt haben. Von hier gelangten die Samen gemäß dieser Darstellung an die Militärgrenze, nach Ungarn und 1820 auch nach Brescia in Italien, wo Clemente di Rosa (1767–1850) erfolgreiche Anbauversuche vornahm. Allerdings scheint der Reis, den de Carro aktiv bei seinen Briefpartnern eingefordert hatte, letztlich nicht von seinen britischen Kollegen, sondern von einem russischen Arzt gekommen zu sein, der an die chinesische Grenze gereist war. Siehe auch: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst (Akronym: H.Gr.S.), Beyträge zum Gelehrten Österreich. Johann de Carro, in: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst Bd. 7, 1816, 422–426. 132 Ein Beispiel ist der Brünner Impfarzt Alois Carl, der 1801 einen Aufsatz seines Dresdner Kollegen Tittmann gelesen hatte, der dies postulierte, und sich dessen Ansicht anschloss. Vgl. Carl, Art zu Impfen, 1807, 21. 133 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 81. 128 129

Mit den Pocken gegen die Pest

ne akademische Medizin kennt dieses Phänomen als „Kreuzimmunität“. Im Falle von Pest und Pocken ist eine solche jedoch nicht gegeben. Ein fataler Irrtum, der nicht nur Ärzte, sondern auch viele Menschen das Leben kosten sollte. Jean de Carro und seine internationalen Korrespondenzpartner waren von der Idee, mit der Pockenimpfung die Pest bekämpfen zu können, fasziniert. In der Korrespondenz de Carros mit seinen Kollegen im Osmanischen Reich tauchte die Idee 1802/3 verstärkt auf.134 Der Franzose Alexandre Balthazar Auban machte sich im  Sommer 1803 auf eine Reise, der de Carro in Wien offenbar so viel Bedeutung beimaß, dass er ihr in seinem Buch eine lange Strecke widmete: Außerhalb Konstantinopels, im „Tal des süßen Wassers“, in dem der Sultan im Frühjahr seine Pferde zum Weiden schickte, wären Pest und Pocken praktisch unbekannt, heißt es in einem Brief Aubans an de Carro. Selbst wenn die Stadt von großen Epidemien heimgesucht würde, bliebe das Tal verschont. Auban begab sich mit einigen „Sprachknaben“135 in das Tal und ließ sich eine Kuhherde vorführen. An den Eutern der Kühe entdeckte er die charakteristischen Narben, an den Händen einiger Frauen die Kuhpocken. Aus diesem Zusammentreffen sowie aufgrund der Aussage eines Mannes, der zu berichten wusste, dass sein Großvater 110 Jahre alt geworden sei und niemals die Pest gesehen habe, schloss Auban, dass es die Kuhpocken gewesen sein mussten, die die Bewohner des Tals vor der Pest schützten. Auban berichtete dies nicht nur brieflich an de Carro nach Wien, sondern im Wege diplomatischer Post auch an den französischen Botschafter in Wien, der den für eine Veröffentlichung gedachten Bericht an de Carro weitergab.136 Das Geschichtsbewusstsein dieser Ärzte war beachtlich. Auban ließ sich die Originalität seiner Idee, dass die Pockenimpfung gegen die Pest nutzen könne, von den ihn auf seiner Expedition begleitenden Sprachknaben schriftlich bestätigen, offenbar um in einem allfälligen Kampf um die Priorität der Idee gegen den eben in Konstantinopel angekommenen Arzt Eusebio Valli137 (1755–1816) die besseren Karten zu haben. Valli hatte angekündigt, Siehe auch Kapitel 5.4. Als „Sprachknaben“ wurden junge Männer bezeichnet, die in einer bestimmten Fremdsprache ausgebildet werden sollten. Sie fanden sich meist im Botschaftspersonal der europäischen Mächte. 136 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 89–90; 93. Auban führte den Bericht protokollartig aus und vergaß nicht, alle wesentlichen Daten festhalten zu lassen und durch Zeugen zu bestätigen. De Carro gab dieses Protokoll wörtlich wieder: „Wir Endesunterschriebene Alexander Balthasar Auban, französischer Arzt und Ober-Chirurg im Dienst der Marine; Stephan Wmid [sic!], Dolmetscher des erwähnten Balthasar Alexander Auban; Joseph Carl Le Doux, August Georg Philipp Andrea de Nerciat, Alexander Toussaint Gilly, und Joseph Maria Ionannin, alle viere in der Qualität als Sprachknaben, im Gefolge der Gesandtschaft der französischen Republik bei der Ottomannischen Pforte, haben uns heute, Mittwochs den ersten Thermidor des Jahres 11 (20/9 July 1803) nach dem Dorfe, Kiaghat Ghané genannt, Nordwestlich von Pera bei Konstantinopel gelegen, begeben, wo wir um 11 Uhr des Vormittags angekommen sind, um mit Genauigkeit auszumitteln, ob die Kuhpocke an den Eutern der Kühe des besagten Ortes vorhanden sey, und ferner, ob sich die Pest und die Menschenblattern in diesem Thale geäußert haben.“ 137 Valli war von Galvani und Volta beeinflusst und reiste gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Mitteleuropa umher, um die Wirkungen der elektrischen Reize auf den Körper zu propagieren. Um 1800 wendete er sich Experimenten mit der Immunisierung zu, die vor allem der Pest und der Tollwut sowie dem gelben Fieber 134 135

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ein großes Selbstexperiment vorzunehmen, um den Schutz der Pockenimpfung auch gegen die Pest zu beweisen. Auban ließ sich daher seine Forschungsergebnisse mit Brief und Siegel bestätigen.138 Die breite Publizität, die der Selbstversuch von Valli erfahren hatte, zeitigte schwerwiegende Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Pockenimpfung in Konstantinopel. In der Stadt Kontantinopel verbreitete sich im Herbst 1803 wohl das von diesen Versuchen genährte Gerücht, die Kuhpocken würden gegen die Pest schützen. Weil die Pest in der Stadt auftrat, wandten sich die Bewohner der Stadt sowohl an die europäischen Ärzte wie auch an einheimische Heilkundige (und wohl auch solche, die nur vorgaben, es zu sein) um Impfungen zu erhalten. Doch es waren nicht die harmlosen Kuhpocken, die inokuliert wurden, sondern echte. Eine – wenn man den Berichten der europäischen Ärzte glauben möchte – verheerende Blatternepidemie brach aus.139 200 Jahre später kann bestenfalls darüber spekuliert werden, wie es zu diesem Ausbruch gekommen war. Das, was als Pest verstanden wurde, konnte damit aber nicht abgewendet werden. Anfang Dezember war Auban angesichts der verheerenden Epidemie in Konstantinopel am Boden zerstört. Einigermaßen verzweifelt, was denn da schief gegangen sei, schrieb Auban nach Wien: Ich habe nie den Impfstoff aus einer Pustel von dem Arme solcher Personen genommen, die sich, in der Absicht der Pest vorzubauen, die Kuhpocke geben ließen, und die bereits die Menschenpocken überstanden hatten; auch habe ich mit vieler Sorgfalt eine vollständige Genealogie meiner Kuhpocke, die ich unmittelbar von Ihnen erhielt, zu erhalten gesucht. Keiner von meinen Kuhpockenimpflingen ist von der Pest befallen worden, und dies bestärkt mich, in der Meinung, daß die Kuhpocke ein sichres Schutzmittel gegen diese Seuche sey.140

Die zu Beginn des Jahres geschürte Impf-Euphorie, die nun so bitter enttäuscht worden war, war wohl in offene Feindschaft und Misstrauen der Bevölkerung umgeschlagen. Die Experimente der verschiedenen Ärzte erschütterten das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfung. Aus Konstantinopel schrieb er über seine Arbeit als KuhpockenImpfarzt: „Ein neuer Impfarzt hatte bei drey armenischen Kindern eine unächte Vaccine hervorgebracht, die er für ächt ausgab, und die Kinder für geschützt erklärte. Diese falsche Sicherheit hat indeß traurige Folgen gehabt, denn die drey Kinder bekamen die Blattern,

galten. Ein Experiment mit dem gelben Fieber kostete ihn schließlich das Leben. Zu Valli siehe allgemein: E. H. Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, in: Bulletin of the history of medicine 22, 1948, 562–593. 138 De Carro gibt auch diese Stelle in voller Breite wieder. Der Detaillierungsgrad der Fristenläufe des Vorganges zeigt, wie konkret Auban sich gegen Priorisierungsversuche abgrenzen wollte. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 90. 139 Konkrete Zahlen zu dieser Epidemie oder osmanische Berichte standen mir für diese Arbeit nicht zur Verfügung. 140 Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 115.

Mit den Pocken gegen die Pest

und eins derselben starb. Die Armenier, welche viel Zutrauen in die Vaccine setzten, haben es seitdem fast ganz verlohren.“141 Aufgeben wollte er trotzdem nicht. Am 8. Dezember 1803 schrieb Auban an de Carro in Wien: „Es bedurfte nichts Geringeres, als ein nochmaliges Durchlesen der zweiten Ausgabe Ihres Werkes über die Kuhpockenimpfung, um mich zur Fortsetzung derselben in dieser Hauptstadt, und zu fernern Beobachtungen über die Pest zu ermuntern. Die Unannehmlichkeiten, die man erfährt, hatten mich dergestalt mit Widerwillen erfüllt, daß ich entschlossen war, sie gänzlich aufzugeben.“ Auban fühlte sich als Opfer der Verhältnisse und der Tätigkeiten der Ärzte in Konstantinopel: „Wenn Sie sich in dem Falle befunden haben, in einer Stadt Verfolgungen ausgesetzt zu seyn, wo diejenigen, welche unsre Kunst ausüben, sie mit Ehre betreiben; was darf man wohl in einem Lande erwarten, wo sich eine große Anzahl von Aerzten befindet, die aus verschiedenen Gegenden der Welt gekommen sind, um von der Gutmüthigkeit und Unwissenheit der Völker, die es bewohnen, Nutzen zu ziehen.“142 Die Schlussfolgerung Aubans ist bezeichnend: Nicht Aberglaube, Unwissenheit oder vermeintliche „Unzivilisiertheit“ der Bewohner, sondern das Tun der Ärzte hätte das Vertrauen in die aus Europa kommende Medizin zerstört. Zum Jahreswechsel 1803/1804 ging der angeschlagene Auban in Konstantinopel in die Gegenoffensive: Um die Reputation der Impfung wiederherzustellen, setzte Auban alles auf eine Karte. Am 8. Jänner 1804 inokulierte er zwölf Kindern, die zuvor mit den Kuhpocken geimpft worden waren, die Menschenblattern und ließ darüber ein Protokoll aufnehmen. Keines der Kinder erkrankte. Der Kampf um die Durchsetzung der Impfung war längst zu einem persönlichen, fast manischen Anliegen derer geworden, die sich dieser Praxis verschrieben hatten. Aubans Versuch glich vielen, an anderen Orten Europas vorgenommenen ähnlichen Operationen. Dennoch war das Risiko, das er eingegangen war, unvergleichlich größer. Auban war sich dessen bewusst. Ein missionarischer Elan klang in seinen Briefen an de Carro durch. Fast verzweifelt schrieb er nach Wien: „Man wird vielleicht das eine oder das andere von mir glauben; allein, ich werde nicht aufhören zu vacciniren, weil ich diese Operation nützlich für die Menschheit halte, und sollte sie mir auch meine Ruhe, mein Glück, ja selbst mein Leben kosten, so will ich doch gern alle diese Opfer in der festen Ueberzeugung bringen, daß man oft die Menschen mit Gewalt zu ihrer eigenen Wohlfarth antreiben müsse.“143 De Carros Position war dank des staatlichen Willens, der hinter den Impfungen in Mitteleuropa stand, unvergleichlich stärker. Auch das britische Empire hatte die Bedeutung der Impfung erkannt. Für de Carro war der Winter 1803 deshalb eine Zeit des Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 90. Ebd., 113. Angemerkt sei hier, dass Auban offenbar zeitlebens von der Wirksamkeit der Kuhpockenimpfung gegen die Pest überzeugt blieb. Im Jahr 1830 berichtet die in Wien herausgegebene „Populäre Österreichische Gesundheits-Zeitung“, dass Auban im Zuge seines dreißigjährigen Aufenthaltes in Konstaninopel mehr als 60.000 Menschen geimpft habe und „kein einziger“ an der Pest erkrant sei. Gesundheits-Zeitung Nr. 42, 22. September 1830, 168. 143 Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 130f. 141 142

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

Dankes: Die Ostindische Kompanie der britischen Krone dankte dem in Wien tätigen Arzt für seine Hilfe bei der Einführung der Kuhpockenimpfung mit einem Geldgeschenk von 200 Guineen, einer sehr beträchtlichen Summe.144 Er war indessen nicht der einzige, der sein Netzwerk in das Osmanische Reich ausgedehnt hatte und den Impfgedanken propagierte. Der wie de Carro ebenfalls nach Wien zugezogene Luigi Careno korrespondierte zur selben Zeit wie de Carro mit verschiedenen Ärzten im Osmanischen Reich. Die Version der Vorgänge vom Herbst 1803, die offenbar über Carenos Vermittlung (wenn nicht sogar durch ihn als Autor) im Sommer 1804 in der Salzburger „Medicinisch-chirurgischen  Zeitung“ erschien, liest sich weit freundlicher als die de Carros. Careno hatte nicht mit den Praktiken Vallis gebrochen.145 Während Hinweise auf die ausgebrochene Pocken-Epidemie in seiner Schilderung der Ereignisse weitgehend unterblieben, hieß es dort nur: Es ist eine traurige Bemerkung, daß der Eigennutz so vieler in Constantinopel praktizirenden Aerzte und Afterärzte eines der wichtigsten Hindernisse ist, welche den Fortgang der guten Sache hemmen. Die Vaccination ist ihnen ein Dorn in den Augen, und jede Gelegenheit, dieselbe beym Volke verdächtig zu machen, ist ihnen willkommen. Man darf sich daher nicht wundern, daß diese erklärten Feinde der Vaccine die Abwesenheit des Hrn. Pezzoni, als er und Hr. Dr. Valli im December 1803 eine Reise von Constantinopel in die asiatischen Provinzen machten, um die in der Gegend von Angora herrschende Viehpest zu beobachten, dazu benützten, das Publikum gegen die Vaccine einzunehmen und die Bessergesinnten in ihrem Glauben wankend zu machen.146

Die erste Übersetzung von Jenners Buch über die Kuhpockenimpfung überhaupt in eine fremde Sprache erfolgte in Wien durch Alois Careno, der Jenners Werk 1799 ins Lateinische übertrug.147 Auch Careno hatte sich dadurch einen Namen gemacht. In Aleppo hatten sich zwei dort ansässige Impfärzte an eine ebenfalls aus Wien kommende Schrift von Careno gehalten. 1806 schrieb Balthazar Salina, ein 80-jähriger Arzt, der in Aleppo praktizierte, an ihn, dass sein Kuhpockenimpfungs-Institut in Syrien große

Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 152. Die unterschiedlichen Meinungen über die Konstantinopeler Vorkommnisse rund um die Kuhpockenimpfung sind möglicherweise auch Ausdruck eines Konkurrenzkampfes zwischen den beiden. Careno und de Carro wurden in der zeitgenössischen Literatur nicht nur miteinander verwechselt, in den „Annalen der Literatur und Kunst in den österreichischen Staaten“ wird Careno sogar vorgeworfen, er habe in der Übersetzung von Jenners Werk absichtlich den Namen de Carros unterschlagen. An anderer Stelle habe er zu Unrecht behauptet, in Brunn bei Wien die Kuhpocken eingeimpft zu haben. Aus den Genfer Annalen, in: Annalen der Literatur und Kunst in den Österreichischen Staaten, August 1805, 78–82, 81. 146 Hier und die folgenden Berichte aus Aleppo nach dem Abdruck der Brief Salinas in der MedicinischChirurgischen Zeitung. Nachrichten, den Fortgang der Vaccination in der Türkey betreffend, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 26.7.1804, 141–143, 141f. 147 Bazin, Vaccination, 2011, 77. 144 145

Mit den Pocken gegen die Pest

Fortschritte mache. Die Epidemien seien zurückgegangen und „selbst die Türken“ würden sich nun mit weniger Schwierigkeit der Kuhpockenimpfung unterwerfen.148 Hinter Valli stand ein einflussreicher Mann bei Hofe: der oberste Dragoman Mourousi. Er wandte sich nun an Careno in Wien, um eine geeignete Instruktionsschrift zu erhalten, mit der die Impfung in ihrem Ansehen bei der Bevölkerung wieder gehoben werden sollte. Mourousi ließ diese Schrift in nicht näher definierte „Landessprachen“ übersetzen.149 Im Dezember 1803 erreichte die Kuhpockenmaterie die Stadt Aleppo. Dorthin war sie nicht von de Carro, sondern von Careno geschickt worden. Der in Aleppo ansässige Arzt Salina impfte mit der aus Wien „zwischen zwei Glasplatten“ erhaltenen Substanz drei Kinder. Im April vakzinierte er die Kinder des britischen und des kaiserlichen Konsuls, danach „sechs Europäer, 11 eingeborene Christen, 8 französische und 8 türkische Juden“. Auch Careno erhielt die ihm dafür zustehende Anerkennung. Salina meldete zurück: „Alle diese Menschen erkennen, daß sie es Ihnen allein zu verdanken haben, wenn sie sich nun des Gedankens erfreuen dürfen, der Gefahr der hier herrschenden Pockenepidemie zu entrinnen, von welcher im Verlauf dieses Jahres gegen 200 Kinder das Opfer geworden sind. Aleppo kann mit Grund sagen, daß die Erhaltung vieler seiner Einwohner das Werk von Careno ist.“150 Um dieselbe Zeit, als Careno aus Aleppo die Nachricht erhielt, dass sich sein Kuhpockenimpfstoff dort durchzusetzen begann, war er in Wien weiterhin um die Erhaltung des Impfstammes bemüht. In der Wiener Zeitung annoncierte Careno, dass er „auch dieses Jahr und zwar an den Kindern armer Leute, welche zu diesem Ende am Dienstage zwischen 12 und 1 Uhr in seine Wohnung am Bauernmarkt Nr 625 gebracht werden können“, unentgeltlich einimpfen würde.151 Im Sommer 1805 meldete die Wiener Zeitung, dass die Einimpfung der Kuhpocken nun endlich auch in Ragusa erfolgt sei, und zwar aufgrund der Bemühungen des Dr. Careno, der den Impfstoff dorthin gesandt hatte und einen „Katechismus über die Einimpfung der Schutzpocken“ verfasst hatte, der in die „illyrische Sprache“ übersetzt und von den Priestern auch am Land ausgeteilt worden sei. Sowohl bei Dalmatinern als auch bei den Türken mache die Entdeckung „glückliche Fortschritte“.152 Carenos und de Carros Wirken verlief chronologisch und inhaltlich parallel: Beide bemühten sich um ein Netzwerk ins Osmanische Reich, um Publikation ihrer Erfolge

Kurznotiz, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 9. 10. 1804, 63. Nachrichten, den Fortgang der Vaccination in der Türkey betreffend, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 26.7.1804, 141–143, 142. Ein „Dragoman“ ist ein Dolmetscher. Ein Mann gleichen Nachnamens wird in einer Würdigung de Carros in Hormayrs Archiv für für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst genannt, allerdings als „Hospodar der Moldau“. Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst (Akronym: H.Gr.S.), Beyträge zum Gelehrten Österreich, 1816. 150 Nachrichten, den Fortgang der Vaccination in der Türkey betreffend, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 26.7.1804, 141–143, 143. 151 Wiener Zeitung, 28.3.1804, 1142. 152 Wiener Zeitung, Vermischte Nachrichten, 1805, 3428. 148 149

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in der Heimat und wurden zu Chronisten ihrer selbst – und auch ihrer eigenen Auszeichnung. Careno veröffentlichte 1810 seine eigenen Erinnerungen an die Einführung der Kuhpockenimpfung – auch er wurde, wie de Carro, für seine Tätigkeiten mit Ehrengeschenken belohnt.153 3.8

Konzeptionen der Krankheitsentstehung und der Umgang mit lokalem Wissen

Schon Jenner war der Meinung gewesen, dass die Kuhpocke nicht eigentlich eine Krankheit der Kühe sei, sondern von der Mauke der Pferde käme – einem Geschwür an den Hufen der Pferde, die durch die Arbeit der Melkerinnnen und Knechte in den Stallungen von den Pferden auf die Kühe übertragen wurden.154 Die Idee war keineswegs absurd: Auf die tatsächlich bestehende Kreuzimmunität der Pocken mit den Schafpocken (wer einmal Schafpocken hatte, bekam keine Blattern mehr) machte der italienische Arzt Luigi Sacco bereits 1806 aufmerksam. Das dahinterliegende Prinzip der Übertragung durch einen Virus war noch unbekannt, sodass man sich nur auf genaue Beobachtungen von Krankheitshäufigkeiten und Zusammenhängen stützen konnte.155 Jean de Carro verfolgte diese Idee. Um seinem Anspruch, eine Geschichte der Kuhpockenimpfung zu verfassen, gerecht zu werden, organisierte de Carro auch das Wissen um historische Episoden der Menschenblattern in seinem Buch. Zentral war für de Carro dabei die Annahme, dass die Kuhpocken eigentlich „Tierpocken“ seien, die auch bei Pferden auftreten würden und von den Pferden auf andere Nutztiere wie Kühe und Ziegen übertragen werden könnten. Dabei berief er sich neben einer Publikation eines englischen Arztes auch maßgeblich auf die Beobachtungen, die der französische Arzt Lafont in Saloniki im Gespräch mit den dortigen Hufschmieden gemacht hatte. Letztere hatten schon lange erkannt, dass zwischen bestimmten Formen der Mauke an Pferdehufen (engl. „Grease“, von Lafont als „Javart“ bezeichnet) und den Pocken Parallelen bestanden. Diese Feststellung nahm de Carro zum Anlass, die Entstehung der Menschenblattern dem Eindringen asiatischer Reitervölker und – einigermaßen unbestimmt – inbesondere den arabischen Pferden in Europa zuzuschreiben. In einer Fußnote zur deutschen Übersetzung des Buches aus dem Jahr 1804, ging de Carros Übersetzer Gotthilf Friese aus Preußen noch genauer auf das Problem Aloysius Careno (Careno, Luigi), Epilogus de vaccinatione, Vindobonae (Wien) 1810. Joseph Pascal Ferro schrieb bereits 1802, dass diese Meinung seit Jenners Publikation widerlegt worden sei. Ferro, Über den Nutzen der Kuhpocken-Impfung, 1802, 23-14. 155 Geroulanos, Iakovos Pylarinos, 1978, 267. Heute wissen wir, dass das Pockenvirus gegen Eintrocknung resistent ist. So kann angenommen werden, dass in Gegenden, in denen Schafzucht verbreitet ist und Schaffelle für Kleidung und Betten genutzt werden, die Immunität nach Infektion mit den vergleichsweise harmlosen „Schafspocken“ hoch gelegen sein dürfte. 153 154

Konzeptionen der Krankheitsentstehung und der mgang mit lokalem Wissen

ein. Er hatte de Carro offenbar schon zur Zeit der Abfassung des Buches im französischen Original darauf aufmerksam gemacht, dass die Kuh in Arabien kein einheimisches Tier sei. De Carro erwiderte darauf, dass dies umso mehr dafürspreche, dass die Blattern ursprünglich von den Pferden ausgingen. Friese nahm sich nun offenbar ein Vorbild an Lafont in Saloniki und sprach mit dem Pferdeknecht seines Vermieters. Als eines Tages im Frühjahr 1803, der Hausknecht meines Wirthes, des Kaufmann I. das Reitpferd desselben putzte, ließ ich mich mit ihm in ein Gespräch über diejenige Krankheit der Pferde ein, die hier zu Lande die Mauke genannt wird. ‚O !‘ – sagte er, – ‚hätten Sie nur eher darnach gefragt, vor einigen Wochen hat sie dieses Pferd gehabt, und noch heute können Sie die Spuren davon an den Fesseln der Hinterfüße wahrnehmen.‘ Ich fand auch wirklich einige flache, braune, reguläre Schorfe. Das tägliche Abreiben und Waschen der Geschwüre hatte ihre vollkommene Bildung verhindert. Dieser Mensch erzählte mir nun, daß selbst gutgepflegte, meistentheils aber junge Pferde an diesem Uebel litten, daß sie oft, ehe es zum Ausbruch käme, mehrere Tage hindurch kränkelten, und wenig Freßlust zeigten, und daß dies aufhöre, sobald an den Fesseln, weißliche, eine klare Feuchtigkeit enthaltende Bläschen erschienen, die man, wenn sie bald heilen sollten täglich auswaschen müsse.156

Friese versuchte nun selbst, zwei Bauernsöhne mit der Mauke zu infizieren, was trotz kuhpockenähnlichen Entzündungserscheinungen an den Impfnarben nicht gelang.157 Sowohl de Carro als auch sein Übersetzer Friese hielten den „Orient“ oder etwas bestimmter Asien für den Ursprungsort der Blattern. Friese leitete daraus ab, dass die Menschenblattern sich durch eine Vermischung des „Pest-Contagiums“ mit dem „Contagium“158 der Mauke nach der Invasion von nicht näher definierten Nomaden in Arabien und in Ägypten gebildet hätten. Daraus schloss er, dass die Kuhpocken vielleicht auch gegen die Pest schützen könnten.159 De Carro war vom Gedanken, seine Theorie zu beweisen, begeistert und beschloss, sein Forschungsnetzwerk zu aktivieren, das sich ihm durch zahlreiche Dankesbriefe zu Füßen gelegt hatte. Er wendete sich nun an den englischen  Geschäftsträger in Wien und trat durch ihn in brieflichen Kontakt mit dem General-Gouverneur von Ostindien. De Carros nicht bescheidenes Ersuchen: Er möge alle Ärzte und Wundärzte in den englischen Niederlassungen bitten, bei den „Eingeborenen“ Erkundigungen anzustellen, ob ihnen eine Ähnlichkeit oder ein Zusammenhang zwischen der Mauke der Pferde und den Menschenblattern bekannt sei. An alle seine sonstigen Korrespondenzpartner richte-

156 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 52. Das Beispiel zeigt, wie sehr die Übersetzer in dieser Zeit in die Wissensweitergabe eingreifen konnten. Im Fall Frieses lässt sich jedoch sagen, dass er eigene Hinzufügungen klar ausweist. 157 Ebd., 53. 158 Zum Begriff des „Contagiums“ und das dahinterstehende Konzept vgl. Kapitel 4 dieser Arbeit. 159 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 57.

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te er das Ersuchen, herauszufinden, ob die Menschenblattern oder die Mauke früher nachweisbar seien und ob insbesondere die Araber, welche wohl auch Tierärzte hätten, Kenntnisse dieses Gegenstandes hätten. Einige von de Carros Korrespondenzpartnern berichteten über ihre Beobachtungen: Aus Konstantionopel schrieb der Franzose Auban über die Kuhpocken bei rumelischen Bauern, aus Saloniki Lafont über die Erkrankungen der Pferde und die Nomenklatur der Krankheitsformen der Hufschmiede.160 De Carro blieb fasziniert von der Idee, durch die Übertragung der Mauke auf den Menschen die Herkunft der Krankheit von den asiatischen Reitervölkern nachzuweisen. Im Herbst 1803 sandte Sacco aus Mailand Sekret der Pusteln der von ihm als „Giardoni“ bezeichneten Pferdererkrankung. Erneut versuchte er damit, wie es schon mit den Kuhpocken gelungen war, ein Kind zu infizieren.161 De Carro konnte sich mit seiner Theorie, die er mit Forschungsaufträgen und Nachfragen an seine Korrespondenzpartner zu beweisen suchte, nicht durchsetzen. In der „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ wird de Carros Buch zwar gelobt, einzig die historische Herleitung der Verwandtschaft der Pocken, „Kindsblattern“ und der Mauke der Pferde mit dem Rückbezug auf die Reitervölker Asiens und insbesondere die Araber „will der Rezensent unkommentiert“ lassen.162 3.9

Impfung und Fatalismus. Wie sich das Bild vom „rückständigen Orient“ verfestigte

Für de Carro war die Verortung der Pocken im „Orient“ bereits so verfestigt, dass die Analogie zwischen Kuhpocken und Pferdemauke gleichsam automatisch zu Reitervölkern und den Arabern führte. Auch das zunehmende Geschichtsbewusstsein und die Beschäftigung mit dem Islam spielten hierbei eine Rolle. Wie schon weiter oben erwähnt verwendete der Arzt Draut in Wien in den 1830er-Jahren den Begriff „Arabische Blattern“, um die Variolation mit Menschenblattern von der Vaccination mit Kuhpocken zu unterscheiden. Die Blattern galten diesem historisch und sprachlich gebildeten Arzt als „arabisch“, weil der arabische Gelehrte und Mediziner Rhazes163 die Blatternepidemie des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts erstmals beschrieben hatte. Sie soll den sogenannten „Elefantenkrieg“ äthiopischer Könige gegen die Stadt

Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 58f. Ebd., 70. Vgl. Histoire de la Vaccination en Turquie, en Grece, et aux Indes orientales par Jean de Carro, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 17. Dezember 1803, 267–272, 271. 163 Abū Bakr Muḥammad ibn Zakaryā ar-Rāzī (* um 865 in Rey; † 925 ebenda) war ein persischer Arzt, Naturwissenschaftler, Philosoph und Alchemist. 160 161 162

Impfung und Fatalismus

Mekka entschieden haben.164 Von diesen Zeiten zu sprechen und Verbindungen zur klassischen Zeit der arabischen Kultur herzustellen, war de Carro, dem Kind des ausgehenden, turkophilen 18. Jahrhunderts, am Beginn des 19. Jahrhunderts noch selbstverständlich. So sagt er in seinem Kuhpocken-Werk, es schiene ihm, „daß die Gewohnheit, von diesen Völkern, seit den Epochen unsrer ersten Bildung an, reden zu hören, und die Art von Bekanntschaft, die wir mit ihnen durch ihre scharfsinnigen Schriften gemacht haben, die man in jedem Alter mit Vergnügen liest, viel dazu beitragen könne, das Interesse dieses Theils der Geschichte der Kuhpockenimpfung zu erhöhen.“165 Von Beginn an hatte die Aktivität de Carros und Carenos auch in ihrer Selbstwahrnehmung missionarischen Charakter. De Carro schreibt in der Einleitung zu seiner Geschichte der Kuhpockenimpfung in der Türkei 1803, der „Orient sei die Wiege der Menschenpocken und ihrer Impfung gewesen“. Und weiter: „Wenn ihm der Occident Vorwürfe über ein durch ihn erhaltenes Übel zu machen hat, so muß er ihm auch für das dagegen empfangene Schutzmittel Dank wissen.“166 Dem wohltäterhaften Selbstverständnis stehen in diesem Prozess hier sehr früh das Unverständnis und die Enttäuschung über das oftmalige Scheitern gegenüber. Was in Europa in den Schilderungen der Ärzte, wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten, auch nicht ohne Widerstand und schon gar nicht sofort, aber eben doch, zu gelingen schien: nämlich die weitreichende Einführung einer Maßnahme, die als Wohltat für die Menschheit gesehen wurde, geriet in der Wahrnehmung der betreffenden Ärzte im selben Fall im Osmanischen Reich, in Persien und sonstwo außerhalb Europas zu einem Bündel unüberwindbarer Widerstände. Im Zentrum der Beschreibung dieses Widerstandes stand die Religion. Auban hatte in Konstantinopel noch das ungehemmte Tun europäisch gebildeter Ärzte und Scharlatane als Grund für sein Scheitern anerkannt; doch langsam wuchs das Misstrauen in Religion und „Sitten des Orients und seiner Bewohner“. Auf der Reise nach Teheran sah der italienische Arzt Salvatori, der in den Diensten des französischen Botschafters beim Persischen Hof, General Gardanne, stand, Kuhpocken bei einer Herde von Kühen. Als er seinen Unterkunftgeber darauf aufmerksam machte, dass durch die Krankheit seine Kinder, von denen eines just zu diesem Zeitpunkt unter äußersten Schmerzen eine Blatternerkrankung durchmachte, vor der Ansteckung mit den Blattern geschützt werden könnten, entgegnete dieser, er sei nicht bereit, an die „Vorsehung Hand anzulegen“. Fest sei daher sein Entschluss, den Fußstapfen seiner „Vorältern, und nicht jenen eines Ungläubigen zu folgen“.167 Diese Wahr164 Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 12. Der genaue Zeitpunkt dieses Krieges ist nicht gesichert. Das „Jahr des Elefanten“ (ʿāmm al-fīl) könnte um 550 gelegen sein und war ein Bezugspunkt der Zeitrechnung im vorislamischen Arabien. Es galt lange auch als das Geburtsjahr des Propeten Mohammed, das heute allerdings verworfen wird. 165 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 2. 166 Ebd., 2f. 167 Auszug aus einem Schreiben des Hn. Dr. Salvatori, ertsen Arztes bey dem französ. Botschafter, General Gardanne, am persischen Hofe an Hn. Dr. Al. Careno in Wien, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 27. 4. 1809, 122–128, 123.

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nehmung von Ablehnung segensbringenden europäischen Fortschritts durch eine als hoffnungslos rückständig erfahrene Bevölkerung ist ein zentrales Motiv im medizinischen Orientbild, das sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte.168 Die Weitergabe der medizinischen Praxis der Impfung, wie sie von der akademischen Medizin in Europa zunächst versucht worden war, gelang tatsächlich nur schleppend. Am 26. Oktober 1802 erreichte Jean de Carro ein Schreiben aus Konstantinopel, in dem ihm der französische Arzt Auban mitteilte, dass der Leibarzt des Sultans eine Übersetzung der Schrift de Carros „Observations et experiences sur la vaccination“ anfertigen habe lassen und diese dem Sultan überreicht hätte. Der Sultan, der selbst eine Blatternerkrankung überstanden hatte und davon „sehr übel zugerichtet worden sei“, zeigte sich betrübt, dass die Erfindung für ihn zu spät komme. Dennoch habe er die Einführung der Impfung im gesamten Reich angeordnet. Ob diese so passierte, lässt sich anhand der Wiener Quellen nicht beantworten. Einigermaßen resigniert meinte de Carro im selben Bericht jedoch, dass die Türken sich „stets als Feinde der Neuerungen gezeigt“ und daher keinen besonderen Eifer zur Einführung der Impfung hervorgebracht hätten. Wenig später berichtete ihm Auban jedoch, er habe zwar erst ein einziges türkisches Kind impfen können, doch der Protomedicus des Osmanischen Hofes („Hekimbaşı“)169 habe seine drei Kinder für die Kuhpockenimpfung angemeldet. Man hoffe, in dieser Hinsicht unter den „Muselmännern Proseliten“ zu machen.170 Waren die Menschen tatsächlich abergläubischer oder rückständiger als ihre Mitmenschen in Europa? Der französische Arzt Lafont schrieb an de Carro nach seiner ersten Impfkampagne in Saloniki begeistert von seinen Erfolgen nach Wien: „Alle Einwohner des Orts haben sich der Impfung mit einer Bereitwilligkeit unterworfen, die den gebildetsten Völkern Ehre machen würde; Türken, Armenier, Griechen und Franken171 haben ihre Zuflucht zu diesem Schutzmittel genommen“.172 Die Gründe für das Misstrauen lagen

168 Diese Frage wurde zuletzt auch in der Medizingeschichtsschreibung kritisch hinterfragt. Im Zusammenhang mit der Pest wies White, Rethinking disease in Ottoman, 2010 darauf hin, dass dem (angeblichen) Fatalismus im islamischen Kontext in der Historiographie lange wohl nicht zuletzt aufgrund solcher Berichte eine zu große Bedeutung eingeräumt wurde. Osmanische Quellen, die gegenteilige Schlüsse zulassen, blieben in der europäischen Historiographie lange unberücksichtigt. 169 Als „Protomedicus“ wurde in der frühen Medizinalverwaltung des Habsburgerreiches ein leitender, in öffentlicher Funktion tätiger Arzt verstanden. Dem entspricht der Hekimbaşı (oft auch„Hekimbashi“) des Osmanischen Reiches als oberstes Organ der Medizinalverwaltung; das Wort „Hekim“ verweist meist auf einen Heilkundigen oder Arzt. 170 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 14–16. 171 Die Europäer, die im Osmanischen Reichen lebten, wurden von den türkischen, griechischen, jüdischen und arabischen Bewohnern oft als „Franken“ bezeichnet. Nicht unter diese Bezeichnung fallen in der Regel Bewohner der heutigen Balkanstaaten. „Franken“ waren auch die aus dem deutschsprachigen Raum kommenden Besucher des Osmanischen Reiches. Eine Unterscheidung in „Österreicher“, „Bayern“ oder „Preußen“ war im Osmanischen Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht üblich. Das heute gebräuchliche arabische Wort für Österreich, „nimsa“ leitet sich von der generellen Bezeichnung alles Deutschsprachigen ab. 172 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 12.

Impfung und Fatalismus

tiefer und sind heute nur mehr zu erschließen, kaum mehr zu beweisen, schon gar nicht aus den Selbstzeugnissen europäischer Ärzte. Am Beispiel Konstantinopel wird man dennoch kaum fehlgehen, anzunehmen, dass im Chaos der Ansichten, Widersprüche, Moden und ständig neuen Zurufe nur scheinbar gelehrter Europäer die Bevölkerung das Vertrauen in alles, was aus Europa kam, verloren hatte. Ein Beispiel sind die bereits besprochenen Pestversuche der Ärzte Pezzoni und Valli, die eine Blatternepidemie hervorgebracht hatten. 1812 übersetzte der türkische Arzt Şānizāde Anton Störcks 1776 erschienenes Werk „Medizinisch-praktischer Unterricht für die Feld- und Landwundärzte der österreichischen Staaten“ ins Türkische. Den in dem Werk enthaltenen Abschnitt über die Inokulation ersetzte er durch eine Übertragung von Luigi Carenos Text über die Schutzpockenimpfung. Şānizāde schlug dabei sogar vor, den Impfstoff auf einem bestimmten Bauernhof in einem Stadtteil Konstantinopels herzustellen, anstatt ihn zu importieren.173 In den 1830er-Jahren war die Vakzination in den ländlichen Gegenden des Osmanischen Reiches dennoch wenig verbreitet.174 Wirklichen Erfolg versprach die Impfung nur dort, wo ein möglichst großer Teil der Bevölkerung geimpft wurde. Staaten mit zentralistischer Tradition oder einer modernisierungsorientierten, autoritären Herrschaftsform waren Pioniere in der Umsetzung dieses medizinischen Konzepts.175 Dazu gehörte das absolutistische, aber aufgeklärte Österreich ebenso wie das Frankreich Napoleons. Auch im Nahen Osten ließen sich diese Voraussetzungen in manchen Regionen finden. Von einer grundsätzlichen Impffeindschaft lässt sich für das Osmanische Reich – jedenfalls aufgrund der Berichte in den deutschsprachigen Quellen  – schon allein aufgrund der Vorgeschichte der „Variolation“ nicht sprechen. 176 Berichte aus dem 18. Jahrhundert lassen darauf schließen, dass die Praxis im Osmanischen Reich auch vor der medizinischen Kanonisierung durch westliche Mediziner relativ verbreitet und anerkannt war.177 Auch war man gegenüber der als Neuerung wahrgenommenen Kuh173 Süheyl Ünver, Der osmanische Arzt, Ingenieur und Reichsgeschichtsschreiber Schanizade Mehmed Ataullah und seine Verdienste für die deutsch-türkischen Beziehungen, in: Heinz Goerke/Arslan Terzioğlu (Hg.), Die medizinischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, Bd. 1: Schriftenreihe der Münchener Vereinigung für Geschichte der Medizin, München 1978, 142–149, hier: 145. 174 Alois Kernbauer, Friedrich Wilhelm Oppenheim und Lorenz Rigler: Zwei Beschreibungen der Heilkunde und der Volkskrankheiten im Osmanischen Reich aus den Jahren 1833 und 1852 im Vergleich, in: Arslan Terzioğlu/Ulrike Outschar (Hg.), Abhandlungen des II. Internationalen Kongresses für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin. 16.–17. Mai 2002, Militärmedizinische Akademie Gülhane, Ankara., Acta Turcica Historiae Medicinae IX, Istanbul 2002, 53–62, hier: 60. 175 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 2011, 272. 176 Bereits 1679 soll ein Türke aus Anatolien Kinder mit Kuhpocken geimpft haben. Vgl. Terzioğlu, Emanuele Timonius und die Pockeninokulation, 1973, 276. 177 Der schottische Arzt Patrick Russell berichtete 1768 an seinen Bruder, eine „alte Beduinin“ habe ihn bei einem Krankenbesuch darüber aufgeklärt, dass die Einimpfung nicht mit der Lanzette, sondern mit der Nadel vorzunehmen sei, und zeigte sich auch sonst mit der Praxis wohl vertraut. Patrick Russell/Alexander Russell, An Account of Inoculation in Arabia, in a Letter from Dr. Patrick Russell, Physician, at Aleppo, to

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pockenimpfung nicht besonders skeptisch: Nur drei Jahre nach der Publikation der Forschungsergebnisse Jenners erschien im Osmanischen Reich die erste Arbeit über die Kuhpockenimpfung. Der oberste Hofarzt Mustafa Behçet übersetzte das Werk eines italienischen Arztes.178 Im autokratischen Ägypten wurden ab 1819 Impf-Anstrengungen unternommen. Bereits in diesem Jahr wurde zumindest am  Papier die Impfung verpflichtend eingeführt.179 Wie auch in Europa spielten hier persönliche Ärzte von Machthabern eine wichtige Rolle. Wichtigster Berater in allen medizinischen Belangen war zu dieser Zeit in Ägypten Muhammad Alis persönlicher Arzt, der Italiener Gaetani Bey. 1824 bat Muhammad Ali wohl auf seinen Rat hin den französischen Konsul Drovetti um Entsendung französischer Ärzte, um ein Impfprogramm gegen Pocken zu starten. 1825 kam der Franzose Antoine Barthélémy Clot (1793–1868) ins Land und wurde kurz darauf beauftragt, eine Schule für die Ausbildung ägyptischer Ärzte ins Leben zu rufen.180 Neben den Pocken gaben auch andere Infektionskrankheiten Anlass zur Sorge. 1826 ließ Muhammad Ali in Konstantinopel nach Experten für die Behandlung von Scabies und Syphilis anfragen.181 Die Durchführung von Impfkampagnen stützte sich auf die Nutzung traditioneller Versorgungsstrukturen. Französische Ärzte wurden in die Provinzen entsandt, um dort die einheimischen Barbiere in der Nutzung des Kuhpockenimpfstoffes zu unterweisen. Um die Motivation der Barbiere zu steigern, wurde eine Prämie für jeden nach der Inkubationszeit nachweislich ausgebrochenen Kuhpocken-Krankheitsfall ausgesetzt.182 1834 verfasste Clot eine Impfanleitung für die in den Dörfern tätigen Barbiere und Doktoren. Diese Impfpraxis stieß nicht überall auf ungeteilte Begeisterung und die Einbettung in die Militarisierung der Gesellschaft ist nicht zu übersehen: Wie Clot in seinen Memoiren selbst zugestand, wurden die Impfungen von der Bevölkerung als Vorstufe für die Rekrutierung von zukünftigen Soldaten verstanden.183 Die sesshaften Bauern des Niltales wehrten sich gegen die Impfung durch die staatlichen Emissäre, denn man

Alexander Russell, M. D. F. R. S. Preceded by a Letter from Dr. Al. Russell, to the Earl of Morton. P. R. S, in: Philosophical Transactions (1683–1775), 58, 1768, 140–150. 178 Es ist unklar, ob hier die Arbeit Carenos gemeint ist. Ünver, An outlook on the history of smallpox vaccination, 1948, 283. 179 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 2011, 272. Ägypten war damit schneller als Großbritannien: Dort wurde die Impfung erst 1853 zur Pflicht. 180 Der Franzose Clot, der später mit dem Titel „Bey“ ausgezeichnet wurde und zu den bekanntesten Medizinern dieser Zeit im Osmanischen Reich zählt, hatte in seinen Memoiren fälschlicherweise für sich allein in Anspruch genommen, diese Kampagnen gestartet zu haben. Tatsächlich gab es bereits vor seiner Ankunft in Ägypten Bemühungen um Impfkampagnen. 181 Khaled Fahmy, All the pasha’s men. Mehmed Ali, his army, and the making of modern Egypt, Cairo/ New York 2002, 214. 182 Fahmy, All the pasha’s men, 2002, 210–214. 183 Ebd., 2002, 225.

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fürchtete, dass die Impfung nur ein Vorwand sei, um Kinder für eine spätere Konskription als Soldaten zu markieren. Solche Markierungen waren offenbar bereits zuvor zumindest bei den Rekruten im Sudan zu eben diesem Zweck praktiziert worden.184 Auch religiöse Motive wurden von den französischen Ärzten beobachtet: So hätten einzelne sich dagegen gewehrt, ihr Blut mit dem von Christen zu mischen, und manche Gelehrte hätten gewarnt, dass die Impfung dem Willen Gottes, sich dem Schicksal zu fügen, widerspreche. Während die letzteren Argumente möglicherweise eine passiv-ablehnende Haltung begründeten, war die Angst vor der „Markierung“ so groß, dass sich manchmal gewalttätige Szenen ereigneten. Mütter versuchten mit allen Mitteln, ihre Kinder von der Impfung fernzuhalten. Ein französischer Arzt sah sich bei einer Impfmission in der Provinz einer Gruppe von 200 bewaffneten Männern gegenüber, als die Kinder des Dorfes geimpft werden sollten. Tatsächlich war der arabische Ausdruck „die Pocken markieren“ bis ins 20. Jahrhundert eine gängige Bezeichnung für die Impfung.185 Die Impfkampagnen, die während der Regierungszeit Muhammad Alis begonnen worden waren, waren letztlich durchaus erfolgreich. Im neu gegründeten EzbekiyyaKrankenhaus186 in Kairo wurden Ende der 1840er-Jahre immerhin 600 Kinder pro Monat geimpft.187 Ab den 1840er-Jahren wurden immer größere Anstrengungen unternommen und auch Frauen ausgebildet und eingesetzt, um Kinder besser erreichen zu können.188 Diese Praxis erwies sich im gesamten Osmanischen Reich als nützlich und blieb viele Jahrzehnte verbreitet. In Tchifut-Kassaba, einem Dorf nahe der antiken Stadt Synnada, traf die Engländerin Ramsey Ende des 19. Jahrhunderts eine als „mamina“ bezeichnete Hebamme griechischer Herkunft, die ihren Beruf seit mehr als 40 Jahren ausübte und sich offenbar großen Vertrauens erfreute.189 Ramsey gab auch die Beschreibung einer Impfung durch die Griechin, die nach ihren eigenen Angaben von ihr selbst erst kurz zuvor eingeführt worden war. Die Impfungen wurden mit einer Lanzette ausgeführt; 10 Tage nach der Impfung kontrollierte die „mamina“, ob die Impfung erfolgreich gewesen war. Für die Kinder, denen die ganze Prozedur wie auch heute mehr als unangenehm war, gab es am Ende Süßigkeiten.190 Die Ablehnung der Impfung, dieser Leitform des medizinischen Fortschritts, war im Osmanischen

184 Anne Marie Moulin, L’Esprit et la lettre de la modernité égyptienne. L’Enseignement médical de Clot bey, in: Annales islamologiques: La France et l’Egypte à l’epoque des vice-rois 1805–1822, 22, 2002, 119–134, hier: 129. 185 LaVerne Kuhnke, Lives at risk. Public health in nineteenth-century Egypt, First published in Egypt, Cairo 1992, 114–117. 186 Azbakiyya, ein Stadtteil des heutigen Kairo. In der Literatur findet sich auch die Schreibweise: Ezbekieh. 187 Kuhnke, Lives at risk, 1992, 116. 188 Ebd., 119. 189 Ramsey bezeichnete sie als „lady doctor“, ihrer Tätigkeit als Heilkundige entsprechend. 190 W. M. Ramsey, Everyday Life in Turkey, London 1897, 142f.

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Reich und den angrenzenden muslimischen Staaten also ganz und gar nicht universell; 1840 beobachtete ein französischer Arzt, dass die Beduinen in der Wüste Ägyptens die Impfung mit Kuhpocken praktizierten; ob diese Technik zu diesem Zeitpunkt neu eingelernt oder wie der Pockenkauf schon lange praktiziert worden war, ist unklar. Im Gegensatz zu den Bauern des Niltales, die aus Misstrauen gegen die staatliche Autorität den Impfkampagnen skeptisch gegenüberstanden, nahmen sie die Impfung gerne und sogar „mit Enthusiasmus“ an. 191 In Konstantinopel und jenen städtischen Zentren des Osmanischen Reiches, denen dem europäischen Staatswesen vergleichbare Machtmittel zur Verfügung standen, schritten diese Impfungen voran. Im Osmanischen Reich bemühte sich Sultan Abdülmecid192 I. (1823–1861) ab etwa 1840 besonders um die Einführung der Pockenimpfungen. Auch er war  – wie so viele Angehörige königlicher Familien vor ihm  – ein Pockenopfer gewesen.193 1840 wurde in Konstantinopel die kostenlose Impfung an der Medizinischen Schule eingeführt, im Schuljahr 1841/1842 wurden immerhin 1.705 Kinder geimpft, 1843 waren es bereits 1.843.194 1845 kam es in Konstantinopel zu einer schweren Epidemie. Als Reaktion und wohl auch unter dem Einfluss der europäischen Ärzte wurde in Konstantinopel verlautbart, dass alle Kinder verpflichtend zu impfen seien.195 1845 wurde in Konstantinopel an der Medizinischen Schule eine umfassende Impfinstruktion in vier Sprachen herausgegeben. Darüber hinaus bemühte man sich, das Wissen um die Kuhpockenimpfung und ihre Methoden durch die Ausbildung von Impfärzten zu forcieren. Alle Provinzen wurden aufgefordert, Personen zur Ausbildung als Impfarzt an die Medizinische Schule nach Konstantinopel zu entsenden.196 Ärzte aus den Habsburgischen Erblanden hefteten sich diese Erfolge auf ihre Fahnen. Die Kampagnen zur Impfung gegen Pocken würden große Fortschritte machen, berichtete der in Konstantinopel in höchsten medizinischen Funktionen tätige Wiener Arzt Sigismund Spitzer 1847. Ein Student der von Spitzer geleiteten Schule begleitete eine Delegation, die vom Sultan nach Bagdad geschickt wurde, und impfte entlang der Strecke, vier weitere begleiteten eine wissenschaftliche Expedition, die die Mittelmeerinseln, Syrien und Kurdistan bereiste. In dem Bericht wird geschätzt, dass in den Provinzen ca. 80.000 Kinder geimpft worden seien, mit denen der Hauptstadt seien es gesamt an die 100.000.197

Kuhnke, Lives at risk, 1992, 113. Als Schreibweisen kommen in der Literatur auch vor: Abd-ul Medschid oder Abd-ul Megid. Vgl. Ünver, An outlook on the history of smallpox vaccination, 1948, 284. Diese türkische Darstellung deckt sich mit den Erzählungen in zeitgenössischen deutschsprachigen Quellen. 194 Ebd., 283. 195 Ebd., 284. 196 Ebd., 286. 197 Von denen in der Hauptstadt entfallen 7.000 auf die Medizinische Schule, 9.000 auf zwei Impfstationen außerhalb der Schule und 4.000 auf die Militärkrankenhäuser. Mason, Three years in Turkey, 1860, 184. 191 192 193

Impfung und Fatalismus

Schon 1851 waren die Bemühungen von Carro und Careno und die Bemühungen um die Impfung im Osmanischen Reich in Österreich trotz der Anwesenheit österreichischer Ärzte im Osmanischen Reich kaum mehr bekannt; die oben erwähnten Bemühungen im Osmanischen Reich und Ägypten um die Durchführung von Impfkampagnen oder die Übersetzung von Schriften waren vergessen. Der mährische Chirurg und ausgezeichnete Impfarzt František Pluskal schrieb in diesem Jahr, die Türkei sei in der Impfpraxis „erst beim Alpha“.198 Das Bild der Rückständigkeit des Osmanischen Reiches hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon verfestigt. In einem Gutachten über die Einführung des Impfzwanges in Salzburg konnte der Wiener Arzt Auspitz 1864 als bekannt voraussetzen, dass die Blattern in Nordafrika „am verderblichsten“ seien; einen Artikel Pollaks199 in der „Zeitschrift für practische Heilkunde“ zitierend verwies Auspitz offenbar als abschreckendes Beispiel darauf, dass dort aufgrund der vielen blatternbedingten „Einäugigen“ in der Armee sogar eigene Regimenter gebildet werden würden. Auch in Persien hätte sich die Impfung außer am Hof des Schahs nicht durchgesetzt.200 Das geradezu paradigmatische Modell von der Rückständigkeit und dem „Fatalismus der Türken“ hatte sich trotz all dem bereits in den Köpfen der Ärzte festgesetzt. 1852 war es für den ebenfalls in Konstantinopel tätigen österreichschen Arzt Lorenz Rigler selbstverständlich, sich sehr verwundert darüber zu zeigen, dass so viele Muslime an der von der Regierung eingeleiteten Impfkampagne teilnahmen. An vielen Stellen des Reiches waren Impfanstalten errichtet worden, „und es ist sonderbar, daß sich die türkische Nation viel mehr dahin drängt als die übrigen, daher auch in dem jetzigen Stande der Dinge unter den an Blattern Verstorbenen die Mehrzahl Armenier, Griechen, Juden und Europäer sind.“201 In Europa nahm man das auch wahr. Beinahe gleichlautend erschienen im „Österreichischen Beobachter“ in Wien und in der „Pressburger Zeitung“ Abdrucke eines Berichtes, in dem die britische Impfanstalt Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegte.202 Als Beleg ihrer weiteren Verbreitung erfahren wir, daß selbe nicht nur dermalen in ganz Morea und den von Griechen bewohnten Ländern eingeführt, sondern, trotz der Vorurtheile, welche der Islam allen Maaßregeln, welche auf die Erhaltung und den Schutz des menschlichen Lebens berechnet sind, entgegensteht, auch in Konstantinopel und in dem Serail Eingang gefunden hat; so daß nun die Wohlthat, welche England und die ganze civilisirte Welt dem Orient durch die im verflossenen Jahrhundert geschehene Einführung

Pluskal, Die Ursachen des Fortbestandes, 1851, 119. Der Vorname wird im Zitat nicht genannt. Wahrscheinlich handelt es sich um Jacob Eduard Polak, der in den 1850er-Jahren in Persien als Leibarzt des Schahs und Unterrichtsreformer tätig gewesen war und auch Ägypten bereist haben dürfte. 200 Auspitz, Gutachten, 1864, 10f. 201 Riger, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 31. 202 Großbritannien und Irland, in: Österreichischer Beobachter, 12. März 1828, 2. 198 199

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

der dort bereits früher gebräuchlichen Blattern-Impfung verdankt, nunmehr denselben reichlich dadurch vergolten wird, daß wir dem Orient die viel heilsamere und zuverläßigere Kuhpocken-Impfung zu Theil werden lassen, wodurch die Blattern, deren verheerende Wirkungen, mit denen der dort einheimischen Pest, wetteiferten, bereits ihre Furchtbarkeit verloren haben, und in Zukunft vielleicht ganz vertilgt werden, dürften.203

Die europäische Medizin hatte die Technik der Impfung, die im 18. Jahrhundert als aus dem „Orient“ kommend rezipiert worden war, erneuert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in kanonische Formen gegossen. Die medizinische Entwicklung hatte sich dabei mit politischen Zielen verbinden lassen: Die frühen Impfverordnungen waren aus dem Geiste des Absolutismus geboren: Der Landesvater bestimmte, was gut für seine Untertanen war.204 Die Immunisierung durch staatlich gesteuerte Impfung war zu einer der Leitformen der akademischen Medizin geworden und später auch zu einem Kennzeichen von „Zivilisierung“. Zur Verbreitung der Kuhpockenimpfung merkte der Wiener Mediziner Auspitz 1864 an, sie habe sich nach der Veröffentlichung Jenners „rasch über alle civilisierten Länder verbreitet, ohne dass die thörichten Einwürfe verschiedener Schriftsteller irgendwelcher Aufmerksamkeit gewürdigt worden wären.“205 Solche Feststellungen von Zeitgenossen lassen es so erscheinen, als ob die „Zivilisierung“ die Trennlinie zwischen Durchsetzung der Impfung oder Scheitern wäre; tatsächlich hatte sich die Impfung auch im „Orient“ überall dort durchsetzen können, wo für den Kampf gegen die den Menschen eigenen Vorurteile und Ängste die gleichen Waffen zur Verfügung standen wie in den europäischen Gesellschaften. Ohne die innerhalb weniger Jahre durchgesetzte Impfpflicht wäre der Entdeckung Jenners niemals dieser Erfolg beschieden gewesen, stellte der deutsche Medizinhistoriker Alfons Labisch in einem Abriss der Entwicklung der Sozialhygiene fest.206 Erst das Entstehen der physiokratischen Politik lässt Herrscher ihr Staatsvolk als schützenswert erkennen; mit der Französischen Revolution wurde die Gesundheit zum Bürgerrecht. Statistiken erfassten die Gesundheit der Bevölkerung, Ärzte empfahlen Maßnahmen zur Verbesserung, Politiker trafen Entscheidungen nach Maßgabe des Nützlichen und für den Staat Notwendigen.207 Indem der Staat die Deutungshoheit über das Nützliche und Sinnvolle übernahm, trat die Religion in den Schatten des Impfdiskurses. Dabei lassen sich religiöse Argumente in der Auseinandersetzung um die Impfung im 18. und 19. Jahrhundert in Europa ebenso finden wie in den islamisch geprägten Gesellschaften des Osmanischen Reiches oder Ägyptens. „Unser Hergott woa a ned g’impft“, soll ein steirischer Bauer

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Großbritannien und Irland, in: Österreichischer Beobachter, 12. März 1828, 2. Berg, Hufeland und die Pockenbekämpfung, 1962, 22. Auspitz, Gutachten, 1864, 10. Labisch 2004, 259. Ebd., 259.

Impfung und Fatalismus

noch in den 1880er-Jahren gesagt haben, als er zur Impfung aufgefordert wurde. Nicht wenige sahen zu dieser Zeit in der ländlichen Ober-Steiermark in der Impfung die Gefahr, dem „Anti-Christen“ zu verfallen.208 Die Vorstellung, dass der Antichrist seine Zeichen auf den Menschen hinterlasse und die Impfungen mit ihren Marken genau dasselbe täten, war alt. Schon 1817 berichtete der österreichische Priester Priegl, dass beim Antichristen von Zeichnungen gesprochen werde, die zu seiner Zeit an den Körpern seiner Anhänger vorgenommen werden. Die Menschen würden die Impfung daher ablehnen.209 Dieser Glaube an das zeichenhafte Böse, das durch die Impfung seinen Ausdruck finde, war nur ein Aspekt der religiös motivierten Impfgegnerschaft. Noch weit bedeutender erscheint in einer akribischen Analyse des Umgangs mit der Impfung in Baden-Württemberg die Bezugnahme auf eben jene göttliche Vorsehung, die auch den europäischen Orientreisenden ins Auge stach. Das Argument, die Impfung sei ein Eingriff in den göttlichen Willen, tauche zwischen 1801 und 1817 in den württembergischen Quellen nahezu durchgehend auf, stellte der deutsche Medizinhistoriker Eberhard Wolff in den 1990er-Jahren fest.210 Wolff bemühte sich um eine Erklärung und sprach von einer „Noch-nicht-Säkularisierung“ des gesundheitlichen Weltbildes der Landbevölkerung im frühen 19. Jahrhundert. Paradox erscheint es ihm, dass solche Sichtweisen ab den 1820er-Jahren aus der Literatur zu verschwinden scheinen; Wolff begründet dies wie folgt: Weil die Menschen die Erfahrung gemacht hätten, ihr Leben ohnehin nicht beeinflussen zu können, sei das Ergeben in Gottes Willen zunächst eine Verarbeitung dieser Erfahrung gewesen.211 Erst als sich der Erfolg der Impfkampagnen gezeigt habe, hätte diese Bindung an ein Erklärungsmuster ihr Ende gefunden. Das Argument ist schlüssig und auch die Schlussfolgerung: Keineswegs sei es zulässig, von einer „fatalistisch geprägten Mentalität“ zu sprechen, wie es noch wenige Jahre zuvor in einer anderen medizinhistorischen Arbeit geheißen hatte, denn die Menschen hätten sich angesichts der positiven Erfahrung durchaus zur Impfung bewegen lassen.212 Es komme, so Wolff an einer anderen Stelle, auf die „nahe Erfahrung“ 208 Viktor Fossel, Volksmedicin und medicinischer Aberglaube in Steiermark: ein Beitrag zur Landeskunde, Unveränd. Neudr. d. Ausg. von 1886, Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Steiermark, Walluf bei Wiesbaden 1974, 139. 209 Dieses Beispiel aus Österreich zieht Eberhard Wolff, Einschneidende Maßnahmen Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Steiner, Stuttgart 1998 heran, um Muster von religiös motivierter Impfgegnerschaft in Europa zu illustrieren. Wolff erwähnt gleichsam nebenbei, dass es sich dabei um „seltene Einzelbelege volksmedizinischen Aberglaubens“ handle. Es ist bezeichnend, dass religiös motivierter Widerstand gegen als fortschrittlich verstandene Praktiken in europäischen Kontexten unvergleichlich leichtfertiger als Außenseitermeinungen gekennzeichnet wird. Wolff, Einschneidende Maßnahmen Pockenschutzimpfung, 1998, 402. 210 Wolff, Einschneidende Maßnahmen Pockenschutzimpfung, 1998. 211 Ebd., 404. 212 Wolff bezieht sich hierbei auf die Arbeit von Bettina Wischhöfer, Krankheit, Gesundheit und Gesellschaft in der Aufklärung das Beispiel Lippe 1750–1830, Campus-Verl, Frankfurt [u. a.] 1991. Er weist dabei auch nach, dass Wischhöfer eine therapeutische Praxis unzureichend kontextualisiert hatte: Wischhöfer hatte in ihrer Arbeit die Hinwendung zum Branntwein als Zeichen des „Fatalismus“ gewertet, weil sie im

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Aneignung und Ablehnung des Impfgedankens

an, die das Kennenlernen einer Neuerung ermögliche; dementprechend weist er für Württemberg das in zeitgenössischen Quellen immer wieder gebrachte Argument der „Innovationsfeindlichkeit“ zurück.213 Die Erfassung der Bevölkerung durch die Impfung brachte eine Struktur hervor, die alle Maßnahmen zur Verbreitung der Impfung erfasste.214 Auch jene, die sich gegen die Impfung wandten, waren im System der europäischen Gesellschaft solcherart zur Organisation und zum Kampf innerhalb des Systems der akademischen Medizin gezwungen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine organisierte Impfgegnerbewegung, die informierte und agitierte.215 Gerüchte wurden verbreitet, dass die mit Kuhpockenlymphe geimpften Kinder nach und nach Physiognomie und Stimme des Rindviehs annehmen würden.216 Auch das Argument, wonach die Impfung ein Eingriff in den Willen Gottes sei, blieb lange aufrecht; 1863 schrieb der Vordenker der deutschen Impfgegner Carl Gottlob Nittinger (1807–1874), könne ein Arzt nicht gesund machen, so dürfe er auch nicht krank machen, denn so griffe er auf frevelhafte Weise in das Majestätsrecht Gottes ein.217 Die „aufgeklärte Despotin“ Maria Theresia hatte der Technik aus dem „Orient“ in ihren Ländern ebenso zum Durchbruch verholfen wie der aufgeklärte Despot Muhammad Ali in Ägypten. Woran es dem „Orient“ mangelte, war nicht das Verständnis der Akteure, sondern die Tragfähigkeit der nachhaltigen Strukturen. Hatte man zu Beginn des Jahrhunderts noch enthusiastisch gemeint, dem „Orient“ mit dem Wissen über die Kuhpockenimpfung etwas „zurückgeben zu können“, so war das Ver-

Alkohol den Aspekt des betäubenden Suchtmittels zu erkennen glaubte. Die systemischen Vorstellungen der Zeit sahen Alkohol als Medikament der hitzigen Therapie – wer Alkohol anwendete, war also keineswegs zwingend ein Fatalist, der seine Angst zu betäuben suchte. 213 Wolff, Einschneidende Maßnahmen Pockenschutzimpfung, 1998, 457. 214 Foucault hat darauf verwiesen, dass die Disziplinierung, die durch den Staat zur Bekämpfung der Blattern eingesetzt wurde, im 18. Jahrhundert nach einem grundlegend anderen Modell funktionierte als die Maßnahmen, die im Zuge der Pestbekämpfung der Frühen Neuzeit eingesetzt wurden. Er spricht von einem beobachtenden, messenden Staat, der ein „Risikomanagement“ betreibe und den Bürger nicht allzu weit disziplinieren könne; die Norm entsteht entlang der von ihm als „Sicherheitsdispositiv“ bezeichneten beobachtend-eingreifenden Praxis. Dies wird diskutiert bei: Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, 1. Aufl., Bd. 306: Zur Einführung, Hamburg 2005, 186. Die Praxis des 19. Jahrhunderts erscheint in vielen europäischen Staaten, wie wir sehen, eine andere, repressivere. 215 Zur Impfgegnerschaft in Europa vgl. Susanne Hahn/Achim Thom, Ergebnisse und Perspektiven sozialhistorischer Forschung in der Medizingeschichte. Kolloquium zum 100. Geburtstag Sigerists, 12.– 14. Juni 1991; [Protokoll], Leipzig ca. 1992, 90; vgl. Humm, Die Geschichte der Pockenimpfung, 1986, 25. 216 Vgl. Das englische Blaubuch über die Vaccination, in: Wiener Medizinische Wochenschrift, 1857, 563. 217 Vgl. Humm, Die Geschichte der Pockenimpfung, 1986, 31. Nittinger publizierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm viel zur Thematik der Impfungen; er wandte sich gegen die Politik seiner engeren Heimat Württemberg und sprach sich für eine Rückkehr zu einem gesamthaften, kosmologisch orientierten medizinischen System aus. Auch die Cholera führte Nittinger auf die Impfungen zurück – dies erschien aber schon Zeitgenossen absurd. Vgl. P. Beck, Nittinger, Gottlob, in: Allgemeine Deutsche Biographie 23, 1886, 715–718.

Impfung und Fatalismus

hältnis zur Mitte des Jahrhunderts bereits in Richtung einer klaren Differenzierung zwischen Fortschrittlichkeit und Barbarei gekippt. 1857 stellte die Wiener Medizinische Wochenschrift fest, dass die Pocken „nicht nur unter den wilden, sondern auch unter zivilisierten Völkern“ auftreten würden.218 Ein vermeintlich rückständiger, fatalistisch geprägter und der westlichen Medizin irrationaler Weise feindlicher „Orient“ lässt sich hier bereits greifen.

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Das englische Blaubuch über die Vaccination, in: Wiener Medizinische Wochenschrift, 1857, 563.

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Von der Angst, das Gesicht zu verlieren Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa

Eine der unangenehmsten Spätfolgen der im vorigen Kapitel besprochenen Pockenerkrankung war die Erblindung. Aufgrund einer Krankheit blind zu werden, gehörte im 18. und 19. Jahrhundert ganz allgemein zu den häufigsten Invaliditätsursachen. Blattern und Masern wurden in Europa und besonders in Ägypten oft von einer heftigen Augenentzündung begleitet, die nicht selten zu Blindheit führte.1 Nicht nur die Pocken führten zu Erblindung, sondern (bis heute) auch spezifische Augenkrankheiten. Erblindungen waren in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts überaus häufig. Dabei war es vor allem eine Krankheit, die „Ägyptische Augenentzündung“, die die europäische Medizin in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise bewegte. Der am Josephinum in Wien tätige Militärarzt Burkhard Eble (1799–1839) hielt in einem 1839 veröffentlichten Werk über eben diese Krankheit fest: „Unter allen Augenkrankheiten hat wohl in unserer Zeit keine so viel Aufsehen gemacht, und keine so viele Schriften ans Licht gerufen, als die sogenannte Ägyptische Augenentzündung.“2 1841 hieß es in der damals viel gelesenen medizinischen Zeitschrift „Schmidts Jahrbücher“, dass die Literatur zur Ägyptischen Augenentzündung bereits eine kleine Bibliothek fülle.3 Vierzig Jahre zuvor, im Jahr 1798, hatte Napoleon mit einer aus französischen und italienischen Soldaten bestehenden Armee Ägypten erobert. Die Eroberung des Landes am Nil durch eine große europäische Armee war ein wesentlicher Schritt in Napoleons Karriere. Trotz des mittelfristigen Scheiterns der Expedition – der britische Admiral Nelson hatte schon 1798 die französische Flotte bei Abukir versenkt und bis 1801 mussten sich auch die an Land befindlichen Truppen zurückziehen – war Napoleon damit in Frankreich endgültig zum Volkshelden geworden. 1799 kehrte Napoleon nach Frankreich zurück und begann seinen Aufstieg als Heerführer und „Konsul“, der 1 2 3

Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 501. Burkard Eble, Die sogenannte contagiöse oder Ägyptische Augenentzündung, Stuttgart 1839, III. Schmidt‘s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin, 1841, 361.

Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa

schließlich 1804 in der Kaiserkrönung gipfeln sollte. Nicht nur für die Karriere Napoleons waren diese Jahre entscheidend. Die Expedition nach Ägypten markiert einen bedeutenden Einschnitt in der Geschichte der Beziehungen zwischen Europa und seinen mehrheitlich muslimischen Nachbarn. Die Truppen Napoleons waren von Wissenschaftlern und Ärzten begleitet worden, die in den folgenden Jahren eine Vielzahl an Werken veröffentlichten.4 Auch neue wirtschaftliche und soziale Beziehungen entstanden in diesen Jahren. Die zurückströmenden Soldaten, die in den folgenden Jahren in ganz Europa im Einsatz sein sollten, litten nach ihrer Rückkehr oft an Augenentzündungen. Die Masse der Erkrankungen führte dazu, dass die akademische Medizin in Europa den Begriff der „Ägyptischen Augenkrankheit“ kreiierte, ohne noch genau zu wissen, worüber man eigentlich sprach. Die Auseinandersetzung mit der „Ägyptischen Augenkrankheit“ in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist eng mit der Herausbildung der modernen Augenheilkunde verbunden. Gleichzeitig steht sie musterhaft für die Herauslösung einzelner Krankheiten aus bestehenden, ganzheitlicheren Krankheitsvorstellungen. Dieses Herausarbeiten einzelner Krankheitsbilder darf dabei nicht als momentan erfolgte Abgrenzung einer Wahrheit von der anderen verstanden werden. Der polnisch(-österreichische) Arzt und Philosoph Ludwik Fleck schlug in den 1930er-Jahren vor, im Hinblick auf die Veränderung von wissenschaftlichen Sicht- und Arbeitsweisen von „Denkkollektiven“ zu sprechen, die gewissen „Denkstilen“ anhängen. Fleck entfernte sich davon, die wissenschaftliche Erkenntnis als Produkt der gleichsam solitären Beschäftigung eines „Subjekts“ mit einem „Objekt“ zu sehen, sondern führte als wesentlichen weiteren Faktor die Gemeinschaft ein, in die ein Wissenschaftler eingebettet ist. Wie diese Gemeinschaft denkt, was sie für richtig oder falsch hält, hat einen wesentlichen Einfluss auf das, was überhaupt gesagt werden kann. Die Entstehung von neuem Wissen ist nach Fleck dabei immer sozial bedingt. Der Arzt Fleck sah im „Erkennen“ sogar die am stärksten sozial bedingte Tätigkeit des Menschen, weil Angehörige eines Denkkollektivs durch geteilte Vorannahmen geprägt werden. Gedanken kreisen von Individuum zu Individuum, werden jedes Mal etwas umgeformt und vom Empfänger nie genau so verstanden, wie der Sender sie verstanden wissen wollte.5 Langsam kommt es so zur Umwandlung des „Denkstils“. Innerhalb eines Denkstils werden Probleme zunächst völlig entlang der Logik des jeweiligen Denkkollektivs gelöst; Widersprüche, die auftreten, werden zunächst ignoriert, später verschwiegen oder nicht Am bekanntesten ist die ab 1809 erschienene, zunächst dreiundzwanzigbändige „Description de l’Égypte“, in der versucht wurde, Ägypten im Geist der Enzyklopädien so umfassend wie nur möglich darzustellen. Ihre Wirkungsgeschichte, die etwa die Herausbildung der modernen Ägyptologie zur Folge hatte, wird und wurde breitest untersucht. Für Großbritannien bei: Andrew Bednarski, Holding Egypt, Bd. 3: Egyptology, London 2005. Im deutschsprachigen Raum siehe zuletzt für den medizinischen Kontext: Sabine Herrmann, Landestypische Krankheiten in der Description de l‘Égypte, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 39, 2010, 141–152. 5 Fleck/Schäfer/Schnelle, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 2017, 58. 4

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Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa

diskutiert und schließlich, wenn die Evidenz zu stark zu werden scheint, mit „Gewalt“ in den eigenen Denkstil integriert. Manchmal kann es dabei sogar zu offenbaren Fälschungen kommen. Dann brechen die Dämme und es kommt doch zur Änderung des Denkstils. Das passiert durch die Verschiebung der Gedankenwerte, die im Zuge des Austausches zwischen verschiedenen Wissenschaftlern entsteht.6 Dieser Prozess soll im Folgenden anhand des Beispiels der „Ägyptischen Augenentzündung“ und ihrer Beschreibung als eigenständige, übertragbare Krankheit nachgezeichnet werden. Die Bedrohung, die von der „Ägyptischen Augenentzündung“ ausging, war so groß, dass sie wesentlich zur Spezialisierung der Augenheilkunde in Europa beitrug, und zwar nicht nur durch die Schaffung von Lehrstühlen, sondern auch durch die Einrichtung spezialisierter Augenkliniken wie dem Moorfields-Hospital in London.7 Wien nahm in diesem Prozess eine besondere Stellung ein. Zum einen war in Wien die Augenheilkunde zum ersten Mal als medizinisches Spezialfach im Rahmen einer universitären Ausbildung eingeführt worden.8 Zum anderen wurden, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in Wien auf Basis der Auseinandersetzungen um die „Ägyptische Augenentzündung“ wesentliche Erkenntnisse für die Differenzierung verschiedener Krankheitsbilder und die Entstehung von übertragbaren Krankheiten gewonnen. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dieser Krankheit zeigt auf exemplarische Weise, wie die klinische Medizin zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Blick schärfte. Auch in dieser Geschichte spielt der „Orient“ als konstitutives Element eine entscheidende Rolle. Während es bei der Pockenimpfung noch zu einem Austausch auf „Augenhöhe“ kommen konnte, beginnen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts pejorative Sichtweisen zu dominieren; der „Orient“ tritt als „Anderes“ in Erscheinung, in dem Krankheiten wüten und spezifische Verhältnisse vorherrschen, die abnormal und nicht gesund sind. Diese Sichtweisen sind in den humoralpathologischen Vorstellungen der Medizin des 18. Jahrhunderts verwurzelt. Während die Humoralpathologie im 19. Jahrhundert überwunden wird, bleiben die aus ihr entwickelten Bilder vom ungesunden, kranken Orient bestehen.

Fleck/Schäfer/Schnelle, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 2017, 58. James Ravin/Pierre Amalric, Paul-Ferdinand Gachet’s unpublished manuscript. Ophthalmia in the Armies of Europe, in: Documenta Ophthalmologica 93/1, 1997, 49–59, hier: 52, doi: 10.1007/BF02569046. 8 Die erste spezialisierte Augenklinik der Welt entstand 1812 in Wien am Allgemeinen Krankenhaus. Sie wurde von Georg Joseph Beer gegründet, der bereits seit 1797 bei der Studien-Hofkommission beantragt hatte, als außerordentlicher Professor den Schülern der Chirurgie Vorlesungen über Augenheilkunde halten zu dürfen. Vgl. Gröger/Schmidt-Wyklicky, Die Gründung der weltweit ersten Universitäts-Augenklinik in Wien, 2012, 273. 6 7

Augenkrankheiten in Ägypten und Europa

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Augenkrankheiten in Ägypten und Europa

Dass in Ägypten Augenkrankheiten häufig und auch gefährlich waren, ist keine Entdeckung des 19. Jahrhunderts. Medizinhistorische Arbeiten9, die Ägypten zum Thema haben, verweisen konstant darauf, dass sich der Nachweis von Augenkrankheiten bis in die pharaonischen Zeiten zurückführen lässt.10 1927 legte der Ägyptologe Reisner bei einer Grabung seines Wiener Kollegen Hermann Junker die Stele eines Augenarztes frei, der 2500 v. Chr. lebte.11 Beschreibungen einer spezifischen Form der Augenentzündung, die dem heutigen „Trachom“ ähneln, finden sich bereits bei mehreren antiken Autoren.12 Nachrichten von der Häufigkeit der Augenerkrankungen in Ägypten drangen schon am Beginn der Frühen Neuzeit nach Europa. Von 1580 bis 1584 hielt sich der italienische Arzt und Naturforscher Prosper Alpinus in Kairo auf. Von ihm stammen die ersten genaueren (zeitgenössischen) Beschreibungen der Augenkrankheiten, die in Europa in dieser Zeit verfügbar waren. Sein Werk13 blieb verblüffend lange in Verwendung.14 Europäer waren von der Zahl der Blinden in Ägypten geradezu frappiert. Der französische Arzt Tourtechot-Granger bezeichnete Ägypten 1745 als „das Land der Blinden“.15 Auch spätere Reisebeschreibungen sind voll von Erwähnungen verschiedenster Augenkrankheiten. Augenkranke waren im Alltagsleben in Europa wie auch in Ägypten und anderen Ländern des heutigen Nahen Ostens überaus präsent. Der Schweizer Arzt und Palästinareisende Titus Tobler zählte die Augenentzündungen um 1850 überhaupt zu den häufigsten Krankheiten des gesamten Nahen Ostens.16 Dieses Bild prägte die Literatur der Zeit: Der in Wien ausgebildete Lorenz Rigler schrieb 1857 in seinem bereits mehrfach zitierten Werk, dass es in Ägypten kaum Personen gäbe, deren Augen

Im 20. Jahrhundert sind für die Geschichte der Augenkrankheiten in Ägypten die Schriften von Max Meyerhof von besonderer Bedeutung. Der deutsche Meyerhof kam 1899 nach Ägypten, um dort als Augenarzt zu arbeiten. Die Beschäftigung mit den historischen Beschreibungen der Krankheiten des Auges diente ihm als Folie für den Vergleich mit den medizinischen Zuständen, die er in Ägypten zu seiner Zeit antraf. Er setzt damit eine Tradition fort, die schon im 19. Jahrhundert bestand. Vgl. Max Meyerhof, A Short History of Ophthalmia during the Egyptian Campaigns of 1798–1807, in: British Journal of Ophthalmology 16/3, 1932, 129–152, hier: 130. Die neuere Literatur zum Thema geht fast immer aus ägyptologischer Perspektive auf das Thema zu und bemüht sich oft um retrospektive Diagnostik: Wolfhart Westendorf, Handbuch der altägyptischen Medizin, 2 Bde., Leiden [u. a.] 1999 und Herrmann, Landestypische Krankheiten, 2010. 10 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 131. 11 A. F. MacCallan, The History og Ophthalmology in Egypt, in: British Journal of Ophthalmology 11/12, 1927, 602–609, hier: 602, doi: 10.1136/bjo.11.12.602. 12 Trompoukis/Kourkoutas, Trachoma in late Greek antiquity, 2007, 873. 13 Prosper Alpini, Medicina Aegyptiorum, Venedig 1719, 22. 14 Prosper Alpins Buch erschien 1591 und wurde bis 1829 immer wieder neu aufgelegt. Vgl. MacCallan, The History of Ophthalmology, 1927, 603. 15 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932), 131. 16 Tobler, Beitrag zur medizinischen Topographie, 1855, 33. 9

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Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa

sich in einem „vollkommen normalen Zustande“ befänden.17 Religiöse Stiftungen kümmerten sich im gesamen islamischen Raum um blinde Menschen und gewährleisteten ihre Versorgung. In Ägypten hatte man sich auf ganz eigene Art mit dem Zustand der vielen Erblindungen abgefunden. An der renommierten religiösen Al-Azhar-Hochschule in Kairo wurden bereits 1735 eigene Klassen für Blinde eingerichtet, die nach zeitgenössischen Beschreibungen 80 bis 150 Schüler hatten.18 Mit heutigem medizinischem Wissen lassen sich die Krankheitsbilder, die die Menschen damals wohl betroffen haben, vergleichsweise klar unterscheiden. Entzündungen der Bindehaut des Auges werden allgemein als „Konjunktivitis“ bezeichnet. Sie können verschiedene Ursachen haben: Toxisch-chemische Einflüsse19, virale oder bakterielle Ansteckungen, Parasitosen oder Autoimmunerkrankungen können Augenentzündungen auslösen. Unkomplizierte Verlaufsformen sind häufig und klingen auch heute noch – im Falle von durch Bakterien hervorgerufenen Erkrankungen oft nach Einsatz antibiotischer Salben  – innerhalb weniger Tage wieder ab. Bestimmte Bakterien können Entzündungen der Bindehaut hervorrufen, die Geschwüre auf der Hornhaut nach sich ziehen und unbehandelt oftmals Blindheit auf einem oder beiden Augen zur Folge haben.20 Das „Trachom“, das heute noch manchmal synonym als „Ägyptische Augenentzündung“ bezeichnet wird, ist eine solche Krankheit. Die Krankheit ist für sich selbst genommen weniger ansteckend als andere bakterielle Formen der Bindehautentzündung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm man an, dass sie sich aufgrund der Verbindung mit anderen, leichter verlaufenden Krankheitsformen trotzdem schnell verbreitete; heute geht man von Schmierinfektionen und der Übertragung durch Fliegen als wichtigste Ansteckungswege aus.21 Auf der Bindehaut des Lids entstehen beim Trachom Follikel, kleine mit Sekret gefüllte Knoten, die das gesamte Lid bedecken können. In einem späteren Stadium der Krankheit platzen die Follikel und führen zu einer Vernarbung der Bindehaut am Oberlid. Die Bindehaut zieht sich zusammen, die Wimpern wenden sich nach innen und beginnen, an der Hornhaut zu scheuern, was

Rigler war selbst nicht in Ägypten, sondern stützte sich auf die Berichte anderer. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, Bd. 2, 500. 18 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 131. Für eine allgemeine Betrachtung zum Ungang mit behinderten Menschen aus der Perspektive des Osmanischen Reiches siehe: Sara Scalenghe, Disability in the ottoman arab world 1500–1800, Cambridge 2016, 82. 19 Zu den „chemisch-toxischen“ Einflüssen gehört auch erhöhte Sonneneinstrahlung. Studien bis in die 1930er-Jahre wiesen besonders darauf hin, dass diese Krankheit in Ägypten von April bis November endemisch ist. Vgl. Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 149. 20 Anat Mooreville, Oculists in the Orient: A History of Trachoma, Zionism, and Global Health 1882– 1973, Diss., University of California, Los Angeles 2015, 4. 21 Rostami, Soheila: Trachoma. https://emedicine.medscape.com/article/1202088-print (abgerufen am 21.6.2018). 17

Augenkrankheiten in Ägypten und Europa

zur Erblindung führen kann.22 Später kommt es zu einer Trübung der Hornhaut durch hineinwachsende Blutgefäße, die als „Pannus“ bezeichnet wird. Das Trachom ist bis heute eine vor allem in Entwicklungsländern verbreitete Krankheit. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war sie auch in Mitteleuropa anzutreffen. Um 1930 galten Belgien, Österreich, Ungarn, Irland und Russland als trachomreiche Länder, während beispielsweise die Schweiz und die skandinavischen Länder als „trachomfrei“ bezeichnet wurden. Am schlimmsten war die Lage aber schon damals in Ägypten. Dort wies eine amtliche Statistik 1920 aus, dass in 12 Städten in Unter- und Oberägypten 85 bis 98 Prozent der Schüler am Trachom erkrankt waren.23 Differenzierte Krankheitsbilder in unserem heutigen Sinn waren um das Jahr 1800 in der europäischen akademischen Medizin kaum vorhanden; medizinische Termini unterlagen im Zeitraum zwischen 1800 und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in manchen Fällen einem grundlegenden Bedeutungswandel. Sehr oft wurde in der akademischen Medizin dieser Zeit nur allgemein von „Ophthalmie“ gesprochen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trat eine für die europäische  Medizin neue Krankheit in Erscheinung, die als „Ägyptische Ophthalmie“, „Ägyptische Augenentzündung“, „Ägyptische Augenkrankheit“ oder auch „militärische Ophthalmie“ bezeichnet wurde und die einige Kennzeichen des oben beschriebenen „Trachoms“ beinhaltete. Ärzte in ganz Europa befassten sich mit den Ursachen und den Verbreitungsformen dieser Krankheit, die nach der Rückkehr der französischen Expeditionstruppen aus Ägypten in ganz Europa beobachtet wurden. Als wissenschaftliches Objekt war die Krankheit durch ihre erstmalige Beobachtung im Rahmen der militärischen Expansion Napoleons nach Ägypten eigentlich erst entstanden; der Begriff beschreibt allerdings vor allem in den Jahren bis etwa 1840 keine eindeutige Krankheitseinheit im Sinne des heutigen akademischen Konsenses.24 Die „Ägyptische Augenkrankheit“ hatte als wissenschaftliches Objekt überaus vagen Charakter. Sie entwickelte sich in diesen Jahren von einem noch unspezifischen Konglomerat von entzündlichen Krankheitserscheinungen zu einer eigenen Krankheit mit spezifischer Symptomatik und Therapeutik. Die Auseinandersetzung um die heute als „Trachom“ bezeichnete Krankheit führte in der akademischen Medizin einerseits zur Vertiefung von prophylaktisch-hygienischen Vorstellungen, andererseits beförderte sie das Entstehen des Bildes vom Orient als latenten Krankheitsherd. Ärzte aus Europa kreierten für die Krankheit, der sie im Zeitalter der Massen-Heere erstmals geballt in epidemischer Form begegneten, einen ägyptischen Ursprung. Mit dem Begriff der „Ägyptischen Ophthalmie“ wurden in den Jahren zwischen 1800 und 1820 verschiedene Entzündungsformen des Auges beschrieben, deren Beschreibung

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Karasch, Ophthalmia, 1993. Zu diesen Zahlen vgl. Meyerhof, Das Trachom, 1921, 952. Bzgl. Beschreibung der Krankheit siehe: Karasch, Ophthalmia, 1993.

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Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa

als eigene Krankheit umstritten blieb.25 Vor allem britische Ärzte bezeichneten die Krankheit als neu und waren der Ansicht, dass sie aus Ägypten kam. Neuere medizinhistorische Forschungen konnten die „Ägyptische Augenentzündung“ auch für die Zeit vor der napoleonischen Expedition in Europa nachweisen.26 Das Trachom war lange in besonderer Weise eine „Krankheit des Ostens“27 sowie der Armut und sollte es bis zum 20. Jahrhundert bleiben. 4.2

Die Expedition Napoleons nach Ägypten

Am 1. Juli 1798 war ein französisches Expeditionsheer unter der Führung des ehrgeizigen Generals Napolaon Bonaparte nahe Alexandria gelandet. Auf 280 Handelsschiffen aus Frankreich, 72 Schiffen aus Genua und 22 Schiffen aus Korsika kamen etwa 38.000 Soldaten aus Europa nach Ägypten, nachdem man kampflos Malta erobert hatte. Neun Tage nach der Landung zog das Heer nach erfolgreicher Eroberung von Alexandria weiter in Richtung Kairo. Während des Marsches, der unter unglaublichen Bedingungen und besonders großer Hitze stattgefunden haben muss, traten die ersten Augenerkrankungen auf. Unmittelbar nach der Eroberung Kairos in der berühmten „Schlacht bei den Pyramiden“ wurde das erste Krankenhaus errichtet, in dem besonders Augenkranke behandelt wurden.28 Die ersten Augenentzündungen, die von den Ärzten der französischen Armee beobachtet wurden, nahmen einen leichten Verlauf. Sie waren zwar schmerzhaft, hinterließen aber kaum Folgeschäden.29 Einige Wochen nach diesen ersten Fällen beschrieben die Ärzte kompliziertere Verläufe der Krankheit, die wir heute kaum mehr identifizieren können.30 Diese Entzün-

In der zeitgenössischen medizinischen Literatur wurden dabei mehrere, heute klar voneinander getrennte Krankheitsbilder zusammengefasst. Es ist wesentlich, diesen Gedanken für das Folgende im Hinterkopf zu behalten; wo nicht anders hervorgehoben, bezeichnet der Begriff der „Ophthalmie“ dieses Krankheits-Konglomerat. 26 Für einen neueren, medizinischen Überblick, der den Bogen bis zur Gegenwart und der von der WHO (nach der Jahrtausendwende) für 2020 geplanten Ausrottung des Trachoms spannt, vgl. Hugh R. Taylor, Trachoma. A blinding scourge from the Bronze Age to the twenty-first century, East Melbourne 2008. Zur Antike, in der bereits der Begriff „Trachom“ geprägt wurde, vgl. Trompoukis/Kourkoutas, Trachoma in late Greek antiquity, 2007. 27 Mooreville, Oculists in the Orient, 2015, 16. 28 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 131 29 Meyerhof nimmt an, dass es sich um eine bakterielle Konjunktivitis handelte, die durch den KochWeeks-Bazillus hervorgerufen wurde. Vgl. Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 131. Trompoukis/Kourkoutas, Trachoma in late Greek antiquity, 2007, 870 weisen darauf hin, dass erste Episoden einer Trachomerkrankung auch ohne bleibende Schäden verheilen können. Demgemäß wären sie leicht mit anderen Formen von Augenentzündungen zu vermischen. 30 Lediglich die Beschreibung bestimmter Symptome ließ Ärzte im 20. Jahrhundert darüber Vermutungen anstellen, dass es sich dabei um eine durch „Gonokokken“ hervor gerufene Konjunktivitis oder das sogenannte „Trachom“ handelte. Vgl. Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 132. 25

Die Expedition Napoleons nach Ägypten

dungen verliefen weit schwerer und führten zu starkem Sehkraftverlust und in vielen Fällen zur Erblindung. Die Verluste, die nun entstanden, waren verheerend. Schon im Oktober 1798 musste der General Desaix seine Verfolgung der Mameluckischen Truppen in die Oase Fayyum abbrechen, weil von seinen 3.000 Soldaten 1.400 unter anderem durch die Augenkrankheiten ausgefallen waren.31 Die klare Abgrenzung der verschiedenen Entzündungsformen war den Ärzten des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht möglich; sie sprachen von „catharrhalischen Entzündungen“ oder einfach nur von der „Ophthalmie“, die aufgrund der individuellen Disposition eines Individuums oder unter unterschiedlichen Einflüssen eben unterschiedliche Verläufe nehmen würden. Obwohl diese Erklärung theoretisch weite Interpretationsspielräume offenließ, kam es zu teils heftigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Art der Entstehung der Krankheit bildete den Gegenstand vieler wissenschaftlicher Schriften, in deren Zentrum zunächst die Umstände der Krankheitsentstehung standen. Heute selbstverständliche Grundlagen der Ansteckungslehre waren damals unbekannt; Bakteriologie und Virologie erhielten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre wissenschaftliche Ausdifferenzierung. Im Mittelpunkt der Überlegungen zur Krankheitsentstehung standen andere Erklärungsmuster. Die Ärzte der französischen Armee sahen – mit den meisten ihrer europäischen Kollegen – den Grund für die Entzündungen im extremen Klima: Sand, Hitze und vor allem die Kälte in der Nacht seien die wesentlichsten Gründe für die Erkrankung. Man empfahl also, nachts den Kopf möglichst gut zu bedecken.32 Die genaueste Beschreibung der Krankheitssymptome gab der italienische Arzt Paulo Assalini33, der die Truppen begleitete. Seiner eigenen Auskunft nach behandelte er 1798 2.000 von der Ophthalmie befallene Soldaten, von denen kein einziger erblindet sei. Assalini hielt das intensive Sonnenlicht für die bedeutendste Krankheitsursache.34 Bereits im Jahr 1792 hatte er eine epidemisch auftretende Augenentzündung unter Soldaten in Reggio Emilia beobachtet. Diese wurde dem durch das Stroh der Nachtlager aufgewirbelten Staub zugeschrieben, wobei auch Kälte und Feuchtigkeit als Erklärungsschema Erwähnung fanden.35

Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 132. Ebd. Paolo Assalini (1759–1840) war Arzt in der französischen Armee in Ägypten und später auch Arzt am bayrischen Hof. Seine Arbeiten über die Augenentzündung wurden bis in die 1820er-Jahre breit zitiert. Assalini wurde in Reggio Emilia geboren. Sein Vater war bereits Leibarzt der Fürstin von Modena gewesen. Assalini erwarb in Modena das Diplom der Chirurgie und studierte danach in Pavia. Vgl. La Cava, Assalini, 1947, 9. 34 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 134. 35 „L’anno 1792 in maggio diversi battaglioni di truppe del Duca die Modena Ercole terzo, vennero a Reggio per sedare alcune turbolenze: queste truppe passarono la prima notte sotto i portici spaziosi di un convento posto a tramontana, e nelle parte più bassa della città, anzi presso di fosse della citadella, molti di que’ militari contrassero una forte ottalmoblennorrea, che fu attribuita alla polvere della paglia sulla quale dormirono, e non all’aria umida 31 32 33

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1801 griffen Osmanen und Briten die Franzosen in Ägypten an und beendeten die französische Besetzung Ägyptens. Eine britische Militärmission begleitete das über Palästina einmarschierende osmanische Heer. Der britische Militärchirurg Wittman, der dieser Mission angehörte, beobachtete erste Fälle akuter Augenentzündungen, als die Truppen den Sinai überquert hatten. Auch er führte als Gründe die Hitze, Sonne, Sand und die Kälte der Nacht an.36 Die britischen Truppen, die 1801 ebenfalls in Ägypten einfielen, wurden von Dr. Douglas Whyte begleitet, jenem Arzt, der kurz zuvor in Konstantinopel bei der Einführung der Kuhpockenimpfung mitgewirkt hatte. Auch Whyte beschrieb Sand, Sonnenstrahlen und die nächtliche Feuchtigkeit als Gründe für die Augenentzündungen. Whyte schlug vor, die Soldaten durch häufiges Waschen der Augen vor der Erkrankung zu schützen.37 Mit der Rückkehr der britischen Truppen aus Ägypten begann die Ophthalmie, sich in ganz England auszubreiten. Die Konzeption, wonach die Krankheit durch Umwelteinflüsse hervorgerufen würde, erwies sich – zumindest für die Mehrheit der britischen Ärzte – als unhaltbar. Man musste auf andere Konzepte zurückgreifen. Die erste Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Augenentzündung ansteckend sein könnte, lieferte 1802 der britische Marinearzt Briggs. Es könne sich doch um eine „kontagiöse“ Krankheit handeln, also eine solche, die direkt von Person zu Person übertragen werden könne. Seine Feststellungen wurden kurz darauf von den beiden britischen Ärzten Edmondston und Powers unterstützt38 und von der Praxis untermauert. Schon 1806 berichtete der britische Militärarzt Edmonston, dass es praktisch im ganzen Land keinen Arzt mehr gäbe, der die Krankheit nicht kenne.39 Einer der profundesten Augenspezialisten saß in diesen Jahren in Wien: Georg Joseph Beer (1763–1821). 1806 ließ er durch den bereits im vorigen Kapitel vorgestellten Jean de Carro eine Reihe von Fragen ins Englische übersetzen, die an jene britischen Militärärzte gerichtet waren. Ob er auf seine 22 Fragen tatsächlich Antworten erhielt, ist nicht klar; 1813 stellte er in seiner Geschichte der Augenheilkunde allerdings fest, dass er sich den Ansichten Assalinis anschließe, der als einziger den wahren Charakter

e fredda di quel luogo, tanto più nociva per quei militari che erano avvezzi a ben chiusi ed agiati quartieri.“ Vgl. La Cava, Assalini, 1947, 31. 36 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 138. 37 Ebd. 138; 142. 38 Ebd., 139. Powers‘ Beschreibung der Erkrankung bringt als eines der ersten Beispiele für die Ansteckung den Fall der Frau des österreichischen Konsuls Rosetti, die nach Powers bei einem Abendessen von einem ihr gegenübersitzenden Augenkranken angesteckt wurde. Sein Kollege Edmonston ging davon aus, dass die Krankheit durch das bloße Hinblicken auf Augen, die von der Krankheit erfasst sind, weiterverbreitet werden könne. Sein Kollege John Vetch verwirft diesen Gedanken aber bereits 1807 und weist auf gemeinsam benutzte Handtücher und unbewusste Übertragungen durch das „unbewußte Anbringen der Materien bei Untersuchungen“ hin. John Vetch/Heinrich Sabatier Michaelis, John Vetch, Geschichte der Ophthalmie, welche in England nach der Rückkehr der Brittischen Armee herrschte, Berlin 1817, 18. 39 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 143.

Die Expedition Napoleons nach Ägypten

der Krankheit erkannt habe; unzweckmäßig seien die Behandlungsweisen der Ägypter und besonders der französischen und britischen Militärärzte.40 Indem man die Krankheit als solche akzeptiert und konzeptionell von den gewöhnlichen, sonst in Europa zu sehenden Augenentzündungen getrennt hatte, veränderte sich auch der Blick auf die Symptome: Die englischen Ärzte beschrieben als erste die für die „Ägyptische Augenentzündung“ typischen Granulationen der Bindehaut.41 In der englischen Forschung werden in diesen frühen Jahren Querverbindungen in andere Weltteile geschlagen, um die Entstehung der Krankheit zu klären. So wies der britische Wundarzt Atkinson in Bangalore seinen Kollegen Hutchinson in England auf eine in Indien beobachtete Krankheit hin, die durch einen im Auge sitzenden Wurm hervorgerufen werde.42 Die nach England zurückgekehrten Einheiten verbreiteten die Augenentzündungen weiter. Ein Bataillon eines Infanterieregiments, das in Ägypten gewesen war und nach Kent zurückkehrte, hatte zwischen August 1805 und August 1806 unter insgesamt 700 Soldaten nicht weniger als 636 Augenkranke aufzuweisen.43 1807 kam es zu einem neuerlichen Landungsversuch einer europäischen Armee in Ägypten: Diesmal waren es die Briten, die mit 5.000 Mann Alexandria einnahmen, aber an der weitergehenden Eroberung des Landes am Widerstand der von dem nach Selbstständigkeit strebenden Gouverneur Muhammad Ali44 geführten Truppen scheiterten. Hunderte gefangene Briten wurden nach Kairo gebracht, wo der aus der Habsburgermonarchie stammende Arzt Dr. Marpurgo45 auf Befehl von Muhammad Ali ein Krankenhaus für die wiederum häufig an Augenerkrankungen leidenden Soldaten eingerichtet hatte.46 Nicht alle konnten sich mit der Idee der direkten Übertragbarkeit anfreunden, denn sie schien den individuellen Beobachtungen zu widersprechen. Das Konzept der Kontagiosität, wie man es aus der Pestbekämpfung kannte, ging davon aus, dass die direkte Berührung zweier Erkrankter (oder eines mittelnden Gegenstandes) zur Übertragung der Krankheit führen konnte. Die Ophthalmie, die als Ausdruck einer ganzheitlichen Erkrankung des Organismus verstanden wurde, ließ sich, das war schnell klar, nicht

Georg Josef Beer, Lehre von den Augenkrankheiten als Leitfaden zu seinen öffentlichen Vorlesungen entworfen, 2 Bde., Stare, Wien 1817, 423. 41 Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung , 1839, 32. 42 G.L.A. Helling, Praktisches Handbuch der Augenkrankheiten nach alphabetischer Ordnung, 1822, 137. 43 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 144. 44 Muhammad Ali Pascha, auch Mehmed Ali Pascha, wurde um 1770 in Kavala (heute Nord-Griechenland) geboren und war von 1805 bis zu seinem Tod 1848 Gouverneur der osmanischen Provinz Ägypten. In mehreren Auseinandersetzungen mit der osmanischen Zentralregierung erreichte er für Ägypten eine relativ große Unabhängigkeit. Auf ihn geht die bis 1953 in Ägypten herrschende (Königs-)Dynastie zurück. 45 Es finden sich auch die Schreibweisen „Morpurgo“ und „Marburgo“. Marpurgo stammte offenbar aus einer jüdischen Görzer Händlerfamilie, die aus Maribor/Marburg nach Görz gekommen war und im 19. Jahrhundert im Handel besonders erfolgreich war. Für die diesbezügliche Mitteilung danke ich Tomislav Kajfez vom Slowenischen Nationalmuseum. 46 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 146. 40

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Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa

durch bloße Berührung zweier Kranker übertragen. Der gebürtige Görzer Marpurgo hatte das Spital in Kairo eingerichtet und wurde auch von europäischen Reisenden dieser Zeit besucht.47 Dr. Marpurgo hatte einen Teil seines Studiums in Wien absolviert und schien auch mit Johann Peter Frank in Kontakt gestanden zu sein; zumindest berichtete Ulrich Jasper Seetzen (1767–1811), der ihn 1807 in Kairo traf, dass Marpurgo „näheren Umgang“ mit dem bekannten Arzt und Medizinalpolitiker Frank gehabt habe.48 Marpurgo zählte noch Jahre später zu jenen Ärzten, die die Augenentzündung für „nicht contagiös“ hielten, und führte in Ägypten Tierversuche durch, um zu beweisen, dass die Augenentzündung nicht ansteckend sei. Vielmehr sei die Augenentzündung das Resultat von großer Unreinlichkeit.49 Auch diese Ärztegruppe, die ihren Schwerpunkt auf die sozialen und hygienischen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Krankheitsentstehung stützten, sollten durch ihren spezifischen Blick einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Aufklärung der Krankheitsursache leisten. 4.3

Die „Ägyptische Augenentzündung“ erreicht die Wiener Medizin

Zwischen 1810 und 1820 erreichten epidemische Augenentzündungen praktisch alle europäischen Armeen; besonders hart getroffen wurde die preußische Armee ab 1813. Die Verlustzahlen waren verheerend: Zeitgenössische Annahmen gehen davon aus, dass in der preußischen Armee zwischen 20.000 und 25.000 Soldaten von der Krankheit betroffen waren.50 Die englische Armee verzeichnete 1818 bereits über 5.000 teilweise oder ganz erblindete Soldaten.51 In Frankreich wollte man die Krankheit in

Vgl. Ulrich Jasper Seetzen, Reisen durch Syrien, Palästina, Phönicien, die Transjordan-Länder, Arabia Petraca und Unter-Aegypten, Berlin 1854–1859, 205. Zu Marpurgos Biographie ist wenig bekannt. Seetzen gibt an der hier zitierten Stelle einige Details zu seinem Leben; so unter anderem, dass Marpurgo in Pest, Wien und Italien studiert und sich im Zuge der Koalitionskriege einem Wiener Studenten-Corps angeschlossen habe. 48 Vgl. ebd. Seetzen bezeichnet ihn auch als „Dr. Marpurg“ oder „Dr. Marpurgo“. Bei Jacob von Röser, Ueber einige Krankheiten des Orients. Beobachtungen gesammelt auf einer Reise nach Griechenland, in die Türkei, nach Aegypten und Syrien, Augsburg 1837 taucht er als „Dr. Morborgo“ auf. 49 N. N., Kurznotiz, in: Berliner medicinische Central-Zeitung: vom Neuesten und Wissenswerthen aus der gesammten Heilkunde des In- und Auslandes, 8/51, 1839, hier: 1013. Diese Nachricht erlangte erst 1839, einige Jahre nach Marpurgos Tod, Aufmerksamkeit, als der Brite Cummings seine Reiseerinnerungen „Notes of a Wanderer“ veröffentlichte. Darin findet sich auch der Hinweis auf ein Werk Morpurgos mit dem Titel: Considerazioni mediche sull’Egitto. Smyrna, 1831. Das Werk selbst war nicht auffindbar, nur eine Besprechung in der Climate and Diseases of Egypt, in: London Medical Gazette: Or, Journal of Practical Medicine, 690, https://books.google.at/books?id=3qTbHgn2MZ4C. 50 Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 45. 51 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 146. 47

Die „Ägyptische Augenentzündung“ erreicht die Wiener Medizin

wissenschaftlichen Kreisen überhaupt nicht beobachtet haben, obwohl sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch dort in großem Ausmaß aufgetreten war.52 Die ersten Berichte über die Augenkrankheiten stammten meist von ärztlichen Teilnehmern an dem Feldzug. Dabei handelte es sich nicht nur um reine Militärärzte; Napoleons Expedition war nicht nur von Soldaten, sondern auch von einer großen Zahl an Wissenschaftlern und Ärzten begleitet worden, die ihre Beobachtungen unmittelbar in wissenschaftliche Werke unterschiedlichsten Umfanges einfließen ließen.53 Die bedeutendsten medizinischen Schriften aus dem umfangreichen literarischen Erbe der napoleonischen Expedition stammten von dem Arzt Dominique Jean Larrey (1766– 1842)54 und seinem Kollegen René-Nicolas Dufriche Desgenettes (1762–1837). Vor allem das Werk von Desgenettes stieß auf unmittelbares Interesse gerade im deutschen Sprachraum. Die Ophthalmie war hierher noch nicht vorgedrungen, die Neugier über seine medizinischen Erkenntnisse sehr wohl. Schon 1802 rezensierte die Salzburger „Medicinisch-chirurgische Zeitung“ eine medizinische Schrift über Ägypten in ihrer französischen Originalfassung.55 Desgenettes’ einflussreiche „Histoire médicale de l’Armée d’Orient“ erschien erst 1812 in Paris. Noch im selben Jahr folgte in Prag die erste deutsche Übersetzung. Die Übersetzung verfertigte der Militärarzt F. J. Tschöpern, ein Mitglied der josephinischen Militärakademie in Wien.56 In der „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ erschien wenige Wochen später eine wenig freundliche Rezension: Die Übersetzung sei – zehn Jahre nach dem  Erscheinen des französischen Originals57  – viel zu spät erfolgt, fehlerhaft und auch das Wissen der französischen Ärzte, gerade auch in Fragen der Augenkrankheiten mangelhaft. Dennoch sei das Werk willkommen: Es lassen sich dem Werke des Hrn. Desgenettes, von welchem der zweyte Band hier durch Hn. Tschöpern in unsere Muttersprache übertragen worden ist, einzelne bemerkenswerthe Andeutungen und Beobachtungen wohl nicht absprechen und besonders muss dieses Werk zur Zeit seiner Erscheinung, in der selbst topographische Notizen von einem Lan-

In Frankreich war die Meinung, es gebe keine spezifisch „ägyptische“ Augenentzündung, lange verbreitet. Der Wiener Friedrich Jäger beobachtete die Symptome selbst in Frankreich und wunderte sich, dass man die Krankheit trotzdem in Abrede stelle. Friedrich Jäger von Jaxtthal, Die egyptische Augen-Entzündung (Ophthalmica egyptiaca), Wien 1840, 8. 53 Dominique-Jean Larrey u. a., Description de l’Égypte, ou Recueil des observations et des recherches qui ont été faites en Égypte pendant l’expédition de l’armée française, publié par les ordres de sa majesté l’empereur Napoléon le grand. État moderne. Tome second, Paris 1812. 54 Larreys erste Arbeit erschien zwei Jahre nach der Rückkehr, wie auch die Description de l’Egypte: Dominique J. Larrey, Relation historique et chirurgicale de l‘expédition de l‘armée d‘orient, en Egypte et en Syrie, Paris 1803. 55 Rezension: Tschoepern, F. J.: Geschichtliche Darstellung der Krankheitsereignisse bey der franzöischen Armee im Orient., in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 11.7.1814, 41–45, 41. 56 Ebd. 57 Hier wurde wohl auf die Veröffentlichungen Desgenettes in der „Description de l’Egypte“ Bezug genommen. 52

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des wie Aegypten, willkommener waren, als jetzt, wo allmählig mehrere und gehaltvollere Werke der durch Napoléon’s abentheuerlichen Zug in jenes Land gezogenen Gelehrten erschienen sind, denjenigen Beifall sich erwerben, den es sich, mehrern öffentlichen Stimmen zu Folge, wirklich erworben hat […].58

Die österreichischen Truppen waren von der Ophthalmie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht worden. Erst 1814 trat die Ophthalmie erstmals auf.59 In diesem Jahr wendete sich die Aufmerksamkeit der Salzburger Zeitschrift der Augenkrankheit nochmals zu. Es sei höchst notwendig, dass man mehr aus Ägypten und insbesondere über die „jenem Lande eigenthümliche Augenentzündung, welche einige der hier genannten Ärzte dem allzu grellen Lichte und dem feinen Staube der Thon- und Kalkerde, andere der feuchten Athmosphäre zuschreiben“ und im Allgemeinen auch über die Heilmittel erfahre.60 Erkenntnisse zur Entstehung und Verbreitung von Augenkrankheiten waren in Europa bereits zugänglich. Der bereits erwähnte Paolo Assalini hatte nach seiner Rückkehr aus Ägypten begonnen, an einem Handbuch für Militärchirurgen zu arbeiten, das ein umfangreiches Kapitel über Augenkrankheiten enthielt.  1812 erschien sein „Handbuch für Militärärzte“ in italienischer Sprache61, 1816 wurde es von Ernst Grossi (1782–1829)62, der in Wien studiert hatte, ins Deutsche übersetzt.63 Zurück in Italien hatte Assalini weitere Erfahrungen mit der Krankheit sammeln können. Im Jahr 1808 Rezension: Tschoepern, F. J.: Geschichtliche Darstellung der Krankheitsereignisse bey der franzöischen Armee im Orient., in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 11.7.1814, 41–45, 41. 59 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 146. 60 Rezension: Tschoepern, F. J.: Geschichtliche Darstellung der Krankheitsereignisse bey der franzöischen Armee im Orient., in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 11.7.1814, 41–45, 43. 61 Manuale di Chirurgia de Cavaliere Paolo Assalini, Mailand 1812. 62 Ernst von Grossi wurde in Passau geboren und studierte in Wien. Ab 1826 Professor in München war er Lehrer von Franz Pruner und Sebastian Fischer, zwei der ersten deutschsprachigen Ärzte, die in Ägypten tätig waren. Pruner widmete ihm sein einflussreiches Werk „Die Krankheiten des Orients“ und edierte gemeinsam mit Sebastian Fischer Grossis „Versuch einer allgemeinen Krankheitslehre, entworfen vom Standpunkte der Naturgeschichte“ unter dem Titel: „Opera medica posthuma“. August Hirsch, Grossi, Ernst, in: Rochus Freiherr von Liliencron (Hg.), Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 9, Leipzig 1875 ff, hier: 751. Zu Fischer und Pruner vgl. Salah Mahgoub, Deutsche Ärzte in Ägypten im 19. Jahrhundert. Eine kumulative biographische Untersuchung, Heidelberg 1998; und zu Fischer zuletzt: David M. Damkaer/ Renate Matzke-Karasz, Sebastian Fischer (1806-1871), Bavarian Physician-Naturalist in Egypt and Russia, in: Journal of Crustacean Biology 32/2, 2012, 327–333. Die medizinhistorisch bedeutsamste Auswirkung könnte aber Grossis Tod gehabt haben: Er starb 1829 an den Folgen mehrerer Aderlässe. Der Tod dieses damals bekannten Mediziners führte zu vehementen medizinischen Kontroversen um die Sinnhaftigkeit des Aderlasses und mag dazu beigetragen haben, eine große therapeutische Wende in der Medizin einzuleiten. Mit sichtlichem Zorn zog der Hamburger Friedrich Simon anlässlich des Todes Grossis im Jahr 1830 gegen den Aderlass zu Feld: Friedrich Alexander Simon, Der Vampirismus im neunzehnten Jahrhundert oder über wahre und falsche Indikation zur Blutentziehung (etc.), Hamburg 1830. Seine Klassifizierung des Aderlasses als „moderner Vampirismus“ hätte sich in ihrer Wirkung eine genauere medizinhistorische Untersuchung verdient. 63 Assalini/Grossi, Taschenbuch für Wundärzte und Ärzte bey Armeen, 1816. 58

Die „Ägyptische Augenentzündung“ erreicht die Wiener Medizin

wurde Assalini nach Vicenza geschickt, um eine beim „Ersten Italienischen Infanterieregiment“ ausgebrochene Epidemie zu behandeln. Die Epidemie dauerte von Mai bis September und erfasste 600 Soldaten. 1809 wurden die Zöglinge der königlich-italienischen Militärschule von Augenentzündungen erfasst. Erscheinungen der Krankheit, der Verlauf und der Ausgang der beiden Seuchen glichen denen, die Assalini in Ägypten beobachtet hatte.64 Als er 1812 sein Buch herausgab, war für Assalini bereits klar, dass die Krankheit nicht durch Staub oder Sand hervorgerufen sein könne; dazu hatte er in Ägypten zu häufig beobachtet, dass Soldaten ausgerechnet zur Zeit der Nilschwelle erkrankten. Sand und Staub waren dabei kaum verbreitet. Stattdessen sah Assalini in der Hitze und der Sonneneinstrahlung primäre Gründe, sekundäre aber in der „Unterdrückung der Ausdünstung“.65 Assalini nutzte seine Beobachtungen vor Ort, um seine Theorie zu untermauern: Die im Felddienste stehenden Divisionen lagerten immer unter freyem Himmel, und, wenn sie in Schiffen auf dem Nile schliefen, so waren sie ohne Zelten, oder andre Bedeckung. Selbst die Besatzungstruppen schliefen, um die Frische der Nächte zu genießen, entweder außer ihren Wohnungen, oder an sehr großen, offnen Fenstern, und oft den Nordwinden ausgesetzt. Hierbey mußten unumgänglich durch Unterdrückung der Ausdünstung Rheumatismen, Katarrhe, Ruhren und Augenkrankheiten entstehen. Es ist erwiesen, daß auf solche Art viele Krankheiten entspringen, die man ohne Grund andern ihnen fremden und aller Wahrscheinlichkeit beraubten Ursachen zuschreibt.66

Assalinis Betonung der lokalen Verhältnisse war folgenreich. Ging man davon aus, dass die Krankheit durch klimatische Faktoren hervorgerufen würde, war es unumgänglich, sich zu erklären, warum bestimmte Menschengruppen mehr oder weniger von dieser Krankheit betroffen waren. Um die abweichende Häufigkeit der Krankheit außerhalb der Truppen besser argumentieren zu können, führte Assalini noch eine Unterscheidung ein: In der Anfälligkeit für bestimmte Augenkrankheiten unterschied Assalini nach dem deutschen Arzt von Samuel Thomas Sömmering (1755–1830)67 zwischen „Negern“, „Blendlingen“ und „Europäern“68. Assalini sah die „Neger“ bei Weitem

Assalini/Grossi, Taschenbuch für Wundärzte und Ärzte bey Armeen, 1816, 276. Ebd., 277–280. Ebd., 1816, 279. Samuel Thomas Sömmering betrieb verschiedenste wissenschaftliche Studien. Als Sohn eines Arztes sozialisiert unternahm er unter anderem Sektionen an den Leichen in Europa verstorbener Afrikaner und versuchte darauf aufbauend die besondere Verwandtschaft von Afrikanern mit bestimmten Menschenaffen zu belegen. Samuel Thomas Sömmerring, Anthropologie: über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, 1785. Herausgegeben von Sigrid Oehler-Klein, Bd. 15: Werke, Stuttgart [u. a.] 1998. 68 dazu auch Sömmering, Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer, Mainz 1784. 64 65 66 67

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nicht so anfällig für Augenkrankheiten wie die Europäer.69 Damit war eine Erklärung gefunden, warum die Krankheit besonders die europäischen Truppen betroffen hatte. In dem Jahr, in dem Assalinis Werk erschien, hatte sich die Augenheilkunde an der Wiener Universität als eigenständiges Fach etablieren können. Die erste spezialisierte Augenklinik der Welt entstand 1812 in Wien am Allgemeinen Krankenhaus. Sie wurde von Georg Joseph Beer (1763–1821) gegründet, der bereits seit 1797 bei der Studien-Hofkommission beantragt hatte, als außerordentlicher Professor den Schülern der Chirurgie Vorlesungen über Augenheilkunde halten zu dürfen.70 Ein wichtiger Mitarbeiter Beers in jenen Jahren war der aus dem deutschen Fürstentum Hohenlohe stammende Friedrich Jäger (1784–1871).71 Im Sommer 1812 wurde Jäger die Ausbildung zum Augenarzt mit einer praktischen Prüfung, bei der er unter anderem eine „Starreclination am linken Auge“ und eine „beidseitige Staroperation mittels Keratonyxis“ vornehmen musste  – in Zeiten vor der Anästhesie schwierige Operationen.72 Jäger hatte sich aber nicht unbedingt auf die Chirurgie spezialisiert. Von Anfang an galt sein Interesse den entzündlichen Augenerkrankungen. 1808 hatte er in Landshut eine Inauguralschrift über die Diagnose der arthritischen und der syphillitischen Augenentzündung abgegeben.73 Beer bemühte sich in Wien um die Einführung einer akademischen Spezialausbildung für Augenärzte. Schon 1814 legte er konkrete Vorschläge für eine bessere Ausbildung und eine entsprechende Prüfung für Augenärzte vor.74 In diesem Jahr trat die „Ophthalmie“ erstmals unter österreichischen Truppen auf.75 Im Allgemeinen wird die Entwicklung der Wiener Medizin in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als Zeit des wissenschaftlichen Stillstands beschrieben76. Die

Assalini/Grossi, Taschenbuch für Wundärzte und Ärzte bey Armeen, 1816, 269. Gröger/Schmidt-Wyklicky, Die Gründung der weltweit ersten Universitäts-Augenklinik in Wien, 2012, 273. 71 Jäger war 1817 durch seinen Schwiegervater Beer mit Metternich in Kontakt gekommen und wurde von diesem besonders geschätzt. Jäger erwarb sich einen besonderen Ruf als Lehrer und auch als Arzt des europäischen Hochadels. 1840 ließ sich der Kronprinz von Hannover sein am Star erkranktes Auge von Jäger operieren. Vgl. Hedwig Kadletz-Schöffel, Metternich und die Wissenschaften, 2 Bde., Bd. 234: Dissertationen der Universität Wien, Wien 1992, 357. 72 Die „Keratonyxis“ war eine zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu entwickelte Methode zur Behandlung einer bestimmten Form des „Katarakts“, bei der eine Flüssigkeit den Blick trübt. Dabei wurde eine Nadel in die Pupille eingeschoben und die Flüssigkeit abgelassen. Diese sonst in der historischen Literatur eher weniger vorkommende Methode ist beschrieben bei: C. J. M. Langenbeck, Prüfung der Keratonyxis einer neuen Methode den grauen Staar durch die Hornhaut zu recliniren oder zu zerstückeln nebst erl. Operationsgeschichten mit 2 Kupfertafeln, Göttingen 1811. Bei einer „Reklination“ wird die getrübte Linse zurückgeschoben – die „klassische“ Form der Staroperation. 73 Gröger/Schmidt-Wyklicky, Die Gründung der weltweit ersten Universitäts-Augenklinik in Wien, 2012, 279. 74 Ebd. 75 Meyerhof, A Short History of Ophthalmia, 1932, 146. 76 Dazu grundsätzlich in ihrer Einleitung natürlich Erna Lesky, Österreichisches Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Bd.  122,1: Österreichische Akad. d. Wiss. Philos.-histor. Klasse. Histor. Kommission. Archiv für österreichische Geschichte, Wien 1959. Sie sieht in dem konservativen 69 70

Die „Ägyptische Augenentzündung“ erreicht die Wiener Medizin

Augenheilkunde bildete in dieser Erzählung eine Ausnahme. Die Begründung der Augenheilkunde als selbstständiges wissenschaftliches Fach wird meist als eine der wesentlichen  Leistungen der medizinischen Ausbildung in Wien gesehen.77 Am Josephinum in Wien unterrichteten einige junge Ärzte einer neuen Generation, die sich dem System des britischen Arztes John Brown (1736–1788) nahe fühlten.78 Die neue Lehre fand einige prominente Anhänger; so trat einer der einflussreichsten Mediziner Wiens, Johann Peter Frank, für neue Sichtweisen in der Medizin ein und sympathisierte mit einigen Grundsätzen der neuen Lehre von Brown, die davon ausging, dass die Erregbarkeit des gesamten Organismus das bestimmende Moment einer Erkankung sei.79 In einem Frank nahestehenden Kreis entstand eine Ärztegesellschaft, die sich den Ideen Browns angeschlossen hatte. Sie stand unter der Leitung von Johann Malfatti (1775–1859), einem der Assistenten von Joseph Frank (1771–1842), dem Sohn von Johann Peter Frank.80 Die Gruppe wies einige Querverbindungen zum Osmanischen Reich und Ägypten auf: Der Neffe Johann Peter Franks, Ludwig Frank (1761–1825), studierte in diesen Jahren in Wien und ging danach nach Ägypten.81 Auch Staatskanzler Clemens Wenzel Metternich, der selbst einige Zeit Medizin studiert hatte, zählte in seinen frühen Jahren zu diesem Kreis um Johann Peter Frank. Die Lehre von der „Erregbarkeit“ wurde von Metternich auf den Staat als Ganzes übertragen; es sei immer ein Ausgleich zwischen Erregbarkeit und Reiz zu finden.82 Die Lehren des Schotten John Brown, von denen in der Einleitung bereits die Rede war, hatten auch auf das Verständnis von Entzündungen einen wesentlichen Einfluss. Brown glaubte nicht an den bedingungslos positiven Einfluss der „Heilkraft der Natur“. Er hatte beobachtet, dass der Organismus dort, wo man den Dingen ihren Lauf ließ, sich durch seine Reaktion selbst schaden konnte. Das, was wir heute als Immunreaktion bezeichnen, nannte Brown den Zustand der „Sthenie“, der Überreizung, die durch den Körper selbst hervorgerufen wurde. Um in diesem Denkstil zu einem ErLeiter des staatlichen Medizinalwesens Türkheim den Grund für diese Stagnation. Ergänzend dazu bietet die beachtliche Zusammenstellung von Augenzeugenberichten und Erinnerungen aus der Zeit durch Neuburger, Die Wiener Medizinische Schule, 1921 interessante Einblicke in Probleme der Zeit, die durchaus auch im Menschlichen und Strukturellen zu liegen scheinen. 77 Vgl. Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 79. 78 Ebd. , 26. Erna Lesky bezeichnete das Josephinum mit seinen Lehrern Schmidt und Gerhard von Vering deswegen 1965 in ihrer Geschichte der Wiener Medizinischen Schule im 19. Jahrhundert als „Hochburg des Brownianismus“. 79 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 23. 80 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 26. 81 Ludwig Frank (1761–1825) erwarb das Doktorat in Pavia und arbeitete ab 1791 als persönlicher Arzt des Fürsten Khevenhüller in Mailand. Nach 1796 ging Frank nach Ägypten – laut einem Nachruf in der „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“, um dort medizinische Studien zu betreiben. Dort wurde er von der einmarschierenden französischen Armee zunächst interniert, um schließlich auf Empfehlung zweier Ärzte aus der Armee Napoleons im französischen Gesundheitsdienst eingesetzt zu werden. Biographische Skizze von Dr. Ludwig Frank zu Parma, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 205–208. 82 Vgl. Kadletz-Schöffel, Metternich und die Wissenschaften, 1992, 48a.

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gebnis zu kommen, musste Brown den Herd einer Überreizung lokalisieren, um ihn, als den gesamten Organismus betreffende Krankheit, auch bekämpfen zu können. Diese Konsequenz aus Browns Denken war folgenschwer: Der Blick des Arztes richtete sich nun stärker auf die lokale Läsion.83 Man begann nun, noch immer im klassischen Denken der Medizin der Systeme verhaftet, genauer auf Details hinzusehen und dem Krankheitsphänomen selbst Aufmerksamkeit zu widmen. Im Falle der Ophthalmie war es das Auge: Assalini ließ den Kranken die Augen mit sauberen, trockenen Tüchern reinigen. Die Augen wurden mit Augentropfen aus Kampfer und Kupfervitriol behandelt; Aderlässe, wie sie von den meisten Ärzten angewendet worden zu sein scheinen, sah Assalini als manchmal notwendig, aber nicht immer sinnvoll an.84 Assalini war stolz auf seine Behandlungserfolge. Obwohl er selbst den üblichen humoralpathologischen Erklärungsmustern für die Entstehung der Krankheit anhing, verwarf er die damit verbundenen üblichen Therapien, die Entzündungen nicht lokal, sondern meist ganzheitlich ansprachen. Den Skeptizismus gegenüber dem Aderlass führte Assalini auf Frank zurück: Ich habe beym Durchlesen von Dr. Ludwig Franks Schrift hierüber das Vergnügen gehabt, meine Behandlungsart dieser Krankheit bestättigt zu sehen. Dieser ausgezeichnete Arzt sagt vom Aderlassen, dass er es nie nützen, aber immer das Übel verschlimmern gesehen habe, besonders habe es die Schmerzen im Auge, die Röthe der Bindehaut, und den Thränenfluß vermehrt. Wäre das Aderlassen in der sogenannten Ägyptischen Augenentzündung eben so nöthig, als bey einer eigentlichen, so würden gewiß viele seiner Kranken an ihr erblindet seyn, weil er nie zur Ader gelassen, wogegen er alle ohne dies Mittel geheilt habe. Die Aegypter und die dort lebenden Europäer haben seit langer Zeit diese Nachtheiligkeit des Aderlassens eingesehen.85

Assalini setzte auf die Behandlungsmethoden, die er in Ägypten kennengelernt hatte, und auf die Erfahrungen, die in Ägypten gemacht worden waren: „Ich widerrieth dabey den Gebrauch aller Breyumschläge, der erweichenden Bäder, wie der Milch, und folgte der Handlungsweise der Ägypter, welche das Wasser als den größten Feind der Augen betrachten.“86 Die Europäer, die in Ägypten lebten, hätten bereits erkannt, „daß man durch gute Bedeckung in der Nacht, und vor allem durch Vermeidung des Luftzugs sich vor Augenkrankheiten bewahren kann.“87 Noch hatten sich diese Diskussionen weitestgehend abseits der österreichischen Medizin abgespielt. Erst 1816 wurde das Problem in Österreich drängender. In der Übersetzung zu Franks ursprünglich schon 1811 in französischer Sprache abgefasster

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Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 81f. Assalini/Grossi, Taschenbuch für Wundärzte und Ärzte bey Armeen, 1816, 286. Ebd., 295. Ebd., 1816, 284. Assalini/Grossi, Taschenbuch für Wundärzte und Ärzte bey Armeen, 1816, 280.

Die „Ägyptische Augenentzündung“ erreicht die Wiener Medizin

„Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts“ stellte der Übersetzer, der Brünner Chirurg und Arzt Ernst Karl Rincolini88 fest, dass „die Krankheitsformen, über welche in diesen Aufsätzen gehandelt wird, von größter Wichtigkeit“ seien, da sie soeben in Berlin aufgetreten seien.89 Frank stützte sich in Terminologie und Zugang auf das von Brown geschaffene System und verwarf alles, was bis dahin über die Gründe der Augenentzündungen geschrieben worden war – auch von jenen Ärzten, die mit dem System Browns sympathisierten. Die Ansicht, die Augenentzündung entstünde als eine „sthenische Affektion des gesamten Systems“, also durch eine Reizung des Organismus, wies Frank zurück. Für ihn war die Augenentzündung eine „passive“, lokale Entzündung. Er führte drei grundsätzliche Arten der Ophthalmie ein: eine einfache örtliche Ophthalmie, eine örtliche Ophthalmie mit allgemeiner Asthenie und eine örtliche Ophthalmie mit konsekutiver Asthenie.90 Frank beschrieb fünf Stadien der Krankheit, die er an unterschiedlichen Symptomatiken erkennbar machte; Staub und Sand verwarf er als Erzeuger. Um dies zu beweisen, führte Frank in Ägypten Tierversuche durch, bei denen er Staub in Hundeaugen einrieb und beobachtete, ob sich eine Entzündung entwickle.91 Das Ausbleiben der Entzündung sah Frank als Beweis dafür, dass der Staub kein Krankheitserzeuger sein könne.92 Auch die die Sonne und die nächtliche Feuchtigkeit waren für Frank nicht der Grund für die Erkrankung; sie würden die Entstehung bestenfalls unterstützen. Die Feuchtigkeit als möglichen Erzeuger schloss er gestützt auf „Beobachtungen der Landeseingeborenen“93 aus, vielmehr seien es in der Atmosphäre gelöste Salze, die die

Rincolini studierte ab 1804 an der Universität Wien, wo er 1808 promovierte. In den Kriegsjahren 1809– 14 war er Chefarzt verschiedener Militärspitäler von Brünn und Umgebung, ab 1815 Impfdistriktsarzt in Brünn. Das Österreichische Biographische Lexikon bezeichnet Rincolini als „enthusiastischen Pionier und Propagator von Jenners Vakzination gegen Blattern, [er] setzte sich stets für fortschrittliche Methoden auf allen Gebieten des Gesundheitswesens ein.“ ÖBL 1815–1950, Bd. 9, Lfg. 42, 1985, 167 f. 89 Louis Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts; Nebst einer Abhandlung über den Negerhandel zu Cairo; Aus dem Französischen übersetzt von Ernst Carl Rincolini, Brünn und Olmütz 1817, IIIf. 90 Ebd., 50–52. 91 „Ich habe zu diesem Zwecke zwey junge Hunde genommen, ein Mithelfender zog ihre Augenlider voneinander und ich schob in ihre Augen vier Gran von diesem Staube, welcher sich auf dem äußere Theile der Fenster absetzet, die Hunde rieben sich, nachdem sie in Freyheit gesetzt waren, sogleich die Augen; es folgte ein häufiges Thränen und am andern Tage sah ich, daß ihre Augen so klar wie zuvor waren.“ Frank wiedergolte diese Versuche in der Folge, jedoch ohne Erfolg. Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, 58. 92 Franks Methode des Tierversuchs mit Hunden wurde weitergeführt, jedoch mit dem Ziel, die direkte Übertragbarkeit der Krankheit durch verschiedene Sekrete zu beweisen. In Italien nahm um 1818 der Arzt Vasani Tierversuche vor, um die direkte Übertragbarkeit der ägyptischen Augenentzündung zu beweisen. Er übertrug den Eiterausfluss Erkrankter auf einen Hund und gab an, damit den Ausbruch der Krankheit hervorgerufen zu haben. Vgl. die Rezension von Vasanis: „Storia dell‘Ottalmia contagiosa dello spedale militare d‘Ancona“, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 9.3.1818, 316–320, 316. 93 Ebd., 63. 88

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Krankheit hervorriefen.94 Darin sah er sich auch in der Publikation seines französischen Kollegen Guillaume-Antoine Olivier (1756–1814) bestätigt, der die Entzündung aufgrund der Natronhältigkeit der Atmosphäre „mit dem Verlust des Gesichtes“ enden ließ.95 Auch Olivier hatte die Salze als wesentlichen Grund für die Entstehung der Krankheit angeführt und das Vorhandensein der Salze in Ägypten genauso wie in Persien beobachtet; auch die Kälte der Nacht und die Hitze des Tages hatte er ebenso wie Frank ausgeschlossen.96 Olivier baute seine Erkenntnisse auf langen Reisen auf, die er im Osmanischen Reich, in Persien und Ägypten unternommen hatte und zog Vergleiche in alle Richtungen. Damit blieb er nicht allein; in den Erklärungsversuchen der Ärzte begannen immer weiter ausgreifende Erklärungsmodelle aufzutreten. Besonders in der englischen Forschung wurden in diesen frühen Jahren Querverbindungen in andere Weltteile geschlagen, um die Entstehung der Krankheit zu klären.97 Franks Beschreibung ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil sie einige für die späteren Diskussionen wesentliche Faktoren nochmals hervorhebt: die Sauberkeit als Methode der Verhütung der Krankheit und die Nutzlosigkeit des Aderlasses in der Therapie. Das Wissen um letzteres hatte Frank von den Einwohnern Ägyptens erworben: Daß die Heftigkeit des Schmerzes, die bedeutende Anschwellung der Konjunktiva, und eine fieberhafte Bewegung, welche man zuweilen bemerkt, die Furcht einflößen können, das Gesicht des Kranken verlieren zu sehen, so haben einige Kunst verwandte genug Motive zu haben geglaubt, sich zu einer oder mehreren Aderlässen zu bestimmen. Ich habe nicht nur davon gar keinen Vortheil gezogen, sondern immer beobachtet, daß sie merklich das Uebel und besonders den Schmerz verschlimmerten, […]. Endlich lieben die Landleute hier wie überall, das Blut bei ihren Krankheiten fliessen zu sehen, und haben dennoch seit langem beobachtet, daß der Aderlaß in der Ophthalmie schädlich sey.98

Aufbauend auf den Erfahrungen durch seine Tätigkeit in Kairo kam Frank zu dem Schluss, daß je mehr die Wohnungen enge, ungesund, unrein in Egypten sind, je mehr sich Personen zusammengehäuft befinden, um desto mehr ist die Ophthalmie daselbst häufiger; der niedere Pöbel in Cairo ist derselben mehr als die wohlhabenderen Personen unterworfen;

Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, 60–65. Guillaume Antoine Olivier: Voyage dans l’Empire othoman, l’Égypte et la Perse: fait par ordre du Gouvernement, pendant les six premières années de la République. Paris, 1807. 96 Ebd., 70. 97 So wies der britische Wundarzt Atkinson 1820 in Bangalore seinen Kollegen Hutchinson in England auf eine in Indien beobachtete Pferdekrankheit hin, die durch einen im Auge sitzenden Wurm hervorgerufen werde und stellte die Frage, ob denn nicht auch die „ägyptische“ durch einen solchen hervorgerufen sein könne. Vgl. Frorieps Notizen aus der gesamten Natur- und Heilkunde, Heft 8, 1821, 125. 98 Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, 83. 94 95

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die Araber-Bedouinen weniger als die Dorfbewohner, endlich die Juden mehr als alle die anderen Individuen; man muß in Cairo mit eigenen Augen das Viertel der Israeliten zu Cairo gesehen haben, um sich eine genaue Idee von ihrem Elend, von ihren engen, unreinen, abscheulichen, übelriechenden Wohnungen machen zu können.99

Generell sei nichts wichtiger, als die größte Reinlichkeit zu beachten. Viele Einwohner des Landes würden im häufigen Waschen des Kopfes mit Essig oder Zitronensaft eine Vorbeugung gegen die Krankheit sehen und sich gegen die Zugluft durch Bedeckung des Kopfes schützen. Noch hilfreicher sei die Anwendung von Kajal/Kohol100. Es sei hilfreich, „auf die Augenliedknorpeln jene schwarze Komposition, welche man arabisch, Cochel nennt, oft aufzulegen, diese Mischung ist gelind, reizend und vermehrt die Thätigkeit der meibomischen Drüsen, stärkt die Augenlieder, und entfernt somit die Gefahr der Krankheit, besonders für diejenigen, welche ihr mehr unterworfen sind.“101 „Kohol“ war ein schwarzes Pulver, das auf die Lider aufgetragen wurde und von den Bewohnern Ägyptens – neben Ruß und anderen Bestandteilen – auch mit dem kupferhaltigen Malachit versetzt wurde. Diese giftige Substanz hatte stark antiseptische Wirkung und konnte die Entstehung von Entzündungen verhindern. Frank schien sich nicht näher mit dieser Substanz beschäftigt zu haben und enthielt sich einer eingehenderen Diskussion dieser Methode, sondern empfahl die Anwendung einer „Chinatinktur“ unter Beimengung einer „guten Dosis Eisenteile“.102 In Sachen Ansteckung hielt sich Frank eher zurück; für ihn stand die ursprüngliche Krankheitsentstehung im Vordergrund der Überlegungen. Ansteckend würde die Krankheit nach Frank erst dann, wenn bestimmte klimatische oder lokale Umstände hinzuträten. 1822 schrieb der Augenspezialist Helling in Berlin unter Bezugnahme auf Frank, er sei mit Frank der Meinung, dass die Augenentzündung zwar ansteckend sei, nicht aber in Ägypten, wo sie gleichsam „ursprünglich“ entstehen würde. 103 Ägypten und seine Verhältnisse wurden damit zum ursächlichen Herd für die Verbreitung der

Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, 69. Die hohe Sterblichkeit unter der jüdischen Bevölkerung wurde für die Pest auch in anderen Teilen des Osmanischen Reiches beobachtet. Für Saloniki wurden dafür in neueren Arbeiten mehrere Gründe angeführt: So das starke Bevölkerungswachstum und die fehlende Möglichkeit, in Pestzeiten die Stadt zu verlassen. Vgl. dazu: Gülay Tulasoğlu, Ein europäischer Konsul als Agent der Modernisierung in der osmanischen Provinz. Charles Blunt (1800–1864), His Majestys Consul, im Saloniki der Früh-Tanzimat, Dissertation, Universität Heidelberg, Heidelberg 2012, 132. 100 Das arabische Wort al-kuḥl bezeichnet das feine Antimonpulver, mit dem Lider und Augen geschminkt wurden. Das Wort „Alkohol“ leitet sich aufgrund der Übertragung des Begriffs auf den „feinen Weingeist“ durch arabische Alchemisten in Spanien von diesem arabischen Begriff ab. Vgl. dazu Nabil Osman (Hg.), Kleines Lexikon untergegangener Wörter. Wortuntergang seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 5. unveränd. Aufl., Bd. 456: Beck‘sche Reihe, München 1997, 25. 101 Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, 75f. 102 Daneben war Opium für Frank ein wesentliches Heilmittel: Ebd., 76. 103 Helling, Praktisches Handbuch der Augenkrankheiten, 1822, 109. 99

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Krankheit. „Dass sie in Aegypten häufiger als in jedem andern Lande vorgekommen ist, und auch noch jetzt eben so vorkommt, daran sind die dort ganz vorzüglich herrschenden Schädlichkeiten Schuld, wovon uns mehrere sehr achtbare Schriftsteller hinlänglich in Kenntniss gesetzt haben.“104 Es wäre schon möglich, dass die Krankheit auch in Europa schon davor geherrscht habe; allein durch die Verhältnisse in Ägypten sei sie ansteckend geworden und so durch die Truppen aus Europa hierher gebracht worden. In den folgenden Jahren explodierte die Literatur zu diesem Thema geradezu. Der in Leipzig erschienene „Grundriß der gesamten Augenheilkunde“ führte 1846 weit über 200 Titel an, die sich mit verschiedenen Formen der entzündlichen Augenerkrankungen beschäftigten.105 Franks Werk blieb lange eines der Standardwerke, die in der Diskussion der Augenentzündung im deutschen Sprachraum rezipiert wurden. Frank war in seiner Terminologie den damals herrschenden Ansichten des britischen Arztes Brown verpflichtet geblieben, doch hatte er einige wesentliche neue Perspektiven geöffnet: Die Abwendung von der universellen Vorstellung der Krankheit als gesamthafte Erscheinung und die Hinwendung zu einer stärker lokal orientierten Therapeutik und Diagnostik kommt bei Franks Beobachtungen voll zum Tragen. Er kann sich dabei auf die Erfahrungen der einheimischen Medizin stützen.106 In Wien war der Mainstream der akademischen Medizin einstweilen noch weit von diesen Ansichten entfernt. 4.4

Die Epidemie von Klagenfurt

1816 hatte Rincolini in Brünn gefordert, dass man dem Thema der Augenentzündung mehr Aufmerksamkeit widmen sollte, doch in Wien wollte man in die Diskussion um die „Ägyptische Augenentzündung“ zunächst nicht so recht einsteigen. Erst Anfang der 1820er-Jahre wurde das Problem der Augenerkrankungen im österreichischen Heer so virulent, dass sich die Aufmerksamkeit eines ganzen medizinischen Apparates darauf richtete. Am 1. Juli 1823 erging in Wien ein kaiserliches Kabinettschreiben, mit dem die Einsetzung einer gemischten ärztlichen Kommission angeordnet wurde. Die Kommission sollte eine seit mehreren Jahren beim Infanterie-Regiment Wimpffen herrschende Epidemie von Augenentzündungen untersuchen.107 Das k. k. Infanterie-Regiment Baron Wimpffen war 1814 aus den Überresten ehemals königlich italienischer, lombar-

Helling, Praktisches Handbuch der Augenkrankheiten, 1822, 110. Andreae, Grundriß der gesammten Augenheilkunde, 1846, 66–75. Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817. Die Darstellung der Epidemie von Klagenfurt orientiert sich im Folgenden an den Publikationen, die Anton Rosas, einer der Protagonisten der ärztlichen Behandlung der Epidemie selbst verfasste. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 392ff. 104 105 106 107

Die Epidemie von Klagenfurt

discher Regimenter geschaffen worden108. Bereits 1805 war unter einem dieser Regimenter eine heftige Epidemie von Augenentzündungen ausgebrochen. 1808 wurde die Epidemie von diesen Truppen nach Spanien und 1810 in die Toskana und nach Ancona getragen. In letzterer Stadt breitete sich die Augenkrankheit auch unter der Zivilbevölkerung rapide aus. Die italienischen Ärzte begannen in dieser Zeit, Erfahrungen mit der Krankheit zu sammeln. 1808 war Paolo Assalini nach Vicenza geschickt worden, um die dort unter einem anderen Regiment grassierende Epidemie zu bekämpfen. Auch dieses Regiment sollte 1814 in dem neu gebildeten Infanterieregiment Wimpffen aufgehen. Assalini schrieb damals den Ausbruch der Epidemie den unreinen Aborten und den über die Ufer getretenen Flüssen in Vicenza zu.109 1815 wurde das Regiment von Mailand zunächst nach Brünn verlegt, wo die ersten Fälle von Augenentzündungen von den Militärärzten bemerkt wurden und 13 Augenkranke in einem Spital nahe der Stadt untergebracht wurden.  1816 wurde die Einheit nach Klagenfurt verlegt, wo nach ihrer Ankunft zwanzig Kranke verzeichnet wurden.110 Das betreuende Sanitätspersonal machte zunächst die Strapazen des Marsches von Brünn nach Klagenfurt für den verstärkten Ausbruch verantwortlich. Doch auch die beiden betreuenden Unterärzte wurden nach kurzer Zeit von der Krankheit befallen. Der italienische Regimentsarzt erklärte in einem Gutachten, das vom Kommandanten der besonders betroffenen neunten Compagnie angefordert wurde, dass die Krankheit aus Ägypten stamme und schon seit einigen Jahren in Europa herrsche. Würde man sie zeitig bekämpfen, stelle sie keine Gefahr dar.111 Die Krankheit war dennoch nicht harmlos; fünf Soldaten wurden 1816 wegen Blindheit entlassen, 1817 waren es bereits zehn, 1818 wieder zehn. Noch war dieses Aufflammen aber nicht so heftig, dass die Erkrankungen überregional für Aufmerksamkeit sorgten. 1819 und 1820 schienen die Erkrankungen abzuflauen, nur je drei Erblindete wurden in diesen Jahren aus dem Regiment entlassen. 1821 befiel die Krankheit die Insassen des der Kaserne angeschlossenen k. k. Erziehungshauses für Knaben; fast alle Jungen erkrankten. Doch auch im Herbst dieses Jahres schien die Krankheit wieder zurückzugehen. Zwischen

108 Der Inhaber und damit Namensgeber des Regiments war Maximilian Freiherr von Wimpffen (1770– 1854), einer der einflussreichsten Militärs seiner Zeit. Wimpffen hatte noch den letzten Krieg der Monarchie gegen das Osmanische Reich (1787–1792) mitgemacht und in den napoleonischen Kriegen gekämpft und erreichte dabei höchste militärische Ränge. 1809 war Wimpffen zum ersten Mal General-Quartiermeister, 1854 bis 1830 bekleidete er diese Position nochmals. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Epidemie war Wimpffen noch Kommandant der k. k. Truppen in Venetien. Vgl. zu Wimpffen: Constantin von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 bis 1850 im Kaiserstaate und in seinen Kronländern gelebt haben, Bd. 56, Wien 1888, 252. 109 Rosas bezog sich in seiner Darstellung auf die Schilderungen Assalinis. Vgl. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 394. 110 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824. 111 Vgl. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 399.

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1815 und 1822 hatte das Regiment nicht weniger als 47 Soldaten durch völlige oder teilweise Erblindung verloren.112 1822 kam es zur großen Krise. Im Frühjahr trafen neue Soldaten aus den Ergänzungsbezirken des Regiments in Venedig und Padua ein. Geradezu explosionsartig verbreitete sich eine besonders aggressive Form der Augenentzündung. Die Krankenlisten meldeten für die Monate Juni 54, Juli 51 und August 108 Neuerkrankungen. Am 30. August 1822 wurde der dirigierende Stabsarzt von Innerösterreich, ein gewisser Dr. Riedl, nach Klagenfurt entsandt. Riedl entwarf ein anschauliches Bild von der schrittweisen Ausformung der Krankheit: Im ersten Stadium bemerkte man eine kaum merkliche Röthe in der weissen Augenhaut, die weder mit Thränenfluß noch mit besonderer Lichtscheue oder Schmerz verbunden war, höchstens nur das Auge unrein oder schmutzig zeigte, und drey bis fünf Tage in ganz gleichem Zustande anhielt. – Im zweyten Stadium vermehrte sich die Röthe der Bindehaut, Lichtscheue und Thränenfluss traten ein, die Augenliedränder schwollen, und bey einzelnen Kranken stellte sich noch überdies ein anhaltendes oder auch aussetzendes, leicht schmerzhaftes Gefühl ein; das Auge schien trübe und die schiefen Augenmuskeln besonders wirksam. Dieser Zustand ging längstens in vier bis fünf Tagen in das dritte Stadium über.  – Die Gegenwart des dritten Stadiums bezeichnete eine Anschwellung des ganzen Augapfels der durch die gleichzeitige grössere Anschwellung der Augenlieder in seinem Umfange noch vergrösserter erschien; ausserdem beobachtete man eine heftige Lichtscheue und krampfhafte Verschliessung der Ciliar- und Orbicular-Fasern. Das Auge konnte gar nicht mehr geöffnet werden, und es quoll ein dicker, pechartiger Eiterstoff sowohl aus dem inneren Winkel, als längs des Verlaufes der knorpeligen Ränder hervor, welcher durch seine Schärfe die Wangen aufätzte. Oft war in diesem Zustande einiger Schmerz im kranken Organe vorhanden, oft war aber auch das Auge ganz schmerzlos; oft entstand vor dem Übertritt ins dritte Stadium ein augenblicklich heftiger Schmerz, der einige Stunden anhielt und mit dem Eintritte des Eiterflusses beendet zu seyn schien.113

Riedl hielt die herrschenden sanitären Verhältnisse, das Klima und die Marsch- und Exerzierbelastungen der Soldaten für die herausragendsten krankheitserzeugenden Faktoren. Entzündungen waren nach herrschender Lehre in erster Linie mit „antiphlogistischen“ Maßnahmen zu behandeln. Schon kurz nach seinem Eintreffen ordnete er deshalb die Durchführung von Aderlässen und die Verabreichung einer besonders mageren Diät an. Darüber hinaus bemühte man sich, die Kranken so gut wie möglich voneinander zu trennen, denn man vermutete sehr wohl ein „Contagium“ als Überträger der Krankheit. Das fruchtete jedoch nur wenig. Auch der herbeigeholte Stabsarzt konnte die Epidemie nicht stoppen. Riedl suchte nach einigen Anordnun-

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Vgl. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 401–404. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 407f.

Die Epidemie von Klagenfurt

gen, die im Wesentlichen die Therapie und die Unterbringung der Kranken betrafen, das Weite; kurz nach seiner Abreise lag der Stand der Erkrankten wieder bei 205.114 Im Herbst 1822 geriet die Situation außer Kontrolle. Die Empfehlung Riedls, doch auf lange Märsche zu verzichten und die jungen Männer langsam an die Veränderungen des Militärdienstes zu gewöhnen, erwies sich wohl als nutzlos. Im Dezember wurde mit dem Regimentsarzt Dr. Wilhelm Werneck115 ein ausgesprochener „Contagonist“ zu dem Regiment geschickt. Seine Beschreibung der Vorgänge und der zu ergreifenden Maßnahmen veränderten das Bild von den Augenentzündungen völlig. Werneck war überzeugt davon, dass die Krankheit hoch ansteckend sei und auf direktem Wege übertragen werden könne; die Maßnahmen Riedls erwiesen sich als unzureichend. Auf der Reise nach Klagenfurt ergriff Werneck bereits in Leoben, wo Teile der Einheit einquartiert waren, erste Maßnahmen zur Trennung der Kranken von den gesunden Soldaten, ordnete die Auskochung der Wäsche „in scharfer Lauge“ an, die Reinigung der Zimmer und das Tünchen der Wände.116 Werneck sah den Zusammenhang, den Riedl abgelehnt hatte; aus seiner Sicht handelte es sich bei der in Klagenfurt herrschenden Augenkrankheit um die „aus Ägypten in unseren Welttheil verpflanzte“.117 Werneck änderte auch die Therapie; statt der mageren Diät riet er zu stärkender Ernährung und brachte Augensalben mit Kupfer-Vitriol zur Anwendung.118 Auch er unternahm in Klagenfurt 1823 Tierversuche mit der Übertragung der Augenentzündung auf Hunde und Vögel – mit negativem Ausgang.119 Werneck stellte eine Reihe von Sätzen auf, die die Natur der von ihm beobachteten Krankheit zusammenfassten: Die Krankheit bleibe auch nach der Zerstörung des Augapfels ansteckend; durch eine „rheumatische Complication“ könne die Metamorphose der Schleimbälge des Auges zurückgedrängt werden. Die Entzündungen seien zunächst „accessorisch“ und stünden nicht immer in einem direkten Verhältnis mit dem Puls. Daraus leitete er ab, dass auch das „anti-phlogistische Verfahren“120 der immer wiederkehrenden Blutentziehungen keinen nachweisbar dauerhaften Einfluss auf das Zurückgehen der Krankheit habe. Und noch dies: Die Krankheit gefährde nie das Leben, aber

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 411–418. Wilhelm Werneck wurde in Klagenfurt geboren und war nach dem Studium Arzt beim 3. FeldjägerBataillon und 1822 Regimentsarzt in Salerno. Nach dem Aufenthalt in Klagenfurt war er in Salzburg tätig, wo seine Publikation über Versuche zur Lichtkoagulation des Auges Aufsehen erregte. Er starb 1843. Eine Bibliographie gibt das Lexikon der Medizinischen Schriftsteller von Callisen. Vgl. A. C. P. Callisen, Medicinisches Schriftsteller-Lexicon der jetzt lebenden Aerzte, Wundärzte, Geburtshelfer, Apotheker, und Naturforscher aller gebildeten Völker., Altona 1835, 46; und Gerabek Werner E. u. a., Enzyklopädie Medizingeschichte [Encyclopaedia of Medical History], Berlin, Boston 2007, 1071. 116 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 426–430. 117 Ebd., 428. 118 Ebd., 457. 119 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 541. 120 Als „Phlogosis“ wurde die Entzündung bezeichnet. Otto. Dornblüth, Wörterbuch der Klinischen Kunstausdrücke. Für Studierende und Ärzte, Leipzig 1893 (unveränderter Nachdruck 1999), 102. 114 115

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immer das „Gesicht“ (d. h. die Sehkraft).121 Auch wenn sich bei anderen Arten der Augenentzündungen Auflockerungen in der Bindehaut zeigen würden, so hätten sie doch niemals eine solche Beschaffenheit wie die Granulationen der in Klagenfurt zu beobachtenden Augenentzündung, die immer körnig und hart seien. „Jedes einzelne Korn zeigt beständig bald eine ovale, bald eine runde Gestalt, und dies ist das charakteristische Zeichen sowohl im Anfange als zu Ende unserer Krankheit.“ Man dürfe die Zerstörung der Granulationen nicht zu lange verschieben, sonst würden sie die Entzündungen zu sehr steigern und unterhalten.122 Werneck gelang es, die Krankheit, die mittlerweile mehrere hundert Soldaten erfasst hatte, in den Spitälern unter Kontrolle zu bringen: Unter den akut Kranken und Rekonvaleszenten ging die Zahl der Rückfälle stark zurück; in den Kompanien nahmen die Erkrankungen aber weiter zu. Werneck war der Ansicht, dass vor allem die Kasernierung und die damit verbundene „gemeinschaftliche militärische Lebensart“ für die immer weitergehende Verbreitung verantwortlich seien und trat mit einem ungewöhnlichen  Vorschlag hervor: Man solle die Kasernierung aufheben und die Soldaten in zivile Quartiere verlegen.123 Wernecks Vorschlag mag selbst jene, die seiner kontagonistischen Ansicht etwas abgewinnen konnten, verstört haben. Die Soldaten, unter denen die Krankheit so fürchterlich wütete, frei unter der Bevölkerung zu verteilen, erschien höchst ungewöhnlich, auch wenn man damit offenbar einem bereits in Preußen geübten Beispiel folgte. Angesichts der Umstände setzte das Grazer Militär-Kommando eine gemischte ärztliche Kommission aus Zivilisten und Militärs ein, die sich mit der Frage beschäftigen sollte.124 Von 27. bis 30. April tagte die Kommission und kam einstimmig zu dem Schluss, dass es notwendig sei, die Mannschaften aus den Kasernen zu verlegen. Wenig klar war man sich darüber, wohin man die Mannschaften verlegen sollte. Während sich Werneck für eine Verlegung in zivile Quartiere – zu den „Landleuten“ – ausgesprochen hatte; äußerten einige Kommissionsmitglieder Bedenken. Es sei von Werneck selbst bestätigt worden, dass die Krankheit sich oft wochenlang im Verborgenen entwickle und schon in diesem Stadium hoch ansteckend sei; außerdem habe man von der Unterbringung der Soldaten bei der Zivilbevölkerung die Verbreitung von Lustseuchen und Krätze zu erwarten. Man kam zu dem Schluss, dass es besser sei, die Soldaten in andere Gebäude zu verlegen, um zumindest die bestehenden Kasernen gründlich zu reinigen und damit von dem Kontagium zu befreien.125 Dass diese Maßnahme keine Verminderung der Verbreitung der Ansteckung bringen konnte, war einigen – mutmaßlich jenen, die der Argumentation Wernecks tatsächlich folgten – dagegen schon klar. „Andere Mitglieder wendeten dagegen ein, daß ersterwähnte Massregeln keineswegs hinreichend wären, um das Übel

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Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 543. Ebd., 545. Ebd., 547. Ebd., 549. Ebd., 550.

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gänzlich auszurotten, weil sie immer wieder ein Casernenleben unter einer andern Form zu Stande brächten, und dabey die Berührung mit dem Landvolke nicht aufgehoben seyn würde; somit nur die einzelne Verlegung durch längere Zeit auf dem Lande die besondere Empfänglichkeit für die Krankheit zerstören könne.“126 Die Unklarheit über die tatsächliche Entstehungsform der Krankheit ließ nur manche Maßnahmen als vertretbar erscheinen; intensiv wurde über Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung debattiert: Die Wundärzte der Landstriche, in die die Soldaten verlegt werden sollten, sollten in Klagenfurt genauestens über die Krankheit informiert werden, die Mannschaften selbst jeden zweiten Tag untersucht werden und „sowohl das Landvolk als das Militär soll[e] jede wechselseitige Berührung so viel möglich vermeiden“.127 4.5

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Britische Ärzte hatten die Krankheit schon 1803 als ansteckend beschrieben, Frank und andere hatten diesen Standpunkt übergenommen. Die Zeitgenossen sprachen von Contagiosität128 und meinten damit die direkte Übertragbarkeit eines nicht näher zu beschreibenden Krankheitsstoffes von Mensch zu Mensch. Dieses Kontagium konnte sich in Sekreten verbergen oder auf kurzen Entfernungen durch die Luft übertragen werden. Mit diesem Konzept verbunden war im Falle der „Ägyptischen Augenentzündung“ auch die klare Herleitung des Übertragungsweges aus Ägypten. Die Vorstellung eines „Virus“ oder „Bakteriums“ erscheint heute zwingend; das Kontagium des Jahres 1820 war es jedoch keineswegs – die Idee davon war genauso flüchtig und zweifelhaft wie für die Menschen der Gegenwart eine magische Praxis.129 Mit dem Auftreten der ersten Fälle im Kaisertum Österreich wurde diese Frage der Krankheitsentstehung auch hier brennend. In Italien hatte sich Annibale Omodei (1779–1840) zu einem der glühendsten Verfechter der Übertragbarkeit der Krankheit

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 552. Ebd., 553–555. Der Begriff der „Contagiosität“ ist nicht mit unserem heutigen Verständnis von Ansteckung gleichzusetzen. Burkhard Eble führt etwas später, 1839, in seiner historischen Analyse der Vorstellungen der Krankheitsentstehung eine für die Augenentzündungen spezifische Unterscheidung zwischen verschiedenen Vorstellungen von „Contagiosität“ ein. Eble spricht synonym mit „Contagiosität“ von „Ansteckung“ und beschreibt Erklärungsmodelle einer solchen als „per contactum“, z. B. durch die Aufbringung „schleimigeitriger“ Materie auf ein gesundes Auge, auf eine nicht materielle Weise „per aspectum“ (durch bloßen Anblick) oder „ex spiritibus“ oder „per exspirationibus putridis“, also etwa durch fäulige Dämpfe, die ein gesundes Auge berühren würden. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 21. Für eine weitergehende Diskussion der Frage siehe den Abschnitt über die Pest in dieser Arbeit sowie allgemein: Peter Baldwin, Contagion and the state in Europe, 1830–1930, Cambridge 2005. 129 Noch 1895 schreibt der Wiener Medizinhistoriker Puschmann 1895, 37 in einem historischen Abriss der Krankheitsentstehungslehren über seine Gegenwart, dass die Forschung zur „Aetiologie der Krankheiten noch zahlreiche Lücken“ aufweise. 126 127 128

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aufgeschwungen. Sein Werk „Cenni sull’ottalmia contagiosa d’Egitto e sulla sua propagazione in Italia“ erschien 1816 in Mailand und führte den Beweis, dass die Krankheit seit der Rückkehr der italienischen Truppenteile Napoleons unaufhörlich in Italien grassiert sei.130 In der Salzburger „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ wurde seine Arbeit wegen ihrer Kompromisslosigkeit verrissen. Die Auseinandersetzung um die Frage, ob die Krankheit nun „contagiös“ sei, also in erster Linie durch direkte Übertragung eines unsichtbaren „Contagiums“ entstehe, oder vielmehr lokal aufgrund bestimmter Umstände entstehen könnte, entzweite die Ärzteschaft in ganz Europa und zunehmend wagte man es weniger, dies gänzlich von der Hand zu weisen. In Preußen hatte sich die Vorstellung, dass die Krankheit durch ein aus Ägypten kommendes Kontagium erzeugt werde, bereits durchgesetzt, nachdem das preußische Heer in den Jahren nach den Napoleonischen Kriegen große Verluste hinnehmen hatte müssen. Auch in der preußischen Literatur war man zunächst über die Übertragbarkeit der Krankheit unsicher gewesen; die ersten Werke erschienen etwa 1815 und 1816131. Auch hier wurde der Staub, der den Fußtruppen ins Gesicht schlug, als wesentlichste Krankheitsursache bezeichnet.132 Die Werke aus Preußen wurden unmittelbar auch in der Salzburger „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ rezensiert. Dass die Krankheit ansteckend sein könnte, hatte der Rezensent der Salzburger „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ (wahrscheinlich Hartenkeil selbst) bereits 1817 anerkannt; er wolle der Krankheit die „Ansteckungsfähigkeit nicht vollkommen absprechen“ und „nicht so gänzlich wie der Verfasser [Baltz] in Abrede stellen, daß in den ausgesonderten krankhaften Stoffen des entzündeten Auges etwas Giftiges liege, und durch Berührung mit dem Finger, mit Leinen u. s. f. auf ein gesundes Auge übertragen werden könne.“ Er wolle dies nur andeuten, um die „nähere Prüfung und Beurteilung desselben Anderen zu überlassen“.133 Diese Einschleppung der Krankheit „aus Ägypten“ stand für den anonymen Regimentsarzt, der in Klagenfurt 1817 die ersten Fälle beobachtete, in keinem Gegensatz zu anderen Erklärungsmustern, die mehr in den sanitären Verhältnissen der Unterbringung des Regiments begründet waren. So erklärte er fast im selben Atemzug den Zustand eines nächst der Bequartierung dieser Compagnie gelegenen Abtrittes und den Rauch der nahen Sparküche zu den „vorzüglichsten Gelegenheitsursachen“ der Entstehung der Krankheit.134 Im Mai und Juni 1823 wurden die Truppen schließlich verlegt; im Dominikaner-Kloster in Friesach, im Augustiner-Kloster in Völkermarkt, im Schloss Loretto, in den Schlössern Freyenthurm, Hallegg und Ehrenhaus wurden 130 Seine Abhandlung wurde 1820 ins Deutsche übersetzt. Vgl. A. Omodei/E. Wolf, Abhandlung über die ägyptische ansteckende Augenentzündung und ihre Verbreitung in Italien, Frankfurt 1820. 131 Vgl. dazu C. A. Weinhold: Über eine heftige, der ägyptischen Ophthalmie ähnliche, epidemische Augenkrankheit, beobachtet im k. Preuss. 4. Reserve-Regiment, Dresden 1815. 132 Omodei/Wolf, Abhandlung über die ägyptische Augenentzündung, 1820, 33. 133 Rezension: Th. F. Baltz: Die Augenentzündung unter den Truppen in den Kriegsjahren 1813–1815, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 1817, 118–122, 120. 134 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 399.

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Quartiere für insgesamt 458 Mann geschaffen; die Rekonvaleszenten blieben in Wolfsberg, Völkermarkt und im Schloss Tanzenberg bei Klagenfurt.135 Werneck, der in Klagenfurt gerade die rigorosesten Maßnahmen gesetzt hatte, um die Weiterverbreitung der Krankheit zu stoppen, geriet scheinbar dennoch unter Druck seiner Kollegen, denn schon im Juli wurde neuerlich eine Kommission nach Klagenfurt geschickt.136 Anfang Juli erhielt der Ordinarius für Augenheilkunde der Universität Wien, Anton Edler von Rosas (1791–1855) den Befehl, sich nach Klagenfurt zu begeben. Die Vorkommnisse beim Regiment Wimpffen mussten in diesen Monaten bereits weiteste Kreise gezogen haben; an der Spitze der nun neu gebildeten Kommission stand der Direktor der Josephinischen militärarztlichen Hochschule, Johann Nepomuk Isfordink (1776–1841)137, sowie die Militärärzte Riedl, Muzzarelli und Eble  – sowie der bereits stark involvierte Werneck. Auf ziviler Seite waren der Landes-Protomedicus von Steiermark und Kärnten, der Kreis-Physikus und drei Vertreter der chirurgischen Akademie in Klagenfurt vertreten.138 Wichtigster Protagonist dieser Kommission war aber der Wiener Augenspezialist Anton von Rosas. Rosas nahm im Sommer 1823 die Verhältnisse vor Ort in Augenschein und verwendete viel Zeit darauf, die genauen Verhältnisse in dem betroffenen Regiment zu klären. Ein Bericht aus dem Jahr 1814, in dem die Namen einiger bereits Erkrankter samt ihrer militärischen Laufbahn und ihren Krankengeschichten erfasst waren, wurde von ihm genauestens analysiert. Zwei der Hauptleute des Regiments waren bereits mit der napoleonischen Expedition in Ägypten gewesen und hatten dort Augenerkrankungen überstanden.139 Anton Rosas besah sich Berichte, nahm Einsicht in die Akte der Militärverwaltung und rekonstruierte mit Akribie das Geschehen und das Aufflammen und Abschwellen der Krankheit. Die Unterlagen, die ihm von den Ärzten zur Verfügung gestellt wurden, ließen den Verlauf der Krankheit nachvollziehen. Manches deutete darauf hin, dass es sich zumeist um einfache Bindehautentzündungen handelte. Der Unterarzt Dinner schilderte die Krankheit in einem von Rosas aufgegriffenen Bericht 1818 so:

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 554. Die Gründe für die neuerliche Bildung einer Kommission erschlossen sich aus den mir zugänglichen Quellen nicht. Die Beschreibung der Angelegenheit in einer späteren Schrift legt aber eine Erklärung nahe: Möglicherweise unterstellte man Werneck, die Erkrankung durch sein Handeln im Zuge der Zusammenziehung weiter verbreitet zu haben. Burkhard Eble, eines der Kommissionsmitglieder schrieb 1839, dass sich die Krankheit 1823 stark verdichtet habe, nachdem Werneck alle Verdachtsfälle in den verschiedenen Stationen des Regiments untersucht hatte. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 37. 137 Johann Nepomuk Isfordink trat nach Absolvierung seines Studiums in Freiburg in die österreichische Armee ein. Isfordink setzte sich für die Gleichstellung der Josephsakademie mit den Universitäten ein, ab 1822 war er oberster Feldarzt der Armee sowie Direktor der der Akademie. Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, 1957, 43. 138 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 558. 139 Ebd., 397. 135 136

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Die Kranken klagten Anfangs über ein Jucken an den Rändern der Augenlider, vorzüglich an den Augenwinkeln, über ein Gefühl, als wenn sich Sandkörner unter den Augenlidern befänden, und sahen sich gezwungen, öfters an den thränenden Augen zu wischen. Die Augenlidränder rötheten sich zuerst ohne anzuschwellen, in der Folge aber, wo ihre Röthe zunahm, wurden sie auch etwas wulstig und beym Berühren empfindlich. Die Kraft, das obere Augenlied aufzuheben, war ziemlich beschränkt, so zwar, daß die Kranken mehr aus dieser Ursache, als wegen Lichtscheue die Augen geschlossen hielten. Sie klagten über einen brennenden Schmerz in der ganzen Umgebung des Auges, welches immer lichtscheuer wurde, und zugleich seine Bindehaut von vielen rothen Gefässen durchschlängelt zeigte. Des Morgens fand man die Augenlider mit eiterförmiger Materie stark verkleistert. Die Schmerzen nahmen immer mehr zu. Bey manchen Individuen war ein fieberhafter Puls zugegen, bey vielen nicht.140

Rosas deckte das Versagen seines Kollegen Dr. Riedl in seinem  Bericht so gut wie möglich zu und lobte die Bemühungen Riedls außerordentlich; ob eine Bekanntschaft oder Freundschaft ihn dazu bewogen hat, vermögen wir heute nicht mehr zu sagen; es ist jedoch augenfällig, dass Riedls Berichte über die Krankheitsentstehung sich mit den Ansichten Rosas deckten. Trotz der Erwähung eines „Contagiums“, das zur Verbreitung der Krankheit vor Ort beitragen könne, sahen sowohl Riedl als auch Rosas die Ursachen in klimatischen Verhältnissen und den Umständen der soldatischen Ausbildung. Der Verlauf dieser Augenentzündung (von der angenommen werden darf, dass es sich um eine andere, von den neu eintreffenden Soldaten eingeschleppte Krankheit handelte) frappierte sowohl Riedl als auch seinen Interpreten Rosas. Letzterer schlussfolgerte, dass es im Sommer 1822 zu einer „Umwandlung der Krankheit“ gekommen sei, und zwar in Folge eines Orkans, der in Klagenfurt Mitte Juli gewütet hatte. Innerhalb weniger Stunden waren 24 Soldaten schwer erkrankt, fünfzehn von ihnen erblindeten an beiden Augen, neun an einem Auge.141 Die Übertragbarkeit der Krankheit anerkannte Rosas nur in den fortgeschrittenen Stadien. Folgerichtig waren für Rosas und Riedl vor allem die Umstände der Krankheitsentstehung zu bekämpfen. So wie der Eingang der Krankheit offenbar nur in der catarrhalisch-rheumatischen Beschaffenheit begründet lag, und, einer Influenza gleich, mehrere Individuen befallen konnte, ebenso wurde durch die atmosphärische Einwirkung der ganze Krankheitscharakter in seinem Verlaufe vermischt und bösartig verändert, ja zu einem krankhaften Producte geführt, das als solches die Fähigkeit, Ansteckung zu verbreiten, erlangen musste.142

Wesentlich waren für Rosas dabei besonders die Lebensumstände, mit denen die Soldaten konfrontiert waren. Da es für Rosas nicht denkmöglich war, anzunehmen, dass 140 141 142

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 400. Ebd., 407. Ebd., 412.

Kontagiös, oder doch nicht?

die Soldaten das Kontagium aus Italien mitgebracht hatten, es aber evident gewesen zu sein schien, dass vor allem die nachrückenden Soldaten davon betroffen waren, mussten andere Argumentationsketten gebildet werden, mit denen die betreffende Gruppe beschrieben werden konnte. Rosas beobachtete anhand der Berichte Riedls die Charakteristika der Gruppe und schlussfolgerte: Die vorwiegend jungen einrückenden Soldaten wären weder an das Klima noch an die Nahrung und die Kleidung gewöhnt. Mit bloßem Halse und einem großen Strohhute versehen lebte der Mann früher; nun mußte er beym Militär den Hals mehr oder weniger geschlossen und gepreßt, den Kopf schwer bedeckt, sich den Sonnenstrahlen und jeder atmosphärischen Einwirkung preis geben. Der freye Blutumlauf, und besonders der Rückfluss des Blutes vom Kopfe ward hierdurch nothwendig gehemmt und gestört, und auf diese Weise schon ein wichtiges Moment zur Erzeugung der Augenkrankheiten gegeben.143

Auch der Straßenstaub und die langen Märsche zum Truppenübungsplatz, die mit besonders frühem Aufstehen und später Rückkehr verbunden waren, wurden als Gründe angeführt. Entsprechend waren die wesentlichsten Empfehlungen Riedls, dass man sich bei der Ausbildung der jungen Soldaten mäßigen und die Märsche zum ExerzierPlatz nur nachmittags durchführen solle, da an den Morgen in Klagenfurt immer Nebel herrschen würden, die die Entstehung der Krankheit befördern würden.144 Rosas und Werneck wurden in diesen Tagen des Sommers 1823 zu Gegenspielern. Unter Druck stand Werneck, der sich gegen Vorhaltungen der gesamten Kommission wegen seiner kontagonistischen Ansichten zu wehren hatte. Werneck hatte sich in englischen und preußischen Schriften über die Krankheit informiert145 und bereits 1819 eine Arbeit über den Hospitalbrand vorgelegt.146 Die Bedeutung der Reinigung, die schon Frank angeführt hatte, und die Möglichkeit, die Augen durch Einbringung von Salben zu schützen, wie es auch von der ägyptischen Bevölkerung gemacht wurde, findet sich in Wernecks Instruktionen wieder: Jeder Kranke erhalte sein eigenes Waschbecken, und eben so sein eigenes, nicht zu grobes, reines Handtuch. Letztere müssen täglich durch frische ersetzt, die unreinen täglich mit Seife und Lauge gewaschen werden. Zum Auswischen der Augen gebe man jedem Kranken sein eigenes feines Leinwandfleckchen. – Der Arzt selbst wasche sich zur Vorsicht öfters die Hände mit Wasser und Seife. – Als präservativ-Mittel für Ärzte, Krankenwärter etc. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 412f. Ebd., 414. Werneck, der in Klagenfurt die Verhältnisse genau studiert hatte, berichtete im Jahr 1824 ebenfalls von seinen Eindrücken, allerdings nicht in den österreichischen medizinischen Medien, sondern nach Gent in Belgien, wo sein Bericht ebenfalls abgedruckt wurde. Vgl. Schmidt‘s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin,1841, 361f. 146 Werneck hatte am Josephinum studiert und sich bereits in einer 1819 erstmals veröffentlichten Arbeit mit dem Hospitalbrand als „contagiöser Krankheit“ beschäftigt. Die Arbeit wurde 1847 neu aufgelegt. Vgl. Werneck, Kurzgefasste Beitraege zur Kenntniss der Natur, 1847. 143 144 145

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Die Ägyptische Augenkrankheit und die Veränderung des ärztlichen Denkens in Europa

diene eine Salbe aus einem Scrupel Unguenti Neapolitani und einer Drachme einfacher Wachssalbe, täglich zwey – drey Mahl in die Augenlieder eingerieben.147

Dieser kurze Absatz ist für die spätere Geschichte der Wiener Medizin von nicht geringer Bedeutung. Rosas erreichte in den 1840er-Jahren höchste Verwaltungsfunktionen in der Sanitätsverwaltung sowie am AKH und galt in der medizinhistorischen Literatur als besonderer Gegner Semmelweis’ und seiner hygienischen Maßnahmen.148 In den vorliegenden Berichten schien er dazu eine ganz andere Meinung gehabt zu haben; hinsichtlich der „Umstülpungen“ der Augenlieder, bei denen die Ärzte die Schleimhäute direkt berühren mussten, wies Rosas – zwanzig Jahre vor Semmelweis – deutlich darauf hin, dass „bedacht zu nehmen sey, dass die von unreiner Materie besudelten Finger des untersuchenden Arztes nicht eher, bis sie sorgfältig gereinigt worden sind, zur Untersuchung der Augen verwendet werden“.149 Die hygienischen Maßnahmen, die Werneck in Klagenfurt in Vorschlag gebracht hatte, entsprachen jenen Empfehlungen, die in der Literatur der Zeit verhandelt wurden – und zwar mit Bezug auf die ägyptische Expedition. In Annibale Omodeis „Abhandlung über die ägyptische ansteckende Augenentzündung“ wird das Auswaschen der Augen als wesentliche Schutzmaßnahme angeführt, die „nicht sowohl um den ihnen etwa anklebenden Ansteckungstoff zu verdünnen“, durchgeführt werden solle, sondern weil sie dadurch vor der Augenentzündung bewahrt werden könnten.150 Überhaupt liegt es nahe anzunehmen, dass das Erfahrungswissen vieler Ärzte und Laien an manchen Stellen schon weiter war, als es die allgemeine Medizingeschichtsschreibung vermuten lassen würde – es war freilich noch wenig in klare Konzepte gekleidet. Im April 1823 debattierte man in der (ersten) Kommission zu Klagenfurt auch hygienische Details, die dieser Epoche gemeinhin nicht zugeordnet werden: „Ein anderes Mitglied fügte hinzu, daß der Landmann sich nicht des Wassers zum Waschen, und des Handtuches zum Abwischen bedienen soll, welches der Soldat gebraucht hat; auch soll sich letzterer sehr rein halten, und täglich die Augen und das Gesicht zwey Mahl mit reinem Wasser waschen.“151

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 423f. „So musste Rosas mit einigen seiner – insgesamt sonst recht vernünftigen – Gedanken über notwendige Verbesserungen des Medizinstudiums und der ärztlichen Ausbildungsordnung erheblichen Anstoß erregen. Außerdem stellte sich Rosas an die Seite jener Vertreter der Wiener Medizinischen Schule, die die Reformbestrebungen des aufstrebenden Geburtshelfers Ignaz Philipp Semmelweis (1818–1865) im Kampf gegen das Kindbettfieber ablehnten. Rosas hatte persönlichen Anteil daran, den beruflichen Aufstieg und die Anerkennung von Semmelweis in Wien durch die Ablehnung der Verlängerung seiner klinischen Assistentenzeit zu verhindern.“ Schmidt-Wyklicky/Gröger, Anton von Rosas, 2012, 288. 149 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 620. 150 Omodei bezieht sich dabei übrigens direkt auf den Briten White, von bereits zu lesen war: Omodei/ Wolf, Abhandlung über die ägyptische Augenentzündung, 1820, 12. 151 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 554. Auf die Notwendigkeit der Hygiene hatte schon der Brite Vetch 1807 hingewiesen. Vgl. Vetch/Michaelis, John Vetch, Geschichte der Ophthalmie, 1817, 12. 147 148

Kontagiös, oder doch nicht?

Werneck stellte fest, dass die im Vorjahr nach der ersten, leicht verlaufenen Epidemie auf Urlaub nach Hause nach Italien geschickten Kranken nun neue, schwerere Verlaufsformen zeigten und nahm wohl an, dass sie diese mitgebracht haben mussten. Er verfügte, dass der Regimentsarzt Dr. Muzzarelli in die Ergänzungsbezirke des Regiments reisen sollte, um dort die Ärzte über den Krankheitsverlauf zu informieren. Es sei, so berichtete Werneck, dem „hohen illyrisch-innerösterreichischen General-Commando“, ganz außer Zweifel gesetzt, daß der Ansteckungsstoff des Übels dem Regiment schon bei seiner Errichtung angehaftet sei; die Ansteckung komme nicht nur durch Berührung, sondern auch auf anderen Wegen zustande.152 Die Frage der Krankheitsentstehung wurde zum großen Diskussionspunkt in der neu gebildeten Kommission, in der sich, wie es schien, die Zivilärzte um Rosas eher für eine lokale Entstehung der Krankheit in Klagenfurt aussprachen, während die Militärärzte eher die Ansteckungsfaktoren betonten. Das Klima Kärntens, die Nähe der Berge, die das Sonnenlicht kondensierter ins Tal werfen würden und die „im Tage oft mehrmahl, besonders früh und Abends eintretenden Temperatur-Wechsel, so wie durch die aus dem nahen Sumpfe und See gebildeten Nebel“ seien Gründe auch für das Zunehmen der Augenleiden. Die Rolle, diese Ansichten zu bestätigen, kam den in der Kommission zugezogenen lokalen Klagenfurter Ärzten zu.153 Werneck versuchte bereits in der ersten Sitzung, Belege dafür vorzulegen, dass die Krankheit schon seit vielen Jahren in dem Regiment herrschen würde; die Beweise, die er auf die Aussagen von Offizieren stützte, wurden jedoch verworfen.154 Weitere Faktoren wurden in Betracht gezogen: der Zustand des Wassers, das von Werneck einer „chemischen Analyse“ unterzogen worden war, des Getreides, die Kleidung der Soldaten, die man für die aus Italien kommenden, an leichte Kleidung gewohnten Mannschaften als „zu schwer“ bezeichnete, und die Koinzidenz mit Syphilis und Krätze. Ob die Menage denn ausreichend und gut sei; ob die Mannschaft beim Exercieren nicht zu schwer beladen sei und ob die Ordonnanz-Dienste nicht gar zu stark seien?155 All das sei schädlich, erklärte Rosas; besonders das frühe Aufstehen und die schlechte Kleidung; man könne wohl nicht abstreiten, dass die Krankheit in ihren höheren  Graden ansteckend sei; glaubt man den (veröffentlichten) Berichten Rosas, so hatte sich die Kommission, der auch Werneck angehörte, schließlich darauf geeinigt, „dass der ex- und intensiv stärkere Grad der Contagiösität dieser catarrhalischen Augen-Entzündung eine ansteckende Kraft durch den vielleicht schon im Regimente seit seiner Errichtung haftenden Ansteckungs-Zunder erhalten haben mag.“ Aus Ägypten käme die Krankheit jedenfalls nicht.156 Wernecks Vorstellung von der Übertragung wurde in

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Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 429f. Ebd., 566. Ebd., 561. Ebd., 566–580. Ebd., 591.

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einem Endbericht zusammengefasst, den er im Frühjahr 1823 vorgelegt haben dürfte. Darin heißt es sinngemäß: Die Ansteckung könne nicht nur durch unmittelbare Berührung, sondern auch „miasmatisch“ passieren, wenn sich das „Contagium“ in warmer Luft auflöse und der Kranke sich eine unbestimmte, längere Zeit sich in dieser Atmosphäre aufhalte. Der Organismus eigne sich dieses Kontagium an, ohne stürmisch dagegen zu reagieren, und das Kontagium „drückt ihm schleichend seinen eigenen Charakter auf“.157 Die hier verhandelten Themen trafen den Nerv der Zeit und reizten ihn vielleicht auch. Der Leiter der Kommission, der Militärarzt Isfordink, schien die Ergebnisse der Kommission genau verfolgt zu haben. Kurz nach den Ereignissen von Klagenfurt gab Isfordink ein grundlegendes Werk zur „Militärischen Gesundheits-Polizei“ heraus, in dem genaue Anleitungen für den Umgang mit Rekruten, die Kasernierung und Märsche gemacht werden. Mit den Märschen solle man es bei den jungen Rekruten nicht übertreiben, hieß es in dem Buch ganz im Sinne Rosas’. Während des Marsches sollten die Rekruten so „viel wie möglich, geschonet werden, damit sie nicht erkranken, ehe sie nach und nach das ordentliche Marschieren gewöhnen.“ Nie dürfte daher ein InfanterieRecruten-Transport mit Kavallerie begleitet werden, weil die Züge dadurch zu schnell würden und überhaupt sei die Schonung junger Rekruten während des Marsches angezeigt, „weil die Gefahr der Erkrankung bei ihnen grösser ist“.158 Auch der Gedanke der richtigen Unterbringung der Soldaten fand sich bei Isfordink wieder: So sollten Soldaten bei Verlegungen nicht in Massenquartieren untergebracht werden, sondern auf möglichst viele Stationen aufgeteilt werden; auch sollten die Soldaten eine Lagerstätte aus Stroh und ein Leintuch erhalten, damit sie sich entkleiden können und sich nicht mit ihrer Kleidung bedecken müssen; auch sonst wird auf die Reinigung der Kleidung großer Wert gelegt.159 Isfordink selbst sprach von der „contagiösen Augenentzündung“, die in „neueren Zeiten“ genauer untersucht worden wäre, enthielt sich aber einer genaueren Darstellung der Krankheit selbst, wie überhaupt Krankheitsbeschreibungen in dem Buch kaum vorkommen.160

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 541. Vgl. Johann Nepomuk Isfordink, Militärische Gesundheits-Polizei, mit bes. Bez. auf die k. k. österreichische Armee, Wien 1825, 72. 159 Ebd., 77. 160 Sehr wohl ging er aber auf das Thema der Reinlichkeit genauer ein und kritisierte, dass die bisherigen Vorschriften, die zwar das Waschen der Augen und der Hände vorsehen würden, viel zu wenig weitreichend seien. Erst jüngst habe man darauf aufmerksam gemacht, dass es wichtig sei, sich auch hinter den Ohren und im Genick zu waschen und die Haut im Ganzen sei überhaupt zu sehr vernachlässigt. Vgl. ebd., 222–230. 157 158

Eine oder mehrere Krankheiten?

4.6

Eine oder mehrere Krankheiten?

Aus der Debatte um die Entstehung der Krankheit leitete sich noch eine zweite Frage ab, die den Diskurs prägte: Handelte es sich bei der „Ägyptischen Augenentzündung“ überhaupt um eine eigene Krankheit? 1822 konnte der Augenarzt Helling in Berlin bereits klar verschiedene Formen der Augenentzündung unterscheiden; namentlich den Augentripper (der durch die Geschlechtskrankheit hervorgerufen wird) vom eigentlichen Trachom und anderen, von ihm als catharrhisch bezeichneten Formen.161 Helling sah die Spezifizität der von ihm als „contagiösen Augenentzündung“ bezeichneten Krankheit bereits als gegeben an. Für ihn gab es nicht viele verschiedene Ausprägungen, sondern klar voneinander zu trennende, einzelne Erkrankungen.162 Diesen Schritt hatte auch Werneck vollzogen; der gründliche Kliniker Rosas dokumentierte auch dies in seiner Veröffentlichung der Vorgänge im Jahr 1823, obwohl er Wernecks Meinungen dazu ganz und gar nicht teilen konnte. Noch eine zweite Sache störte Rosas: Er wollte den von Werneck genau beschriebenen Besonderheiten der „Ägyptischen Ophthalmie“ nicht den Stellenwert einer eigenen Krankheit einräumen. Man würde sich erinnern, schrieb Rosas in seiner umfangreichen Beschreibung der Ereignisse, dass „Hr. Regiments-Arzt Dr. Werneck die Klagenfurter Augenkrankheit für ein eigenes, von allen anderen Augenleiden verschiedenes, angeblich aus Ägypten abstammendes, durch Contagium in unseren Welttheil verbreitetes Übel erklärte.“163 Vielmehr handle es sich bei den in Klagenfurt aufgetretenen Krankheitsfällen um zwei Grade ein und desselben Übels, einem gewöhnlichen, dem Lehrbuchwissen entsprechenden Augen-Catarrh. Rosas musste sich mit dieser Feststellung bereits unter Rechtfertigungsdruck gesehen haben; der möglichen Kritik vorgreifend räumte er gleich ein, dass, obwohl „große Gelehrte“ wie Schmidt164, Beer165, Himly und andere Autoritäten seiner Zeit die Symptome der Klagenfurter Erkrankung nicht beschrieben hatten, es doch klar sei, dass schon so manches „in der Medicin und Chirurgie von berühmten Männern übersehen, manches behauptet, und doch wieder in in der Folge von ihnen selbst widerrufen“ wurde.166 Rosas wies die Behauptung, dass die Augenentzündung, „welche in neueren Zeiten – in mehreren europäischen Heeren epidemisch herrschend war“, von einem „von Aegypten her mitgetheilten Contagium allein herzuleiten sey“, strikt zurück. Vielmehr sei die Krankheit in den meisten Fällen ganz unabhängig unter dem Einfluss „ähnlicher Schädlichkeiten“ wie in Ägypten entstanden und überhaupt den in Europa verbreiteten „catharrischen“ Augenerkrankungen gleich zu

161 162 163 164 165 166

Vgl. Helling, Praktisches Handbuch der Augenkrankheiten, 1822, 124–128. Ebd., 130. Vgl. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1826, 394. Himly und Schmidt, Ophthalmologische Bibliothek. III. Bd. I St., 39. J. G. Beer, Lehre von den Augenkrankheiten. Wien 1813, I. Band, 301. Vgl. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1826, 400.

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halten.167 Rosas hielt sich mit dieser Einschätzung an seinen Lehrmeister Beer, der 1817 ein Lehrbuch zur Augenheilkunde veröffentlicht hatte. Auch bei dem besonders systematischen Beobachter Beer hatte die „Ägyptische Augenentzündung“ noch keine Berücksichtigung gefunden.168 Diesem Gedanken blieb Rosas zeitlebens treu. Genervt schrieb Rosas in seiner „Lehre von den Augenkrankheiten“, die er 1834 als Grundlage für seinen ophthalmologischen Unterricht veröffentlichte, dass es überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, von der „Ägyptischen Augenentzündung“ gesondert zu sprechen, wenn es nicht „immerfort Ärzte gäbe, die wahrscheinlich durch Omodei verleitet, es für eine unbezweifelte Thatsache annehmen, daß die ägyptische Ophthalmie ganz eigenthümlicher, von allen bisher gekannten Augenübeln verschiedener Natur sey, und sich seit dem Jahre 1801 durch Ansteckung nach Europa verpflanzt habe.“169 Die einschlägige Literatur hatte die Augenentzündung längst zu einer „ägyptischen“ erklärt. Auch Rosas musste das akzeptieren; dennoch verwies er genau auf jene Werke, die in der jüngsten Vergangenheit in Preußen erschienen waren. „Man lese die verschiedenen Monographien, welche von der contagiösen Augen-Entzündung in den europäischen Armeen handeln, nach, und man wird sich überzeugen, daß diese Krankheit fast überall unter dem Einflusse ähnlicher Schädlichkeiten entstanden und weiter gediehen ist, wie diejenigen waren, welche das Regiment Wimpffen trafen, und die von mir in der Ätiologie angeführt wurden.“170 Was den Blick Rosas bestimmte, waren nicht zuletzt die enormen Veränderungen, die das Militärwesen in den Jahren rund um die Napoleonischen Kriege genommen hatte. Als Rosas seine Sichtweise niederschrieb, lag der Wiener Kongress erst zehn Jahre zurück; die langen Kriege in Europa hatten die Bildung großer Volksheere mit Wehrpflicht, Kasernierungen, neuer Kleidung und verstärktem Waffendienst auch in Friedenszeiten mit sich gebracht. Nicht zu Unrecht führte Rosas ins Treffen, dass diese Umstände frühere Soldaten kaum getroffen haben dürften.171 Die Ansichten zu Krankheitsentstehung und Klassifizierung schlugen auch auf die Behandlung durch. Viele der mit der plötzlich auftretenden Epidemie konfrontierten Ärzte standen der Behandlung wohl einigermaßen ratlos gegenüber. Das spiegelte sich auch in den ersten Arbeiten wider, die dazu im deutschen Sprachraum erschienen. In der Salzburger „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ hieß es 1817 über zwei in Berlin und Leipzig erschienene Werke zur Ägyptischen Augenkrankheit, es sei den Autoren „mit derselben gegangen wie den meisten Schriftstellern über epidemische Krankheiten, welche, nachdem sie dieselbe als eine fast neue Krankheit angestaunt, in ihrer Beschreibung eben

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Rosas, Actenmässige Darstellung, 1826, 214. Vgl. Beer, Lehre von den Augenkrankheiten, 1817. Rosas, Lehre von den Augenkrankheiten, 1834, 212. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1826, 402. Ebd., 403.

Eine oder mehrere Krankheiten?

so weitläufig, als in der therapeutischen Behandlung kurz und alltäglich gewesen sind.“172 In Klagenfurt war man da schon weiter. Im Zuge der Sitzungen der Kommission im Juli 1823 konnte Werneck bedeutende Behandlungserfolge vorweisen; laut einer von Rosas nach eigenem Bekunden wörtlich wiedergegebenen schriftlichen Erklärung von Werneck hatte er den Fokus der Behandlung zur Gänze auf die lokalen Erscheinungen konzentriert: „Da in den früheren Zeiten die Heil-Methode nur gegen ein Symptom, und zwar nur, wenn die Krankheit in ihrer ausgebildeten Form als Augentripper da stand, gerichtet wurde, so musste ich, da ihr Wesen sich mir als ein rein contagiöses, durch eine plastische Entzündung vermitteltes, aussprach, einen andern Heilplan entwerfen, der im Allgemeinen auf […] aus der Natur erhobene Gründe gestützt wurde.“173 Werneck erläuterte seine Überlegungen genau: Da es ein von allen Pathologen allgemein an erkanntes Gesetz bey einer contagiösen Krankheit ist, sie in ihrer ersten Entwicklung zu beschränken, damit kein neues Krankheits-Product geliefert werde; so war mein Streben dahin gerichtet, den Ort der ursprünglichen Ansteckung aufzusuchen, den contagiösen Prozess in dem ergriffenen Organe zu beschränken und zu tilgen, ehe er sich zu andern hierin am meisten empfänglichen nahen Gebilden ausbreiten konnte. Dort, wo der Ansteckungsstoff einen raschen, entzündlichen, schnell um sich greifenden contagiösen Prozess hervorrief, wurden diese Erscheinungen auch symptomatisch behandelt, jedoch stets mit genauer Berücksichtigung der Höhe der Entzündung, der Beschaffenheit des Individuums, und der ergriffenen Gebilde.174

Werneck empfahl in diesem Sinne, „auf die Ergreifung solcher medicinisch-polizeylichen Maßregeln so wohl, welche den Ausbruch der Krankheit verhüthen, als auch solcher therapeutischer Maximen, welche die dennoch ausgebrochene Krankheit auf ihren ersten Entwicklungsgrad zu beschränken vermögen, einiges Gewicht zu legen.“175 Dass die von Werneck vorgeschlagenen Maßnahmen dazu gedient hatten, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, musste selbst Rosas zugestehen, auch wenn er sich nicht enthalten konnte, festzustellen, dass Werneck ja nur von den Schritten Riedls profitiert habe.176 Auch in einem zweiten Punkt musste sich die Kommission, ohne es freilich zugeben zu wollen, den Ansichten Wernecks anschließen; dass es sich nämlich um zwei verschiedene Erkrankungen handelte. Die Unterschiede wurden dementsprechend heruntergespielt; so hätten sich unterschiedliche Darstellungen überhaupt nur daraus ergeben, daß der Regiments-Arzt Werneck die Natur und erste Entstehung des Leidens aus einem eigenen Contagium erklärt, die Mehrheit der Stimmen aber im Einklange mit der Mei-

172 Rezension: Th. F. Baltz: Die Augenentzündung unter den Truppen in den Kriegsjahren 1813–1815, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 1817, 118–122, 118. 173 Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 595. 174 Ebd., 596. 175 Ebd., 597. 176 Ebd., 599.

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nung des Prof. Rosas in der Natur dieser Augenkrankheit den catarrhalischen Charakter erkennt, welcher jedoch durch die beym Regimente Baron Wimpffen herrschenden äussern Verhältnisse schnell den contagiösen Charakter annehmen kann, und dann auch nach Hrn. Dr. Werneck’s Methode behandelt werden muß. Es gab also von jeher im Verlaufe der Krankheit zwey unterschiedene Charaktere, nähmlich catarrhöse Augenleiden und contagiösgewordene; […] die letzteren, oder höheren, und zur Contagiösität ausgebildeten Augenleiden wurden von ihm selbst, und zwar zweckmäßig behandelt.177

Auch Wernecks Behandlungsmethoden wurden auf den Prüfstand gestellt und mit dem Wissen der herrschenden Lehrbuchmedizin abgestimmt. Letzlich stimmte man zu, indem man sie als entsprechend bezeichnete: Da die von Werneck eingeführte Behandlungsart „sowohl der contagiösen Infection, als dem entzündlichen und chronischen Stadio entspräche, und die anti-phlogistische so wie die alterierende oder reitzende Methode nach individuellen Bestimmungen angewendet werden“, so hätte man keine Einwände dagegen.178 Offenbar hatte es diesbezüglich deutliche Beschwerden gegen Werneck gegeben. Behandlungen hatten nach der herrschenden Lehre stark auf die individuelle Krankheitsform einzugehen; vitalistische Vorstellungen von der Stärkung der Lebenskraft und den Selbstheilungskräften des Körpers standen im Vordergrund. In Preußen hatten einige Ärzte diese Erklärungsansätze bereits verworfen. Helling wies ebenso wie schon zuvor Frank auf die Gefahren falscher Behandlung hin: Das „abscheuliche“ Blutabzapfen habe sehr viele Kranke für ihre ganze Lebenszeit „siech und elend“ gemacht; die unzweckmäßige oder vernachlässigte Reinigung der Augen und die Erkältung der Füße. Auch würden die Fliegen, die die Kranken umgeben, zur Verbreitung der Krankheit beitragen, worauf der Brite MacGregor aufmerksam gemacht habe.179 Werneck hatte sich gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, dass seine Behandlungen zu wenig „individualisierend“, zu „stürmisch“ und „zu tief eingreifend“ gewesen seien; doch selbst Rosas sah sich gezwungen, diese Anschuldigungen gegen Werneck zurückzuweisen, da er „bis zum Schlusse der commissionellen Sitzungen keine andern Mittel in Anwendung kommen sah, als solche, die gegen das catarrhalische Augenübel in seinen verschiedenen Stadien und Modificationen von den Augen-Ärzten gebraucht zu werden pflegen.“180 Es scheint, als ob man sich zwar in der Herleitung der Krankheitsentstehung uneinig war, die Behandlungsmethodik Wernecks aber nicht wesentlich von der allgemein anerkannten abwich. In Werneck und Rosas standen sich nicht nur ein „Kontagonist“ und ein Anhänger der Lehre von der epidemischen Konstitution gegenüber; der Militärarzt Werneck mag mit den Lehren des Schotten Brown, die sich mehr der lokalen Krankheit als den von der Säftelehre beeinflussten ganzheitlichen Krankheits177 178 179 180

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 602. Ebd., 602. Helling, Praktisches Handbuch der Augenkrankheiten, 1822, 136f. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 605.

Die Augenentzündung wird „orientalisch“

modellen verbunden fühlte, sympathisiert haben. Rosas stand auf der konservativeren Seite, die sich nun an den vitalistischen Ideen Hufelands orientierte. Der praktische Erfolg der Therapien Browns hatte aber auch bei den „Konservativen“ zu einem Eklektizismus geführt, der sie viele Therapieansätze übernehmen ließ. Die Schule Browns und die klassischen, konservativen Behandlungsmethoden glichen sich im Laufe der Zeit an. Man hatte erkannt, dass auch die stärkenden Mittel Nutzen brachten. Rosas konnte im Zuge der Auseinandersetzung um die „Ägyptische Augenentzündung“ in Klagenfurt 1823 daher mit Recht davon sprechen, dass sein Opponent Werneck in therapeutischer Hinsicht nicht gegen die herrschende Lehre verstoßen hatte.181 Noch im Juli unterbrach die Kommission ihre Arbeit und richtete eine Eingabe – samt Empfehlung, das Regiment weg vom ungesunden Klima Klagenfurts nach Italien zu verlegen – an den kaiserlichen Hof. Anfang September trat die Kommission erneut zusammen; der Abzug des Regiments war nun angeordnet worden; dem Prof. Rosas erteilte die „allerhöchste Entschließung“ des Kaisers den Auftrag, zu entscheiden, ob denn die Mannschaften wie von Dr. Werneck vorgeschlagen „täglich durch Umstülpung der Augendeckel“ untersucht werden sollen. Diese unscheinbare Bestimmung macht klar, wie sehr man auch bei den höheren Stellen, die die Entschließung für den Kaiser vorbereitet haben werden, über die tatsächliche Natur der Krankheit im Unklaren war. Rosas stimmte zu; nicht ohne sich allerdings sofort vom eigentlichen Sinn der Maßnahme zu distanzieren. Nicht weil er etwa das Vorhandensein eines Kontagiums befürchte, sondern lediglich deshalb, weil es sicher von Nutzen sei, allfällige Erkrankungen so rasch wie möglich zu erkennen.182 4.7

Die Augenentzündung wird „orientalisch“

Auf die Literatur der französischen Ärzte aus Ägypten zurückgreifend, war Rosas in seiner Arbeit nochmals eindeutig für die atmosphärisch bedingte Krankheitsentstehung in den Ring getreten. In Ägypten würden letztlich genau wie von ihm beschrieben Verhältnisse vorherrschen, die die Krankheitsentstehung begünstigten: Die „heißen, dichte Staubwolken führenden Südwinde“, der rasche Temperaturwechsel zwischen Tag und Nacht, die salzige Atmosphäre, das grelle Licht, die Ausdünstungen der Moraste des Landes nach Rückfluss des Nilwassers, das Verbrennen des Kuhmists, die Bauart der Wohnungen des ärmeren Volkes, die Gewohnheit, unter freiem Himmel zuzubringen, der Genuss fetter Nahrungsmittel, die Unreinlichkeit, das zu warm Halten des Kopfes, all das seien Gründe für die Krankheitsentstehung. Wenn ihn die Zeugnisse von Reisenden nicht trügen, so kämen ähnliche epidemische Verhältnisse auch in Persien

181 182

Zum Eklektizismus vgl. Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 83. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 619–622.

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und in mehreren Südsee-Inseln häufig vor; „und ich bin geneigt zu glauben, dass dies selbst in mehreren Gegenden Europas der Fall ist, unter andern in Sicilien, in England, am Niederrhein, in Kärnten u. s. w.“183 In einem 1826 erschienenen Nachtrag zur 1824 erfolgten Veröffentlichung der Kommissionsprotokolle setzte sich Rosas auch nochmals mit der Herkunft der Krankheit auseinander. Er glaube nicht, „dass es jemand nöthig finden wird, den ersten Ursprung fraglicher Ophthalmie in Africa zu suchen, wenn es in unserem Clima, und namentlich bey unseren Kriegsheeren der schädlichen Potenzen genug gibt, die jenes Leiden erzeugen können.“184 In Rosas Beschreibung kamen trotzdem Bezüge zum Orient vor, von denen er sich je nach Argument abgrenzen oder aber sie als vertraut vereinnahmen wollte. Dabei wird ein Bild entworfen, wie es die medizinische Literatur des 19. Jahrhunderts über den Orient prägen sollte. Die Winde als Erklärungsmuster für die Entstehung der Augenkrankheiten in Ägypten wurden bereits von Prosper Alpin erwähnt, der die „Augenkrankheiten“ bereits im 16. Jahrhundert den „Winden der Atmosphäre“ zugeschrieben hatte.185 Durch die genaue Prüfung der Literatur gelang es auch jenen Ärzten, die selbst nie in Ägypten oder anderen Ländern des östlichen Mittelmeerraumes gewesen waren, Widersprüche in den Begründungen für bestimmte Sachverhalte aufzudecken.  1820 dekonstruierte Omodei (Ludwig Frank folgend) die Hinweise, die Augenkrankheiten entstünden aufgrund der Temperaturschwankungen mit dem Verweis auf das Klima in Bagdad und Mossul, das sich von dem Ägyptens nicht wesentlich unterscheide. Keinen größern Glauben verdient auch die Meinung derjenigen, welche sie ableiten wollten von dem beständigen Wechsel der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht. In den Wüsten, welche Ägypten umgeben, in den Wüsten Arabiens, zu Damask, Bagdad, Mossul ist der Unterschied der Sonnenhitze und der Kühle der Nacht viel fühlbarer als in Ägypten; und dennoch werden die Araber und die Bewohner dieser drei Städte ungleich weniger von dem Augenübel geplagt, als die Ägypter.186

Omodeis Übersetzer Wolf bemühte sich offenbar, die Aussagen zu den klimatischen Verhältnissen weiter zu prüfen; in einer Fußnote führte er eine Stelle aus der deutschen Übersetzung von de Sacys „Neuesten Beiträgen zur Kunde der asiatischen Türkei“ als Beleg187 an. Das Klima von Bagdad ist sehr gesund und von ansteckenden Krankheiten befreit. Die Gesundheit des selben schützt jedoch nicht gegen die übermässige Hitze, welche man im Sommer daselbst empfindet; auch sind die Einwohner, um sich derselben zu entziehen, genöthigt, sich des Tags über eine geraume Zeit in ihren Kellern aufzuhalten, wo sie sich 183 184 185 186 187

Rosas, Actenmässige Darstellung, 1824, 405. Ebd., 402. Omodei/Wolf, Abhandlung über die ägyptische Augenentzündung, 1820, 25. Ebd., 30. Sacy/Ehrmann, Neueste Beiträge zur Kunde der asiatischen Türkei, 1809.

Die Augenentzündung wird „orientalisch“

einer köstlichen Kühlung erfreuen; ihrer Gewohnheit gemäss schlafen sie des Nachts auf den Altanen oder Söllern, ohne sich dadurch Beschwerden zuzuziehen.188

Rosas bewegte sich in diesem Denkstil. Die Krankheit, die letztlich dieselbe sei wie diejenigen, die auch in Europa immer schon geherrscht hätten, könne sich in Ägypten umso leichter ausbreiten, als „die große Sorglosigkeit der Landesbewohner, wie auch der Mangel aller Polizey-Gesundheits-Anstalten, die Verbreitung ansteckender Krankheiten begünstigt.“189 Vor dem Hintergrund einer als glorreich empfundenen klassischen Antike konnte nur ein krasser Verfall zu den beschriebenen Verhältnissen geführt haben. Die Gründe dafür erkannte Rosas – der Ägypten nie besucht hatte und sich bestenfalls auf die Meinungen Dritter stützen konnte – in der Religion: Die fragliche Augenkrankheit ist in Ägypten seit der Eroberung dieses Landes durch Mahomets Nachfolger weit verheerender, als ehedem; allein aus leicht zu errathenden Gründen: weil nämlich jene Eroberung Ägypten aus einem gesunden, wohlangebauten, gut bevölkerten Lande in ein großentheils wüstes, ungesundes schlecht bevölkertes verwandelt, und somit die Veranlassungen zur Augenkrankheit bedachter Art in einem hohen Grade vermehrt hat.190

Schon 1824 ließ Rosas in Wien seinen Assistenten Johannes Radziwonski eine Dissertation zur im Militär grassierenden Augenentzündung verfassen. Die Arbeit hieß „De Ophthalmia catarrhalo epidemice inter milites regnante“ – der Hinweis auf Ägypten, der in den meisten Werken zur Augenentzündung in dieser Zeit vorkam, wurde, wohl aufgrund der Ansichten seines Lehrers, tunlichst vermieden.191 Das Bild vom Niedergang wird auch in der Dissertation von Rosas’ Assistenten bemüht: „Aegypten, die ehemalige Wiege der Wissenschaften und der Cultur, wurde durch die verheerenden Hände der Barbaren in eine Sandwüste umgewandelt, und ist zur Niederlage der Seuchen geworden“, schreibt der Autor mit Bezug auf die Werke von Larrey, Assalini, Frank, Bruant und Savaresi, ohne zu begründen, wie es den Arabern gelungen war, hunderttausende Quadratkilometer Sandwüste herzustellen.192 Der wenig informierte Wiener Assistent Rosas’ hatte das Orientbild, das auch Rosas nur aus zweiter Hand haben konnte, bereits absorbiert. Der Niedergang des Orients durch den Islam war ein feststehendes Motiv; auch Omodei hatte zuvor festgestellt, dass „Herodot, Strabon, Diodor von Sizilien u. A. gleichfalls den ägyptischen Himmel als der Gesundheit zuträglich gelobt haben, ehe dieses Land unter den Despotism der Anhänger Muhammeds gerathen war.“193 Just jenes MoVgl. Omodei/Wolf, Abhandlung über die ägyptische Augenentzündung, 1820, 30. Rosas, Actenmässige Darstellung, 1826, 405. Ebd., 405. Johannes de Radziwonski, De ophthalmia catarrhali epidemice inter milites grassante (germ.)-Diss. inaug. med, Wien 1824. 192 Ebd., 3f. 193 Omodei/Wolf, Abhandlung über die ägyptische Augenentzündung, 1820, 33. 188 189 190 191

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ment, das der Krankheitsentstehung am meisten zuträglich war, fehlte in den Beschreibungen der orientalischen Zustände: die Sauberkeit. Auf die persönliche Sauberkeit der Menschen war der Blick der Ärzte erst wenig gerichtet. Die städtischen Bewohner Ägyptens und des Osmanischen Reiches galten – zumindest in den gehobeneren Schichten – aufgrund der häufigen Besuche der Bäder als reinlich; wo die Krankheit in Massen auftrat, in den Dörfern der ländlichen Bauern und in den Armeen der Europäer, herrschte dagegen Schmutz. Dieser wurde zwar bemerkt, aber nur von wenigen mit der Krankheit in Zusammenhang gebracht. Die Zuschreibung der Krankheit zu Ägypten als eine ansteckende („contagiöse“) ist eine militärische Erzählung; Militärärzte beobachteten ihre Verbreitung als erste und sahen den Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt europäischer Truppen in Ägypten und ihrer Verbreitung von dort nach Europa. Mehrheitlich waren es vor allem die Militärärzte, die die Ansteckungskraft der Krankheit betonten und ihre Gedanken davon leiten ließen. Ein Militärarzt war es auch, der als erster betonte, dass die Krankheit für Europa keineswegs neu sei. Man habe die Krankheit in Europa bloß vergessen, schrieb der britische Militärarzt John Vetch (1783–1835) nach dem Studium historischer Texte schon 1807194. Die Kliniker Europas, die die Verbreitung vor Ort erlebten, stellten hingegen die sozialen Verhältnisse in den Vordergrund. Das genauere Hinsehen auf Verlauf und Zeichen der Krankheit veränderte den Umgang mit ihr in den Jahren zwischen 1820 und 1840 entscheidend. Einer der Ärzte, die mit Rosas im Sommer 1823 die Ereignisse in Klagenfurt zu beurteilen hatten, war der schon eingangs erwähnte junge Militärmediziner Burkhard Eble. Der aus Württemberg stammende Eble hatte in Wien am Josephinum Medizin studiert und war danach am Garnisonsspital in Wien tätig.195 Bereits 1828 publizierte er eine Arbeit über die Entzündungen der Bindehaut.196 Eble schrieb sich in einem 1839, im Jahr seines Todes, erschienenen Buch zu, „wohl mehr als irgend ein anderer Arzt unserer Armee“ zur Diskussion der Frage qualifiziert zu sein197, eine selbstbewusste Behauptung, die auf gutem Fundament gegründet war. Nachdem er im Sommer 1823 in Klagenfurt die Verhältnisse inspiziert hatte, kehrte Eble nach Wien zurück, wo ihm die Leitung der Behandlung der Augenkranken des Garnisonsspitals anvertraut worden war. Eble bekam dort zunächst nur wenige an der fraglichen Form der Augenentzündung Erkrankte zu sehen.

194 Vorwort des Autors; deutsche Übersetzung: Vetch/Michaelis, John Vetch, Geschichte der Ophthalmie, 1817. 195 Burkhard Eble, (*Weilerstadt/Württemberg, 6.11.1799; † Wien, 3.8.1839), studierte seit 1815 an der Josephsakademie in Wien, war danach Oberarzt am Garnisonsspital, und wurde 1821 zum Wiener Artilleriedistrikt versetzt. 1822–32 war er Prosektor an der medizinisch-chirurgischen Akademie. 1830 wurde er zum Dr. chirurg. und Magister der Augenheilkunde promoviert, 1832 Regimentsarzt. Vermutlich wegen einer Erkrankung wurde Eble dann Bibliothekar am Josephinum, wo er 1837 krankheitshalber in den Ruhestand versetzt wurde. (ÖBL 1815–1950, Bd. 1, Lfg. 3, 1956, 210). 196 Eble, Ueber den Bau und die Krankheiten der Bindehaut, 1828. 197 Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 34.

Die Augenentzündung wird „orientalisch“

Augenentzündungen waren ab 1817 auch in Wien zwar verstärkt aufgetreten; doch es erscheint möglich, dass sie vor allem verstärkt beobachtet wurden, denn ihr Auftreten koinzidiert auch mit den ersten Jahren der eben neu gegründeten Wiener Augenklinik und der Einrichtung einer ersten, abgetrennten Behandlung von Augenkranken am militärischen Garnisonsspital. Akribisch wurden die Erkrankungen aufgezeichnet. Zwischen 1817 und 1827 verzeichnete Eble als Chronist der Wiener Augenerkrankungen dieser Zeit 173 akute oder hochgradige Blennorrhoen198, unter denen auch die Fälle der Ägyptischen Augenentzündung subsumiert waren.199 1825 kam es zum ersten epidemischen Ausbruch unter einem Pionierregiment in Mauer bei Wien, das hauptsächlich aus Italienern bestand. Die im Vergleich zu den Klagenfurter Vorkommnissen kleine Epidemie bot den Militärärzten, allen voran Eble, die Möglichkeit, unter klinischen Bedingungen an der Krankheit zu forschen. Eble hatte sich in Klagenfurt wohl den Ansichten Wernecks angeschlossen, soweit das angesichts der kritischen Sichtweisen des gewichtigen Rosas möglich war. In seinem 1828 erschienenen Werk über die Erkrankungen der Bindehaut sprach Eble in diesem Sinne von der „contagiösen“ Augenentzündung. Unter dem Einfluss der in Klagenfurt erprobten Maßnahmen zur Hebung der Ordnung wurden aber im Garnisonsspital die Bemühungen um Reinlichkeit und zur Unterbindung von „Unfug unter den Kranken“ verstärkt: Denn seitdem mit aller Schärfe auf die strenge Befolgung des Verbots gegen das Tabakrauchen in den Krankenzimmern, gegen die Besuche von andern Kranken, gegen die Spielgesellschaften, und gegen die Verstopfung der Luftzugslöcher gehalten, und auf der andern Seite auf die gewissenhafteste Handhabung einer pünktlichen Reinlichkeit in allem, was auf dem Krankensaale zu geschehen hatte, und überhaupt auf die, das ärztliche-, Polizey- und Wachpersonale sowohl, als auch die Kranken lebhaft durch dringende Ueberzeugung von der Nothwendigkeit und Zweckmässigkeit des Angeordneten hingearbeitet wurde, sahen wir nicht allein den Spitaldienst vereinfacht, ordentlicher und angenehmer, sondern auch seinem Hauptzwecke – der Heilung der Kranken – wirklich entsprechender werden.200

Die Vorstellungen von der Notwendigkeit reiner Luft, „guten Climas“ klingen hier durch; und der Nutzen, den die militärische Ordnung obwohl für den Dienst der Krankenversorgung als auch für den Heilungsprozess hatte. Eble nutzte die Chance der klinischen Bedingungen zur Forschung und unternahm Experimente hinsichtlich der lokalen Behandlung der Krankheit; er versuchte, die Granulationen an der Binde198 Der Begriff der „Blennorrhoe“ bezeichnet eine schleimige bzw. eitrige Bindehautentzündung und wurde schon in der Antike beschrieben. Im Sprachgebrauch Piringers und seiner Zeitgenossen ist die Begriffsverwendung noch unspezifisch. Heute bezieht er sich besonders auf die bei Neugeborenen zur Erblindung führende Augenentzündung („blennorrhoea neonatorum“). Vgl. Gerabek/Haage/Keil/Wegner, Enzyklopädie Medizingeschichte, 2007, 186. 199 Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 35. 200 Eble, Ueber den Bau und die Krankheiten der Bindehaut, 1828, 227.

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haut aufzustechen, mit Säuren wegzuätzen und mit Essig zu behandeln und informierte sich über die entsprechenden Versuche anderer Kollegen.201 Eble eröffnete einen klinischen Blick auf die Krankheit und ihre Formen und Zeichen. Vorstellungen einer ganzheitlich zu verstehenden, mit den Methoden des humoralpathologischen therapeutischen Apparats zu behandelnden Krankheit lösten sich langsam auf. Mit einer dichten Beschreibung versuchte Eble der Entwicklung der Krankheit auf die Spur zu kommen und blieb dennoch gleich Rosas bemüht, den klaren Zusammenhang zwischen den seinem Konzept entsprechenden, katarrhalischen Augenentzündungen und der „Ägyptischen Augenentzündung“ zu beweisen. Das schien ihm auch zu gelingen: Ich bemerkte nämlich alsbald, wie eine dem Anscheine nach ganz reine catarrhalische Augenentzündung binnen kurzer Zeit, etwa 10–12 Tagen zuerst das ursprünglich verschont gebliebene Auge auch befiel, sodann abwechselnd in beyden sich verschlimmerte, oder wenigstens in gleicher Intensität anhielt, wieder besser ward, und wie endlich die Conjunctiva palpebrarum202 zuerst in dem anfänglich allein ergriffenen, später aber auch in dem andern Auge allmählig von ihrer gewöhnlichen Beschaffenheit in eine allgemein dunklere Röthung, in ein dichteres Gefässnetz, mit einem Worte in eine sogenannte villöse Auflockerung, und nach verschiedener Gradation endlich auch in die unzweydeutigste Granulation überging, und so für den paradigmatischen Nosologen auf einmal den Stämpel der contagiösen Ophthalmie an sich trug. Bey nunmehr verdoppelter Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand hatte ich einige Male sogar die Freude, diese Metamorphose nicht allein von Auge zu Auge, sondern in den verschiedenen Parthien der Conjunctiva gleichsam Schritt für Schritt Platz greifen zu sehen.203

Der Versuch, der Krankheit habhaft zu werden, sie zu fassen, bereite Eble „Freude“, die er bis an das Totenbett selbst der lethalen Ausgänge verfolgen konnte. Das Beispiel des italienischen Soldaten Marcus Franzoni erscheint wie ein verfrühtes Schulbeispiel der Rokitanskyschen pathologischen Sektionen: Derselbe war schon am 3. September 1825 mit einer rein catarrhalischen Augenentzündung 17 Tage im Spital gelegen. Davon geheilt kam er am 4. October mit einer ähnlichen neuen Affection abermals dahin zurück. Ausser etwas vermehrter Röthe mit geringer Anschwellung der Conjunctiva war nichts Besonderes zu bemerken. Im November darauf nahmen aber alle Symptome nach und nach so zu, dass sich schon am 15. d. M. wirkliche Granulation gebildet hatte. Die Conjunctiva palpebrarum verlängerte sich dann in Form zweyer bedeutender sulzartiger Lappen gegen den Bulbus204 hin, welche am 7. December mit der Scheere

201 202 203 204

Eble, Ueber den Bau und die Krankheiten der Bindehaut, 1828, 220. Der Begriff bezeichnet die am Augapfel aufliegende Bindehaut des Lids. Eble, Ueber den Bau und die Krankheiten der Bindehaut, 1828, 143f. Augapfel.

Die Augenentzündung wird „orientalisch“

abgetragen wurden. Darauf bildete sich die Granulation nach und nach so aus, dass sie sich Ende Decembers wirklich maulbeerartig darstellte. Während diess im linken Auge vorging, blieb das rechte fortan verschont. – Es wurden nun fast alle möglichen Mittel zur Vertilgung dieser, dem Anscheine nach ganz örtlichen Krankheit in Gebrauch gezogen, und schienen wirklich endlich einen ganz günstigen Erfolg zu haben, als der sonst so blühende Mann von einem Fieber befallen wurde, woran er starb. Ich bekam seinen Leichnam zu Gesichte, und erkannte meinen ehemaligen Patienten sogleich, der nun auch nach dem Tode noch zur genauern Untersuchung seiner Conjunctiva verwendet wurde.205

Eble schien in Wien einigen Nachdruck hinter die Untersuchungen gelegt zu haben. Nicht nur der verstorbene italienische Soldat Franzoni, sondern auch jene, die die Krankheit bereits überstanden hatten, gar nicht in Spitalsbehandlung gewesen waren und ihn aus anderen Gründen aufsuchten, wurden zum Gegenstand seiner Untersuchung. In seinem 1828 über die Erkrankungen der Bindehaut veröffentlichten Werk berichtete Eble, dass „sich diese Leute nicht wenig über mein bedenkliches Forschen [wunderten], und über die lang dauernde Untersuchung, indem sie sich für vollkommen gesund hielten“.206 Auch Studierende wurden in diese Beobachtungen miteinbezogen; der Arzt Eduard Göbel schrieb in seiner Würzburger Dissertation 1834, er habe in Wien die Gelegenheit gehabt, die Ägyptische Augenentzündung an den dortigen Augenkliniken drei Mal „sehr genau beobachten“ zu können.207 Manche Ärzte, die die Krankheit in den frühen Jahren ihrer Beschreibung verfolgten, stellten Wechselwirkungen fest; ein preußischer Bataillonsarzt sah die Krankheit völlig verschwinden, wenn sich eine rotlaufartige, starke Entzündung am Arm eingestellt hatte. Auch mit dem Typhus meinte man, Zusammenhänge beobachten zu können.208 Darüber hinaus öffnete er noch eine weitere Perspektive auf die Krankheit: Mit Akribie begann Eble in Wien, nach historischen Belegen für das Auftreten verschiedener Formen der Augenentzündung zu suchen. Die Rekonstruktion von historischen Beispielen zählte zu den anerkannten Methoden des Denkstils, dem Rosas und Eble anhingen. Eble analysierte akribisch über viele Dutzend Seiten die Erwähnungen der Augenentzündungen und suchte zu klären, ob denn in der Geschichte irgendjemand von Kontagiosität der Krankheit gesprochen habe. Die bereits mehrfach erwähnten Arbeiten von Larrey, Desgenettes, Assalini, Savaresi, Pugnet und Frank dienten ihm

Eble, Ueber den Bau und die Krankheiten der Bindehaut, 1828, 144f. Ebd., 142. Eduard Göbel, Über Ophthalmia Aegyptiaca, Univ. Med. Diss., Würzburg 1834, Vorrede. Göbel spezifiziert nicht, an welcher Klinik; es ist davon auszugehen, dass dies an der Universitätsklinik der Fall war, der Rosas vorstand. Der Dissertant Göbel hält es allerdings für ausgemacht, dass die Krankheit aus Ägypten komme und kontagiös sei, was ihn von Rosas unterscheidet. 208 Vgl. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 43. 205 206 207

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als Grundlage für die Analyse dessen, was in der zeitgenössischen Literatur gemeinhin unter der „Ägyptischen Augenentzündung“ verstanden wurde.209 Er teilte seine Funde in jene, die von einer Ansteckungskraft der Krankheit berichteten, und jene, die das nicht taten. Unter denen, die eine Ansteckung durch Kontagium für möglich hielten, hätte aber keiner die notwendigen Konsequenzen gezogen. Eble fiel auf, dass alle diese Aerzte ohne Unterschied bei der Behandlung dieser Krankheit nicht die mindeste Vorkehrung gegen das von ihnen doch vorausgesetzte Contagium treffen; wenigstens findet sich in ihren Schriften keine Spur davon. Keine Vertilgung der Kleidungsstücke, Bettgeräthe, Handtücher u. dgl., ja nicht einmal die Absperrung des Kranken von dem Gesunden findet man besonders hervorgehoben. Sollte hievon der in den Vorzeiten und besonders im Orient allgemein herrschende Fatalismus einerseits, und die auch unter den christlichen Aerzten noch so unvollkommene Ausbildung der Lehre von den Contagien andererseits die alleinige Ursache seyn?210

Die rhetorische Frage am Schluss öffnet ein Fenster mit Blick auf das Gedankengebäude Ebles: Der „vorzeitige“ Fatalismus, der auch dem Orient eigen sei, verhindere die Bekämpfung kontagiöser Krankheit. Aus Sicht Ebles überkommene medizinische Systeme, die auf ganzheitliche Krankheitsvorstellungen abstellen, stehen mit dem „Orient“ in einer Reihe. Die griechischen und arabischen Autoren, die von der Krankheit berichtet hatten, hätten allesamt keinen Beweis dafür geliefert, dass die Krankheit kontagiös sei. Epidemische Augenentzündungen seien auch schon vor der napoleonischen Expedition nachweisbar, eine Herkunft aus Ägypten wollte Eble aus den antiken und neuzeitlichen Quellen allerdings nicht erkennen.211 Die Frage, ob es sich denn nun um eine neue oder doch um eine schon lange bekannte Krankheit handle, war von entscheidender Bedeutung, wenn man sie dem Orient zuordnen wollte. Eble sah die Krankheit nun sehr wohl als eigenständige, rieb sich aber an dem preußischen Augenarzt Rust und seiner 1820 veröffentlichten Arbeit zum Auftreten der Epidemie in Preußen.212 Rust habe dort zu zeigen versucht, dass die Krankheit allein in Ägypten entstanden und von dort kontagiös nach Europa verbreitet worden sei.213 Und er habe behauptet, dass vor Prosper

Ebd., 23. Ebd., 20f. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 19. Zur Beschreibung des Trachoms als selbstständige Krankheitseinheit in der Antike vgl. Trompoukis/Kourkoutas, Trachoma in late Greek antiquity, 2007. 212 Rust, Die Ägyptische Augenentzündung, 1820. 213 Die allgemeine Kenntnis der antiken Autoren war schon in den ersten Publikationen zum Thema präsent. John Vetch erwähnte 1807 bereits Aetius, Alexander von Tralles und Paulus Aegenetus. Für Vetch war klar, dass die von ihm als spezifische Krankheit wahrgenommene Augenentzündung aus Ägypten stammen musste und gleichsam nur dort heimisch gewesen sein könne. Die eindeutige Beschreibung der Symptome 209 210 211

Die Augenentzündung wird „orientalisch“

Alpin niemand irgendwo eine echte Ophthalmie dieses Charakters beobachtet hatte; dies zu widerlegen sei sein erstes Ziel. Indem er dies tat, wies er – gemeinsam mit ihrer Abstammung aus Ägypten – auch die „Contagiosität“ der Krankheit zurück. Wissenschaftlich hatten seine Ausführungen, die er 1839 in dem Buch „Die sogenannte contagiöse oder Ägyptische Augenentzündung“ veröffentlichte, das ärztliche Publikum nicht restlos überzeugen können, vielleicht weil die Herkunft der Krankheit aus Ägypten, die Eble so heftig bestritt, aus dem ärztlichen Diskurs nicht mehr wegzudenken war. Der deutsche ärztliche Verein hatte in St. Petersburg ein Preisgeld ausgesetzt, um die Natur der Krankheit endlich zu klären; Eble bewarb sich mit seiner Arbeit um den  Preis, wurde jedoch abgelehnt. „Der historische Teil zeugt von großer Belesenheit und von grossem Fleisse; die gewonnenen Resultate sind aber nur zur Durchführung der vorgefassten Idee des Verfassers, die moderne Augenkrankheit sey eine uralte, bloße Modifikation der katarrhalischen ausgebeutet“, schrieb man in Petersburg in ein Gutachten, mit dem die Auszeichnung Ebles abgelehnt wurde.214 Eble lehnte den Ursprung der Krankheit in Ägypten vehement ab. Die Idee, dass es keine Augenentzündung gäbe, die man die „ägyptische nennen und als eigene, von der katarrhalischen Augenentzündung pathognomonisch streng geschiedene Augenentzündung“ abgrenzen könne, sei die leitende Idee für sein gesamtes Werk und er erkläre feierlich, dass seine Absicht keine andere sei, als den bereits in die meistern Handbücher der Ophthalmologie eingeschlichenen Irrtum auszumerzen.215 Die Petersburger Ärzte lobten Ebles Werk aber in anderer Hinsicht. Die Arbeit mache „mit Maßregeln bekannt, die zwar hin und wieder angerathen, aber nirgends so vollständig zusammengestellt und so freimüthig empfohlen worden sind, als hier, und deren Nützlichkeit und Ausführbarkeit die Commission in vollem Mass anerkennen muss.“216 Die Erkrankungen in Wien ließen Eble vermuten, dass vielleicht die Italiener besonders für die Augenkrankheit disponiert seien. Genau zehn Jahre nach dem Höhepunkt der Epidemie in Klagenfurt brach die Krankheit dort erneut aus – diesmal aber unter den Mannschaften eines Peterwardeiner Regiments, das in Klagenfurt und verschiedenen anderen Kasernen der Umgebung stationiert war. An demselben Orte und „fast unter gleichen atmosphärisch-tellurischen und Militärdienst-Verhältnissen“, wie Eble festhielt. Damit fiel die besondere Disposition der Italiener, die man noch 1823 als wesentlichen Mitgrund für die Entstehung der Krankheit in Betracht gezogen hatte, als Erklärung aus. Für Eble wurde damit klar, dass keinesfalls ein Kontagium aus Ägypdurch die griechischen Ärzte führte er darauf zurück, dass es lange politische Verbindungen zwischen Griechenland und Ägypten gegeben habe und die Griechen daher wohl auf diesem Wege von der Krankheit erfahren hätten, die sie nach Vetchs Ansicht aus eigener Erfahrung ja nicht hätten kennen können. Vetch/ Michaelis, John Vetch, Geschichte der Ophthalmie, 1817, VII. 214 Eble veröffentlichte Auszüge aus diesem Schreiben im Vorwort zur Drucklegung, was von einer gewissen Größe zeugt. Vgl. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, V. 215 Ebd., VII. 216 Ebd., VI.

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ten, sondern „Klagenfurts geographische, klimatische und metereologische Verhältnisse“ als „einzige und vollgenügende Ursache der Epidemie“ zu betrachten seien. „Die Annahme erscheint umso begründeter, da gleichzeitig viele Leute aus dem Civile, namentlich Landbewohner des Klagenfurter Bezirks an derselben Augenkrankheit litten, und überhaupt letzter in Kärnten gewissermassen, jedoch nur im niedern Grad, endemisch ist.“217 In der Klinik verdichtete sich Ebles Blick auf die Kranken, mit dem Mikroskop versuchte er den Granulationen, von denen bereits der Brite John Vetch geschrieben hatte218 und die er selbst in Klagenfurt gesehen hatte, auf den Grund zu gehen. Eble hielt die Granulationen mit Rosas für eine weitere Krankheitsstufe, die unter bereits Befallenen auftreten konnte, die direkte Übertragbarkeit, die Werneck gesehen hatte, stellte er infrage. Dabei mag er zunächst selbst nicht wenig zur Verbreitung der Krankheit beigetragen haben: Die Augenkranken aller Art waren nicht nach ihrem Wesen abgetheilt, und unter diesen waren allerdings auch einige, die die Merkmale der contagiösen Ophthalmie unverkennbar an sich trugen. Je sorgfältiger ich nun in der Aufsuchung der bezeichnenden Granulation zu Werke ging, desto mehr wuchs die Zahl der contagiösen, so dass mir am Ende kaum die Hälfte übrig blieb, welche ich mit Fug und Recht als ganz frey von Granulation halten konnte. Denn wenn ich eine Bindehaut, welche dem ersten Anscheine nach etwas aufgelockert war, unter meiner Lupe genau betrachtete, sah ich an der Stelle der genannten Auflockerung plötzlich eine Fläche entstehen, die aus lauter dicht neben einander gelagerten runden Erhabenheiten bestand, welche hydatidenförmig, weich, und mit unzähligen Gefässverzweigungen versehen waren.219

Die Frage nach der Bedeutung der Granulationen führte Eble weg von der Pathologie hin zur Anatomie: was es denn eigentlich sei, das die Bindehaut so stark verändere? Hatte man die Granulationen anfangs nur für ein Zeichen der Krankheit gedeutet, so betrachteten Eble, der Preuße Müller und Werneck sie nun immer mehr als Sitz der Krankheit. Über viele Seiten diskutierte Eble 1839 die Frage, ob sich auf der Schleimhaut des Auges Schleimbeutel, Drüsen oder Papillen befänden.220 Die offenbar an den Sehorganen von Verstorbenen gemachten Untersuchungen führten Eble zu einem genaueren Verständnis der unterschiedlichen Strukturen der Bindehaut, die er allerdings nicht mehr weiterführen konnte; er starb 1839.221

Vgl. Eble, Ueber den Bau und die Krankheiten der Bindehaut, 1828,Ebd. 38–40. John Vetch, An account of the ophthalmia, London 1807. Vetch war von der „Contagiosität“ der Augenentzündung überzeugt. Das Buch erschien 1817 vom preußischen Militärarzt Michaelis ins Deutsche übersetzt in Berlin und ist in Wiener Bibliotheken bezeichnenderweise nicht aufzufinden. Vetch/Michaelis, John Vetch, Geschichte der Ophthalmie, 1817. 219 Eble, Ueber den Bau und die Krankheiten der Bindehaut, 1828, 143. 220 Ebd., 118–133. 221 Ebd., 128–133. 217 218

Die Augenentzündung wird „orientalisch“

Während sich der Blick Ebles in der klinischen Praxis in Wien immer mehr auf die charakteristischen Granulationen richtete, schien ausgerechnet jenes untrügliche Merkmal bei den Beobachtungen, die die Ärzte im Orient machten, zu fehlen. 1837 veröffentlichte der bayrische Arzt Jacob von Röser sein Werk „Über einige Krankheiten des Orients“. Röser berichtete darin von einer selbst durchgemachten Augenerkrankung und seinen Versuchen, im Hospital Erkrankte mit granulöser Bindehautentzündung ausfindig zu machen; allein es gelang ihm nicht. Auch die ärztlichen Autoritäten in Ägypten, Clot Bey, Grassi und Marpurgo hatten davon nichts zu berichten.222 Röser lieferte dafür eine ausführliche Beschreibung seiner eigenen Erkrankung. Nachdem die von seinem Freund, dem schon länger in Ägypten tätigen Dr. Franz Pruner verordneten Aderlässe nichts zu nutzen imstande waren, wendete er auf Empfehlung eines nicht namentlich genannten anderen Arztes Kupfer-Vitriol-Lösungen und OpiumTinkturen an, die die offenbar kaum zu ertragenden Schmerzen milderten; die Krankheit klang nach einigen Tagen ab. Die Verwirrung über die Natur der Krankheit nahm jedoch zu, denn der mikroskopische Blick und die ihm entsprechende Sprache, die zum Medium für die Medizin in Europa geworden waren, hatten sich dort nicht verbreitet. „Die von europäischen Aerzten bei der ägyptischen Augen-Entzündung erzählten Granulationen, Trachoma, hirsekornartigen Auswüchse, die Veränderung der Conjunctiva in eine fleischige, sarcomatöse, condylomatöse Masse, konnte weder ich sehen, noch wollen alle Aerzte in Alexandrien und Cairo jemals etwas davon gewusst haben, und erklärten sie als rein europäische Erdichtung“, berichtete Röser. Den Anschluss an diese Sicht- und Sprechweise hatten gerade die alten Praktiker verloren: Der alte Dr. Vernoni, dirigirender Arzt des Tascki-Marine-Spitals, der seit 30 Jahren als Arzt in Aegypten lebt, will niemals etwas von Granulationen oder Excrescenzen der Bindehaut des Augapfels oder der Augenlider gesehen haben. Er kann nicht begreifen, wie wir Europäer einen Unterschied zwischen der Ägyptischen Augenentzündung und einer catarrhalisch-rheumatischen in Europa, wo er sie als junger Arzt beobachtet haben will, machen möchten. Natürlich müsse sie bei der endemischen Constitution heftiger auftreten, welche gesteigerte Intensität der Symptome auch ich als einzigen Unterschied auffinden konnte, und welche Steigerung, wie oben bemerkt, häufig fehlt, sonach keine besondere Species begründen kann.223

Für die (europäischen) Ärzte in Ägypten war es nicht mehr möglich, den Erkenntnissen zu folgen, die die europäische Medizin zur „Ägyptischen Augenkrankheit“ gemacht hatte. Der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault spricht im Zusammenhang mit der Entstehung eines klinischen Denkens von einer „medizinischen Esoterik“, die sich gebildet habe, nachdem der revolutionäre Traum von einer

222 223

Vgl. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 62. Röser, Ueber einige Krankheiten des Orients, 1837, 14.

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absolut offenen Wissenschaft und Praxis verflogen sei; man sehe das Sichtbare zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur mehr, sofern man die Sprache kenne; Dinge böten sich nur dem dar, der in die geschlossene Welt der Wörter eingedrungen sei;224 dieser Gedanke (wiewohl bei Foucault auf einen anderen Sachverhalt abstellend) trifft hier zu. Die ältere Generation der Ärzte im Orient war dabei, den Anschluss an die Sprache der europäischen Medizin und ihrer klinischen Beobachtungen zu verlieren. Röser selbst hatte das erste, 1828 erschienene, Buch Ebles gelesen225 und in Berlin bei dem Augenarzt Gräfe gearbeitet. Er war Ebles Sprache mächtig und begab sich selbst auf die Suche. In Damiette besuchte er eine Offiziers-Schule, die er voller Augenkranker fand – „lauter Türken, im Anfang der Zwanziger Jahre, mit Flecken und Geschwüren auf der Hornhaut“. Dort traf er die von Eble beschriebenen Granulationen an: Bei Untersuchung der conjunctiva palpebrarum fand ich dieselbe bei den meisten dunkelroth mit Verdickung, […] und bei Umstülpung der Augenlider zerfielen diese Körnerähnlichen Punkte in fast Hirsekorn grosse Granulationen, und bildeten […] dicke, wulstige, körnige Falten. Diess war sowohl bei den umgestülpten untern, als bei den schwerer umzustülpenden obern Augenlidern der Fall. In einem Fall waren an den untern Augenlidern an bemerkter Falte des Umschlagens auf den Augapfel Wucherungen, [....] die weich anzufühlen waren.226

4.8

Die Entfernung der „Ägyptischen Augenentzündung“ vom „Orient“

So genau man auch zu schauen versuchte, die Krankheitsentstehung blieb für diese Ärzte in einer Sphäre, in der der mikroskopische Blick und die Systematisierung der Beobachtung an ihre Grenzen stieß. Die Diskussionen um die Krankheitsentstehung und die Krankheitsverortung sind kennzeichnend für die Veränderung des ärztlichen Blicks in dieser Zeit. Foucault fasste diese Veränderungen in ein Bild: Der Blick des Nosographen (also desjenigen, der eine Krankheit beschreibt), war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der eines Gärtners; er hatte „in der Mannigfaligkeit der Erscheinungen die Artwesenheit ausfindig zu machen“.227 Der Blick des Klinikers übernahm zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Rolle, die in den chemischen Verbrennungen dem Feuer zukomme. Erst dieser Blick lässt die Phänomene in einer (vermeintlichen) Reinheit hervortreten, wobei es darauf ankomme, das Verbrennen zu sehen, und nicht das Verbrannte. „Ihre Wahrheit eröffnet sich in einer Zerlegung, die weit mehr ist als eine Lektüre,

Vgl. Foucault, Die Geburt der Klinik, 2016, 129. Röser, Ueber einige Krankheiten des Orients, 1837, 12. Es bleibt anzumerken, dass Röser daraus den Schluss zog, dass die Krankheit eigentlich aus der Türkei stamme. Vgl. Röser, Ueber einige Krankheiten des Orients, 1837, 17. 227 Foucault, Die Geburt der Klinik, 2016, 133. 224 225 226

Die Entfernung der „Ägyptischen Augenentzündung“ vom „Orient“

da es sich um die Freilegung einer implizierten Struktur handelt. Nunmehr sieht man, dass die Klinik nicht einfach das Sichtbare zu lesen hat; sie hat Geheimnisse aufzudecken.“228 Im Beobachten dieses „Verbrennens“ im Foucaultschen Sinne waren Anfang der 1830er-Jahre kontagonistische Erklärungsansätze unter Druck geraten. Die Erfahrung mit der Cholera, die Anfang der 1830er-Jahre alle Sanitätskordons scheinbar übersprungen hatte und auch die in der alltäglichen Praxis zu beobachtenden Fälle der Augenentzündungen schienen der Vorstellung einer Krankheitsentstehung durch Übertragung zu widersprechen. Im Falle der Augenentzündung war es vor allem ihr sporadisches Auftreten, das viele Ärzte beobachten konnten. Wenn die Krankheit so hoch ansteckend sei – warum sah man dann immer wieder Einzelfälle, die scheinbar gar keine Berührung mit anderen Kranken gehabt hatten? Nochmals wurde die ältere Literatur befragt; von dem bereits erwähnten Görzer Arzt Marpurgo wird (nach seinem Tod) noch 1837 berichtet, er habe in Ägypten 300 Soldaten „die eitrige Materie in die Augenspalte zwischen die Augenlider geschmiert“, um zu beweisen, dass die Krankheit nicht ansteckend sei; angeblich ohne dass nur ein einziger die Augenentzündung bekommen habe.229 Eble schrieb 1839: Wäre diese Krankheit wirklich so zu fürchten, wie die Pest, die Blattern u. dgl., so müssten wir doch im Stande seyn, die geschehene Ansteckung wenigstens in den allermeisten Fällen nachzuweisen. Diess ist nun aber erfahrungsgemäss selbst denen nicht möglich, die sich diess falls alle Mühe gegeben haben; vielmehr sind wir in dieser Beziehung auf sehr wenige Fälle beschränkt. […] Die Kranken geben gewöhnlich dem Winde, dem Staube, Rauche u. dgl. Schuld, oder sie sagen, sie wüssten gar keine Ursache anzugeben, gerade so, wie man gegenwärtig nicht sagen kann, auf welche Art man zu der Grippe gekommen. Nur in den allerwenigsten Fällen wird man bei genauer Erforschung herausbringen, dass die Krankheit wirklich durch Zusammenschlafen, Berührung u. dgl. entstanden sey.230

Auch der gegenteilige Schluss – dass nämlich die Krankheit überhaupt nicht zu übertragen sei, wurde falsifiziert. Die Ansicht, dass Schleimhautentzündungen „höheren Grades“ ansteckend sein konnten, hatte sich aufgrund vielfacher  Versuche bereits durchgesetzt, wenn auch mit Abstrichen: In Okzident und Orient experimentierten diejenigen, die sich mit der Behandlung der Krankheit beschäftigten, mit Ausflüssen verschiedener Qualität. Der Regimentsarzt Werneck hatte noch im April 1823 in Klagenfurt einen Versuch an zwei seiner Krankenwärter unternommen, indem er ihre Augenlider direkt mit den abgeschnittenen „Granulationen“ der Ägyptischen Augenentzündung bestrichen hatte. Sie erkrankten beide innerhalb einiger Tage.231 228 229 230 231

Foucault, Die Geburt der Klinik, 2016, 134. Röser, Ueber einige Krankheiten des Orients, 1837, 18. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 156f. Ebd., 164.

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Ein Kollege (und württembergischer Landsmann) Ebles am Josephinum war der Ophthalmologe Friedrich Jäger. Er hatte Versuche mit der Einreibung von Eiter in die Augen an bereits durch den sogenannten „Pannus“ erblindeten Menschen unternommen. Dieser „Pannus“ – eine Wucherung der Hornhaut des Auges – machte die Pupille lichtundurchlässig. Indem Jäger die Erkrankten mit dem Sekret anderer Augenkranker einrieb, löste er eine Augenentzündung aus, die zur Rückbildung dieser Wucherung führen konnte. Eble hatte in diesen „mehrmals mit Erfolg gekrönten“ Versuchen Jägers einen wesentlichen  Beweis dafür gesehen, dass die Augensekrete tatsächlich ansteckend seien.232 Jäger hatte am Josephinum in Wien einen Lehrstuhl für Augenheilkunde erhalten, nachdem er – wie Rosas ein Schüler Beers – bei der Nachfolge an der Augenklinik übergangen worden war. Jäger galt als hervorragender Lehrer, publizierte aber nur wenig; als persönlichem Arzt des Staatskanzlers Metternich mag ihm dazu die Zeit gefehlt haben. Die Schrift, die er 1840 über die Ägyptische Augenentzündung veröffentlichte und die er im Wesentlichen auf seine eigenen Beobachtungen als Militärarzt stützte, ist eines seiner wenigen Werke.233 Lange galt es in der Augenheilkunde wegen der Erkenntnis des Nutzens der Einimpfung des Sekrets einer bestimmten Form der Augenentzündung für die Rückbildung des beim Trachom auftretenden „Pannus“ als bedeutend.234 Wenig überraschend trat Jäger als Kritiker Rosas’ und seiner Schüler auf, indem er den Sinn des Bezugs auf historische Schriftsteller gänzlich infrage stellte. Der ständige Bezug verschiedenster Autoren auf Prosper Alpin und die arabischen und griechischen Ärzte davor sei „so wenig bezeichnend, dass [er] nicht verstehe, wie man daraus eine so bestimmte Folgerung ziehen könne“, um das hohe Alter einer Krankheit zu bestätigen.235 Die Krankheit sei eine selbstständige, die sich vor der Invasion Napoleons in Ägypten nicht in Europa gezeigt habe, auch wenn das zunächst – dem Zeitgeist entsprechend – noch relativiert wurde.236 Diese Relativierung wurde von ferneren Beobachtern geradezu als Kennzeichen der Wiener Medizin betrachtet: So heißt es in einer 1841 in Baden-Württemberg erschienenen Rezension von Jägers Buch, „es sei eine von vielen Seiten vertheidigte u. auf Beobachtungen gestützte

Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 168. Neuburger sagt, Jäger habe „eine große Abneigung gegen die Schriftstellerei gehabt“. Der deutsche Militärarzt Georg Friedrich Louis Stromeyer hatte bei Jäger studiert. In seinen Lebenserinnerungen sagt er, bei Jäger habe man in den 1820er-Jahren vor allem den kontagiösen Charakter der Krankeit nachweisen wollen, sich aber wenig um Hygiene gekümmert. Neuburger, Die Wiener Medizinische Schule, 1921, 75. 234 Diese „Einimpfung“ mit dem gonorrhoischen Sektret der „lippitudo neonatorum“ war noch nicht als Infektion erkannt. Jäger selbst spricht von der „effektuierten Verbindung“ dieser Augenkrankheit neugeborener Kinder mit dem Pannus in der Absicht, „durch Einimpfung dieses spezifischen Prozesses die Heilung […] mittelst einer spezifischen Umstimmung der Lebensverhältnisse in der Conjunctiva zu heben“. Jäger von Jaxtthal, Die egyptische Augen-Entzündung, 1840, 33. Nach 1912 findet sich die Methode in keinem medizinischen Lehrbuch mehr. Oskar Eversbusch, Die Augenerkrankungen im Kindesalter, Leipzig 1912, 715. 235 Jäger von Jaxtthal, Die egyptische Augen-Entzündung, 1840, 1. 236 Schmidt‘s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin, 361, https://books.google.at/ books?id=dW84AQAAMAAJ. 232 233

Die Entfernung der „Ägyptischen Augenentzündung“ vom „Orient“

Ansicht“, dass die Krankheit auch an jedem andern Orte „auf eine primäre Weise entstehen könne, wo die zu ihrer Entstehung erforderlichen prädisponirenden und excitirenden Momente gegeben seien.“ In Klammern merkt der Rezensent an, dass „diese Ansicht, von der Wiener Schule besonders vertheidigt“ werde und sich „als die einzig naturgemässe“ langsam überall durchzusetzen beginne, da sie sich auf eine Analogie mit den Seuchen, Pest, Typhus, gelbes Fieber stütze und am ehesten imstande sei, alle Probleme über die Entstehung der Krankheit zu lösen. 1841 erschien in Graz das Werk des dortigen Jäger-Schülers Josef Piringer (1800– 1879)237, der sich, nach eigenem Bekunden, 15 Jahre lang mit der Krankheit beschäftigt hatte. Für ihn war die Frage der Ansteckungsfähigkeit geklärt: „Ausser diesem fixen Ansteckungsstoffe, dem Schleime, scheint kein flüchtiger Ansteckungsstoff entwickelt zu werden, und somit keine Ansteckung in Distanz (oder wie man sich so gerne auszudrücken pflegt per miasma) statt zu finden.“238 Die Blennorrhoe ist bei bei Piringer schon eine betont lokale Krankheit; es sei eine „in der Natur durchaus nicht nachweisliche Behauptung […] dass die ägyptische Augenblennorrhoe keine örtliche, auf die Bindehaut beschränkte Krankheit, sondern der Reflex eines allgemeinen, tief im Organismus wurzelnden Leidens sei“, sagte Piringer an einer Stelle, und berief sich auf die Beobachtungen von Ärzten in Ägypten.239 Piringer hatte daraus den auf Basis dieser Erkenntnis logischen Schluss gezogen, dass die Übertragung durch die Hände der pflegenden Personen erfolgte: In jeder Hinsicht ist nämlich dafür gesorgt, dass eine Uebertragung des Schleimes nicht leicht stattfinde. Jeder Kranke, auch der nicht Blennorrhöische, hat seine eigenen Gläser und Gefässe, jeder seinen eigenen Waschschwamm zum Reinigen, jeder seinen eigenen Leinwandfleck zum Trocknen seiner Augen, welche letzteren Stücke bei der Entlassung der Kranken ohne Unterschied seiner Krankheit vertilgt werden. Jede Wärterin und jedes Individuum, welches sich mit dem Auge eines Blennorrhisten beschäftiget, hat sich alsogleich die Hände gut zu reinigen und abzutrocknen, wozu neben jedem Blennorrhisten Waschgeschirr und Handtuch eigens gestellt werden.240

237 Dr. Joseph Friedrich Piringer (1800–1879) studierte in Wien und assistierte bei Friedrich Jaeger und Anton Rosas. Piringer wurde 1826 promoviert und erlangte 1828 den Magistergrad der Augenheilkunde. Im Mai 1828 beantragte er außerordentliche Vorlesungen über Augenheilkunde in Graz; eine erste Augenklinik, die von Piringer betreut wurde, wurde am 1. Mai 1829 eingerichtet. Zur Grazer Augenklinik und zu Piringer vgl. allgemein: Norbert Weiss, Augenheilkunde in Graz, in: Spektrum der Augenheilkunde 27/6, 2013, 258–268, doi: 10.1007/s00717-013-0198-x. 238 Piringer differenzierte zwischen einem „flüchtigen Contagium“ und dem „festen Contagium“. Während er ersteres für die Augenentzündungen ausschloss, sah er das Vorhandensein seines „flüchtigen Contagiums“ bei Pocken oder Masern für gegeben an und schlussfolgerte daraus, dass ein solches „flüchtiges Contagium“ nur bei Krankheiten auftrete, die fieberhaften Charakter hätten und die Kranken in der Regel nur ein Mal im Leben befallen würden. Piringer, Die Blennorrhoe am Menschenauge, 1841, 57. 239 Ebd., 139. 240 Piringer, Die Blennorrhoe am Menschenauge, 1841, 58.

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Piringers Werk erreichte jene Anerkennung, die Eble sich gewünscht hatte. Der Verein deutscher Ärzte in Petersburg erkannte Piringer 1840 den Preis zu, den man Eble noch versagt hatte.241 Der britische Augenarzt MacCallan242, der in den 1920er-Jahren selbst in der britischen Mandatsverwaltung in Ägypten gewesen sein dürfte und zur Geschichte der Ophthalmologie publizierte, schrieb Piringer das Verdienst zu, die Blennorrhoe des Auges von den anderen Formen der Conjunctivitis getrennt zu haben.243 Auch Piringer beschrieb noch nicht das „Trachom“, wie es heute von Ärzten gesehen wird; er sah in den Granulationen der Bindehaut nur unterschiedliche Stadien der Erkrankung und bezog sich wie Eble auf die diesbezüglichen Beobachtungen Rösers in Ägypten.244 Nach dem Zeugnisse der Aerzte, welche dieses Augenleiden in Aegypten selbst beobachteten, erzeugt die daselbst endemische, in den Monaten August und September besonders häufig vorkommende Blennorrhoe eine dunkelrothe, mehr gleichförmige und glatte, also eine ganz kleinkörnige sogenannte villöse Auflockerung der Bindehaut, welche dann auch bei minder günstigem Ausgange als Nachübel zurückbleibt, wie wir dieses bei unseren sporadischen, so wie bei den Tripperblennorrhöen in der Regel beobachten; sie hinterlässt aber nie eine deutlich unebene, hügelige und grosskörnige Anschwellung.245

Diesen Krankheitsverlauf konnte Piringer selbst in Graz beobachten; einer der jungen Männer, die Ende der 1830er-Jahre in Graz und Leoben Montanistik studierten246, wies die von Piringer als typisch beschriebenen Symptome auf. Die Augenlidbindehaut dieses Auges zeigte bei seiner Ankunft hieher noch eine hellziegelrothe, schwach sammetartige Auflockerung und Verdickung, wie ich sie an den hierorts vorkommenden Blennorhöen gegen ihr Ende hin und zum Theile als Nachübel mehrmals beobachtete und zwar selbst dort, wo absolut eine übertragene Gonorrhoe die Krankheitsursache war. Eben diese hellzigelrothe, sammetartige Auflockerung der Bindehaut (gerade so, wie sie der Araber aus Ägypten mitbrachte), sahen wir im Herbste 1838 an einem 27 Jahre alten, sonst gesunden und nie gonnorrhöisch gewesenen Bauer als Nachkrankheit seiner heftigen Ophthalmoblennorrhoe zurückbleiben.247

241 Piringers Werk trägt am Titelblatt den Vermerk: „Eine von dem deutschen ärztlichen Vereine in St. Petersburg gekrönte Preisschrift.“ Ebd. 242 Zu MacCallan vgl. Mooreville, Oculists in the Orient, 2015, 35 243 MacCallan, The History of Ophthalmology, 1927 244 Piringer, Die Blennorrhoe am Menschenauge, 1841, 142. 245 Ebd., 141. 246 Die Studierenden kamen wahrscheinlich 1836 nach Österreich und absolvierten in Graz ihre Vorstudien. Ihre Zahl ist nicht ganz klar; namentlich nachweisen lassen sich nur fünf. Einer davon ist Ali Isa, der bei Piringer namentlich als Patient genannt wird. Vgl. Chahrour, Akademische Exoten, 48. 247 Piringer verzichtet in seinem überaus umfangreichen Werk auf die Nennung der Namen der Patienten. Ausgerechnet der Name des erkrankten Ägypters ist von ihm angegeben; man kann nur darüber spekulieren, dass der Schutz der Privatsphäre des Kranken in einer solchen Publikation bei einem Ägypter nicht

Die Entfernung der „Ägyptischen Augenentzündung“ vom „Orient“

Der britische Ophthalmologe Arthur Ferguson MacCallan folgerte daraus 1927, dass die Beobachtung der ähnlichen Krankheitsverläufe bei dem ägyptischen Studierenden und dem steirischen Bauern die Grundlage für Piringers Erkenntnis der von Tripper und Augenentzündung gebildet hatte.248 Nochmals hatten Beobachtungen aus der Begegnung zwischen der akademischen Medizin der Habsburgermonarchie und dem Orient neues Wissen hervorgebracht. Mit Piringer war es zur von Ludwik Fleck als „Denkstilumwandlung“ bezeichneten Veränderung der grundsätzlichen Betrachtungsweise gekommen. Nach Fleck sind bestimmte Anschauungen in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft in der Phase ihrer Klassizität unumstritten, weil die Wahrnehmung nur auf jene Faktoren konzentriert ist, die sie zu unterstützen scheinen. Auf die Klassizität folgt die Phase der Komplikationen: Nun treten die Widersprüche auf und es wird allgemein versucht, sie in das Modell zu integrieren. Genau dies geschah in den Jahren nach der „Klagenfurter Epidemie“ in der jungen österreichischen Augenheilkunde. In einer letzten Anstrengung hatte Eble versucht, die „Epoche der Komplikationen“ in der Beschreibung der Ägyptischen Augenentzündung als gewöhnlichen, bloß übersteigerten Catarrh zu überstehen, doch die Bemühungen waren erfolglos. Die „Harmonie der Täuschungen“ war gebrochen. Fast zeitgleich bemühte sich sein Landsmann und militärärztlicher Kollege Friedrich Jäger, der den ansteckenden Charakter der Krankheit und auch ihre Unterscheidung von anderen Formen der Augenentzündung erkannt hatte, den bisherigen Forschungen eine Brücke zu bauen. Die bisherige, von vielen Seiten verteidigte Ansicht, dass die Krankheit nicht nur in Ägypten, sondern auch an anderen Orten auf „primäre Weise“ entstehen könnte, sei hochwichtig gewesen und weiterer Forschungen wert; denn tatsächlich würden die Umwelteinflüsse eine Rolle spielen, die nun weiter zu klären sei.249 Auch in der Therapie war ein Wandel nicht mehr aufzuhalten. Die Zusammenfassung der verschiedenen Krankheiten zu einem gemeinsamen Bild hatte zunächst zu einem generellen therapeutischen Optimismus geführt, wobei viele Ärzte bis in die 1830er-Jahre auf verstärkte Gaben von Abführ- und Brechmitteln setzten250; von den Aderlässen hatte man sich bereits früher abgewendet. 1812 konnte Assalini, nachdem er die Augenkrankheit in Italien mehrfach epidemisch auftreten gesehen hatte, noch sagen: „Wird die Krankheit gehörig behandelt, so kann sie mit sehr großer Leichtigkeit geheilt werden, dagegen läßt sie vernachläßigt, die übelsten organischen Fehler zurück.“251

denselben Stellenwert hatte wie bei den übrigen Patienten. Vgl. Piringer, Die Blennorrhoe am Menschenauge, 1841, 142. 248 MacCallan, The History of Ophthalmology, 1927. 249 Jäger von Jaxtthal, Die egyptische Augen-Entzündung, 1840, 12. 250 In Göbel, Über Ophthalmia Aegyptiaca, 1834, 121 spricht der Autor 1834 von einer Ekelkur, die „jüngst“ mit Erfolg angewendet worden sei. 251 Assalini/Grossi, Taschenbuch für Wundärzte und Ärzte bey Armeen, 1816, 272.

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„Die Krankheit“ war bei Assalini jedoch eine Gruppe von Augenentzündungen mit unterschiedlichen Verläufen; einer humoralpathologisch fundierten, vitalistisch beeinflussten Krankheitsauffassung folgend ließen sich Abweichungen in Behandlungsverläufen durch individuelle Dispositionen und die bereits mehrfach erwähnten Umwelteinflüsse erklären. Je mehr sich die „Ägyptische Augenkrankheit“ in ihren Beschreibungen konkretisierte, desto fragwürdiger wurden die Erklärungsmodelle und ihr Charakter schlechthin. Die Effektivität der Behandlungsmethoden im Orient wurde meist mit Verwunderung wahrgenommen, fand jedoch oft Aufnahme in das eigene Therapiespektrum: So berichtete Lorenz Rigler 1852, dass der Samen von Cassia Absus in Konstantinopel in pulverisierter Form mit Erfolg angewendet werde, und verwies darauf, dass dies auch in Europa in die Volksarzneimittellehre Eingang gefunden habe.252 Dass das humoralpathologisch fundierte Therapiespektrum an der Krankheit scheitern konnte, hatte schon die Klagenfurter Kommission nicht mehr wegargumentieren können. Die üblichen anti-phlogistischen Behandlungsmethoden – das Abführen und die Blutentziehung – schienen, das hielt zehn Jahre später auch Röser fest, nicht immer die gewünschte Wirkung zu zeigen. Der Blick blieb auf den einheimischen, „orientalischen“ Behandlungsmethoden haften. Die türkischen Volksmittel des „Sulphans cupri“253 seien zwar in ihrer Erstwirkung „sehr peinigend“, wie Lorenz Rigler in den 1850er-Jahren schrieb, aber sie versprachen „gute Erfolge“.254 Diese metallischen Lösungen, die in der Therapie Erfolg zu versprechen schienen, widersprachen der eben erwähnten „anti-phlogistischen“ Methode: Sie galten als „adstringierend“, als „zusammenziehend“.255 Der Bayer Röser, der die Krankheit selbst durchgemacht hatte und das Mittel von einem Arzt in Ägypten (mit Erfolg) verordnet bekommen hatte, zeigte sich darüber verwundert: Die intensivste Röthe, die zur Chemosis herangebildete Geschwulst der Conjunctiva, der heftigste Schmerz wichen jede Stunde, gleichsam zusehends, auf Zinkauflösung mit etwas

252 Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 517. Die Wirksamkeit von Cassia Absus wird bis heute anerkannt. Vgl. dazu: Harsh Pandya u. a., Pharmacognostical screening of seeds of Cassia absus, in: Pharmacognosy Journal 2/11, 2010, 419–426, doi: 10.1016/S0975-3575(10)80025-2. 253 Auch: „Kupervirtriol“. Die mineralische Verbindung, die in Wüsten gewonnen werden kann, wurde als „Adstringens“ verwendet und hatte ätzende Wirkung. 254 Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 514. 255 Sehr ausführlich gibt der aus der Monarchie stammende und im Osmanischen Reich arbeitende Christoph Ludwig Thirk 1847 in einem Bericht, der sowohl in der „Oesterreichischen Medicinischen Wochenschrift“ als auch im Journal für Chirurgie und Augenheilkunde veröffentlicht wurde, verschiedenste, zum Teil sehr spezifische Rezepte für einzelne Krankheitsformen wieder, die von einheimischen türkischen Augenheilkundigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Bursa angewendet wurden. Die Vielfalt der angebotenen Therapeutica zeugt – unabhängig von der Frage ihrer tatsächlichen Wirksamkeit – von einer umfassenden Kenntnis verschiedenster Krankheitsformen. Vgl. Christoph Ludwig Thirk, Über türkischpersische Ophthalmiatrik, in: Oesterreichische Medicinische Wochenschrift 17 f, 1847, 505–508; 541–542; 565–570.

Die Entfernung der „Ägyptischen Augenentzündung“ vom „Orient“

Laudanum oder auf Goulard’s Wasser; die doch als adstringirende, tonisirende, sicherlich nicht antiphlogistische Mittel zu nennen sind. Dagegen muss durch übertriebene antiphlogistische Behandlung der einen bestimmten Cyclus durchlaufenden Krankheit sowohl in ihrem Beginn, wo natürlich nur ein nachtheilig störender Eingriff für den ganzen Verlauf herbeigeführt würde, als auch wenn sie nach Erreichung der Acme noch blindlings fortgesetzt wird, natürlich nur Nachtheiliges herbeigeführt werden.256

Das Versagen dieser Mittel musste durch komplizierende Faktoren erklärt werden, wenn man zumindest Elemente der humoralpathologischen Krankheitsansichten aufrechterhalten wollte. Chronisch werde die Krankheit, wenn es „Dyskrasien oder fortdauernde schädliche Einflüsse gäbe“, erklärte Röser. Von den schädlichen Einflüssen war bereits zu lesen; hinzu traten hier nun – Mitte der 1830er-Jahre – die Krasen.257 Für die Wiener Medizin der sogenannten zweiten Wiener Medizinischen Schule wurde die Fundierung der Krankheitsentstehung in diesen „Krasen“ zum ersten gemeinsamen Erklärungsmodell. Mit ihm wurde die Brücke zwischen den ganzheitlichen, naturphilosophischen Krankheitskonzepten und den immer klarer hervortretenden organischen Erkrankungen geschlagen. Wien wurde in den 1830er- und 1840er-Jahren zu einem bedeutenden Zentrum dieser Sichtweise. Insbesondere der bekannte Pathologe Karl Rokitansky stützte seine ersten theoretischen Überlegungen auf die Lehren von den Krasen, die auch als „neue Humoralpathologie“ bezeichnet wurden.258 Auch wenn dieses pathologische Grundmodell wenige Jahre später – unter anderem an der Kritik des jungen deutschen Pathologen Rudolf von Virchow – scheiterte, gilt Rokitansky heute als Pionier der Wiener Medizin. Die Wiener Medizinhistorikerin Erna Lesky schrieb über Karl Rokitansky, er habe sich die Aufgabe gestellt, „die deutsche Heilkunde aus ihrem naturphilosophischen Traum zu erwecken, sie auf den Boden fester, unwandelbarer materieller Tatsachen zu stellen.“259 Die materiellen Tatsachen hatte Rokitansky durch seine zehntausenden Leichenöffnungen, seine genauen Beschreibungen und Klassifikationen geschaffen; um den Denkstil der Humoralpathologie zu überwinden, bedurfte es freilich eines größeren Kollektivs.260 Diese Verwandlung im Großen barg auch die Analogie zur „Ägyptischen Augenentzündung“ im Kleinen. Die „heroische“ Überwindung eines alten Konzeptes führte über den Irrweg eines neu konstruierten, gesamthaft gedachten Erklärungsmodells, Röser, Ueber einige Krankheiten des Orients, 1837, 23. Von Dyskrasien als komplizierendem Faktor der Erkrankung spricht zur selben Zeit auch: Göbel, Über Ophthalmia Aegyptiaca, 1834, 11. 258 Vgl. Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 135. 259 Ebd., 131. 260 Nur am Rande sei angemerkt, dass Rokitansky die Krasenlehre schon bald wieder verwarf. In Wien blieb sie dennoch einige Zeit ein Begriff; um 1890 meint der die Syphilis beforschende Dr. Hermann, dass die syphillitischen Krankheitsformen eigentlich „Dyskrasien“ seien. Vgl. Fleck/Schäfer/Schnelle, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 2017, 11. 256 257

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das zum Scheitern verurteilt war. Mit Akribie und Beobachtungsgabe versuchte Rosas 1823 alles, was auf einen ansteckenden Charakter der Augenentzündung hinwies, so weit wie möglich zu meiden und zu verkleinern, um ein älteres Erklärungsmodell aufrechterhalten zu können; Eble richtete den Blick auf die Erscheinungen der Krankheit und versuchte ihre Lokalisierung, ohne diesen Weg grundsätzlich zu verlassen. Die Überlegungen beider richteten den Blick auf die Verhältnisse, die zur Krankheitsverbreitung beitrugen und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse, noch bevor man von diesen als solchen überhaupt sprach. Die wesentlichen Schlussfolgerungen wurden Jahre später dennoch zum Irrweg. Hier zeigt sich: Die Geschichte der „Ägyptischen Augenentzündung“ ist also eine Geschichte der Wiener Medizin im Kleinen; die Parallele zu Rokitansky drängt sich auf: Der Gründungsmythos der zweiten Wiener Medizinischen Schule ist bis heute tief in der Selbstwahrnehmung der Medizin in Wien verankert. Er ist durch einen klaren Blick auf die Körper und Phänomene ebenso gekennzeichnet wie durch eine dogmatische Festlegung auf Erklärungsmodelle, die im Laufe der Zeit erst überwunden werden mussten. Was von der „Ägyptischen Augenentzündung“ blieb, war die Zuschreibung der Krankheit zum Orient.261 Das „Trachom“ wurde zur „Krankheit des Ostens“, wobei insbesondere die Historiographie der Krankheit als „ägyptische“ für diese Zuschreibung eine besonders große Rolle spielte.262 Der britische Augenarzt Edward Treacher-Collins schrieb im 20. Jahrhundert, die Krankheit hätte ebensogut die „persische“ heißen können, wenn Napoleon sich entschieden hätte, statt in Ägypten in Persien einzumarschieren.263 Das Trachom blieb aber eine „ägyptische“ Krankheit. Die erstmalige Begegnung mit der Krankheit im Gefolge der vergleichsweise mächtigen Migrationsbewegung von Soldaten aus Europa nach Ägypten war für die europäische Medizin prägender als andere, wohl bedeutendere Faktoren: die geballte Bewegung einer großen europäischen Armee in einen anderen „Krankheitspool“ und die spezifischen hygienischen und sozialen Verhältnisse in den entstehenden „Wehrpflichtigenheeren“ in

261 Die Zuschreibung des Ursprungs einer Krankheit zum Osmanischen Reich war ebenso zeittypisch wie der Einfluss der Begegnung der Medizin mit dem Osmanischen Reich auf die Abgrenzung der Krankheit. So wurde auch das Auftreten einer Geschlechtskrankheit am Balkan durch die k. k. Gesundheitsbehörden mit dem Osmanischen Reich in Zusammenhang gebracht. Auch am Beispiel dieser als „Skerljevo“ bezeichneten Krankheit wurde jüngst gezeigt, dass die Differenzierung von Krankheitsbildern zu eigenständigen Krankheiten mit der Begegnung mit dem Osmanischen Reich in Zusammenhang stand. Vgl. Brigitte Fuchs, Skerljevo, Frenjak, Syphilis: Constructing the Ottoman origin of not sexually transmitted veneral disease in Austria and Hungary, 1815–1821, in: J. Vögele/S. Knöll/T. Noack (Hg.), Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive: Epidemics and Pandemics in Historical Perspective 2016, 59–73, hier: 73. 262 Anat Moorville hat für den Fall Israel gezeigt, dass das Trachom im ganzen 20. Jahrhundert sinnbildlich für die Rückständigkeit der arabisch-palästinensischen Kultur stand. Mooreville, Oculists in the Orient, 2015, 15. 263 Edward Treacher-Collins in seiner „Introduction to Trachoma“; zitiert nach Mooreville, Oculists in the Orient, 2015, 37.

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Europa, in denen die Soldaten nach ihrer Rückkehr Krankheiten auch in den privaten Verhältnissen verbreiten konnten.264 Anat Mooreville hat darauf hingewiesen, dass neben der napoleonischen Expedition und den vielen Reisebeschreibungen mit den immer wiederkehrenden Berichten über die Augenkrankheiten auch die Orient-Faszination der Zeit an sich einen großen Einfluss auf die Verfestigung des Bildes von Ägypten als Sitz der Krankheit hatten. Verstärkt wurde die Zuschreibung der Krankheit zu Ägypten Ende es 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch durch die Orient-Begeisterung vieler Wissenschaftler dieser Zeit: So berichtete der britische Arzt MacCallan begeistert von der Auffindung des altägyptischen „Papyrus Ebers“, der klare Hinweise auf das Vorhandensein einer ähnlichen Krankheit in pharaonischer Zeit enthält.265 Schon die Ärzte der Napoleonischen Expedition hatten Korrelationen des Krankheitsauftretens mit den sozialen Verhältnissen festgestellt. Sie wurden für das Orientbild der Medizin prägend: Der Orient sei unsauber und unhygienisch. Der Wiener Ophthalmologe Ernst Fuchs (1851–1930), der Palästina, Ägypten und andere Teile des Nahen Ostens bereist hatte, beschrieb 1894 seine Begegnung mit erkrankten Kindern während eines Aufenthalts in Ägypten in der Zeitschrift „Medical Age“: A few small children are playing before the hut or in the fields; approaching the youngsters, one fancies, and often believes, that they have painted black rings round their eyes; but on coming close one sees that the black rings are dense circles of flies seated along the edges of the lids and at the inner angle of the eye. They seek for food in the secretion, without encountering any disturbance, for the children do not disperse the pests, knowing that others with insatiate appetite would at once take their places.266

Auch Europa war voll von solchen Verhältnissen – man denke an die Beschreibungen sozialer Zustände in den Arbeitersiedlungen Wiens am Ende des 19. Jahrhunders –, doch Schmutz und Unsauberkeit waren „orientalisch“.

264 Nochmals sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Begrifflichkeiten „Ophthalmia militaria“ oder „Ophthalmia belliosa“ zwar verwendet wurden, sich entgegen dem Begriff von der „Ägyptischen Augenentzündung“ aber nicht durchzusetzen vermochten. 265 A. F. MacCallan, The Birth of Ophthalmology and its Development in Early Arabic Literature, in: British Journal of Ophthalmology 11/2, 1927, 63–67. 266 Englisch im Original; Fuchs, Ernst: Egyptian Ophthalmia. Medical Age 12, 1894, 266; zitiert nach: Mooreville, Oculists in the Orient, 2015, 37.

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Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung Medizinische Diskurse über den „Orient“ als Krankheitsherd

1839 konnte der Wiener Militärarzt Burkhard Eble in seiner Auseinandersetzung mit der Augenentzündung davon sprechen, dass der „heiße Orient“ der ursprüngliche Sitz fast aller Seuchen gewesen sei.1 Gegen diesen wohl zum Teil imaginierten Krankheitsherd hatte man sich Jahrhunderte lang mehr schlecht als recht abzugrenzen versucht, ohne dass ausreichend klar gewesen wäre, wie es denn überhaupt zur Krankheitsentstehung komme.2 Ende des 19.  Jahrhunderts gelang der akademischen Medizin ein Durchbruch im Verständnis der Entstehung und Übertragung von Krankheiten durch die Isolierung der Krankheitserreger. Der deutsche Immunologe Robert Koch reiste dafür Anfang der 1880er-Jahre eigens nach Ägypten und Indien, wo er den Erreger der Cholera identifizieren konnte. Mit Kochs Entdeckung erreichte die Diskussion ärztlicher epidemiologischer Vorstellungen, die davor von verschiedenen Konzepten geprägt gewesen war, einen Wendepunkt.3 Und dies interessanterweise, obwohl er den Ursprung der Augenentzündung in Ägypten ablehnte. Vgl. Eble, Die sogenannte contagiöse oder ägyptische Augenentzündung, 1839, 78. 2 Die neuere Medizingeschichte hat sich ausführlich mit historischen Konzepten der Krankheitsentstehung auseinandergesetzt. Einen Überblick über einen für diese Arbeit relevanten Zeitraum gibt: Philipp Sarasin (Hg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920, 1. Aufl., Bd. 1807: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2007. Darin auch neu abgedruckt und ins Deutsche übersetzt Owsei Temkins Aufsatz „Eine historische Analyse des Infektionsbegriffs“, der englisch unter dem Titel „An Historical Analysis of the Concept of Infection“ erschien und unter anderem in der Anthologie „The double Face of Janus and Other Essays in the History of Medicine“, die 1977 bei der Johns Hopkins University Press erschien, enthalten war. Darüber hinaus: Martina King/Thomas Rütten, Contagionism and Contagious Diseases. Medicine and Literature 1880–1933, Bd. 38: Spectrum Literaturwissenschaft, Berlin 2013; und besonders für die politischen Implikationen: Baldwin, Contagion and the state, 2005. Für den deutschen Sprachraum bietet Vasold (2012) einen Überblick. 3 Zu Koch: Gradmann (2005). Die Berichte, die Koch aus Ägypten nach Preußen schickte, sind in Christoph Gradmann (Hg.), Robert Koch: Zentrale Texte, Berlin, Heidelberg 2018 neu abgedruckt. Koch forschte während seines Aufenthaltes in Ägypten auch zur „Ägyptischen Augenentzündung“ und identifizierte 1

Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung

Die unterschiedlichen, immer aus anderen Perspektiven auf das Phänomen der Krankheit schauenden Berichte und Analysen der Ärzte des beginnenden 19. Jahrhunderts haben Medizinhistoriker immer wieder dazu angeregt, die zeitgenössischen Vorstellungen von der Ansteckung zu klaren Linien zu verdichten. Erwin Ackerknechts Studie „Anticontagonism between 1821 and 1867“ aus dem Jahr 1948 war viele Jahre der wichtigste Bezugspunkt für die Diskussion der verschiedenen Ansichten zur Krankheitsentstehung im 19. Jahrhundert und insbesondere in jenem Zeitraum, den auch diese Arbeit untersucht: Er unterschied klar zwischen sogenannten „Kontagonisten“, die an die direkte Übertragbarkeit einer Krankheit durch einen Ansteckungsstoff glaubten, und solchen, deren Ansicht mehr auf bestimmte krankheitserzeugende Umstände gerichtet war („Epidemisten, Miasmatiker“), und ließ in seiner Darstellung auch die Debatten der Zeit entlang dieser Linie ablaufen.4 Seine Thesen wurden vor allem in den letzten 20 Jahren kontroversiell diskutiert; zahlreiche Arbeiten haben darauf hingewiesen, dass eine reine Dichotomisierung zu stark vereinfacht, dennoch zählt sie bis heute zu den meistzitierten Arbeiten zu diesem Thema.5 Die Verortung eines „Orients“ spielte in im Diskurs über Krankheitsentstehung und Verbreitung eine bedeutende Rolle. Indem ein eigentlich unbestimmter „Orient“ im Diskurs der Grundlagen für die Krankheitsentstehung, der Ätiologie, zum urprünglichen Sitz bestimmter Krankheiten erklärt worden war, erhielt die akademische europäische Medizin einen Anhaltspunkt, von dem ausgegangen werden konnte, um Maßnahmen zu erwägen oder zu verwerfen. Diese Aktivitäten, ja selbst ihre bloße Diskussion, lieferten einen Beitrag zu einem neuen Verständnis der Krankheitsentstehung und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob denn die Krankheit tatsächlich dort einheimisch war. Der „Orient“ und seine Eigenschaft als „Krankheitsherd“ waren Konstruktionen, die trotz ihrer Fiktionalität in ihrer Beziehung wirksam werden konnten. Die Medizin Europas musste sich auf die Reise in diesen „Raum voller Eigenschaften“ begeben. Der Prozess des Ausgreifens einer europäisch strukturierten, wissenschaftlichen Medizin auf die außereuropäische Welt wurde in den letzten Jahrzehnten im anglofranzösischen Raum als Aspekt der Kolonialgeschichte erzählt. Die Forschungen zu „Gonorhoemikrokokken“ als Errger der schwereren Verlaufsform der Krankheit. Eine genauere Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen, die Koch mit Ägypten verband, wäre wünschenswert, war im Zuge dieser Arbeit aber nicht zu leisten. 4 Alexandra Minna Stern/Markel Howard, Commentary: Disease etiology and political ideology: revisiting Erwin H. Ackerknecht’s Classic 1948 Essay, „Anticontagionism between 1821 and 1867“, in: International journal of epidemiology 38, 2009, 31–33. Ackerknechts Arbeit besticht bis heute aufgrund ihres Faktenreichtums und der klaren Analyse. Sie wurde bei Sarasin, Bakteriologie und Moderne, 2007 neu abgedruckt. 5 Grundlegend für die Kritik an Ackerknechts Arbeit ist die Tatsache, dass sich „anti-kontagonistische“ Ansichten nie zu einer festen Lehre verdichten konnten. Der „Anti-Kontagonismus“ ist ein Sammelbegriff für die kritische Betrachtung der Schwächen der zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Anschauungen zur Krankheitsentstehung und -übertragung. Für eine Übersicht über Aspekte der Wiener Diskussion insbesondere mit Blick auf die „Miasmentheorie“ siehe: Ledebur, Die Miasmentheorie, 2003.

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„Imperial Medicine“ oder „Imperial Science“ versuchen, Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Medizin aufzudecken. Medizin und Wissenschaft werden als „Tool of Empire“ betrachtet, als Mittel, um im Foucaultschen Sinne zu ordnen und zu disziplinieren. Im Zuge dieser Forschungen wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die „Tropenmedizin“ des 19. Jahrhunderts, die auch strukturell in den kolonialen Kontext eingebettet ist, die „Tropen“ als krank, verseucht und zurückgeblieben beschrieb.6 Auch die deutschsprachige Forschung hat diese Tendenz aufgegriffen und vor allem das Feld der Kolonialmedizin des Deutschen Kaiserreiches behandelt.7 Dieser Prozess der Pathologisierung der außereuropäischen Welt war besonders von der Begegnung mit einem spezifisch medizinisch konstruierten Orient geprägt und umfasst auch die akademische Medizin außerhalb kolonialer Metropolen wie die der Habsburgermonarchie. Die Konzepte der Ansteckungslehre, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschten, waren heiß umfehdet gewesen. Die Idee, dass es einen Vektor einer Erkrankung geben könnte, war vorhanden. Angesichts der Widersprüche, die sich ohne Kenntnis mikrobiologischer Zusammenhänge ergeben mussten, konnte sie jedoch nicht zum Durchbruch gelangen. Manche hielten sie dennoch hoch: Bei dem einflussreichen Denker und Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) basierte das Konzept der Krankheitsübertragung der Pocken auf der Vorstellung, dass es ein „Contagium“ gebe, das von Mensch zu Mensch weitergegeben werde. Das „Contagium“ sei dabei unsichtbar, der Eiter der Pocken wurde von Hufeland als „Vehikel des Pockengifts“ verstanden. Diese Weitergabe allein erzeugte aber noch keine Ansteckung: Dazu brauchte es auch die entsprechende Disposition des Individuums, das dem Kontagium ausgesetzt war. Übertragen werden könne es durch unmittelbare Berührung seiner selbst oder durch Vermittlung der Atmosphäre. Die Wirkung des Kontagiums auf den Körper war für Hufeland im Konzept der Humoralpathologie die eines Ferments, das eine „organische Fermentation“ hervorbringe. Als Therapie empfahl Hufeland, die Pockenfermentation und Reproduktion so zu mäßigen, dass sie nicht zu stark werde, aber auch nicht zu unterdrücken, da sie sonst später neuerliche Erkrankungen hervorrufen

Sarasin, Bakteriologie und Moderne, 2007, 37; Douglas M. Haynes, Imperial Medicine. Patrick Manson and the Conquest of Tropical Disease, Philadelphia, Pa. 2001. Haynes spricht in diesem Zusammenhang von Medizin als einem „tool of Empire“. Ganz im Sprachstil der modernen anglo-amerikanischen Historiographie verdichtet er seine Biographie eines britischen „Tropenmediziners“, der in die Kolonialstrukturen eingebettet war und als „Vater der Tropenmedizin“ bezeichnet wurde, und die Rolle der medizinischen Medien: „As part of the cultural production of imperialism, the representation of the tropics in the medical press as diseased or backward provided a space for constructing the image of Britain as an advanced and healthy society and British medicine as a tool of modernity.“ Haynes, Imperial Medicine, 2001, 176. 7 Dazu als Standardwerk: Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884– 1945, Paderborn 1997. 6

Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung

könne.8 Im Mittelpunkt stand die Idee, das humoralpathologische Gleichgewicht nicht zu stören; auch der Umgang mit Pest und Cholera war von diesem Konzept geprägt. Die Diskussionen der zeitgenössischen Ärzte wurden entlang ihrer Vorannahmen geführt: Je nachdem, ob sich der ärztliche Blick mehr auf das Kontagium oder mehr auf die Umstände richtete, in denen sich der Kranke zum Zeitpunkt des Auftretens der ersten Symptome befand, entwickelten sich unterschiedliche Modelle der Krankheitsentstehung. Der deutsche Medizinhistoriker Michael Stolberg hat für die Auseinandersetzung mit der Cholera in den 1830er-Jahren drei epidemiologische Paradigmen geortet und eingegrenzt: Die Lehre vom Kontagium ging davon aus, dass bestimmte Krankheiten (wie zum Beispiel die Pest und die Pocken) im unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt oder durch „giftfangende“ Stoffe übertragen werden konnten. Das Konzept des „Miasma“ beruhte in seiner „reinen Form“ dagegen auf der Annahme, dass sehr konkrete Ausdünstungen an einem bestimmten Ort – zum Beispiel nahe einer Latrine oder eines Sumpfes – die Luft „verpesteten“, wobei die Wirkungsweise der Miasmen oft sehr unterschiedlich beschrieben und verstanden wurde. Diese beiden Konzepte von Krankheitsentstehung sind in der zeitgenössischen Literatur weit verbreitet. Stolberg hat noch auf ein drittes Konzept hingewiesen, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkmächtig war und das wir bereits in den Ansichten von Anton Rosas im Fall der „Ägyptischen Augenentzündung“ kennengelernt haben: die „epidemische Konstitution“. Dieser Lehre nach war die körperliche Verfassung eines Menschen einer Vielzahl an äußeren  Einflüssen ausgesetzt.  Mit dem Wechseln dieser Einflüsse nahm die Wahrscheinlichkeit, eine Krankheit zu bekommen, zu oder ab; Klima und Wetter spielten für diese Vorstellung, wie am Beispiel der Augenentzündung gezeigt wurde, eine große Rolle. Häufig ist daher von „kosmo-tellurisch-meteorologischen“ Faktoren zu lesen.9 Grenzen zwischen diesen Modellen sind kaum klar zu ziehen; Ärzte, die das Faktorenbündel der „epidemischen Konstitution“ für eine Krankheit in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellten, waren trotzdem aufgrund der Erfahrungen der täglichen Praxis gezwungen, das Entstehen eines Kontagiums in bestimmten Krankheitsstufen zuzugestehen. Der Arzt Reinhold Grohmann fand 1844 zur Überbrückung dieses Widerspruches noch eine weitere Unterteilung: Er unterschied auch bei den Kontagonisten zwischen den „reinen“ Kontagonisten, die schlichtweg ein Kontagium konstatieren würden, und jenen „Doppelgängern“, die das Kontagium als Produkt einer vorhergegangenen miasmatischen oder epidemischen Krankheit betrachteten.10

Vgl. Berg, Hufeland und die Pockenbekämpfung, 1962, 16. Vgl. Michael Stolberg, Theorie und Praxis der Cholerabekämpfung im 19. Jahrhundert, in: Wolfgang U. Eckart/Robert Jütte (Hg.), Das europäische Gesundheitssystem: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive, Bd. 3: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 1994, 53–106, hier: 57–58. 10 Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844, 16. 8 9

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Generell waren diese Konzepte keine Glaubensfragen, die das gesamte medizinische Handeln eines Arztes bestimmen mussten.11 Die neuere Historiographie hat teilweise sehr deutlich versucht, die Gegensätzlichkeit der Ansichten zur Ansteckung infrage zu stellen. Ein kritischer Blick auf die von den zeitgenössischen Ärzten und sonstigen Autoren bemühten Argumentationsketten lässt einen tatsächlich annehmen, dass diese Widersprüche fallweise historiographisch konstruiert oder zumindest vertieft worden sind.12 Dennoch kann man die Zuordnungen zu diesen Krankheitsentstehungsmodellen nicht ausschließlich zur historischen Konstruktion erklären. In den Schriften zur Augenentzündung sowie insbesondere zur Pest lässt sich dieser Gegensatz klar nachvollziehen. Die Diskussionen über die Krankheitsentstehung wurden mit Vehemenz geführt und hatten, wie wir sehen werden, oft auch politische Konsequenzen. Wissenschaftliche Überlegungen wurden durch ihre politische Relevanz noch weiter verdichtet. Die Betonung des Gegensatzes zwischen den unterschiedlichen Ansichten zur Krankheitsentstehung fiel schon Zeitgenossen als oftmals sinnlos zugespitzt auf: „[…] Und immer konnte ich mich über die bekannten Streitigkeiten wegen der Cholera, des gelben Fiebers etc. nicht genug wundern, dass man sich nämlich, Alltagserscheinungen nicht beachtend, in gelehrten Streitigkeiten fast erstickte, und that, als wenn Miasma und Contagium gleichsam als unvereinbare Feinde einander gegenüberstünden“, kommentierte der bayrische Arzt Jacob Röser (1799–1862) 1837 in seinen „Krankheiten des Orients“.13 Der Wiener Dermatologe Carl Ludwig Sigmund (1810–1883), der sich sehr mit Epidemien auseinandergesetzt hatte, schrieb 1846: Geht man ohne vorgefasste Meinung an das Studium der in den letzten vierzig Jahren über die Pest gelieferten Berichte von Augenzeugen, so überrascht zuvörderst der grosse Zwiespalt der Ansichten, wobei – um nur die übrigens bekannte E i n e [Hervorhebung im Original] wesentliche Divergenz dermalen hervorzuheben – eine Partei die Contagiosität der Pest bis ins Kleinliche unbedingt annimmt und zu erweisen trachtet, die andere Partei dagegen die Contagiosität der Krankheit unbedingt läugnet und gleichfalls zu erhärten sich bemühet.14

Zur Diskussion einiger neuerer Arbeiten: Teodora Daniela Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy (1770–1830), in: Teodora Daniela Sechel (Hg.), Medicine within and between the Habsburg and Ottoman empires 18th–19th centuries, Bochum 2011, 55–77. 12 Allgemein in der neueren österreichischen Forschung zum Beispiel bei: Ledebur, Die Miasmentheorie, 2003. Auch international ist dies vielfach diskutiert worden, so bei: V. Nutton, The reception of Fracastoro’s Theory of contagion: the seed that fell among thorns?, in: Osiris 6, 1990, 196–234. Mit Blick auf die politische Geschichte auch ausführlich bei: Peter Baldwin, Contagion and the state in Europe, 1830–1930, 1. paperback ed., Cambridge 2005. 13 Vgl. Röser, Ueber einige Krankheiten des Orients, 1837, 17. 14 Christoph Ludwig Thirk, Nachrichten über die orientalische Pest vom Med. u. Chir. Dr. Ludwig Christoph Thirk, pract. Arzt in Brussa. Mittheilung mit Schlussbemerkung vom Primararzt Dr. C. Sigmund, in: Oesterreichische Medicinische Wochenschrift 17 ff, 1846, 815–823; 849–858; 887–890; 917–922; hier: 918. 11

Die Pest als ärztliche Idee

Diese Gegensätze wurden mit einer die heutige Leserin frappierenden Emotionalität ausgetragen. Der Arzt und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck wies auf dieses Phänomen hundert Jahre später (anhand eines ähnlichen Beispiels) eindringlich hin. Das „soziale Gepräge des wissenschaftlichen Betriebes“ bleibe nie ohne inhaltliche Folgen, auch wenn ein Beitrag gar nicht als Streitschrift gedacht gewesen sei: „Worte, früher schlichte Benennungen, werden Schlagworte; Sätze, früher schlichte Feststellungen, werden Kampfrufe. Dies ändert vollständig ihren denksozialen Wert: sie erwerben magische Kraft, denn sie wirken geistig nicht mehr durch ihren logischen Sinn – ja oft gegen ihn – sondern durch bloße Gegenwart.“15 Ärzte, die sich in den 1830er-Jahren für oder gegen eine Ansicht aussprachen, gerieten dadurch in einen vielfach überhöhten, durch die inhaltliche Substanz nicht gerechtfertigten Antagonismus.16 Diese Zuspitzungen blieben nicht ohne Wirkung. Die Diskussionen über den Charakter von Pest und Cholera, ihre Entstehung und Verbreitung leisteten einen Beitrag zur Vorbereitung des Ausgreifens europäischer wissenschaftlicher Strukturen auf das Osmanische Reich. Der Blick der akademischen Medizin richtete sich in den 1830er-Jahren immer stärker nach Osten. Wenn, wie Ebles eingangs angeführtes Zitat zeigt, der Orient der ursprüngliche Sitz aller Seuchen gewesen war, dann war es nur folgerichtig, zu versuchen, dorthin zu gehen, um diese Krankheiten auch auszurotten. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Pest soll in diesem Abschnitt zunächst gezeigt werden, wie die akademisch institutionalisierte Medizin versuchte, die Entstehung von im „Orient“ verorteten Seuchen zu klären. Aus dieser Auseinandersetzung wurde die Idee geboren, den „Orient“ zivilisieren zu müssen. Diese Idee sollte in der politischen Geschichte der Beziehung zwischen dem Osmanischen Reich, Ägypten und den europäischen Mächten ihren Niederschlag finden. 5.1

Die Pest als ärztliche Idee

Die Pest trat im 19. Jahrhundert zumindest in ihren epidemischen Auswirkungen in den Hintergrund: Große Epidemien blieben im westlichen Teil Europas aus.17 Es ist davon auszugehen, dass die Pest in Europa nicht durch die staatlichen Maßnahmen verdrängt wurde, sondern möglicherweise durch die Verbreitung einer neuen Rattenart oder auch durch die Infektion der Ratten mit dem sogenannten „Pseudotuberkel-

Fleck/Schäfer/Schnelle, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 2017, 59. Vgl. Ledebur, Die Miasmentheorie, 2003. 1828/29 brach an der Grenze der Monarchie im Zuge des russisch-türkischen Krieges in der russischen Armee in den Donaufürstentümern eine Epidemie aus, die von den Ärzten nach anfänglicher Negierung als Pest klassifiziert wurde. Vgl. dazu Christian Promitzer, Quarantines and Geoepidemiology, in: Wolfgang Göderle/Manfred Pfaffenthaler (Hg.), Dynamiken der Wissensproduktion: Räume, Zeiten und Akteure im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2018, 23–56.

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bazillus“, der gegen die Pest immunisiert.18 Das Bakterium „Yersinia Pestis“ ist heute bezeichnenderweise mit Ausnahme von Westeuropa auf der ganzen Welt bei Nagetieren nachweisbar.19 Historische Analysen der Pest unterliegen  – wie fast alle retrospektiven Betrachtungen von Krankheitsfällen – dem Problem der Mehrdeutigkeit. Welcher Krankheit die als Pest beschriebenen Krankheitsbilder nach heutigem medizinischem Verständnis entsprechen, ist oftmals kaum mehr definierbar.20 Die als Pest beschriebenen Krankheitsbilder variierten im Lauf der Geschichte stark. Nicht immer handelte es sich dabei wahrscheinlich um dieselbe Krankheit. Sehr oft wurden Krankheiten als Pest bezeichnet, die epidemisch auftraten und hohe Todesraten aufwiesen; erhaltene Beschreibungen beinhalten oft nur einzelne Charakteristika, die eine eindeutige Festlegung auf die durch die Pestbakterien erzeugten Krankheitsbilder nicht eindeutig möglich machen. Der Charakter von epidemischen Krankheiten, die zu Fieber und starken Schwellungen der Lymphknoten führten, war schon bei Zeitgenossen umstritten: Manche sahen darin leichte Verlaufsformen der Pest, andere bezeichneten sie als eigene Krankheiten.21 Heute unterscheidet die akademische Medizin zwischen mehreren Formen der Pest, von denen vor allem die durch den Biss des Rattenflohs übertragene Beulenpest („bubonic plague“), die Pestsepsis und die durch Tröpfcheninfektion übertragbare Lungenpest relevant sind.22 Wenn Ärzte im 19. Jahrhundert von der Pest sprachen und Krankheitsbilder beschrieben, so meinten sie damit meist die Beulenpest, die durch „Karbunkel“, also Eiterbeulen, und „Bubonen“, Schwellungen der Lymphknoten, gekennzeichnet ist. Von diesem Verständnis der Krankheitsform ist im Folgenden die Rede, wenn es um die Pest geht.23

Vgl. Daniel Panzac, La peste dans l‘empire ottoman, 1700-1850, Bd. 5: Collection Turcica, Leuven 1985, 512–514. Eine andere Theorie besagt, dass die Pest auch deshalb zurückging, weil mit dem zunehmenden Bergbau auch das Arsen, das zur Vergiftung von Ratten verwendet wurde, in ganz Europa leichter verfügbar wurde. Vgl. dazu: K. Konkola, More than a coincidence? The arrival of arsenic and the disappearance of plaque in early modern Europe, in: Journal of the history of medicine and allied sciences 47/2, 1992, 186–209. 19 Kiple, The Cambridge World History, 1993, 628. 20 Vgl. Martin Dinges, Pest und Staat. Von der Institutionengeschichte zur sozialen Konstruktion?, in: Martin Dinges/Thomas Schlich (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte, Bd. 6: Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft, Stuttgart 1995, 71–103, hier: 74. 21 Für eine Schilderung eines solchen Falles siehe: Ignaz Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, Wien 1839, 3. Gruber gibt eine Schilderung Enrico di Wolmars wieder, in der Wolmar eine 1793 auftretende „Faulfieberepidemie“ als milde Pest bezeichnet. 22 Eine Epidemie der Lungenpest beschreibt Albert Camus in seinem Roman „Die Pest“. Die Lungenpest ist vergleichsweise schwerer zu übertragen. Zu den verschiedenen historischen Pestepidemien im deutschsprachigen Raum siehe: Gerabek/Haage/Keil/Wegner, Enzyklopädie Medizingeschichte, 2007, 1122. 23 Auch Lungenpest und Pestsepsis sind historisch nachweisbar. Die Lungenpest ist vor allem durch das Symptom des „Blutspuckens“ und ihre rasche Tödlichkeit besonders charakteristisch. Für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ist aber vor allem die Beulenpest relevant. Älteste Beschreibungen der Lungenpest reichen weit ins Mittelalter zurück und finden sich auch bei zahlreichen arabischen Schrift18

Die Pest als ärztliche Idee

Die Beulenpest verbreitet sich in einer Region meist zunächst unter Nagetieren, besonders Ratten. Der Erreger der Pest lebt im Blut der Ratte und wird durch Flohbisse von Ratte zu Ratte übertragen. Auch die Ratten sterben an der Pest. Sobald die Population entsprechend geschwächt ist, suchen die Flöhe neue Wirtstiere und finden sie sehr oft im Menschen.24 Die Inkubationszeit der Beulenpest kann von wenigen Stunden bis zu sieben Tagen betragen. Als Symptome zeigen sich Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, starkes Krankheitsgefühl und Benommenheit. Charakteristisch sind die stark geschwollenen, sehr schmerzhaften Beulen am Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten, die durch die Infektion der Lymphknoten und Lymphgefäße im Bereich des Flohbisses entstehen. Wenn eine solche „Pestbeule“ bricht, kommt es zur Blutvergiftung. Eine Blutvergiftung entsteht auch in Krankheitsverläufen, bei denen die Bazillen sich nicht in den Lymphgefäßen vermehren, sondern sich im Blut des Menschen verbreiten. Diese „Pestsepsis“ ist die am schnellsten tötende Form. Dabei steigt das Fieber stark an, es kommt zu großflächigen Haut- und Organblutungen  – daher der Name „Schwarzer Tod“. Der hier geschilderte Mechanismus der Ansteckung war um 1800 noch nicht bekannt. Verwirrend wirkten auf die Beobachter der damaligen Zeit Krankheiten wie die Leishmaniose, die ähnliche Symptome aufwiesen, aber weniger dramatische Verläufe zeigten und weit seltener (bis gar nicht) tödlich endeten.25 Bereits die antike Medizin, die bis weit in die Neuzeit hinein eine enorme Wirkung auf die europäische und auch auf die arabisch-islamische Medizin ausübte, hatte für Entstehung und Verbreitung der Pest ein Erklärungsmuster gefunden. Hippokrates von Kos hatte eine „epidemische Konstitution“ postuliert, die solche Krankheiten hervorrief: Verfaulende tierische Stoffe seien ebenso verantwortlich für die Pest wie Ausdünstungen aus Lacken. Menschen seien abhängig von ihrer persönlichen Konstitution unterschiedlich anfällig für eine solche Krankheit. Der römische Arzt Galen von Pergamon entwickelte diese Lehre weiter. Er kannte in Fortführung der Gedanken Hippokrates vier grundlegende Temperamente: Das des Sanguinikers, das des Cholerikers, das des Malancholikers und des Phlegmatikers. Um die Tatsache zu erklären, dass nicht immer alle Menschen von einer Krankheit ergriffen wurden, wenn die entsprechende Konstellation gegeben war, nahm er an, dass Sanguiniker und Choleriker weit gefährdeter waren, die Pest aus der Luft aufzunehmen.26 Dies vor allem deshalb,

stellern. Michael Dols, The Black Death in the Middle East, [ACLS Humanities E-Book edition], Princeton/N. J. 1977, 84. 24 Alan Mikhail, The nature of plague in late eighteenth-century Egypt, in: Bulletin of the history of medicine 82/2, 2008, 249–275, hier: 264, doi: 10.1353/bhm.0.0031. 25 Die Leishmaniose wird durch eine Stechmücke übertragen und ist vor allem in tropischen Ländern verbreitet. Die kutane Form ist eine vorwiegend lokale Erkrankung, bei der es nach dem Stich einer Mücke zu starker Rötung, einer Schwellung und zur Bildung einer kleineren Beule kommt. Diese heute als „kutane Form“ der Leishmaniose bezeichnete Erkrankung erhielt im 19. Jahrhundert Namen wie „Bouton d’Alep“, „Aleppoknoten“, „Bagdadknoten“ oder „Orientbeule“. 26 Werfring, Der Ursprung der Pestilenz, 1998, 114.

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weil diese beiden Temperamente von Natur aus hitziger und feuchter seien – beides Faktoren, die die Entstehung der entzündlichen Pesterkrankung begünstigen würden. Diese Lehre blieb bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl bei arabischen Heilkundigen und Ärzten als auch bei ihren europäischen Kollegen Grundlage des herrschenden Denkstils.27 In Europa kam es in der frühen Neuzeit zu einer ersten wesentlichen Veränderung im Umgang mit der Pest. Gut organisierte, meist kleinräumige Gesellschaften griffen die Vorstellungen auf, die der italienische Arzt Girolamo Fracastoro (um 1477–1553) im 16. Jahrhundert entwickelt hatte. Fracastoro baute seine Ideen auf dem Vorhandensein von krankheitserzeugenden Keimen auf, die er „seminaria morbi“ nannte. Diese für das menschliche Auge nicht erkennbaren Keime konnten durch unmittelbare Berührung, durch Zwischenträger wie Kleidungsstücke und über kurze Entfernung auch über die Luft übertragen werden. Fracastoros Vorstellung stand im Gegensatz zu den Lehren der antiken Ärzte, die mehrheitlich von einer Krankheitsentstehung durch lokale Umstände ausgingen. Feucht-heiße Luft, oft begleitet von Südwinden sowie faulige Ausdünstungen aus Sümpfen oder durch verwesende Kadaver spielten für den bedeutenden in Rom tätigen Arzt Galen eine entscheidende Rolle für die Krankheitsentstehung.28 Schon vor Fracastoros Konzept entwickelte sich in Italien die Einrichtung der „Quarantäne“, mit der die Zeit bis zum vermeintlich sicheren Absterben aller Vektoren überbrückt werden sollte. Absperrmaßnahmen waren daher bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Methode der Wahl, um die Pest, die man nur bedingt behandeln oder gar heilen konnte, fernzuhalten. Beide Ideen  – sowohl die antiken Vorstellungen nach Hippokrates und Galen als auch die Lehren Fracastoros – sollten auch die Diskussionen des 19. Jahrhunderts zur Pest prägen. Das Kontagium blieb über Jahrhunderte nur eine Idee. Man musste an diese Idee glauben, um darauf medizinische Theorien aufbauen zu können; und diese Theorien wechselten immer wieder. Nicht jeder, der vom „Contagium“ sprach, verband damit dieselbe Vorstellung. Auf einige wenige Grundannahmen hatte man sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts geeinigt. Kontagien konnten im Verständnis der Zeit flüchtig oder fix sein. „Fixe“ Kontagien wurden dieser Vorstellung zufolge durch Berührung übertragen, „flüchtige“ durch die Luft.29 Als die besten Träger galten feine, poröse, tierische oder pflanzliche Teile, Wolle, Haare, Federn, Hörner, Häute, Holz, Leinwand, Papier. Glatte Körper, z. B. Glas, Metalle, leiteten das Kontagium in der Vorstellung des frühen 19. Jahrhunderts dagegen fast gar nicht. Manchen Substanzen schrieb man so-

Es ist hier bewusst von „Heilkundigen“ und „Ärzten“ die Rede, da der Denkstil sowohl die klassischakademische als auch die empirisch-handwerkliche Tradition in den Regionen rund um das Mittelmeer wesentlich beeinflusste. Allgemein zu den Konzepten der antiken Medizin: Wolfgang U. Eckart, Geschichte der Medizin, 5. korr. und akt. Aufl., Springer E-book Collection, Berlin/Heidelberg 2005. 28 Eckart, Geschichte der Medizin, 2005, 102. 29 Henle, Von den Miasmen und Kontagien, 1840, 17. 27

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gar abwehrende Kraft zu. Der deutsche Arzt Jacob Henle (1809–1885) vertrat das Konzept eines „lebendigen Ansteckungsstoffes“, einem konzeptuellen Vorläufer unserer Vorstellung von Bakterien und Viren. 1840 kategorisierte er Öl, Wachstaft, Harze und Firnis als „Isolatoren“ des Ansteckungsstoffes.30 Die Idee von „pestfangenden Stoffen“ war aber schon weit älter als das Konzept Henles. So konnten auch lebende Individuen Träger des Ansteckungsstoffes sein, indem dieser äußerlich an ihnen haftete, ohne sie selbst zu affizieren. Damit konnte die Beobachtung erklärt werden, dass Armeen und Herden, selbst gesund, Krankheiten vermitteln konnten, die vor Zeiten unter ihnen geherrscht hatten.31 Gegen die Verbreitung von Krankheitserregern wurden auf Basis früher gemachter Erfahrungen seit dem Mittelalter „Quarantänen“ errichtet. Maßgeblich für die Einrichtung von Quarantänestationen und Sanitätskordons, an denen Reisende aufgehalten und Waren gereinigt wurden, war die Vorstellung, dass die Pest durch ein „fixes“ Kontagium übertragen wurde. Durch Räucherungen von Handelswaren mit unterschiedlichen Substanzen meinte man, das Pestkontagium abtöten zu können. Das Festhalten der Menschen für eine Dauer von bis zu 40 Tagen lässt sich auf die europäische Praxis der Abschirmung aus dem Mittelalter zurückführen: Um 1377 hatte man in Ragusa/Dubrovnik Kaufleute angehalten, zumindest dreissig, später vierzig Tage in einem eigens dafür eingerichteten „Lazarett“ zu verbringen, bevor sie die Stadt betreten durften, um sicherzugehen, dass sie nicht von einer noch verborgenen Krankheit befallen waren.32 Eine stringente, allgemein anerkannte Vorstellung von der Krankheitsentstehung gab es in Europa wie im arabisch-islamischen Kulturraum lange nicht: Der für die Wiener Medizingeschichte bedeutende Arzt und Rektor der Universität Paul de Sorbait (1624–1691) ging noch von „siderischen“ Ursachen aus: Eine bestimmte Sternenkonstellation, die rund um das Auftreten der Pest beobachtet worden war, sei hauptsächlich für die Verheerungen durch die Krankheit verantwortlich.33 Berherrschend blieb auch der Gedanke der „epidemischen Konstitution“, der auf Galen zurückgeht und von der Medizin der mittelalterlichen arabischen Kultur aufgegriffen wurde.34 Auch arabische Ärzte hatten ähnliche Überlegungen wie Fracastoro angestellt: In Andalusien trat der arabische Arzt al-Khaṭīb bereits im Mittelalter für die Idee einer direkten Übertragbarkeit der Pest durch Kontagien ein. In Europa wurde betont, dass diese Meinung unter arabischen Ärzten deswegen nicht mehrheitsfähig sei, weil sie den von der religiösen Orthodoxie festgelegten Grundsätzen widersprach, die sich an Galens und Hippokrates’ Vorstellungen der Krankheitsentstehung orientierten, und

Ebd. Henle gilt als Lehrer Robert Kochs. Koch bestritt jedoch, von ihm maßgeblich beeinflusst gewesen zu sein. Vgl. Gradmann, Robert Koch: Zentrale Texte, 2018, 2. 31 Henle, Von den Miasmen und Kontagien, 1840, 19. 32 Gerabek/Haage/Keil/Wegner, Enzyklopädie Medizingeschichte, 2007, 1208. 33 Werfring, Der Ursprung der Pestilenz, 1998, 87. 34 Dols, The Black Death in the Middle East, 1977, 84–89. 30

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dies durch Aussagen des Propheten und andere islamische Rechtsquellen untermauerten.35 Diese Sichtweise, die sich in dieser Eindeutigkeit heute nicht mehr aufrechterhalten lässt, findet sich in vielen wichtigen Werken zur Seuchengeschichte. Für die Vorstellung, die europäische Ärzte von dem Denken ihrer arabisch-islamischen Kollegen im heutigen Nahen Osten hatten, war sie bestimmend. Der Zusammenhang mit Tieren, die ebenfalls vom Rattenfloh befallen werden konnten, war nicht unbekannt. Die Wiener Pestordnung von 1679 wies bereits auf die von Hunden und Katzen ausgehende Gefahr hin, weil sich diese auch in der Nacht zum Teil in den Zimmern der Kranken herumtreiben würden. Doch auch im Falle der (Beulen-)Pest zeigt sich, dass außereuropäisches Wissen dem europäischen medizinischen Wissen vor dem 19. Jahrhundert nicht unterlegen sein musste. Der Zusammenhang zwischen dem Sterben von Ratten und dem Auftreten der Pest war in Indien bereits Jahrhunderte vor der Entdeckung des Pesterregers bekannt. 36 Der aus dem österreichischen Kaiserstaat stammende Arzt Ludwig Thirk beobachtete in Konstantinopel und Bursa die Pest von 1837. Beim Besuch einer türkischen Fregatte will sich Thirk in diesem Jahr mit der Pest infiziert haben. An Bord der Fregatte seien zu dem Zeitpunkt seines Besuchs ebenda die „unzähligen Ratten“ aus unbekannten Gründen plötzlich verstorben und es habe sich ein unerträglicher Geruch entwickelt, den Thirk offenbar mit der Pest in Zusammenhang brachte.37 Thirk war hier nahe an der parasitären Übertragungsweise: Das Sterben der Ratten kann mit dem Übergang des Rattenflohs auf den Menschen in Zusammenhang stehen. 5.2

Der Pestkordon. Krieg gegen eine Krankheit

Anfang des 18. Jahrhunderts kam es in Wien zu einem Wechsel im vorherrschenden Denkstil. Die akademische Medizin hatte das Konzept der direkten Übertragbarkeit der Pest trotz der obigen Überlegungen nicht vergessen. Während Sorbait im 17. Jahrhundert die Kontagiosität der Pest zwar anerkannt, aber nicht in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hatte, ließ man bei der letzten großen Pestepidemie in Wien im Jahr 1713 neben der allgemeinen Vorstellung einer „göttlichen Strafpest“ nur noch

Dols, The Black Death in the Middle East, 1977, 93; ein „Standardwerk“ zur Geschichte der Pest. Neuere Arbeiten sehen den Umgang mit Fragen der Seuchenlehre im arabisch-islamischen Raum weit differenzierter. 36 Vgl. Werner Köhler/Michael Köhler, Plague and rats, the „Plague of the Philistines“, and: what did our ancestors know about the role of rats in plague, in: International Journal of Medical Microbiology 293/5,2003, 333–340, hier: 335. Ähnliche Beobachtungen hatten auch arabische Ärzte zuvor schon gemacht (vgl. Dols, The Black Death in th Middle East, 1977, 89). Das dürften auch die europäischen Ärzte wahrgenommen haben: 1831 berichtet ein europäischer Korrespondent aus Konstantinopel nach Europa, dass man in Konstantinopel glaube, die Pest werde durch ein Insekt erzeugt, dass dieser Glaube jedoch nur wenige Anhänger finde. Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 30. 37 Thirk, Nachrichten über die orientalische Pest, 1846, 888. 35

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die Kontagiumstheorie gelten.38 Der Einbruch der Pest in Marseille um 1720, bei dem man den Beginn der Epidemie auf ein aus Syrien kommendes Schiff zurückgeführt hatte, lenkte den Blick der Mediziner erstmals verstärkt auf den Orient und den Handel. Obwohl die Besatzung des Schiffes unter Quarantäne gehalten wurde, kam es Wochen später zum Ausbruch der Pest, als die Matrosen – offenbar geschmuggelte – Baumwolle in der Stadt verkauften.39 Der Arzt Richard Mead (1673–1754) erklärte in einem Gutachten für die britische Regierung, dass die Krankheit vor allem in Ägypten einheimisch sei und dort aus einer durch große Hitze und Feuchtigkeit erzeugten Fäulnis entstünde.40 Trotz des Widerspruchs der britischen Levantehandelsgesellschaft wurden die Quarantänebestimmungen daraufhin verschärft. Im deutschen Sprachraum war es der Breslauer Arzt Johann Kanold (1679–1729), der die Pest im Orient zu verorten suchte.41 Nach seiner Ansicht, mit der er sich auch auf die Mitteilungen einiger französischer Ärzte stützte, waren die türkischen Provinzen die eigentliche Heimat der Pest und Ägypten das Land, worin sie entstünde und gewöhnlich herrsche. In den meisten europäischen Ländern konzentrierten sich die Absperrmaßnahmen auf die Häfen. Die Habsburgermonarchie war mit ihrer langen Landgrenze gegen das Osmanische Reich ein Sonderfall. Anfang des 16. Jahrhunderts war vonseiten Österreichs mit der Einrichtung der sogenannten „Militärgrenze“ begonnen worden, um der vom Osmanischen Reich ausgehenden militärischen Gefahr zu begegnen. Parallel nahm die Militärgrenze neben ihren Grenzschutzaufgaben immer stärker auch seuchenpolizeiliche Aufgaben wahr. 1710 hatte die Sanitäts-Hofkommission in Wien den Hofkriegsrat um regelmäßige Pestkontrollen an der Militärgrenze ersucht. Nach dem Frieden von Passarowitz im Jahr 1718 erwarteten die österreichischen Behörden ein Ansteigen des Handels mit dem Osmanischen Balkan und ließen, angesichts der noch unmittelbaren Erfahrungen mit der Pest und ihrer eindeutigen Zuordnung zum Osmanischen Reich, den Ausbau der Quarantänen an der österreichischen Landgrenze vorantreiben. In einem kaiserlichen Patent von 1728 wird ausdrücklich auf die „allgegenwärtige“ Gefahr der Einschleppung der Pest aus dem Osmanischen Reich hingewiesen.42 Am 22. Oktober 1728 wurde mit kaiserlichem Reskript die Einrichtung eines ständigen Kordons und von Kontumazanstalten verfügt, die der Aufsicht der SanitätsWerfring, Der Ursprung der Pestilenz, 1998, 137. Kohn, Encyclopedia of plague and pestilence, 1995, 258. Carl Ignaz Lorinser, Die Pest des Orients. Wie sie entsteht und verhütet wird, Berlin 1837, 92. Johann Kanold, Einiger Marsilianischen Medicorum in Frantzösischer Sprache ausgefertigte, und ins Teutsche übersetzte Sendschreiben von der Pest in Marsilien, ans Licht gestellet Und Mit einegen Reflexionibus, Sonderlich von dem wahren Ursprung der Pestilentz aus und in Orient begleitet von Johann Kanold, Leipzig 1721. 42 Vgl. G. E. Rothenberg, The Austrian sanitary cordon and the control of the Bubonic plague: 1710–1871, in: Journal of the history of medicine and allied sciences 28/1, 1973, 15–23, hier: 18. Die Darstellung der sanitätspolizeilichen Verhältnisse an der habsburgisch-osmanischen Grenze orientiert sich weitgehend an den Arbeiten von Lesky (1974) und Rothenberg (1973). Neuere Arbeiten, die sich spezifisch mit der Militärgrenze als Sanitätseinrichtung beschäftigen, sind rar. Für die unmittelbare Nachbarschaft der Habsburger38 39 40 41

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Hofkommission unterstanden. Der Kampf gegen die Pest war nun zu einer aktiven Auseinandersetzung geworden: 1744 wurden zwei Chirurgen nach Kroatien geschickt, um die Pestepidemie zu bekämpfen.43 Auf Anraten des Hofarztes Paul Maximilian Zwenhoff war die Quarantäne 1764 ausgedehnt worden. Aus dem Osmanischen Reich kommende Personen mussten in Pestzeiten bis zu 42 Tage an den Kontumazen Halt machen, Waren sogar 84 Tage.44 In der Zeit zwischen 1740 und 1780 wurden die als durchgehender „Kordon“ von über 1900 km Länge gedachten Kontrollen sukzessive ausgebaut und erhielten den Namen „Pestkordon“.45 Selbst in pestfreien Zeiten wurde die Quarantäne dort für eine Minimalperiode aufrechterhalten. Im „Pest-Contumaz-Patent“ von 1770 war das Prozedere für den Grenzverkehr mit dem Osmanischen Reich genau festgelegt. Entlang der gesamten Grenze wurden ständig besetzte Wachtposten und kleinere Forts eingerichtet. Der Grenzübertritt war nur an den sogenannten „Rastellen“ (für Waren) und den größeren „Kontumazen“ (für Waren und Personen) möglich. Sowohl für Güter als auch für Personen wurde ein System aus Regelungen für die Durchführung der Quarantäne aufgebaut. Güter wurden nach Gruppen eingeteilt und systematischen Reinigungsprozeduren unterzogen. Sie waren dabei als stark oder weniger stark kontagiös klassifiziert, wobei ersteres vor allem für die Hauptimportgüter Baumwolle und Schafwolle galt.46 Im Juni 1831 lieferte die Allgemeine Medizinische Zeitung einen Bericht über diese militärische Mustereinrichtung. Die Militärgrenze, die vor den Augen des Lesers errichtet wurde, beeindruckte und schreckte ab. Hier entstand das Bild eines „kalten“ Krieges, der an der Südostgrenze des Reiches gegen den „Orient“ ausgetragen wird. Je nach Gefahrenstufe waren es 5.000 bis 11.000 Mann, die entlang der Grenze täglich Dienst taten; ein Drittel aller verfügbaren Kräfte sei dies, meldete die Zeitung. Ausgerüstet mit Flinte, Säbel und Mantel stehe der brave Grenzer Tag und Nacht, um der Gefahr der Einschleppung der Pest zuvorzukommen. So engmaschig sei das Netz, dass selbst in der Nacht nicht ein Mensch dazwischen durchschleichen könne.47 Wer sich den Anweisungen der Wachmannschaft in Pestzeiten wiedersetzte, wurde „sogleich

monarchie siehe Promitzer, Stimulating the Hidden Dispositions, 2011; neuerdings auch die sehr übersichtliche Arbeit: Promitzer, Quarantines and Geoepidemiology, 2018. 43 Lesky, Wien und die Weltmedizin, 1974, 119. 44 Rothenberg, The Austrian sanitary cordon, 1973, 18. 45 Erna Lesky, Die österreichische Pestfront an der k. k. Militärgrenze, in: Saeculum Jahrbuch für Universalgeschichte 8/1, 1957, 81–106, hier: 81. Das Wort leitet sich vom französischen Begriff cordon (Schnur, Band) ab und bezeichnet im Sprachgebrauch des späten 18. und 19. Jahrhunderts eine Reihe in Verbindung stehender Militärposten. 46 Rothenberg, The Austrian sanitary cordon, 1973, 19. 47 Österreichs Vorkehrungen gegen die Pest an seinen östlichen Grenzen nach ihrem gegenwärtigen Bestand, in: Allgemeine Medizinische Zeitung, 4.6.1831, 705–715, 705.

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niedergeschossen“.48 Auch im Hinterland setzte das zentral gesteuerte System alles für die Verhütung des Übergreifens der Seuche ein. Kundschafter seien im Osmanischen Reich unterwegs, um die Verbreitung der Pest in Erfahrung zu bringen. Wenn die Pest sich nähere, würde „von der Kanzel“ das Volk über die entsprechenden Verhaltensmaßregeln belehrt. Die Quarantäneanstalten waren die Forts dieses Krieges. Sie bildeten die Schleusen, durch die Menschen und Waren gehen mussten und deren mustergültige Einrichtungen Systematik, Ordnung und Bedingungslosigkeit verkörperten. Auch sie erfüllten eine Aufgabe der Trennung, die „völlige Absonderung von Personen und Waaren aus der Türkei sowohl, als von Österreich.“49 Zahlen, Formen und Räume verstärkten den Eindruck der Ordnung, hier zum Beispiel in der Semliner Einrichtung, dem Flaggschiff der Flotte der Quarantäneeinrichtungen: Eine 12 Fuß hohe Mauer umschließt ein Viereck von mehr Länge als Breite. Innerhalb desselben liegt längs der einen Seite, und ungefähr 30 Schritte von der Mauer entfernt, die Reihe der Wohnungen für die Contumazirenden, die sogenannten Koliwen. Es sind Häuser von einem Stockwerk; jedes Haus liegt in einer Umzäunung von acht Fuß hohen Staketen. Eine Mauer theilt wieder den so umschlossenen Raum in zwei ganz getrennte Hälften und jedes Haus ist von unten bis zum Dach ebenfalls durch dieselbe verlängerte Mauer in zwei getrennte Hälften getheilt; mithin können in jedem Hause zwei ohne jede Verbindung bleibende Partien wohnen. Jedes Haus hat ein Zimmer, eine Küche und einen Boden vorn heraus. Hinter jedem Haus am Staketenzaun liegt ein Stall, ebenfalls durch eine Mauer getrennt.50

Sechs bis acht Personen verbrachten hier in Pestzeiten bis zu vierzig Tage, um ihre Freilassung zu erwarten. Zweimal pro Tag hatten die Insassen der „Contumaz“ Freigang, doch nur in Begleitung des Reinigungsdieners, der täglich die Zimmer mit Salpeter räucherte und die Textilien der Reisenden der frischen Luft aussetzen musste.  150 Menschen fasste die Contumaz in Semlin in solchen Verhältnissen, 40 Menschen arbeiteten hier, je 20 in den vielen anderen kleineren Einrichtungen. Die Pestfront war auch ein Arbeitsplatz. Die Praxis der Seuchenprävention erschien an diesen Orten in den zeitgenössischen Beschreibungen überaus rigide – in ihrer Strenge weit klarer als die Sichtweisen der

Dieser Schießbefehl wurde im Übrigen auch innerhalb des Reiches aufrechterhalten, wenn lokale Pestabwehrmaßnahmen zu setzen waren. So erneuerte die k. k. Landesregierung für das Erzherzogtum unter der Enns 1834 wohl vor dem Eindruck der eben erstmals aufgetretenen Cholera den ausdrücklichen Befehl, dass Contumaz-Übertreter, „wenn kein anderes Mittel erübriget, nieder geschossen“ werden sollten. Vgl. Sammlungen der Medizinischen Universität Wien, SA 2533; vgl. Josephinum, Circular. 49 Österreichs Vorkehrungen gegen die Pest an seinen östlichen Grenzen nach ihrem gegenwärtigen Bestand, in: Allgemeine Medizinische Zeitung, 4.6.1831, 705–715, 709. 50 Ebd., 710. 48

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Wissenschaft.51 Diese dichte Beschreibung der Allgemeinen Medizinischen Zeitung brachte die Einrichtung des Sanitätskordons in direkten Zusammenhang mit dem Verschwinden der Pest aus Europa, denn, so der Autor, der Kordon biete eine so große Sicherheit vor dem Eindringen, dass man die Pest als „ganz abgeschieden“ betrachten könne. Die Einrichtung des Kordons wurde in der Rückschau des 19. Jahrhunderts sogar zur historischen Mission Österreichs, sein Obsiegen im Kampf gegen die Pest eine ebenso historische Leistung: „Österreich hat das große Verdienst, das gebildete Europa seit einem Jahrhundert von der Pest frei gehalten zu haben“, heißt es in der Allgemeinen Medizinischen Zeitung.52 Der gewaltige Sanitätsapparat, der an den Grenzen zum Osmanischen Reich aufgebaut worden war, brachte die Österreichische Medizin in Kontakt mit dem einstigen „Erbfeind“. Im Zuge des Grenzverkehrs kam es zu vielfältigen Kontakten zwischen Ärzten, Chirurgen und sonstigen dem medizinischen Bereich zuzuordnenden Personen und dem Osmanischen Reich. So hielt sich der spätere (Mit-)Begründer der Wiener „Gesellschaft der Ärzte“ Franz Wirer (1741–1844) noch während seines Militärdienstes Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Heimholung einer Gruppe von Kriegsgefangenen in Konstantinopel auf und leitete offenbar auch eine Quarantäne in der Walachei.53 Um die unter dem Einfluss des Protomedicus von Siebenbürgen, Adam Chenot (1722–1789), erleichterten Quarantänebestimmungen abzusichern und im Zweifelsfall noch vor Auftreten der ersten Fälle an den Quarantänen andere Stufen Ebd., 712. Die Texte geben eine sehr konzise Bestandsaufnahme der Vollzugspraxis: „Die in Contumaz tretenden werden am Belgrader Eingang von einem Aufseher in Empfang genommen und rechts in das Räucherungshaus geführt, wohin man auch ihre Effecten bringt. Hier müssen die Koffer, Mantelsäcke, Taschen u. s. w. geleert werden. In einem abgesonderten Gange, der ein Fenster nach dem Räucherungszimmer hat, erscheint der (unvermischte) Contumazschreiber und nimmt ein genaues Verzeichnis von den Effecten des Eintretenden auf. Auch hat dieser, für den Fall seines Ablebens, den Betrag seiner bei sich habenden Baarschaft und die Geldsorten anzugeben. Das geprägte Geld wird in Essig gewaschen. Sobald dies Geschäft beendigt ist, wird der Eintretende mit heißgemachtem Salpeter und Kleien wohl durchräuchert und muß die rauchende Schüssel mehrmals überschreiten. (Das gewöhnliche Räucherungspulver besteht aus Schwefel, Salpeter und Kleien. Bewohnte Zimmer räuchert man auch mit salzsauren, unbewohnte mit oxygenirten salzsauren, oder mit salpetersauren Dämpfen.) Hierauf wird dem Eintretenden und denen, mit welchen er contumazirt, der Reinigungsdiener zugetheilt. Der Contumazdirector erscheint, macht sich mit den neuen Gästen bekannt und sagt ihnen die Verhaltungsregeln, worunter die hauptsächlichste ist, dem Reinigungsdiener in allen Stücken pünktlich Folge zu leisten, dagegen aber auch der größten Bereitwilligkeit der Contumaz gewDrufärtig zu seyn. Nun führt der Reinigungsdiener seine Abtheilung in die für die bestimmte Koliwe, an welcher eine Tafel mit dem Datum des Eintritts aufgehängt ist. In den Koliwen erhalten Personen aus den höhern Ständen und Gebildetere ein besonderes Zimmer, während der übrige Theil mit dem Reinigungsdiener das andere bezieht. Hier findet jedoch keine Rücksicht des Geschlechts statt; Männer und Frauen haben nicht gesonderte Zimmer, und es trifft sich wohl, daß eine einzelne Frau, oder ein Mädchen, mit einem Reinigungsdiener allein contumaziren muß. In dem Zimmer ist, außer einer an den Wänden hinlaufenden Pritsche, kein Möbel; hier sucht nun jeder der Zusammengesperrten sich seinen Platz abzugrenzen und die Mehrzahl der Übertretenden, an dies türkische Amöblement gewöhnt, begnügt sich damit; doch schafft der Reinigungsdiener alles, was man an Möbeln, Bett u. s. w. bedarf, gegen Vergütung schnell herbei.“ 52 Vgl. Österreichs Vorkehrungen gegen die Pest an seinen östlichen Grenzen nach ihrem gegenwärtigen Bestand, in: Allgemeine Medizinische Zeitung, 4.6.1831, 705–715, 705. 53 Nekrolog auf Franz Wirer, in: Wiener Zeitung, o. D., 1. 51

Der Pestkordon. Krieg gegen eine Krankheit

verordnen zu können, wurde aber auch ein Nachrichtenwesen aufgebaut, über das regelmäßige Informationen über den Gesundheitszustand im Osmanischen Reich nach Wien berichtet wurden. Erste Anfänge hatte dieser von Erna Lesky als „Gesundheitsnachrichtendienst“ bezeichnete Apparat mit der Aussendung von Emissären oder „Sanitätsspionen“ genommen und war später um eigens angestellte Sanitätsärzte ergänzt wurden, die in verschiedenen Gebieten des Balkans die Gesundheitssituation beobachteten und an die Sanitätskommandos der Generalkommandos der Militärgrenze berichteten. Ihre Aufgabe war es vor allem, die immer wieder auftretenden Pestgerüchte zu überprüfen, die von verschiedenen Seiten gestreut wurden.54 Seit 1779 wurden in Bukarest und Jassy Militärärzte im Rang eines Oberarztes stationiert und die Internuntiatur in Konstantinopel sowie die Konsulate und Agenzien der Habsburgermonarchie lieferten regelmäßige Berichte über den Gesundheitszustand im Osmanischen Reich nach Wien.55 Auch zur See war an den europäischen Häfen des Mittelmeeres schon seit dem 14. Jahrhundert ein System entstanden, das sich gegen die Einschleppung der Pest aus dem Osmanischen Reich richtete. Ebenso wie für die Landquarantänen galten zur See verschiedene Sicherheitsstufen, die in sogenannten „Patenten“ bescheinigt wurden, die die Schiffe mit sich führen mussten. Zu pestfreien Zeiten galten „Nettopatente“, zu Pestzeiten „Bruttopatente“: Wer mit Nettopatent anreiste, konnte die auf See verbrachte Zeit auf die Quarantäne anrechnen lassen und hatte nur vergleichsweise kurze Quarantäneaufenthalte zu gewärtigen.56 Für den Import von Gütern aus dem Osmanischen Reich, zumal der für die Textilindustrie wichtigen Baumwolle, war die Contumaz ein schwerwiegendes Handelshindernis. Bereits im 17. Jahrhundert überzeugte sich Joseph II. (noch als Mitregent seiner Mutter) im Zuge einer Inspektionsreise nach Siebenbürgen von der Bedrohung, die die strenge Quarantänepraxis für den Handel mit dem Osmanischen Reich bedeutete, und sprach sich schließlich für eine Erleichterung der Quarantäne aus. Einen Arzt, der dieses Anliegen in wissenschaftlicher Hinsicht unterstützen konnte, fand Joseph II. in dem gebürtigen Luxemburger Adam Chenot. Unter der Anleitung Chenots wurde die Quarantäne in „pestfreien“ Zeiten gänzlich aufgehoben und die Aufenthaltsdauern in den Kontumazen zu Zeiten der Pestgefahr deutlich reduziert. Die Vorstellung, dass die Krankheit reisen könnte, blieb die Grundlage für Chenots Denken. Doch statt der strengen Quarantänen führte Chenot eine Reihe von Reinigungsverfahren ein, mit denen Güter und Textilien Gerüchte wurden von Kaufleuten gestreut, die dadurch die Preise für ihre Waren in die Höhe treiben wollten, von korrupten Kontumazdirektoren oder auch von walachischen Dörfern, die in Pestjahren mit einer Steuerbefreiung rechnen konnten, vgl. Lesky, Die österreichische Pestfront an der k. k. Militärgrenze, 1957, 92. 55 Lesky, Die österreichische Pestfront an der k. k. Militärgrenze, 1957, 92. 56 Ebd., 82. Umfangreiche Arbeiten zur Geschichte der Pestverhütung im Mittelmeerraum legte der französische Historiker Daniel Panzac vor, auf die europäische Politik fokussiert in: Daniel Panzac, Quarantaines et lazarets. L’Europe et la peste d’Orient (XVIIe–XXe siècles), Aix-en-Provence 1986. 54

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schnell „pestfrei“ gemacht werden konnten. Die Erleichterung der Quarantänebestimmungen unter Chenots Einfluss hatte, auch wenn ihre Wirksamkeit aus heutiger Sicht kaum mehr beurteilt werden kann, zumindest keine negativen Auswirkungen: Im 19. Jahrhundert traten innerhalb der österreichischen Grenzen kaum mehr Pestfälle auf, während die Pest in Serbien und den venezianischen Teilen Dalmatiens noch viele Opfer forderte.57 Die Sinnhaftigkeit des „Sanitäts- oder Pestcordons“ aus heutiger Sicht zu beurteilen, bleibt spekulativ. Wie schon erwähnt hat der Rückgang der Pest in Westeuropa wahrscheinlich mehr mit der Verbreitung des tierischen Überträgers als mit dem Erfolg des Pestkordons zu tun. Medizinhistorische Abhandlungen seit den 1970er- und 1980er-Jahren des 20.  Jahrhunderts haben aufgezeigt, dass viele sanitätspolizeiliche Entscheidungen stark auch durch wirtschaftliche Erwägungen geprägt waren.58 Für die Aufrechterhaltung des „Pestcordons“ bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts – gegen den immer stärker werdenden Widerstand medizinischer Fachleute – mag es auch innenpolitische Gründe gegeben haben, so ist zum Beispiel der Selbsterhaltungstrieb der an der Grenze und in der Zentrale in Wien entstandenen Verwaltungsstrukturen ein nicht zu vernachlässigender Faktor.59 Pestgerüchte, die an der Grenze aus wirtschaftlichen Gründen immer wieder gestreut wurden, machten tiefergehende Informationsmaßnahmen notwendig. Sogenannte „Sanitätsspione“ oder „Emissäre“ überschritten bereits im 18. Jahrhundert regelmäßig die Grenze zum Osmanischen Reich, um Pestgerüchten auf den Grund zu gehen.60 Der Pestkordon und seine Sanitätseinrichtungen waren für die akademische Medizin der Habsburgermonarchie dadurch in anderer Hinsicht überaus produktiv: Durch die forcierte Auseinandersetzung der österreichischen Medizin mit der Pest und ihren

Erna Lesky, Die josephinische Reform der österreichischen Seuchengesetzgebung, in: Sudhoffs Archiv 40, 1956, 78–88, hier: 78. Chenots Denken, das auf „kontagonistischen“ Vorstellungen aufbaut und versucht, komplexe Faktoren bei der Krankheitsentstehung zu berücksichtigen, behandelt Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy, 2011. 58 Gheorghe Brătescu, Seuchenschutz und Staatsinteresse im Donauraum (1750–1850), in: Sudhoffs Archiv 63/1, 1979, 25–44; Ronald E. Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1837–1848, in: Journal of the history of medicine and allied sciences 44/1, 1989, 28–55; und neuer: Mark Harrison, Disease, diplomacy and international commerce: the origins of international sanitary regulation in the nineteenth century, in: Journal of Global History 1/2, 2006, 197–217, doi: 10.1017/S1740022806000131. 59 Siehe hier zum Beispiel zuletzt: Promitzer, Grenzen der Bewegungsfreiheit, 2012; und bereits früher: Vgl. Brătescu, Seuchenschutz und Staatsinteresse im Donauraum, 1979. Die These, wonach die Verwaltung besonderes Interesse an der Aufrechterhaltung des Kordons hatte, vertritt auch: Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 41. 60 Gerüchte wurden beispielsweise von walachischen Klöstern gestreut, die Visitationen vermeiden wollten, oder von griechischen Händlern, die durch ihre beiderseits der Grenzen bestehende Organisation dadurch Handelsvorteile zu generieren hofften. Lesky, Die österreichische Pestfront an der k. k. Militärgrenze, 1957, 97; Marlene Kurz, Die Einführung von Quarantänemaßnahmen im Osmanischen Reich. Eine Untersuchung zur Reformpolitik Sultan Mahmuts II, Bd. 9: Edition Wissenschaft Reihe Orientalistik, Marburg 1999, 19. 57

Die Vorstellung vom „Orient“ als Pestherd

Übertragungswegen erwarben Ärzte ein spezifisches Wissen, das nicht nur in der Sanitätsverwaltung der Monarchie, sondern auch im Osmanischen Reich und anderen Ländern gefragt war.61 5.3

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Voraussetzung für das Bestehen einer solchen Grenze war die Zuschreibung der Entstehung zu einem bestimmten Ort. Vor allem jene, die sowohl die „miasmatischen“ Aspekte der Krankheitsentstehung als auch die „kontagiösen“ Erkenntnisse unter einen Hut bringen wollten, mussten sich mit der Frage der „ursprünglichen Erzeugung der Krankheit“ auseinandersetzen. Ein zentrales Element in diesen Debatten bildete die Grundannahme eines in der entsprechenden Literatur meist kaum näher definierten „Orients“, dessen Verfasstheit als krankheitserzeugend verstanden wurde. Das zentrale diskursive Element war die Gefahr, die vom „Orient“ ausging.62 In der 1837 neu erlassenen Sanitäts-Polizei-Ordnung hieß es: „Unter den Seuchen des Menschengeschlechts, welche in den älteren Zeiten so oft die Europäischen Länder entvölkerten […] ist eine der fürchterlichsten, die Orientalische oder Levantinische Pest“, welche „gewöhnlich aus dem Orient in die k. k. Staaten eingebracht“ werde.63

So bildeten die Arbeiten von Carl Ludwig Sigmund in den 1840er-Jahren eine Grundlage für einen Bericht des englischen General Board of Health an das britische Parlament im Jahr 1849. Karl Holubar, Carl Ludwig Sigmund in der Türkei. Insbesondere seine Besuche in Istanbul im Mai, Juli und August 1849 (Anno Hegirae 1265), in: Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius (Hg.), Die Hohe Medizinschule Galatasaray und ihre Bedeutung für die moderne türkische Medizin. Berichte des Symposions am 18.9.1989 anlässlich des 150. Gründungsjahres, Istanbul 1993, 96–105. 62 Johann Werfring führt in seiner Arbeit „Der Ursprung der Pestilenz“ „himmlische Ursachen“, „irdische Ursachen“ und „innerliche Ursachen“ als Haupterklärungsmuster der Pest im Mittelalter und der frühen Neuzeit an. Unter den irdischen Ursachen findet sich die „kontagiöse Fortpflanzung“, jedoch ohne irgendeinen Bezug auf eine von den Zeitgenossen vermutete Einschleppung. Vgl. Werfring, Der Ursprung der Pestilenz, 1998, 117. Erst im 18. Jahrhundert tritt das Motiv der Einschleppung aus dem Orient in den Vordergrund. Die Pestordnung Managettas legt den Schwerpunkt im 17. Jahrhundert noch ganz auf die göttliche Strafe und die lokalen Umstände. Auch im 18. Jahrhundert scheint dieses Faktorenbündel zunächst zu dominieren, vgl. dazu die Neuauflage der Pestordnung aus dem Jahr 1763: Johann Wilhelm Mannagetta u. a., Pestbeschreibung und Infections-Ordnung. Welche vormals in besondern Tractaten herausgegeben, nunmehro aber in ein Werk zusammen gezogen, samt der Anno 1713. zu Wien in Oesterreich fürgewesten Contagion, mit denen dargegen gemacht- und beschriebenen Veranstaltungen; dem gemeinen Weesen zum Besten in Druck befördert, Wien 1763. 63 Vgl. Josph Berndt, Pest-Polizey-Ordnung für die k. k. Oesterreichischen Staaten, in: Medicinische Jahrbücher des k. k. österreichischen Staates., Bd. 15, 1837, hier: § 1. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass man in der medizinhistorischen Literatur auch geradezu entgegengesetzte Ansichten finden kann. So sagt Ackerknecht, dass man sich zur Zeit der napoleonischen Expedition nachgerade einig gewesen sei, dass die Pest nicht ansteckend sei. Er stützt sich dabei aber ausgerechnet auf den flammenden Quarantänefeind Maclean, sodass diese Feststellung irreführend zu sein scheint. Siehe dazu den bereits mehrfach erwähnten Aufsatz von Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, 1948. 61

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Grundsätzlich bestand in der Krankheitsvorstellung der Pest zwischen den Auffassungen der europäischen Ärzte und der islamisch-arabischen Tradition bis zum 19. Jahrhundert eine diskursive Übereinstimmung: Fast alle Motive, die sich in den Vorstellungen Sorbaits und seiner Zeitgenossen finden (die Sternenkonstellation, Wetter, Klima, Naturereignisse, Fäulnis und unsaubere Zustände), finden sich sowohl in der arabisch-islamischen als auch in der europäischen Literatur zur Pestentstehung.64 Johann Wilhelm Mannagetta (1588–1666) bemühte in seiner Pestordnung aus der Mitte des 17. Jahrhunderts Gottes Willen, seine strafende Absicht und das sündige Leben der Menschen, das auch in Unordnung, Gestank und Fehlernährung seinen Ausdruck findet, um das Auftreten der Krankheit zu erklären. Die Pest könne durch „Unsauberkeit der Gassen“ entstehen, aus verdorbener Luft oder anderen äußeren Ursachen, auch durch Zauberei oder gar, weil Menschen sich selbst zu sehr fürchten würden. Der Gedanke, dass das „Gift“ reisen könne, war bei Mannagetta schon angelegt. Nicht solle man Kranke und ihre Gegenstände in die Stadt lassen. Dass die Pest eine Gefahr aus dem Orient sei, dürfte in Wien anders als im Mittelmeerraum bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts kein essenzieller Bestandteil des Pestdiskurses gewesen sein. Viele Ärzte lehnten dieses Konzept der Krankheitsentstehung und -übertragung rundweg ab. Der renommierte Arzt und Professor an der Medizinischen Fakultät, Maximilian Stoll, argumentierte noch zur Mitte des 18. Jahrhunderts, dass die Pest keineswegs in einem bestimmten Territorium endemisch sei; vielmehr käme es auf bestimmte Umstände an, die den Ausbruch einer Krankheit bedingen würden.65 Doch auch jene, die den Pestkordon und seine Grenze für absurd hielten, begannen, einen Blick auf die Verhältnisse jenseits des Schutzwalls zu werfen, um ihre Argumente gegen den Pestkordon zu untermauern. Der Arzt und Medizinalpolitiker Joseph Pascal Ferro (1753–1809) war vom Problem der Krankheitsentstehung fasziniert. Der in Bonn geborene Sohn italienischer Einwanderer hatte in Wien Medizin studiert und sein Studium im Jahr 1777 abgeschlossen. Zweifel an Vorstellungen einer unbedingten Ansteckung durch Berührung oder Sekret kamen ihm, als er eine an der „Hundswuth“ verstorbene Frau obduzierte und sich dabei in den Finger schnitt. 1782 veröffentlichte er eine Arbeit zu dem Thema, die er selbst nicht als wissenschaftlich verstanden wissen wollte; vielmehr handle es sich mehr um einen „Wink als um eine Belehrung“.66

Dols, The Black Death in the Middle East, 1977, 91. Die „tellurische“ Konstellation, die Sorbait in Wien für den Ursprung der Pest im 17. Jahrhundert verantwortlich machte, wird zu Beginn des 11. Jahrhunderts schon vom persischen Arzt Ibn Sīnā diskutiert. 65 Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy, 2011, 63. 66 Pascal Joseph von Ferro, Von der Ansteckung der Epidemischen Krankheiten und besonders der Pest, Leipzig 1782, 6. Ferros Begründung, warum er die Arbeit nicht als wissenschaftliche verstanden wissen wolle, ist noch heute lesenswert: „Ich hätte nun aber freilich diesen Aufsatz in genauere Ordnung bringen, und ihm die Gestalt einer förmlichen Abhandlung geben sollen; aber ich wäre dadurch in die Notwendigkeit gesetzt worden, vieles umzuändern, vieles zu verdunkeln, vieles wegzulassen, und überhaupt den vertraulichen Styl mit ernsthaften 64

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Bei Ferro zeigt sich die zunehmende Differenzierung eines „Wir“ gegen ein fürchterliches, abstoßendes „Anderes“, doch zunächst anders, als man es erwarten würde. Die zeitgenössische Literatur reflektierend stellte Ferro genau die Zuschreibung der Pest an einen „Orient“ infrage: „Wir sehen sie [die Pest, Anm.] meistens wie eine Schlange an, die ihren festen Grund und Boden nun einmal im Türkischen Reiche genommen hat, die aber auch außerhalb auf alle Seiten zu hinlauert, und wo sie nur irgend eine kleine Lücke findet, flugs! Hinausglitscht, und dann überall ihr Gift ausspeiet. Sahen wir nicht vor einigen Jahren die ungarischen Fieber mit eben dem Wahn an?“67 Die Grenzen Deutschlands seien so zu Grenzen der Gesundheit geworden. Schließlich habe man doch festgestellt, dass man hüben wie drüben gesund leben könne; freilich seien manche Menschen an Orten, an denen Sümpfe bestanden, tatsächlich erkrankt, doch dem habe man mit dem Austrocknen gekontert.68 Der Krieg sei es, von dem die eigentliche Gefahr drohe. „Das blosse Leben im Krieg kann herrschende faule Fieber erregen; wenn nun Witterung, nahe Sümpfe, Berge von Todtenleichen, die kaum mit Erde überschüttet sind, enge Krankenhäuser, und in denselben die größte Unordnung, keine Hilfe und überall Tod. – Wenn dieses all sich noch dazuschlägt, braucht man da Aethiopien, um die Pest herzuholen?“69 Für das Entstehen von Ferros Werk dagegegen war Konstantinopel von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ferro selbst bezeichnet zwei Briefe aus Konstantinopel, die er von einem Arzt dort erhalten habe, als Anlass für seine Schrift.70 1787 ging Ferro der Frage nochmals genauer nach.71 Obwohl er, wie er selbst sagte, die Pest nie gesehen habe, habe er sich dazu entschlossen, seine Ansichten über die Ansteckung genauer zu fassen. Über die Behandlung wolle er mangels Erfahrung nicht sprechen; aber die Funktionsweise der Ansteckung könne der „kalte Sammler“ von Berichten durch Abwägen der verschiedenen Berichte besser klären, als der „nahe im Taumel der Unordnung lebende Arzt“, auf den die Ängste des Volkes übergreifen würden.72 Blattern, Masern und „Hundswuth“ seien die hitzigen Krankheiten, die für sich selbst genommen anstecken würden, ohne dass es auf die Umstände ankäme; außerdem seien auch die Krätze und die Lustseuche als nicht hitzige Krankheiten unmittelbar anste-

und gravitätischen Perioden zu verwechseln worinn man gewöhnlich mit der Welt in dergleichen Untersuchungen zu sprechen müssen glaubt, – um nicht gelesen, – oder nicht verstanden zu werden.“ 67 Ferro, Von der Ansteckung der Epidemischen Krankheiten, 1782, 18. Zu den „ungarischen Fiebern“ vgl. Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy, 2011, 73, die darauf hinweist, dass Ungarn bei den „Deutschen“ als notorisch ungesundes Land gegolten habe. Ungarische Ärzte kämpften gegen dieses Bild aktiv an und verwehrten sich gegen diese pauschale Verurteilung. 68 Ferro, Von der Ansteckung der Epidemischen Krankheiten, 1782, 18f. 69 Ebd., 19. 70 Ebd., 2. Verlagsort des Werkes ist Leipzig, als Ort der Abfassung der Vorrede wird aber Wien angegeben. 71 Pascal Joseph von Ferro, Pascal Joseph Ferro nähere Untersuchung der Pestansteckung, nebst zwey Aufsätzen von der Glaubwürdigkeit der meisten Pestberichte aus der Moldau, und Wallachey, u. der Schädlichkeit der bisherigen Contumazen von Lange und Fronius, Wien 1787. 72 Ebd., Vorrede.

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ckend. Für alle anderen Krankheiten seien dagegen die Umstände, denen der Kranke ausgesetzt sei, entscheidend. In Ferros zweiter Schrift bildete das „Morgenland“ den Ausgangspunkt der Argumentation, da die Pest „im Morgenland öfters grassiert“.73 Die Pest war für Ferro eine „Epidemie“: So nenne man „alle diejenigen Krankheiten, welche viele Menschen an einen Ort gleich nacheinander angreifen, und dann wieder verschwinden, epidemisch“. Das Erklärungsschema, das er schon 1782 angedeutet hatte, verdichtete sich nun. Es sei davon auszugehen, dass alle Epidemien aus „allgemeinen Ursachen“ entstehen, die „nicht ansteckenden“ aber bei Nachlassen der Ursachen aufhören. Dazu zählte er auch die Pest, die er durch die Charakterisierung als „bubonenbildend“ von den anderen „Faulfiebern“ abgrenzt. Sie sei eine „epidemisch ansteckende Krankheit“, die sich von den „für sich ansteckenden Krankheiten“ klar durch ihren Bezug zu den äußeren Umständen unterscheidet. Dennoch bezog er das Konzept der direkten Ansteckung in seine Überlegeungen mit ein: Die Pest könne sich „von einem Körper zum anderen ungemein leicht“ fortpflanzen, so durch den „Dunst“, doch die Kraft der Ansteckung hänge immer von den Umständen ab.74 Ferros Grundaussage lautete: „Mit der Pest sind allzeit ungesunde Umstände verbunden“, denn es „führen die meisten Pestbeschreibungen sehr viele ungesunde Umstände an, die dazumal allgemein waren“. Als solche nannte er Teuerung, Hungersnot, Überschwemmungen, Krieg mit allen folgenden Übeln, anhaltend regnerisches oder warmes Wetter, verdorbenes Brot und Trinkwasser, Luft auf verschiedene Art, und es wirken „all diese schädlichen Umstände entweder einzeln oder ihrer mehrere zusammen“. Für die Verhütung der Pest forderte Ferro also: „Erstens: müssen die schädlichen Umstände getilgt, oder verbessert werden“ und „Zweytens: muß die Ansteckung hintan gehalten werden.“75 Ferro stellte die gesellschaftlichen Verhältnisse in einen engen Zusammenhang mit der Entstehung der Krankheit und analysierte zunächst die Verhältnisse in Ägypten, die er aus den Berichten der Reisenden seiner Zeit zu kennen glaubte. In Aegypten und den morgenländischen Gegenden, wo die Pest so oft grassiret, finden die Reiseschreiber so viele der Gesundheit höchst schädliche Umstände beisammen, daß sie sich gar nicht wundern, daß da so oft die Pestseuche ist. Die Überschwemmungen der Flüsse, die faulenden Körper der todten Thiere bei der Zurücktrettung des Wassers, das äusserst elende Leben der gemeinen Leute in diesen despotischen Ländern, das warme Clima dabei, und die ungesunden Südwinde, welche bei der Zurückkunft der Sonne von der südlichen Hemisphäre, und ihrer Annäherung zum Äquator gemeiniglich sich einstellen, und anfangs warm, bald aber heiß, und unausstehlig für die Hitze sind; und welche nicht alleine hiedurch, sondern durch die ungesunden und faulen Ausdünstungen, die sie

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Ferro, Nähere Untersuchung der Pestansteckung, 1787, 26. Ebd., 84–86. Flamm, Paskal Joseph Ritter von Ferro, 2009, 349.

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auf ihrem Wege von den stehenden Sümpfen in Afrika und Aegypten mit sich nehmen, dem Leben höchst schädlich sind; dies alles und noch mehrere schädliche Dinge können anders nichts, als den verderblichsten Einfluß auf die Gesundheit der armen Menschen haben; die dann auch haufenweise mit der heftigsten Pestkrankheit befallen werden, die in einigen Tagen tödtet. Nur die elenden arme Leute sind es, die die Seuche bekommen, die Reichen, und Großen hingegen werden selten damit behaftet.76

Einen großen Einfluss schrieb Ferro den klimatischen Verhältnissen zu: Je nach der Richtung der Winde und der Sternkonstellation könne das Land auch pestfrei bleiben. Analog zu den schädlichen Umständen, die er im „Morgenland“ konstatierte, führte er das Argument, wonach die Pest von den Umständen abhänge, auch nach Europa weiter. Er bemühte sich zu beweisen, dass die Pest nach einer gewissen Zeit sozusagen „restlos abklinge“ und die Absperrungen, die er während des Wütens der Pest für sinnvoll hielt, nach dem Ende der Epidemie keinen Sinn mehr machen würden. So kam er schließlich auch zur Frage, ob die „immerwährenden Contumazen“ an der Grenze zu den Provinzen des Osmanischen Reiches sinnvoll seien. Er beantwortete die Frage mit „Nein“ und führte ein historisches Argument ein: Das „türkische Gebiet“ und insbesondere Konstantinopel sei zwischen 330 und 1454 weit weniger von der Pest betroffen gewesen als beispielsweise Italien. Erst in der Zeit der türkischen Herrschaft hätten sich die Lebensumstände der Menschen geändert. Da sich das Klima nicht geändert habe, müsse es andere Gründe geben.77 Da sei zum einen die „despotische Regierungsart“, worunter die Einwohner dieser Länder seufzen, und wo 9 Theile derselben in der äussersten Armuth und Sclaverei leben, ganz entblößt sind von allem, und noch dabei sehr hart behandelt werden; wo in Städten die Menschen aufeinander gehäuft, und in großer Unsauberkeit zusammen wohnen wo öfters wegen schlechten Anordnungen Theuereung Mangel und Hungersnoth ist, und dies in einem warmen, zu faulenden Krankheiten disponirenden Clima: da ist also gar nicht zu wundern, wenn beinahe alle Jahre eine diesem Lande, und diesen Umständen eigene epidemische Seuche entsteht, die dann die wahre Pest ist.78

Zum anderen würden zu wenige Schutzmaßnahmen ergriffen: „Denn da der Staat auf Barbarey sich gründet, welche die Wissenschaften verachtet und wegscheucht, so sind auch in diesem Lande weder Ärzte noch weise Patrioten, die dem öffentlichen Elende durch dienliche Mittel abhalten.“79 Dies gelte vor allem für die wärmeren Provinzen des Osmanischen Reiches, die „kühleren“ Balkangegenden nahm er von dieser Beurteilung aus.80 Ganz Vgl. Ferro, Nähere Untersuchung der Pestansteckung, 1787, 30. Ebd., 137. Ebd., 138. Ebd. William McNeill bietet für das von Ferro hier wahrgenommene häufige Auftreten der Pest in Ägypten einen Erklärungsansatz an: Durch die Handelsbeziehungen der in Ägypten bis ins 16. Jahrhundert herrschenden Mamelucken mit dem Schwarzmeergebiet sei die Krankheit immer wieder von dort einge-

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generell sei es die „Lebensart der Völker“, die an der Entstehung der Pestseuchen beteiligt sind: „Doch aber scheint die schmutzige und äußerst elende Lebensart der in diesen Ländern wohnenden sclavischen Völker der wichtigste Zusatz zu seyn, und das meiste zu den da öfters herrschenden Pestseuchen beizutragen.“81 Die Umstände seien es, die das oft plötzliche Ausbrechen und das ebenso plötzliche Verschwinden der Krankheit bedingen würden; auch im Orient, wo es keine Quarantänemaßnahmen gebe, klinge die Krankheit nach zwei Jahren wieder ab und verschwinde. Es seien also die Menschen und ihre Lebensverhältnisse, und nicht (allein) die klimatischen Bedingungen, die für die Pest verantwortlich seien. Die türkischen Länder seien „an sich gesund“.82 Daraus leitete er ab, dass weder die Reichen eines Landes (und im speziellen des Osmanischen Reiches) an der Pest erkrankten noch Reisende, die ein Land nur für kurze Zeit besuchen. Die Quarantäne gegen beide Gruppen hielt er daher für sinnlos, ebenso die gegen Waren. Nur bei Waren, die aus Pestgegenden kamen, sei die Quarantäne und Reinigung angebracht.83 Ferro beschränkte die Krankheitsentstehung der Pest nicht nur auf den Orient, was ihm von späteren Autoren Kritik einbrachte.84 Der Krieg, den er selbst als den wesentlichen Promotor der epidemischen Krankheiten bezeichnet hatte, sollte ihm selbst zum Verhängnis werden. Ferro starb 1809 während der Schlacht von Wagram offenbar am Typhus.85 Die Ausführungen scheinen den Blick von einem „bedingungslosen Contagonismus“ hin zu den Umständen der Krankheitsentstehung leiten zu wollen, ohne die Ansteckungsfähigkeit der Krankheit generell infrage zu stellen. Das ist zum Beginn des 19. Jahrhunderts noch lange kein „Mainstream“. Aus der Kritik einer einseitigen Sichtweise, wie sie Ferro äußerte, entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten medizinische Ansichten, die in der Medizingeschichtsschreibung als „antikontagonistisch“ bezeichnet wurden.86 Was an Ferros Ausführungen fasziniert, ist die Klarheit, mit der er nicht das Klima, sondern den Orient in seiner Regierungs- und Gesellschaftsform anspricht. Der als Bild in den Köpfen eurpäischer Leser bereits verdichtete „Despotis-

schleppt worden. Die Mamelucken blieben bis zum Einmarsch der Franzosen einflussreich; dadurch erkläre sich auch das Nachlassen der Pestepidemien im 19. Jahrhundert, da die Mamelucken durch die Franzosen 1798 abgesetzt worden waren und der auf die Franzosen schließlich folgende Statthalter Muhammad Ali eine andere Handelspolitik verfolgte. McNeill, Plagues and Peoples, 1989, 165. 81 Vgl. Ferro, Nähere Untersuchung der Pestansteckung, 1787, 136. 82 Ebd., 136; sowie die Rezeption bei Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 101. 83 Vgl. Ferro, Nähere Untersuchung der Pestansteckung, 1787, 140. 84 Ignaz Lorinser warf ihm in den 1830er-Jahren deshalb „Unbekanntschaft mit dem Mutterland der Pest“ vor; es sei überhaupt gegen das Werk wenig einzuwenden, „wenn er die ursprüngliche Entstehung der Krankheit nur auf den östlichen Rand des Mittelmeeres eingeschränkt hätte.“ Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 102. Bezeichnenderweise gibt es allerdings auch keinen Hinweis darauf, dass Lorinser jemals in Ägypten gewesen wäre. 85 Flamm, Paskal Joseph Ritter von Ferro, 2009, 353. 86 Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, 1948.

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mus des Orients“ und der vermeintlich rückschrittliche, unzivilisierte Islam treten hier erstmals klar im Zusammenhang mit krankheitserzeugenden Verhältnissen auf. Ferros Ansichten hatten den Charakter einer vielfach geteilten „Gegenmeinung“. Die „sanitätspolizeiliche Staatsdoktrin“ bildete damals wie auch lange später eine Ansteckungslehre, in deren Zentrum die mehr oder weniger direkte Übertragbarkeit der Pest stand. Dass Unsauberkeit und Schmutz einen schädlichen Einfluss haben konnten, wurde aber bereits zur Mitte des 18.  Jahrhunderts in medizinischen Schriften festgehalten. Das in der Habsburgermonarchie auf Initiative von Gerard van Swieten erlassene Sanitätsnormativ von 1770 legte fest, dass in allen Städten und Gemeinden die Sauberkeit der Straßen, Häuser, Seen und Bäche überprüft werden sollte. Auf die staatliche Pestpolitik konnten solche Überlegungen noch keinen Einfluss gewinnen.87 Der Protomedicus von Ungarn und „dirigierende Pestarzt“ für die kaiserlichen Staaten, Franz Schraud, veröffentlichte 1805 seine „Vorschriften der inländischen Polizey gegen die Pest und das gelbe Fieber“, in der er eine reinere Ansteckungslehre vertrat und dem Staat vor dem Hintergrund der von den Gegnern der Contumazen ins Treffen geführten Argumente empfahl, „mehr Rücksicht auf die Zufälle [zu nehmen], und Folgen der Ansteckung; als auf die einzelnen Krankheitserscheinungen, worauf die Spitzfindigkeiten des medizinischen Widerspruches sich zu gründen pflegen.“88 So sei das Contumaz-System eben nicht perfekt und immer Gegenstand menschlicher Fehler, wodurch die Pest eben diese Grenzen fallweise auch überwinden könne. Die Frage, welche Verhältnisse in einem von ihm nicht gesondert ins Treffen geführten „Orient“ herrschten, war für Schraud in seinen „Vorschriften der inländischen Polizey“ wenig relevant. Obwohl er die Quarantänen verteidigte, wies Schraud bereits ganz allgemein darauf hin, dass durch aufmerksame Beobachtung der Gesundheitsverhältnisse und Kontrollen mehr zu gewinnen sei als durch die Quarantänen.89 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewann die Debatte über die medizinischen Verhältnisse im Orient an Bedeutung. Abhandlungen über die Pest fanden sich schon in der zahlreichen Literatur, die im Gefolge der napoleonischen Expedition nach Ägypten entstanden war.90 Noch trat die Pest vorwiegend als eine unter mehreren Krankheiten auf, die man im Orient beobachten konnte. 1820 erschien in Wien ein neues Werk von Ludwig Frank, dem wir bereits bei der Abhandlung der Augenentzündung begegnet sind. Das Buch „De Peste, Dysenteria et Ophthalmia“ repräsentierte ein neues Genre der medizinischen Literatur über den Orient: Bestimmte Krankheiten wurden

Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy, 2011, 64. Schraud, Vorschriften der inländischen Polizey, 1805, 12. Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy, 2011, 72. Möglicherweise leistete die Verfügbarkeit Ägyptens als Beobachtungsraum einen Beitrag zur Vertiefung dieser Zuschreibung, denn die Pest trat zu dieser Zeit nicht nur in Ägypten auf, sondern auch auf dem Balkan, so etwa im heutigen Bulgarien zwischen 1806 und 1812. Vgl. Promitzer, Grenzen der Bewegungsfreiheit, 2012.

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dem Orient zugeordnet; eine davon ist die Pest.91 In dem Buch sind seine Erfahrungen aus Ägypten verarbeitet, es überschneidet sich in weiten Teilen mit dem bereits im Kapitel über die Augenentzündung erwähnten Werk.92 Franks Zusammenschau der wichtigsten Krankheiten des Orients erfreute sich großer Aufmerksamkeit: Wieder war es besonders die Pest, die in einer Rezension des Werkes in der „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ im September 1821 besondere Beachtung frand. Insbesondere die Frage, warum die Pest dort entstünde, während sie in Europa kaum mehr vorkomme, beschäftigte Autor und Rezensenten. Frank lehnte in seinem Werk die Ansicht ab, wonach die Pest in Ägypten ihren Ausgangspunkt nehmen würde, auch wenn es dort besonders häufig zur „Entwicklung von Contagien“ käme. Einen Zusammenhang des Ausbrechens mit Naturphänomenen wie der Nilschwelle wollte Frank nicht eindeutig erkennen, dennoch widmete er den Zusammenhängen zwischen klimatischen und kosmischen Rahmenbedingungen ( Jahreszeiten, Mondphasen) breiten Raum. Nach Franks Ansicht war der Grund dafür darin zu suchen, dass sich die Pest in einem kranken Menschen aus einem „bösartigen Typhus“ heraus entwickle. Dass dies in Ägypten aus sich selbst heraus geschehen könne, während es in Europa nicht mehr vorkomme, schrieb Frank den sanitären Verhältnissen zu. Es werde zu wenig Sorge für die Kranken getragen, die Wohnungen seien schlechter als in Europa und auch die sanitätspolizeilichen Maßnahmen würden fehlen. Der Rezensent stellte Franks Ansicht infrage und meinte, wer die Verhältnisse während der letzten Kriegsjahre – gemeint sind wohl die Napoleonischen Kriege – gesehen habe, könne diese Ansicht nicht teilen. Die Übertragbarkeit der Pest stand dabei nicht im Vordergrund; vielmehr ging es um einen vermeintlichen „Entstehungsort“ der Pest, den sowohl der Autor Frank als auch der Rezensent im „Orient“ und spezifischer in Ägypten verorteten. Letztendlich waren es die Verhältnisse des Orients, die zumindest Frank für das dort angenommene „Entstehen“ der Pest verantwortlich machte.93 Frank zählte zu jenen Ärzten, für die die Verhältnisse für die Krankheitsentstehung eine bedeutendere Rolle spielten als die „Ansteckung“. Auch Ärzte, die eher kontagonistischen Theorien anhingen, teilten das Bild vom ungesunden Orient. 1827 gab Christoph Wilhelm Hufeland in Berlin die Erinnerungen des Arztes Enrico di Wolmar heraus, der Ende des 18. Jahrhunderts mehr als ein Jahrzehnt lang in Ägypten gelebt hatte.94 Der gebürtige Italiener Wolmar kam 1788 (im

Seit Ende des 18. Jahrhunderts finden sich in den „Medicinischen Geographien“ bestimmter Städte oder Regionen dazu Vorbilder, die später bei den Werken von Oppenheim und Rigler wirksam werden. 92 Louis Frank, De Peste, Dysenteria et Ophthalmia aegyptiaca, Viennae/Wien 1820. 93 Rezension: Ludovico Frank, De Peste, dysenteria et ophthalmia aegyptiaca, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 3.9.1821, 189–192. 94 Sein Buch ist auch ein Zeitdokument der Verhältnisse in Ägypten vor dem Einmarsch der Franzosen. So erwähnt er mehrfach den Österreichischen Konsul Rosetti, der ein enges Verhältnis zu den führenden Vertretern der regierenden Mamelucken hatte. Ausführlich schildert er die Rolle Rossettis beim gescheiterten Versuch Ali Beys, Ägypten vom Osmanischen Reich abzuspalten. 1802 kehrte Wolmar nach Europa zurück und übersiedelte nach Berlin. 91

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Alter von 39 Jahren) nach Kairo, wo er einige Zeit als Arzt des Statthalters tätig war und auch ägyptische Altertümer erforscht haben dürfte.95 In seinem Vorwort bezeichnete Hufeland die Pest als Krankheit, „die jeder, auch der europäische Arzt sorgfältig zu kennen hat.“ Auch wenn in den letzten Jahren das gelbe Fieber weit mehr Aufmerksamkeit der Wissenschaft erfahren habe, so sei die Pest doch das furchtbarere Übel. „Sie umlagert uns unaufhörlich wie ein furchtbarer Feind, sowohl zu Wasser, als zu Lande, ja sie lauert gleichsam unaufhörlich an den Grenzen Österreichs und Rußlands auf eine Gelegenheit einzudringen […].“96 Diese Zuspitzung der Pest hatte ikonischen Charakter und wirkte auf die folgenden Autoren, die sich mit der Pest und Ägypten beschäftigten. Wenige Jahre später wurde Hufelands Formulierung von dem genauen Leser Carl Lorinser fast wortgleich aufgegriffen. Die Pest könne aus ihrer Heimat Ägypten auf vielfältigen Wegen ausgebracht werden, „sie umlagert uns wie ein furchtbares Raubtier, sowohl zu Wasser als zu Lande, und lauert vorzüglich an den Grenzen des türkischen Gebietes auf Gelegenheit, hervorzubrechen und wieder wie sonst über Europa herzufallen.“97 Hufeland betrachtete die Pest – wie auch Wolmar in seiner Abhandlung – als grundsätzlich „kontagiös“ und sah darin auch den unmittelbaren Grund für die Aufrechterhaltung der Quarantänen: Wir verdanken es nur der strengen Aufsicht und Quarantäne, daß die Einführung dieses Giftstoffes verhindert wird, und wir bisher frei davon geblieben sind. Aber wie viele unbemerkte Einschleichungen sind dennoch möglich, besonders in Kriegszeiten, und so lange die Träger dieses Giftes, die Türken, unsere so nahen Nachbarn bleiben. Und wie wichtig bleibt hier besonders die Erkenntnis, der Krankheit gleich in ihrem ersten Erscheinen, damit man die etwa übertragene Krankheit gleich in ihrer ersten Entwicklung unterdrücke, und in ihrer weiteren Verbreitung durch strenge Absonderung Grenzen setze!98

Wolmar selbst hielt die Pest nicht für in Ägypten endemisch, sondern erklärte, dass sie, wovon er sich selbst überzeugt habe – regelmäßig aus Konstantinopel eingeschleppt werde.99 Er nannte die zuletzt verstärkten Behauptungen, wonach die Quarantänen überflüssig seien, als Grund, seine Arbeit zu veröffentlichen. Die Pest sei ansteckend und verbreite sich dabei oft mit der „Explosionskraft des Schießpulvers“, auch wenn die Wolmar dürfte sich auch bereits vor dem Eintreffen der Franzosen als Archäologe betätigt haben. So schildert er, wie er von mehreren Dutzend Reitern gegen Überfälle gesichert und mit Werkzeugen ausgerüstet Ausgrabungen bei nahe den Nilkatarakten gelegenen Steinbrüchen vorgenommen hat und auch die Öffnung einer Grabkammer dort. Wolmar/Hufeland, Abhandlung über die Pest, 1827, 108. 96 Wolmar/Hufeland, Abhandlung über die Pest, 1827, V. 97 Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 337. 98 Wolmar/Hufeland, Abhandlung über die Pest, 1827, VI. 99 Lorinser unterstellte Wolmar, er habe sich nur deshalb gegen Ägypten als Heimat der Pest ausgesprochen, weil die Mehrzahl der Befürworter dieser Ansicht Franzosen seien. Wolmar habe durch die napoleonische Expedition als Arzt wirtschaftliche Nachteile erlitten und sei deshalb schlecht auf die Franzosen zu sprechen. Offenbar spielt Lorinser hier auf die Internierung europäischer Ärzte nach dem Einmarsch der französischen Truppen an, der auch Frank unterlag. Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 135. 95

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Empfänglichkeit der Person und bestimmte klimatische Voraussetzungen für einen Ausbruch nötig seien. Einen Zusammenhang der Endemität mit faulenden Gewässern, wie er von manchen Beobachtern im Zusammenhang mit dem Ausbrechen der Pest gesehen wurde, lehnte er strikt ab.100 Das genauere Hinsehen auf die Verhältnisse im Osmanischen Reich als unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung epidemischer Krankheiten war um 1800 bereits allgemein anerkannt. Schmutz und vermeintlich schlechte Lebensverhältnisse waren in dieser Ansicht bereits etabliert und konnten auch durch spätere, stark relativierende Beobachtungen nicht mehr aus dem Bild des Orients als Hort der Unsauberkeit entfernt werden. Indem die Übertragungsweisen bestimmter Krankheiten langsam klarer wurden, tauchten später zwar Widersprüche auf101, das Bild vom schmutzigen, unreinlichen Orient als Ort der ursprünglichen Krankheitsentstehung begann sich aber durchzusetzen. Dort, im Orient, sei anzusetzen, wenn man der Krankheit beikommen wolle. 1844 wurde Ägypten in einer Wiener Publikation als „die Wiege der Pest“ bezeichnet; der Autor Grohmann wollte die Entstehung der Krankheit explizit auch dort untersucht wissen. Wir wollen hiermit nicht die Behauptung aufstellen, als verbreite sich die Pest von hier aus, als der einzigen Quelle; es ist möglich, ob gleich wir keine weiteren Vermutungen dazu haben, dass es noch Neben-Quellen gibt. […] wir meinen, dass wenn irgend einmal durchgreifende wissenschaftliche Untersuchungen in Bezug auf die primäre Herausbildung der Pest sollten angestellt werden, diese in dem Delta-Gebiete ihren Anfang nehmen müssten.102

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Der „Orient“ als Versuchslabor

Zu jener Zeit, als Grohmann seine Forderung nach einer Erforschung der Pest an ihrem Ursprungsort niederschrieb, blickte der Orient bereits auf einige Jahrzehnte der aktiven Beforschung der Pest zurück. Während manche Ärzte wie Frank oder Wolmar durch ihre Publikationen passive und oftmals unsystematische Beobachtungen aus

Di Wolmar/Hufeland, Abhandlung über die Pest, 1827, VIII. So stellte Lorenz Rigler 1852 fest, dass bestimmte Formen der Augenentzündung bei Neugeborenen, deren Übertragbarkeit durch den Ausfluss aus den Augen man bereits erkannt hatte, in Konstantinopel weit seltener vorkamen als ein Europa. Rigler führte das auf die „größere Reinlichkeit“ der Bewohner Konstaninopels zurück und auch auf das Fehlen von Gebär- und Findelanstalten, die er als „Wiege dieser Krankheiten“ bezeichnete. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 508. 102 Vgl. Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844, 10. Der Arzt Johann Friedrich Reinhold Grohmann zählte sich selbst zu den Vorkämpfern bedingter kontagonistischer Erklärungsmodelle in Wien. Grohmann hatte als junger Arzt bereits die Pestepidemie 1813 in Bukarest mitgemacht und veröffentlichte 1844 die Arbeit „Das Pest-Contagium und seine Quelle“, in der er zu einer Bekämpfung der Pest in Ägypten aufrief. 100 101

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ihrer medizinischen Praxis verschriftlichten, wandten sich andere Ärzte einem aktiven Forschen im Orient zu. Selbstversuche und genaue Beschreibungen der Verläufe von Pesterkrankungen sowie Vergleiche der Erfahrungen mit Behandlungsmethoden der Pest im Orient sind für die diesbezügliche Literatur der ersten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts charakteristisch.103 Schon Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Berichte der Schotten Patrick und Alexander Russell104 in Wien weitestgehend rezipiert und sie fanden sich in vielen deutschsprachigen Werken der Zeit als frühe Referenz auf die Verhältnisse im Osmanischen Reich. Die beiden Russell hatten in Aleppo gelebt und dort auch medizinisch praktiziert.105 In den medizinischen Medien der Zeit machten allerlei Heilmethoden und Erkenntnisse Furore. Ende des 18. Jahrhunderts, zur selben Zeit, als zum ersten Mal vom Gipsverband der Araber berichtet wurde, schrieben Reiseschriftsteller auch von der Einreibung mit Olivenöl als Schutzmethode gegen die Pest. In Wien wurde diese Nachricht 1797 durch eine kurze Flugschrift bekannt gemacht, die im Wiener Josephinum aufbewahrt wird. Leopold Graf Berchtold (1759–1809) hatte im November 1795 in Ägypten vom britischen Generalkonsul George Baldwin erfahren, dass Einreibungen mit Olivenöl gegen die Pest helfen würden.106 Berchtold gehörte jener Generation von Reisenden an, die sich das Sammeln von Wissen auf der ganzen Welt zur Aufgabe gemacht hatten: Alles, was dem menschlichen Leben dienlich sein sollte und konnte, war wert, gesammelt zu werden; Berchtold hatte diese Herangehensweise nachgerade zu seinem Programm gemacht und sich um die Promotion der Idee bemüht.107 Er war ein Philanthrop im echten Wortsinn: 1797 veröffentlichte er einen Brief des Paters Ludwig von Pavia, der zu dieser Zeit Pfarrer des geistlichen St. Antons-Pestspitals in Smyrna war. Pater Ludwigs Anweisung ist denkbar kurz: „Das unschätzbare Heilmittel

103 Eine (leider teilweise fehlerhafte) Aufzählung von medizinischen Selbstexperimenten gibt: Arsen P. Fiks, Self-experimenters: Sources for Study, Westport, London 2003. Zu theorethischen (und moralischen) Aspekten von Selbstexperimenten vgl. Katrin Solhdju, Selbstexperimente. Die Suche nach der Innenperspektive und ihre epistemologischen Folgen, Zugl.: Berlin, Humoldt-Univ., Diss., 2009, Trajekte, München 2011. 104 Russell, The natural history of Aleppo, 1756. 105 So zum Beispiel bei: Ferro, Von der Ansteckung der Epidemischen Krankheiten, 1782, 34. Eine umfassende Einordnung der Arbeit der Russells in die schottische Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts findet sich bei: Janet Starkey, The Scottish Enlightenment Abroad: The Russells of Braidshaw in Aleppo and on the Coast of Coromandel, 2018. 106 Vgl. Leopold Berchtold, Nachricht von dem im St. Antons-Spitale in Smirna mit dem allerbesten Erfolg gebrauchten einfachen Mittel, die Pest zu heilen, und sich vor selber zu bewahren, welche im Lande selbst gesammelt worden ist, und zur entgeltlichen Vertheilung herausgegeben wird., Wien 1797, 3. Leopold Berchtold (auch: Berchthold) (1759–1809) war ein mährischer Philanthrop, der in Wien gemeinsam mit Pascal Ferro das Rettungswesen begründete und sich auch an der Verbreitung der Schutzpockenimpfung beteiligte. Berchthold dürfte im Gegensatz zu vielen, die über die Pest schrieben, selbst im Orient unterwegs gewesen sein. Zu seiner Biographie vgl.: Wurzbach von Tannenberg, Biographisches Lexicon des Kaiserthums, 1856–1891, Bd. 1, 291. 107 Bernard, Österreicher im Orient, 1996, 3.

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gegen die Pest besteht bloss darin, dass man den ganzen Körper des Kranken sehr stark und geschwind mit blossem Baumöhle einreibt.“108 Das „Baumöl“, Olivenöl, sollte auch vor der Pest schützen; so empfahl er, sich vor der Behandlung von Patienten selbst mit Olivenöl einzureiben und berichtete auch von Versuchen mit verschiedenen „Personen, die mit angesteckten Umgang hatten“. Wer sich mit Baumöl eingerieben habe, sei niemals erkrankt; diese Methode habe sich um 1795 in Smyrna bereits sehr weitgehend unter der Zivilbevölkerung verbreitet.109 Mit der Nachricht von der heilsamen Wirkung des Olivenöls auf die Pestkranken ging auch der Wunsch einher, die Kunde davon im Orient zu verbreiten. 1797 hatte Berchtold bereits kleine Flugschriften ins Italienische, Türkische und Griechische übersetzt und in Konstantinopel verteilen lassen. In der Walachei habe sich der k. k. Konsularagent von Merkelius um die Verbreitung der Methode angenommen und die „Geistlichkeit“, die walachische Regierung und die Bojaren sowie das „einfache Volk“ damit bekannt gemacht.110 Nicht weniger als 6.000 Stück ließ Berchtold von seiner eigenen Schrift in Wien in türkischer Sprache drucken, damit „diese der Menschheit so wichtige Entdeckung den Ländern, welche mit dem Orient und mit der Barbarey Handel treiben, wie auch selbst dem Orient und der Barbarey bald bekannt werden möchten“.111 In Siebenbürgen und Ungarn stellte man in der Folge Versuche mit den Öleinreibungen an, die Wirkung der Methode blieb jedoch umstritten.112 Die Öleinreibungen waren nicht das einzige Schutzmittel, das man im Orient erprobte. Schon 1803 stellten italienische und französische Ärzte systematische Beobachtungen und aktive Versuche mit der Pockenimpfung als Schutzmittel gegen die Pest an, von deren Rezeption in Österreich im Kapitel über die Pocken bereits die Rede war. Beschreibungen von Behandlung und Verlauf der Pest, die ein Arzt selbst überstanden hatte, waren nicht neu; 1756 hatte der bekannte und einflussreiche Arzt Adam Chenot an der k. k. Militärgrenze eine Pesterkrankung überlebt und die Behandlung, die er an sich selbst durchführte, in einem Buch beschrieben, das in ganz Europa rezipiert wurde.113 Mit der Einführung der flächendeckenden PockenimpfunBerchtold, Nachricht von dem Mittel, die Pest zu heilen, 1797, 8. Ebd., 20. Ebd., 30. Ebd., 31. Der Begriff „Barbarey“ bezieht sich hier abgeleitet von den Bewohnern (Berber) auf die Region des Maghreb. 112 Einen zeitgenössischen Überblick über die Öleinreibungen bietet: E. A. L. Hübener, Die Lehre von der Ansteckung, mit besonderer Beziehung auf die sanitätspolizeiliche Seite derselben 1842, 513. Auf die Versuche mit der Öleinreibung in der k.  k. Monarchie, die auch vom Protomedicus in Ungarn Schraud betrieben wurden, verweist auch: Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy, 2011, 75. Angemerkt sei, dass die Öleinreibung mit heutigem Wissen, das die Ansteckung mit bestimmten Pestformen mit dem Biss eines Flohs in Verbindung bringt, nicht völlig absurd erscheint. Olivenöl wird heute als Basis für die Anwendung von ätherischen Ölen zur Insektenabwehr verwendet. Anleitungen dazu lassen sich im Internet finden, so z. B. auf https://www.heilpraxisnet.de/hausmittel/hausmittel-gegen-muecken.html (abgerufen am 26.12.2019). Einreibungen gegen die Pest waren generell auch in Mitteleuropa verbreitet, so zum Beispiel mit Ölen, die mit geriebenem Skorpion versetzt waren. 113 Sechel, Contagion Theories in the Habsburg Monarchy, 2011, 66. 108 109 110 111

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gen war ein neuer Gedanke hinzugekommen: Man könnte sich möglicherweise auch gegen die Pest immunisieren. Berichte von Fremd- und Selbstversuchen von Ärzten, die überzeugt davon waren, dass die Pest nicht ansteckend sei, tauchten nun verstärkt auf. Besonders wagemutige Ärzte trugen Kleidung von Pesterkrankten, versuchten sich selbst oder andere mit dem Pesteiter zu infizieren und beobachteten und berichteten diese Versuche auch selbst. Die Experimente waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Gegenstand medizinischer Berichte und Debatten, aber nicht unüblich.114 Wie unglaublich groß die Hoffnungen waren, die manche Ärzte in eine Immunisierung gegen die Pest setzten, zeigt das Beispiel des englischen Arztes Whyte, der in Konstantinopel mit dem aus Wien erhaltenen Kuhpockenimpfstoff erstmals eine Impfung vorgenommen hatte. Wenige Monate nach der erfolgreichen Impfung des ersten Kindes des Botschafters Elgin ging Whyte mit der britischen Armee nach Ägypten. Er begann dort, sich selbst mit Pestsekret zu impfen, um festzustellen, ob denn bei milden Formen der Pest ebenso ein Impfschutz denkbar war. Er starb nach dem ersten Versuch.115 Zu dieser Zeit war in Wien die Diskussion um einen möglichen Impfschutz gegen die Pest ebenfalls angekommen und der hier tätige, mit der Kuhpockenimpfung so erfolgreiche Jean de Carro bemühte sich, auch in Fragen der Pest durch Forschungen im Osmanischen Reich einen Durchbruch zu erlangen. Einer der wichtigsten Korrespondenzpartner Jean de Carros war der Franzose Lafont in Saloniki. Als er beobachtete, dass ein eben mit Kuhpocken vakziniertes Kind nicht an der Pest erkrankte, die zwei andere Personen im selben Haushalt befallen hatte, berichtete er davon begeistert an de Carro. Dem stellte sich die Frage, ob es gar gelungen sei, ein Schutzmittel gegen die Pest zu entwickeln. De Carro zeigte das Schreiben Lafonts in Wien zwei griechischen Ärzten, die in der Levante praktiziert hatten. Sie verneinten beide, dass es sich bei den beschriebenen Symptomen um die Pest gehandelt hatte. De Carro blieb nach diesen Erfahrungen und auch nach Berichten, die er aus Mailand von seinem ebenfalls an der Kuhpockenimpfung forschenden Kollegen Sacco erhielt, zurückhaltend. Lapidar schrieb er 1803: „Es geht dem Schutzmittel wider die Menschenpocken so, wie den meisten Heilmitteln von großem Rufe. Man hat sich nie mit den Eigenschaften begnügt, die sie wirklich besitzen, und ihnen vielmehr eine Menge andre zugeschrieben, die gänzlich ungegründet sind.“116 Systematisch versuchte de Carro, In114 Eine Aufzählung einiger Ärzte und Laien, die Selbstversuche unternahmen, findet sich bei: Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, 1948. Die Medizingeschichte hat für sie ein eigenes Wort gefunden: Der Fachbegriff für solche Versuche, die eine übermäßige Gefährdung mit sich bringen, lautet in der Fachliteratur „heroisch“ und trägt das Bild vom bedingungslos „heldenhaften“ Arzt in sich. 115 Vgl. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 5f. Bei Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 8 heißt es, er, Whyte, habe sich zuvor zwei Mal ohne Erfolg zu inokulieren versucht. 116 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 82. Die Übersetzungen hier im Folgenden wieder nach der deutschsprachigen Ausgabe de Carros Buchs, ins Deutsche übertragen von Friese.

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formationen aus dem Osmanischen Reich nach Wien zu bekommen. Um die Schutzkraft der Kuhpocken gegen die Pest zu untersuchen, richtete er an einige seiner Kollegen im Osmanischen Reich Schreiben im Stil einer wissenschaftlichen Preisfrage: „Befällt die Pest nie diejenigen  Menschen, welche die Blattern haben; werden diejenigen nicht von ihr ergriffen, die sie soeben überstanden haben?“117 In Konstantinopel hatten die dortigen Ärzte Beobachtungen unter den bereits geimpften Bewohnern der Stadt vorgenommen. „Mein Herr Doctor“, antwortete der Franzose Auban am 25. Juli 1803 aus Konstantinopel an de Carro, Ich habe es absichtlich aufgeschoben, Ihnen zu schreiben, damit ich das Vergnügen haben könnte, Sie mit sehr interessanten Neuigkeiten, die Vaccine betreffend, zu unterhalten. Schon vor langer Zeit hatte ich die Ehre, Ihnen meine Meinung über die Möglichkeit, in ihr ein Schutzmittel wider die Pest zu finden, mitzutheilen. Meine seit drey Jahren gemachten Beobachtungen ließen uns dies für wahrscheinlich halten, neuere Beobachtungen erheben diese Wahrscheinlichkeit beinahe bis zur Gewißheit. Fürs erste ist von fünf bis sechstausend Vaccierten, die in allen Quartieren Constantinopels und seiner Vorstädte verbreitet waren, kein einziger von dieser Contagion ergriffen worden. Vaccinirte Kinder haben ohne üble Folgen die Milch einer von der Pest angesteckten Amme gesogen.118

Auban berichtete weiter, der „brave Dr. Valli“ sei soeben aus Italien angekommen und im Begriff, auch noch einen Selbstversuch zu unternehmen: Da ihm die Wirkung der Kuhpocke in Ansehung der Pest, noch nicht bekannt war, und da er ein Heilmittel wider diese scheußliche Krankheit suchte, so nahm er keinen Anstand, sich während diesen letzten Tages in das französische Pest-Hospital einzuschließen, worin sich ein Franzose befand, der Bubonen und Pestblasen (bubon et charbon) hatte. Er hat Materie von Menschenblattern und Pestgift miteinander vermischt, und sich an der linken Hand damit geimpft, ohne einige Wirkung davon zu verspüren. Ich bin geneigt zu glauben, der Pockeneiter habe die Wirkung des Pestgiftes unterdrückt, und dadurch sey die Inoculation ohne Erfolg geblieben. Wem anders, als der Kuhpocke, könnte man übrigens seine Unempfänglichkeit für das Contagium der Pest zuschreiben, da er jeden Tag mit den Pestkranken in Gemeinschaft lebte? Er wird sich nächstens wieder impfen, und zwar mit Pestgift allein, und ich werde sodann die Ehre haben, Ihnen das Resultat dieses Versuches anzuzeigen.119

Von den Selbstversuchen des Italieners Valli in Konstantinopel zeigte sich de Carro zunächst vorsichtig begeistert; er habe sich zwar erlaubt

117 Kurz danach zerschlug sich Lafonts Hoffnung auf eine Pestimpfung durch Kuhpocken. Eines der Kinder, die er kurz zuvor in einem von der Pest befallenen Haushalt mit den Kuhpocken geimpft hatte, starb. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 84. Wissenschaftliche Preisfragen waren eine geübte Praxis der Zeit. 118 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 87. 119 Ebd., 88.

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auf die Unbesonnenheit jenes englischen Arztes aufmerksam zu machen, der sich die Pest einimpfte, und sich dadurch bei dem ersten Versuche tödtete. Das neue Beispiel von Aufopferung, welches uns so eben der Doctor Valli gegeben hat, zeigt von dem größten Muthe, und zugleich von einem weniger blinden Eifer, als der des Doctor Whyte war. Dieser Eifer dürfte jedoch nicht minder unverzeihlich seyn, sofern er sich nicht auf die positiven Beobachtungen gründete, welche die Aerzte zu Constantinopel von der schützenden Kraft der Kuhpocke wider die Pest gemacht haben wollen. Dergleichen Versuche sollten nur an Uebelthätern vorgenommen werden, die zum Tode verdammt sind. Das Leben eines talentvollen Mannes gehört der ganzen menschlichen Gesellschaft an.120

Die Nachricht von Vallis Selbstversuch verbreitete sich rasch in de Carros Netzwerk.  1803 meldete der britische Wundarzt Jukes aus Bushir begeistert nach Wien: „Wird man nicht bald etwas von dem Resultate der lobenswürdigen Versuche hören, die der kühne Doctor Valli unternommen hat? Der Doctor Auban spricht mit solcher Bestimmtheit von der schützenden Kraft der Kuhpocke gegen diese Seuche, daß ich mich im vollen Vertrauen darauf verlasse.“ Mit dem Blick auf zukünftigen Ruhm dachte Jukes daran, welchen „Dank die Welt Jennern, meinem Landsmanne schuldig wäre, der dieses Geschenk der Vorsehung zur Reife brachte“. Gleiches gelte für de Carro, der sie mit glücklichem Erfolg in der östlichen Hemisphäre verbreitet habe.121 De Carro widmete dieser Affäre in seiner „Geschichte der Kuhpockenimpfung“ breiten Raum und publizierte auch einige Schreiben, die ihm von Dr. Auban aus Konstantinopel zugesandt wurden.122 Die Pestversuche, die zumindest unter den Europäern für Aufsehen sorgten, trugen in Konstantinopel nicht dazu bei, das Vertrauen in die Impfung zu erhöhen, sondern verkehrten dieses Vertrauen in die europäische Medizin wohl eher ins Gegenteil. Nachdem die Pocken durch die Impfkampagnen der Europäer und befeuert durch die Gerüchte, man könne die Pest damit auch besiegen, in der Stadt ausgebrochen waren, entstand Unruhe. Der Franzose Auban wollte das jedoch nicht zur Kenntnis nehmen, sondern sah in der Scharlatanerie der anderen einen wesentlichen Grund für den Vertrauensverlust: Meine Beobachtungen über die Kuhpocke gewähren mir noch immer die größte Zufriedenheit. Keiner von meinen Impflingen ist von der Pest befallen worden. Zum Unglück haben sich aber gemeine und schlechte Leute, deren Anzahl in diesem Lande, wo die Menschen nichts lesen, nicht klein ist, damit beschäftiget, eine Art von Krätz-Pustel (pustule galeuse) zu erzeugen, die sie für die Kuhpocke ausgegeben haben, und es bedurfte nur wenig, um die gute Idee zu vernichten, welche die Freunde der Menschheit ihnen einzuprägen versucht hatten. Fast alle diese vermeintlich Vaccinirten haben die Menschen-

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Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 99. Ebd., 162. Ebd., 120.

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pocken bekommen, und mehrere derselben sind gestorben. Die zweite Ausgabe Ihres Werkes, welche ich einigen Armeniern geliehen habe, die Französisch verstehen, ist dem Credit der Kuhpocke ein wenig zu Hülfe gekommen, so daß ich täglich fortfahre, einige Schlachtopfer dem Tode zu entreissen.123

Auch der Selbstversuch Vallis lieferte nicht die erwünschten Ergebnisse. Noch im Mai 1803 schrieb Valli einen dramatischen Brief vom Krankenbett in Konstantinopel nach Europa, der in verschiedenen Zeitungen auch in Deutschland abgedruckt wurde. Es ist vierzig Tage her, daß ich von der Pest ergriffen wurde; noch muß ich das Bett hüten, weil die Krankheit am linken Fuße eine tiefe Wunde zurückgelassen hat. Ich weiß nicht, ob ich den Gebrauch dieses Gliedes wiedererlangen werde. Die Zeit wird mir bei dem Hoffen ziemlich lang, allein nie wird mich die Stunde reuen, wo ich muthvoll den Entschluß faßte, dem Ungestüm und die Grausamkeit der größesten aller Krankheiten zu bezähmen. Ich bin zufrieden, daß ich mich in dem Lande der Pest aufhalte, und was mich allein ärgert, ist, daß ich mich gegenwärtig außer Stand sehe, mich ihr wieder zu nähern. Sollte sich meine Heilung zu lange verzögern, so werde ich diesem Umstande abzuhelfen wissen. Man kann auch Arzt seyn mit hölzernen Beinen. Mein linker Fuß ist bereits gelähmt. Liebe mich. Valli.124

Der Selbstversuch des Dr. Valli, sich gegen die Pest durch Einimpfung zu schützen, scheiterte. Der italienische Arzt hatte sich mit „Materie“ inokuliert, die er einem pestkranken Franzosen kurz vor dem Tode entnommen hatte. Über einen Monat lang soll Valli danach weiterhin Pestspitäler besucht und Kuhpockenimpfungen vorgenommen haben. Als er schließlich an der Pest (oder einer ähnlichen Krankheit) erkrankte, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in der Stadt. Auban konnte nicht glauben, dass die Impfung nicht genutzt hatte, versuchte sich Gewissheit zu verschaffen und ihn zu besuchen, kam jedoch nur bis zum Fenster und wurde nicht weiter vorgelassen. Valli erholte sich von der Erkrankung, doch Auban bezweifelte, dass sich Valli vorher tatsächlich mit Kuhpocken geimpft hatte. Ein wenige Monate später aus Konstantinopel nach Wien reisender französischer Offizier bestätigte de Carro bei einem Treffen die Ereignisse im Detail.125 De Carros Meinung über Eusebio Valli, der immerhin Professor der klinischen Medizin und erster Arzt am Krankenhaus in Mantua gewesen war, hatte sich aufgrund dieser Berichte geändert. Nun sah er in Valli zunächst einen Spekulanten und kaum einen vertrauenswürdigen Gewährsmann. „Ich würde den gesunden Verstand meiner Leser zu beleidigen glauben, wenn ich sie auf alle die Ungereimtheiten aufmerksam machen wollte, wovon dieser Brief wimmelt“, schrieb de Carro darunter. „Vorzüglich schwer läßt es sich begreifen, warum sich der Doctor Valli Glück wünscht, Versuche angestellt zu haben, die ihm 123 124 125

Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 104. Ebd., 107. Ebd., 104.

Der „Orient“ als Versuchslabor

so schlecht gelungen sind; noch unbegreiflicher aber ist es, wie man mit hölzernen Beinen in einer Stadt Arzt seyn will, die zu den größten der Welt gehört, und wo die Equipagen sehr viel Geld kosten.“ Der Spott des Wieners de Carro traf den offenbar schwer kranken Valli wohl auch, weil der Brief nicht nur in Deutschland, sondern am 10. Dezember 1803 auch in der Wiener Zeitung abgedruckt wurde.126 De Carro musste wohl mehr als einmal die Frage beantworten, wie es denn nun um die Schutzkraft der Kuhpocken gegen die Pest bestellt sei. In Wien verfolgte nicht nur Jean de Carro die Versuche Vallis, sondern auch Luigi Careno, der selbst eine Schrift über die Kuhpocken veröffentlicht hatte. In der in Salzburg erscheinenden „Medicinisch-chirurgischen Zeitschrift“ veröffentlichte er einen Brief Vallis vom 18. Oktober 1803. Der Selbstversuch Vallis war im Herbst 1803 offenbar schon so weit bekannt, dass Careno feststellen konnte, dass „jedermann“ nach ihm frage und man begierig sei zu wissen, ob er angesichts der wieder herrschenden Epidemie in Konstantinopel von der Krankheit verschont geblieben sei.127 Während sein Wiener Kollege Luigi Careno die Bemühungen Vallis in der Salzburger „Medicinisch-chirurgischen Zeitung“ dem Publikum noch wärmstens empfahl, hatte de Carro Ende des Jahres 1803 offenbar bereits mit der Hoffnung, dass die Pest durch die Kuhpocken abgehalten werden könne, abgeschlossen. Den Brief, den Careno „erhalten zu haben vorgab“, nennt er im Anhang zur deutschen Übersetzung seines Buches über die Geschichte der Einführung der Kuhpockenimpfung in der Türkei genervt einen „sehr umständlichen Bericht“, der schon allein deshalb uninteressant sei, weil weder die Impfung mit der Kuhpocke noch die Ansteckung mit der Pest ausreichend dokumentiert sei.128 De Carro in Wien wandte sich nun auch von Auban ab. Es habe sich nun gezeigt, wie „oberflächlich Herr Auban von der Entdeckung gesprochen hat, die er glaubte gemacht zu haben.“ Auch aus Saloniki trafen weitere Meldungen ein, die gegen die Schutzkraft der Kuhpockenimpfung in Pestfällen sprechen.129 Dort hatte der Franzose Lafont nicht aufgehört, der Sache durch Rückfragen bei den Einheimischen auf den Grund zu gehen. Während die europäischen Ärzte in ihren gelehrten Zeitschriften und Korrespondenzen spekulierten, fand Lafont die Antwort bei den einheimischen Heilkundigen. Man hat hier zu Lande nie wahrgenommen, daß die Menschenblattern ein Schutzmittel gegen die Pest waren, das Individuum mochte nun grade zu der Zeit an den Blattern krank liegen, oder eben davon genesen seyn, oder sie vor langer Zeit überstanden haben. Ich habe über diesen Punkt Leute befragt, die zwar ungebildet und unwissend sind, aber sich ausschließlich mit der Behandlung und Pflege der Pest beschäftigen. Ich habe alle Em-

126 127 128 129

Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 107. Vgl. Brief aus Konstantinopel, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 8.12.1803, 375–381, 376. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 109. Ebd.

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pyriker [einheimische Heilkundige] besucht, denn nur diese sind es, die man über diesen Gegenstand zu Rathe ziehen muß, weil sich die Aerzte damit nicht befassen mögen, indem sie besorgen, daß man sie dann nur blos zu den Pestkranken rufen würde.130

Weil die europäischen Ärzte nicht bereit waren, sich allzu sehr auf die Pestkranken einzulassen, zog Lafont das Wissen der Einheimischen zurate. Der differenzierte Charakter der unter dem Namen Pest zusammengefassten Erkrankungen war dort bereits bekannt. Was in Konstantinopel die europäischen Ärzte verwirrt hatte – nämlich, dass man sich scheinbar auch gegen die Pest immunisieren konnte – war in Saloniki den einheimischen Heilkundigen als von einer „unbestimmten“ Pest zu differenzierende Erkrankung offenbar bekannt.131 Diejenigen, welche die Pest, mit einem oder mehreren Geschwüren gehabt haben, welche die Griechen mavro tigano nennen, und die gemeiniglich von der äußersten Bösartigkeit sind, halten sich nun vor jedem ferneren Anfalle gesichert, wenn sie das Glück gehabt haben diesem zu entgehen. Sie besuchen die Kranken, und pflegen sie mit der größten Sicherheit, und die Erfahrung lehrt uns, daß sie wirklich von der Ansteckung frey bleiben; wenigstens ist dies hier die allgemeine Meinung.132

Lafont schloss die Schutzkraft der Kuhpockenimpfung gegen die Pest aus diesen Gründen klar aus. Sehr ungern sehe ich mich genöthiget, der Beobachtung zu widersprechen, die Ihnen Herr Auban mitgetheilt hat. Ich fürchte, daß ihn zu viel Eifer zu diesem Fehler verleitet habe. Ich begreife, von welcher Wichtigkeit es für das Menschengeschlecht seyn würde, wenn seine Behauptung wahr wäre. Auch ich hegte diese Hoffnung, allein ich habe sie leider aufgeben müssen. Sieben von meinen Kuhpocken-Impflingen sind von der Pest ergriffen worden, wovon viere gestorben sind. Sollte es möglich seyn, daß die zu Konstantinopel mit der Kuhpocke Geimpften, diesen wichtigen Vortheil genössen, und daß ihn die Impflinge zu Saloniki entbehren müßten? Mir scheint dies unbegreiflich.133

Immerhin: Dem wagemutigen Valli, der durch sein Vorbild vielleicht eine Blatternepidemie in Konstantinopel losgetreten hatte, blieb wenigstens das noch im Sommer 1803 herbeiphantasierte Holzbein erspart.134 Im Jänner 1804 meldete Auban an de Carro, er könne ihm versichern, dass Herr Valli keiner hölzernen Beine bedürfe, um seine Kunst auszuüben, und dass sein linkes Bein nicht gelähmt sei. Allerdings hatte Valli nun auf Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 84. Ebd., 110. Ebd., 111. Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 111. Valli starb 1816 in Havanna am gelben Fieber, wahrscheinlich nach einem weiteren Selbstversuch. Der Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht schrieb 1948 mit Bezug auf den Versuch von 1803, Valli habe es wohl ein wenig übertrieben. Vgl. Ackerknecht,, Anticontagionism between 1821 and 1867, 1948, 568. 130 131 132 133 134

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andere Art Aktivitäten entwickelt, die auch einträglich erschienen. Gemeinsam mit dem Doctor Pezzoni suchten beide, Leute an sich zu ziehen, denen sie die Hände und Füße mit einer von ihnen zusammengesetzten Salbe einrieben, worauf sie ihnen 5 Piaster (ohngefehr acht französische Livres) mit der Versicherung gaben, daß sie, wenn sie diese Einreibungen fortsetzten, von der Pestansteckung verschont bleiben würden. Eine, den Abend vor ihrer Abreise nach Asien, wohin sie sich begeben haben, um die Thierarzneyknnde auszuüben, von ihnen zum Druck beförderte Bekanntmachung, kündigte an, daß sie ein untrügliches Prophylacticum wider die Pest gefunden hätte. Es besteht in einem Wasser, in welches man alle 14 Tage ein Hemde tauchen muß, und in einer Salbe, womit die Hände und Füße gerieben werden.135

De Carro merkte sichtlich amüsiert an, dass die beiden sich immerhin dahingehend von „regelrechten Charlatanen“ unterschieden, dass sie „Piaster austheilten, anstatt welche zu empfangen“.136 Nun wurde es der Hohen Pforte zu dumm: Als ein Gewährsmann das offenbar durch Apotheker hergestellte Mittel beheben wollte, hieß es wenige Tage später, die Hohe Pforte habe die Ausgabe dieses Medikaments so lange untersagt, bis Valli zurückgekommen sei und die Zusammensetzung des Medikaments von einem Kommittee von Ärzten geprüft worden sei.137 Die Berichte über die Pestimpfungsversuche waren damit bei de Carro beendet, die Pest-Selbstversuche europäischer Ärzte waren damit allerdings noch nicht am Ende.138 Vom regelnden Eingreifen der Pforte las man sonst nur selten; ebenso selten war die schonungslose Offenheit, mit der über das desaströse Wirken europäischer Ärzte in diesem Umfeld berichtet wurde. Die vermeintliche Rückständigkeit des Osmanischen Reiches, die Ferro in seiner Schrift um die Wende zum 19. Jahrhundert als wesentlichen Grund für die immer wieder grassierende Pest benannt hatte, blieb auch in den folgenden Jahren ein zentrales Motiv der Auseinandersetzung der deutschsprachigen wissenschaftlichen Medizin mit dem Osmanischen Reich. Breitere wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregten die Schriften des Österreichers Ernst August Burghardt139 in den Jahren nach dem Wiener

Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 118. Ebd. Ebd., 119. Der junge deutsche Offizier Helmuth von Moltke berichtete Ende der 1830er-Jahre vom Fall eines nicht namentlich genannten „jungen deutschen Arztes“, der sich dreißig Tage lang allen erdenklichen Proben ausgesetzt habe, in ein Dampfbad gegangen war, sich dann neben einen Pestkranken gelegt habe und so schließlich innerhalb von 24 Stunden gestorben sei. Moltke/Bartsch, Unter dem Halbmond, 1997, 93. 139 Ernst August Burghardt wurde 1787 in Stuhlweißenburg in Ungarn geboren und ist in Wien vor allem als einer der Begründer der ägyptischen Sammlung des Kunsthistorischen Museums in Wien (KHM) in Erinnerung geblieben. Er unternahm mehrere Reisen im Orient und war auch in Konstantinopel als Arzt an der österreichischen Internuntiatur tätig. 1821 wurde er mit dem Ankauf einer größeren Menge ägyptischer Altertümer betraut, die heute den Grundstock der ägyptischen Sammlung des KHM bilden. Zur Sammlungsgeschichte des KHM vgl.: Satzinger, Der Werdegang der ägyptisch-orientalischen Sammlung, 1991. Auszüge aus seinem Reisetagebuch finden sich in: Ernst August Burghardt, Mehmed Ali Pascha von 135 136 137 138

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Kongress und den ersten intensiveren wissenschaftlichen Kontakten, die im Gefolge der Expedition Napoleons nach Ägypten entstanden waren. Langsam begannen die Erfahrungsberichte einzelner im „Orient“ tätiger Mediziner mit universitärer Ausbildung in den deutschsprachigen medizinischen Medien Gehör zu finden. Auf Ersuchen des k. k. Internuntius140 in Konstantinopel fasste der als Arzt an der Internuntiatur tätige Dr. Burghardt seine Eindrücke von der Behandlung der Pest 1816 in einem Schreiben zusammen.141 Offiziell als Brief an den Internuntius abgefasst, dürfte der kurze Bericht von Anfang an für ein breiteres europäisches Publikum bestimmt gewesen sein. Für sich genommen diente das Schreiben weniger der Beschreibung von Methoden zur Behandlung der Pest als zur (Be-)Wertung einer „Medizin des Orients“ und ist eine der frühesten deutschsprachigen Quellen, in denen die medizinischen Praktiken im Osmanischen Reich einer Bewertung unterzogen werden. Burghardt beschrieb zunächst die diätischen und chirurgischen Maßnahmen, die in Konstantinopel gesetzt werden, um dann zu einer Bewertung zu kommen, die das Bild des „Medizinischen Orient“ seiner Zeit klar umriss. Als Maßstab dient ihm dabei zunächst die mangelnde wissenschaftliche Leistung der einheimischen Ärzte, die nicht bereit waren, sich an den Versuchen der Europäer zu beteiligen. Ich überlasse es gerne andern Sachkündigen, zu entscheiden, in wiefern diese Behandlung der Pestkranken vortheilhaft oder nachtheilig sey, und begnüge mich allein mit meiner innern Überzeugung, daß man in den hiesigen Hospitälern, wo man doch so viele Gelegenheit hat, die Curarten der Pestkranken durch häufige Beobachtungen und fortdauernde Erfahrungen zu verbessern, und zu vervollkommnen, noch gar nichts geleistet hat, was den Dank der an diesem schrecklichen Übel leidenden Menschheit verdiente.142

Die Feststellung, dass in Konstantinopel wenig zu einer Weiterentwicklung der Behandlungsmethoden der Pest geleistet worden wäre, verband Burghardt mit mangelndem Interesse an der „Wissenschaft“ überhaupt: Der Fehler mag wohl darin liegen, daß die Vorsteher der hiesigen Pestspitäler in Wissenschaften eben so unterrichtet, wie sie in der Medizin unwissend sind, ein Umstand, der es sehr begreiflich macht, warum über diesen Gegenstand noch so viele Finsternis verbreitet ist. Hätte dieser Umstand nur allein in Konstantinopel oder selbst in der Türkey überhaupt

Ägypten. (Aus dem Tagebuch des berühmten Reisenden, Dr. Burghardt), in: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst Bd. 13/8, 18. Jänner 1822, 41–44. 140 Als „Internuntius“ bezeichnete die österreichische Diplomatie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Botschafter in Konstantinopel. Lange Jahre waren diese Botschafter echte „Gesandte“ gewesen, die immer wieder nur für zeitlich begrenzte Verhandlungsmissionen ins Osmanische Reich geschickt wurden. Ihren Sitz in Konstantinopel, die diplomatische Vertretung an sich, nannte man im ganzen 19. Jahrhundert „Internuntiatur“. 141 Vgl. Nachricht über die Behandlung der Pestkranken in den Pestspitälern zu Konstantinopel, in: Medicinische Jahrbücher des k. k. österr. Staates, 1817, 109–114, 112. 142 Ebd.

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nur Statt, so könnte man in Versuchung gerathen, zu glauben, daß dieser Umstand noch keineswegs eine so dichte Unwissensheit über die Pest und deren Heilmethode unmittelbar zur Folge haben müsse, wenn nicht selbst der ganze Orient das einzige Vaterland und der Zentralpunkt dieser wüthenden Seuche in diesem Umstande mit verflochten wäre. Das glückliche Europa, das, Dank der Vorsehung, den Folgen dieser Seuche fast nie ausgesetzt ist, will ich nicht erwähnen, denn was kann dieses aus Mangel hinlänglicher Erfahrungen und Beobachtungen wohl leisten, wenn es sich um dieses Chameleon der Pest handelt. Nicht weniger nimmt uns auch der Umstand alle Hoffnung, einige erwünschte Resulate aus dem Oriente über die Pest zu erhalten, daß die Pestspitalvorsteher den auffallendsten Widerwillen gegen alle neue Versuche zu einer besseren Behandlung der Pestkranken haben, und dermassen für die Güte ihrer Heilmethode eingenommen sind, daß kein Umstand vermag, sie davon abzubringen, obwohl sie eine langjährige Erfahrung von der Unzulänglichkeit ihrer Heilmethode überzeugen könnte. Wie viele Vorschläge, Behandlungsarten und Mittel sind diesen Leuten nicht schon von fremden Ärzten vorgeschlagen worden, von denen so manche mit gutem Erfolge hätten angewendet werden können; allein vergebens: diese Leute scheinen zum Nichtsthun geboren worden zu seyn, und ich selbst habe den Don Curban auf einige Mittel, die ich in verschiedenen Fällen mit auffallendem Erfolge anwandte aufmerksam gemacht.143

Das Osmanische Reich erschien in Burghardts Beschreibung als passiver, quasi unbelehrbarer „Patient“. In der angesichts der schweren Lebensumstände defensiven, resignierten Berichterstattung der europäischen Ärzte wurde die Skepsis der Bevölkerung gegenüber den europäischen Methoden zur Unbelehrbarkeit, zur Unwissenschaftlichkeit und zur Faulheit. Aus der Distanz betrachtet, erscheint die Skepsis gegen die europäische Medizin, die sich vielleicht breit gemacht hatte, angesichts von Versuchen mit katastrophalem Ausgang doch verständlich. Manche Europäer ergriffen selbst die Initiative und trieben den medizinischen „Heroismus“ bis zum Äußersten: Burghardt betreute in Konstantinopel weiterhin Pestkranke und nahm auch an weiteren Versuchen teil. Für Aufsehen in einigen europäischen medizinischen Zeitschriften144 sorgte um 1820 der Fall des Kärntners Aloys von Rosenfeld, der während eines Aufenhaltes im Osmanischen Reich ein sicheres Schutzmittel gegen die Pest entdeckt zu haben glaubte. Rosenfeld hatte das angebliche Schutzmittel gegen die Pest von einem Pest-Krankenwärter in Tripolis erworben; es handelte sich um getrocknete Pestbeulen.145 Rosenfeld kehrte zunächst nach Wien

Medicinische Jahrbücher des k. k. österr. Staates, 1817, 114. Weitere Literaturangaben zur Rezeption des Rosenfeldschen Experiments finden sich bei Froriep: Vgl. N. N., Über Herrn von Rosenfeld, 1822, 317. 145 Vgl. N. N., Über Herrn von Rosenfeld, 1822, 317. Man beachte hier die Parallele zur Pockeninokulation, die ebenfalls mit Schorf von Pusteln der Kranken durchgeführt wurde: Rosenfeld scheint an diese Analogie geglaubt zu haben. 143 144

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zurück, um das immunisierende Pulver dort an offizielle Stellen zu verkaufen, wurde aber offenbar nicht ernst genommen. Immerhin gelang es ihm, eine Empfehlung nach Konstantinopel zu erhalten, wo er auf Anregung des österreichischen Internuntius Stürmer einen Selbstversuch unternahm. Unter Aufsicht der europäischen Gesandtschaftsärzte wurde er in ein Pestspital gebracht und sollte sich dort 40 Tage aufhalten. Burghardt nötigte Rosenfeld dabei im Sinne der von ihm eingeforderten „Wissenschaftlichkeit“ offenbar zum Äußersten. Wie schon erwähnt galten Öl-Einreibungen als Schutzmittel gegen die Ansteckung. Als man Burghardt berichtete, dass Rosenfeld vor dem Besuchen der Pestkranken Öl-Einreibungen vorgenommen hätte, stellte Burghardt Rosenfeld zur Rede, fand aber keine Spuren solcher Einreibungen: Um noch sicherer zu seyn, ließ er heißes Wasser und Seife bringen, womit von Rosenfeld sich die Hände wohl abwusch, sich abtrocknete, und dann in Dr. Burghardt’s Gegenwart 6–7 Brandbeulen und eben so viele Bubonen an verschiednen Individuen berührte, ja endlich den Zeigefinger mehrmals in die Hölungen der Bubonen brachte, damit Eiter aus denselben hohlte, in der flachen Hand in beträchtlicher Menge aufsammelte, und diese dann theils in den Hände-Flächen, theils an den bloßen Armen so lange einrieb, bis keine Spur von Feuchtigkeit sich erübrigte.146

Rosenfeld starb schließlich kurz vor Ablauf der vereinbarten „Prüfperiode“ an der Pest, nachdem er einige Tage zuvor eigentlich bereits um seine Entlassung aus der – wiewohl freiwilligen – Gefangenschaft ersucht hatte. Der Selbstversuch eines „Spekulanten“ sorgte dennoch für einiges Aufsehen. Sowohl die österreichischen Gesandtschaftsärzte als auch medizinische Journale in Deutschland, Russland und Frankreich berichteten über den Fall. Rosenfelds Selbstversuch erhielt sogar in dem Buch „De la Peste orientale“ des Franzosen Arsène-François Bulard (1805–1843) aus dem Jahr 1839 breiten Raum.147 Der Vorgang beinhaltete einige der Parameter, die für die europäisch geprägte „Wissenschaftlichkeit“ entscheidend waren und ihn damit berichtenswert machten. Dauer und Ort des Versuchs waren klar eingegrenzt, der Umgang mit den Kranken auf zwei Mal täglich normiert. Dazu kam die Übertragung des Gedankens der Immunisierung. Rosenfeld hatte das angebliche Schutzmittel ähnlich der Methode zur Pockenimpfung durch eine Schnittwunde eingeimpft. Rosenfelds Scheitern lieferte vorerst einen Gegenbeweis, der das Thema der „Impfung“ zumindest für eine Mehrzahl der Ärzte erledigt sein ließ. Im Unterschied zu den Pocken brachte auch eine einmal überstandene Krankheit keine Immunisierung; diese Beobachtung, die bald geäußert wurde, ließ den Gedanken der Immunisierung gegen Miscellen, in: Medicinische Jahrbücher des k. k. österr. Staates, 190–192. Arsène François Bulard, De la Peste orientale, d‘après les matériaux recueillis à Alexandrie, au Caire, à Smyrne et à Constantinople, pendant les années 1833, 1834, 1835, 1836, 1837 & 1838, Paris 1839, 381. Zu Bulard siehe auch die folgenden Kapitel. 146 147

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die Pest durch Impfung wieder verschwinden. Aus Kairo hieß es um 1820, die Immunisierung schütze definitiv nicht, denn in Kairo sei ein Mann gestorben, der die Pest bereits vorher sechs Mal überstanden hatte.148 Die Versuche mit der Immunisierung waren damit aber noch nicht zu Ende: In Cadiz in Spanien unternahm ein lokaler Arzt noch 1828 Versuche, um die Abmilderung der Pest nach überstandener Krankheit zu beweisen. Von dem Gedanken des Selbstversuches war man aber wohl aufgrund der Erfahrungen abgekommen: Wie von de Carro schon um 1800 gefordert, wurden diese Versuche nun an Strafgefangenen vorgenommen, denen man im Falle des Überlebens die Freiheit versprochen hatte.149 Die Versuche, die man unternahm, wurden immer spezifischer und stringenter: Die Londoner „Medical Gazette“ berichtete 1839 über die (offenbar schon Jahre zuvor begonnenen) Versuche des Görzers Morpurgo, der in Alexandria ein Krankenhaus leitete. Um einen gesicherteren Umgang mit verschiedenen Formen von entzündlichen Erkrankungen zu finden, unternahm Morpurgo gezielte Experimente, bei denen er seine Patienten in zwei Gruppen teilte. Während die eine Gruppe vorwiegend durch Aderlässe und andere entleerende Therapien behandelt wurde, erhielt die andere Gruppe verschiedene Medikamente. Morpurgo verzeichnete die Sterblichkeit beider Gruppen und kam zu dem Schluss, dass die mit verschiedenen Präparaten behandelte Gruppe eine höhere Sterblichkeit aufwies.150 Von 1834 bis 1836 wurde Ägypten erneut von einer schweren Pestepidemie heimgesucht. Mehrere europäische Ärzte unternahmen Selbstversuche, so zum Beispiel der französische Wundarzt Antoine Clot, der wegen seiner Verdienste während dieser Epidemie den Titel eines „Bey“ erhielt und auch sein Gegenspieler Arsène-François Bulard.151 Während Clot die Ansteckungsfähigkeit der Pest rundweg ablehnte, war Bulard überzeugt, dass die Krankheit auf direktem Wege übertragen werden könne. Bulard und zwei Verurteilte, die als Wärter in der Klinik von Abū Zaᶜbal bei Kairo verwendet wurden, trugen Kleider der Pestkranken, die beiden Wärter mussten sich auch in die Betten von Pestopfern legen. Beide erkrankten an der Pest, während Bulard gesund blieb. Clot, der zu diesem Zeitpunkt bereits höchste Funktionen in der ägyptischen Sanitätsverwaltung übertragen bekommen hatte, impfte sich selbst mit Blut und Eiter Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 5. Ebd., 9. Climate and Diseases of Egypt, in: London Medical Gazette: Or, Journal of Practical Medicine, 690, https://books.google.at/books?id=3qTbHgn2MZ4C. Die Ergebnisse waren der von Morpurgo bereits 1831 herausgegebenen Schrift „Considerazoni Mediche sull’Egitto“ entnommen. Dieses Werk war leider nicht auffindbar, sodass ich mich hier auf die in der Londoner Zeitschrift erschienene Rezension beziehe. Morpurgo maß die Sterblichkeit an den Todesfällen je hundert Patienten. Als er selbst mit einer Entzündung erkrankte, lehnte er die von den ihn behandelnden Ärzten empfohlene Medikation mit Verweis auf diese Experimente klar ab. 151 Kohn, Encyclopedia of plague and pestilence, 1995, 100. Die Experimente wurden zum Teil mit dem Serum von Karbunkeln durchgeführt, zum Teil indem die Kleidung von Erkrankten angezogen wurde. Dabei starben einige Ärzte. Auch 100 Leichenöffnungen wurden vorgenommen, was ebenfalls als Beleg für die Nicht-Übertragbarkeit gewertet wurde. 148 149 150

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von Pestkranken – und blieb gesund.152 Je nach Überzeugung, ob die Pest denn nun ansteckend sei oder nicht, fielen auch die Interpretationen der Ergebnisse aus. Dass andere Versuche an Strafgefangenen, die Hemden infizierter Personen zu tragen hatten, zum Teil nicht funktionierten, schrieb man in einem zeitgenössischen Bericht aus Preußen der Tatsache zu, dass das Kontagium zur Zeit der Versuche seine Kraft bereits verloren hatte.153 Bulard verdankte dieser Epidemie und seinen Erfahrungen dabei in den späteren Jahren noch einige Prominienz. Die Tatsache, dass er selbst während sechsjähriger Tätigkeit im Orient nicht mit der Pest infiziert worden war, brachte ihn zur Überzeugung, dass die Ansteckungsfähigkeit von der individuellen Disposition abhänge. Umgekehrt lehnte er aber das Konzept des Kontagiums nicht rundweg ab. Lange Quarantänen erschienen ihm aber sinnlos. Eine der von Bulard vorgeschlagenen Maßnahmen war es gewesen, den Ansteckungsstoff der Pest durch Erhitzung zu zerstören. Die Vorarbeiten dazu hatte der Brite Henry geleistet, der nachgewiesen hatte, dass der KuhpockenImpfstoff bei einer Temperatur von 45 Grad Reaumur wirkungslos wurde.154 Bulard hatte den Gedanken aufgegriffen und die russische Regierung dazu bewegen können, in Ägypten dazu Versuche anzustellen, an denen er freilich selbst nicht mehr teilnahm, nachdem er in der Zwischenzeit den russischen Dienst wieder verlassen hatte.155 Im Sommer 1842 reiste eine Kommission aus Odessa nach Ägypten, um dort Versuche anzustellen. In Kairo erhielt die Kommission den oberen Stock des Militärkrankenhauses von Qasr el-Aini zur Verfügung gestellt, um ihre Versuche durchzuführen. Die Mission war die erste „internationale“, indem hier nämlich russische Ärzte und in Ägpyten lebende französische und deutsche Ärzte zusammenarbeiteten und sich bemühten, die Ergebnisse ihrer Versuche auch zu dokumentieren. Nach Ausbruch einer Pestepidemie im Winter 1842/43 wurden die Kleidungsstücke Pestkranker eingesammelt und für genau umgrenzte Zeitperioden in einem Destillierofen der Hospitalapotheke

152 Beide Schilderungen gibt Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 25; wobei er sich auf die Berichte Clots stützt. Dem Anschein nach gab es mehrere solcher Versuche. Einen Hinweis auf die Selbstversuche mit Opium gibt auch Kernbauer mit Bezug auf die Selbstversuche Oppenheims mit Opium: Kernbauer, Friedrich Wilhelm Oppenheim und Lorenz Rigler, 2002, 59. 153 Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 26. Bulard berichtete selbst mehrfach von diesen Versuchen, die auch im deutschsprachigen Raum verfolgt wurden. Vgl. z. B. Doctor Bulard und die Pest, in: Das Ausland: Wochenschrift für Länder- u. Völkerkunde, 22.11.1838, https://books. google.at/books?id=okdEAAAAcAAJ. 154 Zu Henry vgl. den Eintrag in: Thomas Andrew (Hg.), A cyclopedia of domestic medicine and surgery, Glasgow/ Edinburgh/London 1842, 244. Die Temperaturen sind hier in Fahrenheit angegeben, im britischen Text heißt es, „all infection is completely destroyed“. Im Bericht der genannten russischen Kommission, der auch in deutscher Sprache erschien, heißt es, dass durch die Versuche Henrys „der Ansteckungsstoff der Vaccine, des Typhus und einige andere Contagien“ zerstört worden seien. 155 N. N., Bericht über die Versuche der auf allerhöchsten Befehl in den Orient abgeschickten Commission, betreffend die Reinigung verpesteter Gegenstände durch erhöhte Wärme, Gedruckt auf Verfügung des Herrn Ministers des Innern, St. Petersburg 1845, 5.

Der Fatalismus und die Entstehung der Pest

auf eine Temperatur von 49–52 Grad Reaumur erhitzt.156 Im Endbericht zu den Versuchen hieß es, dass die Versuche gelungen seien; keiner der Probanden, die danach die Kleidung zu tragen hatten und zu denen Freiwillige aus der Hospitaldienerschaft (offenbar gegen Geld) herangezogen wurden, erkrankte, während es unter den russischen Sanitätsdienern, die die Kleidung besorgt hatten, Krankheits- und Todesfälle gab. Der Petersburger Medizinalrat folgerte daraus, dass „jeder verpestete Gegenstand, in Bezug auf die Fähigkeit, das Pestcontagium mitzuteilen, als vollkommen unschädlich zu betrachten ist, wenn er einer trockenen Hitze von 50–60 Grad Reaumur 48 Stunden unterworfen gewesen ist.“157 Die Versuche, die europäische Ärzte im Osmanischen Reich und Ägypten durchführten, profitierten zweifellos von den vergleichsweise unstrukturierten sanitätspolitischen Verhältnissen und dem bedeutenden Einfluß, den europäische Konsuln damals bereits auf die jeweiligen Machthaber ausüben konnten. Ob all dies in Europa in jenen Jahren in derselben Form möglich gewesen wäre, bleibt hier dahingestellt – dass der „Orient“ einen wichtigen Erprobungsraum für medizinische Theorien im Zusammenhang mit der Pest und anderen epidemisch auftretenden Krankheiten darstellte, scheint jedoch eindeutig. 5.5

Der Fatalismus und die Entstehung der Pest

Mit den oben beschriebenen Versuchen und den vielen Beobachtungen vor Ort entstanden feste Vorstellungen davon, wie die einheimische Bevölkerung mit den Seuchen umging. Ein Bild, das sich durch die Reisenden aus Europa verfestigte, zeichnete Muslime pauschal als fatalistisch im Umgang mit Krankheiten, insbesondere der Pest. Das Bild herrschte in ganz Europa vor und fand sich auch in der Wiener Literatur. Der Wiener Arzt Ignaz Gruber, der für die Gesellschaft der Ärzte in den 1830er-Jahren Fakten zur Pest sammelte, integrierte dieses von einem (nicht medizinischen) Reisenden gezeichnete Bild in seinen Bericht über die Pestepidemie, die Mitte der 1830er-Jahre in Ägypten herrschte. Zu Beginn der Epidemie hatte man in einem Krankenhaus einige Soldaten als Krankenwärter aufgenommen. Mit dem Abklingen der Pest wollte man sie aus dem vermeintlich belastenden Dienst entlassen, doch diese lehnten ab und wollten lieber bei den Pestkranken bleiben.158 Die Europäer in orientalischen Städten zeigten dagegen ein überaus furchtsames, fast panisches Verhalten. Die von mehrheitlich von kontagonistischen Anschauungen überzeugten europäischen Ärzte kleideten

156 Die Versuche wurden in der Folge in anderen Zusammensetzungen wiederholt; so „miethete“ man 46 Bewohner Kairos für einen weiteren Versuch, der ebenfalls ohne Ansteckung endete. 157 N.N., Bericht über die Versuche der auf allerhöchsten Befehl in den Orient abgeschickten Commission, 1845, 5–8. 158 Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 27.

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sich in Gewänder aus Wachsleinwand, fühlten den Puls durch Tabakblätter, die man als kleine Barriere zwischen sich und den Kranken aufbrachte, und reinigten ihre Hände durch Öleinreibungen.159 In Ägypten waren die Menschen dazu geneigt, die Pest nicht als etwas ihnen Zustoßendes, von außen Kommendes zu sehen, sondern hatten gelernt, die Krankheit so wie die jährlichen Nilhochwässer als Teil ihrer natürlichen Umgebung zu deuten.160 Während die Flucht vor der Pest in Europa ein, wenn schon nicht erwünschtes, so zumindest erwartetes Verhalten darstellte161, trafen europäische Ärzte im Osmanischen Reich – zumindest in bestimmten Gegenden162 – auf eine Bevölkerung, die nicht zu flüchten bereit war. Dieses Phänomen hatten europäische Beobachter schon im 18. Jahrhundert in der medizinischen Literatur festgemacht; es findet sich in Ferros erster Schrift über die Pest und führt ihn zu der Erkenntnis, dass der Mut, den man in Europa von den Menschen im Umgang mit der Pest zuvor immer eingefordert habe, gar nichts mit der Häufigkeit der Ansteckung zu tun habe.163 Man sehe so viele unerschrocken mit Kranken umgehen, ohne dass ihnen das Mindeste geschehe, doch anstatt darüber nachzudenken, was das über die Ansteckungsfähigkeit aussage, habe man sich stattdessen mit dem Aberglauben beholfen, dass der Mut gegen die Ansteckung schütze. Wenn es der Mut wäre, der vor der Ansteckung schütze, warum stürben dann in der Türkei so wenige Europäer an der Pest, während die Einheimischen von ihr dahingerafft würden, obwohl sie sich so wenig fürchteten? Ähnlich sahen das auch die Bewohner Ägyptens. In seiner Beschreibung der Pestepidemien Ägyptens berichtete der französische Arzt Antoine Clot, dass der Glaube der Ägypter, dass die Pest nicht ansteckend sei, auf jahrhundertelanger Erfahrung aufbaue und nichts mit Fatalismus zu tun habe. Auch in Ägypten würden Menschen die Frage stellen, wie es denn sein könne, dass man sich um Kranke gekümmert habe und die Krankheit nicht bekam, während auch Europäer von ihr erfasst wurden, die sich in ihren Häusern einsperrten. Clot sah das als wesentliches Argument dafür, dass die Krankheit nicht ansteckend sei und man nicht vor ihr flüchten könne. Dementsprechend seien alle Absperrungen sinnlos.164 Die exzessive Furcht der Europäer vor der Pest mochte durch die Tradition der Absperrungen und der Pesthäuser seit dem Mittelalter noch gestärkt worden sein; 159 Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 25. Gruber bezieht sich hier auch auf Clot Bey, dessen Schilderung diesbezüglich ikonischen Charakter hat und sich in vielen Schriften findet. 160 Mikhail, The nature of plague, 2008, 250. 161 Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 41. 162 Eine verallgemeinernde Aussage, wonach Muslime nie oder meist nicht vor der Pest geflüchtet wären, ist unzulässig: So flohen in den 1830er-Jahren viele muslimische Würdenträger vor der Pest. Vgl. Kurz, Die Einführung von Quarantänemaßnahmen, 1999, 51. 163 „Muth! Der tut gar nichts dazu, so wie die Furcht auch nichts zum Krankwerden macht. Eben die Meinung, dass der Muth so viel zur Verhütung der Ansteckung, oder ich weiß nicht, zur Verhinderung der Elaborirung und Expellirung des Giftes thue, eben dies hält den Wahn der Ansteckung so lange aufrecht.“ Ferro, Von der Ansteckung der Epidemischen Krankheiten, 1782, 38. 164 Kuhnke, Lives at risk, 1992, 74.

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in Ägypten beobachtete man, wie Europäer ihre Kranken unversorgt ließen, während sie bei den Muslimen immer versorgt wurden. Auch die Anordnung der französischen Besatzer während der Pestepidemie 1798–99, man solle die privaten Gegenstände der Verstorbenen auf den Dächern der Häuser samt und sonders lüften und räuchern, stieß auf Misstrauen bei der Bevölkerung. Der ägyptische Geschichtsschreiber ᶜAbd Abd-ar-Raḥmān al-Ǧabartī berichtete darüber, dass die Menschen darin nur eine Maßnahme zur Sichtung des privaten Besitzes der Bewohner eines Hauses befürchteten.165 Das Wissen darum, dass die Krankheit durch Effekten verteilt werden konnte, war auch in der mittelalterlich-islamischen Diskussion bereits präsent; dennoch fehlte in der Frühen Neuzeit vielerorts die notwendige Umsetzung dieses Wissens durch präventive Maßnahmen. Die bereits erwähnte Ansicht der religiösen Orthodoxie mag dabei eine Rolle gespielt haben. In den Augen der Europäer, die ab dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt den Orient besuchten, war vor allem die Praxis, ungereinigte Kleidungsstücke Verstorbener zu verkaufen, für die Verbreitung der Krankheit verantwortlich.166 Für den lange in Ägypten tätigen Arzt Wolmar war der „Fatalismus der Muslime“ Anfang der 1820er-Jahre ein unmittelbar mit dem endemischen Charakter der Krankheit verbundenes Faktum: „Der unter den Mahomedanern allgemein herrschende Glaube an Prädestination ist die hauptsächlichste Ursache, daß die Pest in Asien, wie in dem den Türken gehördenden Theile Europa’s und vorzüglich in Constantinopel einheimisch geworden ist.“167 Wolmar begründete dies auch mit einem religiös-dogmatischen Argument. Der Koran verbietet den Muselmännern, das Land, in dem sie sich befinden, zu verlassen, wenn die Pest sich in demselben verbreitet. Der Sinn dieses Gesetzes ist klar, und Mahomed sagt damit seinen Anhängern nur, daß, wenn es ihnen vom Geschick noch nicht zu sterben bestimmt ist, sie auch selbst die Pest nicht zu fürchten haben. Ferner hat er mit diesem Gesetz auch bezwecken wollen, daß die Pestkranken nicht aus Furcht vor Ansteckung von ihren Dienern und Angehörigen verlassen und in ihrem hülflosen Zustande aller Hülfe beraubt werden möchten.168

Dennoch ordnete er den fatalistischen Ansichten, die er als von den „türkischen Priestern ersonnen“ bezeichnet, einen rationalen Zweck zu: Da die Behandlung der Pest kaum möglich sei, wäre es oft das Beste, der Natur freien Lauf zu lassen.169 Tatsächlich erteilten

Kuhnke, Lives at risk, 1992, 74. Dols, The Black Death in the Middle East, 1977, 95. Dols verweist hier auf den Reisebericht des Franzosen Constantin François Volney, der in den 1780er-Jahren Syrien und Ägypten bereist hatte. In französischer Sprache: Constantin-François Volney, Voyage en Syrie et en Égypte pendant les années 1783, 1784 et 1785, Cambridge library collection. Travel, Middle East and Asia Minor 1787, in englischer Sprache 1801 erschienen. 167 Vgl. Di Wolmar/Hufeland, Abhandlung über die Pest, 1827, VIII. 168 Ebd. 169 Ebd., 334. 165 166

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muslimische Ärzte sehr wohl Ratschläge zum Umgang mit der Pest und gaben Empfehlungen ab, wie man sich schützen könne. Die Reinigung der Luft durch bestimmte Düfte oder Räucherungen, die Erhaltung des Gleichgewichts der Körpersäfte und die Vermeidung von anstrengender körperlicher Bewegung gehörten dazu.170 Einzelne Gelehrte empfahlen auch, Orte aufzusuchen, an denen die Pest nicht zu erwarten war, wenn die Betreuung der Angehörigen und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gewährleistet seien.171 Auch magische Praktiken zur Abwehr der Pest waren für all jene verfügbar und auch gesucht, die keinen Zugang zu spezifischen therapeutischen Mitteln hatten oder schlicht einfach mehr in solche Praktiken vertrauten.172 Die Ansicht, dass sich Muslime im Angesicht der Pest fatalistisch zu verhalten hätten, ist ein Topos der Medizingeschichtsschreibung, der bis in die neueste Zeit in medizinhistorischen Schriften zu finden ist.173 Dieser vermeintliche Fatalismus im Umgang mit der Pest, der bei Wolmar zu finden ist, hatte sich in den 1830er-Jahren bereits so weit durchgesetzt, dass es auch für nicht-ärztliche Beobachter selbstverständlich wurde, darauf Bezug zu nehmen. Der Ausbruch der Pest in Konstantinopel im Jahr 1836/37 wurde von dem damals noch jungen preußischen Offizier Helmuth von Moltke (1800–1891) beschrieben, der damals als militärischer Berater beim Osmanischen Reich tätig war.174 Moltke sah die muslimischen Türken weit mehr von der Seuche betroffen als die christlichen Bewohner Konstantinopels. Auch Moltke erkannte einen tieferen Sinn in den Regeln, die auf ein Verbot der Flucht hinausliefen: Muhammad hatte gewiß nicht Unrecht, als er, indem er verzweifelte, seine Landsleute vor der fürchterlichen Seuche zu bewahren, ihnen eine solche Verachtung gegen dieselbe einflößte. Dem Moslem ist die Pest nicht eine Heimsuchung, sondern eine Gnade Gottes, und die daran sterben, sind ausdrücklich vom Koran als Märtyrer bezeichnet. Die Furcht vor der Pest und alle Maßregeln sind daher nicht nur überflüssig, sondern auch sündlich.175

Das Verhalten der Europäer in Konstantinopel wurde bei Moltke dagegen als „panisch“ beschrieben: Alle Häuser würden frisch gekalkt, alle Kleider gereinigt oder gar verbrannt, wenn ein Pestfall auftrete; viele trauten sich überhaupt nur in besonderen Kleidern auf die Straße, generell sei man überaus furchtsam. Für die Türken sei das bestenfalls amüsant. Dank ihres Fatalismus seien die Türken „tolerant gegen uns, wie man es nur bei der geistigen Überlegenheit sein kann, die eine unerschütterliche Überzeugung gewährt. – Komm ihm nicht zu nah, er fürchtet sich, sagt der Türke mit aller GutmüKurz, Die Einführung von Quarantänemaßnahmen, 1999, 11. Ebd. Für Ägypten siehe: Kuhnke, Lives at risk, 1992, 72. So z.  B.  – wiewohl bereits durch einen Hinweis auf die komplexe Entstehungsgeschichte differenziert – bei: Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 42. 174 Eine neuere, allerdings gekürzte Ausgabe bietet: Moltke/Bartsch, Unter dem Halbmond, 1997. 175 Auszug aus Moltkes Reisebericht, hier aufgrund der Kürzung in der o. g. Ausgabe zitiert nach: Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 42. 170 171 172 173

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tigkeit und ohne Spott, höchstens mit ein bißchen Mitleid.“176 Tatsächlich war die Flucht vor epidemischen Krankheiten aus der Sicht der muslimischen Sunna nicht geboten; dies leitet sich von einer Aussage des Propheten Mohammed ab, der sinngemäß predigte, dass man, wenn man von einer epidemischen Krankheit in einem Land höre, nicht dorthin gehen solle, wenn man aber selbst in einem Land sei, in dem eine solche Krankheit ausbreche, so solle man nicht fliehen. Um diesen Imperativ zu verstärken, werden an anderer Stelle jene, die unter solchen Umständen sterben, als Märtyrer bezeichnet.177 Ob und in welchem Ausmaß diese Regelung im Laufe der Geschichte befolgt wurde, ist zumindest zweifelhaft. Religiöse Vorschriften zum Verhalten bei epidemischen Krankheiten kennt auch das Alte Testament178; Aufforderungen zum Gebet finden sich in Seuchenordnungen aus Mitteleuropa in der frühen Neuzeit.179 Im Falle des Auftretens der Pest in islamischen Ländern werden diese Regelungen in der medizinischen Literatur zum Angelpunkt für die Konstruktion eines irrationalen Fatalismus180. Dieses Bild konnte sich in der medizinhistorischen Literatur lange halten; so heißt es noch in William McNeills Klassiker „Plagues and Peoples“ über den Islam und die religiös motivierte „Passivität“, es wäre „the effect of such traditions […] to inhibit organized efforts to cope with plague“.181 Im Gegensatz dazu wurde die Hinwendung zur forschenden Aufklärung der Krankheitsursachen in Europa ebenfalls mit religiösen Gründen argumentiert: So hätte der Glaube an die „letztlich übernatürliche Ursache der Pest […] im 16. Jahrhundert nicht in einen Fatalismus“ gemündet, sondern im Gegenteil als Ansporn gewirkt, Pestkranke zu pflegen und Arzneien einzusetzen.182 Wolmars Buch wurde – ebenso wie zuvor das Werk Franks – in der „Medicinischchirurgischen Zeitung“ rezensiert. Auch in dieser Rezension wurden vermeintliche hygienische Defizite im Orient hervorgehoben: Wolmar betone in seiner Schrift, dass die Überschwemmungen des Nils nichts zur Verbreitung der Pest beitrügen, wohl aber die allgemeinen Verhältnisse in den Städten; die Ansicht des Rezensenten verZitiert nach: Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 42. Den Umgang mit der Pest im osmanischen Ägypten behandelt: Mikhail, The nature of plague, 2008. Er stellt ebenfalls infrage, ob die auf der Sunna aufbauende Tradition als repräsentativ für das Verhalten von Muslimen gesehen werden kann. Grundlegend dazu: McNeill, Plagues and Peoples, 1989, 167. 178 Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, 1948, 564 führt die Übernahme kontagonistischer Anschauungen in Europa überhaupt auf alttestamentarische Vorstellungen zurück. 179 So z.  B. in der Seuchenordnung von Nördlingen: Vgl. Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 39. 180 Hier sei nochmals auf die oben zitierte Aussage Wolmars verwiesen, der immerhin feststellt, der Sinn der Anordnung sei „klar“: Es gehe darum, eine Epidemie nicht weiter zu verbreiten. In der frühen islamischen Gesellschaft, in der staatliche Instrumente zur Absicherung fehlten, war das moralisch-religiöse Gebot eine Grundlage gesellschaftlicher Organisation. Die Gründe für die spätere Anwendung dieser Grundsätze durch den osmanischen Staat wären nach Ansicht des Autors in den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen. 181 McNeill, Plagues and Peoples, 1989, 167. Vgl. dazu auch Dols, The Black Death in the Middle East, 1977, 23; er verweist darauf, dass es sich um einen Hadith des Propheten handelt. 182 Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 39. 176 177

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mischt sich augenscheinlich mit jener des Autors: „Reinigung der Stadt und des Canals Calidsch183, Verbrennung der von der Pest angesteckten Geräthschaften und Kleidungsstücke, Anlegung von Lazarethen am Meere, Verlegung der Begräbnisplätze an entfernte Stellen außerhalb der Stadt, tiefes Verscharren der Leichen wären die Maßregeln, deren Befolgung die Pest in Aegypten bald austilgen würde.“184 Diese Schlussfolgerungen, die der Rezensent aus Wolmars Werk zog, orientierten sich an jenen Maßregeln, die den europäischen Ärzten aus den heimischen Pestordnungen bekannt waren. Auch in dieser Rezension wurde der Gedanke aufgegriffen, wonach es der Glaube an die Vorhersehung sei, der eine Bekämpfung und Ausrottung der Pest so schwierig mache: „Der unter den Muhammedanern herrschende Glaube an Prädestination ist die hauptsächlichste Ursache, daß die Pest in der Türkey, besonders in Constantinopel, einheimisch ist. In Constantinopel sterben alle Wochen Pestkranke, doch so lange ihre Zahl mäßig ist, bekümmert man sich nicht weiter darum.“185 Dieses religiöse Argument wurde in der zeitgenössischen Diskussion auch ins Gegenteil verkehrt: Der in Berlin studierende, aus dem Osmanischen Reich stammende Arzt Demetrio Maurocordato – selbst Grieche – schrieb 1832 in einem Kommentar, dass, wann immer die Pest in der Türkei herrsche, verhältnismäßig weniger Türken als Griechen stürben; das liege an ihrer „festen Zuversicht auf Gott, d. h. der Ruhe des Geistes, die daraus entspringt.“186 Dienlich war der Skeptizismus der Muslime gegenüber der Übertragbarkeit der Pest auch jenen europäischen Ärzten, die sich gegen das Prinzip der Kontagiosität aussprachen. Ein gängiges Erklärungsmuster für das Auftreten der Pest war die Annahme, dass diese durch Geister („Dschinn“)187 hervorgerufen werde. Dieses Muster kann nicht als pauschaler Aberglaube abgetan werden; europäische Ärzte berichteten zu ihrem eigenen Erstaunen, dass man im osmanischen Volksglauben bei anderen Krankheiten wie den Pocken, der Krätze oder dem Scharlach von einer Ansteckung ausgehe. Die Pest zählte dagegen zu jenen Krankheiten, die von muslimischer Seite durch „Dschinn“ erklärt wurde – ein ähnlich ungreifbares Phänomen wie das „Miasma“ der europäischen Ärzte. Während Letzteres aber ein ernstzunehmendes und immer mehr an Bedeutung gewinnendes Erklärungsmodell darstellte, waren die „Dschinn“ aus europäischer Sicht dagegen reiner Aberglaube. Ludwig Christoph Thirk, der seine Erfahrungen mit der Pestepidemie von 1837 im Os-

Seitenarm des Nil, Baḥr Yūsuf oder ‚Josefs-Kanal‘ genannt. Vgl. Rezension Enrico di Wolmar, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 5–16, 11. Ebd., 17–32, 31. Vgl. Maurocordato, Die Cholera-Epidemie zu Konstantinopel, 1832, 46. Als „Dschinn“ (Sing. männl: in DMG-Umschrift: ğinnī) werden in der ursprünglich arabisch-islamischen Mystik (und auch im Koran) Geister bezeichnet, die aus Feuer geschaffen sind und die Welt – für Menschen unsichtbar  – bewohnen. Diese Tradition verbreitete sich mit dem Koran in der gesamten islamischen Welt. Ähnliche Vorstellungen gab es auch in der europäischen Volksmedizin, vgl. z. B. den in Österreich bis vor wenigen Generationen verbreiteten Glauben an die „Drud“ als VerursacherinWissen bestimmter Krankheiten. 183 184 185 186 187

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manischen Reich in den 1840er-Jahren in Wien publizierte, bat seine Leser um Erlaubnis, diesen Gedankengang trotz des für ihn absurden Bezugs auf Geister weiter ausführen zu dürfen, denn es seien aus seiner Überzeugung höchst wichtige Momente: Für Thirk traten die „Dschinn“ an die Stelle kosmisch-tellurischer Einflüsse. Man dürfe in dieser Erklärungsform „die Ahnung von unsichtbaren schädlichen Einflüssen nicht verkennen“188. Die Vorstellungen misasmatisch denkender Ärzte waren ebenso spekulativ wie die derjenigen, die an die Dschinn glauben wollten. Ein wenig später hieß es fast entlarvend im selben Zusammenhang doch durch einen anderen, den miasmatischen Erklärungen zuneigenden Autor: „Es wird niemandem schwer einleuchten, dass […] die Entwicklung des Contagiums aus seinem latenten Zustande, sich doch einzig auf die Annahme eines Miasmas beziehen kann, das zwar alle zu Gebote stehenden Instrumente noch nicht sichtbar nachzuweisen vermocht haben, aber dessen positives Vorhandensein durch die sichtbaren Wirkungen nur zu deutlich erkannt werden muss.“189 Darüber hätte man sich wohl auch mit einem muslimischen Gelehrten einigen können – hätte man nur von Dschinn, statt von Miasma, gesprochen. In der Diskussion um den angeblichen Fatalismus der Muslime zeigten sich Motive des Orientalismus, der auch die Medizin dieser Zeit erfasst hatte. Auch in Wien wurde der Niedergang der islamisch-osmanischen Kultur als Grund für das Umsichgreifen der Pest bemüht. Der Wiener Arzt Franz Wirer (1771–1844) schrieb im Manuskript zu einem Vortrag, den er 1838 in der Gesellschaft der Ärzte in Wien hielt: Wir finden schon im alten Testamente, dass die Propheten mit Seuchen aus diesem Lande drohten, und es ist unläugbar, dass fast alle weltverbrennenden Epidemien der letzten Römerzeit bis tief in das Mittelalter hinab190 von Ägypten mit besonderer Wuth191 ausgegangen [sind]. Aber die Gewohnheit der älteren Ägypter, die Luft durch aromatische Feuer zu würzen und zu verdünnen, die Menschen und selbst Thierkörper zu balsamieren, oder doch wenigstens sorgfältig zu begraben, ihre gewissenhafte Diätetik und Reinlichkeit, und andere medizinische Verbesserungsmittel, welche ihnen ihre Religion zur Pflicht machte, mussten ungemein viel beitragen, jene schreckliche Geißel der Menschen, die Pest, von ihnen zu entfernen, – während in unserer Zeit Religion und Lebens-

188 Thirk, Nachrichten über die orientalische Pest, 1846, 850–851. Dieser Gedanke wurde später auch von modernen islamischen Denkern aufgegriffen. Muhammad Abduh, ein Vordenker eines mit der Moderne in Einklang zu bringenden Islam, sprach von den Dschinn als „Bakterien“. 189 Ebd., 852. 190 In den Druckfahnen für die Veröffentlichung in den „Verhandlungen der Gesellschaft der Ärzte“ korrigiert zu: „hierin“. Vgl. Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte, Älteste Reihe, Fasz. 1, Prot. Nr. 88. 191 In den Druckfahnen für die Veröffentlichung in den „Verhandlungen der Gesellschaft der Ärzte“ korrigiert zu: „Intensität“. Ebd.

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art der Osmanen [besonders ihre unnatürliche Wollust mit der Entsittlichung und Entartung des Geschlechtstriebes]192 dem Pestübel Nahrung und Stärke geben.193

Durch den Diskurs der islamischen Rückständigkeit, der wohl auf Basis der Argumente, Berichte und Erfahrungen von Ärzten wie Wolmar, Burghardt und Frank entstand, war bereits in den 1820er-Jahren der Boden bereitet für die Frage, die die Grundlage für die Durchbrechung der jahrzehntelangen strikten Abgrenzung Europas vom „Orient“ bildete: Sollte der Orient zum politischen Handlungsraum europäischer Medizin werden? Es ist der Tübinger Arzt und Epidemiologe Friedrich Schnurrer (1784–1833)194, der sich als einer der ersten in einer wissenschaftlichen Abhandlung mit der Frage beschäftigte, ob die Pest durch die Einführung „westeuropäischer Polizei in den Orient“ tilgbar sei. Er fasste zunächst den Standpunkt jener zusammen, die sich für eine Einführung europäischer Sanitätseinrichtungen in der Türkei aussprachen: Unter den Vorwürfen, welche das westliche, auf seine Civilisation stolze Europa der türkischen Regierung und den Lebensansichten der Moslimen macht, wird häufig auch gehört, daß nur Trägheit und Unwissenheit der Türkischen Regierung der Erzeugung und Verbreitung der Pest freien Lauf gelassen, und der unverdienten Achtung des civilisierten Europas für die Unabhängigkeit der Türkei in den innern Angelegenheiten der Verwaltung die noch verzögerte Vertilgung der Seuche zuzuschreiben sey.195

Nachdem die neuere Zeit offenbart habe, dass die Türkei weder dem Russischen Reich noch den europäischen Mächten Widerstand leisten könne, sei es an der Zeit, Druck auszuüben, um in der ganzen Türkei Sicherheits-Anstalten gegen die Pest einzurichten. Nicht ohne Ironie entwickelte er diesen Gedanken weiter: Ein Verein der Cabinette soll für diesen Zweck wirken, ebenso sollen sich dem Zeit-Charakter gemäß Privat-Vereine bilden und Ärzte ermuntert werden, Thatsachen zu sammeln und mitzutheilen, oder als Missionäre in jene Gegenden zu gehen. Publicisten sollen die ganze Größe des Zwecks in öffentlichen Blättern zur Sprache bringen; ein Orden möge

192 Der in Klammer gesetzte Ausdruck findet sich im Originalmanuskript, wurde aber für die Drucklegung gestrichen. Ebd. 193 Vgl. Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte, Über die Bekämpfung der Pest (Manuskript), Älteste Reihe, Fasz. 1, Prot. Nr. 88, 10. 194 Friedrich Schnurrer (1784–1833) war der Sohn des Tübinger Orientalisten und Theologen Christian Friedrich Schnurrer. Schnurrer publizierte ab 1810 neben seiner ärztlichen Tätigkeit als Physikus mehrfach zur Thematik Seuchen und „medizinische Geographie“. Er gilt als einer der ersten Verfasser einer Landkarte, auf der Krankheiten nach ihrem geographischen Auftreten verzeichnet sind. Zu letztgenannter Publikation vgl.: Frank A. Barrett, Finke’s 1792 map of human diseases: the first world disease map?, in: Social science & medicine 50/7, 1982, 2000, 915–921, doi: 10.1016/S0277-9536(99)00344-5. 195 Friedrich Schnurrer: Die Vertilgung der Pest. Ist dieselbe durch das Einbringen westeuropäischer Polizei in den Orient ausführbar?, in: Das Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker, 3., 5. Jänner 1830, 8.

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sich gleich dem zur Ausrottung türkischer Piraten gestifteten bilden, und seine Ritter sich der Vertilgung der Pest zum Zwecke setzen. Wer könnte den Eifer für [das] Menschenwohl verkennen! Mögen für’s Erste die Cabinette für den schönen Zweck arbeiten, Tyranney und Rohheit, wo sie sich auf europäischem Boden finden, von diesem zu verbannen. […] Ob übrigens dem civilisirten Europa, wo bis jetzt weder Pocken, noch gelbes Fieber, noch ansteckende Augenentzündung, noch weniger die Lustseuche vertilgt werden konnte, eine solche Sprache zukomme, bleibe hier unerörtert […].196

Schnurrer versuchte in seiner Schrift Beweis zu führen, dass die Quarantäneanstalten meist unzulänglich gewesen seien und die Absperrungsmaßnahmen sich vor allem durch Zufall bewährt hätten. Auch den von Wolmar geführten Beweis, wonach die Abschirmung der Europäer in Kairo eine viel geringere Sterblichkeitsrate nach sich gezogen habe, verwarf er unter Hinweis auf die mangelnde Praxisrelevanz („Wie will man überhaupt eine Stadt nur von 100.000 Einwohnern beaufsichtigen, wenn diese selbst keinen Glauben an die Sache haben?“)197 Die Pest habe sich mehr oder weniger von selbst in ihre „Ursprungsgebiete“ zurückgezogen. Um sie wirklich zu bekämpfen, sprach sich Schnurrer für eine Forcierung der Forschungen zu einem möglichen Impfstoff aus. Dabei schlug er die Brücke zu der ursprünglich aus der Türkei kommenden Kuhpockenimpfung. „Weit mehr würde die Austilgung der Pest durch eine ihr entsprechende Impfung zu bewirken seyn: eine solche wurde zwar von den Europäern schon vielfach versucht, aber immer von üblem Erfolg begleitet. Sollte dieselbe gelingen, so müßte sie auf andere Weise als bisher unternommen werden.“ Erfolgversprechend sei der bei der Kuhpockenimpfung gelungene Versuch, den Impfstoff von infizierten Tieren zu nehmen. Vielleicht verfällt irgend ein Türke auf diesen nicht zu entfernt liegenden Versuch und beschämt das westliche Europa, welches immer die Bekenner des Korans wegen ihres Fatalismus und ihres Unglaubens an die Quarantäne, was Beides weder ihrem Herzen noch ihrem Verstande Schande macht, verdammt, und dabei ganz vergisst, woher vor etwas mehr als 100 Jahren die Pockenimpfung, welche die Vaccination vorbereitete, nach dem civilisirten Europa gelangte.198

In den oben wiedergegebenen Beschreibungen aus etwa 20 Jahren zeigt sich die Veränderung des Diskurses: Die Verantwortung für die Pest und ihre Bekämpfung wurde in der wissenschaftlichen Debatte verstärkt in den Orient verschoben; Religion, der fatalistische Glaube an die Prädestination und lokale Verhältnisse stünden einer effektiven Bekämpfung der Pest aber entgegen. Der Islam als vermeintlicher Behinderer der Pestbekämpfung hatte sich in den Köpfen bereits festgesetzt und keine osmanische Maßnahme oder Reform konnte mehr ohne Verweis auf den Koran auskommen. 1838 196 197 198

Das Ausland, 5. Jänner 1830, 8. Ebd., 20. Ebd.

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verkündete der osmanische Sultan Mahmud II. den Beginn des Aufbaus einer eigenen Quarantäneverwaltung. In den europäischen Medien wurde dies mit der Begründung versehen, dass sich die der Sunna entsprechende Ansicht (ebenso richtig oder falsch, wie europäische Meinungen zu diesem Thema), dass Gegenstände nicht die Pest übertragen könnten, als „falsch“ erwiesen hätte und durch Rechtsgelehrte nun richtiggestellt werden müsste.199 5.6

Ägypten und die Sphinx der Pest

Die europäische Medizin lernte in diesen Jahren, Ägypten als „Ursprungsort der Pest“ zu sehen und richtete nun erneut verstärkt den Blick nach Ägypten. Es sei bekannt, dass „alle wissenschaftlichen Untersuchungen über die Pest vorzugsweise Egypten zum Zielpunkt erkoren“ hätten, schrieb der Wiener Carl Ludwig Sigmund 1850 und konnte damals schon auf eine beachtliche Literatur zu diesem Thema zurückschauen.200 Ägypten war seit der Expedition Napoleons Europa immer näher gerückt. Enrico di Wolmars’ oben genanntes Buch war zumindest in einer Hinsicht ungewöhnlich: Er vertrat die Ansicht, dass die Pest nicht in Ägypten heimisch sei, sondern meist aus Konstantinopel eingeschleppt würde. Die Tatsache, dass es in den Jahren seit 1800 immer häufigere Pestepidemien gegeben hatte, brachte Wolmar damit in Zusammenhang, dass sich die Handelsstruktur verändert habe, was auch der Rezensent des Buches in der Salzburger „Medizinisch-chirurgischen Zeitung“ hervorhob: Dieselben Menschen versicherten, daß in ihren Jugendjahren oft 5–6–10 Jahre zwischen einer und der anderen Pestseuche verflossen seyen, dieselben also immer häufiger würden. Dies erklärt der Verf. dadurch, daß noch vor 40 Jahren der Handel von Constantinopel, Smyrna, Aleppo, Damaskus und Syrien ausschließlich in den Händen von Europäern, Griechen und überhaupt Nicht-Muhamedanern war, welche nur außer der Pestzeit ihre Waarenvorräthe abgehen ließen, während jetzt aber der Handel von Muhamedanern betrieben wird, welche nach ihrem Glauben an das Fatum sich vor der Pest nicht zu schützen suchen, also auch Waaren kaufen, wenn die Pest im Lande ist, besonders weil man sie dann um die wohlfeilen Preise haben kann. So lange also der Handel in den Händen der Türken bleibt, muß die Pest in Aegypten immer häufiger werden.201

Wolmars klare Aufforderung, den Handel den Türken zu entreißen, fügte sich in das Bild, das die Wirtschaft im Mittelmeerraum in jenen Jahren abgab: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensivierte sich der Handel am Mittelmeer vor allem mit dem Promitzer, Grenzen der Bewegungsfreiheit, 2012, 40. Sigmund, Die Quarantäne-Reform, 1850, 341. Vgl. Rezension: Dr. Enrico di Wolmar: Abhandlung über die Pest u.s.w., in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 17–32, 31. 199 200 201

Ägypten und die Sphinx der Pest

aufstrebenden Ägypten, das von seinem ehrgeizigen Gouverneur Muhammad Ali militärisch und wirtschaftlich modernisiert wurde. 1835 arbeiteten in Ägypten 15.000 bis 20.000 Menschen in 30 Baumwollfabriken mit über 400.000 Spindeln. Damit war Ägypten eines der fünf wichtigsten baumwollproduzierenden Länder seiner Zeit.202 Krankheiten, die für die europäischen Ärzte als Pest galten, wurden zum Gegenstand des ärztlichen Blicks, doch die meisten teilten nicht Wolmars Ansicht, dass die Krankheit aus Konstantinopel eingeschleppt würde. Das Problem wurde für die europäische Handelspolitik aber drängender. 1828 war eine medizinische Kommission aus Frankreich in den Orient entsandt worden, um dort die Ursachen der Pest zu erforschen. Zwei Winter verbrachten die Ärzte in Ägypten, doch die Pest sah man nicht, sondern nur ein Fieber mit Bubonen, das von März bis Juni besonders bösartig im Delta wütete.203 Dennoch kam man zu dem Ergebnis, dass die Pest in Ägypten endemisch sei und das „Contagium oder Miasma sich daselbst regeneriere.“204 Ihren Berichten folgte man auch in Österreich genau.205 Der in Preußen tätige Arzt Carl Ignaz Lorinser (1796–1853)206, der zuvor im Auftrag der preußischen Regierung die Quarantäneeinrichtungen der Monarchie an der Grenze zum Osmanischen Reich inspiziert hatte, verfasste in den 1830er-Jahren eine umfassende Abhandlung über die „Pest des Orients“.207 Deutschland habe von dieser Seite noch immer einiges „zu besorgen“, da an der russisch-österreichischen Grenze die größten Gefahren sich auftäten.208 Lorinser war, dem Zeitgeist entsprechend, kein „reiner Contagonist“ mehr. Die Schriften der französischen Ärze Desgenettes, Larrey, Pugnet und auch das Buch Ludwig Franks wirkten auf Lorinsers Ägyptenbild.209 Noch

Beckert, King Cotton, 2015, 166. Angemerkt sei, dass schon Napoleon 1798 seinen Militärärzten untersagt hatte, von diesem Fieber als der Pest zu sprechen. Napoleon war überzeugt, dass die Furcht vor der Pest die Übertragung der Krankheit beschleunigen könnte – ebenfalls eine bis ins Mittelalter zurückverfolgbare Ansicht. Kohn, Encyclopedia of plague and pestilence, 1995, 214. 204 Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839, 15. 205 So zum Beispiel in der Gesundheits-Zeitung, Nr. 40, 18. Mai 1831, 158. Hier wird ein Beitrag aus den französischen „Annales d’Hygiéne publique et Medicine légale“ in deutscher Sprache gekürzt wiedergegeben. 206 Carl Ignaz Lorinser stammte aus Böhmen und war der Bruder des bekannten Wiener Arztes Friedrich Wilhelm Lorinser. Carl Ignaz Lorinser studierte zunächst in Prag und ging 1814 nach Berlin, wo er das medizinische Doktorat erwarb. 1829 bis 1830 besuchte Lorinser im Auftrag der preußischen Regierung die Quarantäneanstalten an der k. k. Militärgrenze, um ein Gutachten zu den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen in Preußen vorzulegen. Vgl. Wurzbach von Tannenberg, Biographisches Lexicon des Kaiserthums, 1856–1891, Bd. 16, 1867, 62. 207 Lorinser, Die Pest des Orients, 1837. Es ist augenfällig, dass der Orient hier bereits zum Attribut der Pest geworden ist. 208 Ebd., 316. 209 Lorinser zitiert generell wenige Werke, weist jedoch ausdrücklich auf die Genannten hin: die zweite Auflage von René-Nicolas Dufriche Desgenettes, Histoire médicale de l’armée d Órient, 2. éd, Paris 1830; Dominique J. Larrey, Relation historique et chirurgicale de l’expédition de l’armée d’orient, en Egypte et en Syrie, Paris 1803; Jean François Xavier Pugnet, Mémoires sur les fièvres de mauvais caractère du Levant [et] des Antilles, Lyon/Paris 12 [=1804]. Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 135. 202 203

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Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung

mehr beeinflussten Lorinser aber vielleicht seine eigenen Erfahrungen mit der Cholera. In einer viel beachteten und wild umstrittenen Rezension hatte Lorinser 1831 die Wirksamkeit der Quarantänen gegen die „orientalische Brechruhr“ infrage gestellt.210 Der Schluss, den Lorinser und mit ihm wohl viele Ärzte in Europa zogen, war klar. Wenn eine Seuche wie die Cholera die Quarantäne überspringen und bald an dem einen Ort und bald an dem anderen auftreten könne und man das Vorhandensein eines Ansteckungsstoffes zumindest nicht ganz verwerfen wollte, dann müsste es andere, die Wirkung des „Zunders“ befeuernde Einflüsse geben. Diese Einflüsse müssten dann folgerichtigerweise auch besonders dort zu finden sein, wo die Krankheit ursprünglich herkomme. „Die große Frage über den Ursprung und die Heimat der Pest“ habe keinen Sinn für diejenigen, die an das Dasein eines unveränderlich fortdauernden Pestgifts glauben würden. Reine Kontagonisten würden den Glauben an ein Mutterland einer Krankheit ablehnen. Weil das Kontagium ja ständig zirkuliere und permanent vorhanden sei, bräuchte es auch kein die Pest erzeugendes Mutterland. Für Lorinser war der Kontagonismus eine absolute Wahrheit, die keine Ursachen der Krankheitsentstehung kenne; es sei weder mit den Grundsätzen der Logik in Einklang zu bringen, dass die Umstände der ursprünglichen Bildung einer Krankheit außer Acht gelassen würden, noch sei es praktisch, denn das könne keine brauchbare Grundlage für die Hygiene abgeben. Die Frage nach der ursprünglichen Bildungsstätte einer Krankheit sei daher die allererste und wichtigste; denn um gründlich zu wissen, wo die Pest entspringt, müsse man auch erforschen, wie und wodurch sie entspringe.211 Für Lorinser war die Antwort klar: in Ägypten. Geradezu klassisch für seine Zeit leitete Lorinser, der selbst wohl nicht in Ägypten gewesen sein dürfte, sein Argument zunächst aus den historischen Quellen ab: So hätten Kircher, Kanold, der Brite Mead und Cartheuser, Montesquieu und Chicoyneau Ägypten als den Herd bezeichnet, auf welchem dieses „schreckliche Übel durch einheimische Ursachen“ hervorgerufen werde.212 Vor den Augen des Lesers entsteht über viele Seiten das Bild Ägyptens als einem untergegangenen, gleichsam märchenhaften Reich, das nun zur Gänze in die Fänge des Bösen geraten sei. „Dieses einst so blühende Reich, ein Hauptsitz menschlicher Wissenschaft und Kunst, und eine Kornkammer für drei Welttheile, gehorcht jetzt fremden Despoten, und ist ein Schauplatz der Barbarei, des Elends und der Pest geworden.“213 „Ägypten ist das fruchtbarste Land, im Guten wie im Schlimmen“, seine Fruchtbarkeit müsse notwendig auch viele Krankheiten erzeugen.214 Seit das Land die „Beute des Halbmondes“ geworden sei, seien andere Sitten und Gewohnheiten aufgekommen und die 210 Lorinser berichtet über den daraus entstehenden Disput, der ihn in Gegensatz zu dem preußischen Medicinal-Präsidenten Rust brachte, in seiner posthum veröffentlichten Autobiographie. Lorinser, Eine Selbstbiographie: Teil 2, 1864, 21. 211 Vgl. Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 130. 212 Ebd., 134. 213 Ebd., 116. 214 Ebd., 121.

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riesenhaften Werke der Wasserbaukunst in immer tieferen Verfall geraten. Vor allem die Leichen, die in alten Zeiten balsamiert und in den Höhlen außerhalb des Niltales bestattet worden waren, würden nun zu hunderttausenden im Schlamm versinken. Mangelernährung und schwere Arbeit, vor allem aber Fatalismus, Unwissenheit und die „Versunkenheit“ der aus Mamelucken, Türken und Arabern, Kopten und Fremden bestehenden Bevölkerung ergäben mit den besonderen klimatischen und naturgeographischen Verhältnissen die Grundlage für die vielen Krankheiten.215 Westeuropäische Besucher des Osmanischen Reiches hatten gelernt, ihren Blick auf unsaubere Verhältnisse zu lenken, und diese Verhältnisse in ihren Schriften, die Lorinser las, verdichtet: Tierkadaver in den Straßen, die Abfallhaufen und die oft übelriechenden Gänge der Basare wurden Gegenstand von Beschreibungen vieler Besucher, wie wir es schon weiter oben bei Helmut von Moltke gesehen haben.216 Diese Beobachtungen waren auch von der akademischen Medizin aktiv aufgenommen worden, wie bereits am Beispiel der Augenerkrankungen gezeigt wurde. Die als historische Grundlage des eigenen medizinischen Denkens immer noch vorhandenen Grundsätze eines Hippokrates und Galen fanden hier, just an jenem Ort, der als eine der Geburtsstätten der antiken Welt gelten konnte, ihre nachträgliche Bestätigung. Mit der Vorstellung, dass die Pest in Ägypten entstehe, ging auch die Vorstellung einher, dass sie sich jeweils aus Vorstufen heraus entwickle. Am Dasein solcher Entwicklungszustände sei nicht zu zweifeln, so Lorinser. Jede Seuche sei ein eigentümlicher Lebensprozess, in dessen Verlauf und Erscheinung das Werden, Blühen und Vergehen notwendige Maßnahmen seien. Vorstufen zur Pest seien das „Mal d’Aleppo“ und die in Ägypten häufigen Gall- und Faulfieber, allesamt Erkrankungen, die mit hohem Fieber und der Bildung von Schwellungen, die man als Bubonen bezeichnete, einhergingen.217 Dieser Gedanke war für viele Ärzte leitend in ihrer wissenschaftlichen Beurteilung der Ansteckungsfähigkeit der Pest und zentral für das politische Handeln, das in den folgenden Jahren daraus abgeleitet wurde. Das Nildelta erzeuge ungesunde Verhältnisse, die von der Ignoranz, dem „Fatalismus“ seiner Bewohner noch befördert würden. Die Reformen des Gouverneurs Muhammad Ali zeigten erste Ergebnisse und wurden in den europäischen Medien immer wieder berichtet. Solche Berichte gaben allen, die diesem Denkstil anhingen, Grund zur Hoffnung, dass diese Reformen auch die Kette der Entwicklung der Krankheit von den angenommenen Vorstufen zur dann doch „kontagiösen“ Pest durchbrechen könnten.218

Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 124–126. Z. B. Ami Boué, La Turquie d’Europe. Ou observations sur la géographie, la géologie, l’histoire naturelle, la statistique, les moeurs, les coutumes, l’archéologie, l’agriculture, l’industrie, le commerce, les gouvernements divers, le clergé, l’histoire et l’état politique de cet empire, 4 Bde., Paris 1840, hier: Bd. II, 175–177. 217 Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 140–144. 218 Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1989, 46. 215 216

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Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung

1844 veröffentlichte in Wien der Pestveteran Grohmann eine ausführliche Schrift zur Pest unter dem Titel „Das Pest-Contagium in Egypten und seine Quelle“219. Grohmann sympathisierte mit den wissenschaftlichen Ansichten Friedrich Alexander Simons (1793–1869); vielleicht im Wissen, dass diese Ansicht auch den staatlichen Vorstellungen Österreichs entsprach und er der Idee damit zusätzlichen Wert verleihen konnte, widmete Grohmann sein Buch dem österreichischen Staatskanzler Metternich. Schon in seiner Dedikation an Metternich forderte Grohmann, dass man „den Feind in engere und engere Grenzen“ einschließen solle, und ihn an sein eigenes Hauptlager, das Delta-Gebiet bannen sollte. Von Ägypten sei dagegen kein Widerstand zu erwarten; schließlich habe der Koran die Pest „emancipirt“, womit Grohmann auf die bereits erwähnten Diskussionen um die Einstellung von Muslimen zur Pest anspielte. Im Delta entwickle sich das „fixe“ Kontagium, das zu vernichten in der menschlichen Gewalt liege.220 Grohmann war der Ansicht, dass die „Pest als solche“ in Ägypten „gleich anfänglich als contagiöse [Krankheit]“ auftrete und „nicht auf direkte Weise aus dem Reservoir der allgemeinen Natur, mithin nicht aus epidemischen oder miasmatischen Einflüssen, sondern aus Lokalursachen, aus einem abgegrenzeten eigenthümlichen Complex von Ursachen, der in und an den Menschen in der Sphäre desselben liegt“, entstünde.221 Er wolle sich nicht damit aufhalten, die Frage der Kontagiosität in Europa zu beantworten, sondern wandte den Blick nach Süden: Sein Vorhaben ginge dahin, sich „auf das afrikanische Gebiet zu versetzen, und von diesem Boden aus unsere Kentniss über Pest-Angelegenheit ganz vorzüglich in einigen Hauptrichtungen zu bereichern“.222 Die Pest sei in Ägypten heimisch, das sei aufgrund der Schriften seit dem Altertum klar; so Belege für den Ausgang der Pest aus Ägypten fehlten, sei das kein Beweis, denn das sei überaus selten der Fall. Eine Krankheit wie die Pest, die in jeder Beziehung das „malum malorum und die Quintessenz aller Bösartigkeit genannt zu werden“223 verdiene, setze auch von ihrer Seite Anstalten voraus, aus denen sie hervorkommen könne. „Und welches andere Land könnte einen so grossartigen und so eigenthümlichen Sammelplatz schädlicher Potenzen abgeben, als eben Egypten?“224 Er könne zwar nicht ausschließen, dass die Pest auch an anderen Orten (wie Konstantinopel) ursprünglich entstehen habe können, doch er sei der Meinung, dass wenn tiefgreifende wissenschaftliche Untersuchungen in Bezug auf die primäre Herausbildung der Pest angestellt werden sollten, diese im Delta-Gebiet beginnen sollten. Grohmann forderte den Blick auf Ägypten nicht nur wegen der Pest, sondern wegen aller kontagiösen Fieber: Man könne allenfalls sagen: „Was geht uns Ägypten an!“, wenn man sich weniger um die Wissenschaft und die all-

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Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844. Ebd., o. P. Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844, XV. Ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 10.

Ägypten und die Sphinx der Pest

gemeinen Interessen der Menschheit kümmere. Allein: Die „Sache“ gewinne an Bedeutung, weil sie eben auf alle kontagiösen Fieber Bezug hätte.225 Grohmann war zum Zeitpunkt der Herausgabe seines Buches über das Pestkontagium in Ägypten bereits ein älterer Arzt; sein erstes Buch veröffentlichte er schon 30 Jahre zuvor über die Pest in Bukarest.226 In seiner Erklärung der Krankheitsentstehung versuchte Grohmann die Beobachtungen der Miasmatiker mit der Vorstellung vom Kontagium in Einklang zu bringen. Bei seinen Zeitgenossen konnte er damit – trotz des offensichtlichen Wohlwollens Metternichs, der die Widmung wohl genehmigt haben wird – nicht reüssieren. Grohmanns Buch wurde in einigen Fachzeitschriften verrissen; so in den „Jahresberichten der gesamten Medicin“ in Erlangen.227 In der Wiener Zeitschrift der Gesellschaft der Ärzte befasste sich der Protomedicus Georg Mathias Sporer kritisch mit Grohmanns Werk.228 Grohmann hatte vorausgeahnt, dass man ihn kritisieren werde, denn seine medizinisch-theorethischen Ansichten waren dem Zeitgeist doch zu widersprechend. Grohmann forderte, dem Kontagium als lebendem Organismus, der durch die Verfasstheit Ägyptens entstünde, die Aufmerksamkeit zuzuwenden, und verwendete dafür eine erstaunlich modern anmutende Begrifflichkeit: Wir sehen im Voraus, dass wir mit dieser unserer Ansicht keinen Eingang finden werden und wir verschlimmern wohl noch unsere Behauptung, wenn wir eingestehen, dass wir bei Behandlung der contagiösen Fieber nicht blos die atmosphärische und stationäre Constitution, so wie die des Individuums, sondern nicht minder, und zwar in einem höheren Grade, die Species des contagiösen Fiebers (z. B. ob es Scharlach oder Pocken oder Masern usw. sei) ins Auge zu fassen suchen, weil wir den Contagien keine untergeordnete, sondern eine bestimmende Rolle während ihres Lebens-Prozesses in dem Organismus beilegen zu müssen glauben. Ja, wir halten es sogar für Pflicht, dahin zu streben, Specifica oder besser Antibiotica229 zu finden, wodurch man den im Organismus operierenden Contagien zu begegnen vermag – versteht sich Antibiotica, die den Organismus nicht beeinträchtigen.230

Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844, 13. Grohmann, Beobachtungen über die im Jahr 1813 herrschende Pest zu Bucharest, 1816. Wallach, Bericht über die Leistungen im Gebiete der acuten Krankheiten, 1845, 190. Georg Matthias Sporer, Beiträge zur kritischen Beleuchtung des gegenwärtigen Standes der Loimologie, in: Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte zu Wien Bd. 1/4, 1844, 262–294. Sporer war Kreisarzt in Klagenfurt und zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages Leiter der medicinisch-chirurgischen Akademie in Laibach. 229 Der Begriff „Antibiotica“ ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht üblich. Einschlägige Wörterbücher kennen den Begriff noch nicht, vgl. z. B. Dornblüth, Wörterbuch der Klinischen Kunstausdrücke, 1893 (unveränderter Nachdruck 1999). Allgemein wird die Prägung des Begriffes erst Louis Pasteur am Ende des 19. Jahrhunderts zugeschrieben. Vgl. dazu Gerabek/Haage/Keil/Wegner, Enzyklopädie Medizingeschichte, 2007, 68. 230 Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844, 32f. 225 226 227 228

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Mit dem Postulat eines lebendigen Kontagiums, wie es der deutsche Arzt Jacob Henle schon 1840 aufgestellt hatte231, konnte Grohmann jedoch nicht durchdringen. Die in ihren Konsequenzen hellsichtige Erkenntnis Grohmanns konnte sich nicht mehr in den Duktus einer sich ändernden wissenschaftlichen Sprache einfügen. Mit spitzer Feder rezensierte der in Laibach tätige Arzt Sporer, der sich auf die Erforschung der epidemischen Fieber konzentriert hatte, im jungen Journal der k. k. Gesellschaft der Ärzte232 die Ansichten des alten Grohmann. Es fehle an Belegen für seine Behauptungen, denn die genaueren Daten würden das Feld bilden, „wo die verschiedenartigsten Parteigänger Raum zur Fehde gewinnen, und mit abwechselndem Glücke sich nach eigenen Anschauungsarten zeitweise siegend oder besiegt herumtummeln.“ Diese Daten als unwiderlegbar hinzunehmen, sei nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens nicht möglich: „Die Überzeugung fordert praktische, möglichst individuell und ziffernmässig vorgeführte Nachweisungen“.233 In den wesentlichen Erkenntnissen schloss sich Sporer Grohmann allerdings an: Die Pest sei in Ägypten heimisch und wohl auch kontagiös; „doch ungeachtet aller meiner Nachweisungen, welche ich bisher geliefert, bin ich weit entfernt zu glauben, dass hieraus eine allgemeine Ueberzeugung hervorgehen dürfte, da eine solche nur durch mehrfache Untersuchungen und wiederholte, stets gleiche Belege, fest begründet werden kann.“234 Einig waren sich beide darin, in Ägypten die Verhältnisse zu erkennen, die die Entstehung der Pest auf einmalige Weise begünstigen würden. Sporer vertrat dabei eine Ansicht, die sich vom „reinen Contagonismus“ als zu altmodisch, zu monodimensional verabschiedet hatte. „Es hat wohl schwerlich jemand in Europa erst vor wenigen Decennien an der Contagion der orientalischen Pest gezweifelt“, schrieb Sporer; in der Zwischenzeit habe man die Pest in Ägypten als ihrem Mutterlande von so vielen Seiten beobachtet, dass es je „nach Anschauung und Zeit und Localverhältnissen“ zur Entwicklung ganz unterschiedlicher Ansichten gekommen sei.235 Unter dem Brennglas der verdichteten Beobachtung in Ägypten hatten sich die Theorien zur Krankheitsentstehung stark diversifiziert. Die heute oft als sozialreformerisch gewerteten neuen Zugänge der Ära nach den ersten Choleraepidemien, die weniger auf Absperrung als auf Verbesserung der sozialen Situation der Menschen abzielten, waren auf Erkenntnissen gegründet, die man im Orient gewonnen hatte. Die meisten europäischen Ärzte im Orient hatten die kontagonistischen Ansichten verworfen: Weder das Kontagium noch die Übertragbarkeit der Pest durch Impfung oder „fomes“ wäre bewiesen, meinten die französischen Ärzte in einem Kommissionsbericht in den 1840er-Jahren; das Henle, Von den Miasmen und Kontagien, 1840. Die „Gesellschaft der Ärzte in Wien“ wurde 1837 (noch vor der Akademie der Wissenschaften) gegründet. Erna Lesky bezeichnet sie für eine etwas spätere Periode als „das sanitäre Gewissen der Stadt“. Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 281. 233 Sporer, Beiträge zur kritischen Beleuchtung des gegenwärtigen Standes der Loimologie, 1844, 267. 234 Ebd., 269. 235 Ebd., 263. 231 232

„Orient“, Geschichte und Geographie der Medizin

Krankheitsmiasma werde durch die Luft und nicht durch die Patienten verbreitet und Schiffe wären nur dort gefährlich, wo eine entsprechende epidemische Konstitution herrsche. Das einzige Mittel gegen die Pest sei daher der Fortschritt der Zivilisation.236 Das gemeinsame Verständnis von Begriffen und Zusammenhängen war verloren gegangen. Fast händeringend hielt Sporer fest, dass „in diesem großen Felde der Forschungen […] noch nie einverständlich vorgegangen worden“ sei, und er forderte eine einheitliche Nomenklatur. „Die Verwirrung in den Begriffsbestimmungen der Krankheitsverbreitungsarten muss vor allem behoben werden, wenn man sich gegenseitig deutlich verstehen will, und das ist doch wohl die erste dringende Bedingung, die gestellt werden muss.“237 Die Pest blieb ihrem Charakter nach auch für die sich allen Arten lokaler, nicht akademischer Traditionen überlegen wähnenden europäischen Ärzte eine Sphinx. Doch anstatt der Wissenschaft nahm nun die Politik in der „Sanitätsfrage“ das Ruder in die Hand. 5.7

„Orient“, Geschichte und Geographie der Medizin

Die Begegnung mit dem „Orient“ hatte nicht nur die Lehre von der Ansteckung der Krankheiten betroffen, im Sinne Sporers verwirrt und letztlich befruchtet. Auch die Zusammenhänge zwischen Geographie, Geschichte und Medizin traten für die Zeitgenossen mit eminenter Bedeutung in den Vordergrund. Um den Orient fassen zu können, bediente sich die Medizin der Geschichte und der Geographie. Das war keineswegs neu. „Medizinische Geographien“ und „Medizinische Topographien“ bevölkerten im 19. Jahrhundert den medizinischen Buchmarkt. Wissenschaftlich waren diese Werke der Versuch, die jeweiligen geographischen, lokalen und sozialen Verhältnisse einer Region mit dem Auftreten bestimmter Krankheiten in Einklang zu bringen. Diese Idee ist so alt wie die humoralpathologischen Konzepte der Antike: Die „Salubrität des Ortes“ war ein festgefügtes Konzept der antiken Medizin. Die medizinischen Topographien des 18. und 19. Jahrhunderts knüpften an diese Tradition an.238 1768 hatte der Brite James Lind als erster über die Krankheiten der warmen Zonen der Erde publiziert; 1779 forderte Johann Peter Frank in seinem „System einer vollständigen medicinischen Policey“ als erster im deutschen Sprachraum die Abfassung einer umfassenden medizinischen Geographie.239 Einer der Pioniere im deutschen Sprachraum Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, 1948, 585. Sporer, Beiträge zur kritischen Beleuchtung des gegenwärtigen Standes der Loimologie, 1844, 278. Gerabek/Haage/Keil/Wegner, Enzyklopädie Medizingeschichte, 2007, 476. Das Genre der „medizinischen Geographie“ oder „Topographie“ ist im deutschen Sprachraum m. E. unterforscht. Zwar wurden zahlreiche lokale „medizinische Geographien“ zu wichtigen Quellenwerken der Heimat- und Regionalforschung (vgl. als Beispiel das Werk von Franz Strohmayr, Versuch einer physischmedicinischen Topographie der Kreisstadt St. Pölten in Niederösterreich, Wien und St. Pölten 1813 für die Stadt St. Pölten) verfasst, eine zusammenfassende Darstellung ihrer Konzeption und Entwicklung war für 236 237 238 239

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Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung

war der Arzt Friedrich Schnurrer. Als Sohn des Theologen und Orientalisten Christian Friedrich Schnurrer war er mit den orientalischen Sprachen vertraut. 1810 verfasste er seinen ersten Versuch einer Auseinandersetzung mit dem geographischen Auftreten von Krankheiten, das von den Themen der Ansteckungslehre geprägt war,240 ein Jahr später folgte seine „Geographische Nosologie oder die Lehre von den Veränderungen der Krankheiten nach den verschiedenen Gegenden der Erde“ und das in den 1820er-Jahren sehr weit rezipierte Werk „Chronik der Seuchen in Verbindung mit den gleichzeitigen Vorgängen in der physischen Welt und in der Geschichte des Menschen“.241 1830 hatte er in der populären Zeitschrift „Das Ausland“ darüber nachgedacht, die Pest durch die Einführung einer medizinischen Polizei im Orient auszurotten. Er traf damit einen Nerv der Zeit: Nicht nur mit der Forderung nach „medicinischer Polizey“, sondern auch durch seine Beschäftigung mit der Geographie. In den 1830er- und 1840er-Jahren wurde über die Frage, wie denn nun die Krankheiten mit den geographischen Bedingungen zusammenhingen, ausführlich diskutiert.242 Das geschah in diesen Jahren auch in Wien bei der eben gegründeten Gesellschaft der Ärzte. Im Mai 1838 trug der Wiener Bezirksarzt Hermann Hieronymus Beer (1798– 1873) in der erst dritten Sitzung der Gesellschaft der Ärzte seine Ansichten über die Verbreitung der Krankheiten vor.243 Es sei wesentlich, dass zur vollständigen Kenntnis epidemischer Krankheiten auch die Kenntnis der gleichzeitigen Erkrankungen der Tiere und der Pflanzen gehöre. Auch die Geisteskrankheiten seien zu beachten und besonders die Geschichte der Epidemien aus den entfernten Gegenden müsse zusammengestellt und unter sich verglichen werden.244 Beer gehörte zu jenen, die die Verwirrung bedauerten, die sich durch die Diskussionen um Kontagiosität oder Nicht-Kontagiosität ergeben hatten. Sein Vortrag ist im Archiv der Gesellschaft der Ärzte in Wien als Manuskript erhalten. Der Ausgangs-

mich aber nicht aufzufinden. Die zahlreiche Literatur zur meist kollektiv als „Tropenmedizin“ bezeichneten Begegnung zwischen der europäischen Medizin mit außereuropäischen medizinischen Systemen im Kontext des europäischen Imperialismus kann den hier betrachteten Zeitraum nur zu einem geringen Teil abdecken. 240 „Materialien zu einer Naturlehre der Epidemien und Contagien“, Tübingen. 241 2 Bde., Tübingen 1823–24; Schnurrer wurde lange die erste Landkarte zur Dokumentation der Verteilung bestimmter Krankheiten zugeschrieben. Vgl. dazu und zur Geschichte der wahrscheinlich wirklich ersten Karte zu diesem Thema von Leonhard Ludwig Finke: Barrett, Finke’s 1792 map, 2000. 242 In den 1850er-Jahren entstanden die Werke: Caspar Friedrich Fuchs, Medizinische Geographie. Berlin 1853; sowie Adolf Mühry, Die Geographischen Verhältnisse der Krankheiten. Leipzig 1856. 243 Beer war der Bezirksarzt der Rossau und war zu diesem Zeitpunkt der Bibliothekar der Gesellschaf; vgl. Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien, 1938, 23. Beer widmete sich in der Folge unter anderem der Publikation der Übersichten der Witterungs- und Krankheitskonstitutionen der Stadt Wien. Das Protokoll ist im Archiv der Gesellschaft der Ärzte in Wien erhalten. Archiv der k. k. Gesellschaft der Ärzte, Protokoll der Sitzung vom 13. Mai 1838, Referent Gesellschafts-Sekretär Dr. Knolz, Faszikel 1 (1837–1839), Prot. Nr. 21. 244 Vgl. ebd., Protokoll, fol 3.

„Orient“, Geschichte und Geographie der Medizin

punkt seiner Überlegungen ist der Zustand der Medizin in Zeiten der Krise, gerade die Seuchen seien es, die das Vertrauen in die Ärzteschaft untergraben würden: Zur Charakteristik unseres Zeitalters gehört leider auch das Zudrängen unberufener Layen zum Altar ärztlicher Kunst. Parallel dazu geht ein Abnehmen des Vertrauens zu den Aussprüchen rationeller Heilkunde. Denkt man ernstlich über die Ursache dieser Erscheinung nach, so findet man, dass einige große Epidemien des 19. Jahrhunderts nicht wenig dazu beigetragen. Denn während einerseits eine Fluth von Volksschriften – die gewöhnliche Ausgeburt drängenster Momente bei großen Seuchen – ein afterärztliches Halbwissen verbreiteten, mußten andererseits die Streitigkeiten der Ärzte über Contagiosität und Nichtcontagiosität die Würde unseres Wissens in den Augen des Publikums herabsetzen und den Samen des Mißtrauens überallhin verteilen. Studiert man ferner die Geschichte dieser Kämpfe, und sieht man, welchen praktischen Einfluß jedesmal das Überwiegen der einen oder anderen Parthei auf die Maßregeln der politischen Gesetzgebung ausübte, so bemerkt man mit Recht, daß jene Streitigkeiten der Ärzte die Regierungen zu den kostspieligsten Experimenten mit Inconsequenzen verleiteten.245

Beer brachte bei der Gesellschaft die besondere Bedachtnahme auf Geschichte und Geographie in Vorschlag. Er erlaube sich einige Ideen über zwei Mittel vorzulegen, welche mir vorzüglich zur Förderung des Studiums der epidemischen Krankheiten geeignet scheinen – Ideen, die ihre Entstehung zunächst den lehrreichen Vorträgen zu verdanken haben, welche unsere früheren Versammlungen über Gegenstände der Epidemologie und Medizinalgesetzgebung stattgefunden haben. Diese zwei Mittel sind: Vereinigung der Ärzte und Naturforscher a) zur Abfassung einer vergleichenden Geschichte der Epidemien b) zur Abfassung guter Medizinischer Topographien.246

Gerade die medizinischen Topographien würden auf die Vervollkommnung der Epidemologie großen Einfluss haben, wenn sie in regelmäßigen Zeiträumen immer neu bearbeitet würden. Diejenigen Seuchen, die in der letzten Zeit Gegenstand des Streites zwischen Kontagonisten und Nicht-Kontagonisten gewesen seien, seien vor ihrer Verpflanzung nach Europa in anderen Weltteilen endemisch gewesen. Für das gelbe Fieber seien die Seeküsten und die Ufer der schiffbaren Ströme und die Kolonien der Tropenländer als Heimat erwiesen, für die Cholera Ostindien und für die orientalische Pest Ägypten. Für Beer schloss sich daran eine entscheidende Frage an: Sei letztlich nicht jede Epidemie aus einer Endemie hervorgegangen? Daher sei man darauf verfallen, die tieferen Studien der lokalen, klimatischen und politischen Verhältnisse zu unternehmen, hieß es in dem Manuskript zur Rede.

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Protokoll, fol 3. Ebd., fol 1.

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Die Geschichte aller außereuropäischen Kolonien und in neuester Zeit Algiers hat bewiesen, wie teuer das Mutterland das vernachlässigte Studium der Endemien bezahlen mußte, und wie sehr es darauf ankömmt, den Focus einer Seuche auszumitteln. […] Nur so lange sie sich noch in bestimmten wärmlichen Verhältnissen bewegt – so lange sie noch endemisch ist  – kann sie in ihrer Quelle erkannt, in ihren Grenzen übersehen und zur gänzlichen Tilgung disponirt werden. Nur in einer klaren Einsicht in die Konstitution der Länder – und diese bildet den eigentlichen Gegenstand der medizinischen Topographie – ist die mögliche Erforschung dessen begründet.247

Die Hindernisse auf dem Weg zu einer echten medizinischen Geographie erschienen Beer fast unüberwindbar. Geologen, Chemiker, Physiker, Botaniker, Zoologen, Metereologen und Zoobotaniker hätten zur medizinischen Geographie zu forschen und ihre Ergebnisse dem medizinischen Geographen zur Verfügung zu stellen, wenn dieser nur eine einigermaßen befriedigende Arbeit leisten wolle. Dennoch sei der Weg unvermeidlich; nur die medizinische Geographie könne den Behörden die notwendigen Grundlagen für die gesetzgeberischen Maßnahmen liefern. Sein Aufruf war Programm: „Diese praktische Aetiologie wird den gesetzgebenden Behörden und dem praktischen Arzte klare und eindringlicher als jede Theorie die Bedürfnisse der Zeit darstellen.“248 Es handle sich dabei nicht um die bloße Befriedigung von Neugier; vielmehr gehe es darum, einen „genetischen“ Zusammenhang der Krankheiten zu finden. Die Geschichte könne auch dem Arzt der Gegenwart belehrende Analogien für die Diagnostik bieten.249 Man könne letztlich nur durch vergleichende Betrachtung der Erscheinungen der Epidemien über Jahrhunderte ihre Gesetzmäßigkeit erkennen. In der Gesellschaft und ihren Organen war diese Forderung Programm: In der Zeitschrift der Gesellschaft der Ärzte publizierte man – neben den regelmäßigen, von Beer mitbetreuten Statistiken über die öffentliche Gesundheit Wiens auch eine Serie von „Bemerkungen über den Gesundheitszustand Konstantinopels“, die der junge Militärarzt Lorenz Rigler, der dort im Auftrag der k. k. Regierung tätig war, nach Wien sandte.250 Beers Aufruf verhallte nicht ungehört. Die Medizinischen Studien erfuhren parallel zur Herausbildung des Arztberufes eine Veränderung, wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen wurde die Geschichte der Medizin zum integralen Bestandteil der neu entstehenden Berufsbilder. Wien wurde in den 1840er-Jahren zu einem Zentrum der medizinhistorischen Forschung im deutschsprachigen Raum; die erste Lehrkanzel für Geschichte der Medizin und Epidemiologie wurde 1850 in Wien eingerichtet. Ausgegangen war die Medizingeschichte freilich nicht von hier. Der Hallenser Botaniker

Protokoll, fol 3. Ebd., fol 5. Ebd., Manuskript der Rede Beers im Akt. Vgl. Manfred Skopec, Die Berichte über türkische Spitäler und Medizin im Spiegel der „Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte zu Wien“, in: 125–133, hier: 130. 247 248 249 250

„Orient“, Geschichte und Geographie der Medizin

und Medizinhistoriker Kurt Sprengel (1766–1833) hatte Ende des 18. Jahrhunderts begonnen, eine mehrbändige Geschichte der Medizin herauszugeben. Das Werk gestaltete sich so umfangreich, dass Johann Peter Frank meinte, es sei nicht notwendig, eigene Vorlesungen dazu abzuhalten, da man ohnehin alles Wissenswerte aus diesem Werk entnehmen könne. Die erste Vorlesung zur Geschichte der Medizin hatte es dennoch schon bald in den Jahren nach 1800 gegeben; Erna Lesky meinte in ihrer Würdigung der Entstehung der Geschichte der Medizin als Lehrfach in Wien, dies sei der konservativen Haltung des damaligen Protomedicus Stifft zuzuschreiben, der damit die Ideen des Brownianismus hintanhalten wollte.251 Viele Professoren dieser Jahrzehnte integrierten weitläufige Erörterungen der Geschichte der Medizin in ihre Vorlesungen; so der Professor der allgemeinen Pathologie, Philipp Carl Hartmann, der von der Naturphilosophie beeinflusst war. Die historische Pathologie gewann zunehmend an Bedeutung: 1829 und 1839 veröffentlichte Justus Friedrich Karl Hecker (1795–1850) umfassende Werke mit starkem pathologischen Schwerpunkt.252 Im Versuch, die Krankheiten in der historischen Pathologie zu fassen, spiegelte sich die ganze Problematik der Systematisierung wider, mit der sich die um Klarheit ringende Medizin konfrontiert sah. Die Aufgabe der historischen Pathologie sei es, nachzuweisen, dass der Natur die „kleinlichen Zuweisungen“ in Systematiken in Wahrheit fremd seien, schrieb sein Kollege, der Jenaer Medizinhistoriker und Arzt Heinrich Haeser (1811–1885) im Jahr 1839, vielmehr sei zu zeigen, dass sie „aus einem gemeinsamen Krankheitskeime hervor gleichzeitig eine grosse Anzahl einzelner Formen sich entwickeln lässt, denen allein ein und dasselbe gemeinsame Wesen, ein allgemeiner Grundcharakter zukommt.“253 In der Debatte der Zeit hatte sich die Physiologie als Gegenkonzept zur statischen „Nosologie“ konservativer medizinischer Kreise herausgebildet. Die traditionelle Nosologie hatte die Krankheiten nach ihren Erscheinungen gegliedert und durch Ähnlichkeiten daraus unmittelbar die passende Therapie abgeleitet. Die Erfolge Browns hatten gezeigt, dass die Therapie und die ihr zugrunde liegende Nosologie nicht mehr den neueren wissenschaftlichen Ansprüchen genügen konnte. Eine neue, praktische Medizin sollte die Wissenschaftlichkeit ihrer therapeutischen Prinzipien sichern. Damit schwenkte der systematische Grundsatz der Nosologie auf die Klassifikation von Krankheitsprozessen.254 Die Geschichte hatte hier eine wichtige Rolle einzunehmen – Theoretiker wie Haeser forderten, dass die Grundideen eines medizinischen Systems mit den Lehren der historischen Pathologie zu beweisen seien.255

Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 619. Justus F. C. Hecker, Geschichte der Heilkunde. Nach den Quellen bearbeitet; mit einer chronologischen Übersicht, Berlin 1829. 253 Heinrich Haeser, Historisch-pathologische Untersuchungen. Als Beiträge zur Geschichte der Volkskrankheiten, Dresden 1839, X. 254 Tsouyopoulos/Wiesemann, Asklepios und die Philosophen, 2008, 170. 255 Haeser, Historisch-pathologische Untersuchungen, 1839, XI. 251 252

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Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung

Das erste Werk, das in Wien zur Geschichte der Medizin erschien, stammte von Burkhart Eble, der sich so intensiv mit der Ägyptischen Augenentzündung beschäftigt hatte. Es war eine Fortsetzung der Arbeit Sprengels, die aufgrund Ebles frühen Todes postum erschien.256 Neben Eble befasste sich noch ein weiterer junger Arzt im Wien der 1830er-Jahre mit der Geschichte der Medizin. Auch er hatte eine ausgesprochen starke Beziehung zum Orient: Der Nikolsburger Arztsohn Franz Romeo Seligmann (1808–1892) verfasste 1830 seine Dissertation über drei alt-persische Handschriften aus der Hofbibliothek. Der Student Seligmann war durch die Werke Joseph von Hammer-Purgstalls für Persien begeistert worden und hatte angeblich schon als Gymnasiast davon geträumt, Persisch zu lernen.257 1833 suchte Seligmann um Genehmigung an, Vorlesungen aus Geschichte der Medizin zu halten und wurde zum Gründervater der Wiener Medizingeschichte. 1849 reichte er ein Gesuch um Errichtung einer ordentlichen Lehrkanzel für Geschichte der Medizin und Epidemiologie ein. Just zu einer Zeit, als gerade eine neue, besonders naturwissenschaftliche, eine besonders nutzenorientierte Medizin in Wien zum Durchbruch kam. Die Wiener Medizinhistorikerin Erna Lesky zieht den Schluss: „Kein Zweifel: Mit dieser epidemiologischen Ausrichtung hatte die Medizingeschichte in dem Zeitpunkt äußerster Gefährdung, in dem der neu heraufgekommene naturwissenschaftliche Realismus endgültig den Bruch mit der Vergangenheit vollzog, eine auch im positivistischen Sinne immerhin als nützlich erscheinende Daseinsberechtigung aufzuweisen.“258 Angesichts der oben von Beer ausgeführten Gedanken erscheint das Bild komplexer: Die Epidemiologie war nicht bloß ein Feigenblatt. Die historische Forschung war für jene, die sich mit den Epidemien, ihren Konstitutionen und ihren Ursprungsorten auseinandersetzen wollten und noch einen Rest des umfassenden, humoralpathologischen Denkens in sich trugen, unersetzlich. Die Beschäftigung mit historischen Konzepten von Krankheitsentstehung und -übertragung war für Seligmanns Zeitgenossen von großer Bedeutung. Historische Argumente wurden gebraucht, um beispielsweise die Form der Übertragung der Pocken durch ein „Contagium“ zu argumentieren. Dies war im vor-bakteriologischen Zeitalter eine sinnvolle Möglichkeit, um Argumentationsketten für eine Ansteckungslehre zu erhalten. Der Wiener Impf-Arzt Carl Friedinger tat das 1857 in einer Schrift über die Kuhpockenimpfung, indem er seine Argumentation für das Bestehen eines „Ur-Contagiums“ auf der Erfahrung der spanischen Eroberer Amerikas und den schrecklichen Epidemien unter den Ureinwohnern aufbaute.259

256 Burkard Eble, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, Kurt Polykarp Joachim Sprengel, Wien 1840. 257 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 622. Sie geht auch etwas auf das Umfeld Seligmanns ein, zu dem auch Ernst von Feuchtersleben gehörte, der ihn in Wiens künstlerische Kreise einführte. 258 Ebd., 624. 259 Friedinger, Die Kuhpocken-Impfung, 1857, 11–16.

„Orient“, Geschichte und Geographie der Medizin

Der angehende Medizinhistoriker Seligmann musste zu dieser Zeit allerdings gegen den von Lesky angedeuteten Widerstand ankämpfen; nur manche sahen in der Medizingeschichte eine Notwendigkeit. Der Internist Joseph Skoda (1805–1881) und der Chirurg Johann von Dumreicher (1815–1880), beide „aufgehende Sterne“ einer neuen Medizinergeneration, lehnten die Medizingeschichte als Lehrstuhl ab. Bezeichnend ist, dass sie in der Medizingeschichte auch im Hinblick auf die Seuchen ausdrücklich „kein Bedürfnis“ mehr sahen.260 In Wien herrschte mit der neuen Generation von Medizinern ein Geist des „Utilitarismus“, der die Geschichte der Irrtümer hinter sich lassen wollte. Nicht alle sahen das freilich gleich. Der eben aus Berlin nach Wien gekommene Ernst Brücke sprang 1849 für die Medizingeschichte in die Bresche. Er gründete seine Unterstützung auf zwei Argumente: Zum einen sei die Geschichte der Medizin dem Naturwissenschaftler ein Talisman, der den Arzt „vor dem beirrenden Einflusse modischer Systeme“ schütze, die Irrtümer „seiner Väter ihm ein stets warnendes memento“. Zum anderen böte das Fach dem jungen Arzt aber auch die Chance, seinen Gesichtskreis über diejenigen Krankheitsfälle zu erweitern, „welche die Bevölkerung anderer Länder verwüsten oder welche eine Geißel längst vergangener Zeiten waren.“261 Das erste Ansuchen Seligmanns wurde abgelehnt. Erst 1850 rang man sich zur Einrichtung einer Lehrkanzel durch, nachdem in Berlin Hecker verstorben war und man angeblich im Begriff war, Seligmann nach Berlin zu berufen. Dort mochte man auf einen wie ihn tatsächlich gewartet haben. Ostentativ forderte der bayrische Arzt und Historiker Ernst Anton Quitzman (1809–1879) im Jahr 1843 in einer Darstellung der „Geschichte der Medizin in ihrem gegenwärtigen Zustande“: Der medizinische Geschichtsforscher aber darf sich nicht bloß mit einem Volke beschäftigen, ihm müssen die Schätze orientalischer Weisheit so zugänglich seyn, wie die der abendländischen. Und wenn man auch erwarten darf, daß die Mehrzahl gebildeter Ärzte mit den neuern Sprachen die nöthige Bekanntschaft habe, wenn man selbst zugibt, daß viele Professoren in der Literatur der Griechen und Römer nicht unbewandert sind, so läßt dies noch keine Fertigkeit zu, dieselben auch kritisch zu prüfen, und erlaubt noch viel weniger einen Schluß auf das Vermögen, die Schriften morgenländischer Autoren mit derselben Entschlossenheit beurtheilen zu können, welche doch – wir wollen nur die Arabisten anführen – einer kritischen Beachtung und Sichtung um so mehr benöthigt sind, je näher der Orient mit seiner Gegenwart und Vergangenheit, mit seinem Leben und streben gerade an unsere Zeit wieder herantritt.262

Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 626. Zitate aus dem Gutachten Brückes für die Einrichtung des Lehrstuhles. Archiv der Universität Wien, AFM, Beilage zu 43/1849/50. Zitiert nach ebd., 625. 262 Ernst Anton Quitzmann, Vorstudien zu einer philosophischen Geschichte der Medizin, als der sichersten Grundlage für die gegenwärtige Reform dieser Wissenschaft, Karlsruhe 1843, 10. Quitzmann war später selbst im Osmanischen Reich und veröffentlichte von dort seine „Deutschen Briefe aus dem Orient“ (Ernst Anton Quitzmann, Deutsche Briefe über den Orient, Stuttgart 1848), die Rigler als enttäuschend be260 261

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Die Angst vor der Pest und der „Orient“ als Bedrohung

Das Interesse für den nun als medizinischen Erfahrungsraum umrissenen Orient war in Wien zur Mitte des 19. Jahrhunderts konkret greifbar: „Jede Kunde aus dem Osten kommt uns erwünscht wie aus der Heimath, wir fühlen uns noch immer mächtig gegen die Wiege des Menschengeschlechts hingezogen“263, hieß es 1851 in der viel gelesenen, eben (neu-)gegründeten Wiener Medizinischen Wochenschrift. Es ist kein Zufall, dass in Wien mit Franz Romeo Seligmann ein ausgesprochener Orientalist den ersten Lehrstuhl dieses Faches zugesprochen erhielt. Der Orient als Beobachtungsraum der Krankheit war umrissen – in Geschichte und Gegenwart war er zu erfassen.

zeichnet. „Wir erwarteten von dem reich begabten Verfasser etwas besseres“, schrieb er: Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 577. 263 Früchte aus dem Morgenlande von Joh. Martin Honigberger. Kritik, in: Wiener Medizinische Wochenschrift, 1851, 169.

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Im Kampf gegen Pest und Cholera Wie der „Orient“ zum Aktionsfeld für Medizin und Politik wurde

Pest und Cholera sind im deutschen Sprachgebrauch eng aneinandergebunden. Wer von „Pest oder Cholera“ spricht, meint oft die Auswahl zwischen zwei gleich schlimmen Übeln. Diese sprachliche Wendung entspricht dem Empfinden des 19. Jahrhunderts. Die historische Wirkmächtigkeit der Bedrohung durch die Pest schlägt hier durch. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Pest für Europa bei Weitem nicht mehr so bedrohlich wie im Mittelalter. Als kollektive Erinnerung blieb sie aber erhalten. Das Auftreten der Cholera sollte ab den 1830er-Jahren das Konzept der Abhaltung epidemischer Krankheiten durch Quarantänen nachhaltig erschüttern. Gerade unter den im Orient tätigen Ärzten setzte eine heftige Diskussion darüber ein, welche Ursachen zur Entstehung verschiedener Krankheiten wie der oft als „orientalische Brechruhr“ bezeichneten Cholera oder den „Wechselfiebern“1 beitrügen. Die Cholera wurde zum bestimmenden epidemischen Krankheitsphänomen des 19. Jahrhunderts und beeinflusste mit ihren vier pandemischen Zügen im 19. Jahrhundert die Entwicklung der Anschauungen zu Krankheitsentstehung und Krankheitsverbreitung in der europäischen akademischen Medizin.2 Die Cholera wurde im Zeitalter der Industrialisierung auch zu einem besonders politischen Phänomen. Ihre Wirkung auf die Gesellschaft überstieg das Maß ihrer tatsächlichen Gefahr: Der Medizinhistoriker Alfons Labisch bezeichnete sie als „skandalisiernde Krankheit“, weil sie weit über ihre statistisch zu

Als Wechselfieber werden in der historischen Literatur mit Fieberschüben verbundene Krankheitsbilder bezeichnet. Insbesondere die Malaria fällt in diese Kategorie. Malaria ist eine von Protozoen verursachte Infektionskrankheit, die vor allem im heißen Klima verbreitet ist. Fälle von Wechselfiebern werden auch für Mitteleuropa berichtet. Vgl. dazu: Gerabek/Haage/Keil/Wegner, Enzyklopädie Medizingeschichte, 2007, 1468. 2 Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 92. 1

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Im Kampf gegen Pest und Cholera

erfassende Morbidität und Mortalität hinaus in Politik und Gesellschaft wirksam werden konnte.3 Im November 1830 kam es in Polen zum Aufstand gegen die russische Besatzung, auch in Frankreich und Norditalien führte der politische Widerstand gegen die Regime 1830 und 1831 zur Revolution. Militärische Maßnahmen gegen die sich erhebende Bevölkerung und gegen die sich ausbreitende Krankheit gingen Hand in Hand. Während die Monarchie 1831 versuchte, die in Parma losgebrochenen Unruhen niederzuschlagen, wurde im Norden ein engmaschiger Sanitätskordon gegen Polen hin aufgezogen, der das Vordringen der Cholera von Warschau her verhindern sollte, wohin die Krankheit im Zuge des polnischen Aufstandes (vielleicht mit der russischen Armee) gekommen war. Als „Kriegspest“ bezeichnete sie die Bevölkerung deshalb in Wien, als „catharrhalisches, bald fieberloses, bald fieberhaftes Leiden“ beschrieb der Wiener Arzt Joseph Johann Knolz die Krankheit 18344. Gegen Ende des Frühjahrs 1831 war die Krankheit in Wien erstmals aufgetreten, vorangegangen war dem Auftreten ein spektakuläres Nordlicht im Winter, das die Wiener als Zeichen drohenden Unheils ansahen.5 Es war keineswegs so, dass man die Krankheit nicht kommen gesehen hatte: Englische Ärzte hatten bereits in den 1810er-Jahren aus Indien über das Auftreten der Krankheit berichtet.6 Als die Krankheit Europa erreichte, reagierte man mit gewohnten Mustern: Das Mittel der Wahl zur Abwehr der Seuche erschien zunächst tatsächlich fast allen Ärzten, oder doch zumindest jenen, die Einfluss auf die staatliche Sanitätsverwaltung zu nehmen imstande waren, der Einsatz von Quarantänen und Kordons, mit denen der Verkehr unterbunden werden sollte, wie man es von der Pest kannte. Grenzen und Städte wurden mit Kordons geschützt, von denen der deutsche Hygieniker Friedrich Oesterlen (1812–1877) sagte, sie hätten durch ihren „tumultarischen und brutalen und oftmals ziemlich nutzlosen Apparat von Maßregeln und Publikationen“ die Ansteckungsgefahr wohl noch verzögert und schon mancher aufgeklärte Menschenfreund hätte deshalb Ärzte wie Behörden beschworen, sie möchten doch durch das Wort „ansteckend“ und durch ihre Maßregeln nicht noch mehr Unruhe und Mißtrauen unter den Menschen verbreiten, Verkehr, Handel, Erwerb und hunderte private wie öffentliche Interessen sonst nicht noch tiefer schädigen.7

Labisch zitiert hierzu eine englische Statistik, laut der die Cholera in einer Reihung der „miasmatischen“ Krankheiten nach Todeshäufigkeit nur an sechster Stelle erscheint. Typhus, Scharlach und Croup erschienen weit häufiger in den Todes-Staistiken. Labisch, Homo hygienicus, 1992, 126f. 4 Knolz, Darstellung der Brechruhr-Epidemie in der k. k. Haupt- und Residenzstadt. Wien 1834, 27. 5 Vgl. Othmar Birkner, Die bedrohte Stadt. Cholera in Wien, Bd. 35: Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Wien 2002, 22. Auch 1938/39 waren im Osten Österreichs Nordlichter zu sehen. Auch damals wurde diese Naturerscheinung als Zeichen drohenden Unheils gedeutet, wie der Autor dieser Arbeit aus Zeitzeugenerinnerungen erfahren hat. 6 Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 92. 7 Zitiert nach: Labisch, Homo hygienicus, 1992, 125. 3

Im Kampf gegen Pest und Cholera

In Wien hieß es in einer anonym herausgegebenen „Belehrung über die Kennzeichen und Verhütung der Cholera“, dass die Durchsetzung der Seuchenabwehr nur durch „kräftiges und redliches Zusammenwirken“ aller Bewohner des Landes zu erreichen sei.8 Diese Maßnahmen blieben jedoch ohne Erfolg. Allgemein wird in der medizinhistorischen Literatur darauf verwiesen, dass das Scheitern der Quarantänen im Kampf gegen die Cholera auch zu einer Durchsetzung „anti-kontagonistischer“ Ansichten beigetragen habe.9 Dem mikrobiologischen Paradigma der Gegenwart folgend lässt sich die Cholera etwa wie folgt beschreiben: Der Cholerabazillus überlebt und gedeiht in (warmem) Wasser und wird durch die Ausscheidungen von Kranken oder anderen Krankheitsträgern durch verunreinigtes Trinkwasser übertragen. Nach wenigen Stunden beginnen starkes Erbrechen und starker Durchfall, durch die ein Viertel der gesamten Körperflüssigkeit innerhalb weniger Stunden verloren gehen kann. Die Erkrankten verfallen dadurch in extrem kurzer Zeit zu Schatten ihrer selbst, der Tod kann innerhalb von Stunden eintreten. Heute weiß man, dass nicht jede Infektion mit Cholerabakterien zu einer Erkrankung führen muss. Der Anteil jener, die keine oder nur geringfügige Symptome aufweisen, wird heute auf etwa 20 Prozent geschätzt und auch unter den Erkrankten entwickelt nur ein Teil das Vollbild mit schwerem Erbrechen, heftigen Durchfällen und Krämpfen.10 Im Unterschied zu den Pocken ist die Cholera bis heute nicht ausgerottet und tritt – oft in Verbindung mit Naturkatastrophen – immer wieder auf, auch wenn die Todesrate weit zurückgegangen ist. Nicht jede Choleraepidemie verläuft gleich und auch nicht alle Fälle innerhalb einer betroffenen Region sind gleich schwer; diese Beobachtung, die Ärzte vor fast 200 Jahren bereits machen konnten, ist heute zumindest annähernd erklärbar: Neuere Studien gehen davon aus, dass die aufgenommene Bakteriendosis eine wichtige Rolle bei der Ausprägung der Krankheit spielt.11 Das Auftreten der Cholera hatte für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der die Körperfunktionen aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt wurden, eine schockartige Wirkung.12 Menschen konnten innerhalb weniger Stunden ihr Aussehen völlig verändern und in kürzester Zeit der Krankheit erliegen. Eine französische Ärztekommission, die während der ersten Epidemie in Österreich im Jahr 1831 auch Wien bereiste, stellte schockiert fest, dass eine erkrankte 23-jährige Frau ihre gesamte Hautfarbe innerhalb einer Dreiviertelstunde von rosafarben auf blaugrün verändert hatte.13 Die Behandlungsmethoden blieben traditionellen Vorstellungen ver8 Zitiert nach: Birkner, Die bedrohte Stadt, 2002, 26. 9 Vgl. dazu z. B. Leven, Die Geschichte der Infektionskrankheiten, 1997, 92. 10 Stolberg, Theorie und Praxis der Cholerabekämpfung, 1994, 55. 11 Ebd. 12 Richard J. Evans, Epidemics and Revolutions. Cholera in nineteenth-century

Europe, in: Past & Present. A Journal of Historical Studies 120, 1988, 123–146, hier: 127. 13 Norman Howard-Jones, The scientific background of the International Sanitary Conferences, 1851–1938, Bd. 1: History of international public health, Geneva 1975, 10.

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Im Kampf gegen Pest und Cholera

haftet: Obwohl die Cholera zu massiver Dehydrierung führte, war die Therapie der Wahl zunächst der Aderlass, der zu weiterem Flüssigkeitsverlust führte. Die Krankheit konnte zum Zeitpunkt eines solchen Aderlasses schon so weit fortgeschritten sein, dass das Blut kaum mehr aus den geöffneten Venen fließen wollte; doch selbst das hielt die Behandler manchmal nicht davon ab, noch mehr Blut zu entziehen. Manche Ärzte sollen dann sogar dazu übergegangen sein, Arterien zu öffnen.14 Therapeutisch stand man der Krankheit also hilflos gegenüber. Gerade weil die Therapie der akademischen europäischen Medizin keine Ansatzpunkte zur Bekämpfung der Krankheit bot, verlegte man sich auf Abwehr und Ursachenforschung. Der Medizinhistoriker Michael Stolberg grenzte 1994 vier Phasen der Cholerabekämpfung im 19. Jahrhundert in Deutschland und Italien ab: In einer ersten Phase hätten fast alle Länder zu den altbekannten Mitteln der Absperrung gegriffen; nachdem sich das als wenig effektiv erwies, wurden in einer zweiten Phase unterschiedliche Aspekte der drei vorherrschenden epidemiologischen Paradigmen (also: der Lehre vom Kontagium, der Lehre vom Miasma und der Lehre von der epidemischen Konstitution) aufgegriffen. Aus diesem „Theoriemix“ wurden dann vor allem Reduktionen der strengen Absperrungen abgeleitet und Säuberungsmaßnahmen, die der „Nase“ folgten, intensiviert. Ab den 1850er-Jahren wurde der Fokus in einer dritten Phase verstärkt auf den fäkalen Verbreitungsweg gelenkt; in England hatte der englische Arzt John Snow (1813–1858) erstmals den unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer Trinkwasserquelle und der Ansteckungshäufigkeit gezeigt. In Deutschland vertrat etwas später sein Münchener Kollege Max Pettenkofer (1818–1901) die Meinung, die Beschaffenheit von Grundwasser und Boden wären wesentlichste Faktoren für die Krankheitsentstehung. Der Schwerpunkt der präventiven Maßnahmen lag nun auf Sanierungsmaßnahmen, die tatsächlich das Wasser in den Fokus nahmen. In den 1880er-Jahren begann nach Stolberg eine vierte Phase, die durch die Wiederentdeckung der Choleravibrionen durch Robert Koch, mit der einem neuen, eindeutigen Verständnis für die Krankheitsverbreitung zum Durchbruch verholfen wurde.15 Für die Hinwendung Europas zum Orient ist die zweite der von Stolberg beschriebenen Phasen die entscheidende. Der Boden für die Gegner jeglicher Quarantänen war durch die Berichte der französischen Ärzte und ihre Ansichten, die wir bei der Augenentzündung bereits kennengelernt haben, aufbereitet worden: Der Orient sei unsauber und klimatisch ungesund, deshalb entstünden und herrschten dort Krankheiten. Mit dem Eintreffen der Cholera erhielten diese Diskussionen neues Feuer. Besonders eindrücklich wird bei Howard-Jones, The scientific background of the International Sanitary Conferences, 1975, 10 der Fall des bekannten deutschen Arztes Johann Friedrich Dieffenbach (1791–1853) beschrieben, der, als das Blut eines Patienten nicht fließen wollte, einen Katheder in die linke Herzkammer einführte, um Blut zu entziehen. Laut Howard-Jones handelt es sich dabei um die erste Durchführung einer Herzkathederisierung, die allerdings schon wenige Minuten später mit dem Tod des Patienten endete. Vgl. auch die Publikation Dieffenbachs selbst: Dieffenbach: Cholera-Archiv, 1,1, 1832, 86–105. 15 Vgl. Stolberg, Theorie und Praxis der Cholerabekämpfung, 1994, 98–101. 14

Die Cholera in Wien

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Die Cholera in Wien

Die Cholera erreichte Wien 1831 und grassierte zwei Jahre in zwei Phasen: Eine erste, die vom Sommer 1831 bis zum März 1832 dauerte, forderte vor allem in den Krankenhäusern viele Tote. Ende März 1831 schien die Krankheit abzuklingen; im April trat sie nochmals auf und erfasste die Stadt bis in den August in einer zweiten Welle. Insgesamt erkrankten in dieser ersten Epidemie 7.400 Personen, wovon etwa die Hälfte starb. Wien hatte damals etwa 324.000 Einwohner. Mit der Seuchenbekämpfung war auch eine immer dichtere Kontrolle des Stadtlebens einhergegangen. Das hatte schon in Pestzeiten begonnen. In Wien ließ man seit dem 17. Jahrhundert in einem Aufräumen mit der Entfernung des als pesttragend verstandenen Abfalls auch unliebsame Stadtbewohner entfernen: „Alles und jedes Herren Dienstloses, mäßig unnutzes, leichtfertig und verdächtiges, auch bandisiertes Gesind von Mann- und Weibspersonen […] Nachtsinger oder Bettelbuben“ wären zu entfernen, hieß es in einer Infektionsordnung, die in Wien 1679 in Kraft trat.16 Von einer allgemein anerkannten Ansteckungslehre, die mit diesen Stadtbewohnern in Verbindung stand, war damals noch keine Rede. Die Entfernung unliebsamer Elemente aus dem Stadtleben funktionierte im Kontext von Angst und Unsicherheit dennoch. Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung, Ruhe und Ordnung gingen Hand in Hand.17 Später wurden Hauszins-Register eingeführt, in denen in Wien alle Bewohner der Häuser, ihre letzten Wohnsitze, ihr Stand und ihr Beruf erfasst wurden. Zusätzlich erhoben die Behörden die Anzahl der Räume vom Keller bis unters Dach, ihre Beschaffenheit und Größe und ihre Nutzung. Verband man beide Informationen, konnte man Aufschlüsse über die sanitären Verhältnisse ebenso gewinnen wie über die mögliche politische Gefährdung, die zum Beispiel von einem nur von Studenten bewohnten Haus ausgehen mochte.18 Die rigiden Maßnahmen gegen die Cholera, die man in Österreich beinahe gewohnheitsmäßig einzusetzen begann, als die Krankheit das Land erreichte, waren mit dem Gefühl verbunden, dass der Staat nach mehr Kontrolle über seine Bürger strebte, denn mit den Seuchenschutzmaßnahmen gingen auch verschiedene, eng gehaltene Kontrollmethoden einher. Briefe, die an den Kontumazen an den Reichsgrenzen ankamen, wurden geöffnet und Blatt für Blatt geräuchert. Schon Zeitgenossen vermuteten dahinter versteckte Maßnahmen der Polizei zur Überwachung der Bürger. Die Polizei hatte im „Vormärz“ auch darüber hinaus weitreichende Kompetenzen: Die Kontrolle der Reisenden, die Ausmittlung von Kundschaftern, die Beobachtung der politischen

Neue Infections-Ordnung, Wie es insgemein in dero Haupt- und Redidenz-Stadt Wienn, Leopoldstadt und anderen umliegenden Vorstädten, wie auch denen außer dem Wiennerischen Burgfriede gelegenen Orten, als zu St. Ulrich, Neustift, Neubau ec, in denen Infections-Sachen zu halten, 1679. 17 Vgl. Birkner, Die bedrohte Stadt, 2002, 29. 18 Ebd., 18. 16

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Im Kampf gegen Pest und Cholera

Stimmung, die Kontrolle der Gasthöfe, die Zensur der Zeitschriften gehörten dazu.19 Die Seuchenbekämpfung war in ihrem Eindringen in das Privatleben der Menschen zu einem besonders sichtbaren Aktionsfeld des vormärzlichen Überwachungsstaates geworden. Der Wiener Cholerahistoriker Othmar Birkner schrieb in seinem Buch „Die bedrohte Stadt“, es könne kein Zufall sein, dass der nachmalige Polizeiminister der neo-absolutistischen Periode nach der Niederschlagung der Revolution von 1848, Johann Franz Freiherr Kempen von Fichtenstamm, am Beginn seiner Karriere als Wächter eines Cholerakordons seine ersten Sporen verdient hatte.20 Dabei mag dieses besonders invasive Vorgehen aus Sicht der Handelnden durchaus als Notwendigkeit verstanden worden sein. Der Staat war ja gerade aus ärztlicher Sicht dazu angehalten, kompromisslos vorzugehen. Die Forderung nach einer strengen Beachtung der verschiedensten Maßregeln zur Seucheneindämmung wurde Medizinern stark unterstützt. Auch der Hamburger Arzt Friedrich Simon (1793–1869) sprach sich dafür aus, „Menschen, die wissentlich die Grenze zu überschreiten suchten“, ohne Weiteres zu erschießen. Der Tod eines einzelnen Individuums komme nicht in Betracht gegen das Unheil, welches durch die Nichtachtung einer unerlässlichen Absperrung angerichtet werden könne.21 Pest und auch die neue Cholera hatte die Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt bereits im Orient in den dort wahrgenommenen unhygienischen Verhältnissen zu verorten gelernt. Die Sanitätsverhältnisse Kairos und Konstantinopels bewegten die Autoren, die sich mit Pest und Cholera im Orient beschäftigten. Dieser Blick wurde nun auf die eigenen Städte gerichtet. 1830 kam es in Wien zu einer großen Überschwemmung, die vor allem im Stadtteil Leopoldstadt viele Zerstörungen mit sich brachte. Aus den Kellern mancher Häuser wurden Tagelöhner und Bettgeher gerettet, die in viel zu kleinen Zimmern zusammengepfercht ihr Dasein fristeten. In der Rossauer Pramergasse erfasste das Hochwasser ein baufälliges Haus, in dessen Kammern 20 Menschen „nahe dem Tode hilflos schmachteten“, während in vielen Handwerksläden die Lehrjungen auf dem Boden schliefen, wie der Wiener Schriftsteller Franz Sartori 1830 berichtete.22 Verweise auf die mangelnden hygienischen und sozialen Umstände zählten zu den Standards der Informationsliteratur, die in den Zeiten der Cholera herausgegeben wurde. Simon schrieb in seiner in Hamburg und Wien herausgegebenen Schrift 1831, dass „die Cholera in den dumpfen, feuchten, niedrigen Wohnungen der Hindus am sump-

Birkner, Die bedrohte Stadt, 2002, 17. Ebd. Friedrich Alexander Simon, Oeffentliche und persönliche Vorsichtsmaßregeln gegen die ostindische Brechruhr oder Cholera morbus, ihre unwidersprechliche und alleinige Verbreitung durch Menschenverkehr sowohl in Asien als in Europa, und die dringende Nothwendigkeit der strengsten Quarantaine gegen die, aus damit angesteckten und kürzlich angesteckt gewesenen Städten und Gegenden kommenden Personen. Gegründet auf endliche, naturgemäße Schlichtung des Streites über Kontagiosität und Nichtkontagiosität derselben, Hamburg/Wien 1831, 65. 22 Sartori, Wiener Tage der Gefahr, Wien 1830, 206; zitiert nach: Birkner, Die bedrohte Stadt, 2002, 19–21. 19 20 21

Die Cholera in Wien

figen Ufer des mit verwesenden Leichnamen treibenden Ganges“ entstünde.23 Nach den Berichten aus dem Orient war die Forderung nach Reinlichkeit nur folgerichtig. Sah sich ein Wiener Arzt 1830 in seiner nächsten Umgebung um, so war der Zusammenhang mit dem, was man aus dem Orient über die Brechruhr und die Pest gelesen hatte, geradezu evident. Aufrufe, mit denen die „Reinlichkeit der Wohnung durch Erneuerung der Luft, wo wie des Körpers durch Waschen und öfteren Wechsel der Wäsche“ gefordert wurde, waren in dieser Zeit in Wien in Umlauf.24 Im Seuchenschutz kam es dagegen zu einem Umdenken. Absperrmaßnahmen ganzer Orte, wie man sie gegen die Pest einzusetzen gewohnt war, wurden fallengelassen; der einflussreichste Arzt der Hauptstadt, der Protomedicus Stifft, soll dies veranlasst haben. Stifft galt als Anti-Kontagonist, als strenger Gegner aller Kontumazen; zwanzig Jahre widersprüchlicher Berichte über die Verbreitung der Pest mögen ihren Beitrag dazu geleistet haben. Auch im lokalen Umgang mit der Krankheit kam es aufgrund der Erfahrungen, die man gesammelt hatte, zu einer Veränderung der Maßnahmen. Dies zeigte zunächst im Kleinen seine Wirkung: Bei Ausbruch hatten die Behörden der Stadt über jedes Haus, in dem die Cholera beobachtet worden war, eine Absperrung desselben verhängt und Kranke in großen Anstalten zusammengezogen, in denen die Sterblichkeit hoch war. Schon im September 1831 hob man diese Regel auf, weil die Maßnahme unter der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreitet hatte.25 Kranke konnten damit auch in häuslicher Pflege verbleiben. Dies entsprach auch den Erkenntnissen, die Johann Nepomuk Isfordink in seiner „Militärischen Gesundheitspolizei“ gesammelt hatte. Die großen, massenhaft belegten und streng militärisch organisierten Krankenquartiere, mit denen man es noch 1823/24 in Klagenfurt zu tun gehabt hatte26, galten nun als gefährlich. Isfordink, der die Epidemie in Klagenfurt genau beobachtet hatte, sprach von einer „mörderischen Überfüllung der Spitäler“. In Wien teilte man die Stadt in genau kontrollierte, eng zusammengefasste Quartiere und bildete kleine Choleraspitäler, in denen maximal 100 Personen zusammengefasst wurden. Die Aufsicht übernahmen sogenannte „Abteilungs-“ und „Sektionskommissäre“, die von „politischen“ Kommissären begleitet wurden und weitgehende Einblicksrechte in die privaten Lebensumstände der Menschen erhielten. Die „Sektionskommissäre“, denen jeweils zwischen fünf und zwölf Häuser unterstanden, hatten laut einer Instruktion vom 20. Juli 1831 darauf zu achten, ob in den Häusern die nötige Reinlichkeit herrsche, die Häuser nicht überfüllt oder sonst „sanitätswidrig“ seien und die Bewohner einem Mangel oder einer

Simon, Oeffentliche und persönliche Vorsichtsmaßregeln, 1831. Ignaz Rudolph Bischoff, Kurze Belehrung über die Kennzeichen und Verhütung der Cholera. Nebst Angabe der Behandlungsart bis zur Ankunst des Arztes, Wien 1831, 27. 25 Birkner, Die bedrohte Stadt, 2002, 56. 26 Zur Epidemie von Klagenfurt vgl. das Kapitel über die Augenentzündung in dieser Arbeit. 23 24

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Im Kampf gegen Pest und Cholera

„Noth“ ausgesetzt seien. Über die Inspektionen hatten tägliche Berichte verfasst zu werden.27 Die Quarantänen und Absperrungen vermochten die Cholera nicht aufzuhalten und gerieten so selbst in den Mittelpunkt der ärztlichen Kontroversen. Die Widersprüchlichkeiten des Umgangs der europäischen Gesellschaften mit verschiedenen epidemisch auftretenden Krankheiten traten nun in den Vordergrund. Die „indische Cholera“ war zu einer „orientalischen“ Krankheit geworden. Mitte der 1840er-Jahre hieß es in der „Oesterreichischen Medicinischen Wochenschrift“: „Als es vor wenigen Jahren noch pestbefangenem Sinne einfiel, gegen die orientalische Cholera, mitten im civilisirten Europa, Quarantainen aufzustellen, vernichteten da nicht sogleich jenseits derselben ausbrechende Epidemien die Chimäre eines Schutzes gegen die Seuche?“28 Das Versagen der Quarantänen war das Argument jener, die an die endemische Entstehung epidemischer Krankheiten glaubten. Praktiker wollten dagegen nicht aufhören, an die Kontagiosität zu glauben und verwiesen auf ihre Erfahrungen. „Lassen wir ohne Vorurtheil und Rechthaberei die Thatsachen reden“, forderte der Bezirksarzt von Hartberg in der Steiermark im November 1847 in der „Oesterreichischen Medicinischen Wochenschrift“.29 Das Kontagium der Cholera, das er vermutete, sei einfach weniger ansteckend und leichter flüchtig als andere. Die Kontagiosität oder spontane Erzeugung der Cholera wurde in diesen Debatten innerhalb eines Rahmens allgemein anerkannter Wahrnehmungen zu einem nicht mehr greifbaren Diskussionsgegenstand auf dem Weg zwischen gleichlautender Beobachtung und (fast) gleichlautender Schlussfolgerung: In ihren Konsequenzen folgten auch Ärzte wie der Hartberger Bezirksarzt den Schlüssen der Anhänger der „siderischen, tellurischen und athmosphärischen Einflüsse“. Man müsse die öffentliche Reinlichkeit, die Kost und die Wohnung und Kleidung des Volkes verbessern und auf strenge Reinigung der Wohnungen, Kleidungsstücke und Betten der Kranken achten, wenn man die Krankheit besiegen wollte. Beide Konzepte, die genaue Beobachtung der Umweltbedingungen und ihres Einflusses auf die Krankheitsentstehung und die Hebung des allgemeinen Gesundheitszustandes wurden in der Folge zu wesentlichen Blickwinkeln, durch die Fragen ansteckender Krankheiten, aber auch die Rolle des Orients betrachtet wurden. Keine Krankheit habe den Glauben an das ärztliche Wissen so erschüttert wie die Cholera, schrieb der Tiroler Arzt Heinrich Kaan 1854, 20 Jahre nach dem ersten Auftreten der Cholera in Mitteleuropa.30 Das betraf auch die Integrität der Ärzte: „Der ungebildete rohe Haufen sieht in uns Träger des Contagiums, und lohnt mit Mißhandlun-

Birkner, Die bedrohte Stadt, 2002, 56–58. Thirk, Nachrichten über die orientalische Pest, 1846, 920. Bezirksarzt Macher, Die Cholera-Frage, in: Oesterreichische Medicinische Wochenschrift 48, 1847, 1515–1519. 30 Heinrich Kaan, Gedanken eines Arztes über die Cholera als Weltseuche, 1 Bd., Innsbruck 1854, I. 27 28 29

Die Cholera in Wien

gen unsere Bemühungen, und der Gebildete ruft uns laut sein Mißtrauensvotum zu.“ Die unterschiedlichen medizinischen Systeme der Ärzte würden im Verband mit den Hausmitteln die Patienten „im Sturmschritt ins bessere Leben geleiten“. Auch Kaan hatte den Glauben an alle herkömmlichen Erklärungsmuster verloren: Die Cholera überspringe alle Grenzen und verbreite sich völlig erratisch, das widerlege besser als jede Abhandlung die Ansichten der „Contagiumspartei“. Auch ein „Miasma“ könne nicht der Grund sein, denn die Cholera befalle auch gänzlich gesunde Orte. Es sei die Elektrizität der Athmosphäre, die das Entstehen der Cholera befördere, der Hochsommer sei es, in dem die Cholera durch die elektrisch geladene Atmosphäre ihre Kraft entladen könne. „Die Cholera ist ein Gewitter im menschlichen Leibe, das sich im Organismus entladet und in allen Systemen und Organen die Spannkraft ihrer Vitalität verändert.“31 Die Cholera sei „ohne jeden Zweifel“ kosmischen Ursprungs.32 Mit diesen Ansichten hätte Kaan den großen arabischen Ärzten des 11. und 12. Jahrhunderts die Hand reichen können.33 Neben der Elektrizität sieht Kaan auch in den spezifischen Verhältnissen eines Ortes einen wichtigen Grund für die Ausbreitung der Krankheit. Es sei nicht zu übersehen, dass „Armuth, Noth, Unmässigkeit, Trunkenheit, Geschlechtsausschweifung in Seehäfen heimische Gäste seien“ und daher den Epidemien besonders gute Voraussetzungen böten.34 Auch die „Kulturverhältnisse einer Nation“ stünden im engsten Zusammenhang mit dem entstehen der Seuche. „Rohheit und mangelhafte Bildung gewähren der Cholera üppige Nahrung. Der dem Fatum huldigende Orientale, der weiße Sklave der Riesenstädte, der sinnliche erschlaffte Sohn des Südens, sie alle mäht der Würgeengel im gleichen Maße.“35 Hier verbanden sich der fatalistische Orientale und der elende Proletarier der europäischen Großstadt. Im selben Jahr als Kaan diese Ansichten niedergeschrieben und veröffentlicht hatte, fand der Brite John Snow heraus, dass die Verunreinigung der Brunnen in einem Londoner Stadtteil mit der Ausbreitung der Krankheit in engem Zusammenhang stand; Snow ließ den Hebel der Pumpe eines verunreinigten Brunnens entfernen und die Krankheit kam zum Erliegen. Seine Erkenntnisse, die er unter anderem durch Anfertigung einer Karte der Ausbreitung der Seuche untermauerte, blieben zunächst auch in England wenig akzeptiert. Heute gilt Snow als der erste, der die wahren Ursachen der Cholera erkannt hatte; schon 1847 hatte Snow die Ansicht vertreten, dass die Cholera

Kaan, Gedanken eines Arztes, 1854, 11. Ebd., 16. Kaan ergänzte diese Ansicht ganz im Geist der Zeit um den argumentativ notwendigen Zusatz, dass die Cholera ein Kontagium erzeugen könne, wenn die Bedingungen dazu geboten wären; insbesondere in engen, verschlossenen Räumen. 33 Vielleicht kein Zufall, denn Kaan, der selbst lange in St. Petersburg gearbeitet hatte, traf im Sommer 1851 in Meran den gebürtigen Bayern Franz Pruner, der zuvor 20 Jahre lang in Ägypten gewesen war. Von Pruner mag Kaan einiges über den „Orient“ erfahren haben; jedenfalls führt er einige Beispiele von Epidemien in Ägypten und dem Osmanischen Reich an. 34 Ebd., 17. 35 Ebd., 18. 31 32

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Im Kampf gegen Pest und Cholera

durch eine Verunreinigung des Trinkwassers verbreitet werde. Die Beobachtungen der Lebensverhältnisse von Menschen waren in beiden Fällen dominant: Doch während Snows Untersuchungen die konkreten Umstände ins Visir nahmen, hingen viele Ärzte weiterhin idealistischen Erklärungsmodellen an, in denen unspezifische Zuschreibungen als allgemein akzeptierte Grundlage dienten.36 6.2

Die Gründung der Gesellschaft der Ärzte und ihre Wechselwirkung mit der Sanitätspolitik der Monarchie

Die Sanitätspolitik der k. k. Monarchie blieb von den Auswirkungen der Cholera und den Debatten um die Übertragbarkeit von Krankheiten und die Effektifität von Quarantänen nicht unberührt. Schon 1826 hatte man in Wien eine Kommission gebildet, die die „arzneywissenschaftlichen“ Grundlagen für ein neues Pestgesetz erarbeiten sollte.37 Die Kommission kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Pest um eine ansteckende Krankheit handle, die nur im Orient „ursächlich entstehen“ konnte.38 Die Arbeit, die seit den 1820er-Jahren wesentlich vom Professor für „Staatsarzneykunde“, Bernt, vorangetrieben wurde, mündete 1837 in einem neuen „Pest-Polizeygesetz“, das den Ansprüchen der Zeit vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht nicht gerecht werden konnte: Die Quarantänen gegen das Osmanische Reich wurden trotz der Erfahrungen mit der Cholera nicht beseitigt.39 Befürworter und Gegner der Quarantänen lieferten sich in den medizinischen Medien der Zeit und in vielen monographischen schriften wilde Auseinandersetzungen. Einer der flammendsten Rufer gegen die Aufhebung der Quarantänen war der Hamburger Arzt und Wissenschaftler Friedrich Alexander Simon. In seinen Schriften treffen sich die vielen stereotypen Zuschreibungen, die die europäische Medizin gegenüber dem Islam und dem Osmanischen Reich gemacht hatten, mit dem revolutionären Geist seiner Zeit. 1843 verurteilte er die wissenschaftliche Befürwortung der Abschaffung der Quarantänen scharf und sah gerade nun, wo doch der „Fatalismus der Türken“ gebrochen sei, den ungünstigsten Zeitpunkt, die Quarantänen aufzugeben. Denn eine Thatsache, worüber Theorie, Geschichte und vielhundertjährige Erfahrung so klar entschieden haben, wie über die Kontagiosität der Pest und den Nutzen der Pestguarantainen, gibt es kaum noch einmal auf dem Gebiete unserer allerdings so zweifelvollen Wissenschaft. Aber der wilde, zerstörende Revolutionseifer, der in der Medicin, wie überall, sein wüstes Wesen treibt, scheint uns selbst die wenigen Lichtblicke, die geringe Auch Kaan führt übrigens, mehr am Rande, das Trinkwasser als wesentlich an: Ein gutes Trinkwasser bilde „an manchen Orten die natürliche Contumazanstalt“. Ebd., 19. 37 Vgl. Bernt, Ueber die Pestansteckung und deren Verhütung, 1832, III. 38 Ebd., 24–27. 39 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 116. 36

Die Gründung der Gesellschaft der Ärzte

Gewißheit zu mißgönnen, die den tieferblickenden Arzt für so viele dunkle Schattenseiten, für so viele beunruhigende Zweifel der Kunst nothdürftig entschädigen. Während der indolente Fatalismus der Türken, nachdem sie sich Jahrhunderte lang zahm und geduldig von der Pest haben decimieren lassen, allendlich aus seinem lethargischen Schlummer aufgerüttelt worden ist, und sich gegen die erneuerte Einschleppung des Pestkontagiums durch Quarantaineanstalten und Lazarethe – wie mangelhaft diese auch noch immer fein mögen – zu schützen sucht, erklären nicht wenige Aerzte des civilisierten Europa’s eben diese Anstalten für überflüssig und unnütz, weil die Pest gar nicht kontagiös sei, und wenn sie dieses auch wäre, die Quarantainen doch nicht im Stande sein würden, Europa vor dem Einbruche der levantischen Pest zu schützen. Ohne irgend auf die warnenden Lehren der Geschichte Rücksicht zu nehmen, ohne sich irgend darum zu kümmern, was denn unsere Vorfahren, die so oft ohnmächtig mit dem furchtbaren Würgengel aus Osten zu kämpfen hatten, veranlaßt hat, jene Anstalten unter den schwierigsten Umständen und den entmuthigendsten Hindernissen zu gründen und zu vervollkommnen, verkünden sie keck und zuversichtlich: die Pest ist nicht ansteckend, und hat sich nie und nimmer durch ein Kontagium nach Europa verbreitet.40

Auch in Frankreich beschäftigte man sich angesichts der steigenden Bedeutung des Orienthandels und wohl auch aufgrund der Erleichterungen, die den in Triest ankommenden Dampfschiffen gewährt worden waren, nun nochmals wissenschaftlich mit der Pest. Eine Kommission der königlich-französischen Akademie der Medizin in Paris legte Mitte der 1840er-Jahre ein Gutachten vor, mit dem die Pest für nicht übertragbar erklärt wurde. Das Gutachten wurde im deutschen Sprachraum kontrovers diskutiert, denn damit war die wissenschaftliche Grundlage für eine Reduktion der französischen Quarantänen gelegt worden. Ob denn die Kommission der Pariser Akademie überhaupt das Recht habe, zu so einer Feststellung zu kommen, wo doch die Mehrheit der Mitglieder niemals den Orient oder die Pest selbst gesehen hatten, fragte der Petersburger Arzt Maximilian Heine41 in seinen „Beiträgen zur Geschichte der orientalischen Pest“. Das Gutachten sei „schreckenerregend“; ein einzelner Mann könne ja irren und diese irrigen Ansichten auch vertreten – eine ganze Kommission jedoch dürfe nicht irren, wie es die Pariser Kommission getan habe.42 Heine war überzeugt davon, dass nur die Quarantänen den großen Teil Russlands vor jener Pest geschützt hatten, die 1837 Odessa heimgesucht hatte. Man brauche nicht tief in die Geschichtsannalen der Pest zurückgehen, um die „wahnwitzige Idee, dass die Pest nicht contagiös sei,

Vgl. Simon, Pezzoni und Oppenheim, 1843, IIf. Maximilian Heine war der Bruder des Dichters Heinrich Heine. Zu seiner ärztlichen Tätigkeit in Russland vgl.: Frank Stelzner, Dr. med. Maximilian v. Heine (1806–1879) der Bruder des Dichters Heinrich Heine (1797–1856) als Arzt in Russland, Univ. Diss., Aachen Shaker, Aachen/Leipzig 2004. 42 Maximilian Heine, Beiträge zur Geschichte der orientalischen Pest, St. Petersburg 1846, 4. 40 41

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Im Kampf gegen Pest und Cholera

oder durch Kleider und Effecten keine Ansteckung verbreite“, tatsächlich zu widerlegen.43 Langsam begannen in der Literatur nun auch nationale Motive aufzutreten: Natürlich hätten die Franzosen nur sich selbst und ihre eigenen Vorarbeiten gelobt, schrieb Heine; auch wenn der deutsche Arzt zu spekulieren neige – so etwas hätten sich deutsche Ärzte nie zu denken erdreistet. Die Wendung, die die Diskussionen auch auf politischer Ebene nahmen, war aber nicht aufzuhalten. Selbst in der Habsburgermonarchie, die in ihrer Quarantänepolitik vergleichsweise rigide agierte, brachten die 1830er-Jahre ein Umdenken, das sich zunächst an der Adria bemerkbar machte. Ende der 1830er-Jahre wurde in Triest der Dampfschiffverkehr aufgenommen. Die erhöhte Reisegeschwindigkeit hatte eine paradoxe Folge: Bisher war es möglich gewesen, die Zeit, die ein Schiff auf hoher See verbracht hatte, auf die Quarantäne anzurechnen. Segelschiffe, die eine oder zwei Wochen unterwegs waren, hatten dadurch einen Großteil ihrer Quarantäneperiode bereits erledigt, wenn sie im Hafen von Triest ankamen. Die neuen Dampfschiffe machten die Überfahrt aus Griechenland schneller; die Quarantäneregelungen drohten aber, den Zeitgewinn im Hafen wieder zu verspielen. Das führende Schiffsunternehmen der Monarchie, der österreichische Lloyd, geriet 1838 in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Verbesserung der Reisebedingungen für Dampfschiffe in den östlichen Mittelmeerraum war offenbar ein wesentlicher Sanierungsfaktor. Im November und Dezember 1838 erließ die Hofkanzlei einige Erleichterungen für die aus Syra44 kommenden Dampfschiffe, mit denen die Quarantäne, die in Triest ankommende Personen zu unterlaufen hatten, auf drei Tage reduziert werden konnte.45 Der Druck, solche Maßnahmen auch wissenschaftlich zu rechtfertigen, wurde in dieser Zeit auch für die Politik spürbar. In den 1830er-Jahren fehlte Wien eine geeignete Plattform, um medizinische Fragen strukturiert diskutieren und für dadurch für die Politik Legitimation erhalten zu können. Die Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften war vom vormärzlichen Regime hintangehalten worden. Der am Josephinum in Wien ausgebildete Franz Wirer (1771–1844), Sohn eines Chirurgen und in den Jahren nach 1815 wichtiger Promotor Ischls als Kurort, hatte schon um 1831 die erste Initiative zur Gründung eines solchen ärztlichen Vereins gesetzt, der sich vor allem wissenschaftlichen Debatten widmen sollte.46 Schon zur Zeit des Ausbruchs der Cho-

Heine, Geschichte der Orientalischen Pest, 1846, 19. Der Hauptort Ermoupoli der Kykladeninsel Syros (Syra) war in den 1830er-Jahren eine der wichtigsten Hafenstädte der Ägäis. 45 Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1989, 44. 46 In Wien waren alle Ärzte, die an der Wiener Universität ihr Studium abgeschlossen hatten, in der Medizinischen Fakultät organisatorisch zusammengeschlossen. Der Fakultät oblagen bestimmte Aufgaben, die sich aber zumeist nicht auf die Erörterung wissenschaftlicher Fragen erstreckten. Der von Wirer projektierte „ärztliche Verein“ sollte – nach dem Vorbild bereits bestehender Vereine im deutschen Sprachraum – die Möglichkeit zum fachlichen Austausch der Ärzte untereinander bieten. Zur Gründung vgl. insbesondere: Isidor Fischer, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1937, Hrsg. v. d. Ges. d. Arzte. Wien 1938. 43 44

Die Gründung der Gesellschaft der Ärzte

lera in Wien habe er das Bedürfnis gefühlt, „einen ärztlichen Verein zu bilden, um uns in demselben kollegialisch über die so wichtigen Verhältnisse jener bedrängten Zeitperiode beraten zu können“47. Ein erster Vorschlag, den Wirer bei einer Fakultätsversammlung in Wien 1831 dazu machte, führte zu großem Widerstand, doch nicht von den Kollegen, die den Vorschlag mehrheitlich unterstützten, sondern von nicht näher bezeichneter offizieller Seite: Er habe am nächsten Tag die Weisung erhalten, die Gründung nicht weiter zu betreiben, schrieb Wirer später in seinen Erinnerungen. Das mag neben einer grundlegenden Skepsis gegenüber Assoziationen aller Art auch spezifische politische Gründe gehabt haben. Über die politische Ausrichtung der Ärzte in Wien im Vormärz schreibt die Medizinhistorikerin Felicitas Seebacher: Aufgrund der schlechten Perspektiven für Studium und Arbeit entwickelten Studenten und junge Ärzte der Habsburgermonarchie gegenüber der Regierung eine zunehmend stärkere oppositionelle Haltung. […] Da politisches Engagement im Vormärz verboten war, kämpften Mediziner umso heftiger für den Fortschritt in der Medizin. Sie vollzogen dadurch einen Bruch mit den lange tradierten und für richtig befundenen Heilmethoden, dem konservativen Unterrichtssystem und der kontrollierenden Sanitätsbehörde.48

Als Arzt hochgestellter Persönlichkeiten fehlte es Wirer wohl nicht an Gelegenheiten, die Idee weiter zu verfolgen.49 Doch erst mit der Cholera und den heftigen Debatten um Für und Wider der Quarantänen ergab sich die Chance, die Gründung eines solchen wissenschaftlichen Vereins auch vor den Augen der Autoritäten zu rechtfertigen. Im Winter 1836/37 fanden auf Initiative Wirers vorbereitende Versammlungen statt, die in der Genehmigung der Gründung einer „Gesellschaft der Ärzte“ im November 1837 und der Gründungsversammlung am 22. Dezember 1837 mündeten. 40 Ärzte waren zu Beginn in der Gesellschaft zusammengeschlossen, die sich nicht als offener Verein verstand, sondern deren Mitglied man nur über Empfehlung zweier bestehender Mitglieder werden konnte. An die Spitze der Gesellschaft traten einge Männer, für die der Orient eine prägende Erfahrung ihrer medizinischen Tätigkeit gewesen war. Nachdem Wirer selbst es abgelehnt hatte, die Präsidentschaft zu übernehmen und der für Medizinalangelegenheiten bei der Studien-Hofkommission (der Vorläuferin des Unterrichtsministeriums) zuständige Arzt und Jurist Ludwig Freiherr von Türkheim50 wegen der Be-

Zitiert nach: ebd., 6. Felicitas Seebacher, „Freiheit der Naturforschung!“ Carl Freiherr von Rokitansky und die Wiener Medizinische Schule: Wissenschaft und Politik im Konflikt, Bd. 56: Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaft und Medizin, Wien 2006, 27. 49 1836 wurde Wirer Rektor der Universität Wien, im selben Jahr erhielt er einen hohen Orden für seine Verdienste um den Kurort Ischl. Fischer, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1937, 1938, 5. 50 Ludwig Freiherr von Türkheim, 1777–1846, arbeitete zunächst im diplomatischen Dienst und wurde später Leibarzt von Erzherzog Franz Karl. Als Mitarbeiter des Protomedicus Stifft begann er eine Beamtenlaufbahn, die ihm nach Stiffts Tod die Möglichkeit eröffnete, vielen bedeutenden Ärzten der zweiten Wie47 48

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fürchtung der Befangenheit ebenfalls ablehnte, übernahm Johann Malfatti (1775–1859) den Vorsitz.51 Wirer wurde immerhin Vizepräsident und auch er hatte seine „Orienterfahrung“ gemacht. Als Militärarzt war er an der Rückführung von Gefangenen aus dem Osmanischen Reich im Jahr 1791 beteiligt gewesen und hatte damals Gelegenheit gehabt, drei Monate lang ein Pestspital zu leiten. Sekretär der Gesellschaft wurde der Protomedikus Joseph Johann von Knolz52, der im Rahmen der Choleraepidemien 1831 für die niederösterreichische Landesregierung arbeitete und in der Folge zahlreiche Publikationen zur Cholera verfasste. In regelmäßigen Abständen trafen sich die Mitglieder der Gesellschaft zur Diskussion aktueller Fragen. Seuchenfragen standen ganz oben in den Tagesordnungen, obwohl es eigentlich schon einen Lehrstuhl für die „Staatsarzneikunde“ gab, dem das Thema in der Logik akademischen Denkens eigentlich zuzuordnen gewesen wäre.53 Dem Lehrstuhlinhaber jener Jahre, Johann Joseph Bernt54, war es nicht möglich, der Seuchenfrage die notwendige wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu widmen. In diese Lücke stieß die Gesellschaft der Ärzte.55 Im November 1838, nur einige Monate, nachdem die Gesellschaft ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, wurde der französische Arzt Arsène-François Bulard (1805–1843) 56 ner Medizinischen Schule am Beginn ihrer Karrieren zu helfen. Diese Arbeit brachte ihm den Beinamen eines „zweiten van Swieten“ ein. ÖBL 1815–1950, Bd. 14, Lfg. 66, 2015, 505 f. 51 Malfatti war im italienischen Teil der Habsburgermonarchie geboren und gemeinsam mit Johann Peter Frank aus Pavia nach Wien gekommen, um als Sekundararzt mit ihm zu arbeiten. 1802 hatte er sich bereits an der Gründung einer ersten ärztlichen Vereinigung der Stadt beteiligt. 52 Joseph Johann Knolz (1791–1862) stammte aus der Untersteiermark, studierte in Wien Medizin und war danach in Salzburg als Professor am dortigen medizinischen Lyzeum tätig. 1831 wurde er als Referent der Niederösterreichischen Landesregierung für Cholera-Angelegenheiten zu einem der wichtigsten Reformer des Sanitätswesens seiner Zeit. ÖBL 1815–1950, Bd. 4, Lfg. 16, 1966, 1. Knolz hatte auch für einige Jahre einen Lehrstuhl an der Universität Wien inne. Erna Lesky bezeichnet ihn in dieser Tätigkeit als unbedeutend. 53 Die Wiener Medizinhistorikerin Erna Lesky bezeichnete die Hygiene als „Stiefkind“ der Wiener Medizinischen Fakultät im 19. Jahrhundert, da am Lehrstuhl für „Staatsarzneykunde“ gerichtliche Medizin und die eher an der öffentlichen Gesundheit orientierte „Medizinische Polizey“ vereint waren. Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 109. 54 Joseph Bernt (auch: Berndt) (1770–1842), studierte in Prag, wo er ab 1808 als Professor arbeitete. 1813 wurde er nach Wien berufen. Auf ihn geht die Gründung der Vorläuferinstitution des Instituts für gerichtliche Medizin in Wien zurück. Bernt beschäftigte sich mit einer breiten Palette an Themen: So publizierte er zum damals viel diskutierten Problem des Scheintods und den Sicherungsmaßnahmen, die man ergreifen konnte, um sich gegen eine versehentliche Bestattung zu schützen. Bernt hatte 1832 allerdings auch über die Pestansteckung publiziert: Joseph Bernt, Ueber die Pestansteckung und deren Verhütung, Wien 1832. 55 Die Publikationen der Gesellschaft der Ärzte zum Osmanischen Reich wurden von Manfred Skopec im Rahmen der gemeinsamen Symposien des Instituts für Geschichte der Medizin mit den Medizinhistorikern aus Istanbul bereits bearbeitet. Allerdings beginnt Skopec seine Bearbeitung erst ab dem Jahr 1847. Für Berichte in der Zeitschrift siehe die Publikation Skopec: Skopec, Die Berichte über türkische Spitäler und Medizin, 127. 56 Der Name Bulards taucht in vielen medizinischen Schriften der 1830er-Jahre auf und war den Zeitgenossen offenbar so vertraut, dass er meist im Zusammenhang mit den Worten „bekanntlich“ oder „wie berichtet“ auftritt. Biographische Angaben zu Bulard sind eher spärlich, er selbst verfasste ein großes Buch: Bulard, De la Peste orientale, 1839. Zu Bulard vgl. auch: Promitzer, Grenzen der Bewegungsfreiheit, 2012, 40.

Die Gründung der Gesellschaft der Ärzte

eingeladen, in Wien einen Vortrag zur Pest zu halten. Wenige Wochen zuvor hatte sich Bulard einen besonderen Ruf als Pestarzt erworben, indem er sich in Konstantinopel in einem Pestspital (im „Leanderturm“ im Hafen) einschließen ließ, um die NichtÜbertragbarkeit der Pest zu beweisen. Der Brite Adolphus Slade57 traf ihn in diesen Tagen im Herbst 1838 in der Wiener Oper. In seinen Reiseerinnerungen bezeichnete er Bulard als „stanch58 anti-contagonist“. Er sei nun in Europa unterwegs, um in jedem Land (i. e. in jeder Großmacht) zwei Ärzte anzuwerben, die seine Behandlungsmethoden übernehmen und jeweils in einer der größeren Städte des Reiches anwenden sollten, berichtete Slade. Auch wolle er für die Abhaltung einer internationalen Konferenz werben. In Wien traf Bulard auch den damaligen Stellvertreter Metternichs, Baron Ottenfels59, der ihn angeblich positiv aufnahm.60 Eine der Forderungen, die Bulard in Wien vor der eben gegründeten Gesellschaft der Ärzte vortrug, war die Zusammenkunft eines internationalen Kongresses, an dem über eine Änderung der Quarantänepolitik gesprochen werden sollte. Der Vortrag Bulards erschien dem Bibliothekar der Gesellschaft, Hermann Hieronymus Beer61, so wichtig, dass er darüber in der von ihm herausgegebenen „Gesundheitszeitung“ publizierte.62 Nach Bulards Vorstellung sollten sich Ärzte zusammenfinden, um zunächst die Adolphus Slade (1804–1877) war Admiral in der Royal Navy und Ende der 1840er-Jahre auch Admiral in der osmanischen Marine. 58 Der Begriff „stanch“ bedeutet auf Englisch etwa: „standhaft“. Aus heutiger Sicht würde man Bulard eher als „bedingten Kontagonisten“ bezeichnen. 59 Franz von Ottenfels (1778–1851) war Diplomat und von 1822–1832 österreichischer Internuntius (i. e. Botschafter) in Konstantinopel. Ab 1835 war er als Leiter der administrativen inländischen Abteilung der Staatskanzlei auch routinemäßig Stellvertreter des Staatskanzlers Metternich. Ottenfels galt aufgrund seiner Tätigkeit in Konstantinopel, wo er nach 1800 bereits als „Sprachknabe“ gearbeitet hatte, als ausgesprochener „Orientkenner“. ÖBL 1815–1950, Bd. 7, Lfg. 33, 1977, 269. 60 Interessant ist die Begründung für das Engagement Bulards, die Slade überlieferte: „The Turcs gave us inoculation, which suggested vaccinaton: we owe them something in return; if we find out a mode of treating plague, we shall be quits.“ Vgl. Slade, Travels in Germany and Russia, 1840, 99f. 61 Hermann Hieronymus Beer (1798–1873) studierte in Wien Medizin und war zunächst Stadt- u. Gerichtsarzt in Znaim. 1832 während der Choleraepidemie war er Choleraarzt in Mähren, Galizien und Lombardo-Venetien.  1834 kehrte er nach Wien zurück, wo er Sekundararzt im AKH wurde und später auch Polizeiarzt für die Vorstadt Rossau. 1837–1840 war Beer Herausgeber der „Gesundheitszeitung“, in der er zahlreiche eigene Beiträge über Hygiene und Medizinische Polizei veröffentlichte. In der Folge war Beer Lehrer für gerichtliche Medizin und Psychologie an der Juridischen Fakultät der Universität Wien. Beer konnte sich gegen den Pathologen Carl v. Rokitansky, der 1832 zum Gerichtsanatomen bestellt wurde und alle sanitätspolizeilichen sowie gerichtlichen Sektionen zugewiesen bekam, nicht behaupten. Zu seiner Biographie vgl.: Czeike, Hist. Lexikon Wien, Bd. 1, 301. (Ich danke Univ.-Doz. Dr. Gabriela Schmidt-Wyklicky für den Hinweis auf die Biographie des Dr. Beer.) 62 Bericht k. k. Gesellschaft der Ärzte, in: Populäre Österreichische Gesundheits-Zeitung, 11.2.1839, 97– 100. Zum Vorgang selbst gibt es auch einen Sonderdruck am Institut für Geschichte der Medizin in Wien: Sonderdruck am Institut für Geschichte der Medizin in Wien, JB 5.035, Ansichten des Dr. Bulard über die Natur, Contagiosität, Heilung und Verhütung der Pest., Mit Rücksicht auf dessen Vortrag in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien am 16. November 1838, Wien 1839. Das Dokument ist nicht näher erläutert, beinhaltet auch keine Angaben zur Entstehung oder Bezug. Dem Inhalt nach und auch im Vergleich mit den in der Gesundheitszeitung veröffentlichten Ergebnissen der Prüfung des Vorschlags des Bulard durch 57

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wissenschaftlichen Fragen rund um die Pest zu klären. Ob die Pest ansteckend sei oder nicht und wie sie verbreitet werde. Diese Untersuchungen sollte man mit verurteilten Verbrechern vornehmen; der Einsatz des Lebens dieser Menschen sei umso mehr gerechtfertigt, als diese vor der Gesellschaft ohnehin schon tot seien. Das Böse könne durch ihr (mögliches) Sterben in ein Gutes verwandelt werden. Wenn dies nicht gelänge, so seien Ärzte dazu zu bewegen, sich zur Verfügung zu stellen und zwar vorzugsweise jene, die an dem Kongress selbst teilnehmen würden, oder jene, die ohnehin nicht an die Übertragbarkeit der Pest glauben würden.63 In einem zweiten, administrativen Teil des Kongresses sollte dann eine kritische Untersuchung aller Quarantäneregelungen erfolgen, die in Europa praktiziert würden. Diese sollten dann angeglichen werden. In der Gesellschaft beschloss man, Bulards Ansichten zu diskutieren. Wenige Wochen, nachdem Bulard gesprochen hatte, meldete Vizepräsident Wirer einen Vortrag an, der sich ebenfalls mit der Pest befasste und die Diskussion einleiten sollte.64 Nach Wirers Ansicht lebe man in Europa nun sicher vor der Pest, weil die Quarantänen so verlässlich gewesen seien, letztlich dank der „weisen und kräftigen Überwachung der Quarantäne-Gesetze“. Das Konzept sei gut gewesen, allein die ewigen Kritiker hätten es wohl schlecht geredet: „Doch die besten Anstalten scheinen nach einer Reihe von Jahren zu veralten, sie stehen dann den Ansichten des herrschenden Zeitgeistes entgegen; man findet Missbräuche, und es entsteht der Wunsch, etwas Besseres an die Stelle des Veralteten zu setzen“, relativierte Wirer alle Kritiken an den Quarantänen. Dennoch trafen sich Wirer, der Bulards Ansichten als „nicht immer die besten“ bezeichnete, und sein französischer Gast in einer Sache. „Dr. Bulard hat unter den veranlassenden Ursachen der Pest angeführt, dass der Gesundheitszustand eines Landes im geraden Verhältnisse zu seiner Civilisation stehe, daher auch besonders deren niedere Stufe im Oriente letzteren zur Wiege der Pest eigne, wobei auch der Fatalismus des Islam mächtig zur Unterhaltung und Verbreitung des Contagiums beitrage.“65 Dies – nämlich die Hebung der Zivilisation im Orient – sei wohl der einfachste Weg zur Lösung des Problems. Man solle daher Ärzte in den Orient senden, um die Ursprungsstätten der Pest auszumitteln und die

die Gesellschaft der Ärzte scheint es sich dabei aber um die schriftliche Fassung der Ergebnisse der Untersuchung zu handeln. Auch die später immer wieder zitierte Schrift Grubers über die „Pest des Orients“ (Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839) scheint in diesem Zusammenhang entstanden zu sein. 63 Sonderdruck am Institut für Geschichte der Medizin in Wien, JB 5.035, Ansichten des Dr. Bulard, 1839, Sanitäts-Congress. Ein Vorschlag an alle europäischen Regierungen. Dem Sonderdruck angeschlossen, eigene Paginierung, 3. 64 Vom Aufsatz Wirers sind sowohl das handschriftliche Manuskript, das auch dem Vortrag entsprochen haben wird, als auch die gedruckte Version in den „Verhandlungen der Gesellschaft der Ärzte“ vorhanden. Das Manuskript findet sich im Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte im Wiener Billrothaus, Älteste Reihe, Faszikel 1. Vgl. Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte, Manuskript, 4. Der Aufsatz selbst ist veröffentlicht in: Verhandlungen der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, Wien 1842, 276. 65 Im Manuskript des Aufsatzes ist das Wort „Türke“ (wohl durch den Redakteur) gestrichen und durch das Wort „Islam“ ersetzt. Vgl. Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte, Manuskript, 5.

Die Gründung der Gesellschaft der Ärzte

geeigneten Maßregeln zur Ausrottung der Pest anzugeben.66 Der Zeitpunkt sei günstig, denn sowohl in der Türkei als auch in Ägypten seien „Reformatoren“ am Werk, die sich den reisenden Naturforschern und Gelehrten mit der größten Gastfreundlichkeit widmeten. Wirers Vortrag fand Anfang Jänner 1839 statt und leitete einige genauere Beratungen ein, die innerhalb der Gesellschaft zu diesem Thema in den folgenden vier Wochen geführt wurden. Der junge Art Ignaz Gruber legte im Auftrag der Gesellschaft eine offenbar rasch zusammengestellte Zusammenfassung der „Neuesten Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients“ vor, die bei der nächsten Sitzung im Februar verteilt wurde.67 Die Gesellschaft erkannte in der Pest eine Krankheit des Lymphsystems und unterschied zwischen dem Befall der Lymphknoten und des Blutsystems. Es sei klar, dass die Pest aufgrund lokaler Umstände entstünde, dann aber kontagiös werde. „Die Contagiosität der Pest ist eine Thatsache, welche ärztliche Beobachtung sowohl, als die durch Isolierung bewirkte Immunität vor derselben unwiderlegbar beweisen.“68 Zu einer Abschaffung der Quarantänen konnte man sich angesichts dieser Ansicht nicht entschließen und medizinhistorische Schriften gehen davon aus, dass „kontagonistische“ Ansichten auch unter den Ärzten Österreichs dominant waren.69 Quarantänen waren das sanitätspolitische Dogma der Zeit und galten als staatlicher Wille. Dieses Faktum wird den Denkstil vieler Ärzte wohl maßgeblich beeinflußt haben. Wissenschaftliche Meinungsäußerungen selbst in der Wiener „Gesellschaft der Ärzte“ unterlagen einer gewissen Kontrolle: So sahen die Statuten der Gesellschaft vor, dass bei Versammlungen, an denen hochgestellte Staatsmänner teilnahmen, nur Vorträge gehalten werden durften, deren Inhalt vom Präsidium der Gesellschaft für geeignet befunden worden war.70 Angesichts der kontroversiellen literarischen Diskussionen dieser Jahre ist wohl davon auszugehen, dass man sich auch innerhalb der Ärzteschaft keineswegs einig war. Am 1. Februar trat der Gesellschaftssekretär Knolz, gleichzeitig Protomedicus von Niederösterreich und als solcher einer der leitenden Beamten der Gesundheitsverwaltung der Hauptstadtprovinz des Reiches, in einer wohl einzigartigen Sitzung in der Geschichte der Gesellschaft an das Rednerpult, um die Ergebnisse zu verkünden. Ihm gegenüber saß ein Publikum, wie es die Wiener Mediziner noch kaum je gehabt hatten: Neben den Mitgliedern der Gesellschaft hatte sich auch die halbe Führungs-

Gesellschaft der Ärzte, 1842, 283f. Gruber, Neuere Stimmen aus der Levante über die Pest des Orients, 1839. Ein Exemplar aus dem Besitz des Verfassers, das von Grubers Witwe Jahrzehnte später an die Gesellschaft der Ärzte übergeben wurde, befindet sich heute im Besitz des Instituts der Geschichte der Medizin. 68 Etwas weiter unten relativiert er: „Wäre die Pest absolut contagiös, so müsste die ganze orientalische Bevölkerung schon längst als Opfer derselben vertilgt sein.“ Sonderdruck am Institut für Geschichte der Medizin in Wien, JB 5.035, Ansichten des Dr. Bulard, 1839, 6. 69 Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1989, 30. Vgl. dazu auch Lesky, Österreichisches Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, 1959, 44–57. 70 Fischer, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1937, 1938, 22. 66 67

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schicht der Monarchie eingefunden, um die Ergebnisse der Kommission zu hören. Die Erzherzöge Franz Carl, Carl, Ludwig und Maximilian von Este, der Staatskanzler Metternich, Staatsminister Kolowrat, der Präsident der Hof-Polizei- und Zensurstelle, Sedlnitzky, Hofkanzler Inzaghi, der Hofkammerpräsident Eichhof, mehrere „hohe Mitglieder des diplomatischen Corps“ und andere „hohe Herrschaften“ waren gekommen.71 Das Thema hatte höchste Dringlichkeit, denn der Handel der Monarchie im Mittelmeerraum intensivierte sich, der Dampfschiffverkehr war im Begriff, die Reisezeiten zu minimieren. Das betonte auch der Arzt Knolz in seiner Rede. Unaufhaltsam trete in der Diskussion der Frage der Pest ein Verhältnis hervor, welches „äusserst drückend erscheint und die Bemerkung nicht vorenthalten lässt, dass der Handelsverkehr noch immer mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, die seiner sonst so vortheilhaften Förderung überaus hinderlich“ seien, hieß es in der gedruckten Version seines Vortrags.72 Knolz milderte die leichte Kritik, die dem medizinisch überaus gebildeten Staatskanzler Metternich durchaus nicht entgangen sein und auch nicht widerstrebt haben mag, mit einer rhetorischen Frage: Sollte denn der „Strom des fortschreitenden Strebens nach Vervollkommnung an dieser einzigen Klippe“ vorübergezogen sein, ohne seine „wohltätige Einwirkung“ gezeigt zu haben? Die Vorkehrungen gegen das Eindringen der Pest würden nicht das Ergebnis einer klaren Erkenntnis bilden; vielmehr habe der Schrecken der Pest den Einrichtungen einen Zwang auferlegt, der in keinem richtigen Verhältnis zum tatsächlichen Bedarf liegen konnte. Die ärztlichen Forschungen dagegen schienen in der Zwischenzeit „nur der Wissenschaft anheim gefallen“ zu sein. Die Forderung nach einer nochmaligen genauen Prüfung und Abwägung aller die Pest betreffenden Tatsachen klang hier durch.73 Die Aufzählung richtet sich nach der im Bericht k. k. Gesellschaft der Ärzte, in: Populäre Österreichische Gesundheits-Zeitung, 11.2.1839, 97–100, 97 gegebenen Zusammenstellung der anwesenden Personen. Die Präsidenten entsprachen dabei etwa den späteren „Ministern“, sodass gesagt werden kann, dass mit dem in Sicherheitsfragen wohl kompetenten (und gefürchteten) Polizei-Chef und dem Präsidenten der Hofkammer beide zuständigen „Minister“ gekommen waren, um den Vortrag zu hören. Mit den anwesenden Erzherzögen Franz Carl und Ludwig sowie Metternich und Minister Kolowrat waren zudem alle Mitglieder des „Geheimen Staatsrates“ anwesend, der seit 1835 de facto die Monarchie regierte, nachdem Kaiser Ferdinand selbst nur bedingt zur Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte in der Lage war. 72 Gesellschaft der Ärzte (Hg.), Verhandlungen der k. k. Gesellschaft der Ärzte zu Wien, von Entstehung der Gesellschaft bis zum Schlusse des dritten Gesellschaftsjahres., Wien 1842, 285. 73 Mit Bulard blieb man gnädig: Er habe sich durch die Veröffentlichung der Idee zu gemeinschaftlichen Beratungen ein bleibendes Verdienst um die Menschheit erworben. Bulard hatte den Ruf, ein Abenteurer zu sein, seine Vorschläge wurden – durchaus im Stil einer Zeit, in der man sich nicht immer mit Samthandschuhen anfasste – heftig kritisiert. Die damals in München erscheinende Zeitschrift „Das Ausland“ schrieb am 22. November 1838 über Bulard, ohne direkt auf seinen Vortrag in Wien Bezug zu nehmen, es sei schon „viel von diesem Doctor Bulard die Rede gewesen“, aber er sei immer „nach einiger Zeit wieder halb verschollen“. Doctor Bulard und die Pest, in: Das Ausland: Wochenschrift für Länder- u. Völkerkunde, 22.11.1838, 1, https://books.google.at/books?id=okdEAAAAcAAJ. Die Autorenschaft dieses Beitrages ist mangels namentlicher Zeichnung nicht ganz klar; als verantwortlicher Redakteur erscheint Dr. Eduard Widemann. Ein Arzt gleichen Namens arbeitete in dieser Zeit in Bayern. „Das Ausland“ erschien ab 1828 71

Die Verlegung der Pestfront ins Osmanische Reich

Die Pest würde, so Knolz, über kurz oder lang in die Reihe der „bloßen Ortskrankheiten“ treten und durch ihre „Auswanderung aus den gesitteten Ländern auf’s neue die große sociale Wahrheit“ darstellen werde: dass nämlich „die öffentliche Gesundheit immer gleichen Schritt mit der Civilisation der Völker“ mache.74 Auch hier erklang nun der Aufruf der Ärzte an den Staat, rigoros für die Verbreitung der medizinisch-wissenschaftlich als richtig betrachteten Maßnahmen einzutreten. Die Botschaft, die sich an die Zuhörer richtete: Nur durch Verbreitung der „Zivilisation“ – und nicht durch die Quarantänen – könne der Pest letztlich dauerhaft Einhalt geboten werden. War es ein Akt mutiger Aufgeklärtheit, mit dem die Ärzte vor ihr durchlauchtigstes Publikum traten? Wohl eher nicht. Ein kleiner Hinweis in Knolz’ Rede deutet darauf hin, dass es sich vielleicht viel eher um einen staatlichen Fingerzeig gehandelt hatte, der die Gesellschaft zu ihrer (wenn auch verhaltenen) Kritik an den Quarantänen verleitet haben mag. Es sei Freiherr von Türkheim gewesen, der bemerkt habe, dass die „Quarantänen den Interessen der Einzelnen großen Vorschub leisteten und nur dazu gedient hätten, die Mißbräuche des Quarantänesystems und die Renitenz gegen größere Reformen mehr und mehr zu befestigen“, merkte Knolz in seiner Rede an.75 Türkheim war nach dem Tod des Freiherrn von Stifft – einem in der Medizingeschichtsschreibung und wohl auch unter den Zeitgenossen als dunkler Verhinderer von Reformen gesehener Mann – an die Spitze der Sanitätsverwaltung der staatlichen Kanzleistellen getreten. Türkheim hatte die ihm angebotene Präsidentschaft der Gesellschaft der Ärzte ausgeschlagen; eine der vorbereitenden Sitzungen hatte jedoch in seiner Wohnung stattgefunden und er galt den Zeitgenossen als Lichtgestalt, die vieles ermöglichte. Es wird wohl Türkheim gewesen sein, der der Gesellschaft im Auftrag Metternichs eine moderat-wohlwollende Prüfung der Vorschläge, die Bulard an seinen Stellvertreter Ottenfels herangetragen hatte, nahelegte.76 6.3

Eine Sphinx tritt ab: Die Verlegung der Pestfront ins Osmanische Reich

1838 und 1839 hatten sich die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik im Hinblick auf die nach Osten gerichtete Sanitätspolitik bedeutend verdichtet. Eine Gesellschaft der Ärzte war gegründet und mit der genauen Untersuchung der Quarantäne-

an wechselnden Verlagsorten und war eine der bedeutendsten geographischen Publikumszeitschrifen im deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts. 74 Gesellschaft der Ärzte, 1842, 297. 75 Ebd., 288. 76 Der Zustand der Medizin in der Türkei war in diesen Wochen eine „causa prima“ der Politik der Monarchie. Am 4. Dezember des Jahres 1838, nur wenige Tage nachdem Bulard seinen Vortrag gehalten hatte, waren in Konstantinopel die beiden Ärzte Bernard und Neuner von Bord ihres österreichischen Schiffes gegangen, um unter Beweis zu stellen, dass die öffentliche Gesundheit und die „Civilisation“ tatsächlich Hand in Hand gingen. Zu diesen Missionen vgl. Kapitel 7.

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frage beauftragt worden, in den Wochen bevor die Hofkanzlei in Wien ihr erstes Dekret erließ, mit dem die vom Lloyd gewünschten Quarantäneerleichterungen in Kraft traten, war Arsène-François Bulard nach Wien gekommen. Einen Tag vor dem Erlass dieses ersten Dekrets hatte Bulard vor der neu gegründeten Wiener Gesellschaft der Ärzte seinen viel beachteten Vortrag gehalten.77 Wenige Wochen später wurden die Ergebnisse einem höchstrangigen Publikum vorgestellt. Dass die Habsburgermonarchie dazu bereit war, eine massive Veränderung ihrer Quarantänepolitik in Erwägung zu ziehen, mag mit einer historischen Chance für den Seehafen Triest in Verbindung stehen. Die britische Krone ließ damals nämlich prüfen, ob man die indische Post nicht über Triest und die Monarchie schneller als bisher ins Zentrum des Empire bringen könne. Der amerikanische Historiker Ronald Coons hat aufgrund seiner Kenntnisse der Quellen im Archiv der Hofkanzlei gemutmaßt, dass dieses Angebot das vergleichsweise schnelle Handeln der Hofkanzlei zur Rettung des Lloyd motiviert hatte. 1839 flaute das Interesse der Briten jedenfalls wieder ab; und parallel dazu (vorerst) auch die Bemühungen der Monarchie um eine weitere Veränderung ihrer Qurantänepolitik. In der habsburgischen Provinz „Küstenland“ mit ihrem bedeutenden Hafen Triest wurde indes weiter an einer Verschiebung der „Pestfront“ weg von den Quarantänen hin in einen zu „zivilisierenden“ Orient gearbeitet. Dort traten der 1841 neu bestellte Statthalter Franz Graf Stadion (1806–1853), und sein Protomedicus Franz Weber gemeinsam für eine Veränderung ein.78 Als Vorläufer der wenige Jahre später verstärkt einsetzenden Diskussion vertrat Weber die Meinung, dass die Bekämpfung von Krankheiten wie der Pest in erster Linie im Orient zu erfolgen habe.79 In einer Abhandlung über die Seequarantänen schrieb Weber 1841, dass […] durch ein umsichtiges Einwirken einer humanen politischen Administration auch selbst in Ägypten jenes Herausbilden der Contagiosität aus dem epidemischen Beulenfieber kräftig hintangehalten zu werden vermag, wie dies auch bei uns der Fall ist, wo ansteckende Fieberkrankheiten in gegenwärtiger Zeit sich doch bei Weitem nicht so häufig entwickeln, als diess in den Vorjahren der Fall gewesen ist. Würden in Ägypten

Bulards Vortrag fand am 16. November 1838 in der alten Aula der Universität Wien (heute: Akademie der Wissenschaften) in Wien statt. Am 17. November 1838 genehmigte die Hofkanzlei Erleichterungen für aus Syra kommende Schiffe. Auch wenn kein direkter Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen zu bestehen scheint, zeigt sich deutlich, dass wissenschaftliche und politisch-wirtschaftliche Überlegungen in dieser Zeit parallel verliefen. Zum Wiener Dekret vgl.: Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1989, 43. Der Vortrag Bulards findet sich in den Akten der Gesellschaft der Ärzte (Hausarchiv, älteste Reihe, Faszikel 1) im Wiener Billrothhaus und wird auch bei Isidor Fischer erwähnt: Fischer, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1937, 1938, 45. 78 Ein weiterer Akteur dieser Zeit war der Kaufmann und Politiker Karl Ludwig von Bruck (1798–1860), der sich nach der aktiven Teilnahme an der griechischen Revolution in Triest niederließ und den österreichischen Lloyd mitbegründete. Bruck vertrat 1848 Triest in der Frankfurter Nationalversammlung; 1848–1851 war er Handelsminister. 79 Zu Dr. Franz Weber und der Veränderung der Quarantänepolitik auf administrativer Ebene siehe: Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1989, 45. 77

Die Verlegung der Pestfront ins Osmanische Reich

durch das Eingreifen der klimatisch-miasmatischen Bedingungen jenes Landes entsprechend verbessert; würde dem noch gesunden Einwohner Leben, Freiheit der Person und des Besitzes gesichert, und für ihn, wenn er erkrankt, nach den Postulaten einer humanen Regierung gesorgt; würde mit einem Worte in Ägypten eine Europäische Administration eingeführt, so wäre auch für dieses Land der Wunder die die eigentliche Pest nur ein bloss historisches Datum.“80

Weber verband die Reform der Seuchenabwehr mit den den Quarantänen widersprechenden Interessen von Handel und Industrie. Die alte Pest-Ordnung, auf der die strengen Regelungen aufbauten, sei längst überholt, denn die politischen und commerciellen Berührungen zwischen Europa und dem Oriente sind zahlreicher, andauernder und inniger. Wo frührer im Oriente einzelne Europäische Speculanten auf Momente verweilt hatten, haben jetzt ganze Corporationen und Gemeinden von Europäern andauernden Aufenthalt genommen; die privaten sowohl als die ämtlichen Mittheilungen aus dem Oriente mittelst der dort befindlichen zahlreichen Handelsleute, Reisenden, und mittelst der so bedeutend vermehrten und systemisirten öffentlichen Consulate sind jetzt häufiger, geregelter und in Folge der täglich steigenden Verbindung durch Dampfschiffe auf eine Art vervielfältiget, dass sie den ehe vor so einflussreichen Bann der Entfernung und des Zeitverlustes hinweggezaubert zu haben scheinen.81

Was Wirer und Knolz in ihrern Vorträgen vor der Gesellschaft betont hatten, war unübersehbar. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Pest aus dem westlichen Europa weitgehend verschwunden; vereinzelte Ausbrüche fanden am Balkan statt. An den europäischen Küsten des Mittelmeeres war das Quarantänesystem dagegen weiter ausgebaut worden. Es war keineswegs so, dass diese Widersprüche nur den medizinischen Experten bewusst waren. In seinen „Travels in Turkey“ beschrieb der britische Marineoffizier Adolphus Slade schon Anfang der 1830er-Jahre detailliert die diversen Inkonsistenzen der Quarantänefrage und verwies auch auf das Beispiel Österreichs, wo zwischen Landquarantäne und Seequarantäne große Unterschiede bestanden. Bei der Rückkehr aus Smyrna nach Genua hatte Slades Schiff eine 28-tägige Quarantäne zu unterlaufen. Slade war dabei noch froh, nicht länger in Smyrna festgehalten zu werden.82 Die Debatten, die europäische Ärzte über die Übertragbarkeit der Pest und der Cholera führten, und auch das dadurch beförderte, religiös untermauerte Orientbild, hatten in den Quarantänen am Mittelmeer ihre unmittelbarste Auswirkung. Empört schrieb Slade,

Franz Weber, Ansichten über das Zeitgemässe von Modificationen im gegenwärtigen See-Sanitäts und Contumaz-Systeme, mit Hinblick auf den Vorschlag des Dr. Bulard, in: Medicinische Jahrbücher des k. k. österr. Staates 34, 1841, 18–27; 161–172, hier: 24. 81 Ebd., 20. 82 Slade, Slade’s travels in Turkey, 1854, 540. 80

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dass der medizinische Fortschritt und die “überlegenen Gewohnheiten der Christenheit“, das Problem längst überwunden hätten: We were at the mercy of the fears of a set of men [quere old women], who knew nothing of the subject of contagion from experience, or from reading or from inquiry, who founded their reasons about it, and their sanatory regulations, on the freight and consequent laws occasioned by the great plague at Marseilles in 1720, without taking into consideration the immeasurable advance of medical science since, and the superior habits of the lower classes of christendom, which tend very much to diminish the spread of contagion. What was prudence in 1720 is imbecility in 1830.83

Während man sich über die Form der Übertragung und die ursprüngliche Entstehung der Krankheit unsicher war, blieb eine Option bestehen: die Verlegung der Pestfront in den Orient. Politische Debatten über eine Entlastung des Pestkordons an der Militärgrenze reichten bis in das Jahr 1802 zurück, etwa zu jener Zeit, als Pascal Joseph Ferro seine Ansichten über die Quarantäne veröffentlichte. Das Osmanische Reich sollte selbst seine Quarantänen ausbauen, dann könnte man die Schranken in Europa abbauen. Vorschläge für den Aufbau eines eigenen türkischen Quarantänewesens wurden bereits damals in Wien ausgearbeitet und auf diplomatischem Wege an das Osmanische Reich übergeben.84 Religiöse Zuschreibungen, wie sie bei dem oben angeführten Zitat von Slade anklingen, sind in dieser Zeit fixer Bestandteil des ärztlichen Denkstils. Basierend auf einem Werk des britischen Arztes Charles Maclean aus dem Jahr 1817 wird von Christian Promitzer angenommen, diese Maßnahmen seien von osmanischer Seite aus religiösen Gründen abgelehnt worden, und das dürfte tatsächlich der Wahrnehmung der Zeitgenossen entsprochen haben.85 Auf Basis osmanischer Quellen, die zuletzt von Birsen Bulmuş veröffentlicht wurden, erscheint es allerdings gerechtfertigt, von einem weiteren Kontext für die Ablehnung auszugehen: Religiöse Gründe könnten von gesellschaftlich einflussreichen Gruppen letztlich nur vorgeschoben worden sein, um sich gegen die von Selim III. angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen zu wehren.86

Slade, Slade’s travels in Turkey, 1854, 540. Vgl. Promitzer, Grenzen der Bewegungsfreiheit, 2012, 37. Maclean beschreibt, dass ein vom Wiener Hof eingerichtetes Kommittee Vorschläge auszuarbeiten hatte, die vom österreichischen Internuntius bei der Hohen Pforte, Baron Ignaz Stürmer Sultan Selim III., präsentiert wurden. 85 Promitzer bezieht sich hier auf eine zeitgenössische, europäische Quelle: Charles Macleans „Results of an investigation, respecting epidemic and pestilential diseases including researches in the Levant, concerning the Plague. London, 1817. Maclean war selbst sehr kritisch gegen die Quarantänen eingestellt und im Diskurs der Zeit verfangen. Vgl. ebd. 86 So soll der Chef der Marine-Hafenanlagen Osman bin Süleyman Penah die sich gemeinsam mit Ataulla Şanizade, einem wichtigen osmanischen Medizinalfunktionär, am Staatsstreich gegen Sultan Selim III. beteiligt haben. Vgl. Bulmuş, 2012, 102. 83 84

Die Verlegung der Pestfront ins Osmanische Reich

Die Frage, ob die Quarantänen tatsächlich dem islamischen Glauben widersprächen, war jedenfalls bereits im Bewusstsein der Zeit verankert. Ein Graf Harrach soll im Rahmen des Wiener Kongresses eine Denkschrift vorgelegt haben, in der für eine verstärkte Bemühung um universelle Quarantäneregelungen eingetreten wurde, berichtete Maclean 1817. In der Denkschrift Harrachs hieß es: « Les puissances chretiennes de leur coté preteroient naturellement la main à l’exécution du projét. Il y auroit d’autant plus lieu de se flatter du succés, que dans ce moment ce serai la voix et le voeu de l’Europe réunie qui se feroient entendre, et qu’il existent deja des examples, que la Quarantaine n’est pas si absolument contraire et etrangère aux Musulmanns qu’on a lieu de la craindre.» 87 Hier trafen erneut unterschiedliche Vorstellungen vom Verhalten einer Gesellschaft angesichts des Eintreffens einer Epidemie aufeinander. Harrach konnte die Zuschreibung, wonach „alle Muslime“ sich gegen Quarantäneeinrichtungen stellen würden, 1817 noch für zweifelhaft halten. Mit den zunehmenden Berichten der Ärzte, die das Bild eines fatalistischen Orients bemühten, wurde diese Position aber immer weniger haltbar. Die Pest hatte in Europa bereits im späten Mittelalter zur Institutionenbildung geführt; in Deutschland fiel das verstärkte Auftreten der Pest im 14. Jahrhundert mit der Einsetzung von Stadtärzten in vielen Städten zusammen; in Italien und Spanien wurden im 15. Jahrhundert Pestbehörden gebildet.88 Martin Dinges hat in einer Untersuchung des Verhältnisses von Pest und Staat darauf hingewiesen, dass von einer einheitlichen „europäischen“ Pestpolitik, die einem langfristigen historischen  Lernprozess folgt, keine Rede sein kann. Erfahrungen, die man in einem Teil Europas machte, mussten in einem anderen nicht zwangsläufig zu denselben Schlussfolgerungen führen. Während man in Südeuropa Kranke in bestimmten Phasen besonders häufig in Pestspitälern isolierte, blieben nördlich der Alpen Isolierungsmaßnahmen in Privathäusern weit üblicher.89 Gemeinsam war den europäischen Gesellschaften allerdings, dass staatliche Gemeinschaften oder Organisationen (oft Stadträte) die Pestfürsorge übernahmen. In islamischen Gesellschaften wurde die Sorge um die Pestopfer dagegen der privaten Initiative oder frommen Stiftungen überlassen; staatliche Maßnahmen beschränkten sich auf das Anordnen von Fastenzeiten oder gemeinschaftlicher Gebete.90 Die scheinbare Gleichgültigkeit der Muslime frappierte die europäischen Beobachter, die mit heftigster Aktivität, aber ohne erkennbaren Erfolg die Pest beforschten. Frust machte sich breit und man sprach dem Orient die Fähigkeit ab, einen Beitrag zum Kampf gegen die Pest zu leisten. Der k. k. Arzt Ernst August Burghardt sah als einer der ersten in der Bekämpfung der Pest eine Aufgabe der Medizin des Orients. Zitiert nach: Maclean, 1817, 450. Vgl. Dinges, Pest und Staat, 1995, 74. Ebd., 83. Die Tradition der Spenden, die in islamischen Gesellschaften besonders ausgeprägt ist, führte in einigen Gegenden des Osmanischen Reiches zu beachtlichen Erfolgen: So konnten die Versorgung von Pestopfern, Begräbnisse und ähnliche Obliegenheiten immer wieder aus solchen Einnahmen bezahlt werden. Kurz, Die Einführung von Quarantänemaßnahmen, 1999, 13.

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Die in den Krankenhäusern Konstantinopels angewandten Methoden seien jedoch unzulänglich, die zuständigen Personen noch dazu gegen von außen vorgebrachte Verbesserungsvorschläge abweisend. Als Begründung dafür zog Burghardt den bereits behandelten „Fatalismus“ heran. Dieser Fatalismus sei mit einer wissenschaftlichen Denkweise nicht vereinbar: Diese gewissenlose Gleichgültigkeit, und diese tadelhafte Apathie des Geistes über diesen so wichtigen Gegenstand, dehnt sich unausschließlich über alle Muselmänner aus, die laut Religionsgründen nicht begreifen können, wie es möglich wäre, durch Kunst und Heilmittel die Fata der Welt in ihrem Laufe zu hemmen oder zu verändern. Ein so unabwendbares Fatum ist ihnen auch die Pest, und der Gedanke Fatum würde schon die ersten Keime des Forschens ersticken, wenn auch wirklich ein Türke des Forschens fähig wäre. Wenig haben wir von diesen armseligen Fatalisten über diesen Gegenstand zu hoffen.91

Diese diskursive Grundananhme war prägend für das Verhältnis zwischen der europäischen Medizin und dem Orient in den folgenden Jahrzehnten. Die europäische Medizin musste, so der implizite Schluss, im Osmanischen Reich endlich Fuß fassen. Ludwig Frank schlug 1820 vor, Österreich und Russland sollten eine „ärztliche Pflanzschule“ im Orient errichten, an der junge Männer sich mit der Beobachtung und Behandlung der Pest befassen sollten, um ihre Kenntnisse später als Ärzte in ihrem Vaterland einsetzen zu können.92 Tatsächlich wurde Mitte der 1820er-Jahre eine Medizinische Schule in Ägypten errichtet, deren Leitung allerdings französische Ärzte übernahmen. In Ägypten begannen unter der Anleitung des Franzosen Antoine Clot Bemühungen zur Etablierung eines an europäischen Vorbildern orientierten Medizinalwesens. Etwa 150 Ärzte aus Europa wurden ins Land geholt, um medizinische Funktionen in der Armee zu übernehmen.93Auch in Konstantinopel wurde Ende der 1820er-Jahre eine neue Schule eröffnet, an der Medizin nach europäischem Muster unterrichtet werden sollte.94 Im Herbst 1837 war Erzherzog Johann nach Konstantinopel gereist. Es war der erste Besuch eines Mitglieds des österreichischen Kaiserhauses in Konstantinopel. Im Rahmen der Abschiedsaudienz beim Sultan hatte Johann der Bereitschaft Österreichs Ausdruck verliehen, Militärberater ins Osmanische Reich zu schicken und im Gegenzug junge osmanische Offiziere in Wien ausbilden zu lassen.95 Im Jänner 1838

Nachricht über die Behandlung der Pestkranken in den Pestspitälern zu Konstantinopel, in: Medicinische Jahrbücher des k. k. österr. Staates, 1817, 109–114, 114. 92 Frank, De Peste, Dysenteria et Ophthalmia aegyptiaca, 1820, 120–123. 93 Jean Michalla/Rembert Antonius Watermann, Ägypten, Gesundheitsdienst seit dem Feldzug Napoleons. Mit einem Beitrag zur Medizingeschichte in Kairo (P. Ghalioungui)/R. A. Watermann, Bd. 51: Kölner medizinhistorische Beiträge, Feuchtwangen 1989, 37. 94 Zur Schulgründung siehe unten sowie: Chahrour, ‚A civilizing mission’?, 2007. 95 Alois Kernbauer, Die österreichischen Ärzte in Istanbul (Stambul) und die Grossmachtdiplomatie, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften 10/1/2, 1990, 7–17, 91

Die Verlegung der Pestfront ins Osmanische Reich

entschloss sich die Hohe Pforte zur Einrichtung einer eigenen Quarantänebehörde, deren Aufbau – nach einem Intermezzo mit Bulard als Leiter, der sich jedoch an den administrativen Hürden aufrieb – dem österreichischen Quarantäneoffizier Franz Minas übertragen wurde.96 In den folgenden Monaten wurden weitere österreichische Ärzte ins Osmanische Reich berufen, die einige der wichtigsten Positionen im osmanischen Sanitäts- und Ausbildungswesen einnehmen sollten. Versuche, im Osmanischen Reich selbst einzugreifen, hatte es schon lange zuvor gegeben. Die Einflussnahmen europäischer Konsuln hatten im Osmanischen Reich schon im 18. Jahrhundert zu vereinzelten staatlich organisierten Maßnahmen gegen die Pest geführt. Meist handelte es sich um Isolierungsmaßnahmen an Küstenorten, die auf den kontagonistischen Ansichten der Zeit beruhten.97 Der erste, von Österreich aus kommende, Vorstoß zur Einrichtung von Quarantänen im Osmanischen Reich war 1803 gescheitert. In den 1830er-Jahren nahm das Osmanische Reich einen neuerlichen Anlauf zur Einführung von Quarantänemaßnahmen. Der Druck war diesmal jedoch unvergleichlich größer. Im Winter 1836/37 hatte die heftigste Pestepidemie seit 1812 die Stadt Konstantinopel heimgesucht, weit über 100.000 Bewohner der Stadt verstarben.98 Auch am Balkan wütete die Pest massiv; in jenen Provinzen des Reiches, in denen zu Abwehrmaßnahmen gegriffen wurde, wurden Militärkordons und Absperrmaßnahmen eingesetzt, wie sie auch in Europa genutzt wurden. Die beiden osmanischen Provinzen Moldau und Walachei errichteten in den 1830er-Jahren ihre eigenen Quarantänen und auch Serbien schuf seine eigene Quarantäneverwaltung. Als nun das Osmanische Reich Ende der 1830er-Jahre mit eigenen Quarantäneeinrichtungen auf den Plan trat, war man in Europa zunächst optimistisch, denn es war gelungen, den europäischen Einfluss auf diese Strukturen zu maximieren: Der Sanitätsconseil in Konstantinopel bestand aus drei osmanischen Beamten, drei europäischen Ärzten und sieben Vertretern von europäischen Gesandtschaften. In mehreren osmanischen Städten wurde die Einrichtung von Sanitätsanstalten beauftragt, die von europäischen Ärzten unter einem osmanischen Direktor geleitet wurden. Doch die Begeisterung hielt nicht lange an: Schon 1847 brachte die „Oesterreichische Medicinische Wochenschrift“ eine kritische Übersetzung eines Berichts aus dem Osmanischen Reich. Der ursprünglich positive Bericht eines französischen Arztes wurde hier negativ kommentiert: Die jüngst veröffentlichten Berichte würden Anlass dazu geben, hier noch viele Gebrechen zu vermuten.99 hier: 10. Etwas anders bei: Promitzer, Grenzen der Bewegungsfreiheit, 2012, der auf die Rolle Bulards genauer hinweist. 96 Neuere Arbeiten haben diese Einführung auch aus osmanischer Perspektive untersucht, so z. B.: Bulmuş, Plague, quarantines and geopolitics, 2012; sowie: Kurz, Die Einführung von Quarantänemaßnahmen, 1999. 97 Kurz, Die Einführung von Quarantänemaßnahmen, 1999, 13. 98 Ebd., 47. 99 Die Quarantainen der Türkei, in: Oesterreichische Medicinische Wochenschrift, 1537–1542; 1573–1576, 1576.

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Der Fokus richtete sich in diesen Jahren immer mehr auf die Eindämmung der Pest vor Ort: Wenn die Pest in Ägypten heimisch sei und von dort immer nach Europa überschwappen würde, wie wäre es dann möglich, die Krankheit zu besiegen? Der gebürtige Böhme Carl Lorinser in Berlin schlug in den 1830er-Jahren vor, die Pest in ihrem „Mutterland“ Ägypten abzusperren. Die europäischen Häfen sollten nur mehr jene Schiffe zulassen, die ein „sauberes Patent“ mitbrachten. Diese Patente waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelebte Praxis und von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der Quarantänen. Ankommende Schiffe hatten also amtliche Dokumente mitzuführen, die sich nach bestimmten, grundlegenden Indikatoren unterschieden: Wenn das Land, aus dem das Schiff kam, als pestfrei galt, so wurde die Qurantänezeit üblicherweise um die Dauer der Überfahrt reduziert und konnte so oft nur mehr kurze Zeit dauern. Schiffe, die aus verseuchten Gegenden kamen, hatten dagegen die volle Quarantäne zu unterlaufen. Ergänzend gab es je nach behördlichen Regelungen auch Abstufungen dazu. Zuständig dafür waren aber nicht türkische Behörden, sondern die europäischen Konsuln, die für die Ausstellung dieser Patente im Abfahrtshafen zuständig waren.100 Lorinser sah die Rolle der Konsuln kritisch: Die Konsuln hatten diesem Anspruch bisher nicht genügen können, denn die Aufgabe sei in der Türkei und in den Handelsstädten der Levante, „wo List und Trug und alle nur erdenkliche Ränke dem Eigennutz und der Gewinnsucht dienen würden“ ungemein schwer zu erfüllen. Abhilfe leisten könnten nur akademisch gebildete Ärzte, daher seien bei allen europäischen Konsulaten in der Levante Ärzte anzustellen, die den Gesundheitszustand des Landes zu beurteilen hätten.101 Diese Ärzte hätten, der Vorstellung einer ursprünglichen Entstehung der Pest in Ägypten entsprechend, den Einfluss des Klimas, der Witterung und der Lebensweise, der herrschenden Krankheiten und auch sonst alles, was zur medizinischen Topographie gehöre, zum Gegenstand ihrer Beobachtung zu machen und regelmäßig Berichte darüber an die vorgesetzte Behörde abzugeben. Auch hätten sie „unter den Eingebornen die Heilkunst zu üben“, um diesen Aufgaben besser zu entsprechen.102 Seit Ende der 1830er-Jahre geisterte die Idee der Einberufung eines ärztlichen Kongresses durch die europäischen medizinischen Publikationen. Bulard war nach Wien gekommen, um diese Idee zu propagieren, in den Folgejahren las man in Wien bei jeder Gelegenheit davon, wenn es um die Pest ging.103 In den Schlussfolgerungen zu

Zu den Patenten im österreichischen Kontext vgl. Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1989. Lorinser, Die Pest des Orients, 1837, 341. Ebd., 342. Zum Beispiel bei Sporer, Beiträge zur kritischen Beleuchtung des gegenwärtigen Standes der Loimologie, 1844, 283. Sporer nahm dabei für sich in Anspruch, diese Forderung „als erster“ bereits 1839 in einem Beitrag für das Journal des österreichischen Lloyds aufgestellt zu haben. Auch Carl Ludwig Sigmund rekurriert 1847 auf diese Idee und meint, sie sei schon von England, Frankreich und Österreich angenommen worden. Carl Sigmund, Zur Pest- und Quarantaine-Frage. Bemerkungen mit Beziehung auf die Schrift: „Beiträge zur Geschichte der orientalischen Pest“ von Dr. Max. Heine, St. Petersburg, 1846, in: Oesterrei100 101 102 103

Ärztliche Berichte aus dem Osmanischen Reich und Ägypten

Bulards Vorschlägen hatte man die Einberufung eines Kongresses begrüßt; allerdings seien vorher gründliche Forschungen anzustellen. Ziel solle es sein, die Quarantänemaßnahmen zu vereinfachen und schließlich alle Quarantäneanstalten aus Europa zu entfernen, um stattdessen zur „Absperrung des Geburtslandes der Pest“ überzugehen, hieß es 1844 in Wien. Jede einmal bis zur Grenzprovinz vorgedrungene Pest habe auch die Grenzen überschritten und sei erst „durch die inneren zweckmässigen Anstalten in unserem Lande“ in ihrer Kraft gelähmt worden.104 Ob dies auch im Orient so schnell realisierbar sein würde, blieb umstritten. Das Bild, dass „orientalische Verhältnisse“ für eine epidemische Krankheit eine wesentliche Voraussetzung bildeten, hatte sich verdichtet. Während ärztliche Erklärungsmodelle der europäischen Medizin uneinheitlich und hoch spekulativ blieben, an vielen Stellen nur in raffinierterer Form lange bekannte Erklärungsmodelle aufgriffen und sich kaum jener wissenschaftlich-rationalen Herangehensweise rühmen konnten, die ihre Verfasser für sich in Anspruch nahmen, wurde der „Medizinische Orient“ weiter verfestigt. 6.4

Die Vermessung des „Orients“: Ärztliche Berichte aus dem Osmanischen Reich und Ägypten

Zunächst stand die medizinische Vermessung des Orients auf der Agenda. Spezifischere Berichte aus dem Orient waren in diesen Jahren jedenfalls gesucht, denn es galt, den Orient für eine Durchdringung mit europäischen medizinischen Strukturen vorzubereiten. Die 1840er-Jahre waren die Zeit der staatlich organisierten Erkundungsreisen und der kommissionellen Beratungen zur Verbreitung der epidemischen Krankheiten Pest und Cholera. Frankreich hatte schon in den 1830er-Jahren eine erste Kommission zur Untersuchung der Ursachen der Pestentstehung gebildet. Der ägyptische Vizekönig Muhammad Ali hatte selbst eine Kommission aus Ärzten, die in Diensten der ägyptischen Armee stand, in die heilige Stadt Mekka geschickt, um dort zu untersuchen, ob die Pest von dort verbreitet wurde.105 Und auch die k. k. Monarchie entsandte bereits 1838/39 Ärzte nach Konstantinopel, um das dortige Quarantänewesen zu organisieren und die Medizinischen Schule der Stadt zu verändern. Die beiden von der Habsburgermonarchie zur Reform der medizinischen Einrichtungen ins Osmanische Reich entsandten Ärzte Lorenz Rigler (1815–1862) und Sigismund Spitzer (1813–1894) chische Medicinische Wochenschrift 37 ff, 1847, 1153–1162; 1185–1194; 1231–1238; 1267–1270; 1295–1302, hier: 1156. 104 Sporer, Beiträge zur kritischen Beleuchtung des gegenwärtigen Standes der Loimologie, 1844, 286. 105 Michalla/Watermann, Ägypten, Gesundheitsdienst seit dem Feldzug Napoleons, 1989, 58. Michalla spricht davon, dass die Kommission 1835/36 unter Beteiligung deutscher Ärzte wie Sebastian Fischer, Franz Pruner und den nicht näher bezeichneten „Gebrüdern Ikens“ nach Mekka geschickt wurde, um dort zu prüfen, ob die Pest tatsächlich durch die Pilger nach Ägypten gebracht werde.

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begannen in den 1840er-Jahren regelmäßig Berichte an die Wiener medizinischen Medien zu übersenden, die von ihrer Tätigkeit im Osmanischen Reich, aber auch von den verschiedenen Fragestellungen zeugten, mit denen sie sich auseinandersetzten. Der Franzose Bulard, der 1838 in Wien und anderen Städten gewesen war, um die Idee eines internationalen Kongresses zum Thema zu bewerben, erhielt von der russischen Regierung immerhin den Auftrag, in Ägypten vor Ort Untersuchungen zur Pest vorzunehmen.106 Wissenschaftliche Berichte von Ärzten vor Ort und die Haltung der akademischen Medizin zu seuchenpolitischen Fragen gingen in Wien Hand in Hand. Der Vizepräsident der Gesellschaft der Ärzte, Franz Wirer, hatte Ende der 1830er-Jahre in einem Vortrag aus Basis von Berichten aus Ägypten die bisherigen Erkenntnisse erwogen: Die Steigerung des Oxygen-Gehaltes der Luft und die Sommerhitze würden nach der Erfahrung des deutschen Arztes Iken107 das Pest-Kontagium milder machen, so Wirer; die Ansichten Ikens seien so wohlfundiert, dass sie allgemeine Beachtung verdienen würden. Wie Bulard würde auch Iken sagen, dass für Reisende 3–5 Tage Quarantäne ausreichen würden, dafür würde sich Iken aufgrund seiner Erfahrungen verbürgen: Es ist daher meine Ansicht, dass man jene Gegenden des türkischen Reiches, welche als Ursprungsstätten der Pest nachgewiesen werden durften, einer besonderen Aufmerksamkeit würdigen solle, damit in denselben die verfallene Kultur des Lebens gehoben, und die häufigen Bedingungen zu eintretenden Gährungs- und Putretzenz-Prozessen mit Entwicklung von Miasmen und Contagionen mehr und mehr vermindert und endlich ganz aufgehoben werden. Eine der vorzüglichsten Gegenden in dieser Beziehung ist nach reisenden Naturforschern im ägyptischen Delta der mareotischen See bey Alexandrien, welche nach Übeerschwemmungen des Nils als weit ausgebreitete Pfütze und Schlämme bis an das Meer sich erstreckt.108

Man solle Ärzte dorthin schicken, um sich die Sache näher anzusehen. Iken hatte in seinem Aufsatz ausdrücklich die österreichischen Quarantäneeinrichtungen an der

Vgl. dazu Kapitel 5.4. Zu diesem Arzt, der sich offenbar in Ägypten aufgehalten hat, fehlen genaue biographische Daten. In der Berliner Wochenschrift für die gesamte Heilkunde erschien 1837 ein Aufsatz, der von einem „Dr. A. Iken, Oberarzt beim Hospital Esbekieh in Groß-Cairo“ verfasst wurde und auf den sich Wirer offensichtlich bezieht. In der Einleitung gibt der Herausgeber Johann Ludwig Caspar einen Auszug aus einem Brief wieder, den er von dem Bruder dieses A. Iken erhalten hatte. Darin wird ein Teil der Karriere des A. Iken, der sich offenbar in ägyptischem Militärdienst befand, wiedergegeben. In der Sekundärliteratur, die sich zur Tätigkeit deutscher Ärzte in Ägypten auffinden lässt, ist mehrfach von den „Gebrüdern Iken“ die Rede, die ägyptischen Diensten gestanden seien. Vgl. Michalla/Watermann, Ägypten, Gesundheitsdienst seit dem Feldzug Napoleons, 1989, 37. Ebenda wird der Name Iken in Zusammenhang mit der Anwesenheit der deutschen Ärzte Pruner und Fischer genannt. Es scheint, dass es sich bei allen um Militärärzte handelte, die im Zuge der Medizinalreformen unter der Anleitung von Clot Bey ins Land gekommen waren. 108 Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte, 12. 106 107

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Grenze als Vorbild hervorgehoben.109 Ärzte reisten nun verstärkt in den Orient und publizierten ihre Ergebnisse, wenn auch mit verschiedenen Zielrichtungen, und auch die Berichte und Meinungen von medizinischen Laien fanden in die medizinische Forschung Eingang. Wirtschaftliche und politische Fragen traten dabei immer wieder in den Vordergrund. 1845 verbrachte der Triestiner Arzt und spätere Sektionschef im Finanzministerium Dr. Ferdinand Gobbi (1811–1889), einige Zeit im Osmanischen Reich, um sich dort mit den Quarantäneeinrichtungen vertraut zu machen; offenbar geschah die Reise im Auftrag des Präsidenten der Hofkammer, Baron Kübeck.110 Leitender Gedanke des Unternehmens war die bereits bei Grohmann diskutierte „Einschließung“ des Orients. Ergebnis dieser Bemühungen eines Arztes war jedoch keine wissenschaftliche Abarbeitung der Pestfrage, sondern ein Plan zur weiteren Verbesserung der Quarantäneeinrichtungen, die man im Osmanischen Reich in den bis dahin sieben Jahren seit ihrer Errichtung aufgebaut hatte. Gobbi hatte erkannt, dass mit wissenschaftlichen Erörterungen über die Übertragbarkeit der Pest trotz scheinbar klarer Ergebnisse wie jenen der russischen Kommission nichts zu gewinnen war. Am besten, so schien es Gobbi, wäre es die Frage überhaupt von aller wissenschaftlichen Diskussion fernzuhalten. Er lege dem Präsidum „einen Plan vor, dem keine wissenschaftlich zu erörternde Frage zur Grundlage dient, einen Vorschlag, worüber weder Facultäten noch Akademien zu vernehmen sind“, versprach Gobbi111 in der erst 1849 vorgelegten gedruckten Version seines Berichts. 109 A. Iken, Neueste Beobachtungen über die orientalische Pest und besonders den letzten verheerenden Ausbruch dieser Seuche in Aegypten im Jahre 1835, in: Wochenschrift für die gesamte Heilkunde 6/47, 1837, 745–759, hier: 754. 110 Ferdinand Gobbi (1811–1889) wurde in Triest geboren und studierte in Pavia. Er schloss sein Studium mit einer Dissertation „De benigno culture in Hominem physicum influxu“ ab. 1842 veröffentlichte Gobbi eine medizinisch-geographische Arbeit, die sich mit den Einflussfaktoren der Natur auf die Bevölkerung am Beispiel Belgiens auseinandersetzte und die er dem neu ernannten Präsidenten der Hofkammer, dem Baron Kübeck widmete. (Ferdinand Gobbi, Über die Abhängigkeit der physischen Populationskräfte von den einfachsten Grundstoffen der Natur mit specieller Anwendung auf die Bevölkerungs-Statistik von Belgien, Leipzig und Paris 1842) 1848 war Gobbi Abgeordneter zum Reichstag in Kremsier für den Bezirk Triest. In dieser Eigenschaft nahm er an einem Ausschuss teil, der über die Reform des österreichischen Staates beriet; der böhmische Abgeordnete Frantişek Palacký schlug vor, den Staat in acht Länder zu gliedern, die nach den ethnischen Mehrheiten gestaltet sein sollten; Gobbi gehörte zu jenen, die den Vorschlag ablehnten. (Vgl. Siegfried Haider, Nationale Frage und Vertreibung der Deutschen in der Tschechoslowakei. Fakten, Forschungen, Perspektiven aus dem Abstand von 50 Jahren, Linz 2000, 14f.) Nach der Revolution machte Gobbi Karriere im Finanzministerium, wo er auch in Pension ging. Eine in Leipzig in den 1870er-Jahren veröffentlichte Streitschrift bezeichnet Gobbi mehr oder weniger offen als „Korruptionisten“, der sich am Verkauf von Staatseigentum bereichert habe. Wilhelm Angerstein, Skizzen aus dem socialen Leben Oesterreichs, Leipzig 1871, 6. 111 Ferdinand Gobbi, Beiträge zur Entwicklung und Reform des Quarantainewesens. Nach eigener Anschauung, Wien 1849, 58. Die Herausgabe erfolgte nach Gobbis eigenem Bekunden deshalb, weil sich im selben Jahr eine neue Kommission, die von Carl Ludwig Sigmund betrieben worden war, in den Orient aufmachte. Gobbi mag Sorge gehabt haben, dass seine Vorschläge an die Hofkammer in Vergessenheit geraten könnten.

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Der Zustand der Quarantänen in der Türkei sei zwar grundsätzlich ein überaus befriedigender; gleichwohl könne man an eine Aufhebung der Quarantänen nur denken, wenn die Quarantänen der Türkei vor Missbrauch und „türkischer Willkür“ geschützt seien. Tatsächlich war die Pest sowohl im Osmanischen Reich als auch in Ägypten seit Einführung (bzw. im Falle Ägyptens: der Reform) der Quarantänen Ende der 1830erJahre nicht mehr aufgetreten. Dennoch könne man nicht von einer gänzlichen Eliminierung der Pest ausgehen, denn die „kosmischen und tellurischen Elemente“, die zu ihrer Erzeugung notwendig seien, könnten von einem Augenblicke zum anderen wieder wirksam werden.112 Daher sei es notwendig, die Quarantänen weiter auszubauen und der Leitung durch türkische Quarantänedirektoren zu entziehen, da diese von den meist europäischen Quarantäneärzten nicht angewiesen werden konnten, bestimmte Maßnahmen zu setzen. „Es lässt sich unmöglich in Abrede stellen, dass der höher gestellte türkische Beamte eine viel größere natürliche Sympathie für seine türkischen Beamten als für die im türkischen Solde stehenden Frankenärzte haben müsse“113, so Gobbi, daher säße der europäische Arzt auch dann auf dem kürzeren Ast, wenn die übergeordnete Behörde der Sanitätsintendanz in Konstantinopel sich auf seine Seite stelle; auf Dauer könne man mit seinem Quarantänedirektor nicht im Streit leben. Ob dieser Feststellung konkrete Fälle zugrunde lagen, lässt sich aus Gobbis Publikation nicht nachvollziehen. Es scheint jedoch klar, dass er zumindest mit einigen Protagonisten der Quarantäneverwaltung im Osmanischen Reich persönlichen Kontakt hatte. Die Vorstellung, dass im Orient generell Willkür und Chaos herrschten, war bereits fest im Diskurs der Zeit verankert. Man müsse die Einrichtungen daher „vor jeglichem Machtanspruche orientalischer Willkür“ bewahren, wenn man die europäischen Quarantänen dauerhaft einsparen wolle, denn „solange die europäischen Mächte in die levantinischen Quarantaine-Anstalten nicht größeres Vertrauen setzen wie in ihre eigenen, können sie ihnen auch die Beschützung der eigenen Staaten nicht übertragen, und somit die eigenen Quarantaine-Anstalten nicht aufheben“.114 Grundvoraussetzung sei die volle Selbstständigkeit der europäischen Ärzte und ihre Unabhängigkeit von allen osmanischen Anordnungen und die „vollkommene Abhängigkeit des türkischen Quarantainewesens von der Einflußnahme der europäischen Mächte“. Die europäischen Mächte sollten die Möglichkeit erhalten, die Wahl der Beamten nach eigenem Gutdünken zu lenken, die Erfüllung der Amtsaufgaben zu überwachen und die Einrichtungen vor der „Willkür türkischer oder ägyptischer Großer“ zu schützen. Die Kosten dafür habe man freilich selbst zu tragen, was sich nach der von Gobbi unter Zuhilfenahme verschiedener Handelsstatistiken für die europäischen Mächte und ihre Handelshäuser, die es letzten Endes zu finanzieren hätten, schnell rechnen Gobbi, Reform des Quarantainewesens, 1849, 6. Ebd., 11. „Franke“ ist hier ein Verweis auf den damals im osmanischen Sprachgebrauch üblichen Begriff für „Europäer“. 114 Ebd., 16. 112 113

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würde. Jedermann in Europa sei von dem Wunsch beseelt, dass der Handel von der drückenden Last befreit werde; die Quarantänen seien „für alle Staaten Europa’s eine Geissel des Handels, gegen die sie mit allen Waffen zu kämpfen haben“ und „sollen die Feind nicht tausend und tausend Meilen von seinem Herde, sondern an seinem Herde selbst unmittelbar angreifen […]“.115 Wenn es sich darum handeln würde, zu bestimmen, ob die Pest nun kontagiös sei oder nicht, so würde man in keinen fünfzig Jahren dazu kommen, die europäischen Mächte in dieser Sachfrage in Einklang zu bringen, denn jede Regierung würde ihre eigenen Fakultäten, ihre Akademien vernehmen und man würde aus lauter Gelehrsamkeit viele Jahre mit „unnützen Debatten“ verlieren. Um seinem, Gobbis, Vorschlag zu entsprechen, brauche es hingegen keine gelehrten Debatten, sondern nur die Besinnung auf den seit einem Jahrhundert befolgten Grundsatz, dass Quarantänen vor der Pest schützen.116 In Europa dagegen sollten die Quarantänen langfristig abgebaut werden. Eine Idee Bulards aufgreifend vertrat Gobbi die Ansicht, dass man bestimmte Punkte im Mittelmeer zu Quarantänezentren umfunktionieren könne – Bulard hatte Malta vorgeschlagen  – an denen alle pestverseuchten Waren umgeschlagen werden sollten. Das gelte auch für das Gelbe Fieber, gegen das die Quarantänen ohnehin nutzlos seien. Sollte man ihrer aber doch bedürfen, so könne man ja in Gibraltar einen eigenen Quarantänehafen für alle Schiffe aus Übersee einrichten. Neben Gobbi lobbyierte noch ein zweiter Arzt bei den Hofstellen für die Abschaffung der heimischen Quarantänen; wie Gobbi handelte es sich um einen Arzt, der aus den Grenzprovinzen der Monarchie stammte und die Probleme des Handels nur zu gut kannte. Der Militärarzt Carl Ludwig Sigmund (1810–1883), der in Siebenbürgen Ende der 1820er-Jahre selbst mehrere Pesteinbrüche miterlebt hatte und sich dort, nach eigenen Worten, eine Meinung gebildet hatte, „welche von der vielfach herrschenden mehrfach abwich“117, gilt heute aufgrund seiner venerologischen Arbeit als einer der großen Namen der zweiten Wiener Medizinischen Schule. Seinen ärztlichen Zeitgenossen trat er aber vor allem als Kritiker der Quarantäneeinrichtungen gegenüber. Charakterlich brachte Sigmund alle Eigenschaften mit, die für den Umgang mit den Quarantäneeinrichtungen und den zuständigen Verwaltungsbehörden notwendig waren, um zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der internationalen Sanitätspolitik für die Monarchie zu werden. Sigmunds Schüler Ernst Finger (1856–1939) bezeichnete seinen Lehrer und Mentor als Mann „von liebenswürdigen Umgangsformen, geistreich, witzig, schlagfertig, genial veranlagt und mit einem bewunderungswürdigen Gedächtnis ausgestattet“.118 Seit 1845 hatte Sigmund wiederholt Reformen des aus seiner Sicht in-

Gobbi, Reform des Quarantainewesens, 1849, 27. Ebd., 30. Carl Sigmund, Zur Pest- und Quarantänefrage. Denkschrift an die Quarantäneverwaltung, Wien 1845, 1. Heinz Flamm, Carl Ludwig Sigmund Ritter von Ilanor, der Begründer der Venerologie, ein früher Krankenhaus-Hygieniker und österreichischer Epidemiologe im Dienste der europäischen Volksgesund115 116 117 118

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effektiven und kostspieligen Systems gefordert. 1837 war in Österreich ein neues PestPolizeigesetz erlassen worden. Mit dem neuen Gesetz wollte man den Bedürfnissen der Zeit entgegenkommen, doch im wichtigsten Hafen der Monarchie blieb es nur wenige Jahre in Kraft. „Die erleuchteten Ansichten, die weise Benützung gebotener Mittel und die persönliche Energie eines ausgezeichneten Staatsmannes wussten in und für Triest, damit auch für die übrigen Küstenhäfen einen erspriesslichen Ausnahmezustand zu schaffen“, schrieb Sigmund 1850 mit Blick auf das Engagement des damaligen Gouverneurs des Küstenlandes, Graf Stadion, ohne ihn freilich beim Namen zu nennen. Just die Ausnahmen, die man für die Dampfschifffahrt in Triest nutzen wollte, waren es, die für Sigmund die Nutzlosigkeit des gesamten Systems bewiesen.119 1841 hatte die Hofkanzlei eine erste Quarantänereduktion vorgenommen, mehrere weitere Schritte in den Jahren bis 1847, bei denen immer wieder Nachjustierungen vorgenommen wurden, scheinen auf das Zusammenwirken von Franz Stadion, Kübeck und nicht zuletzt Metternich zurückzuführen gewesen sein.120 Die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Veränderungen lieferten Ärzte wie Gobbi und Sigmund. 1845, im selben Jahr wie Gobbi, übergab Sigmund eine Denkschrift an die für die Quarantäneverwaltung zuständige kaiserliche Hofkanzlei und die Hofkammer. Dabei forderte er womöglich noch mehr, als der Hofkanzlei lieb war. Das 1837 erneuerte Pest-Polizeigesetz, das im Wesentlichen die Grundsätze Chenots bestätigte, sei dringend zu reformieren, da es zu streng sei und die österreichischen Quarantänen überflüssig, da sie ebenso gut mit den in der Moldau, der Walachei und Serbien existierenden verschmolzen werden könnten. Darüber hinaus sei eine allgemeine Reform des Pest- und Quarantänewesens durch gründliches Studium an Ort und Stelle notwendig. Sigmund formulierte klar das Fernziel, das aus seiner Sicht für die Quarantänepolitik gelten sollte: „Ohne auf eine gänzliche Aufhebung der Quarantänen zu denken, hoffe ich, dass im Laufe der Zeit und in naturgemäßer Aufeinanderfolge der Ereignisse allmälig ein einfacher Quarantänering jenes Land umschließen wird, in welchem die Pest wirklich entsteht und heimisch ist.“121 Sigmund arbeitete konsequent daran, diese Forderung durch eine genaue Beobachtung der Verhältnisse im Osmanischen Reich zu untermauern. 1846 publizierte er Nachrichten, die er offenbar von dem in Bursa im Osmanischen Reich tätigen Arzt Christoph Ludwig Thirk erhalten hatte, in der „Oesterreichischen medicinischen Wochenschrift“.122 Sigmund war zu diesem Zeitpunkt bereits an der Wiener Universität verankert; im Unterschied zu Gobbi konnte er auf ein brei-

heit. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages im August 1810, in: Wiener klinische Wochenschrift 122/15, 2010, 494–507, hier: 496, doi: 10.1007/s00508-010-1411-4. 119 Carl Sigmund, Die Quarantäne-Reform. Bemerkungen, geschrieben nach einer Reise im Orient und Egypten, in: Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, 1850, 56–66, hier: 59. 120 Coons, Steamships and quarantines at Trieste, 1989, 48. 121 Vgl. Sigmund, Zur Pest- und Quarantänefrage, 1845, 20. 122 Thirk, Nachrichten über die orientalische Pest, 1846.

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tes akademisches Netzwerk zählen und sich in seinen Schriften auch auf ein breiteres Fachwissen stützen. Thirk, der Praktiker, der bereits einige Jahre im Osmanischen Reich tätig gewesen sein dürfte, legte in diesem Bericht in den 1840er-Jahren auch seine Ansichten zur Kontagiosität nieder. Die strengen, oft erratischen und willkürlichen Quarantänen waren dazu angetan, die Furcht vor der Pest noch zu erhöhen: Möchte doch die Überzeugung miasmatischer Verbreitung Raum gewinnen, es würde der aus der reinen Annahme der Contagiosität hervorgebrachte furchtbare Egoismus und dessen Folgen verschwinden. Die dadurch bedingte Hintansetzung der heiligsten Bande der Freundschaft, Blutsverwandtschaft und Menschenliebe, wodurch die befallenen unglücklichen Individuen ihrem traurigen Schicksale preis gegeben werden, der damit verbundene, erwiesener Massen oft momentan die Krankheit hervorrufende panische Schrecken bei der Umgebung, berechtigen diese, aus der beschränkten Auffassung einzelner Krankheitsfälle mit Hintansetzung der wichtigen Totalität der Epidemie hervorgegangene Meinung anzukämpfen und die Überzeugung auszusprechen, dass die Zeit nicht mehr ferne sein kann, wo der menschenfreundliche, seines hehren Berufs eingedenke Arzt bei dem Besuche eines Pestkranken, mit Rücksichtnahme auf die von demselben entwickelten, durch die Athmungswerkzeuge assimilirbaren Effluvien, eben so wenig Arges denken wird, als diess heut zu Tage von diesem, bei dem, Europa nicht wenige Opfer kostenden, Typhus geschieht.123

Die Angst sei es, die die Pest hervorrufen könne; die Kontagiosität schädlich, denn sie lasse Verwandte und Freunde unversorgt zurück – ohne den „Fatalismus“ anzusprechen, den viele europäische Ärzte im Umgang mit der Pest im Orient konstatierten, zeigt sich hier ein anderer Aspekt der Hinwendung zu einem weniger strengen Kontagonismus. Entsprechend zog Thirk seinen Schluss: Die Pest sei eine endemisch sich entwickelnde Krankheit, der ein spezifisches Miasma zugrunde läge und die ihren Sitz im Blut habe. Die zeitweise größere Ausbreitung der Krankheit sei durch „unbekannte athmosphärische Verhältnisse“ bedingt, sie sei nicht kontagiös nach der Bedeutung des Wortes, sondern durch „concentriertes Miasma ansteckend“. Die Invasion der Krankheit sei durch Reinlichkeit, mäßige Lebensordnung, am besten aber durch Mangel an Furcht zu vermeiden.124 Thirks Einschätzungen dienten Sigmund für seine eigene Argumentation. Angesichts der Berichte Thirks und seiner eigenen Erfahrungen hielt Sigmund in seinen im Anschluss an Thirks Bericht publizierten Schlussbemerkungen fest:

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Thirk, Nachrichten über die Orientalische Pest, 1846, 818–819. Ebd., 890.

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Wir in unseren schon gewohnten civilisirten Verhältnissen, würden dennoch nur sofort an die Beseitigung jener Momente denken, welche an Ort und Stelle, als die Entstehung und Verbreitung der Krankheit begünstigend, unzweifelhaft vor uns liegen, und durch eine energische Durchführung passender hygienischer Maßregeln grösstentheils beseitigt werden können. Aber wir vergessen, dass die staatliche Entwicklung im Oriente auf der niedrigsten Stufe steht, dass dort die socialen und religiösen Beziehungen ganz andere sind, wir wissen zu wenig von dem zügel- und schrankenlosen Treiben, dem daselbst die scheinbar strengsten neuesten Gesetze paralytisch verfallen, und endlich müssen wir auch zugeben, dass bei dem besten Willen und der energischsten Durchführung hygienischer Massregeln, die Ursachen endemischer, noch weniger aber jene epidemischer Krankheiten menschlichen Fügungen unterliegen.125

Das „zügel- und schrankenlose Treiben“ des Orients, den Sigmund zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, ließ ihn auch daran zweifeln, dass es sinnvoll wäre, die Quarantäneeinrichtungen des Osmanischen Reiches zu nutzen; es stehe nicht zu erwarten, „dass die Barbaren  – Türken et Consorten  – gegenwärtig schon den staatsarzneilichen Principien des civilisirten Europa’s Gehör geben und – was die Hauptsache ist – zugleich Gehorsam zu schaffen wissen“.126 Zumindest noch nicht, solange es keine radikale Reform im Geist der Zeit gebe. Sigmund ging in seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Quarantänen von handelspolitischen Überlegungen aus und setzte dabei orientalistische Stereotype ein, die sich aus seinen Kenntnissen der Literatur ergaben. Österreich hatte einige Erleichterungen für Schiffe aus dem Osmanischen Reich und Ägypten in Kraft gesetzt, die jedoch nur in pestfreien Zeiten gelten konnten. Sollte es zu einem neuen Pestausbruch kommen und die ankommenden Schiffe tatsächlich den verschärften Quarantäneregelungen unterworfen werden, wären all diese Erleichterungen umsonst.  1847 zerpflückte Sigmund das bereits erwähnte in St. Petersburg erschienene Werk des in Russland tätigen deutschen Arztes Maximilian Heine in einer über mehrere Ausgaben der „Oesterreichischen Medicinischen Wochenschrift“ reichenden, auf den vorderen Seiten des Blattes platzierten Rezension – wie überhaupt Sigmunds Beiträge und vieles zu Pest und Cholera meist prominent zu finden ist.127

Thirk, Nachrichten über die Orientalische Pest, 1846, 920. Ebd., 921. Sigmund, Zur Pest- und Quarantaine-Frage, 1847. Sigmund bezieht sich in diesem Artikel auch auf ein in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlichtes Sendschreiben Heines an den Kontagonisten Simon. Der Allgemeinen Zeitung kam in dieser Zeit auch eine Rolle als durchaus in wissenschaftlichen Publikationen wahrgenommenes Organ der Beschäftigung mit allen Aspekten der osmanischen Politik zu. Zur Allgemeinen Zeitung und dem in ihr geführten Diskurs über das Osmanische Reich vgl. die faktenreiche Arbeit von Schwarz, Despoten – Barbaren – Wirtschaftspartner, 2016. 125 126 127

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Das Jahr 1848 brachte sowohl für Sigmund als auch für Gobbi die Möglichkeit, ihre Ansichten noch weiter zu verbreiten.128 In den stürmischen Tagen des Herbsts 1848 veröffentlichte der Quarantänegegner Sigmund erneut eine Artikelserie „Zur Pest- und Quarantaine-Frage“ in der „Oesterreichischen Medicinischen Wochenschrift“, in der er die den Handel hemmenden Quarantänen vehement angriff und stattdessen eine aktive Einmischung in die Sanitätsverhältnisse des Osmanischen Reiches forderte. „[…] der täglich schwunghafte betriebene Verkehr mit den Dampfbooten, die immer weiter gegen Osten sich vorstreckenden Eisenbahnen fordern hierin ein neues System, soll deren Betrieb nicht an der Österreichischen Gränze ersterben. Und dieser Betrieb hat nicht bloss unsere materiellen Interessen: Industrie und Handel zum Zielpunkte: Nein, ich wiederhole es, unsere Aufgabe ist die Sittigung, die Humanisierung der schlummernden Volksstämme des Ostens; doch diese höhere, weltgeschichtliche Aufgabe ist bisher erstorben – an den Quarantänen Österreichs.“129

Vier Jahre nach Gobbi begab sich auch Sigmund auf eine Reise in den Orient. Während Gobbi aber alleine und eher als Außenseiter des wissenschaftlichen Establishments ins Osmanische Reich gereist war, wurde 1849 eine Kommission gebildet, in deren Zentrum mit Sigmund ein noch vergleichsweise junger, aber bereits prononcierter Kenner der Quarantäneproblematik stand.130 Die Vorarbeiten dazu hatte Sigmund schon vor der Revolution 1848 geleistet, die Genehmigung war noch durch Metternich eingeleitet worden, doch die Reise kam zunächst nicht zustande. 1849 war die Lage dann unerwartet günstig geworden. Der vormalige Triestiner Statthalter Franz Graf Stadion war nach Wien berufen worden, um als Innen- und Bildungsminister zu wirken.131 In jener kurzen Periode seiner Ministerschaft ging die k. k. Kommission nach dem Osmanischen Reich ab. Sigmund gehörte der Kommission gemeinsam mit dem Professor für Staatsarzneykunde, Anton Dlauhy (1807–1880), und dem Regimentsarzt Gerhard von Breuning (1813–1892) an. Gemeinsam mit Dlauhy gilt Sigmund heute als Angehöriger der jungen Generation von Ärzten, die später vielfach als „zweite Wiener Medizinische Schule“ bezeichnet worden ist und zu deren bedeutendsten Vertretern Karl Rokitansky und Joseph Skoda gehörten. Sigmund selbst war gemeinsam mit Ferdinand Hebra der bedeutendste Spezialist für Dermatologie und Venerologie. Sigmund hatte sich 1844 in Chirurgie habilitiert, sein Interesse galt jedoch den venerischen Krankheiten, allen voran der Volksseuche Syphilis, die er durch Aufklärung und durch „Mobilisierung des 128 Promitzer, Quarantines and Geoepidemiology, 2018, 43, der auch einen guten Überblick über die verschiedenen Publikationen der beiden gibt. 129 Vgl. Carl Sigmund, Zur Pest- und Quarantaine-Frage, in: Österreichische Medizinische Wochenschrift 43, 1848, 1348. 130 Zu Sigmunds Publikationen bis zu diesem Zeitpunkt siehe: Flamm, Carl Ludwig Sigmund Ritter, 2010. 131 Stadions Unterstützung der Kommission erwähnt: Holubar, Carl Ludwig Sigmund, 1993, 39, der allerdings Stadions Vorgeschichte als Statthalter des Küstenlandes übergeht.

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Staates“ mit allen zur Verfügung stehenden gesetzlichen und administrativen Mitteln bekämpfen wollte.132 Während sich Dlauhy (obwohl eigentlich „fachzuständig“) in Seuchenfragen auch in den folgenden Jahren eher zurückhielt, trat Sigmund voll in die Rolle des führenden Experten der Monarchie ein: Er vertrat den Kaiserstaat bei mehreren der seit 1851 immer wieder stattfindenden internationalen Sanitätskonferenzen und reiste noch 1872 nach Italien, um dort die noch immer bestehenden Seequarantänen zu besichtigen. Die Reise von Sigmund, Dlauhy und Breuning ins Osmanische Reich dauerte knapp ein halbes Jahr; die Ergebnisse wurden 1850 sowohl in der Zeitschrift der Gesellschaft der Ärzte133 als auch in Buchform publiziert.134 Sigmunds Ziel war es nicht, die Kontagiosität der Pest zu widerlegen; dass es aussichtslos war, sich in dieser Frage in einem Maße durchzusetzen, die es dem Staat erlauben würde, tatsächlich Quarantänen aufzuheben, mag ihm klar gewesen sein, auch wenn er auf eine nochmalige Diskussion der „Pestfrage“ in wissenschaftlicher Hinsicht gedrängt hatte.135 Die Reise zielte vielmehr darauf ab, zu zeigen, dass die bereits errichteten Quarantänen der Donaufürstentümer Walachei, Moldau und Serbien durchaus in der Lage waren, Österreich vor dem Einbruch einer Seuche aus dem Orient zu schützen. Die wissenschaftliche Grundannahme, dass die Pest aus Ägypten komme, hatte sich in der Monarchie also bereits so weit durchgesetzt, dass man einen Einbruch aus Serbien oder den Donaufürstentümern nicht mehr fürchtete. Gebetsmühlenartig wiederholte Sigmund die bedeutende Position, die gerade Österreich in dieser Frage zukäme. „Ich wünsche recht sehr, dass unser Vaterland, welches die Initiative der Reform vor Allen zu ergreifen verpflichtet ist, ja hierin ganz allein, ohne kleinliche Rücksichten vorgehen kann, nicht von andern mit ihm in den orientalischen Ländern so emsig und nachdrücklich concur-

132 Lesky, Die Wiener Medizinische Schule, 1965, 161. Lesky, die sich selbst mit der Geschichte des Sanitätskordons an der Militärgrenze beschäftigt hat, sieht in Sigmund den natürlichen Gegner der „Schreibtisch-Epidemiologen des Hofkriegsrates“ (S. 290), weil er als Praktiker sehr wohl die Probleme der Umsetzung der Pest-Polizeyordnung von 1837 erkannt habe. 133 Carl Sigmund, Die Quarantäne-Reform. Bemerkungen, geschrieben nach einer Reise im Orient und Egypten, in: Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, 6, 1850, 56–66; 88–107; 165–178; 219–224; 259–274; 341–362; 517–520; 523–532; 590–632. 134 Carl Sigmund, Die Quarantäne-Reform und die Pestfrage. Beobachtungen und Anträge, geschrieben nach einer, im Auftrage der k. k. österreichischen Staatsverwaltung unternommenen, Bereisung der Donauländer, des Orients und Egyptens, Wien 1850. Darüber hinaus gibt es auch noch archivalische Belege zur Reise im Wiener Kriegsarchiv (genaue Zitate bei Holubar, Carl Ludwig Sigmund in der Türkei, 1993) und einen Teil des Reisetagebuchs im Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin in Wien. Eine genauere Schilderung dieser Reise und vor allem eine Auswertung der vielen Nebensaspekte, die Sigmunds Berichte enthalten, war für diese Arbeit leider nicht möglich, wäre jedoch im Sinne eines vertieften Verständnisses der Zeit und ihres Denkstils wünschenswert. 135 Carl Sigmund, Zur Pest- und Quarantaine-Frage, in: Oesterreichische Medicinische Wochenschrift, 41, 1848, 1281–1290, hier: 1282.

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rirenden Mächten überholt werde“, vermerkte Sigmund in der Vorrede zur Buchausgabe seines Reiseberichts.136 Die Rolle, die die Wissenschaft hier einzunehmen hatte, beschrieb Sigmund nach der Rückkehr von seiner Reise 1850. In der Frage der Quarantänen sei die Stimme der Wissenschaft und der Humanität weit weniger mächtig als die des Verkehrs und Handels. Hauptsächlich aufgrund der „Beirrungen des Handels und Verkehrs“ seien die wissenschaftlichen  Gründe in der neuesten Zeit überhaupt gewürdigt worden. Die Konkurrenz der europäischen Staaten sei es, die die Wegräumung aller grundlosen Hindernisse fordere.137 Die Quarantänen, von denen in den 1830er-Jahren noch gleichsam als Selbstverständlichkeit moderner Zivilisation gesprochen worden war, waren bei Sigmund Inbegriff der Rückständigkeit. Nachdem man die Quarantänen in den „europäischen Marken“ niederzukämpfen versucht habe, würden sie nun „in den levantinischen Provinzen hydraähnlich als alternde Missgeburt der Civilisation des Abendlandes auf den morgenländischen Boden übertragen, um daselbst neu belebt und üppig fortzuwuchern.“138 In Österreich hatte sich ein Gegensatz de unterschiedlichen Fronten im Pestkrieg aufgetan. Die Anordnungen der zentralen Behörden im Kampf gegen die Pest zu Wasser und zu Lande widersprachen sich in der Wahrnehmung von Zeitgenossen wie Sigmund zunehmend.139 Lösbar war das Problem jedoch nur, wenn möglichst alle europäischen Staaten dieselben Maßnahmen ergriffen, denn wie Sigmund nicht müde wurde in fast all seinen Publikationen zu betonen: Österreich würde an seinen Straßen und Kanälen, seinen Eisenbahnen und Dampfschiffen „die eigenen theuersten Staaten seiner Völker selbst ersticken oder mindestens verkümmern sehen“, wenn das Pest-Polizeigesetz im Ernstfall in Kraft treten würde. Alle Erleichterungen, über die man nachdenken müsse, würden aber nur dann ihren dauernden Wert bekommen, wenn ihre Anwendung auch für den Fall des wirklichen Pestausbruches gesetzlich gesichert sei und auch alle mit dem „Oriente verkehrenden Nationen“ diese annehmen würden.140 Maßnahmen an der österreichischen „Pestfront“ blieben zunächst aus; 1851 berief die französische Regierung allerdings die seit den 1830er-Jahren ventilierte internationale Sanitätskonferenz ein, um über gemeinsame Maßnahmen der europäischen Staaten zu beraten. Zentraler Diskussionsgegenstand waren die Cholera und die Frage, ob man gegen die Cholera Quarantänen einrichten sollte oder nicht. Der österreichische Delegierte Wilhelm Menis (*1793)141 enthielt sich der Stimme mit der Begründung, er sei von der Regierung nur dazu berechtigt worden, über Pest und Gelbes Fieber Sigmund, Die Quarantäne-Reform und die Pestfrage, 1850, IX. Vgl. Sigmund, Die Quarantäne-Reform. Bemerkungen, 1850, 56f. Ebd., 56. Ebd., 60. Sigmund, Die Quarantäne-Reform, 1850, 1259. Wilhelm Menis war nach einer kurzen Verwendung als Militärarzt ab 1816 in Dalmatien zunächst als „Gemeindearzt“ von Ossero und dann als Kreisphysikus von Ragusa tätig. 1827 wurde er nach Brescia versetzt, um 1837 schließlich zum Protomedicus für ganz Dalmatien ernannt zu werden. 136 137 138 139 140 141

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zu sprechen.142 Dennoch scheint Menis zu jenen gehört zu haben, die sich im Geiste der Ergebnisse Sigmunds besonders kritisch zu den Quarantänen äußerten. Menis sah in der Cholera eine Strafe Gottes und einen moralischen Auftrag zur Besserung der Menschheit.143 Quarantänen gegen die Cholera wären nicht nur nutzlos, sondern im Gegenteil „schädlich für die Zivilisation“. Sigmunds anti-quarantänistische Ansichten waren damit mitten in der Sanitätspolitik der Monarchie angekommen.144 Nun ging es um Informationen, die von Wissenschaft und Politik als verlässlich gewertet werden konnten. Sowohl Sigmund als auch Gobbi und Weber befürworteten den Ausbau eines „gesundheitlichen Nachrichtendienstes“, der regelmäßige Informationen über den Gesundheitszustand im Osmanischen Reich nach Europa liefern sollte. Frankreich trat als erste Großmacht mit einem entsprechenden Plan an die Öffentlichkeit. Lorenz Rigler berichtet darüber 1849 in der Zeitschrift der Gesellschaft der Ärzte: Die französische Regierung und später die Republik beabsichtigt durch die Sendung von sechs Ärzten in den Orient, welche in Constantinopel, Smyrna, Beiruth, Cairo, Alexandrien und Tripolis postirt wurden, eine genaue Einsicht in die pathologischen Besonderheiten der Krankheilen des Orientes zu gewinnen, daran den Zweck knüpfend, das Quarantaine-Wesen beobachten zu lassen, um auf die vereinten Berichte ihrer Missionäre früher oder später in Frankreich entsprechende Modificationen vornehmen zu können. Im Hinblicke auf diese wissenschaftliche Unternehmung muss sich mit Recht der Deutsche fragen: warum stellt man den Franzosen nicht Deutsche an die Seite, um seiner Zeit ihre Berichte zu controlliren und hierdurch den Werth der Resultate noch zu erhöhen.145

Überhaupt sah Rigler sich in der Frage, wer denn nun die Zivilisation zu bringen habe, klar auf der richtigen Seite, zumal „das medizinische Element im osmanischen Reich ein vorherrschend deutsches sei.“146 Auch der politisch-nationale Gegensatz zwischen Deutschen und Franzosen war in der Debatte um medizinische Fragen im Osmanischen Reich angekommen.

142 Howard-Jones, The scientific background of the International Sanitary Conferences, 1975, 13. Eine diskursive Auseinandersetzung mit den Diskussionen dieser und der folgenden Konferenzen bietet: Irene Poczka, Die Regierung der Gesundheit. Fragmente einer Genealogie liberaler Gouvernementalität, Bd. 37: Edition Politik, Bielefeld 2017. 143 Howard-Jones, The scientific background of the International Sanitary Conferences, 1975, 15 144 Es gehört zu den klassischen Allgemeinplätzen der bis heute von Erwin Ackerknechts Aufsatz: Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, 1948 beeinflussten Literatur über die internationale Sanitätspolitik, dass autoritäre Staaten einem streng kontagonistischen System zuneigen würden, während eher liberale Staaten eine anti-kontagonistische Politik verfolgten (vgl. z. B. Baldwin, Contagion and the state in Europe, 2005, 12). Im Hinblick auf das vormärzliche Österreich mit seiner grundsätzlich konservativ-absolutistischen Politik ist diese Ansicht wie oben gezeigt wurde nicht haltbar. 145 Vgl. Lorenz Rigler, Die Cholera-Epidemie des Jahres 1847/48 in Konstantinopel, in: Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, 5/1, 1849, 305–328, hier: 316. 146 Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, IX.

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Die Diskussion dieser Maßnahmen in medizinischen Kreisen dauerte weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein an. Die im Zusammenhang mit der Pest immer wieder geäußerten Forderungen nach direkter Einflussnahme waren medizinisch begründet und klar artikuliert. 1856 schrieb der Arzt Georg Matthias Sporer aus der Perspektive der südlichen Provinzen der Monarchie: In jedem wichtigen Handelshafen der Levante solle ein Konsulat und bei jedem Konsulat ein Mediziner beschäftigt werden, der die sanitären Verhältnisse der jeweiligen Gegend beobachten sollte. Da die Ausbreitung der Krankheit – gemeint ist die Pest – zu Beginn meist ohnehin zunächst langsam vor sich gehe, würde so genug Zeit bestehen, von dort Europa vorzuwarnen. Die Tätigkeit der Ärzte selbst wurde aber nicht nur auf das Beobachten beschränkt. Als Aufgaben der Ärzte nannte er die „Beaufsichtigung des allgemeinen Gesundheitszustandes und Durchführung medicinischer und sanitätspolizeilicher Maßnahmen“.147 Bei Feststellung einer relevanten Krankheit („Erscheinen des Verdachts der Entwicklung einer contagiösen oder miasmatischen Ausbreitung“) durch eine ad hoc zu bildende entsprechende ärztliche Kommission sei „jede Kommunikation mit dem, dem Consulate beigemessenen Gebiete, bezüglich auf Abfahrt und Export, mit aller Strenge zu behindern, bei den zunächst gelegenenen Consulaten aber nur gegen die vorgeschriebenen Reserven und Reinigungs-Maßnahmen zu zulassen“.148 Wie und durch welche Organe diese hoheitlichen Maßnahmen zu vollziehen wären, führte Sporer nicht weiter aus. Lapidar verwies er darauf, dass die Umsetzung der Maßnahmen „kein ernstes Bedenken geben könne“, da die Vorteile der Pforte in Bezug auf den Export-Handel und für die Sicherstellung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung überwögen.149 Der Gedanke der wirtschaftlichen Dominanz war schon lange davor gedacht worden. 1811, wenige Jahre nach der gescheiterten Expedition Napoleons hatte Ludwig Frank, Neffe Johann Peter Franks, in seiner „Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts“ über Ägypten geschrieben, dass „es nicht unmöglich wäre, dass dieses Land zu einer andern Zeit wieder eine Kolonie werden könnte, wie es solche zur Zeit der Perser, der Griechen und Römer war, so hat es mir nicht überflüssig erschienen, mehrere Beobachtungen, welche ich dort gesammelt habe, aufzubewahren.“150 Für den (mittlerweile ehemaligen) Protomedicus des Küstenlandes Sporer blieb die Pest auch Mitte der 1850er-Jahre ein Leibthema. Die noch immer bestehenden Quarantäneanstalten waren ihm ein Dorn im Auge. In seiner 1856 veröffentlichten Schrift „Über die Aufhebung der Sanitätsreserven und Contumaz-Anstalten“ sprach sich Sporer nochmals klar für die Abschaffung der in der Habsburgermonarchie praktizierten Quarantänemaßnahmen aus. Die Frage der Aufrechterhaltung der Quarantänen

147 Georg Matthias Sporer, Über die Aufhebung der Sanitätsreserven und Contumaz-Anstalten, Fiume 1856, 12. 148 Ebd., 13. 149 Ebd. 150 Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, VIII.

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nahm er als wissenschaftliche Glaubensfrage wahr: So lobte Sporer die Bemühungen der Regierung, die die Quarantänezeiten trotz der „stets starren Behauptungen der Ultra-Contagonisten“ bereits reduziert habe.151 Als „Mutterland der Pest“ bezeichnete Sporer weiterhin das Nildelta, wo sie als sporadische, nur einzelne Individuen befallende Krankheit quasi permanent herrsche und von wo sie „immer nur von dort zuerst in andere Weltgegenden geschleudert wurde“.152 Sporers Schrift ist geprägt durch persönliche Erfahrungen im k. k. Küstenland; einen Hinweis auf eine intensivere Reisetätigkeit gibt es nicht. Ausgehend von der offenkundigen Sinnlosigkeit der bestehenden Quarantäneregelungen führte er die Widersprüche einzelner Ansteckungstheorien und bestimmter Maßnahmen ins Treffen. Die für den österreichischen Lloyd geschaffene Regelung, wonach Passagiere von Dampfschiffen nur geringeren Quarantänen, während Passagiere von Segelschiffen weit längeren Zeiten unterlagen, kritisierte er als „nicht einzusehen“.153 Die Methoden zur Reinigung der allgemein als gefährlich eingestuften Waren hielt er für zu wenig evident und betonte die mangelnde Wissenschaftlichkeit, indem er auf das Fehlen von positiven chemischen oder physischen Nachweisen der bisher praktizierten Methoden verwies. Er selbst sprach sich für eine Hitzebehandlung von Waren mit 50 Grad Reaumur aus, dies sei durch die „im Mutterlande der Pest selbst gepflogenen Nachforschungen“ hinreichend belegt.154 Die Pest befand sich zu dieser Zeit bereits auf dem Rückzug. Dass die Bedrohung durch die Pest abgenommen hatte, war unübersehbar; entsprechend der Vorstellung von der Bedeutung der sozialen Verhältnisse in Ägypten mussten es auch die Veränderungen in Ägypten sein, die die Begründung für die geringere Bedrohung lieferten, die die Pest nunmehr darstellte. Wie 70 Jahre zuvor Ferro stellte auch Sporer einen Zusammenhang zwischen der politischen und sozialen Lage und der Krankheitsentstehung her: An der Wiege der orientalischen Pest in Egypten hat der Zahn der Zeit gewaltig genagt. Nicht blos die politischen und socialen, sondern auch die sanitätspolizeilichen Verhältnisse haben, besonders in den letzten zwei Decennien, grossartige Umstaltungen hervor-

Sporer, Über die Aufhebung der Sanitätsreserven und Contumaz-Anstalten, 1856, 7. Ebd, 8. Ebd., 9. Ebd., 10. Sporer bezieht sich dabei auf die Versuche, die von einer aus Russland entsandten Kommission Anfang der 1840er-Jahre in Ägypten gemacht wurden. Die Kommission hatte Versuche zur Reinigung vermeintlich pestverseuchter Gegenstände durch Erhitzen unternommen. N. N., Bericht über die Versuche, 1845. Der Bericht ist im Institut für Geschichte der Medizin in Wien vorhanden (Sig. 51.877). Sporer stützt sich in seiner Arbeit auf die Schriften von Clot Bey, Bulard und Grohmann und führt einige Argumente ins Treffen, warum die bestehenden Ansichten über die Ansteckung bestimmter Krankheiten falsch seien. So hätten die führenden Beobachter der Pest, unter ihnen Grohmann, die Dauer der Inkubationszeit („Brütezeit“) der Pest in den vergangenen Jahren bedeutend nach unten reduziert, auch seien die Einschleppungswege zum Beispiel des „Gelben Fiebers“ nicht bewiesen. 151 152 153 154

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gerufen. Die gigantische Sclaverei und Armuth hat doch schon mehr menschliche Formen angenommen, das Land hat bezüglich auf Cultur und Industrie die ersten Stufen zum gedeihlichen Fortschritte betreten.155

Konkrete Maßnahmen brachte er in Zusammenhang mit seinen ätiologischen Vorstellungen und er verband die Pest mit einem Symbol altägyptischer Kultur, der Sphinx: […] theilweise Kanalbauten verminderten die Gährungs- und Fäulnissprocesse, die Leichen werden nicht mehr in den Höhlen aufgehäuft, um durch ihre freie Verwesung die Luft zu verpesten, die eingerichteten Sanitätsaufsichten lähmten die Flügel der raschen Contagien-Verbreitung, mit einem Worte: Die Sphynx der Pest, welche durch den Conflict all dieser Einflüsse bei besonderen athmosphärischen Verhältnissen entstand, ist durch Edipos’ Spruch ‚durch den menschlichen Geist‘ wenn auch nicht noch ganz vernichtet, so doch in der Art ohnmächtig gemacht worden, dass ihre wildeste und höchste Potenz der Schöpfung in der heftigen Contagien-Entwicklung nicht mehr lebensfähig gehalten werden kann.156

Weil sich die Verhältnisse im Osmanischen Reich im Ganzen geändert hätten, sei die Aufrechterhaltung der Quarantänen an der Landgrenze nicht mehr notwendig. Als Zukunftsweg schlug Sporer nochmals die „Versetzung unserer Contumazanstalten in jene Gegenden, wo die bezeichneten Übel ihren Ursprung und ihre erste Ausbreitung nachweisen“, vor.157 Jedenfalls würden die anlaufenden „Commissionsforschungen in dem Mutterlande der Pest und des westindischen gelben Fiebers […] unweigerlich zu Tage fördern […], daß es hoch an der Zeit sei, dem Götzenbilde der bisherigen verworrenen Contumazanbetung die kostbaren Opfer zu entziehen“.158 Die wesentlichen Elemente der Hinwendung der europäischen Medizin zum Orient sind damit umrissen: Die von Sigmund als „Humanisierung der Volksstämme des Orients“ verstandene Strukturierung eines nach europäischen Vorbildern geformten Gesundheitssystems diente den „politischen und commerciellen“ Interessen Österreichs (und Europas). Sie ermöglichte die Verlagerung der „Pestfront“ in den Orient und die Entlastung der eigenen Sanitätsverwaltung. Wesentlichstes Element der Argumentation war die Dynamik wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen, wobei Ägypten besonders in den akademischen Fokus rückte. Das „Dampfboot“, mit dem sich die Kommunikation mit dem Orient wesentlich beschleunigt hatte, ist im Modell der beiSporer, Über die Aufhebung der Sanitätsreserven und Contumaz-Anstalten, 1856, 8. Ebd. Er nimmt für sich die Priorität dieser Idee in Anspruch: „Ob schon auch andere diese Ansicht in neuerer Zeit als ihre eigene veröffentichten, gebührt nur mir deren Priorität, da ich sie schon im Jahre 1844 bei Gelegenheit meiner kritischen Beleuchtung des Werkes von Dr. J. F. R. Grohmann „Über das Pestcontagium in Egypten“ in der Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte zuerst verkündete.“ Sporer, Über die Aufhebung der Sanitätsreserven und Contumaz-Anstalten, 1856, 11. 158 Ebd., 17. 155 156 157

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den liberalen und im Selbstverständnis der Medizin der Zeit als „Anti-Kontagonisten“ agierenden Sanitätsexperten Sigmund und Weber der Vektor rascher Information über den Gesundheitszustand im Osmanischen Reich – und nicht wie in den Augen der „Kontagonisten“ ein noch schnellerer Vektor für Krankheiten. 6.5

„Pestkämpfe“: Medizin und europäische Politik im Osmanischen Reich und Ägypten

Die Identifikation Ägyptens als „Pestherd“ und die Herstellung eines Konsenses darüber, dass die Pest auch dort zu bekämpfen sei, rückten Ägypten immer stärker in den Fokus der ärztlichen Aufmerksamkeit. Angesichts der handelspolitischen Bedeutung und des Heranwachsens nationalistisch geprägter Denkweisen traten zu Beginn der 1850er-Jahre immer mehr die Interessengegensätze der europäischen Großmächte in den Vordergrund. ,,Der Zustand des Sanitätswesens im Orient überhaupt ist für Österreich von der höchsten Wichtigkeit“, hatte Carl Ludwig Sigmund in einem Artikel in der Wiener Medizinischen Wochenschrift im Jahr 1852 geschrieben. Vor allem seit Österreichs ,,Lloyddampfboote einen regelmässigen Dienst zwischen Triest und Alexandrien unmittelbar machen […], gewinnt der Zustand des Sanitätswesens in Ägypten, welches als das ärgste Pestland erschienen ist, für Österreich das höchste Interesse“.159 Im Zuge der Verstärkung des Handels setzten die Großmächte eine gemeinsam kontrollierte, sehr restriktive Quarantäne in den Häfen des Orients durch, die je nach Interessenslage auch gegen den Konkurrenten verwendet werden konnte. Vor allem die Gegensätze zu Frankreich, das in Italien Sardinien-Piemont gegen Österreich unterstützte, waren in Ägypten allgegenwärtig. Österreich hatte in Ägypten zu dieser Zeit bereits bedeutende Handelsinteressen. Ägypten war sowohl als Absatzmarkt als auch als Durchgangsland für den Fernhandel von Bedeutung.160 Im Jahr 1848 hatte in Ägypten mit Abbas ein neuer Vizekönig sein Amt angetreten. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Muhammad Ali galt er nicht als Freund der Franzosen, die in den Jahren der Herrschaft Muhammad Alis in Kairo und Alexandria, wo die Vizekönige einen Teil des Jahres zubrachten, in nächster Nähe des Vizekönigs um Macht und Einfluss gerungen hatten. Seine knapp sechsjährige Herrschaft wird meist als Rückschlag für die von seinem Vorgänger eingeleiteten Reformen gewertet.161

Sigmund, Sanitätswesen in Egypten, 419. Sauer, Schwarz-Gelb in Afrika, 2002. Zur Bewertung Abbas vgl. Panayiotis J. Vatikiotis, The history of modern Egypt. From Muhammad Ali to Mubarak, 4. ed., Baltimore 1991, 71–73; James Heyworth-Dunne, An introduction to the history of education in modern Egypt, No. 68: Library of African studies. General studies, London 1968, 288; Roger Owen, The Middle East in the world economy, 1800–1914, London/New York 2002, 123; Amira A. Sonbol, 159 160 161

Medizin und europäische Politik im Osmanischen Reich und Ägypten

Innerhalb der europäischen Kolonien sowohl im Osmanischen Reich als auch in Ägypten mag die Stimmung besonders in der Zeit um 1848 gespannt gewesen sein. Über die täglich gelebte Rivalität der Europäer in Alexandria berichtet der Theologe Karl Graul (1814–1864), der sich auf seiner Reise nach Indien 1849 in Ägypten und Palästina aufhielt: „Das große politische Erdbeben, das damals Europa durchschütterte, machte sich auch in Alexandrien noch fühlbar; jedes neu ankommende europäische Schiff brachte neuen Zunder und neuen Zündstoff zugleich, – und da Alexandrien selbst zum großen Teil von den politischen Schlacken Europas bevölkert ist, so gab es bei der beständigen Reibung der verschiedenen Nationalitäten oft sehr helle Flammen.“162 Kurz nach Abbas’ Regierungsantritt 1848 verließ Antoine Clot, der den größten Teil seines Arbeitslebens dem Aufbau einer medizinischen Infrastruktur gewidmet hatte und dafür schon 1832 mit dem Titel ,,Bey“ belohnt worden war, das Land und kehrte (zunächst nur vorläufig) nach Frankreich zurück. Nach dem Ende der ,,Ära Clot“ und dem vorübergehend eher frostigen Verhältnis zu Frankreich gelangten nun deutsche Ärzte in führende Positionen. Einer der ersten deutschen Ärzte in Ägypten163 war noch einer der Weggefährten Clots, der geborene Bayer Franz Pruner, der seinerseits von Abbas mit dem Titel „Bey“ ausgezeichnet worden war. Pruner war bereits vor Abbas’ Regierungsantritt sein Leibarzt gewesen und für eine führende Position in der medizinischen Verwaltung von daher prädestiniert. Gesundheitliche Gründe zwangen Pruner jedoch, auf die ihm angebotenen Stellen zu verzichten und 1850 nach Europa zurückzukehren.164 Im selben Jahr wurde der Kieler Pathologe Wilhelm Griesinger zum Leiter des Krankenhauses und der Schule in Qasr el-Aini und zum Leiter des gesamten Medizinalwesens bestellt.165 Mit ihm nach Ägypten rückten auch andere deutschsprachige The creation of a medical profession in Egypt, 1800–1922, 1. ed., Contemporary issues in the Middle East, Syracuse, NY 1991, 76. 162 Graul, Reise nach Ostindien, 1856, 30. 163 Zu nennen sind hier auch Sebastian Fischer und die bereits erwähnten „Brüder Iken“. Zu den Biographien der deutschen Ärzte dieser Zeit vgl. Michalla/Watermann, Ägypten, Gesundheitsdienst seit dem Feldzug Napoleons, 1989, 59–61; sowie Mahgoub, Deutsche Ärzte in Ägypten, 1998. 164 Pruner, der als einer der wenigen deutschen Ärzte in Ägypten mit dem französischen Arzt Clot Bey freundschaftliche Beziehungen pflegte, zog es nach seiner Rückkehr aus Ägypten vor, nach Paris zu gehen. Diese Tatsache ist ein Stachel in der ansonsten überschwänglichen Bewunderung des bayrischen Reisenden und Historikers Johann Nepomuk Sepp für Pruners „deutsches“ Wirken, schlage doch Frankreich „aus seinen scientifischen und religiösen Missionen stets politisches Kapital“, das es „gegen unser deutsches Vaterland“ „auf so unheilvolle Weise zur Geltung“ bringe. Johann Nepomuk Sepp, Jerusalem und das heilige Land. Pilgerbuch nach Palästina, Syrien und Aegypten, Schaffhausen 1863, viii. 165 Antoine Clot verweist in seinen Memoiren darauf, dass zwei Beys Abbas geraten hätten, Wilhem Griesinger zu seinem Leibarzt zu machen. Vgl. Heyworth-Dunne, An introduction to the history of education in modern Egypt, 1968, 300. Angesichts des Einflusses Pruners erschiene es naheliegend, dass die Berufung auf seinen Vorschlag hin geschah. In einem Bericht der in der Wiener Medizinischen Wochenschrift vom 27. September 1856 (,,Medizinische Skizze aus Egypten“) wird allerdings betont, dass Pruner als Angehöriger der alten medizinischen Schule der Bestellung Griesingers und der anderen Deutschen gegenüber skeptisch gewesen sei.

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Ärzte in höchste Positionen auf: Der als Entdecker der nach ihm benannten ,,Bilharziose“ bekannte Theodor Bilharz (1825–1862) und die beiden Wiener Ärzte Alexander Reyer (1814–1891), Sohn eines Triestiner Kaufmannes, und Georg Maria Lautner (1813–1889), ein ehemaliger Assistent Rokitanskys und Freund Semmelweis’, wurden mit Griesinger an die Medizinische Schule berufen.166 Die beiden in Wien ausgebildeten Ärzte gerieten damit in Sachen Pest in den Brennpunkt der sanitätspolitischen Debatten ihrer Zeit.167 Ärzte aus dem deutschen Sprachraum waren ab den 1850er-Jahren keine Seltenheit mehr in Ägypten: Der in Erlangen geborene und später als Konsulatsangehöriger in Khartum mit Österreich eng verbundene Dr. August Genczik (1810–1864)168, der Balneologe Dr. Wilhelm Reil (1820–1880) oder der Wiener Homöopath Dr. Franz von Sonnenberg169 wirkten in Ägypten; diese Ärzte bildeten jahrelang den festen Kern der deutschen Kolonie in Ägypten. Zahlreichen Ägyptenreisenden dieser Zeit dürfte der Kreis um Reyer, Lautner und Bilharz eine wichtige Anlaufstelle während des Aufenthaltes in Kairo gewesen sein.170 Die „Wiener Medizinische Wochenschrift“ (WMW) berichtete in den Jahren zwischen 1850 und 1863 immer wieder über die medizinischen Verhältnisse in Ägypten und über das Schicksal der Wiener Kollegen in Ägypten. Kritisch beleuchtete die renommierte Wiener Zeitschrift den Werdegang der Kollegen und die Probleme, die es zu bewältigen galt. Vor allem Clot, der schon zu seinen Lebzeiten in der Literatur gefeierte Gründer der Medizinischen Schule, stand bei den Wiener Medizinern nicht sehr hoch im 166 Alexander Reyer (1814–1891) wurde am 24. Juni 1839 an der Universität Wien promoviert und war vor seiner Berufung nach Kairo in Salzburg als Professor am dortigen Lyzeum tätig. Georg Maria Lautner (1813–1889) schloss sein Studium im Jahr 1843 ab. Vgl. Franz Gall, Verzeichnis der an der medizinischen Fakultät der Universität Wien promovierten Doktoren der Medizin 1774–1873, Wien o. J.; Isidor Fischer, Wiens Mediziner und die Freiheitsbewegung des Jahres 1848, Bd. 1: Wiener medizingeschichtliche Beiträge, Wien 1935. Zu Bilharz vgl. Mahgoub, Deutsche Ärzte in Ägypten, 1998, 17; Hirsch/ Haberling/Hübotter (Hg.), Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, 2. Aufl., durchges. und erg., Berlin 1929, 538f. 167 Zur deutschsprachigen Community in Kairo und Alexandria in dieser Zeit siehe meine eigene (allerdings eher kursorische) Arbeit zu diesem Thema: Marcel Chahrour, „A Peaceful Conquest“. Austrian Physicians and Natural Scientists in Egypt in the 19th century, in: Egypt and Austria III the Danube Monarchy and the Orient; proceedings of the Prague symposium, September 11th to 14th, 2006; [ Joint Workshop unter dem Titel the „Danube Monarchy & the Orient – Egypt and Austria“], 2007, 37–50. Die folgende Schilderung des Pestkampfes wurde in einer früheren Version in dem Aufsatz: Chahrour, Bildungsmissionen und Ärzteexport, 2007 veröffentlicht und 2018 um Hinweise aus Originaldokumenten im Archiv der Gesellschaft der Ärzte ergänzt. Für den Hinweis auf diese Dokumente danke ich Herrn Dr. Hermann Zeitlhofer von der Gesellschaft der Ärzte. 168 Leo Santifaller u. a. (Hg.), Österreichisches biographisches Lexikon. 1815–1950, Graz u. a. 1957, I, 421. 169 Hans-Theodor Koch, Dr. Wilhelm Reil-Bey (1820–1880). Ein abtrünniger Homöopath als Balneologe in Ägypten, in: Medizinhistorisches Journal 3/4, 1968, 101–113. Darin auch der Hinweis auf Dr. Sonnenberg. 170 Vgl. dazu zum Beispiel die Hinweise Reils in seinem in diesen Jahren in Deutschland erschienenen Buch: Wilhelm Reil, Aegypten als Winteraufenthalt für Kranke. Zugleich ein Führer für Cairo und Umgegend; nach eigener Anschauung eines fünfmonatlichen Aufenthaltes; mit Witterungstabellen, zahlreichen Illustrationen und einem Plane der Pyramidenfelder, Braunschweig 1859.

Medizin und europäische Politik im Osmanischen Reich und Ägypten

Kurs. ,,Dieser Mann, welcher sich in Egypten durch eine Reihe von Jahren im Vordergrunde zu behaupten verstanden hat, war in Frankreich das gewesen, was in Österreich die Patrone der Chirurgie sind“, hieß es dem in der akademisch-medizinischen Hierarchie niedriger stehenden Chirurgen gegenüber in einer ,,Medizinischen Skizze aus Egypten“ im Jahr 1856.171 ,,Aus diesem Umstande a l l e i n [gesperrt im Original, Anm.] seine Unfähigkeit zu höheren Leistungen ableiten zu wollen, ist ebenso ungerecht, als es lächerlich ist, daraus einen Schluss auf sein absonderliches Genie zu ziehen.“ Der solcherart angekündigte Showdown ließ nicht lange auf sich warten. „Die Pest ist gegenwärtig hier der Zankapfel der ärztlichen Welt. Franzosen und Deutsche stehen sich kampfgerüstet gegenüber“, begann ein Bericht des Korrespondenten in Alexandria in der WMW im Jahr 1858.172 Ein mysteriöser Todesfall, der von mehreren Ärzten untersucht worden war, hatte in den europäischen Mittelmeerhäfen Pestalarm hervorgerufen und auch in Triest zur Verhängung einer 14-tägigen Quarantäne aller aus Ägypten anreisenden Schiffe geführt. Eine Gruppe von Ärzten, zu der auch Reyer und Lautner gehörten, stellte in Abrede, dass der Betreffende an der Pest gestorben sei. Reyer und Lautner vertraten diese Meinung auch in der bereits erwähnten ägyptischen Sanitätsintendanz, in der Österreich mit Sitz und Stimme vertreten war und die als oberste Instanz in allen Quarantänefragen zuständig war. Anderer Meinung waren nicht nur die zwei von der französischen Regierung bestimmten Vertreter, sondern auch der österreichische Konsulararzt, ein Italiener, wie nicht ohne Süffisanz bemerkt wurde. Die Frage, ob es sich bei einem Krankheitsfall um das erste Anzeichen einer Epidemie handelt, war für alle mit Ägypten Handel treibenden Länder von größter Bedeutung, da die Pest ebenso wie die gefürchtete Cholera den Handel nachhaltig schädigen konnte. „Ihr Vaterland ist das am meisten Betroffene, Österreich hat nach England den stärksten Handel hier und liegt Egypten am nächsten; es war zum Theil Patriotismus, der die Angelegenheit zu der eigenen machen liess“173, wusste der Korrespondent der Wochenschrift zu berichten. Auch in Europa sorgte der Vorgang für einiges Aufsehen. Bilharz, der auf Seiten seiner beiden Freunde Reyer und Lautner Stellung bezogen hatte, veranlasste Rudolf Virchow (1821–1902) in Berlin, einen Artikel zur Pestfrage in Ägypten zu veröffentlichen, der dem Standpunkt der deutschen Ärzte vor Ort auch bei ihren Standesgenossen zu Hause zum Durchbruch verhelfen sollte.174 Wie wichtig man die Frage nahm, zeigte Virchows Aufruf zu einer ,,lebhaften Teilnahme der deutschen medizinischen Welt“, mit der nicht zuletzt verhindert werden sollte, dass die medizinische Aufbauarbeit wieder zurück in die Hände ,,medizinischer Abenteurer“ falle.175 Man kann sich denken, wer damit gemeint war.

171 172 173 174 175

WMW 39, 1856, 627. WMW 55, 1858, 661. Auch dieser Artikel ist mit X. X. gezeichnet. WMW 43, 1858, 758. Mahgoub, Deutsche Ärzte in Ägypten, 1998, 23. WMW 43, 1858, 758.

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Die fachlichen Auseinandersetzungen mit Clot Bey schaukelten sich rasch zum schweren persönlichen Zerwürfnis auf, das sogar in einer Forderung zum Duell gipfelte. Reyer und Lautner, die sich durch den alternden Franzosen ungerecht und herablassend behandelt fühlten, anworteten ihm mit einem Brief, der nicht nur von Höflichkeit gekennzeichnet gewesen zu sein schien.176 Nach einigen weiteren Querelen blieb der ,,Pestkampf “ als solcher dennoch ohne Ergebnis. Die Pest war weder in Ägypten noch in Österreich ausgebrochen und ob die Quarantänemaßnahmen dafür verantwortlich waren oder nicht, ließ sich kaum beweisen. In Wien kam auch die Gesellschaft der Ärzte aufgrund der vorliegenden Berichte zu dem Schluss, dass es sich nicht um die Pest, sondern um eine für den Orient typische Form des Typhus gehandelt hätte.177 Die Frage der Beurteilung eines Krankheitsfalles war im Selbstverständnis der handelnden Personen überaus politisch geworden, und zwar nicht nur im Kampf zweier Ärztegruppen gegeneinander, sondern auch für die ägyptische Seite: Die Ärzte forderten eine Vertretung in der in sanitätspolitischen Fragen dominierenden „Sanitätzintendanz“ und ließen sich dabei von diplomatischer Seite unterstützen. Eindrucksvoll wird dies in einem Brief deutlich, den Reyer an seinen Freund Theodor Bilharz schrieb: Was die Pest betrifft, so ist seit unserer Anwesenheit nichts, gar nichts verdächtiges vorgekommen. Bei einem in der Stadt verstorbenen und bei einem Matrosen eines Schiffes aus Caramanien [?], welches wir besichtigten, hatten die Ärzte von Flecktyphus gesprochen. […]. Die befundenden Ärzte hatten übrigens zum Voraus erklärt, die Fälle seien unverdächtig. Diese Wirkung hat allein unsere Gegenwart erzeugt, sonst wäre man aus dem Verdachte gar nicht heraus gekommen. Wir haben unsere Pflicht getan und das welsche

176 Vgl. dazu eine Nachricht Reyers an Bilharz, in der diese Auseinandersetzung ausführlich geschildert wird:„Dieser Brief wurde allgemein als trefflich gelungen betrachtet; gewiss hat Clot niemals irgendeinen ähnlichen Brief erhalten; er erhielt die Abschrift in Alexandrien, wurde wütend und rannte durch 4 Tage allenthalben herum, ihn vorzeigend (zur großen Belustigung der Alexandriner) und die Regierung gegen mich in Anspruch nehmend. […] Nachdem Clot eingesehen haben musste, dass er vom Vicekönig keine Satisfaction erhalte, schrieb er eine Antwort von drei Seiten auf mein letztes offizielles. […] Dieses Schreiben ist der Inbegriff der Gemeinheit, Sie werden selber eines Tages lesen, wie er im selben Verleumdungen gegen mich ausstösst, wie z. B. dass ich bei zwei Choleraepidemien mich auf eine Campagne gefüchtet habe, um den Schrecken der Epidemie zu entgehen und dass der Dienst im Spital durch Schüler gemacht worden sei, so hat er es aus den Händen gegeben und ich kann ihn belangen, wenn ich will. Nach Empfang dieses Briefes schrieb ich an den Minister des Äußeren und legte ein Gesuch an den Vicekönig bei, um eine Genugtuung zu erhalten. Ich wurde ersucht, Geduld zu haben, es werde alles zu meiner Zufriedenheit beigelegt werden. Clot kam, statt mit den Prinzen nach Constantinopel abzureisen, nach Cairo. Am Tage nach seiner Ankunft kam Bruguiére, abends Conte Scopoli zu mir; beide sagten, sie seien nicht von Clot geschickt, gakerten aber von Genugtuung und Duell. Ich erklärte ihnen artig, dass Clot vor die Gerichte gehöre, da er so ein ehrloser [unl.] sei und er in mir keinen Compagnon seiner Lächerlichkeit finden werde. Dann reiste Clot nach Alexandrien und vorgestern nach Marseille. Er soll die letzten 20 000 Thaler aus dem Vizekönige herausgepresst haben und auch ganze Pension bekommen, wenn er nicht weiter sektiere. – So weit stehen die Sachen; aber Genugthuung habe ich noch immer nicht. Wir haben das auf 14 Tage gegeben und werden (ich + Lautner) unsere Entlassung aussuchen, wenn ich keine Satisfaction bekomme.“ Inst. f. Geschichte der Medizin der Universität Mainz, Briefe aus dem Nachlass, Reyer an Bilharz, 1. Juli 1858. 177 Fischer, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1937, 1938, 64.

Medizin und europäische Politik im Osmanischen Reich und Ägypten

Gesindel zur Vernunft getrieben. Könnte der Zufall uns je einen glänzenderen Augenblick für den Rückzug anbieten? […] Die Ärzte, welche so freigiebig mit Pest und Pestverdacht gewesen sind, wagen es nicht mehr einem Cadaver gegenüber und auch sonst nicht, den Namen Pest auszusprechen. Auch in publico greift unsere Ansicht um sich, da keine Tatsachen vorkommen, welche die gegenwärtige Ansicht bestätigen. Daß wir uns der hiesigen Regierung gewaltsam aufgezwungen haben, hat ihnen glaube ich Franz geschrieben. Nachdem eine Aufwartung beim Vizekönig von unserer Seite vergeblich gewesen war, hat nur unser Gerent Herr von Walcher offiziell berufen und unter der Drohung, uns als Delegierte Österreichs in die Intendanz zu berufen, unsere Ernennung als zeitweilige Mitglieder der Intendanz erwirkt.178

So bedingungslos und abgrundtief wie der Gegensatz zwischen Franzosen und Deutschen nach dieser Schilderung erscheinen mag, war er übrigens nicht. Die große Stütze der deutschen Ärzte bei Hof, die im ständigen Hin- und Herwogen des Einflusses der konkurrierenden Parteien der deutschen Fraktion um Reyer, Lautner und Bilharz immer den nötigen Rückhalt bot, war ausgerechnet ein gebürtiger Franzose. Sulayman Pascha war als napoleonischer Offizier ins Land gekommen, der im Ägypten nicht nur eine neue Heimat, sondern auch ungeahnte Aufstiegsmöglichkeiten vorgefunden hatte. Für seinen neuen Herrn Muhammad Ali hatte er eine Reihe von Feldzügen gewonnen und war auch zum Islam konvertiert. Von seinen französischen Landsleuten hatte sich Sulayman entfremdet, während die deutschen Ärzte durch ihn vollste Unterstützung an höchster Stelle genossen. Alexander Reyer lebte mit seiner Familie im Palast Sulaymans, dessen Leibarzt er auch war.179 Der k. k. Konsul berichtete über diesen einflussreichen Franzosen auch nach Wien und sah in ihm einen „großen Freund Österreichs und der Deutschen.180 Für die beiden Wiener Ärzte war die zuvor geschilderte fachliche Auseinandersetzung, die auch in Europa Widerhall gefunden hatte, der Wendepunkt ihrer Tätigkeit für die ägyptische Regierung. Reyer und Lautner sahen sich, obwohl sie die Regierung nicht von der Richtigkeit ihrer Ansicht überzeugen konnten, durchaus als Sieger in der Auseinandersetzung, wie auch ein von Reyer verfasster Leserbrief bewies.181 Dennoch beendete Reyer 1858 seine Tätigkeit an der Medizinischen Schule, um sich mit anderen Aufgaben betrauen zu lassen. Er wurde wahrscheinlich noch im Herbst desselben Jahres zum Leibarzt des Vizekönigs bestellt, bekam die Leitung des Garde-Spitales über-

Mainz, Briefe aus dem Nachlass, Reyer an Bilharz, 1. September 1858. Ernst Senn, Theodor Bilharz. Ein deutsches Forscherleben in Ägypten; 1825–1862, Bd.  5: Schriften des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart Reihe D, Biographien und Denkwürdigkeiten, Stuttgart 1931, 35. 180 Wien, HHStA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Konsulatsberichte, PA XXXVIII K128 Konsulate 1859 A-Be, 15. Jänner 1859: Schreiner an Buol Schauenstein. 181 WMW 49, 1858, 801. 178 179

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tragen und erreichte den Rang eines Divisions-Generals. Auch Lautner dürfte andere Aufgaben übernommen haben.182 1860 verschlechterte sich die nach dem vermeintlichen Sieg im ,,Pestkampf “ gegen Clot starke Position der deutschen Ärztekolonie. Sulayman Pascha starb, Reyers Wünsche in einigen mehr oder weniger wichtigen Fragen blieben unberücksichtigt. Krank und offenbar der Intrigen überdrüssig, kehrte Reyer 1861 schließlich nach Österreich zurück, während Lautner gemeinsam mit Theodor Bilharz im Lande blieb.183 Der Diskussion wissenschaftlicher Grundfragen zu Entstehung und Verbreitung der Pest fehlten in der Epoche ab Mitte der 1830er-Jahre für lange Zeit die entscheidenden neuen Erkenntnisse. Wissenschaft und Politik begannen sich zu vermischen; in den meisten Fällen schien es auch den wissenschaftlichen Autoren kaum vordringlich gewesen zu sein, eine eigenständige wissenschaftliche Theorie über die Verbreitung bestimmter Krankheiten zu entwickeln. Im Gegenteil ging es fast immer nur um die Irrtümer des Gegenübers, die auf Basis der vorhandenen Schwachstellen der vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien der Ansteckungslehre (der „Contagiosität“ bestimmter Krankheiten) offenzulegen waren. Selbst jene, die die Quarantänen verteidigten, verharrten in den immer gleichen Mustern. Schriften wie die eingangs erwähnte Sporers versuchten, die zwischen einzelnen Berichten und Erfahrungen und der sanitätspolizeilichen Praxis bestehenden Widersprüche offenzulegen; dies gelang meist leicht und für das Lesepublikum anschaulich. Eigenständige Theorien standen kaum im Mittelpunkt der Schriften, die sehr häufig über die gelebte Handels- und Verkehrspraxis argumentierten. Das Anbieten einer eigenständigen, durchargumentierten Theorie war auch nicht notwendig, wenn man davon ausgeht, dass die Schriften vor allem gegen die Quarantänen gerichtet waren. Überspitzt könnte man sagen: Wenn es gelang, mit wissenschaftlichen Argumenten die vorherrschende Ansteckungslehre zu Fall zu bringen, würden auch die Quarantänen fallen. Die wirtschaftlichen Interessen des gesellschaftlichen Umfeldes bildeten daher mit Sicherheit einen Argumentationshintergrund für die wissenschaftlichen Fragestellungen bei der Erörterung der Krankheitsübertragung von Pest und anderen als „contagiös“ eingestuften Krankheiten. In der Diskussion, die sich in den 1850er-Jahren in Ägypten abspielte, hatte sich der Fokus nochmals gewendet. Nicht mehr die Frage, ob denn die Pest kontagiös sei oder nicht, stand im Vordergrund, sondern nur noch die Frage, sich um Pest handle; diese letztere war eine zutiefst politische geworden. Gleichzeitig liefern die Gegner der Quarantänen und die Diskussionen aber unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Charakter noch ein zweites politisches Argument. Anstelle der unmittelbaren Übertragung der Krankheit trat das Zusammenspiel

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Vgl. WMW 41, 1858, 726 und WMW 8, 1859, 126. Mahgoub, Deutsche Ärzte in Ägypten, 1998, 24.

Medizin und europäische Politik im Osmanischen Reich und Ägypten

bestimmter Umweltfaktoren, die atmosphärischer, sozialer oder biologischer Natur sein konnten. Durch Verhältnisänderung konnte auch eine Verbesserung der sanitären Situation und damit eine Verringerung der Ansteckungsgefahr erreicht werden. Damit war die argumentative Grundlage für einen Eingriff in die spezifischen, als krankheitsfördernd wahrgenommenen Verhältnisse gegeben. Ägypten sollte jedenfalls die Heimat der Pest bleiben. Als die Pest Ende des 19. Jahrhunderts nach Ägypten zurückkehrte, wurde er sie erneut zum Gegenstand ausgedehnter medizinischer Forschungen europäischer Wissenschaftler. Schließlich fand sich dort auch der Schlüssel zum Verständnis der Pestansteckung. Der britische Hobby-Entomologe Nathaniel Charles Rothschild identifizierte den Rattenfloh, der die Pest übertrug, in Ägypten und beschrieb ihn gemeinsam mit dem deutschen Entomologen Karl Jordan 1903. Auf Englisch heißt der Floh bis heute „Oriental Rat Flea“, auf Lateinisch „Xenopsylla cheopis“ – nach der Cheopspyramide in Ägypten.

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„Ein einziger denkender Arzt kann ein Land vor dem Untergang retten“ Die deutschsprachige Medizin auf „Zivilisierungsmission“

Die Begegnung des Westens und seiner konstituierenden gesellschaftlichen Elemente – Wissenschaft und Aufklärung – mit der islamischen Welt ist heutemehr denn je Gegenstand von gesellschaftspolitischen Debatten. „Ist der Islam zur Moderne fähig?“, fragt man fast täglich in den verschiedensten Medien und auch die Wissenschaft wirft diese Frage immer wieder auf.1 Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 fragte der renommierte Orientalist Bernard Lewis in einem Essay über den Islam und die Moderne „What went wrong?“ – „Was ging schief?“2 Der Frage zugrunde liegt die Vorstellung, dass die europäische Moderne mit ihrem universalistischen Anspruch ein weltumfassendes, allgemeingültiges System wissenschaftlich fundierter und im System des Kapitalismus eingebetteter Wahrheiten im heutigen Nahen Osten (wie in vielen Ländern der sogenannten „Dritten Welt“) gescheitert ist. Bereits einige Jahre zuvor thematisierte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington in seiner viel diskutierten Studie „Kampf der Kulturen“ die Modernisierung im Nahen Osten. In Huntingtons Buch geht es um die politischen Auswirkungen der gegensätzlichen Struktur von „Zivilisationen“, wobei Huntington, dem englischen Sprachgebrauch folgend, zwischen „Zivilisation“ als allgemeiner Beschreibung einem global vorhandenen Gesellschaftszustand und den „Zivilisationen“ als Synonym für „Kulturkreise“ unterscheidet.3 Die Medizin ist als Kerntechnik westlicher Überlegenheitsvorstellungen zentraler Bestandteil dieser Globalisierung von In der für diese Arbeit relevanten Fachliteratur zum Thema der medizinischen „Modernisierung“ zum Beispiel bei der Expertin Moulin, L‘Esprit et la lettre de la modernité égyptienne, (2002), 120, die zum Schluss kommt, dass die Diskussion um den Widerspruch zwischen Islam und Wissenschaft, die schon im 19. Jahrhundert begonnen hätte, bis heute andauern würde, und von einem Dilemma spricht. 2 Bernard Lewis, What went wrong? The clash between Islam and modernity in the Middle East, New York 2003. 3 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, München 1998, 76. 1

Die deutschsprachige Medizin auf „Zivilisierungsmission“

„Zivilisation“, die oftmals im Zusammenhang mit dem europäischen Kolonialismus des neunzehnten Jahrhunderts erzählt wird.4 Aus externen politischen und ökonomischen Gründen wie auch aus Gründen, die in der Natur der Medizin selbst lagen, kam es im Lauf des 19. Jahrhunderts in vielen Bereichen der außereuropäischen Welt zu einer Strukturierung der Medizin nach europäischen Vorbildern.5 Im Folgenden geht es um die Zivilisation im Singular; um universalistische Vorstellungen, die, wie Huntington schreibt, dazu dienten, die „Ausweitung der politischen und ökonomischen Dominanz des Westens auf nichtwestliche Gesellschaften zu rechtfertigen“.6 Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Zeitalter der „Zivilisierungsmissionen“, die sich parallel mit dem europäischen Imperialismus als moralischer Auftrag aus Vorstellungen der Aufklärung heraus entwickelten. Einen genetischen, biologistischen Rassismus kannten die Ärzte der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts noch nicht: Das Selbstverständnis ihrer Überlegenheit entsprang der aufklärerischen Idee, dass die Welt ein besserer Ort werden könne, wenn Strukturen entstehen, die Zivilisation repräsentieren.7 In der in dieser Arbeit verwendeten medizinischen Literatur steht die erfolgreiche Schaffung von Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Krankenhäusern und (zunehmend) auch rechtlichen Rahmenbedingungen stellvertretend für das, was als „Zivilisation“ verstanden wird. Dies deckt sich mit dem Zivilisationsbegriff der

Die Literatur zu diesem Forschungsfeld ist vor allem im englischsprachigen Raum extrem umfangreich. „Colonial Science“ und „Colonial Medicine“ sind im Kontext von Wissenschaft und Imperialismus in vielen Bereichen im englischsprachigen Raum dichtest untersucht worden, sodass ich an dieser Stelle auf die einschlägigen Überblickswerke verweise, die grundlegende Literatur dazu bieten. Wichtige Beiträge wurden dabei vor allem von Roy MacLeod, David Arnold und Mark Harisson geleistet. Für den deutschsprachigen Raum kann die Arbeit von Wolfgang U. Eckart: Medizin und Kolonialimperialismus aus 1997 weiterhin als Standardwerk gelten. Im Zuge der Versuche der letzten Jahrzehnte, Entwicklungen als „Globalgeschichte“ zu erzählen, hat Mark Harrison, A Global Perspective. Reframing the History of Health, Medicine, and Disease, in: Bulletin of the history of medicine 89/4, 2015, 639–689 darauf hingewiesen, dass der Medizin eine solche Erzählung durchaus fehlt, und zu einer verstärkten transnationalen Betrachtungsweise aufgerufen. Eine verstärkte Berücksichtigung der mitteleuropäischen Perspektive wäre ein Ansatz dazu. Konkret für diese Arbeit von Bedeutung waren jene Arbeiten, die sich speziell mit dem Osmanischen Reich auseinandersetzen, wie: Khaled Fahmy, The Anatomy of Justice. Forensic Medicine and Criminal Law In Nineteenth-century Egypt, in: Islamic law and society 6/2, 1999, 224–271, doi: 10.1163/1568519991208682; Fahmy, All the pasha’s men, 2002; Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991; Miri SheferMossensohn, Ottoman medicine. Healing and medical institutions, 1500–1700, Albany 2009. 5 Während sich neuere Forschungen stark auf die machtpolitischen Aspekte dieses Prozesses konzentrierten, wurde zuletzt auch darauf hingwiesen, dass die Wirkung der europäischen Pharmazie, die durch Evidenz in vielen Fällen auch ihre faktische Überlegenheit gezeigt hatte, nicht in den Hintergrund gedrängt werden darf. Dazu: Harrison, A Global Perspective, 2015; und schon zuvor in anderem Kontext: David Arnold, Colonizing the body. State medicine and epidemic disease in nineteenth-century India, Berkeley/ California 1993. 6 Huntington, Kampf der Kulturen, 1998, 92. 7 Hobson, The Eastern Origins of Western Civilisation, 2004, 220. Hobson vertritt eine fast radikale Gegensicht zu den Arbeiten der klassischen „Orientalisten“ und weist auf die Leistungen außereuropäischer Kulturen hin. 4

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Zeit, der das Ordnende, Strukturierende in den Vordergrund stellt.8 Begeistert meldete der österreichische Militärarzt Sigismund Spitzer 1839 in einem Bericht über die ersten Maßnahmen zum Aufbau einer Quarantäne im Osmanischen Reich nach Wien, dass mit diesen Einrichtungen „ein bedeutender Schritt zur Annäherung des türkischen Fanatismus an die europäische Civilisation“ getan werde.9 Für die Medizin entsprach dies der Erfahrung, die im physiokratischen Staat im 18. Jahrhundert gemacht wurden: Menschen leben länger, wenn sie bessere Ernährung erhalten, Bildung erfahren und Seuchen ferngehalten werden können und klare Regulative, also Disziplinierungen, entstehen. Das „Wie“ in all diesen Fragen mochte erratisch sein, wie am Beispiel der Seuchenprävention und auch am ersten Umgang mit der Impfung gezeigt wurde, aber die Überzeugung war zum identitätsstiftenden Bindemittel einer gesellschaftlichen Gruppe geworden, die sich nun nach Osten bewegte. Das 19. Jahrhundert war für die meisten Regionen des Nahen Ostens zwischen Marokko und Persien eine Zeit einschneidender politischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen. In Ägypten ergriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts der osmanische Statthalter Muhammad Ali wenige Jahre nach dem Ende der französischen Besetzung Ägyptens die Macht und startete einen Prozess, den man heutzutage wohl „Reformprojekt“ nennen würde.10 Nachdem Muhammad Ali immer mehr zu einer militärischen Gefahr für das Osmanische Reich zu werden drohte, wurden auch in Konstantinopel Ende der 1820er-Jahre erfolgreich Veränderungsprozesse eingeleitet, nachdem eine erste Reformperiode zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch gescheitert war. Das Jahr 1839 galt mit dem hatt-ı Şerif von Gülhane, einem wichtigen Reformdekret, als wesentlicher Wendepunkt der Osmanischen Politik gegenüber Europa. Eine „große Phase der Rezeption ausländischen Rechts“ begann. 11 Die Geschichte dieser Veränderungen wird gerade in den historischen Standardwerken gerne als Geschichte politischer und militärischer Reformen erzählt, die vorAls Orientierung kann der Eintrag in Pierer’s Universal-Lexikon aus den 1850er-Jahren dienen. Dort heißt es über „Civilisation“, es sei „der Zustand der menschlichen Gesellschaft, in welchem sich das geistige Wesen zur Herrschaft über die thierische Natur des Menschen erhoben“ habe, allerdings nicht gleichbedeutend mit der „Cultur“ sei. Bei den unzivilisierten Völkern „überwiegt noch der Naturtrieb“, die Zivilisation der Völker beginne „mit ihrer Organisation zu staatlichen Gemeinwesen und erreicht einen um so höheren Grad, als der Staat die Rechte eines Jeden gegenüber den barbarischen Gelüsten, der Willkür und Gewalt Einzelner schützt.“ Zivilisation sei dann erreicht, wenn alle Volksklassen „Rechtsbewußtsein“ und „Sittlichkeitsgefühl“ erlangt hätten. Heinrich August Pierer, Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Altenburg 1849, Bd. 4, 173. 9 Sigismund Spitzer, Zustand der Quarantänen in der Türkei, in: Neue Folge der Gesundheits-Zeitung III/89, 1839, 746–748, hier: 746. 10 Die Begrifflichkeit vom „Reformprozess“ zieht sich durch alle wesentlichen älteren Werke zur arabischen und osmanischen Geschichte. Vgl. z. B. Albert Habib Hourani, Die Geschichte der arabischen Völker, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2000. 11 Barbara Haider-Wilson, Tanzimat revisited, in: Barbara Haider-Wilson/Maximilian Graf (Hg.), Orient & Okzident: Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl., Bd. 4: Forschungen zu Orient und Okzident, Wien 2017, 405–447, hier: 427. 8

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dringlich darauf abzielten, neue, schlagkräftige Militärstrukturen zu schaffen.12 Vor allem Muhammad Ali ist das Paradebeispiel für den Typus des in diesem Zusammenhang kreierten „aufgeklärten Despoten“, der sich „zivilisiert“, um sich die zeitgemäßen wirtschaftlichen und militärischen Mittel für die Aufrechterhaltung seiner Macht zu sichern. Die Medizin nimmt in diesem Bild den Status einer „militärischen Hilfswissenschaft“ ein, die dazu dient, die Armee gesund zu erhalten.13 Der deutsche Islamwissenschaftler Reinhard Schulze hat festgestellt, dass der Orientalismus als Teil der europäischen Kultur- und Ideengeschichte vor allem dadurch Bedeutung erlangte, dass er im Rahmen der kolonialen Kultur in den durch den Orientalismus selbst als orientalisch definierten Ländern realisiert und von den dort lebenden Eliten als konstitutiver Teil der eigenen kulturellen Identität angenommen wurde.14 Wenn lokale Eliten orientalistische Vorstellungen von der eigenen Andersartigkeit annehmen und die oben genannten Strukturen als Vorbild akzeptieren, sind Reformen die logische Folge. Dabei geht es paradoxerweise nicht um eine pauschale Zustimmung zum „europäischen Universalismus“: Die durch den Orientalismus vorgegebenen Muster lassen sich auch in der anti-westlichen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts wiederfinden und gerade auch die anti-westlichen Bewegungen nehmen sich zivilisatorische Disziplinierungsideen zum Vorbild.15 Aus der Perspektive Europas musste in der Frage reformatorischer Veränderungen im Osmanischen Reich das Verhältnis zwischen Militär und Medizin geradezu umgekehrt erscheinen: Indem sich der „Orient“ zivilisiert, wird er berechenbarer und damit weniger gefährlich. Die Entwicklung der Ereignisgeschichte der Beziehungen zwischen Europa und dem Osmanischen Reich geht dieser Transformation voraus: Die militärische Gefahr, die das Osmanische Reich seit dem 15. Jahrhundert in der mitteleuropäischen Wahrnehmung einnahm, wurde im Lauf des 18. Jahrhunderts durch

Dies gilt vor allem für die ältere Literatur. Einflussreich waren (und sind) die Arbeiten von Bernard Lewis, der sehr faktenreich und umfassend über diese Reformprozesse publizierte. Vgl. Bernard Lewis, The Middle East. 2000 years of history from the rise of christianity to the present day, 4th impression, History of civilization, London 2003. Handbuchartig zusammengestellt findet sich diese Erzählung auch bei: William L. Cleveland, A history of the modern Middle East, Boulder 1994, 61–75. 13 Zur engen Verknüpfung von militärischen und medizinischen Interessen vgl. für den Fall Ägypten besonders: Fahmy, All the pasha‘s men, 2002. Zum Osmanischen Reich vgl. das immer noch wichtige Werk: Davison, Reform in the Ottoman Empire, 1973. 14 Reinhard Schulze, Orientalism. Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident, in: Iman Attia (Hg.), Orient- und IslamBilder: Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, 1. Aufl., Münster 2007, hier: 50. 15 Cemil Aydın, Beyond Civilization: Pan-Islamism, Pan-Asianism and the Revolt against the West, in: Journal of Modern European History 4, 2006, 202–222, doi: 10.17104/1611-8944_2006_2_204 hat in einer vergleichenden Untersuchung zwischen Diskursen osmanischer und der japanischer Eliten festgestellt, dass die kritischen Eliten selbst in scheinbar antiwestlichen Diskursen die Vorstellung von der Universalität Europas als Vorbild für gesellschaftliche Reformen nicht über Bord warfen – und das auch dann, wenn sie partikulare, d. h. islamische, asiatische, „rassische“ oder „östliche“ Identitäten in den Vordergrund stellten. 12

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die Seuchengefahr ersetzt. Diese Gefahr stand aus Sicht der Zeitgenossen mit dem Zustand der Unzivilisiertheit des Osmanischen Reiches in Zusammenhang. Aus dem aufklärerischen Denken der Zeit entwickelte sich ein Diskurs, der die Verhältnisse im Osmanischen Reich selbst thematisierte und den Orient in medizinischer Hinsicht einzugrenzen begann. JDer Wiener Arzt Pascal Joseph Ferro führte seine anti-quarantänistischen Ansichten hinsichtlich der Pest bereits um 1800 im Denkstil der Aufklärung auf den Zusammenhang zwischen Verhalten und Gesundheit zurück. Dass diese Seuche im gesitteten Europa in neueren Zeiten nicht ausbricht, sey wohl die Frucht der größeren Aufklärung, und einer besseren Fürsorge der Fürsten, Hungersnoth abzuwenden epidemischen Krankheiten vorzubeugen, ihre Ausbreitung zu erstocken, und die Kriege mit mehrerer Menschlichkeit als vor Zeiten zu führen. So behalte Constantinopel sein pestilenzisches Fieber wegen dem Verhalten der Türken als eine endemische Krankheit.16

Ferro entwickelte aus seinen Erkenntnissen noch einen anderen, ganz allgemein auf Europa gemünzten Gedanken, der dennoch als eine Art Leitmotiv für spätere Phasen medizinischer Beziehungen zwischen Europa und dem Osmanischen Reich gesehen werden kann. Die Lehre, dass die Pest eine „epidemisch ansteckende Krankheit“17 sei, wäre, so Ferro, nicht nur richtig, sondern auch nützlicher für Land und Volk, da sie allgemein ungesunde Verhältnisse beseitigen helfe. Sich auf Hippokrates und seine Rolle bei der Bekämpfung der Pest beziehend, erklärt er: „Ein einziger denkender Arzt kann hier ein ganzes Land vor dem Untergang retten.“18 Durch die Forschungen und Publikationen von Ärzten rund um die napoleonische Expedition nach Ägypten hatte sich die Ansicht, dass die Entstehung und Verbreitung bestimmter Krankheiten in ursächlichem Zusammenhang mit dem Islam und der Zivilisation im Orient stehe, in den 1820er-Jahren bereits einigermaßen durchgesetzt. In einem Nachruf auf Ludwig Frank, der 1825 verstarb, heißt es 1826 in der „Medicinischchirurgischen Zeitung“, er habe bewiesen, dass die Pest „in Zeiten der Cultur“ in Ägypten nicht vorgekommen sei, sondern erst mit „Mahomeds Herrschaft“ erschienen sei.19 Sein Zeitgenosse und Kollege Enrico di Wolmar, der selbst lange in Ägypten gewesen war und die Heimat der Pest in Konstantinopel verortete, hielt grundsätzliche Veränderungen für notwendig: „Allgemein zu wünschen wäre demnach eine Veränderung der türkischen Regierung, durch welche zum Besten der ganzen Menschheit der Keim zur Pest in Constantinopel zerstört würde, was die erspriesslichsten Folgen für den Handel sowohl als auch für das bürgerliche Leben der Bewohner des ottomanischen Reiches haben wür-

Vgl. Ferro, Pascal Joseph Ferro nähere Untersuchung der Pestansteckung, 1787, 117. Ferro verwendet „epidemisch“ als Gegensatz zu „kontagiös“, d. h. durch direkte Weitergabe ansteckend. Ferro, Pascal Joseph Ferro nähere Untersuchung der Pestansteckung, 1787, 128. Biographische Skizze von Dr. Ludwig Frank zu Parma, in: Medicinisch-Chirurgische Zeitung, 205–208, 206.

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de.“20 An anderer Stelle führt Wolmar auch das Argument der Tyrannei ein: „Während der langen Zeit meines Aufenthaltes in Egypten habe ich die Bemerkung machen können, daß die Egypter von Natur Anlagen vorzüglich zu spekulativen Wissenschaften haben, doch unter einer so tyrannischen Regierung, wie die der Mammelucken ist, kann kein Talent sich gehörig ausbilden, und es ist daher auch nicht zu verwundern, daß alle Egypter so höchst unwissend sind.“21 Mitte der 1830er-Jahre verzichtete kaum ein Reisender aus Europa, der das Osmanische Reich besuchte, darauf, das Osmanische Reich vor allem als rückständig und damit als „reformbedürftig“ zu beschreiben. Das Bild vom „kranken Mann“, den es zu heilen oder sterben zu lassen gelte, prägte die Wahrnehmung des Osmanischen Reiches durch die Europäer. „Reformen“ waren dabei das positive Heilmittel – die Therapie – ganz im Gegenteil zum in den Augen vieler Betrachter unabwendbaren Untergang des Osmanischen Reiches. Der deutsche Arzt und Orientreisende Karl Koch sah Konstantinopel Anfang der 1840er-Jahre als verfallende Metropole und die Herrschaft der Osmanen als eine dem Untergang preisgegebene Despotie. Der Osmanische Staat stünde am Rande des Abgrunds: „Doch die Zeit sehe ich nicht mehr fern, wo Mohammeds grausame Bekenner zurück in ihre Wüsten, von denen sie ausgegangen, geschleudert werden, um mit Tigern und Hyänen ihr elendes Dasein zu erkämpfen. Der erbleichte Halbmond wird bald von den früheren Kirchen herabgerissen sein und das milde Kreuz des Christentums ersteht hoffentlich mit neuem Glanze.“22 Die Beschreibungen jener, die Ägypten tatsächlich erlebt hatten, beeinflussten auch jene, die an diesem Bild weiter bauten, ohne jemals selbst in Ägypten gewesen zu sein. Johann Friedrich Reinhold Grohmann, der in Wien 1844 seine Arbeit über das „PestContagium“ veröffentlichte, kannte zwar den Balkan bis Konstantinopel, Ägypten aber nicht aus eigener Anschauung.23 In seiner Beschreibung des Landes, das er nicht kannte, blitzten plötzlich Motive des Vormärz auf: Es walte in Ägypten ein System ungleichster Verteilung, nur Reichtum und Armut, nur Sklaven seien es, die für ihre Herren arbeiteten und auch denken würden. Über die Bewohner Ägyptens sprach Grohmann wie über unterprivilegierte Arbeiter der beginnenden Industriegesellschaft in Europa: „Diese Armen sind umringt von Jammer und Elend; an den abgezehrten, magern

Wolmar/Hufeland, Abhandlung über die Pest, 1827, 379. Ebd., 169. Die „Mammelucken“ sind die Dynastie, die vor der Machtergreifung durch Muhammad Ali an der Macht war und 1811 endgültig (brutal) ausgelöscht wurde. Wolmar hatte einen Großteil seiner Zeit in Ägypten unter mameluckischer Herrschaft verbracht. 22 Koch, Wanderungen im Orientec, 1846, 119. Kochs drastische und islamophobe Darstellung ist ein Extremfall, auch, weil sie im Gegensatz zu den meisten anderen Darstellungen davon ausgeht, dass jegliche Reformversuche zwecklos seien. 23 Grohmann führt in der Vorrede seine Aufenthaltsorte im „Orient“, den er aus eigener Anschauung kenne, auf: „Epyrus, Macedonien, Thessalien, Walachei und Constantinopel“. Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844, XIII. 20 21

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Gestalten hängen Lumpen und Fetzen vom Leibe herab, und ihre Haut ist der Sammelplatz von Flechten, Krätze, Geschwüren und Ungeziefer.“24 Mit dem Mangel an Freiheit erlahme „der Wille und das Streben nach Besserem; Entmuthigung, Entmenschlichung aller besseren Gefühle, und ein Herabsinken der Würde unter dem im Vergleiche edleren Instinkte des unvernünftigen Thieres“ sind die Folgen. Die Freiheit, sagte der Arzt Grohmann, sei in der Krone aller dem Menschen zukommenden Attribute das edelste Juwel.25 Mit dem ersten Auftreten der Cholera in Europa Anfang der 1830er-Jahre kam zu dieser Vorstellung vom kulturfernen Islam auch der notwendige Anlass für die aktive „Zivilisierungsmission“: das Scheitern eines medizinischen Konzeptes. Das europäische Konzept der Seuchenabwehr durch Abgrenzung war an der Cholera spektakulär gescheitert. Die „Sanitätsfrage“ wurde nun zu einem der drängendsten Probleme der internationalen Medizin und des Verhältnisses Europas zum Osmanischen Reich.26 François Delaporte hat schon vor einigen Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass die Ausbreitung von Epidemien in Europa auch als Konflikt zwischen Zivilisation und Barbarei wahrgenommen wurde. Die Cholera stand im öffentlichen Diskurs stellvertretend für die als primitiv wahrgenommene Fremdheit des Orients. Indem die Medizin den Ursprungsort der Cholera in Indien lokalisieren konnte, trug sie wesentlich dazu bei, den Export der eigenen Zivilisation in die außereuropäische Welt zu beschleunigen. In einer zeitgenössischen Beschreibung der Choleraepidemie von 1832 in Paris hieß es, „the admirable people of Paris, who are so heroically confronting the cholera of poverty […] were not made to serve as fodder for the cholera of Asia and to die like Slaves in pain and terror. […] One more step for France and Europe will be in a position to teach the East that the sun has changed course and that henceforth the day is dawning for the nations in the West of the old world.“27 Nicht nur in Europa, sondern auch im Orient waren jene Krankheiten, die die Zivilisation bedrohten, zu bekämpfen. Als man erkannte, dass vor allem unterprivilegierte und Arme von der Cholera am meisten betroffen waren, verstieg sich ein französischer Arzt zu dem Vergleich: „Die wohlhabenden Klassen verhalten sich zu den unteren Klassen wie Europa zum Orient, d. h. sie leiden verhältnismässig weniger.“28 Die Völker des Orients galten als ängstlich und faul, ihre dadurch ständig unausgeglichenen Körpersäfte seien der Grund für die Störung der Verdauung, als die die Cholera wahrgenommen wurde. Die Franzosen dagegen – entsprechend dem oben stehenden Vergleich vor allem die Angehörigen der oberen Klassen – seien stark und mutig, was die Abwehr der Krankheit begünstige. Moralische Zuschreibungen waren in der medizinisch-wissenschaftli-

Grohmann, Das Pest-Contagium in Egypten, 1844, 28. Ebd., 27. Zur Geschichte der Sanitätspolitik in Europa vgl. umfassend: Baldwin, Contagion and the state in Europe, 2005. 27 Francois Delaporte, Disease and Civilization. The Cholera in Paris, 1832, Reprint 1989, 103–106. 28 Delaporte, Disease and Civilization, 1989, 104. 24 25 26

Die deutschsprachige Medizin auf „Zivilisierungsmission“

chen Diskussion der Zeit allgegenwärtig. Der Innsbrucker Arzt Heinrich Kaan schrieb 1854 über die Cholera: „Die Unmäßigkeit des Geistes hat noch vor wenig Jahren Europa überflutet und Aufruhr, Communismus und Gräuelszenen aller Art waren ihre Blutzeugen. Die Cholera ist eine Zuchtrute in der Hand des Allmächtigen, um dem schwachen Sterblichen seinen Beruf als Geschöpf Gottes zu versinnlichen.“29 Die „Zivilisation“ diente mithin auch als Argument in der sanititätspolizeilichen Debatte nach innen: 1832 erklärte der Leiter der toskanischen Sanitätsverwaltung Pietro Betti in einer Mitteilung an den Großherzog, dass das drakonische Vorgehen der alten Pestabwehr nicht mehr in die moderne „Zivilisation“ passe.30 Die Betonung der eigenen „Zivilisiertheit“ war schon in den frühen 1830er-Jahre bereits fixer Bestandteil des Selbstverständnisses der k. k. Gesundheitsbehörden geworden. Trotz mancher Zweifel an der Ansteckungsfähigkeit der Cholera begründeten die k. k. Gesundheitsbehörden die eingerichteten  Sperrmaßnahmen 1830 damit, dass „Klugheit und der philantropische Sinn jedes civilisirten Staates zum Wohle seiner Untertanen und zur Sicherstellung der angränzenden Länder“ dies letztlich gebieten würden.31 Nur indem der Geist der Zivilisation auch in den Orient exportiert würde, könnte die Verbreitung von Krankheiten wie der Cholera nach Europa langfristig verhindert werden.32 Indem die Cholera schon mit ihrem Namen  – „asiatische“ oder „orientalische“ Cholera  – mit dem Orient verbunden wurde, war klar, dass sie nicht nur in Europa, sondern auch im Orient zu bekämpfen sei.33 Die Cholera suchte Europa für den Rest des 19. Jahrhunderts in regelmäßigen Abständen heim und ihre Abwehr und Bekämpfung wurde zu einer der wichtigsten Aufgaben der europäischen Medizin. In diesem Sinne war die Ausbreitung dieser europäischen Medizin auch ein wesentlicher Teil einer neuen Auseinandersetzung mit dem „Orient“, in der die Verbreitung von Zivilisation einem Heilmittel gleichgesetzt wurde. Die in den 1820er-Jahren aufgestellten Forderungen nach einer medizinischen Polizei im Osmanischen Reich ließen sich in den folgenden Jahren immer öfter auch in medizinwissenschaftlichen Schriften finden. Eine an der Universität Wien verfasste medizinische Dissertation enthält eine kurz gefasste Beschreibung des Quarantänewesens und der wichtigsten Regelungen um 1835.34 Auch wenn sich der Verfasser Kaan, Gedanken eines Arztes über die Cholera, 1854, 32. Mitteilung an den Großherzog vom 16.7.1832, zitiert nach: Stolberg, Theorie und Praxis der Cholerabekämpfung, 1994, 68. 31 Instruction für die Sanitätsbehörden. Wien 1830. In: Journal der practischen Arzneykunde, 72, 1831, 2. Stück, 125–136, zitiert nach: Stolberg, Theorie und Praxis der Cholerabekämpfung, 1994, 62. 32 Delaporte, Disease and Civilization, 1989, 103–106. 33 Olaf Briese, Angst in den Zeiten der Cholera, Berlin 2003. 34 Leopold Malfatti von Rohrenbach zu Dezza, Dissertatio inauguralis medico-forensis pertractans publicas pestem orientalem praecavendi institutiones, cum singulari earumdem respectu, quibus ditiones caesareo regiae muniuntur. quam … pro doctoris medicinae et chirurgiae laurea rite obtinenda in celeberrima academia Josephina publicae disquisitioni submittit Leopoldus Malfatti de Rohrenbach ad Dezza, Austriacus Viennensis. In Theses adnexas disputabitur … mensis Julii anni 1835, Vindobonae 1835. 29 30

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Die deutschsprachige Medizin auf „Zivilisierungsmission“

(wohl auch im Sinne der damaligen universitären Lehrmeinung) in die Reihe der Befürworter des Quarantänewesens einreihte, griff er den Gedanken, wonach die Pest nur im Orient selbst bekämpft werden könne, indirekt auf: „Demnach werden, so lange es nicht gelingt, durch Einführung einer geregelten und sorgsamen medizinischen Polizey in jenen Ländern, welche als die Geburtsstätte der Pest anzusehen sind, diese an ihrer Quelle zu tilgen, und ihr Aufkommen zu hindern, die Contumazen, wie schwer ihre Erhaltung auch auf dem Staate und dem Handel laste, dennoch stets als unter die segensreichsten Anstalten gehörend, zu preisen seyn.“35 Die vom Osmanischen Reich ausgehende Gefahr hatte sich grundlegend verändert: Nicht mehr der Krieg, sondern Krankheiten bildeten den Kern der Bedrohung, die durch die Verbreitung der Zivilisation bekämpft werden sollte. Welche Elemente bestimmten diese „Zivilisation“ in den Augen von Ärzten, die daran glaubten, dass das Gleichgewicht der Säfte über Wohl und Wehe eines Menschen bestimmte? 7.1

Der „Zustand der Heilkunde“ im Osmanischen Reich

In den 1820er- und frühen 1830er-Jahren hatte eine Reihe von Veröffentlichungen in verschiedenen medizinischen Zeitschriften den „Zustand der Heilkunde“ im Osmanischen Reich beschrieben. Das Auftreten der Cholera, der bald der Zusatz „orientalische“ hinzugefügt wurde, erweiterte das Publikum für Publikationen dieser Art. Das Bild einer Heilkunde im Niedergang wurde dabei verfestigt, weder medizinische Praxis noch der Stand der Wissenschaft galten als zureichend. Die „Notizen auf dem Gebiet der Natur- und Heilkunde“ schlossen 1829 einen Bericht mit der Feststellung: So tief steht die Heilwissenschaft in diesem Lande und so tief stand sie wahrscheinlich in Europa bis zum 10. Jahrhundert. Man hat die richtige Bemerkung gemacht, der Stand der Medicin lasse sich als den Höhenmesser des wissenschaftlichen Zustandes eines Volks ansehen. Wohin immer der Einfluß von Wissenschaft und Cultur reicht, das wird die Medicin in Ehren stehen, da sie mit den Interessen der Menschheit im Einklange steht, und deren Glück befördert.36

Anfang der 1830er-Jahre war der schlechte Ruf der Medizin im Osmanischen Reich bereits so allgemein bekannt, dass das „Summarium des Neuesten aus der Gesammten Medizin“ einfach festhalten konnte: „[…] dass es um die Medicin in der Türkei nicht sehr glänzend aussieht, ist dem Leser wohl bekannt“.37 Liest man diese Zeilen, mag man denken, dass in diesen Ländern vor der Ankunft der europäischen Medizin medizinische Versorgung nicht gegeben war. Was die meis35 36 37

Malfatti von Rohrenbach zu Dezza, Dissertatio inauguralis, 1835, 12. Notizen auf dem Gebiet der Natur- und Heilkunde, 545, September 1829, 269. Summarium des Neuesten aus der Gesamten Medicin, Leipzig 1831, 172.

Der „Zustand der Heilkunde“ im Osmanischen Reich

ten Texte charakterisiert, ist jedoch die Beschäftigung mit dem Fehlen jeglicher Strukturen und Reglementierungen, die den institutionellen Rahmen der europäischen Medizin bilden. Sie suggerieren, dass die „Heilkunde“ nur als System europäischer Prägung bestehen kann; alternative Systeme werden nicht wahrgenommen. Geprägt von diesem Zugang lassen auch moderne Darstellungen der Errichtung der ersten europäischen Schulen in der Türkei, Ägypten und im Iran gerne vergessen, dass es auch vor der Durchsetzung einer europäisch dominierten Medizin gewachsene Strukturen der Gesundheitsversorgung im Orient gab. Medizinische Ausbildungen und auch eine medizinische Wissenschaft38 hatten im Osmanischen Reich eine lange Tradition, die sich mit kleinen Unterbrechungen bis auf die Hochblüte der arabischen Medizin zurückverfolgen lässt. Die traditionsreiche Süleymaniyye-Hochschule für Medizin in Konstantinopel ging auf das Jahr 1555 zurück und baute auf den Werken der großen arabischen Ärzte auf.39 Vor allem die Osmanischen Hofärzte verfassten im 17. und frühen 18. Jahrhundert bedeutende Werke, die dem Standard der Zeit entsprachen. Die Aufmerksamkeit dieser Gelehrten galt seit dem 17. Jahrhundert immer stärker der europäischen wissenschaftlichen Medizin. Auf die medizinische Praxis außerhalb der urbanen Zentren konnten die wissenschaftlich tätigen osmanischen Ärzte aber nur bedingt wirken; Ähnlich wie in Europa waren es in weiten Teilen des Landes – wie auch des ganzen Nahen Ostens – Heilkundige „niederer“ Professionen wie Barbiere, Hebammen und andere Heilkundige, die sich um die Versorgung der Bevölkerung kümmerten.40 Somit lag die Gesundheitsversorgung der Zivilbevölkerung bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend in den Händen Heilkundiger ohne geregelte medizinisch-akademische Ausbildung.41 Ihr Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben und war meist auf spezielle Krankheitsbilder ausgerichtet; So gab es an vielen Orten eigene Heilkundige für Knochenbrüche, Gelbsucht oder Rotlauf, die je nach Bedarf gerufen wurden. In den Städten fungierten die Apotheker vielfach als Vermittler zwischen Patienten und Heilkundigen; Apotheken waren erste Anlaufstellen im Krankheitsfall, von hier aus wurden die Kranken an den jeweils zu dem am geeignetsten erscheinenden Heilkundigen geschickt. Die wenig regulierte medizinische Versorgung begünstigte die Selbstmedikation; in vielen Fällen griff man zuerst auf Kräuter und durch Apotheker zubereitete Heilmittel zurück. Dementsprechend spielten Heilkundige, die vom Verkauf dieser Substanzen lebten, eine zentrale Rolle in der medizinischen Versorgung, während jene, die äußere Eingriffe vornahmen, schon Hier im Gegensatz zur ,,europäischen“ akademischen Wissenschaft. Ünver, Der osmanische Arzt, Ingenieur, 1978, 142f. Allgemein dazu: Rhoads Murphey, Ottoman Medicine and Transculturalism from the Sixteenth through the Eighteenth Century, in: Bulletin of the history of medicine 66/3, 1992, 376–403. 41 Nicht-akademische Zugänge zur Heilung von Krankheiten sind in der Türkei – wie auch in vielen Ländern Europas, wo sie meist als „alternativmedizinisch“ bezeichnet werden – verbreitet. Einen Überblick über diese historisch gewachsenen Gesundheitsangebote in der Türkei gibt Christopher Dole in Selin, Encyclopaedia of the history, 2008, 1592. 38 39 40

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aufgrund des hohen Risikos der meisten Operationen vergleichsweise weniger stark vertreten gewesen sein dürften.42 Zum therapeutischen Repertoire von Chirurgen gehörten die Staroperation und die Behandlung von Knochenbrüchen und äußeren Verletzungen. Aderlässe und die Verabreichung von Abführmitteln gehörten zu den wichtigsten Behandlungsformen für innere Erkrankungen. Beide wurden auch prophylaktisch angewendet. Einzelne Behandlungstechniken wie die Durchführung von Steinschnitten und die bereits ausführlich bearbeitete Einimpfung von Kuhpocken waren im Osmanischen Reich bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet.43 Die Behandlungsmethoden waren denen der mitteleuropäischen Bader und Wundärzte nicht unähnlich; stützten sie sich doch auf ähnliche Autoritäten. Die großen ärztlichen Werke der Antike und der klassischen arabischen Epoche, die die europäische Medizin in der frühen Neuzeit noch wesentlich geprägt hatten, gehörten auch im Osmanischen Reich zum medizinischen Erbe. Während andere, vor allem technische Wissensbereiche im osmanischen Einflussbereich im Lauf der Frühen Neuzeit hinter der europäischen Entwicklung zurückblieben, gab es in der Medizin zumindest fallweise Übersetzungen neuerer europäischer Werke, was die Kluft zwischen ,,europäischem“ und ,,orientalischem“ Wissensstand in der Medizin bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vergleichsweise klein hielt. Auch war der Status des heilkundlichen Wissens im Osmanischen Reich nicht grundsätzlich insulär und abgeschottet: In der Frühen Neuzeit nahmen jüdische Ärzte im Osmanischen Reich die Rolle einer Brücke zwischen Ost und West ein. Da viele über Verbindungen nach Europa verfügten und auch entsprechende Sprachkenntnisse hatten, wurden sie an einfussreichen Positionen eingesetzt und trugen zum Austausch von Wissen bei.44 Ein kontinuierlicher medizinischer Austausch mit Mitteleuropa und Wien lässt sich lange zurückverfolgen. Mitte des 17. Jahrhunderts entstand eine kommentierte Paracelsus-Übersetzung, nur ein Beispiel dafür, dass man sich auch kritisch mit den in Europa herrschenden medizinischen Lehrmeinungen auseinandersetzte. Osmanische Reisende berichteten über medizinische Beobachtungen in Wien, Studenten aus dem Osmanischen Reich wurden bereits sehr früh hierher geschickt, um eine medizinische Ausbildung zu erhalten.45 So der Hakim-Bashi Mustafas des III., Subhizade Abdulaziz Effendi, der im 18. Jahrhundert zum Studium nach Wien kam,

Murphey, Ottoman Medicine and Transculturalism, 1992, 383. Wissen darum war auch den damaligen Ärzten zugänglich. Vgl. dazu z. B. das viel diskutierte Werk von Johann Martin Honigberger, Früchte aus dem Morgenlande oder Reise-Erlebnisse, nebst naturhistorischmedizinischen Erfahrungen, einigen hundert erprobten Arzneimitteln und einer neuen Heilart, dem Medial-Systeme, Wien 1851, 52. 44 Lewis, The Muslim discovery of, Europe 2001, 228. 45 Vgl. Arslan Terzioǧlu, Ein kurzer Blick auf die österreichisch-türkischen medizinischen Beziehungen vom Anbeginn bis heute, in: Arslan Terzioǧlu/Erwin Lucius (Hg.), Österreichische-Türkische medizinische Beziehungen: 28 ve 29 Nisan 1986‘da istanbul‘da yapılan simpozyuma sunulan bildiriler = Öster42 43

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ebenso wie sein Kollege Numan Effendizâde Mesud Effendi, der später auch in Konstantinopel unterrichtet haben dürfte. Die Doktorarbeit des Konstantinopler Griechen Alexander Maurocordato erschien im 17. Jahrhundert in Bologna, Frankfurt und Leipzig im Druck.46 Es deutet wenig darauf hin, dass die Qualität der medizinischen Versorgung der breiten Masse der Bevölkerung in weiten Teilen von Ägypten oder dem Osmanischen Reich Anfang der 1820er-Jahre wesentlich schlechter war als für das Gros der europäischen Bevölkerung. Auch in Europa basierte die Medizin nach wie vor weitgehend auf humoralpathologischen Vorstellungen; Ärzte, die ihren Patienten mehr bieten konnten als bewährte Hausmittel, waren rar und weite Bereiche ländlicher Gebiete medizinisch unterversorgt. Weiter entwickelt war die europäische Medizin spätestens seit dem 18. Jahrhundert vor allem im strukturellen Bereich. Viele frühe Darstellungen der moderneren Medizingeschichte des Nahen Ostens insinuieren, dass die Versorgung der Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert vorwiegend in der Hand von Scharlatanen und unqualifizierten Barbieren gelegen sei, und stützen sich dabei gerne auf die Darstellungen europäischer Ärzte aus dem 19. Jahrhundert, die ihre eigenen Verdienste durch die Betonung besonders großer Hindernisse hervorzuheben bemüht waren.47 In der Erzählung der europäischen Medizingeschichte, die sich aus diesen Zeugnissen heraus entwickelt, ist es nur selbstverständlich, jeden institutionellen Widerstand gegen Regelsysteme als grundsätzliche Ablehnung jeder Innovation zu werten. Beispiele dafür lassen sich tatsächlich finden: So wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts an der Medizinischen Schule in Konstantinopel neuere Werke geschrieben, die sich an veränderten medizinischen Konzepten orientierten. Wenig später wurde von der Hohen Pforte ein Dekret erlassen, mit dem die Ausübung dieser „neuen Medizin“ verboten wurde. In einem orientalistischen Diskurs erschien dies als oftmals als klarer Beleg für die vermeintliche Unterlegenheit und Innovationsfeindlichkeit der Orientalen. So ist diese Begebenheit noch um die Jahrtausendwende bei dem Historiker Bernard Lewis mit dem Zusatz versehen, es sei „unvermeidlich, dass solche Innovationen starken Widerstand hervorriefen“.48 Widerstand solcher Art war im Verständnis der Zeitgenossen massiv zu bekämpfen; Friedrich Wilhelm Oppenheim sah Anfang der 1830er-Jahre die Ärzte als wesentliche Träger der Zivilisation, übersteigerte sie gar zu Hohepriestern. Sie seien „die natürlichen und eifrigsten Missionare zur Verbreitung der Civilisation im Orient, denn sie sind in die Fußstapfen der Priester getreten, seitdem die Religion ihre einzige leuchtende Fackel, reichisch-türkische medizinische Beziehungen; Berichte des Symposions vom 28. und 29. April 1986 in Istanbul, Istanbul 1987, 34–61, hier: 41–44. 46 Johann Christian von Engel, Geschichte des ungrischen Reichs und seiner Nebenländer, Halle 1804, 2. Abteilung, 4. Teil, 1. 47 Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991, 35. 48 „inevitably, such innovations aroused strong resistance“, vgl. Lewis, The Muslim discovery of Europe, 2001, 230f.

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Aufklärung, der Wissenschaft abgetreten hat!“49 Unter dem „Fortschreiten der Zivilisation“ verstanden die Ärzte und medizinischen Schriftsteller vor allem das System der Gesundheitsversorgung im Osmanischen Reich, dessen Abweichungen als „unzivilisiert“ erkannt wurden. Anfang der 1830er-Jahre war der „Orient“ als Vorstellung einer medizinischen Praxis präsent, aber eine Randerscheinung. Seit der französischen Invasion in Ägypten war der „Orient“ – abgesehen von Schriften, die eher den Charakter von Reiseberichten hatten – im deutschsprachigen Raum hauptsächlich in verschieden ausführlichen, aber doch meist kurzen Nachrichten und Notizen in medizinischen Journalen abgehandelt worden, die oftmals auf Mitteilungen von Ärzten aus anderen europäischen Staaten zurückgingen.50 Die deutschsprachige medizinische Wissenschaft hatte  – trotz des klar artikulierten Zivilisierungsanspruchs nur wenig eigene Erfahrung mit medizinischer Praxis im Osmanischen Reich aufzuweisen. Genau zu jener Zeit, als die Cholera nach Mitteleuropa kam, änderte sich das Bild. Die politischen Entwicklungen in Ägypten und dem Osmanischen Reich hatten dazu geführt, dass vor allem in den jeweiligen Armeen Ärzte aus Europa verstärkt eingesetzt wurden. Mit Begeisterung wurde dies von einigen Beobachtern als Wendepunkt gewertet: Eine Art moralischen Phänomens von sehr überraschender Natur stellt sich unseren Augen dar, das bisher gänzlich unbeachtet geblieben ist: Die Binde des Fanatismus und der Unwissenheit löset sich nach und nach von den Augen der Orientalen. Der Orient, die alte Wiege der Wissenschaft, Ägypten, die erste Schule der Griechen, scheint sich selbst noch unbewußt, aus einem Schlummer, in dem es fast ein Jahrtausend gelegen, erwachen zu wollen.51

Enthusisatisch berichtete der Hamburger Arzt Friedrich Wilhelm Oppenheim, der zuvor einige Jahre lang in osmanischen Diensten gewesen war, von dem, was er im Osmanischen Reich in medizinischer Hinsicht wahrgenommen hatte. Nachdem für längste Zeit „Unwissenheit und Fanatismus“ die Orientalen an einer eigenständigen wissenschaftlichen Entwicklung gehindert hätten, sei nun der Zeitpunkt gekommen, dass endlich einer neuen Medizin Bann gebrochen werde. In einem Aufsatz, den er Friedrich Wilhelm Oppenheim, Die Palingenesie der Medicin im Orient, in: Magazin der ausländischen Literatur der gesamten Heilkunde, 7, 1834, 361–358, hier: 358. 50 In Österreich publizierte die neue „Populäre Österreichische Gesundheits-Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom 24. Juli 1830 einen Bericht eines britischen Arztes. „Über den Zustand der Medicin in Constantinopel“, Nr. 25/1830, 91 f. Als weitere Beispiele seien hier auch zwei Mitteilungen aufgeführt, die von französischen Ärzten stammen und für ein deutsches Publikum übersetzt wurden: Briefe über den Zustand der Heilkunde vom Dr. Auban, in: Kritisches Repertorium für die gesamte Heilkunde, Berlin 1824, Bd. 2, 544; Bemerkungen über den gegenwärtigen Zustand der Medicin in den Häfen der Levante. Nebst Untersuchung einiger Heilquellen jener Gegenden. Von Legrand, Doctor der Medicin und Chirurg erster Classe bei der Marine im Departement von Toulon. Mitgetheilt vom Ritter Keraudren in dem „Nouveau Journal de médicine“ Aug. 1819, in: Journal der practischen Heilkunde, Bd. 6, 1819, 85. 51 Oppenheim, Die Palingenesie der Medicin, 1834, 341. 49

Der „Zustand der Heilkunde“ im Osmanischen Reich

überschwänglich „Die Palingenesie der Medizin im Orient“ nannte, strich Oppenheim vor allem die beiden Herrscher Muhammad Ali und Mahmud II. hervor, die in Ägypten und dem Osmanischen Reich selbst Medizinische Schulen gegründet hatten. Das erste größere deutschsprachige Werk, das sich mit der „Medizin des Osmanischen Reiches“ als solcher auseinandersetzt, ist Oppenheims Monographie „Über den Zustand der Heilkunde und über die Volkskrankheiten in der europäischen und asiatischen Türkei“, die 1833 in Hamburg erschien. Oppenheims 140 Seiten umfassendes Buch behandelte sowohl die Grundlagen der Medizin im Osmanischen Reich als auch – unter der Zusammenfassung „Allgemeiner Gesundheitszustand“ – die sozialen Verhältnisse.52 In seiner Vorrede bemühte Oppenheim das Bild vom Licht der Wissenschaft, das das Dunkel der Türkei noch nicht erreicht habe. „Mehr denn vier Jahrhunderte sind es, seit die Türken zum erstenmale über den Hellespont gingen, und aus Asien nach Europa herüberkamen, und ebenso lange ist ein Land, das seit unbedenklichen Zeiten die Wissenschaften gehegt, gepflegt und geübt, und anderen Völkern in reichen Strahlen mitgetheilt hatte, von dieser Macht und Finsternis befallen.“53 Obwohl die Türken immer in Kontakt mit ihren christlichen Nachbarn gestanden seien, wären sie bis zum heutigen Tag „derselbe kindische, vorurtheilsvolle, unwissende, unlenksame und eigensinnige Menschenschlag“.54 Er sah nicht den Islam als für diese Unwissenheit verantwortlich, denn schließlich seien auch die Araber mit ihren wissenschaftlichen Leistungen „Anhänger des Moslims“ gewesen. Es seien die Gesetzgebung und der religiös begründete Fatalismus, die ein schwerwiegendes Hindernis für die Ausbreitung einer wissenschaftlichen Denkweise bildeten. Nach Oppenheims Darstellung standen die europäischen Ärzte – oder jene Europäer, die man für ebensolche hielt – bei der Bevölkerung hoch im Kurs. Allerortens würde dem Europäer, der einen Hut trüge, unaufgefordert der Arm entgegengestreckt, um den Puls zu messen. Grund dafür seien weder die Begeisterung für das Fremde, wie man sie auch aus Europa kenne, noch der Zweifel an den Leistungen der eigenen Heilkundigen, sondern es ist die politische Überlegenheit des Franken über den Eingebohrnen. Der Türke betrachtet den Rahja (den eingebohrnen Christen und Unterthan der Pforte) als seinen Untergebenen, und kann sich selten überwinden ihm volles Vertrauen, und die dem Arzte nöthige Achtung zu schenken; von dem Franken hingegen, der unter einer anderen Jurisdiktion steht, weiß er, daß er keine Macht über ihn habe, und dies bringt in einem Lande,

Oppenheim stützt sich auch auf jüngere Literatur aus Europa und zitiert unter anderem den Baron von Tott, Pouqueville, Griffith, in medizinischen Fragen auch Wiesemann, Hufeland, Strohmayr. Oppenheim hielt sich – wahrscheinlich Ende der 1820er-Jahre – für drei Jahre im Osmanischen Reich auf und bereiste nach eigenen Angaben neben Kleinasien vor allem den Balkan. Kurz scheint er sich auch in Palästina und Ägypten aufgehalten zu haben. 53 Friedrich Wilhelm von Oppenheim, Ueber den Zustand der Heilkunde und über die Volkskrankheiten in der europäischen und asiatischen Türkey. Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte, Hamburg 1833, III. 54 Vgl. Oppenheim, Ueber den Zustand der Heilkunde, 1833, IV. 52

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wo das Recht des Stärkeren gilt, und wo häufig die Macht über das Recht den Sieg davon trägt, schon einen bedeutenden Vorzug hervor.55

Das Selbstbild von der eigenen Überlegenheit und die politische Realität griffen hier ineinander: Durch die sogenannten „Kapitulationen“ erreichten die europäischen Mächte eine Sonderstellung für ihre Untertanen im Osmanischen Reich, die unter anderem eine eigene Rechtsprechung beinhaltete. Diese Sonderbehandlung verstärkte ganz offensichtlich die Wirkungsmacht der europäischen Medizin. Als Zeugen für diese Überlegenheit wurden schon bald auch „Einheimische“ aufgerufen. Zu Beginn der 1830er-Jahre erhielt die türkische Heilkunde durch den aus Konstantinopel stammenden Studenten Demetrius Maurocordato erstmals selbst eine Stimme in einem Aufsatz über die Cholera in Konstantinopel.56 „Es macht uns ein besonderes Vergnügen, zum ersten Male einen türkischen Herrn Collegen in die medizinische Litteratur einzuführen, und wir zweifeln nicht, daß unsere Leser diess Vergügen mit uns theilen werden“, schrieb der Herausgeber selbst in den einleitenden Zeilen.57 Die Publikation wurde in einen unmittelbaren, ursächlichen Zusammenhang mit der „fortschreitenden Civilisation der Türken“ gestellt, auch wenn attestiert wurde, dass die Türken noch „Galenischen“ Vorstellungen anhingen. Hervorgestrichen wurden neben Maurocordato, der in München und Berlin medizinische Studien absolviert hatte, auch der Verfasser der Schrift, Mustafa Behçet (1774–1835), dem Hufeland „das Zeugnis eines richtigen und aufgeklärten Urteils nicht versagen“ wollte.58 Maurocordatos Bericht war kein Versuch, gewachsene medikale Strukturen im Osmanischen Reich zu verteidigen. In einigen Anmerkungen kommentierte Maurocordato die von ihm als „Dissertation“ bezeichnete Arbeit Behçets, voll der Begeisterung für die europäische Sicht der Dinge. Behçet sei ein Gelehrter, der sich besonders für die Botanik interessiere und die Scharlatanerie vieler in Konstantinopel ansässiger Ärzte erkenne, sich aufgrund der Macht ihrer Beschützer kaum in die Schranken weisen könne. Maurocordato erwähnte die

Oppenheim, Ueber den Zustand der Heilkunde, 1833, 8. Vgl. Maurocordato, Die Cholera-Epidemie zu Konstantinopel, 1832. Sein Aufsatz, der ursprünglich in Hufelands Journal erschien, wird auch in Wien in der Populären Österreichischen Gesundheits-Zeitung wiedergegeben. Gesundheits-Zeitung Nr. 63, 8. August 1832. 57 Maurocordato, Die Cholera-Epidemie zu Konstantinopel, 1832, 33. 58 Ebd., 33. Behçets Schrift über die Cholera beschreibt den Krankheitsverlauf, Schutzmaßnahmen und auch die möglichen Behandlungswege. Behçets Schrift ist nicht die erste in europäischen akademischen Kreisen als wissenschaftlich anerkannte Arbeit. Der Ägypter Muhāmmad Alī al-Baqlī legte in Paris 1833 seine Dissertation zu Augenentzündung, Pest und Ruhr vor. Auch Oppenheim erwähnt diese Arbeit Behçets, die in Europa offenbar bereits einige Bekanntheit erlangt hatte: Oppenheim, Die Palingenesie der Medicin, 1834, 356. Diese in Europa rezipierten Schriften bauten ihrerseits auf europäischem Wissen auf, das in ihnen reflektiert wird. In Tunis in Nord-Afrika war unter den arabischen Ärzten in diesen Jahren eine von Behçet auf Basis einer österreichischen Arbeit verfasste Abhandlung über die Behandlung der Cholera sehr verbreitet. Drei Kopien davon befinden sich in der Tunesischen Nationalbibliothek. Vgl. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 58. 55 56

Von der Macht des Arztes und dem Kampf der europäischen Medizin gegen die „Scharlatanerie“

Gründung einer Medizinischen Schule durch Behçet und legte ihm folgende Worte in den Mund: „Wenn Du wiederkommst, dann wird hoffentlich Zeit seyn, die hiesige Charlatanerie zu beschränken, indem dies nur von den Fortschritten der Civilisation zu erwarten ist.“59 Diese „Charlatanerie“ war eines der zentralsten Motive der Kritik am Osmanischen Reich und Ägypten – sie stand im Gegensatz zu der von „orientalischer Seite“ selbst geforderten „Zivilisation“. Ihre Bekämpfung wurde zu einem vordringlichen Ziel der europäischen Mediziner im Osmanischen Reich. Dafür war es notwendig, im medizinischen System des Osmanischen Reiches Fuß zu fassen. 7.2

„A doctor may do what he likes“: Von der Macht des Arztes und dem Kampf der europäischen Medizin gegen die „Scharlatanerie“

Dass der Arzt Behçet sich gegenüber „Scharlatanen“ machtlos fühlte, hat wohl mit den Machtstrukturen zu tun. Wer den Mächtigen nahe war, konnte selbst frei und machtvoll agieren; mit dem Einflußbereich eines „Mächtigen“ endete aber auch der Einfluß auf medizinische Strukturen. Noch mehr galt das für die europäischen Ärzte: Sie hatten sich in einem System zu bewegen, das zunächst weitgehend außerhalb der Kontrolle der akademischen Medizin lag. Eine wesentliche Rolle kam im medikalen System des Osmanischen Reiches deshalb zunächst jenen europäischen Ärzten zu, die im Osmanischen Reich und seinen Provinzen in ein Naheverhältnis zu lokalen Machthabern kamen, was zum Teil schon ab dem 18. Jahrhundert der Fall war.60 Sie konnten die Ausrichtung der medizinischen Versorgung maßgeblich mitbestimmen und durch ihr Netzwerk die Verbindungen zur einen oder anderen medizinischen Institution in Europa wesentlich stärken. Oft genannte Beispiele sind in diesem Zusammenhang der Franzose Antoine Clot, der in Ägypten in den Aufbaujahren der medizinischen Schule und der medizinischen Strukturen Anleihen beim französischen System nahm und Studenten in großer Zahl nach Frankreich senden ließ, oder der Wiener Arzt Jacob Eduard Polak, der die medizinische Ausbildung in Persien reformierte. Auch viele andere Ärzte nutzten ihre Einflussmöglichkeiten. Der Münchner Geschichtsprofessor Johann Nepomuk Sepp (1816–1909), der Ägypten und Palästina Ende der 1850er-Jahre bereiste, betonte, der bayrische Arzt Franz Pruner habe bei seinem „siebzehnjährigen Aufenthalt im Lande der Pharaonen im Interesse abendländischer Civilisation gewirkt und zugleich Ansehen und Einfluss der Deutschen gehoben.“ Sepp strich auch Pruners wesentlichen Anteil an der Etablierung von wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Ägypten und dem Maurocordato, Die Cholera-Epidemie zu Konstantinopel, 1832, 42. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts hatten beispielsweise die Beys von Tunis europäische Ärzte als persönliche Ärzte. Diese nahmen teilweise auch gerichtsmedizinische Aufgaben wahr. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 17.

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deutschsprachigen Raum heraus. Er habe „der deutschen Wissenschaft im Nillande einen Namen gegründet“ und durch seinen Rat sei die Regierung dazu gekommen, Studenten nach Wien und München zu schicken.61 Pruner war aber nicht der erste deutschsprachige Arzt, der in Ägypten tätig war: Der erste Mediziner (aus habsburgischen Landen), der in eine einflussreiche Stellung als Leibarzt und Mitarbeiter eines hohen Würdenträgers kam, war wahrscheinlich der gebürtige Görzer Dr. Morpurgo.62 Die Rahmenbedingungen für die Arbeit als Hofarzt waren vielfältig. Waren es in den Provinzen vielleicht ein oder zwei Ärzte, die einem Machthaber zur Verfügung standen, sah die Lage in der Residenzstadt Konstantinopel ganz anders aus. Dem Status des Osmanischen Hofes entsprechend aufwendig war auch die medizinische Ausstattung des Hofstaates: Unter Abdülmecid, der von 1839 bis 1861 regierte, versahen nicht weniger als 28 Ärzte als „Serailsärzte“ am Hof Dienst. Sie standen unter der Aufsicht eines Oberhof- oder Chefarztes, der ein Muslim, aber nicht unbedingt ein ausgebildeter Arzt sein musste. „Serailsärzte“ hatten ein Art Bereitschaftsdienst zu leisten, in dem sie abwechselnd zu 24-Stunden-Diensten eingeteilt wurden.63 Ausgenommen davon waren jene Ärzte, die in der Gunst des Sultans oder einer anderen hochgestellten Persönlichkeit standen; sie mussten nur auf Wunsch des Betreffenden erscheinen. Die in den 1840er-Jahren in Konstantinopel tätigen Österreicher gehörten durchwegs zur zweiten Kategorie; eine Sonderstellung erlangte Sigismund Spitzer, der, von dem Arzt Carl Ambros Bernard protegiert, 1845 zunächst zu seinem Nachfolger als Leiter der Medizinischen Schule und dann aufgrund einer gelungenen Behandlung des Sultans in den Kreis seiner persönlichen Ärzte aufgenommen wurde. Zwischen Spitzer und Abdülmecid entwickelte sich eine Freundschaft, die von Spitzer zunächst dazu ausgenutzt wurde, möglichst detaillierte Berichte über den Osmanischen Hof nach Wien zu schicken. Mit dem Abgang Metternichs 1848 endete auch Spitzers Berichtstätigkeit.64 Die Stellung eines Leibarztes war dabei durchaus nicht ungefährlich. Macht und Einfluss, die mit dieser Position zusammenhingen, machten die Leibärzte zur Zielscheibe von Intrigen und Widerständen, die manchmal mit der Position an sich, in manchen Fällen aber auch mit dem Aufeinandertreffen von verschiedenen medizinischen Kul-

Sepp, Jerusalem und das heilige Land, 1863, v. Seetzen, Reisen durch Syrien, Palästina, Phönicien, die Transjordan-Länder, Arabia Petraca und UnterAegypten, 1854–1859, 205. 63 Dazu besonders: Alois Kernbauer, Sigismund Spitzer und die Medizinische Schule in Istanbul, in: Arslan Terzioǧlu (Hg.), Mekteb-i Tıbbiye-i Adliye-i Şahane ve bizde modern tıp eğitiminin gelişmesine katkıları: Kuruluşunun 150. yıldönümü anısına 18 eylül 1989‘da yapılan simpozyuma sunulan bildiriler = Die Hohe Medizinschule Galatasaray und ihre Bedeutung für die moderne türkische Medizin. Berichte des Symposions am 18.9.1989 anläßlich des 150. Gründungsjahrs, Bd. 2: Arkeoloji ve sanat yayınları, Istanbul 1993. 64 Umfassend dazu auf aus Basis österreichischen Aktenmaterials: Kernbauer, Die österreichischen Ärzte in Istanbul, 1990. 61 62

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turen zu tun hatten. Der chronisch leberleidende osmanische Sultan Mahmud II. starb Ende der 1830er-Jahre bereits wenige Monate nach Ankunft des österreichischen Arztes Jakob Anton Neuner (1806–1842), was seine Stellung am osmanischen Hof stark infrage stellte. Der Tod eines Sultans war traditionellerweise Anlass für den Austausch des Leibaztes; Neuner wurde von einem hochrangigen Politiker dennoch das Angebot gemacht, zu bleiben, was er allerdings ablehnte.65 Am Hof des Sultans gab es neben Neuner sieben türkische Hofärzte, die für die Versorgung des Harems und des Hofstaates zuständig waren, Neuner selbst hatte sich exklusiv um den Sultan zu kümmern. Vor allem die türkischen Hofärzte begegnetem ihm mit ,,verstecktem Groll“, wie es in einer Lebensskizze Neuners hieß, auch habe er vor allem anfangs ,,Hof und Volk gegen sich gehabt“.66 Besonders der Oberhofarzt Abdülhak Molla (1786–1854) scheint in Neuner eine Gefährdung seiner Position gesehen zu haben. Erst nachdem Neuner in einigen Fällen vor seien Kollegen sein medizinisches Können unter Beweis gestellt hatte, ,,beugten sich diese vor der Macht des Wissens“, wie es in einem biographischen Rückblick auf Neuners Leben heißt.67 Sigismund Spitzer, Leibarzt Abdülmecids, hatte mit heftigen, am Ende seiner Karriere sogar lebensbedrohenden Widerständen zu kämpfen. In den ersten Monaten seiner Tätigkeit als Leibarzt berichtete Spitzer nach Wien, dass er eine Arznei für den Sultan zwar beim Hofapotheker bestellt habe, sie aber selbst zubereitete, weil er fürchten musste, dass er dem seinem Vorgänger noch verbundenen Apotheker nicht vertrauen könne. Spitzers Lage am Hof blieb prekär: Im November 1850 boten nicht näher genannte Hofkreise Spitzer drei Millionen Piaster  – ein wahres Vermögen –, wenn er den Sultan vergiften würde. Der Plan scheiterte zwar an Spitzers Integrität und Reşid Pascha ließ einen vorgeblich schuldigen Höfling zur Verantwortung ziehen, die ,,Hintermänner“ dieses Plans schienen aber verschont geblieben zu sein. Für Spitzer, der dem Sultan freundschaftlich verbunden war, bedeutete dieser Vorfall das Ende seiner Karriere in Konstantinopel. Spitzer hatte die Lust am Hofleben in Konstantinopel ein für alle Mal verloren, umso mehr, als nun sein eigenes Leben in Gefahr geraten war. Spitzers enge Freundschaft zum Sultan nahm davon keinen Schaden; selbiger bat ihn zu bleiben und nötigte ihn schließlich, zumindest den Osmanischen Staatsdienst nicht zu quittieren. So wurde aus dem Leibarzt und österreichischen Informanten Spitzer ein Diplomat in Osmanischen Diensten. Nicht ohne vorher für seine Loyalität mit einer beachtlichen finanziellen Entschädigung bedacht worden zu sein, kehrte Spitzer nach Wien zurück. Dort fungierte er als Botschaftsrat der Osmanischen VerDer betreffende Würdenträger Chosrau Pascha konnte ihm den Schutz des mächtigen Sultans nicht ersetzen, stand er doch selbst im heftigen Gegensatz zum Mann der Stunde, dem jungen Reşid Pascha, der Mahmuds Nachfolger Abdülmecid zu neuen Reformen drängte. Vgl. dazu: Karl Vocelka, Die Beurteilung der Tanzimatzeit in Österreich, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 100, 1992, 410–431, hier: 416f. 66 Wurzbach von Tannenberg, Biographisches Lexicon des Kaiserthums, 1856–1891, XX, 293. 67 Ebd. 65

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tretung und war als solcher in die in Wien stattfindenden Verhandlungen im Zuge des Krimkrieges involviert. In einer biographischen Skizze im „Neuen Wiener Tagblatt“ hieß es: „Er war die Seele, der Leiter der türkischen Gesandtschaft, auch wenn er nicht als deren Repräsentant figurierte.“68 Spitzer war dabei kein Einzelfall: Diplomatische Aufgaben wurden immer wieder von den persönlichen Ärzten wahrgenommen. Der persönliche Arzt des Beys von Tunis in den 1740er-Jahren, Pignon, war sowohl französischer Konsul als auch Präsident eines französischen Handelsunternehmens. In den 1770er-Jahren war der Franzose Bruno Jourdan persönlicher Arzt Ali Beys und auch Konsul Österreichs und der Toskana.69Je nach dem Grad des Vertrauens, das der jeweils Betroffene seinem persönlichen Arzt entgegenbrachte, und der Schwere der Krankheit, waren Konsultationen eine durchaus auch diplomatische Herausforderung. Gegensätzlichste Diagnosen und Therapien standen in den bei schwereren Erkrankungen einzuberufenden Ärzteconsilien meist in scharfem Gegensatz und repräsentierten dabei oft auch die unterschiedlichen Schulen, denen die Ärzte angehörten, was in Wien jeweils mit spezifischer Wertung mitverfolgt wurde, auch wenn keine „Österreicher“ mehr an den entscheidenden Stellen saßen. Gegensätze und Loyalitäten zu europäischen Netzwerken wurden in der Berichterstattung über die Vorgänge bei Hof, die sehr häufig Gegenstand medizinischer Berichterstattung in den Wiener Periodika waren, fast immer reflektiert. Nach Spitzer war der in Paris ausgebildete Constantin Caratheodory längere Zeit Leibarzt des Sultans Abdülmecid. Caratheodory hatte sich dank einer richtigen Diagnose, die er gegen einige Kollegen, die gemeinsam zur Behandlung des Sultans gerufen wurden, durchsetzen konnte, zu Spitzers an Einfluss und Macht ebenbürtigem Nachfolger gemacht. Als der Sultan an einem heftigen Durchfall erkrankte, verordnete Caratheodory Chinin, das die anderen im einberufenen Ärzteconsilium vertretenen Ärzte der älteren „italienischen Schule“ (so die zeitgenössische Fremdbezeichnung der Wiener Medizin für in Italien ausgebildete Ärzte) heftig abgelehnt hatten. Der Sultan erholte sich rasch und ließ Caratheodory daraufhin einen Palast errichten, den man in Konstantinopel in Anspielung auf das angewendete Heimittel ,,Chinin-Palast“ nannte.70 Wenige Jahre später erkrankte Abdülmecid an einer zunächst als allgemeine Schwäche abgetanen Krankheit, die sich später als Tuberkulose herausstellen sollte. In der Wiener „Medicinal-Halle“ widmete der gut informierte Konstantinopeler Korrespondent  – offenbar selbst Arzt – den Vorfällen rund um Abdülmecids Tod nur wenige Monate danach einigen Raum. Caratheodory, Abdülmecids einstiger Retter, nahm in diesen Schilderungen einen wenig rühmlichen Platz ein; die Andeutung, dass Caratheodory an seinem Tod

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Neues Wiener Tagblatt (Familienjournal), 1869, 202. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 19. Wiener Medicinal-Halle, 1862, 77.

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durch seine Fahrlässigkeit nicht unschuldig sei, schwang in den Beschreibungen der Vorgänge dabei mit.71 Abdülmecids Nachfolger Abdülaziz vertraute ebenfalls auf die Dienste des griechischstämmigen Marco Pizipio, der bereits in den Jahren seiner Thronanwartschaft sein Leibarzt gewesen war. Pizipio, der in der Literatur nach seinem Titel meist als ,,Marco Pascha“ auftaucht, war ein Schüler Caratheodorys und Riglers an der Medizinischen Schule in Konstantinopel gewesen und pflegte gute Beziehungen zur österreichischen Medizin, was in Wien sofort positiv zur Kenntnis genommen wurde.72 Nicht nur in Konstantinopel, Kairo oder Teheran konnten Europäer Karriere als Leibärzte einheimischer Würdenträger machen. Akademische Qualifikationen spielten dabei kaum eine Rolle. Dem aus Siebenbürgen stammenden Apotheker Johann Martin Honigberger fiel die Stelle eines Leibarztes des osmanischen Statthalters Dohut Pascha in Bagdad über Vermittlung eines Landsmannes in den Schoß. Der Ungar Anton Swoboda, der in Bagdad in den 1820er-Jahren eine Glaswarenhandlung mit böhmischen Produkten betrieb, war vom Pascha gebeten worden, ihm einen europäischen Arzt und einen Chirurgen zu vermitteln.73 Gemeinsam mit dem belgischen Arzt Henri de Turk nahm Honigberger das Angebot an, blieb allerdings nur kurze Zeit in Bagdad und reiste schließlich nach Persien weiter. Honigbergers Dienstverhältnisse wechselten rasch, immer wieder stand er in Diensten unterschiedlicher Herrscher, denen ein europäischer Arzt eine Art Statussymbol war. Ärzte, die unter dem persönlichen Schutz eines lokalen Machthabers standen, genossen weitestgehenden Respekt – was allerdings wenig über die tatsächlichen Fähigkeiten der Betreffenden aussagt. Nicht wenige Europäer nutzten dies für ihre eigenen Ziele, und bei Weitem nicht alle waren tatsächlich seriöse Ärzte. In Magnesia traf der schottische Reisende Charles MacFarlane (1799–1854)74 Ende der 1820er-Jahre auf einen Italiener, der sich wie viele seiner Kollegen als „Professore di medicina“ vorstellte. MacFarlane informierte sich über den Mann und fasste seine Erkenntnisse in dem wenig schmeichelhaften Satz „I had heard facts of him, a tithe of which in his own country would have sent him to the gallows“75 zusammen. Nachdem ihm bereits zuvor ein Italiener mit zweifelhafter medizinischer Qualifikation begegnet war76, fand er sich Wiener Medicinal-Halle, 1862, 77. Nebenbei sei darauf verwiesen, dass eine Hebamme namens Pizipio bereits in den Jahren der Tätigkeit der österreichischen Ärzte an der Medizinischen Schule tätig war. Yesim Isil Ulman, Portraits of Italians in Health Affairs in 19th Century Istanbul. Dr. Castaldi, Pharmacist A. Calleja, Midwife Messani, in: Oriente Moderno 88, 2008, 135–149, hier: 143–149 führt sie als „Italienerin“. 73 Swoboda firmierte unter dem Namen „Ignaz Zahn & Comp, Pest & Aleppo“. Honigberger hatte ihn in Aleppo kennengelernt. Honigberger, Früchte aus dem Morgenlande, 1851, 40. 74 MacFarlane lebte ab 1816 in Italien, im Jahr 1827 verbrachte er mehr als ein Jahr im Osmanischen Reich. 75 Charles MacFarlane, Constantinople in 1828. A residence of sixteen months in the Turkish capital and provinces; with an account of the present state of the naval and military power, and of the resources of the Ottoman empire, London 1829, 355. 76 Ebd., 342. 71 72

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in seiner Skepsis bestätigt. Die Behandlung einer selbst zugefügten Schussverletzung eines Soldaten, in die auch ein zweiter aus Mailand stammender Arzt involviert war, entwickelte sich zu einem Geschäft, in dem es vor allem darum ging, den besten Preis für die eigenen Leistungen zu erzielen. ,,The ‚professore‘ of medicine and surgery cooly made him pull off his short cotton drawers […] and began groping and probing in such a manner as to make the Turk howl with pain. Finding, that he could not extract the ball, he told the man to have patience, to go and lie quiet all night, he would make him up a salve to anoit a wound, and in the morning, he would take out the ball.“77 Über die – später in Abwesenheit des Verletzten stattgefundene – Preisverhandlung der beiden Ärzte berichtete MacFarlane, dass sich die beiden in ihren Forderungen gegenüber dem, was der Verletzte zu bezahlen imstande war, ständig hinauflizitierten und auch sonst keinerlei Bedenken hatten, aus der misslichen Lage des Verletzten Profit zu schlagen. Auf MacFarlanes Frage an einen der beiden, woher er als Christ seine Sicherheit im Umgang mit den türkischen Soldaten nehme, antwortete dieser: ,,I am the hekimbashi of the town; I serve the governor; and besides, the Turks can’t do without us – they are always respectful to doctors – a doctor may do what he likes!“78 Oft waren es dreiste Schwindler, die aus den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten Kapital schlugen: Oppenheim berichtete von einem Briefträger, der auf Korfu als Arzt praktizierte79, der Schweizer Arzt Titus Tobler (1806–1877) von einem ,,deutsch sprechenden Barbier, aus Konstantinopel, der nöthigenfalls auch den Fiedelbogen führte.“80 Umso weiter abseits der großen Zentren man kam, desto wilder wurde auch das Treiben europäischer Scharlatane. Der Afrikareisende Martin Hansal (1823–1885) berichtete 1855 von einem gebürtigen Franzosen, der in Chartum im heutigen Sudan als Arzt und „Verfertiger von Eunuchen“ sein Unwesen trieb. Er war konvertiert und hatte den Namen Mustafa Effendi angenommen. Mustafa Effendi wurde von der ägyptischen Regierung als Apotheker nach Charthum geschickt: ,,Auf dem Wege dahin studierte er auf seinem Dromedar Medizin, wozu er sich einer Art Katechismus in Fragen und Antworten bediente. Da er jedoch von diesem Buche in drei Teilen nur zwei besaß, so blieb sein Wissen Stückwerk und es schien ihm auf manche Frage, die ihm später vorkam, die Antwort zu mangeln. Dieser Jünger Äskulaps wüthete unter den Kranken wie ein Würgeengel und wurde später nach Kordofan versetzt.“81 Hansal fügte diesen Beschreibungen hinzu, dass Mustafa Effendi gegenwärtig wieder in Charthum sei, wo er sich mit der ,,Verfertigung von Eunuchen“ beschäftigt habe.

MacFarlane, Constantinople, 1829, 361. Vgl. ebd., 362. Oppenheim, Ueber den Zustand der Heilkunde, 1833, 10. Aus Tobler, Beitrag zur medizinischen Topographie, 1855, zitiert nach: Norbert Schwake, Die Entwicklung des Krankenhauswesens der Stadt Jerusalem vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Bd. 8: Studien zur Geschichte des Krankenhauswesens, Herzogenrath 1983, 98. 81 Martin Hansal, Forsetzung der neuesten Briefe aus Charthum in Central-Afrika, Herausgegeben von Franz Xaver Imhof, Wien 1856, 22. Bereits Russegger erwähnte diesen Heilkundigen in seinen Reisebeschreibungen. 77 78 79 80

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Die Reichweite dieser Scharlatane und Abenteurer war dabei ebenso groß wie der ihnen unter europäischen Reisenden vorauseilende Ruf. In Täbris in Persien traf der bayrische Schriftsteller Moritz Wagner (1813–1887)82 Mitte der 1840er-Jahre einen Italiener namens Foresti, der sich als Arzt ausgab.83 Dieser sogenannte Doktor war, wie ich bereits in Erzerum erfahren, seit Jahren als wandernder Charlatan in der asiatischen Türkei bekannt und hatte bei gewandter Sprachkenntnis manche Paschas und Untergebene belogen und betrogen, ihnen bald heilkräftige Wundermixturen gegen alle möglichen Übel für hohes Honorar verschrieben, bald mit seinen bergmännischen Kenntnissen sich brüstend Gold und Silber aufzufinden versprochen. […] Überall zur Türe hinausgeworfen versuchte er jetzt in Persien sein Glück.84

Die Grenzen zwischen Scharlatanerie, Geschäftemacherei und dem, was man als zeitgemäße medizinische Praxis bezeichnen könnte, verschwimmen gerade in der historischen Betrachtung sehr leicht. Der aus Siebenbürgen stammende Apotheker Johann Martin Honigberger praktizierte in den 1820er-Jahren in Ägypten, dem Libanon, in Mesopotamien und Persien als Arzt; seine abenteuerlichen Reisen und seine Persönlichkeit brachten ihm nach seiner Rückkehr nach Europa einige Publizität ein, als Nicht-Akademiker blieb er fachlich jedoch ein Außenseiter. Während seiner jahrzehntelangen Reisen durch den Orient bis nach Indien entwickelte Honigberger nach dem Vorbild der älteren medizinischen Schulen sein eigenes medizinisches System, das er als „Medial-System“ bezeichnete. Sein Reisewerk ,,Früchte aus dem Morgenland“ gibt Zeugnis über seine medizinische Tätigkeit und das Halbwissen, aus dem er schöpfte.85 Die Bewohner des Libanon glauben, dass die häufige Erzeugung des Bandwurmes in ihrem Lande eine Folge des Genusses des rohen Fleisches sei, worauf sie unmässig Branttwein trinken. […] Die Hauptursache der Entstehung desselben scheint mir jedoch in dem Umstande zu liegen, dass die ärmeren Leute, sie auch am meisten diesem Übel ausgesetzt sind, in den Zimmern, wo die Seidenwürmer aufgezogen werden, schlafen, und die schädlichen Stoffe der faulenden und sich zersetzenden Maulbeerblätter, wovon sich die Seidenwürmer ernähren, einatmen […].86

Tatsächlich lag die einheimische Heilkunde mit ihrer Einschätzung wohl richtiger als der Europäer Honigberger. Im Libanon agierte der gelernte Apotheker bei der Belagerung von Accra als Chirurg und bildete nach eigenen Angaben ein Dutzend einheimischer Barbiere zu Chirurgen aus.87 Wagner bereiste zwischen 1836 und 1838 Algerien und 1842 bis 1845 den Kaukasus, Armenien, Kurdistan und Persien. Ab 1852 war er mit Carl Scherzer in Mittel- und Nordamerika sowie in der Karibik unterwegs. 83 Wagner, Reise nach Persien und dem Lande der Kurden, 1852, 353. 84 Ebd. 85 Zu Honigberger und seinen als Quellen natürlich bedeutenden Arbeiten vgl. neuerdings: Dinges, 2014. 86 Honigberger, Früchte aus dem Morgenlande, 1851, 34. 87 Ebd., 37. 82

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Honigberger war kein Einzelfall: Lorenz Rigler verwies in seinem Türkei-Werk auf ,,die Unzahl der hier practizierenden Individuen, welche nie einen geregelten medizinischen Cursus machten“. Sie seien meist politische Flüchtlinge aus Italien und Polen, die nach ,,vergeblichen Versuchen, andererseits Erwerb zu finden, endlich Zweck in der Ausübung der Medizin erreichten“.88 Als Rigler das in den 1850er-Jahren niederschrieb, war es bereits zu einer Klärung der Machtverhältnisse gekommen: Viele Positionen bei Hof wurden bereits von europäisch gebildeten Ärzten eingenommen. Sie waren es dann auch, die den Kampf gegen die „Scharlatanerie“ zu einem der vordringlichsten Motive erklärten. Der Begriff wurde dabei immer weiter gefasst und beschränkte sich bald nicht mehr nur auf die weiter oben beschriebenen betrügerischen Aktivitäten, sondern auf das Tätigwerden all jener Heilkundigen, die keine formale akademische Ausbildung genossen hatten, was grundsätzlich fast alle im Osmanischen Reich heilkundlich tätigen Personen zu „Scharlatanen“ machte. Vor allem alte Frauen, die für die Behandlung der verschiedensten Formen innerer Erkrankungen herangezogen wurden, stechen in der europäischen Literatur hervor. Sie galten schon allein aufgrund ihres Lebensalters als erfahren im Umgang mit den verschiedensten Krankheiten. Durchfallerkrankungen, Fieber und verschiedene Kinderkrankheiten wurden durch Räucherungen, Waschungen und die Zubereitungen verschiedener pflanzlicher Aufgüsse behandelt.89 Weibliche medizinische Laien wurden zu einem besonderen Feindbild der medizinischen Literatur. Dies betraf besonders die in der Weitergabe der milden Blattern zur sogenannten „Variolation“ tätigen Frauen, die praktisch überall auf der Welt mit der Variolation verbunden wurden. Der Wiener Arzt Draut sprach um 1830 von „alten Weibern und anderen Agyrten“, in deren Händen sich die Impfung bis auf neuere Zeiten befunden habe. Auf das Beispiel der Lady Montague Bezug nehmend, die eines ihrer Kinder von einer dieser heilkundigen Frauen in Konstantinopel die milden Blattern einimpfen ließ, meinte Draut abschätzig, dass sie dies wohl gewiss nicht getan hätte, wenn sich „damals schon Ärzte mit der Impfkunst abgegeben hätten.“90 Die Tätigkeit von Frauen war schon in den 1850er-Jahren manchen im Osmanischen Reich Tätigen ein Dorn im Auge, so für den Schweizer Titus Tobler, der mehrfach das Heilige Land bereiste. Am meisten klage der gebildete Arzt über die Geschäftigkeit und den Aberwitz „alter Weiber“, insbesondere seien es Jüdinnen, die in der Bevölkerung zu einem gewissen Ansehen gelangt seien. Bei Augenerkrankungen würden sie den meisten „Schaden anrichten“, meinte Tobler, der selbst noch eher humoralpathologischen Vorstellungen anhing.91

Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, I, 343. Tawfīq Kanʿān, Aberglaube und Volksmedizin im Lande der Bibel, Bd. 12: Abhandlungen des Hamburgischen Kolonialinstituts Reihe B, Völkerkunde, Kulturgeschichte und Sprachen, Hamburg 1914, 46. 90 Draut, Historia de insitione variolarum, 1829, 17. 91 Tobler, Beitrag zur medizinischen Topographie, 1855, 4. 88 89

Die Sanitätsräte als Plattformen für mittelbare Einfussnahme

Auch akademisch qualifizierte europäische Ärzte waren bei Weitem nicht immer in der Lage, den Menschen zu helfen. Als 1849/50 die Cholera in Tunis wütete, listete der Italiener Lumbroso einige Behandlungsvarianten auf, die von europäischen Ärzten in Tunis angewandt wurden. Ein spanischer Arzt namens Maschero nahm Aderlässe vor, verabreichte Olivenöl, um das Erbrechen zu erleichtern, und ließ die Patienten mit heißen Eisen berühren. Der Italiener Ferrini verabreichte ebenfalls Öl, nahm Aderlässe vor und ließ Senfpflaster aufbringen. Von klassischen medizinischen Vorstellungen beeinflusst, hielt er vor allem all jene mit einem sanguinischen Temperament gefährdet und ließ Substanzen verabreichen, die den Körper richtig temperieren sollten. Nur der Engländer Dr. Cotton schien zumindest auf die Aderlässe verzichtet zu haben – obwohl auch die Engländer die dehydrierenden Aderlässe für am sinnvollsten hielten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die europäische Medizin in Tunis größere Heilungserfolge erzielte als die arabische.92 Auch in den Armeen, wo sich europäische Ärzte zuerst etablieren konnten, waren die Erfolge europäischer Ärzte oder jener, die nach den europäischen Mustern ausgebildet worden waren, keineswegs durchschlagend. Der britische Marineoffizier Adolphus Slade (1804–1877)93 beschrieb in seinen Arbeiten immer wieder die Sanitätsverhältnisse in den osmanischen Einheiten. Im Zuge des Taurusfeldzuges im Jahr 1838 hätte der Oberbefehlshaber der türkischen Truppen im Taurus, Hafiz Pascha, den Mangel an Ärzten und Arzneien beklagt. Wie sich herausstellte, hatten die ArmeeApotheker ihre Arzneien mit Gold aufwiegen lassen. Auch hätten einige französische „Quacksalber“ versucht, sich Einfluss auf die türkische Militärmedizin zu verschaffen, weil sie sich davon Gewinne versprachen, dies wurde aber abgewendet.94 Die europäische Medizin war also nicht unbedingt überlegen. Dass sie sich durchsetzen konnte, verdankte sie letztlich der politischen Macht, die sie im Wege einflußreicher Positionen ausüben konnte. 7.3

Die Sanitätsräte als Plattformen für mittelbare Einflussnahme

Neben den oben geschilderten persönlichen Einflussmöglichkeiten von persönlichen Ärzten war es vor allem die dynamische, oft gegensätzliche Entwicklung der „Quarantänefrage“ in den 1830er-Jahren, die für die europäische Medizin einen Hebel brachte, um Einfluss auf die Strukturen der medizinischen Versorgung im Osmanischen Reich zu bekommen. Nachdem die Quarantänen, die in vielen europäischen Häfen zur Seu-

Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 57. Slade war zunächst britischer Marineoffizier und verfasste als solcher einige Arbeiten über das Osmanische Reich, die zu den meistrezipierten dieser Zeit im englischen Sprachraum zählen. Ende der 1840er-Jahre trat er selbst in osmanische Dienste und war ab 1849 Admiral in der türkischen Marine. 94 Slade, Travels in Germany and Russia, 1840, 221. 92 93

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chenabwehr eingesetzt wurden, gegen die Cholera versagt hatten, wurden neue Erklärungsmuster gefunden: Die „chaotischen Zustände“ in den Häfen des Orients und die Unfähigkeit der dortigen Machthaber, mit den Herausforderungen der Epidemien entsprechend umzugehen, wären für das Versagen der Quarantänen verantwortlich.95 Im Osmanischen Reich wurde der Einsatz von Quarantänemaßnahmen nicht als „staatliche Aufgabe“ gesehen, wie dies in Europa der Fall war.96 In Tunis, Alexandria und Konstantinopel gewannen auf Druck der europäischen Mächte deshalb in den 1830er-Jahren Sanitätsräte an Einfluss, denen die Überwachung und Regelung der Quarantänen für europäische Schiffe und die jeweiligen europäischen Bürger in den Häfen oblag.97 In den Räten waren die vor Ort tätigen Diplomaten der europäischen Mächte oder durch sie nominierte Personen vertreten. Nicht immer waren es Ärzte oder mit fachlichen Fragen zumindest Vertraute, die die Interessen in den Räten vertraten, was von ärztlicher Seite immer wieder beklagt wurde, wenn es um die medizinische Praxis ging. Diese Räte wurden zu wesentlichen Stützen der beginnenden Durchsetzung europäischer medizinischer Strukturen. Fragen medizinischer Einschätzung und politische Folgerungen vermischten sich in diesen Gremien weit über die eigentliche Zuständigkeit der Beratung in Fragen der Quarantäne hinaus. Mit der Ausweitung der Kompetenzen dieser Einrichtungen stieg auch das Interesse europäischer Mächte, aktiv Ärzte in führende Funktionen zu bringen. Schon 1812 empfahlen Muhammad Alis italienische persönliche Ärzte die Errichtung von Quarantänen für Schiffe aus Konstantinopel, das in diesem Jahr von der Pest betroffen war.98 1828 beauftragte er schließlich seinen Statthalter Muharram Bey mit der Erstellung genauer Quarantänerichtlinien, die gemeinsam mit den Konsuln der europäischen Mächte erarbeitet werden sollten. 1831 kam es, aus Anlass des Ausbruchs der Cholera zur Einrichtung eines Sanitätsrates in Alexandria, dem ersten seiner Art im Osmanischen Reich.99 Schon zu diesem Zeitpunkt hatte es Versuche gegeben, Österreicher in Ägypten in führende Verwaltungspositionen zu bringen. Eine Pestepidemie und die nach Ansicht der europäischen Großmächte unzureichenden Maßnahmen der ägyptischen Sanitätsverwaltung hatten die Konsuln der Mächte in Alexandria Mitte der 1830er-Jahre veranlasst, eine Sanitäts-

Vgl. dazu allgemein: Manfred Sauer, Österreich und die Levante 1814–1838, Dissertation, Univ. Wien, Wien 1971. Zur den Hintergründen der Argumentation vgl. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 40. 96 Tulasoğlu, Ein europäischer Konsul als Agent der Modernisierung, 2012, 132. 97 Die Einrichtung dieser Gremien erfolgte in den unterschiedlichen Orten des Osmanischen Reiches zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Eine Arbeit, die dazu einen spezifischen Überblick gibt, scheint derzeit zu fehlen. Überblickshaft für das Beispiel Saloniki: Gülay Tulasoğlu, „Humble Efforts in Search of Reform“: Consuls, Pashas, and Quarantine in Early-Tanzimat Salonica, in: Christian Roth u. a. (Hg.), Well-connected Domains Towards an Entangled Ottoman History, Bd. 57, The Ottoman Empire and Its Heritage, Leiden 2014. 98 Kuhnke, Lives at risk, 1992, 94. 99 Fahmy, All the pasha’s men, 2002, 216. 95

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kommission zu bilden, die von einem europäischen Arzt geleitet werden sollte. Um zu verhindern, dass diese Stelle an einen Österreich offenbar feindlich gegenüberstehenden Italiener fiel, setzte der habsburgische Generalkonsul Laurin ein Vorschlagsrecht für seine Regierung durch. Obwohl schnell zwei Kandidaten gefunden waren, scheiterte die Übernahme dieses Postens durch einen Untertan des Kaisers, denn der in Wien ausgewählte Arzt kam nicht rechtzeitig in Ägypten an und man war nicht in der Lage, prompt einen Ersatzkandidaten zu nominieren.100 Ein durchaus folgenschweres Versagen, denn die Einsetzung der Kommission markierte einen ersten, weit über die Grenzen der Medizin hinausreichenden Einschnitt im Verhältnis zwischen Ägypten und den europäischen Mächten. Zeitlich beinahe parallel mit der militärischen Intervention gegen den inzwischen zur echten Gefahr für den Sultan gewordenen Muhammad Ali brachten die Mächte mit der Einsetzung der Kommission zum ersten Mal klar zum Ausdruck, dass man nicht gewillt war, die Entwicklung eines eigenständigen Medizinalwesens in Ägypten zu unterstützen, sondern sie im Gegenteil in ihre Schranken verweisen musste. Die sogenannte ,,Sanitätsintendanz“ übernahm die eigentliche Kontrolle des ägyptischen Gesundheitswesens; die von der Regierung bestellten Distriktsärzte, deren Aufgaben die europäischen Mächte ja eigentlich kaum etwas angingen, hatten der Kommission regelmäßig zu berichten. Damit hatten sich die europäischen Mächte schon rund 40 Jahre vor der militärischen Besetzung Ägyptens durch Großbritannien den Zugriff auf eine zivile, im Hoheitsbereich eines fremden Landes liegende Verwaltungseinheit gesichert. Das hatte auch personelle Konsequenzen: Oft handelte es sich bei diesen von der ägyptischen Regierung zu bezahlenden Ärzten um Europäer; 1852 waren von 156 in den Distrikten angestellten Ärzten immerhin 27 Europäer.101 Daraus wurde rasch ein Markt für europäische Ärzte, die sich mit Seuchenfragen beschäftigt hatten und auf der Suche nach einer festen Stelle waren. Der Österreicher Anton Flora gab an, man habe ihm die Stelle als Sanitätsarzt in Suez während eines Aufenthaltes in Kairo wegen seiner Schrift über die Cholera in Süd-Tirol angeboten.102 1835 wurde auch in Tunis ein solcher Sanitätsrat aus den europäischen Konsuln gebildet, der zunächst de iure hauptsächlich beratende Funktion hatte. Tatsächlich konnte er praktisch alle Details der Quarantänen aber genau regeln.103 Der in der Literatur der Zeit als „Bey von Tunis“ bezeichnete lokale Machthaber fühlte sich durch die Arbeit der Konsuln bedroht, stellte Vertrauten immer wieder die Frage, wer denn nun das Land regiere – er oder die Konsuln.104 Was inhaltlich in diesen Gremien vertreten

Sauer, Österreich und die Levante, 1971, 365–369. Sigmund, 1852, 419. Vgl. Anton Flora, Aerztliche Mittheilungen aus Aegypten, Wien 1869, Vorwort unpaginiert. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 40. Der Einfluss der Konsuln auf die lokale osmanische Verwaltung ist in Fallbeispielen gut dokumentiert. Für das Beispiel Saloniki hat Tulasoğlu, Ein europäischer Konsul als Agent der Modernisierung, 100 101 102 103 104

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wurde, entsprach auch hier oft eher den eigenen Interessen als dem, was Quarantäneregelungen zu gebieten schienen. In den Archiven der Regierung in Tunis existiert eine Korrespondenz mit dem Sanitätsrat, die sich mit der Frage auseinandersetzte, wie Briefe desinfiziert werden sollten. Der Bey hatte verordnet, dass alle Post geöffnet und dann desinfiziert werden solle, doch die Konsuln forderten, dies möge nur durch einen Schlitz im Kuvert erfolgen, damit das Briefgeheimnis gewahrt bleibe.105 Die Letztentscheidung lag in Tunesien nach wie vor beim Bey, über dessen ihren Empfehlungen widersprechende Entscheidungen sich der Sanitätsrat als Gremium immer wieder beschwerte. Das mag auch an den oft divergierenden Interessen der einzelnen Konsulate gelegen sein, die ihrerseits versuchten, direkt beim Bey bestimmte Verordnungen zu erreichen. Beeinflussungsversuche durch die europäischen Konsulate waren zahlreich und immer auch von der eigenen Interessenslage abhängig. Vor allem Großbritannien verfolgte eine bedingungslose Freihandelspolitik, wie sie im speziellen Fall von Tunis auf die Versorgung Maltas ausgerichtet war. Der britische Konsul Thomas Reade versuchte, den Bey von Tunis Mitte des Jahres 1849 von der Sinnlosigkeit der Quarantänen zu überzeugen, und übersandte das Gutachten eines Arztes, der die Ansicht vertrat, dass die Cholera nicht übertragbar sei. Offenbar konnte er sich im Sanitätsrat nicht durchsetzen und hoffte, beim Bey Unterstützung zu finden. Dieser berief sich aber auf den Sanitätsrat.106 Auch in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches führte der Druck des europäischen Auslandes zur Einrichtung eines Sanitätsrates.  1838 wurde mittels eines „Firmans“ die Einrichtung von Sanitätsgremien für das gesamte Reich dekretiert.107 Die Neuorganisation des Quarantänewesens war die erste medizinische Aufgabe, mit der die Pforte 1838 offiziell an die Habsburgermonarchie herantrat. Mit einer Reform des Quarantänewesens wurde der Semliner Komtumaz-Direktor Dr. Franz Minas beauftragt, der damit zum ersten Österreicher in höchsten medizinischen Institutionen im Osmanischen Reich avancierte.108 Die Einrichtung einer obersten Kontrollinstanz für alle Quarantänefragen, die außerhalb des direkten Hoheitsbereiches der Pforte stand, war aber nicht nur ein Aspekt ,,technischer Hilfeleistung“, sondern bildete eine Zäsur im Verhältnis des Osmanischen Reiches zu den europäischen Mächten.

2012, die komplexen Verflechtungen zwischen lokaler osmanischer Verwaltung und europäischen Interessen untersucht. 105 Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 45. 106 Ebd. 107 Tulasoğlu, Ein europäischer Konsul als Agent der Modernisierung, 2012, 152. 108 Samsinger hat zuletzt darauf hingewiesen, dass es in Smyrna mit Dr. Herzschläger einen weiteren Sanitätsarzt aus der Monarchie gab und auch das serbische Quarantänewesen durch einen österreichischen Arzt namens Nagy reformiert wurde. Elmar Samsinger, Vom Wiener Dioskurides zu den Begründern der modernen Medizin in Konstantinopel, in: Elmar Samsinger (Hg.), Österreich in Istanbul III: K. (u.) K. Präsenz im Osmanischen Reich. With Abstracts in English. Türkçe özetler ile, Bd.  14: Forschungen zur Geschichte des österreichischen Auswärtigen Dienstes, Wien 2018, 247–298, hier: 252.

Die Sanitätsräte als Plattformen für mittelbare Einfussnahme

Die Vertreter der europäischen Mächte wurden durch dieses Gremium von Diplomaten zu Handelnden der Inneren Politik des Osmanischen Reiches, das Sanitätswesen zum neben der Armee wichtigsten Eingangsbereich für europäischen Einfluss auf innerosmanische Angelegenheiten. Österreich spielte in diesem Eindringen europäischer Ideen und Strukturen ins Osmanische Reich eine wichtige Rolle. Die beiden einflussreichsten Reformer jener Jahre, Reşid Pascha und Rifat Pascha, die beide über gute Kontakte zum österrreichischen Kanzler Metternich verfügten,109 könnten den Ausschlag für eine Hinwendung zu Österreich gegeben haben. Frankreich, das als Unterstützer Muhammad Alis galt, kam für die Osmanen, die mit ihrem aufmüpfigen Statthalter zu kämpfen hatten, als Ansprechpartner in diesen Dingen kaum infrage.110 Im März 1838 berichtete der österreichische Internuntius Stürmer, dass der lange gehegte Plan der Errichtung von Quarantäneanstalten nun endlich in die Tat umgesetzt werden solle. Von Seiten der Ulema sei ein Gutachten eingeholt worden, ob Quarantänen den religiösen Vorschriften widersprächen. Nachdem dies verneint wurde, machte man sich nun an die Umsetzung. Stürmer war skeptisch, dass die „lokalen Schwierigkeiten“ dabei überwunden werden könnten.111 Am 26. März 1838 äußerte der Außenminister Reşid Pascha dem k. k. Internuntius Stürmer gegenüber den Wunsch, österreichische Beamte für die Organisation und Leitung der Quarantäneeinrichtungen zu berufen. Namentlich wünschte Reşid Pascha die Entsendung des Semliner ContumazDolmetschs Wassilievich. Der Dolmetsch sei der Landessprache kundig und daher besonders für die Aufgabe geeignet.112 Zunächst wurde ein Linienschiff als Quarantäneeinrichtung für Schiffe aus Smyrna und dem Schwarzen Meer bestimmt, in den Dardanellen sollte eine Quarantäne für alle Schiffe aus der Levante eingerichtet werden. Mit dem Sanitätsrat (oder: ,,Sanitätsconseil“) wurde parallel dazu ein internationales Gremium geschaffen, das in Hoheitsrechte des Osmanischen Reiches eingreifen konnte. Ein Netzwerk von durch europäische Ärzte besetzten Quarantäneeinrichtungen im ganzen Reich verschaffte dem Rat einen Informationsdienst, der auch für den Handel und die Politik wertvolle Informationen geben konnte. Anfang Juni 1838 lud die Pforte alle Gesandtschaften ein, einen Vertreter in den Sanitätsrat zu entsenden.113 Dieser oberste Gesundheitsrat bestand aus 14 Mitgliedern, von denen je eines von Russland, Frankreich, Preußen, Österreich, Sardinien, Großbritannien und Griechen-

109 Şerif Mardin, The genesis of young Ottoman thought. A study in the modernization of Turkish political ideas, Princeton, N. J. 1962, 178f. 110 In türkischen Quellen taucht ein österreichischer Arzt namens Anton Lago auf, der eine erste Denkschrift verfasst haben soll, mit der die Pforte zur Einrichtung von Quarantänen bewogen werden sollte. Vgl. dazu Bulmuş, Plague, quarantines and geopolitics, 2012. Ein Dr. Anton Lago wird in der „Populären Österreichischen Gesundheits-Zeitung“ auch als Begleiter Bulards bei seinen Pest-Selbstversuchen im Leanderturm genannt. Gesundheits-Zeitung Nr. 99, 11. Dezember 1837, 378. 111 HHStA, Staatenabteilung VIII, Türkei, Berichte 1838, K 11. Stürmer an Metternich, 28.3.1838. 112 Ebd. 113 Ebd., 6. Juni 1838: Klezl an Metternich.

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land ernannt wurde. Vier weitere waren europäische Ärzte, die von der Osmanischen Regierung ernannt wurden und nur drei waren osmanische Beamte.114 Dem Sanitätsrat standen zumindest theoretisch weitgehende Rechte in allen für die Seuchenprävention maßgeblichen Bereichen zu. Die vollziehende Gewalt lag bei einer Intendanz, die die Quarantäneeinrichtungen und die im Sanitätsdienst angestellten Ärzte beaufsichtigte und für die Durchführung der vom Rat veranlassten Maßnahmen Sorge trug. Im ganzen Reich wurden Quarantänen eingerichtet, die jeweils unter der Leitung eines türkischen Beamten und eines europäischen Arztes standen.115 Diese lokalen Einrichtungen hatten ein genau geregeltes 14-tägiges Berichtswesen aufrechtzuerhalten, das dem Rat genaueste Informationen über die Verhältnisse in den einzelnen Provinzen in die Hand gab. Die Vorstellungen und Vorschläge, die Minas an die Hohe Pforte herantrug, gingen weit über die Ausarbeitung von Schifffahrtsregelungen hinaus. Neben der Einrichtung einer „Haupt-Quarantäneanstalt“ nahe der Hauptstadt sollten Zweigstellen in den wichtigsten Provinzstädten erfolgen, Land-Kordons nach österreichischem Vorbild in Rumelien und Anatolien geschaffen werden, in allen Stadtteilen Konstantinopels eine geregelte Totenbeschau stattfinden, diplomierte Ärzte angestellt werden und die Straßen von Konstantinopel gereinigt werden. Mit dem ausdrücklichen Ziel, die Bevölkerung für die Maßnahmen zu gewinnen, wurden die „zivilen“ Stellen der Quarantäneeinrichtungen mit „Türken“ besetzt.116 Die Hoffnungen, die man in Wien in diese Einrichtungen setzte, waren groß. Laufend erschienen in verschiedenen Medien Berichte über die ersten Maßnahmen. Besonders der Sanitätsrat, in dem die Europäer zu dominieren schienen, erweckte Begeisterung: Die Wiener „Gesundheits-Zeitung“ schrieb: Der Zweck dieses Conseils ist ein großartiger, es soll dem unerhörten Treiben der Charlatane ein Ende gemacht, das Medizinalwesen im Civil und Militär geregelt, die neuankommenden Aerzte einem strengen Examen unterworfen werden. Jeden Samstag werden regelmäßig Sitzungen stattfinden. Es ist von dieser neuen Institution viel Gutes zu hoffen, Herr von Pezzoni, der Vice-Präfident, ist ein Mann, der ganz unabhängig dasteht, und weder Gehalt, noch Decorationen, noch Praxis ambirt (da er sich schon lange Zeit zurückgezogen hat), daher ganz geeignet, diesem Unternehmen Leben und Seele einzuflößen. Wenn die Versammlung ihre Aufgabe löset, und nicht durch ungünstige Ereignisse in ihrer Entwickelung gestört wird, so ist nicht nur für den Sanitätszustand der Türken, sondern auch für den Europa’s von ihr viel zu hoffen.117

Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 415. Ebd. 1846 bestanden 59 Quarantänen, von denen 13 an Küsten im europäischen Teil des Reiches lagen, 13 weitere an kleinasistischen Küsten, 16 im Inneren Kleinasiens, acht in Syrien, sieben auf verschiedenen Inseln und zwei in Beghasi und Tripolis. 116 Spitzer, Zustand der Quarantänen in der Türkei, 1839, 746. 117 Correspondenz-Nachricht aus Constantinopel vom 28. März 1840, in: Neue Folge der GesundheitsZeitung, 280. 114 115

Die Sanitätsräte als Plattformen für mittelbare Einfussnahme

Kritik wurde schon nach wenigen Jahren laut. Nachdem das Qurantänewesen durch die Einrichtung der Sanitätsräte in den europäischen Einflussbereich gelangt war, konnte man europäischerseits kaum die Institution an sich, sehr wohl aber ihr Funktionieren im Kontext osmanischer Verwaltung infrage stellen. Rigler, der dem Quarantänewesen in seinem Türkei-Werk einen eigenen Abschnitt widmete, hielt fest, dass Quarantänefragen nicht Angelegenheit des für alle anderen Sanitätsfragen zuständigen Oberhofarztes seien. Ein beklagenswerter Zustand, wie Rigler fand, denn zwischen Quarantäneärzten und ,,sonstigen“ Ärzten käme es immer wieder zu den ,,sonderbarsten Collisionen“118. Der Grund dafür sei, dass der zur Zeit der Einrichtung des Sanitätsconseils tätige Protomedicus ein ,,Feind des Fortschrittes“ gewesen sei und die Mitglieder des Conseils von der Pforte daher eine unabhängige Stellung verlangt hätten119, die sie auch bekamen. Dabei waren die osmanischen Funktionäre bei Weitem nicht überall gegen die Quarantänen eingestellt. So waren die Beys in Tunis durchaus sehr an starken Quarantänen interessiert. Husayn Bey von Tunis richtete 1828 einen Brief an den französischen Konsul, in dem er die Quarantänen von 10 Tagen gegen Schiffe aus Europa verteidigte. Die Europäer sahen dadurch aber ihre kommerziellen Interessen gefährdet, der französische Handel protestierte gegen die Vorgangsweise.120 Die Sanitätsräte entwickelten sich zu sehr einflussreichen Gremien. Der deutsche Arzt Dr. Arnold Mendelssohn, der aktiv an der Revolution von 1848 teilgenommen hatte und danach im Osmanischen Reich praktizierte, schrieb über den Einfluss der Konsuln: Während sie anderswo, z. B. in allen Ländern Europas, nur Handels- und höchstens Polizei-Agenten sind, besitzen Sie hier das Recht der von der Landes-Regierung vollkommen unabhängigen Jurisdiktion über ihre hier etablierten Staats-Angehörigen und über die Eingeborenen, welche aus diesem oder jenem Grunde den europäischen Schutz genießen. […] Das Recht über Leben und Tod haben die Konsuln freilich nicht, wie die römischen es hatten; ihre Gewalt ist jedoch durch ihre ausnahmsweise Stellung so ausgedehnt, dass sie Rechte besitzen oder sich ungestraft herausnehmen, die jenem letzten souveränen Rechte mehr oder weniger Nahe liegen […] und die sie jedenfalls zu einer von der türkischen Regierung vollkommen unabhängigen wirklichen Regierung in dem türkischen Reiche machen.121

Die europäischen Gegensätze in der Quarantänefrage wurden auf dem Rücken der einheimisch-osmanischen Strukturen ausgetragen; die daraus entstehenden Probleme verstärkten das Bild vom „unzivilisierten Orient“, der nicht in der Lage sei, seine

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Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, I, 383. Ebd. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 40. Rabien, Dr. med. Arnold Mendelssohn, 2003, 197.

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medizinischen Verhältnisse selbst zu regeln. Die amerikanische Historikerin Nancy Gallagher fasste dies in den 1970er-Jahren für Tunesien wie folgt zusammen: Later in the century, european colonialist historians were to claim that their consuls had to step in to guide Tunesia in their quarantine procedures because of the beys heedlessness in the face of epidemic diseases. In reality […] it was the beys firmness with regard to quarantining, that elicited the consuls interest in taking over quarantine management. Quarantines interfered with business and business was increasingly conducted along guidelines set forth by European political backers.122

7.4

Medizinische Schulen als „reiche Quelle des Segens“

In etwa zeitgleich wurden Ende der 1820er-Jahre in Kairo durch Muhammad Ali und in Konstantinopel durch Sultan Mahmud II. neue Medizinische Schulen eingerichtet, die als erste medizinische Ausbildungseinrichtungen im europäischen Sinne gelten können. Sowohl in der Türkei als auch in Ägypten gelten diese Schulen bis heute als Pionierinstitutionen der modernen Medizin. Aus Sicht der lokalen Machthaber war der Zweck der Schulen zunächst ein klar militärischer: Der Aufbau neuer, an europäischen Vorbildern orientierter Militärstrukturen erforderte auch die Bereitstellung einer entsprechenden zeitgemäßen militärmedizinischen Basis. Den europäischen Ärzten, die an ihnen tätig wurden und die von ihnen berichteten, galten sie als Grundpfeiler für die Durchsetzung der europäischen wissenschaftlichen Medizin. ,,Blüht diese Anstalt, die bereits eine reiche Quelle des Segens für das Land geworden, so fort wie bisher, so werden aus ihr bald Männer hervortreten, welche Bildung und Unterricht genossen, wie ihn nur europäische Anstalten zu geben vermögen: der Unwissenheit und dem Charlatanismus wurde durch sie ein Ende gemacht“,123 soll Carl Ambros Bernard dem Sultan in einem seiner ersten Jahresberichte bedeutet haben; mit ,,Unwissenheit und Charlatanismus“ war wohl die traditionelle arabisch-osmanische Medizin gemeint, die in den zahlreichen den europäischen Ärzten oft feindlich gegenüberstehenden osmanischen Ärzten personifiziert wurde. Sowohl für die handelnden Ärzte aus der Monarchie wie auch die Besucher, die von ihr berichteten, war die Schule ein Leuchtturm im Kampf für die „Zivilisation“. Bernards Nachfolger als Leiter der Medizinischen Schule, Sigismund Spitzer, sah 1845 in ihr eine Anstalt, deren „hohe Bestimmung ist, nicht nur das physische Wohl der Bevölkerung zu fördern, sondern auch das Licht der Civilisation über dieselbe zu verbreiten. Die

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Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 40. Sonntagsblätter, 16, 1843, 363.

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Schule von Galata-Serai bildet nicht nur Ärzte – ihre Bestimmung geht auch dahin, Bürger zu bilden!“124 Der Aufbau von Medizinischen Schulen nach europäischem Vorbild begann in den 1820er-Jahren, Vorreiter war zunächst Ägypten. Anfang der 1820er-Jahre kam es in Ägypten zu einer Häufung von Gründen, die Anlass zu Veränderungen in der medizinischen Versorgung gaben. Einer waren die hohen Verlustzahlen, die während des Sudan-Feldzuges des ägyptischen Vizekönigs Muhammad Ali zu verzeichnen gewesen waren. Tausende Soldaten waren von verschiedenen Infektionskrankheiten dahingerafft worden. Besonders Einheiten, die aus Sklaven bestanden, waren von den Epidemien betroffen. Muhammad Ali beauftragte seinen Vertrauten Boghos Bey, amerikanische Ärzte für die Behandlung ins Land zu bringen, da er diese bei der Behandlung von Sklaven für besonders erfahren hielt. Ob dies tatsächlich passierte, ist unklar.125 Sich dabei nur auf „Gastarbeiter“ zu verlassen, erschien teuer und ineffizient, deshalb versuchte man, selbst für entsprechend ausgebildete Ärzte zu sorgen.126 In einer ersten Phase dominierten dabei „Bildungsmissionen“, bei denen angehende Studierende an Hochschulen nach Europa geschickt wurden. Parallel dazu begann auch der Ausbau eigener medizinischer Schulen.127 Ob die Schaffung einer umfassenden Versorgung für die Zivilbevölkerung in Ägypten ebenfalls zu den vordringlichen Zielen der Errichtung solcher medizinischer Schulen gehörte, ist umstritten.128 Von Beginn an gab es jedenfalls starke Bemühungen, der Ausbreitung von Seuchen entgegenzutreten: im Fall der Pocken durch Impfung, im Fall der Pest durch Quarantänen. Auch für diese beiden Zwecke wurde medizinisch qualifiziertes Personal benötigt, was in jedem Fall auch der Zivilbevölkerung zugutekam. Die Notwendigkeit, sich in medizinischer Hinsicht von Europa unabhängig zu machen, betonten der Franzose Clot Bey in Ägypten wie sein Kollege Spitzer in Konstantinopel bereits früh.129

124 Bericht in der Wiener Zeitung vom 1. und 3. November 1845, zitiert nach: Samsinger, Vom Wiener Dioskurides zu den Begründern der modernen Medizin in Konstantinopel, 2018, 277. 125 Fahmy, All the pasha’s men, 2002, 212–214. 126 Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991, 34. Der Import von europäischen Ärzten wäre weit teurer gekommen als die Ausbildung und der Einsatz von einheimischem medizinischem Personal. Tatsächlich hatte man in Ägypten solche Berechnungen angestellt: 4.279 Pfund Ausbildungskosten im Land stehen – nach zeitgenössischen Berechnungen – 34.520 Pfund für die Beschäftigung europäischer Ärzte gegenüber. Da allerdings nicht genauer nachvollziehbar ist, wofür diese Kosten genau stehen, muss diese Relation hier hauptsächlich als Näherungswert gesehen werden. 127 Zu den Bildungsmissionen, auf die hier nicht genauer eingegangen wird, verweise ich auf meine eigenen Arbeiten, insbesondere: Chahrour, Bildungsmissionen und Ärzteexport, 2007 128 Ebd. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, ob es vordringlich „humanitäre“ oder doch vorwiegend militärische Gründe waren und zur Rolle einer eher nationalistischen Schule der ägyptischen Historiographie in dieser Frage vgl. Fahmy, All the pasha‘s men, 2002, 210. 129 Antoine B. Clot-Bey, Aperçu général sur l’Égypte. Ouvrage orné d’un portr. et de plusieurs cartes et plans coloriés, Paris 1840, 201.

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Das Vorbild dafür waren die europäischen militärmedizinischen Strukturen. In Europa hatte das 18. Jahrhundert eine Akademisierung auch der bisher analog zu den Handwerken gelebten Praxis niederer medizinischer Berufe gebracht. Die Änderung der militärischen Taktik, lange Feldzüge und die immer höheren Kosten, die jeden einzelnen Soldaten immer wertvoller machten, führten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Umdenken in der Militärmedizin. Gerade die „zivilen“ Verluste durch Seuchen ließen die Verlustraten auch angesichts steigender Marschbelastungen stark ansteigen. Die kampferprobten Feldscherer wurden durch ein Korps von Ärzten ergänzt, Feld- und Hauptspitäler sowie feste Sanitätsformationen wurden geschaffen. Im Vordergrund stand die Verhütung von Krankheiten; Man bemühte sich um eine Verbesserung der Verpflegung und Bekleidung und vor allem wegen der immer wieder problematischen Geschlechtskrankheiten auch um sexuelle Hygiene.130 In Wien wurde dafür mit dem Josephinum im Jahr 1785 eine eigene, von der universitären Ausbildung abgegrenzte, Ausbildungsstätte gegründet. Das Josephinum sollte das österreichische Heer mit einer ausreichenden Zahl an qualifiziertem medizinischem Personal versorgen. Die stark gestraffte Ausbildung am Josephinum war auf zwei Jahre angelegt und war – ganz im Sinne Josephs II. – von allen scheinbar nebensächlichen Fächern befreit. Dies stieß vor allem bei der Medizinischen Fakultät auf wenig Gegenliebe, die fürchtete, dass die vergleichsweise leichtgewichtigen Abschlüsse am Josephinum denen der Universität gleichgestellt werden könnten. 1822 entschloss man sich zu einer Reform der Ausbildung, die nun in einen zweijährigen Kurs in niederer Chirurgie und ein fünfjähriges medizinisch-chirurgisches Curriculum aufgeteilt wurde.131 Diese militärmedizinischen Schulen, wie sie auch in anderen europäischen Staaten bestanden, hatten für den beginnenden Ausbau der medizinischen Bildungseinrichtungen im Osmanischen Reich und Ägypten Vorbildcharakter. Bereits im 18. Jahrhundert gab es mehrere Übersetzungen von Schriften deutschsprachiger Ärzte aus Mitteleuropa in die türkische Sprache; zumindest ein osmanischer „Oberhofarzt“ hatte auch in Wien studiert.132 Der andauernde Kontakt mit der mitteleuropäischen Medizin mag mit ein Grund für den osmanischen Hof gewesen sein, sich über eine Neuorganisation der medizinischen Ausbildung Gedanken zu machen. Bereits 1805–1808 schien man sich in Konstantinopel bei der Einrichtung einer marinemedizinischen Akademie am Vorbild des Wiener Josephinums orientiert zu haben, die Schule hatte allerdings nur kurz Bestand, denn die Reformen des damaligen Herrschers Selim III. stießen auf Widerstand. Ständige innere Schwierigkeiten wie der Aufstand der Wahhabiten im heuti-

130 Vgl. Rudolf Bruppacher, Militärmedizin in der Aufklärung, Zugl.: Zürich, Diss, N. R. Nr 52: Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, Zürich 1967, 79f. 131 Tatjana Buklijas, Dissection, discipline and urban transformation. Anatomy at the University of Vienna, 1845–1914, Cambridge 2006, 38–42. 132 Terzioǧlu, Ein kurzer Blick, 1987, 41.

Medizinische Schulen als „reiche Quelle des Segens“

gen Saudi-Arabien, der griechische Freiheitskampf und die folgenden Auseinandersetzungen mit dem ägyptischen Statthalter Muhammad Ali brachten dem Osmanischen Reich eine Reihe existenzbedrohender Krisen. 1826 zerschlug Sultan Mahmud II. die Machtbasis der Janitscharen, die bis dahin die zentrale Säule des osmanischen Militärs gewesen waren. Die Janitscharen, einst die Elite-Truppe des Reiches, hatten sich durch die militärischen Reformen in ihren historisch gewachsenen Privilegien gefährdet gesehen und waren damit ein institutioneller Gegner einer neuen militärischen Ordnung. Den Sultan Selim III., der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Reformen versucht hatte, putschten sie mithilfe anderer gesellschaftlicher Gruppen, die nicht an Veränderungen interessiert waren, hinweg. Mitte der 1820er-Jahre waren sie aber nicht mehr zur Gegenwehr imstande. In einem Handstreich, den er mithilfe loyaler Truppen ausführte, ließ Mahmud II. einige tausend Janitscharen töten und die aufständischen Truppenteile verfolgen. Bald darauf begann das Training neuer, am Vorbild europäischer Heere orientierter Truppen, die zum Teil von deutschen und französischen Instruktoren ausgebildet wurden.133 Ein neues, „europäisches“ Heer machte auch die Ausbildung von entsprechend qualifizierten Ärzten notwendig. Die Anregung, eine Schule nach europäischem Vorbild einzurichten, kam von einem in Europa ausgebildeten osmanischen Arzt: Der Oberhofarzt Mustafa Behçet134 soll Sultan Mahmud II. in einem Gutachten mitgeteilt haben, dass die Errichtung einer neuen Medizinischen Schule europäischer Prägung notwendig sei. Am 14. März 1827 kam es zur Eröffnung einer Medizin- und Chirurgieschule im Tulumbacıbaşi Konağı in Konstantinopel135, die zunächst unter der Leitung des französischen Arztes Lat de la Galière stand.136 Während Muhammad Ali in Kairo von vornherein einen Europäer mit der Leitung und zahlreiche weitere europäische Lehrer mit der Führung des Unterrichts betraute, vertraute man in Konstantinopel zunächst in der Mehrzahl auf Ärzte aus dem Osmanischen Reich, die, wie Oberhofarzt Behçet, zum Teil ebenfalls in Europa ausgebildet worden waren.137 Nach mehre-

Davison, Reform in the Ottoman Empire, 1973, 26. Behçet studierte osmanischen Quellen zufolge in Venedig. Terzioǧlu, Ein kurzer Blick, 1987, 45. Ebd. Medicinal-Halle 51, 1862, 482. Klaus Kreiser, Türkische Studenten in Europa, in: Gerhard Höpp (Hg.), Fremde Erfahrungen: Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, 385–400, hier: 386. Kreiser erwähnt einen Lehrer namens Civâni Effendi, der in Frankreich und Italien ausgebildet wurde, Behçets Europaaufenthalt wird von einer hier wiedergegebenen türkischen Quelle nicht berücksichtigt. 133 134 135 136 137

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ren räumlichen und institutionellen Umstrukturierungen138 entschied sich der Sultan, nach dem Quarantänewesen auch die Schule in österreichische Hände zu legen.139 Über Vermittlung Metternichs und seines Leibarztes Jäger, der an der Wiener militärärztlichen Ausbildungsstätte Josephinum tätig war, wurden Ende 1838 mit Jacob Anton Neuner (1806–1842) und Carl Ambros Bernard (1810–1844) zwei Ärzte aus dem militärärztlichen Umfeld nach Konstantinopel geschickt.140 Unter der Federführung von Carl Ambros Bernard wurde ab 1839 mit einer Neuausrichtung der militärmedizinischen Ausbildung begonnen – in zeitgenössischen Publikationen sprach man gerne von ,,Reorganisation“, ein Begriff, der von der eigentlichen Bedeutung der Aufgabe der Wiener Ärzte ein wenig ablenkte. Tatsächlich ging es nicht um eine reine Neuorganisation, sondern um eine Neuausrichtung der Schule an den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in Europa für eine massive Dynamik der medizinischen Wissenschaften gesorgt hatten. Bis in die 1860er-Jahre unterrichteten zahlreiche österreichische Ärzte an der Schule; aus den Wiener Quellen lässt sich die Lehrtätigkeit von Joseph Warthbichler, Lorenz Rigler, Sigismund Spitzer, Carl Eduard Hammerschmidt und einer Wiener Hebamme namens Messani belegen. Dieser Neuausrichtung ging eine fachliche Entmachtung der heimischen Ärzte in der Ausbildung voran. Der Lehrköper der Schule wurde weitestgehend durch europäisch gebildete Ärzte ersetzt, vor allem dort, wo es um die wichtigsten Fächer der neuen Medizin, die Pathologie und Auskultation und Perkussion ging. Auch junge Spezialfächer wie Ophthalmologie und Dermatologie lagen in der Hand der Europäer, während die Hilfswissenschaften wie Chemie, Physik und Botanik eher Ärzten aus dem Orient überlassen wurden. In das, was diese Ärzte zu leisten bzw. lehren imstande waren, setzte man übrigens wenig Vertrauen: Als eine Gruppe von vier Studenten aus Konstantinopel 1848 nach Wien geschickt wurde, um hier an der Medizinischen Fakultät Examina abzulegen, erbat man sich vonseiten der Konstantinopeler Schule, nur

Terzioǧlu, Ein kurzer Blick, 1987, 44–47. Der britische Reisende John Mason berichtet über diese frühe Phase (aufbauend auf Mitteilungen Spitzers): Die ersten medizinischen Kurse hätten 1831 in Konstantinopel stattgefunden, mit einhundert Schülern, die ohne Methode ausgewählt worden wären. Manche von ihnen seien noch immer als Militärärzte tätig. 1838 sei die Schule nach Galata Serai verlegt worden, wo sie zwar eine glückliche Lage habe, aber ein ungenügendes hölzernes Gebäude, das in ständiger Feuergefahr sei. Spitzer zeigt sich selbstkritisch, was die ersten Jahre der Ausbildung betrifft. Man sei anfänglich gezwungen gewesen, die Ausbildung so straff wie möglich zu gestalten: Der Kurs habe nur sieben Jahre gedauert, die Ausbildung hätte eher der der „Officers of health“ der europäischen Armeen geähnelt. Erst durch die Anstrengungen des Hekim Baschi sei die Zahl der Schuljahre auf 10 angewachsen und das Niveau dem der europäischen Universitäten angenähert worden. Vgl. Mason, Three years in Turkey, 1860, 193. 139 In wie weit Mahmud sich tatsächlich an dem ägyptischen Vorbild orientierte, lässt sich aus den für diese Arbeit zugänglichen Quellen nicht eindeutig eruieren. 140 Ihnen beigestellt war auch ein Pharmazeut namens Hofmann. Eine Zusammenstellung der verschiedenen finanziellen und administrativen Rahmenbedingungen für die Entsendung erstellte zuletzt Samsinger, Vom Wiener Dioskurides zu den Begründern der modernen Medizin in Konstantinopel, 2018, 260–272. 138

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in den praktischen, also den von Europäern gelehrten, Fächern zu prüfen, worin die Studenten auch brillieren konnten.141 Auch die Unterrichtssprache wurde verändert. In den beiden unmittelbaren Vorläuferinstitutionen, einer Medizin- und einer Chirurgieschule142, waren die Unterrichtssprachen Italienisch und Türkisch gewesen. Man hatte zunächst sowohl in Ägypten als auch im Osmanischen Reich versucht, die gesamte medizinische Terminologie in die Landessprache der Schüler zu übersetzen.143 Auch Literatur war durchaus vorhanden: Der osmanische Arzt und Geschichtsschreiber Atâullah Şanizade, der sich die Kenntnis mehrerer europäischer Sprachen angeeignet hatte, übersetzte 1812144 Anton von Störcks ,,Medizinisch-Praktischer Unterricht für die Feld- und Wundärzte der Österreichischen Staaten“ ins Türkische und machte damit auch europäisches Unterrichtsmaterial für osmanische Studenten zugänglich.145 In Ägypten (und später auch in Persien) wurde auch der Unterricht eine Zeit lang mithilfe von Dolmetschern bestritten, was sich jedoch als problematisch erwies. Dass es hierzu Versuche gab, war bereits damals Gegenstand von Berichten in der medizinischen Fachliteratur: Schon einige Jahre bevor die österreichischen Ärzte nach Konstantinopel gerufen wurden, berichtete Friedrich Wilhelm Oppenheim in seinem Aufsatz zur „Palingenesie der Medicin im Orient“ von den Übersetzungen und den Versuchen zur Schaffung einer medizinischen Terminologie in Ägypten, die von einem in Paris studierenden Araber vorangetrieben wurden.146 In der neuen Schule in Konstantinopel wurden die Vorträge auf Französisch gehalten. Auch diese scheinbar nur technische Veränderung hatte großen Symbolcharakter für den Veränderungsprozess: Statt dem heimischen Türkisch und der gängigen Verkehrssprache Italienisch, die an den beiden Vorgängerinstitutionen benutzt worden waren, wurde das Französische gewählt, die neue Weltsprache der medizinischen Wissenschaft. Schon 1843 soll die Bibliothek der Schule 1.300 Bände ,,meist in französischer Sprache“147 enthalten haben. Die Erlernung der französischen Sprache war somit eine Grundvoraussetzung für das Studium an der Akademie und in mehreren Berichten über die Schule hieß es anerkennend, dass die Schüler die Sprache flüssig beherrschen würden.148 Die ersten drei Jahre der zunächst siebenjährigen Ausbildung Sonntagsblätter, 2/1848, 12. Chirurgieschule im Hofspital ,,Hastalar Odası“ und die Medizinschule in der Hofkaserne ,,Otlukcu Kışalası“; vgl. Terzioǧlu, Ein kurzer Blick, 1987, 45. 143 Die ersten Ansätze für eine medizinische Fachsprache, die an das europäische Wissensproduktionssystem andocken konnte, schuf der Historiker und religiöse Gelehrte Şānizāde. Als Grundlage dienten ihm dazu zwei Bücher aus der Habsburgermonarchie. Vgl. Lewis, The Muslim discovery of Europe, 2001, 237. 144 Hierzu findet sich in der Literatur auch das Jahr 1810. Vgl. Terzioǧlu, Ein kurzer Blick, 1987, 42. 145 Ünver, Der osmanische Arzt, Ingenieur und Reichsgeschichtsschreiber Schanizade Mehmed Ataullah, 1978, 145. 146 Oppenheim, Die Palingenesie der Medicin, 1834, 346. 147 Sonntagsblätter 16, 1843, 362. 148 Allgemeine Medicinische Central Zeitung 13, 1845, 223–224; Sonntagsblätter 16, 1843, 363. 141 142

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dienten dementsprechend der Erlernung des Französischen und anderer grundlegender Bildungsinhalte. Der deutsche Arzt, Botaniker und Reisende, Karl Koch (1809–1879), berichtete in den 1840er-Jahren aus Konstantinopel, dass bei den Schülern in Galata Serai selbst Lesen und Schreiben nicht vorausgesetzt werden kann. Deshalb war man gezwungen, bei dem Unterrichte ganz von vorn anzufangen. Ob man gut getan hat, die französische Sprache einzuführen, glaube ich nicht, wenn auch Gründe vorhanden sein mögen. Medizinische Werke in Türkischer Sprache gibt es, soviel ich weiß, nicht, sie ließen sich aber wohl mit denselben Kosten, als die Herbeischaffung französischer Bücher verlangt, anschaffen. Wichtiger ist wohl der Grund, dass die meisten Lehrer der türkischen Sprache nicht so mächtig sind, als zum Unterrichte notwendig ist, die Französische hingegen ihnen geläufiger erscheint. Die Schule besteht aus vier Klassen, und in der ersten wird das Lesen, in der zweiten hingegen das Sprechen der französischen Sprache gelehrt. Im der dritten werden die Humaniora und die zur Medizin vorbereitenden und in der vierten die eigentlichen medizinischen Wissenschaften vorgetragen.149

Bernard selbst bemühte sich um die Bereitstellung einer zeitgemäßen Unterrichtsliteratur für die Studenten. Neben einer Einführung in die Grundlagen der Botanik und einer Pharmakopoe verfasste Bernard eine Abhandlung über Perkussion und Auskultation, die auf den eben erst veröffentlichten Erkenntnissen von Skodas epochemachendem Werk über die klinische Krankenuntersuchung aufbaute.150 Gemeinsam mit dem Wiener Sigismund Spitzer, der noch 1839 dem nach nur wenigen Monaten nach Österreich zurückgekehrten Jacob Neuner gefolgt war, bemühte er sich um eine Organisation des Unterrichts in derselben Form, wie er sie zu Hause kennengelernt hatte. Ein botanischer Garten, eine mineralogische, eine zoologische und eine anatomische Sammlung wurden eingerichtet, letztere mit Präparaten aus Paris und Wien151, technische Gerätschaften wurden aus London herangeschafft.152 Auch die vorhandenen Räumlichkeiten schienen den Ansprüchen der Zeit gerecht geworden zu sein, der

Koch, Wanderungen im Oriente, 1846, 251. Gabriela Schmidt, Nach österreichischen Quellen: Dr. Karl Eduard Hammerschmidt alias Dr. Abdullah Bey. Ein vergessener Pionier der Äthernarkose in der Zahnmedizin, in: Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius (Hg.), V. Türk-Avusturya tıbbı̂ ilis̜kileri simpozyumu bildirileri: Verhandlungen des V. Symposions über Österreichisch-Türkische medizinische Beziehungen: 5. Oktober 1994, III: Acta Turcica Historiae Medicinae, İstanbul 1995, 45–51, 113. 151 Allgemeine Medicinische Central Zeitung, IX Jg., 623. 152 Alois Kernbauer, Die Medizinische Schule von Galatasaray in Istanbul im Spiegel der Berliner Allgemeinen Medicinischen  Central-Zeitung, in: Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius (Hg.), V. Türk-Avusturya tıbbı̂ ilis̜kileri simpozyumu bildirileri: Verhandlungen des V. Symposions über Österreichisch-Türkische medizinische Beziehungen: 5. Oktober 1994, III: Acta Turcica Historiae Medicinae, İstanbul 1995, 127–134, hier: 128. 149 150

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österreichische Diplomat Victor Weiß von Starkenfels (1818–1886)153 beschrieb sie als ,,geräumig“ und in Bezug auf den Seziersaal ,,fast prächtig“, Ordnung und Sauberkeit hob er als Gegensatz zu den sonstigen Verhältnissen besonders hervor.154 Der Dolmetscher der österreichischen Internuntiatur in Konstantinopel, Theodor Schwarzhuber, schrieb von der Schule in einem Brief an seine Eltern als „einer Oase in der Wüste“.155 Bernard selbst war in seinen Befugnissen weitestgehend unabhängig; er war allerdings nicht selbst Direktor der Schule. Wie auch sein Nachfolger Spitzer unterstand er dem Chef aller Medizinal-Angelegenheiten des Reiches, dem jeweiligen Oberhofarzt, der gleichzeitig als Direktor der Schule fungierte.156 Als Dr. Spitzer am 24. Mai 1850 zum ,,ersten Palastarzt“ des Sultans ernannt wurde, zog er sich von der Leitung der Schule zurück. Diese übernahm ein Rat aus allen zehn Professoren der Schule unter dem Vorsitz eines ,,hochgestellten politischen Beamten“.157 Mit der Rückkehr von Bernards Nachfolger Spitzer nach Österreich (nach einem Mordkomplott gegen ihn) noch im selben Jahr wurde das Amt des Direktors dem Oberhofarzt entzogen und der nun direkt an der Schule agierende Direktor dem Kriegsministerium unterstellt.158 Die mangelnde Vorbildung der in die medizinische Ausbildung eintretenden Schüler wurde von europäischen Ärzten im Orient immer wieder als großes Problem wahrgenommen. Grundlegendster Mangel war zunächst das Sprachproblem. In der Vorgängerinstitution hatte man sich wie in der in Ägypten eröffneten Schule eines Übersetzungssystems bedient, bei dem diejenigen Lehrer, die nicht Türkisch sprachen, in französischer Sprache vortrugen und ihren Vortrag von einem Dolmetscher übersetzen ließen.159 Carl Ambros Bernard dürfte von den schlechten Erfahrungen mit diesem System in Ägypten Kenntnis gehabt haben. Mit der Einführung von Französisch als Unterrichtssprache wählte er in Konstantinopel zwar den für die aus Europa kommenden Vortragenden relativ einfachsten Weg, dennoch dürfte er sich dessen bewusst gewesen sein, dass diese Lösung nur vorübergehenden Charakter haben konnte. Vorbereitungsklassen mussten eingerichtet werden, in denen die Schüler zunächst eine sprachliche und auch naturwissenschaftliche Vorbildung erhielten. Das Erlernen einer fremden Sprache mag den angehenden Ärzten dabei durchaus nicht geschadet

153 Studierte an der orientalischen Akademie und war in Athen, Genua und zuletzt als Legationsrat an der Internuntiatur in Konstantinopel tätig. 154 Sonntagsblätter 16, 1843, 363. 155 Samsinger, Vom Wiener Dioskurides zu den Begründern der modernen Medizin in Konstantinopel, 2018, 267. 156 Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 420. Hier wird berichtet, dass der Oberhofarzt zwei Mal pro Woche in die Schule kam, um das laufende Geschäft zu besorgen. 157 Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, IX. 158 Wiener Medicinal-Halle 51, 1862, 483. Zum Verhältnis Spitzers zum Sultan und seine besondere Vertrauensstellung vgl. besonders: Kernbauer, Sigismund Spitzer und die Medizinische Schule in Istanbul, 1993. 159 Wiener Medicinal-Halle 51, 1862, 482.

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haben; für ein funktionierendes, langfristig autonomes Medizinalsystem war es aber wichtig, den Zugang nicht an eine europäische Sprache zu binden. Bernard schien dieses Problem relativ bald erkannt zu haben; schon ein Jahr nach seiner Ankunft begann er mit der Erlernung des Türkischen, um selbst in der Lage zu sein, in der Landessprache vorzutragen, wegen seines frühen Todes schien es aber nicht mehr dazu gekommen zu sein.160 Jacob Eduard Polak ging ein Jahrzehnt später in Persien denselben Weg, weil er genau wie Antoine Clot in Ägypten erkannt hatte, dass die Benutzung von Übersetzern zu große inhaltliche Verluste mit sich brachte.161 Im Osmanischen Reich blieb man nach Bernards frühem Tod bis zur Mitte der 1860er-Jahre bei der französischen Unterrichtssprache.162 Ausgebildet wurden Schüler im Alter zwischen 10 und 18 Jahren163; angesichts des jungen Eintrittsalters wenig überraschend klagte Bernard, dass die Schüler des ersten Jahrganges wiederholt ,,durch Aufmunterungen und Strafen zur regelmässigen Arbeit angehalten werden“ mussten.164 Die Konstantinopeler Schule übernahm, wie auch ihre Kairiner Schwester, Kost und Logis für die Schüler, von denen sie etwa 400 aufnehmen konnte. 341 waren es im Studienjahr 1842/43, von denen 16 im letzten, dem vierten Jahrgang waren und nach Absolvierung dreier Rigorosen wie am Wiener Vorbild mit der Verleihung eines Doktortitels belohnt werden sollten. Nach Mitteilungen Spitzers hatte die Schule in Konstantinopel 1847 bereits 454 Studenten, 314 Muslime, 95 Christen und Juden.  60 Studenten wurden in diesem Jahr wegen mangelnder Eignung und/oder disziplinärer Gründe entlassen.165 Diese große Zahl verteilte sich unregelmäßig auf die Klassen: Die 1. Klasse umfasste 238 Studenten, die folgenden dann 40, 29 und 19. In den medizinischen Klassen waren in allen Jahrgängen nur zwischen 10 und 15 Schüler. Man darf sich also von der großen Gesamtzahl nicht blenden lassen. Spitzer nahm in seinem Jahresbericht darauf Bezug: Die Schüler würden so lange im ersten Jahr gehalten, bis sie sich für das Aufsteigen qualifiziert hätten. Wer die anfänglichen Schwierigkeiten überwunden hätte, so habe sich gezeigt,

160 Arslan Terzioǧlu, Dr. K.A. Bernard and imperial medical school in light of recently found sources, in: Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius (Hg.), V. Türk-Avusturya tıbbı̂ ilis̜kileri simpozyumu bildirileri: Verhandlungen des V. Symposions über Österreichisch-Türkische medizinische Beziehungen: 5. Oktober 1994, III: Acta Turcica Historiae Medicinae, İstanbul 1995, 92–101, 98. 161 Zur Frage der Übersetzung medizinischer Fachtermini in Ägypten und der damit in Zusammenhang stehenden Probleme vgl. Moulin, L‘Esprit et la lettre de la modernité égyptienne, 2002, 133. Spezifische Literatur, die sich mit der Rolle der Übersetzer in diesem Prozess befasst, war für mich nicht auffindbar. 162 Zum Curriculum siehe Kernbauer, Die Medizinische Schule von Galatasaray, 1995. Der Aufsatz erschien in inhaltlich identer Form auch in den Mitteilungen der Östrerreichischen Gesellschaft für die Geschichte der Naturwissenschaften, Bd. 13, 1993, 175–181. Ausführliche Mitteilungen zur Struktur des Unterrichts finden sich insbesondere bei Mason, Three years in Turkey, 1860. 163 Sonntagsblätter 16, 1843, 363. 164 Allgemeine medicinische Central-Zeitung 13, 1844, 223–224. 165 Mason, Three years in Turkey, 1860, 177.

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würde dann aber im Allgemeinen schneller fortschreiten.166 1851 waren es gesamt ebenfalls rund 450 Schüler. Darüber hinaus erhielten die ordentlichen Hörer der Anstalt ein Taschengeld, das 1862 in etwa dem Sold eines gemeinen Soldatens entsprach.167 Jahr für Jahr wurden die erfolgloseren Kandidaten aus der Schule entfernt. So mussten 1845 48 Schüler, die ,,im Laufe mehrerer Jahre Beweise ihrer Unfähigkeit gegeben hatten“168, von der Anstalt abgehen. Die Zahl der tatsächlich Graduierten dürfte im Verhältnis zur Zahl der aufgenommenen Schüler tatsächlich eher gering gewesen sein; all jene, für die es nicht zum Doktorexamen reichte, scheinen dem Militär als medizinisches Personal zugeführt worden zu sein, sodass die Schule in jedem Fall ihrer Aufgabe als militärischer Einrichtung gerecht wurde. Schon bald nach ihrer Eröffnung wurde die Schule für externe Hörer geöffnet, um auch Zivilisten die Ausbildung zum Arzt oder Apotheker zu ermöglichen, eine Maßnahme, die aber zunächst kaum gefruchtet haben dürfte.169 Ein Plan Spitzers aus dem Jahr 1845, Absolventen der Schule auch für die zivile Gesundheitsversorgung der Provinzen einzusetzen, kam nicht zur Ausführung, sodass die Versorgung der Landbevölkerung noch länger in den Händen traditioneller Heilkundiger blieb. Die Zahl der Absolventen war sowohl in Konstantinopel als auch in Ägypten einfach zu gering.170 Die Qualität der ärztlichen Ausbildung in Konstantinopel stieß in Europa zunächst auf Zustimmung. Der russische Arzt Artemis Rafalowitsch, der die Schule und die ihr angeschlossenen Kliniken 1846 mehrmals besuchte, berichtete sehr wohlwollend von Schülern, ,,welche fertig französisch sprechen, Krankheiten des Herzens und seiner Klappen […] mit dem Stethoskop untersuchen und regelmässig abgefasste Recepte schreiben.“171 Schon ab Anfang der 1840er-Jahre nahmen die Absolventen der Medizinischen Schule in Konstantinopel Positionen in den militärischen Strukturen ein. Einige Studierende wurden in die Habsburgermonarchie entsandt und legten am Josephinum Prüfungen ab, die auch öffentlich wahrgenommen wurden.172 Nach Wien waren zu Beginn der 1840er-Jahre auch Studierende aus Ägypten gekommen, um sich augenheilkundlich weiterzubilden sowie eine größere Gruppe,

Mason, Three years in Turkey, 1860, 178 Wiener Medicinal-Halle, 1862, 483. Allgemeine Medicinische Central-Zeitung 15, 1846, 711–712. WMW 40, 1872, 1012. In Ägypten führte großer Bedarf an Ärzten für den Militärdienst dazu, dass viele Schüler ihre Ausbildung verfrüht abbrechen mussten. Man versuchte, gegenzusteuern: In Alexandria wurden am Marinehospital Kurse abgehalten, in denen die angehenden Ärzte in Theorie und Praxis weitergebildet wurden. Vgl. Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991, 61–65. 171 Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 420. 172 Die Prüfungen galten als Rigorosen. Insgesamt promovierten 1847 vier Studenten der Schule von Galatasaray am Josephinum in Wien. Sie wurden in der zeitgenössischen Literatur wie folgt beschrieben: „Mousa Effendi, Muselmann, Stefan Asbrian, Grieche, Nikolaus Aprillof, Armenier, Gregoir Ivovicz, Katholik“. 166 167 168 169 170

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die für eine montanistische Ausbildung vorgesehen war.173 Um den Absolventen den Übergang ins Militär zu erleichtern, war die Schaffung von Strukturen auch dort vonnöten. Mitte der 1840er-Jahre wurde der Wiener Mediziner Lorenz Rigler zum Leiter des gesamten Militär-Medizinalwesens des Osmanischen Reiches bestellt. Rigler verfasste 1844 ein Reglement für die Organisation der Militärspitäler und eine Instruktion für die Regimentsärzte, auf Basis derer die ärztlichen Dienste für das osmanische Heer neu organisiert wurden.174 Gemeinsam mit Rigler dienten einige weitere österreichische Ärzte in den osmanischen Militärspitälern, so zum Beispiel die Doktoren Reinwald, Eder, Popovich und Warthbichler und womöglich auch noch einige weitere, deren Namen aber nicht eruierbar waren. Eine Anstellung im osmanischen Heer war für Ärzte, Chirurgen (Feldärzte) und andere Heilkundige, die ihr Wissen durch europäische Diplome belegen konnten, schon in den 1830er- und 1840er-Jahren auch ohne Konversion zum Islam möglich gewesen. Dennoch war der Wechsel in die osmanische Armee nicht unbedingt eine Verbesserung. Oberster Chef des zivilen und militärischen Sanitätswesens des Osmanischen Reiches war Ende der 1840er-Jahre der Chefarzt und Protomedicus des osmanischen Hofes. Seine Rechte bei der Besetzung von Posten und auch bei der Festlegung von Gehältern und Bezügen waren fast uneingeschränkt.175 Dies und die Tatsache, dass europäischen Ärzten im osmanischen Heer meist kein Rang zugeordnet wurde, machte eine Stellung im Militär für europäische Ärzte, die ohne einen durch die osmanische Botschaft garantierten Vertrag eintraten, zu einem riskanten Unternehmen. Obgleich für österreichische Verhältnisse gut bezahlt, blieben bestimmte Positionen fast ausschließlich den Absolventen der Medizinischen Schule in Konstantinopel vorbehalten und waren, wie Rigler berichtete, vielfach der Willkür der jeweiligen Offiziere ausgeliefert. Ab- und Versetzungen waren zudem aufgrund der häufigen Wechsel am Hof und in der Position des Protomedicus an der Tagesordnung.176 Während die aus der neuen Medizinischen Schule in Konstantinopel graduierten Ärzte mit militärischem Rang in die Truppen eintraten, blieben die Ärzte, die an der Vorgängerinstitution ausgebildet worden waren, ähnlich den europäischen Ärzten und Chirurgen ohne Rang und ,,ohne Ansehen“.177 Die Frage des militärischen Ranges der Absolventen „seiner“ Schule hatte Carl Ambros Bernard bereits Anfang der 1840er-Jahre durch einen Erlass des Sultans zu regeln

173 Zu türkischen Studenten in Europa vgl. allgemein: O. Kulaç/H. Özgür, Sending scholarship students abroad in Ottoman Empire, in: European Journal of Contemporary Education, 2017, Vol. 6(4), 830–836. Zu den ägyptischen Studierenden siehe meine eigene Arbeit: Chahrour, Bildungsmissionen und Ärzteexport, 2007. 174 Beide veröffentlichte er auch in der „Oesterreichischen Medicinischen Wochenschrift“. 175 Einzig die Quarantäneangelegenheiten lagen beim internationalen Sanitätsconseil. 176 Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 392. 177 Ebd., 396.

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gewusst.178 Gegenüber den Abgängern der Josephs-Akademie in Österreich standen sie weit höherrangig da. Für die türkische Armee war diese Einführung ein Danaaergeschenk. Die als Majore ausgemusterten Ärzte avancierten als Bataillonsärzte zu Oberstleutnants und Obristen, während die Kommandanten der Bataillone im Rang von Majoren waren. Diese Ungleichheit führte nicht selten zu Unstimmigkeiten, vor allem wegen des Unterschieds in der Besoldung. Anfang der 1860er-Jahre beschloss die Pforte, die aus der Schule abgehenden Ärzte einen Rang niedriger einzustufen, und kürzte auch die Bezahlung der Professoren der Medizinischen Schule, was zu einer regelrechten Revolte der Studenten und Lehrer an der Schule geführt haben dürfte.179 Der Krimkrieg brachte in diesen Jahren die erste Bewährungsprobe für die neu organisierte türkische Militärmedizin. Begeistert von der Tapferkeit und Lernbereitschaft der türkischen Chirurgen berichtete der britische Arzt Humphrey Sandwith 1856, dass sie einen großen Beitrag dazu geleistet hätten, dass das Krankenhaus von Typhus verschont geblieben sei. Sandwith diente im Krimkrieg als Arzt in einer englischen Einheit. Im Februar 1855 wurde Sandwith zum Inspektor der Krankenhäuser in Kars ernannt. Das Personal bestand aus etwa 50 Personen, die er in drei Klassen enteilte: hekims (ärzte), jerachs (Chirurgen) und ezadjees (Apotheker). Die Ärzte kamen aus den verschiedensten Ländern, Frankreich, Ungarn, Polen, Italien; der größte Teil stammte aber aus dem Osmanischen Reich selbst. Sandwith meinte, dass diese alle an der Schule von Konstantinopel ausgebildet worden waren, was angesichts der Absolventenzahlen aber zu bezweifeln ist. Die Türken wären die besten Ärzte gewesen, da die Europäer meist „ignorant pretenders  – perfect Sangrados“ ohne Diplome oder mit sehr zweifelhaften Papieren gewesen seien.180 Er sah in ihnen die Hoffnung für die Zivilisierung des Landes: „It is an undoubted fact, that the medical men of Turkey, few and imperfectly educated as they are, take the lead in the civilization of their country.“181 Das bunte Bild, das die medizinischen Fachkräfte der osmanischen Armee abgaben, war in den Augen europäischer Ärzte weiterhin ein Problem. Sandwiths Kollege John Netten Radcliffe (1826–1884) meinte zur selben Zeit: The medical staff of the Turkish Army is a very heterogenous body. Attached to it are many Germans, Hungarians, Italiens, Frenchmen, &c. Who have studied, or profess to have studied, in the medical schools of their respective countries. Some of these men have been driven to the Turkish Service by necessity, and among them are to be found several, whose talents are of no mean order, but their merits are crushed beneath the mass of ignorance with which they have to contend, and the discomfort of the degrading position in which

Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 391. Wiener Medicinal-Halle 51, 1862, 70 f. Humphry Sandwith, Narrative of the siege of Kars, and of the six months’ resistance by the Turkish garrison under General Williams to the Russian army. Together with a narrative of travels and adventures in Armenia and Lazistan, London 1856, 235. 181 Ebd., 299. 178 179 180

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they are generally placed; others are simply adventureres, whose knowledge of medicine and qualifications to practice it are very dubious.182

1850 verließ Spitzer Konstantinopel, 1852 verstarb sein Kollege Warthbichler und Rigler verblieb als letzter der Österreicher an der Medizinischen Schule. 1856 kehrte auch Rigler nach Österreich zurück. Zu Beginn der 1860er-Jahre war der „Renegat“ und Revolutionsflüchtling Dr. Carl Eduard Hammerschmidt der einzige Österreicher, der an der Schule unterrichtete. Der Lehrkörper hatte sich stark ausgeweitet, was nicht wenig Kritik unter außenstehenden Beobachtern hervorrief. In einer im Ton eher wüsten Kritik in der Wiener Medicinal-Halle von 1862 hieß es, dass Anstellungen ohne Rücksicht auf Befähigung besetzt werden würden; auch scheine die Schule ,,mehr um der Professoren, als die Professoren um der Schule willen vorhanden zu sein.“183 Nicht nur die Qualifikation der Ausbildner, als auch die der Absolventen wurde in dem Bericht infrage gestellt; vor allem die Qualität des chirurgischen Unterrichts sei einer militärmedizinischen Einrichtung unwürdig. Inwieweit die Schule in fachlicher Hinsicht tatsächlich einen Niedergang erlebte oder ob österreichischen Beobachtern ganz im Geist der Zeit der zunehmende Einfluss französischer Ärzte ein Dorn im Auge war, kann hier nicht beanwortet werden. Mit Sicherheit erlebte die Schule in der Zeit ab Mitte der 1850er-Jahre einen Veränderungsprozess, der nicht zuletzt in den von den Österreichern mitbegründeten Strukturen seine Wurzeln hatte. Doktorenkollegium und Professorenkollegium bildeten an der Wiener Universität ein zentrales Entscheidungsgremium, das für fast alle, auch außeruniversitären, medizinischen Fragen zuständig war. Die Professoren waren mit ihren Interessen dabei ihren Doktorenkollegen gegenüber nicht selten in der Minderheit. Erst nach 1848 gewannen die Professoren mit ihren Entscheidungen an Gewicht. Dennoch waren der Macht der Medizinischen Fakultät seit der Ära Maria Theresias und ihres persönlichen Arztes Gerard van Swieten enge Grenzen gesetzt. In der Person des Protomedicus waren seit van Swieten – wie im Osmanischen Reich – auch die Funktionen des Präses der Medizinischen Fakultät und die des Studiendirektors vereinigt. Damit waren die medizinischen Studien auch in Wien dem kaiserlichen Hof personell eng verbunden.184 Das von den Österreichern auch in Konstantinopel eingeführte System einer starken kollegialen Mitbestimmung der Professoren in vielen wichtigen medizinischen Fragen hatte eine Eigendynamik entwickelt, die ganz osmanischen Mustern folgte. Die Professoren der Schule waren gleichzeitig Angehörige des ,,Medizinischen Rates“, dem wichtige Entscheidungen für das osmanische Militär-Medizinalwesen oblagen und der auch die richterliche Gewalt in allen Standeskonflikten besaß. Damit war es 182 183 184

J. Netten Radcliffe, The hygiène of the Turkish army, London 1858, 50. Wiener Medicinal-Halle 52, 1862, 491. Buklijas, Dissection, discipline and urban transformation, 2006, 30.

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nur logisch, dass eine Position an der Schule auch ein Einflussfaktor war, der durch wechselnde Besetzungen gezielt genutzt wurde. Manche Ärzte mögen darüber hinaus aus Gefälligkeit dem Professorenkollegium einverleibt worden sein; womöglich um ihnen ein zusätzliches Einkommen abzusichern oder durch die Zugehörigkeit zur Schule ihren Ruf als Praktiker zu stärken. All dies trug dazu bei, dass die Aufmerksamkeit des Lehrkörpers mehr dem Umfeld als dem eigentlichen Unterricht gewidmet war, was das Nachlassen der Qualität des Unterrichts noch beschleunigt haben mag. Mit der Thronbesteigung von Abdülaziz 1861 kam auch die Leitung der medizinischen Angelegenheiten des Reiches in neue Hände. Leibarzt und gleichzeitig oberste Instanz für alle medizinischen Fragen wurde der in Paris ausgebildete Arzt Marco Pizipio/Marco Pascha (1824–1888). An der Medizinischen Schule setzte er eine Kürzung der Gehälter der Professoren durch und setzte die Abgänger der Schule in ihrem Rang herab. Dadurch zog er sich sowohl den Unmut der Professoren als auch den der Schüler zu, was zu einer regelrechten Revolte geführt haben dürfte.185 Der Wiener Arzt Andreas Witlacil besuchte die Schule von Konstantinopel, die nach Gülhané übersiedelt worden war, im Jahr 1870. Sein Bericht gibt wertvollen Aufschluss über die weitere Entwicklung der Schule. Nach dem Auszug aus dem alten Etablissement in Galata Serai seien die während des Neubaus einer Schule genutzten, „gegenwärtigen Lokalitäten äußerst dürftig und schlecht; die Hörsäle klein, dunkel, mit einigen elenden Bänken, die Sammlungen unter Null, teils altes Gerümpel und das bessere durcheinander geworfen, schlecht aufgestellt, schadhaft und derout.“186 Während man Mitte der 1840er-Jahre noch an die 500 Schüler an der Schule zählte, waren es 1870 nur mehr 280. Die dem Spital angeschlossene Klinik stehe weit hinter dem Marinespital zurück. Witlacil bezweifelte auch, dass der Neubau den Bedürfnissen der Schule gerecht werden könne, der Platz in dem Haus, in dem auch noch ein naturhistorisches Museum Platz finden sollte, erschien ihm bei Weitem zu beschränkt. Harsch fiel auch die Kritik an den Lehrkräften aus: ,,Wo die zwanzig Professoren, welche die medizinische Schule gegenwärtig besitzt, lesen sollen, weiss ich nach dem, was ich gesehen, wahrhaftig nicht; wahrscheinlich liest mancher von ihnen in partibus, vielleicht zum besten der Schüler, da es mit dem Wissen Einzelner nicht zum besten gestellt sein soll.“187 Die strukturelle Krise der 1850er- und 60er-Jahre führte zu einer Organisationsreform. Im Anschluss an das Studium wurde für die Absolventen der Schule ein zweijähriges Pflichtpraktikum eingeführt, das im Militärkrankenhaus Haydarpascha abgeleistet werden musste. Von diesen promovierten Ärzten wurde 1872 eine Gruppe von 18 Doktoren zur Abrundung ihrer Ausbildung nach Wien und Paris geschickt, um später selbst

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Wiener Medicinal-Halle 17, 1862, 70 f. WMW 2, 1871, 39. WMW 2, 1871, 40.

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als Dozenten an der Medizinischen Schule arbeiten zu können.188 Auch damit gelang allerdings keine nachhaltige Etablierung einer wissenschaftlich eigenständigen Schule. Die Hoffnungen, die man auf europäischer Seite in die Entwicklung einer mit den Universitäten Europas vergleichbaren Schule gesetzt hatte, waren enttäuscht worden. Auch wenn die Ausbildung von Militärärzten an der Schule nach Plan stattfinden konnte und der Blick der Ärzte nach den wissenschaftlichen Zentren in Europa gerichtet blieb, fehlte doch das, was man im naturwissenschaftsbegeisterten Europa von einer Medizinischen Hochschule erwartete: die Forschung. 7.5

„Die schönsten Talente verkümmern“: Meinungen europäischer Ärzte über Forschung und Lehre im Osmanischen Reich

,,Aus zwei Ursachen konnten es die eingeborenen Ärzte bis jetzt zu nichts ausgezeichnetem bringen, erstens, weil sie die ärztlichen Studien ohne vorbereitende Erziehung antraten, zweitens, weil sie außerordentlich gewinnsüchtig sind und diese Leidenschaft, oder dieser Fehler sich wie ein roter Faden durch ihre ganze Laufbahn schlängelt.“189 So urteilte ein anonymer Korrespondent der Wiener Medicinal-Halle 1861 über die wissenschaftlichen Ambitionen der in Konstantinopel ausgebildeten türkischen Ärzte. ,,Die Lust zur Wissenschaft ist bei ihnen eine seltene, sie betrachten die ärztliche Wissenschaft wie ein jedes anderes Handwerk, mit welchem man Geld verdienen kann.“ Dass die von ihnen eingerichteten Schulen im Orient sich nicht (sofort) zu eigenständigen wissenschaftlichen Instituten entwickeln konnten, war eine der größten Enttäuschungen für die Ärzte, die zur Einrichtung derselben in den Orient gerufen worden waren. Der Blick der Ärzte richtete sich zunächst auch hier auf das Fehlen von Ordnungen, die ihnen aus ihrer eigenen Sozialisierung vertraut waren. Von den Sprachschwierigkeiten, die auch eine große politische Dimension hatten, war bereits die Rede. Auch auf wissenschaftlich-technischer Ebene fehlten aus Sicht der europäischen Ärzte einige wesentliche Voraussetzungen: Die pathologische Anatomie bildete in Europa einen der Grundpfeiler der medizinischen Ausbildung. Durch die Leichenöffnung konnten Krankheitsverläufe und Diagnosen quasi im Rückspiegel in Einklang gebracht werden und die Richtigkeit von therapeutischen Maßnahmen bewiesen werden. Auch wenn die Medizin noch weit davon entfernt war, Krankheiten durch mikrobiologische Erkenntnisse tatsächlich erklären zu können, so bildeten die pathologischen Untersuchungen der befallenen Gewebe, die man mit den Mitteln der

188 Emine Atabek, Die Kliniken der Inneren Medizin des Gülhane Krankenhauses und Hamdi Suat Aknar (1873–1936), in: Heinz Goerke/Arslan Terzioğlu (Hg.), Die medizinischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, Bd. 1: Schriftenreihe der Münchener Vereinigung für Geschichte der Medizin, München 1978, 65–73, hier: 66. 189 Wiener Medicinal-Halle 47, 1861, 449.

Meinungen europäischer Ärzte über Forschung und Lehre im Osmanischen Reich

Sprache kategorisierte, die Plattform, auf der ein medizinischer Austausch stattfinden konnte. Ohne ausreichende, in Wien und Europa beinahe unbeschränkte Möglichkeit zur Sektion fehlte den Ärzten ein wesentliches Element ihres Erkenntnisprozesses. Dies galt in zunehmendem Maße vor allem für die jüngere Generation von wissenschaftlich tätigen Ärzten, wie sie in den 1840er-Jahren aus Wien nach Konstantinopel entsendet worden waren. Die diesbezügliche Praxis in Wien unterschied sich stark von derjenigen der Pariser Universität. In Frankreich wurden die post-mortem-Sektionen meist von den behandelnden Ärzten selbst vorgenommen. Die Sektion diente dabei der Bestätigung der am noch lebenden Patienten festgestellten Symptome und der daraus geschlossenen Diagnosen. In Wien hatte sich durch die Etablierung eines eigenen Lehrstuhls für pathologische Anatomie eine Umkehrung dieses Prinzips ergeben: Hier stand die Sektion am Anfang eines retrospektiven diagnostischen Prozesses, der sich für die Veränderungen interessierte, die sich im Verlauf der Erkrankung im Körper des Patienten ergaben. Aus diesen Veränderungen konnten die jeweils behandelnden Ärzte Erklärungen für das Auftreten von Symptomen beziehen.190 Im europäischen wie auch im islamischen Kontext war die Öffnung von Leichen ein Vorgang, der auf verschieden motivierte, aber meist religiös begründete Widerstände stieß. Die Überwindung dieser Widerstände war in Europa einer der ,,Gründungsmythen“ der neuen, naturwissenschaftlich geprägten Medizin. Diese Sichtweise, die der Religion die Rolle einer fortschrittsfeindlichen gesellschaftlichen Kraft zuspielt, ist aber auch als Erklärungsmuster für die Probleme der Implementierung einer modernen Medizin nicht unumstritten. Foucault bezeichnete diesen Mythos in seiner Arbeit ,,Die Geburt der Klinik“ als historische Konstruktion, die vor allem dazu diente, rückwirkend die anfängliche Verweigerung der Anatomie durch die klinische Praxis zu verschleiern. Vereinfacht könnte man sagen: Die Religion diente den Ärzten als Vorwand, um eine lange Phase der Entwicklung einer neuen medizinischen Methode zu rechtfertigen. Im Kontext des Transfers dieser neuen medizinischen Methoden in den Orient kommt dem gesellschaftlichen Umgang mit dieser oberflächlich betrachtet rein technischen Methode eine besondere Bedeutung zu. Für die Ärzte war das „Sektionsproblem“ eine entscheidende Grundlage für die Bewertung der Adaptionsfähigkeit der islamischen Gesellschaften an ihre Wissenschaft. Wie im Fall der Entstehung der pathologischen Anatomie in Europa dienten auch im Orient religiöse Widerstände zur Erklärung von Problemen bei der Etablierung der neuen Wissenschaft. Auch im islamischen Kontext ist das „Sektionsproblem“ ein zentraler Bestandteil der medizinhistorischen Selbstdarstellung der Umsetzung einer neuen Medizin. Die Widerstände gegen die Autopsie bilden einen zentralen Bestandteil der literarischen Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit im Orient und werden von vielen Ärzten

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Buklijas, Dissection, discipline and urban tranformation, 2006, 32–34.

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als eines der größten Probleme bei der Einführung ihrer europäischen Medizin geschildert. Entsprechende Aufzeichnungen und Verweise finden sich sowohl in Berichten aus Ägypten, Persien und dem Osmanischen Reich. Religiöser Konservativismus diente auch hier als zentrales Rechtfertigungsschema für das Scheitern der Etablierung einer autochthonen arabischen Wissenschaft. Die Sektion von Leichen war, obwohl kein durch die Sunna begründetes Verbot bestanden haben dürfte191, im Orient in der Tat gesellschaftlich ein Tabu. Dennoch gelang es den meisten europäischen Ärzten, die an den jeweiligen Hochschulen Sektionen durchführen wollten, relativ schnell, entsprechende religiöse Rechtsgutachten einzuholen, die die Sektionen zumindest in beschränktem Umfang erlaubten. Ähnlich wie in Ägypten, wo der Franzose Clot Bey bereits 1827 eine schrittweise Einführung von Sektionen durchgesetzt hatte, begann der praktische anatomische Unterricht in der Türkei mit den Leichen von Nicht-Muslimen.192 Die Frage der Priorität war für die Wiener Mediziner ebenso prestigeträchtig wie widersprüchlich: Im April 1846 unternahm Sigismund Spitzer an der Medizinischen Schule in Konstantinopel zwei Sektionen an den Leichen zweier am Sklavenmarkt verstorbener Frauen, die der russische Arzt Rafalowitsch, der die Schule zu dieser Zeit besuchte, als die ersten ,,seit das türkische Reich bestand“ gemachten bezeichnete.193 Das dürfte kaum den Tatsachen entsprechen, denn der osmanische Arzt Abdülhakzade Hayrullah berichtete in seinen ,,Medizinischen Artikeln“ 1843, dass er bereits 1839 gemeinsam mit anderen Studenten unter Spitzers Leitung im Österreichischen Krankenhaus an einer Sektion teilgenommen habe.194 Offiziell durch einen kaiserlichen Befehl erlaubt wurden Sektionen – wahrscheinlich auf Drängen Spitzers und Carl Ambros Bernards  – schon 1841. Dennoch war die Sektion im April 1846 aus Sicht der Wiener Mediziner ein Meilenstein für die europäisch geprägte medizinische Ausbildung im Osmanischen Reich. Spitzer hatte den Sultan dazu bewegen können, der Schule regelmäßig weibliche Leichen aus dem Sklavenmarkt und männliche von verstorbenen Häftlingen zur Verfügung zu stellen.195 Wenig später machte ausgerechnet das von den Europäern betriebene Verbot des Sklavenhandels dem eben aufstrebenden neuen Wissenschaftszweig einen Strich durch die Rechnung. Spitzer berichtete 1847, dass die Schließung des Sklavenmarktes – obwohl als „philantropischer Akt“ auch von ihm

191 Vgl. dazu den mit Blick auf den kemalistischen Hintergrund des Autors zu lesenden Artikel: Maskar, Über das Autopsie-Problem im Islam, 1978, 89. 192 So wurden zum Beispiel Leichen von Kindern vereinzelt von christlichen Müttern zur Verfügung gestellt. Vgl. Ulman, Portraits of Italians in Health Affairs, 2008, 144. 193 Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 445. 194 Maskar, Über das Autopsie-Problem im Islam, 1978, 95. 195 Auch in Teheran nahm Jacob Eduard Polak für sich in Anspruch, die erste in Persien stattgefundene Sektion vorgenommen zu haben – und zwar an einem ebenfalls am dortigen dar al fonun tätigen österreichischen Landsmann. Jakob Eduard Polak, Die österreichischen Lehrer in Persien. Vortrag, gehalten am 13. December 1876, Vorlesungen des Orientalischen Museums, Wien 1876, 23.

Meinungen europäischer Ärzte über Forschung und Lehre im Osmanischen Reich

begrüßt – die Schule vor Probleme stelle, denn damit sei der Nachschub an Leichen für den anatomischen Unterricht nicht mehr gesichert. Nun hätte man aber die Erlaubnis bekommen, Sektionen an den in Privathäusern verstorbenen Sklaven beiderlei Geschlechts vornehmen zu können. Zahlreiche Sektionen hätten in diesem Jahr stattgefunden. Es bedürfe aber eines Dissektors, der die Studenten bei der Ausführung ihrer Übungen überwache.196 Dass aus der Medizinischen Schule in Konstantinopel keine Universität nach europäischem Vorbild wurde, die selbst neues Wissen schöpfte, schrieb man aufseiten der Österreicher gerne der fehlenden Möglichkeit zur Sektion zu. Spätere Berichte verwiesen immer wieder darauf, dass die regelmäßige Versorgung der Anatomie mit Leichen nicht funktioniere und die anatomische Ausbildung der angehenden Ärzte daher nur unzureichend sei.197 Die anatomische Wissenschaft war es allein, welche nie bei einem Volke heimisch werden konnte, dessen Glaubenslehre das Zergliedern der Leichen aus doppeltem Grunde verdammte. Erstens, weil der Mensch nicht mit einmal stirbt, sondern sich die Seele nach und nach, von Glied zu Glied, bis ins Herz zurückzieht, aus welchem sie erst mit Beginn der Fäulnis entweicht, jede Zergliederung eines Todten, demselben mithin noch die schmerzhaftesten Qualen verursachen würde. Zweitens aber muss der Bekenner des Islam, in seinem Grabe sich einem Gerichte unterziehen, welches von zwei dazu bestellten Engeln, Monker und Nakhir, über ihn abgehalten wird und bei welchem von seinem Leibe nichts fehlen darf. Den Arabern war es also, wie den Hebräern, welche schon die Berührung eine Todten unrein machte, unmöglich, sich mit der Anatomie zu befassen.198

Das schrieb der bedeutende Wiener Anatom Joseph Hyrtl 1879 über arabische Elemente in der Anatomie. ,,Was sie von unserer Wissenschaft wussten, schöpften sie aus den syrischen Übersetzungen des Galen und Aristoteles, welche sie jedoch durch eine Menge von Zusätzen, Grübeleien und Spitzfindigkeiten, nach ihrem Geschmack vermehrten und entstellten.“ Die Meinung Hyrtls über den Umgang mit der Anatomie im Islam steht stellvertretend für viele seiner Kollegen, auch jener, die im Gegensatz zu Hyrtl selbst im Orient tätig gewesen waren. Hyrtls These, dass die islamische Medizin über keine eigene Erfahrung im Umgang mit anatomischer Forschung am Körper Verstorbener verfügte, hält einer Überprüfung nicht stand, wie mehrere neuere medizinhistorische Arbeiten gezeigt haben. Tatsächlich verfügte auch die vormodere islamische Medizin über beachtliche anatomische Kenntnisse, die aus eigener Erfahrung geschöpft wurden.199 Vgl. Mason, Three years in Turkey, 1860, 186. So zum Beispiel die Wiener Medicinal-Halle 52, 1862, 491. Joseph Hyrtl, Das Arabische und Hebräische in der Anatomie, Wien 1879, XIX. Vgl. dazu z. B. Aydin M. Sayili, Turkish Medicine, in: Isis 26/2, 1937, 403–414; und Üveis Maskar, Über das Autopsie-Problem im Islam und in der osmanischen Epoche, in: Heinz Goerke/Arslan Terzioğlu (Hg.), Die medizinischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, Bd. 1: Schriftenreihe der Münchener Vereinigung für Geschichte der Medizin, München 1978, 89–102. 196 197 198 199

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Dennoch schien vor allem für die aus Wien kommenden Ärzte ein zentrales Element ihrer Wissenschaft zu fehlen. Das Erkenntnisprinzip, das in Wien die Grundlage für die medizinische Revolution des Vormärz gebildet hatte, war die Sektion als Abschluss eines Krankheitsfalles. Den Ärzten in den osmanischen Krankenhäusern fehlte die Möglichkeit, Patienten, die verstorben waren, einer Sektion zu unterziehen und damit die organischen Veränderungen im Laufe der Erkrankung offenzulegen. Regelmäßige Autopsien nach Todesfällen, deren Krankheitsverlauf man hatte beobachten können, gab es nur im österreichischen Nationalhospital in Pera und im französischen Spital. In ersterem wurde nach Schilderung Riglers unter Dr. Warthbichlers Leitung kein Verstorbener ohne gemachte Autopsie beerdigt.200 Diese Autopsien nutzten die Lehrer an der Schule für ihren Unterricht, denn die Wissenschaft, die sie vermittelten, baute auf den aus der pathologischen Anatomie gewonnenen Erkenntnissen auf. Fehlten diese jedoch, wie eben im osmanischen Alltag, hatte diese Form der Wissenschaft keine Chance, ihre Methoden nachhaltig zu verankern. Um das Fehlen legaler Möglichkeiten zur anatomischen Sektion auszugleichen, waren von Beginn an anatomische und zoologische Sammlungen ein wichtiger Teil der Schule.  1842 verfügte die Schule über eine „umfangreiche anatomische Abteilung mit Präparaten des berühmten Anatomen Hyrtl“201. Spitzer berichtete 1847, die Sammlungen der Schule würden durch die Korrespondenz mit europäischen wissenschaftlichen Gesellschaften (er erwähnte Schenkungen aus Petersburg) im Wachsen, außerdem würden überall im Land Objekte für die mineralogische, botanische und zoologische Sammlung gesucht.202 Auch der Franzose Viquesnel, der in Rumelien für ein geographisches und mineralogisches Museum sammelte, wurde von einem in Chemie und Mineralogie bewanderten Studenten der Medizinischen Schule begleitet. Der Arzt Caratheodory brachte aus Ägypten eine große Zahl an Objekten, die ihm zum Teil von Clot Bey überlassen worden waren. Ein muslimischer Arzt namens Mustafa Effendi wurde nach Mekka geschickt, um dort Objekte zu sammeln. Diese seien bei den europäischen gelehrten Gesellschaften besonders begehrt, sodass man hoffe, damit wertvolles Gut für den Austausch zu ehrhalten.203

Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, XV. Rudolf J. Gasser, Prof. Dr. Joseph Hyrtl und seine Beziehungen zur kaiserlichen Medizinschule in Istanbul, in: Arslan Terzioğlu (Hg.), Proceedings of the First international congress for the History of Medicine and Medical Ethics. Istanbul, 14–18th October 1993, On the Occasion of the 60th Anniversary for the Foundation of the Institute for History of Medicine and Deontology through the University Reform in 1933 realized by Mustafa Kemal Atatürk, Acta Turcica Historiae Medicinae I, Istanbul 1994, 91–121, hier: 95. 202 Bericht Spitzers wie bei Mason wiedergegeben. Mason errähnt in seiner Widergabe des Berichts Spitzers einen Herrn „Schewertzbach“ aus der Schweiz, der von drei Studenten auf einer groß angelegten wissenschaftlichen Expedition begleitet wird, die zwei Jahre dauern soll und die Sammlungen bereichern würde. Mason, Three years in Turkey, 1860, 187. 203 Ebd., 189. 200 201

Meinungen europäischer Ärzte über Forschung und Lehre im Osmanischen Reich

Die ersten Sammlungen der Schule – ein zoologisches, anatomisches, physikalisches und ein mineralogisches Kabinett, wurden Ende der 1840er-Jahre durch einen Brand zerstört und es dauerte lange, bis die Bestände wieder ergänzt werden konnten. 1849 versuchte der damalige Leiter der Schule, Spitzer, bei seinem ehemaligen Lehrer und Kollegen Hyrtl in Wien eine neue anatomische Sammlung zu beauftragen, nachdem Präparate aus der Hand des für seine fast künstlerischen anatomischen Arbeiten berühmten Wiener Mediziners ebenfalls Opfer der Flammen geworden waren.204 Nachdem im Zuge der revolutionären Kämpfe in Wien auch ein Großteil der Wiener Bestände Hyrtls vernichtet worden war, wurde vorerst nichts aus dem erneuten Ankauf. Im Neubau der Medizinischen Schule in Gülhane Ende der 1860er-Jahre wurde auch Platz für ein Naturhistorisches Museum geschaffen. Das Inventar des Museums bestand, wie schon das erste naturwissenschaftliche Kabinett in Galata Sarai, zu einem beachtlichen Teil aus Wiener Beständen, die über die wissenschaftlichen Kontakte von Carl Eduard Hammerschmidt/Abdullah Bey und auf der Wien-Reise von Stephan Pascha beschafft worden sein dürften. 1870/71 waren 54 Präparate bei Hyrtl angekauft worden, weitere sollten bestellt werden.205 Eine Aufstellung aus dem Jahr 1872 spricht von einer geologisch-mineralogischen Sammlung von 12.000 Objekten, einer botanischen Sammlung von immerhin 2.700 und von 5.000 zoologischen Objekten, die durch die Spenden von ,,hervorragenden Wiener Gelehrten“ solcherart angewachsen sei.206 Demnach war man, auch was die Sammlungen betraf, weiterhin auf die Unterstützung europäischer Kollegen angewiesen – eine Sammlung von wissenschaftlichem Wert, die auch für Forschungszwecke dienlich war, konnte so allerdings nicht entstehen. Auch die eingangs zu diesem Abschnitt angesprochene „Gewinnsucht“ der in Konstantinopel ansässigen Ärzte hatte komplexe Hintergründe. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierten in Konstantinopel noch traditionelle Heilkundige die medizinische Versorgung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren – nach einer zeitgenössischen Schätzung – 300 akademisch gebildete Ärzte207, teils aus Europa, teils aus der neuen Schule in Konstantinopel ansässig geworden, wo sie mit den eingesessenen Heilkundigen konkurrieren mussten. Das Misstrauen der Stadtbevölkerung gegen diese junge Ärztegeneration war groß. In vielen Fällen vertraute man eher auf die lange erprobten Methoden der einheimischen Heilkundigen als auf die neue Ärztegeneration. Wer sich unter den akademischen Ärzten keinen besonderen Ruf erarbeiten konnte, war gezwungen, ein entbehrungsreiches Leben zu führen und die Protektion durch einen Apotheker zu suchen, die im Kontakt mit den Kranken eine wichtige Mittlerfunktion einnahmen. Dazu kamen weite und beschwerliche Wege in der ausgedehnten Stadt, die auch Einnahmen 204 205 206 207

Gasser, Prof. Dr. Joseph Hyrtl, 1994, 110. Ebd., 121 WMW 40, 1872, 1012. Wiener Medicinal-Halle 47, 1861, 449.

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durch Hausbesuche sehr einschränkten. Wer keine Anstellung beim Militär bekam, musste sich wohl oder übel dem mühsamen Erwerb als Praktiker widmen. Das mag ein Grund dafür sein, dass vielen, die zwar eine akademische Ausbildung genossen hatten, sich nun aber etablieren mussten, der wirtschaftliche Erfolg wichtiger als die wissenschaftliche Forschung gewesen sein dürfte. An der Schule selbst waren Stellen, an denen man sich der Forschung widmen konnte, dünn gesät, wohl auch deshalb, weil wie bereits beschrieben, viele Ärzte aus Einflussgründen in den Lehrkörper gedrängt haben dürften. Die europäischen Großmächte achteten in ihrem Ringen um Einfluss im Osmanischen Reich wie auch in Ägypten darauf, leitende Positionen auch in den wissenschaftlichen Einrichtungen mit eigenen Leuten zu besetzen. Für die Entwicklung einer nachhaltig selbstständigen Wissenschaft im europäischen Sinne blieb in Konstantinopel also kaum Platz. Es gibt nur wenige Informationen darüber, ob und inwiefern Personen, die im Osmanischen Reich lebten, am europäischen Wissenschaftsbetrieb der Zeit überhaupt teilnehmen konnten. Abgesehen von den Lehrern an der Schule in Konstantinopel dürften nur wenigeZugang zu wissenschaftlichen Journalen gehabt haben; Friedrich Wilhelm Oppenheim berichtete von einem Arzt im Osmanischen Reich, der in Jena studiert hatte und „Hufelands Journal“ lesen konnte, doch scheint es sich dabei um einen Einzelfall gehandelt zu haben.208 Die Berichte, die in dieser Zeit in diesen Journalen veröffentlicht wurden, stammten fast alle von Ärzten, die in einer privilegierten Position tätig waren oder das Land mit einer klar wissenschaftlichen Zielrichtung bereisten. In Wien wurden die Seiten der wissenschaftlichen Zeitschriften keineswegs nur von den Professoren der Fakultät gefüllt; auch Ärzte aus anderen Städten konnten an diesem wissenschaftlichen Diskussionsprozess teilnehmen. Oft handelte es sich um „Kreisärzte“, die bestimmte Regionen medizinisch zu verwalten hatten und über teilweise umfassende Informationen und statistisches Material verfügten. Diese Ressource fehlte im Osmanischen Reich weitestgehend. Es liegt daher nahe, die durch die europäischen Ärzte thematisierten Probleme der Etablierung eines Wissenschaftsbetriebs europäischer Prägung also eher im strukturellen Bereich zu verorten als im religiösen oder gar beim „Charakter der Orientalen“, den manche der österreichischen Ärzte für das Scheitern einer nachhaltigen Etablierung der Verbindung von Forschung und Lehre verantwortlich machten. Typisch für den Denkstil der Wiener Mediziner thematisierte der aus Wien gekommene Lorenz Rigler den Mangel an Möglichkeiten zur Sektion. Im ,,prosaischen Spitalsleben“ würden die „schönsten Talente“ im Laufe der Zeit verkümmern, da ihnen die Möglichkeit zur pathologischen Sektion fehle. In seinem Türkei-Werk diagnostizierte er zudem einen ,,Mangel an wissenschaftlichem Interesse“209 als Hauptgrund für die ihn

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Vgl. Kernbauer, Friedrich Wilhelm Oppenheim und Lorenz Rigler, 2002, 58. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 403.

Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern

enttäuschende Entwicklung seiner türkischen Kollegen nach dem Ausscheiden aus der Schule.210 Tatsächlich gab es sehr wohl Bemühungen der ersten Generation dieser ausgebildeten arabischen und türkischen Ärzte, wissenschaftlich tätig zu werden. Die ersten eigenständigen wissenschaftlichen Arbeiten von Arabern entstanden in Ägypten ab Ende der 1830er-Jahre. Dennoch standen sie lange im Schatten der umständlichen Übersetzungstätigkeit und der massiven Importe europäischer Literatur. Die in Ägypten von Muhammad Ali al-Baqli und Ibrahim al-Desuqi gegründete Zeitschrift „Yasub al tibb“ war die erste medizinische Fachzeitschrift in arabischer Sprache.211 7.6

Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern

Unter dem Einfluss der Sanitätsräte hielten europäische Ordnungen aber auch in anderen heilkundlichen Bereichen Einzug. So wurden Krankenhäuser nach europäischem Vorbild geschaffen oder restrukturiert, Richtlinien für die Gesundheitspflege erlassen, Impfkampagnen durchgeführt und erste Schritte hin zur Schaffung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung gesetzt. Schon 1839 wurden die beiden zunächst ins Osmanische Reich berufenen Ärzte Jacob Anton Neuner und Carl Ambros Bernard beauftragt, Vorschläge für die „Verbesserung der Hospitäler“ in Konstantinopel zu machen.212 Die traditionelle Heilkunde wurde in einem langsamen Prozess durch ein neues medizinisches System ersetzt, das nach europäischen Regeln und Vorbildern funktionierte und Europa nachhaltigen Einfluss sicherte. Die Schaffung eines zentral organisierten Gesundheitswesens war eines der Hauptanliegen der sich ausbreitenden europäischen Medizin. Das Prinzip einer zentralen Organisation war die Grundlage für die Durchsetzung der europäischen Medizin gegenüber der ungeregelten, traditionell strukturierten und wenig organisierten Medizin des Osmanischen Reiches. Mit der Schaffung einer zentralen Ordnung konnte die traditionelle Heilkunde ins Abseits gedrängt werden; vom Erfolg der Einrichtung eines europäisch strukturierten Gesundheitssystems hing auch der Erfolg der eigenen Mission ab. Langfristig führte die Etablierung dieses Systems zur Monopolisierung der europäischen Medizin und zur Verdrängung der traditionellen Medizin. Auch hier spielten die Sanitätsräte als Instrument der Strukturierung eine bedeutende Rolle: So wurde auf Initiative des Tuniser Sanitätsrates in Tunis eine 210 Adoplphus Slade berichtet 1833 nach einem Besuch der damals eingerichteten Schule von einem Schüler, der eines Tages selbst den Kopf einer Leiche in den Unterricht brachte, weil er mehr über das Gehirn wissen wollte und von seinem Professor davor bewahrt wurde, selbst zum Objekt solcher Studien zu werden. Vgl. Slade, Slade’s travels in Turkey, 1854, 175. 211 Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991, 90. 212 Samsinger, Vom Wiener Dioskurides zu den Begründern der modernen Medizin in Konstantinopel, 2018, 256.

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medizinische Munizipalverwaltung eingerichtet, die zwar von einem einheimischen Beamten geleitet wurde, aber in enger Beziehung zum Sanitätsrat stand.213 Vielen Bewohnern ländlicher Regionen waren akademisch gebildete Ärzte bis zum Ende des 19.  Jahrhunderts kaum vertraut, weil es kein staatlich organisiertes Zivilgesundheitswesen gab. Eine „medizinische Polizei“, die die Ausübung medizinischer Praxis reglementierte, gab es bis in die 1840er-Jahren nicht, sodass jeder Mann oder jede Frau, der oder die sich dazu berufen fühlte, praktizieren konnte.214 In der „Volksmedizin“ hatte sich in weiten Teilen des Osmanischen Reiches eine Spezialisierung vollzogen, die weniger in der Spezialisierung der Ausbildung als vielmehr in der spezifischen Auswahl bestimmter Behandelnder durch die jeweiligen Patienten begründet lag. So galten in Palästina Hirten als besonders geschickt im Umgang mit Knochenbrüchen, weil sie sich durch die Behandlung von Tieren ihrer Herden die nötige Erfahrung erwerben konnten.215 Eine Krankheit, die in fast allen einschlägigen Werken des 19. Jahrhunderts Erwähnung findet, ist der sogenannte Gelendzsik.216 Mit dieser Bezeichnung versah die traditionelle Medizin das Auftreten von Symptomen wie Blässe, allgemeiner Körperschwäche und vor allem von Ödemen, die oft nur Teil einer Erkrankung waren, von der traditionellen Medizin aber als eigenes Krankheitsbild aufgefasst wurden. Zur Behandlung dieser Symptome wurde oftmals eine Gelendzikdschi zu Hilfe gerufen; meist waren dies Frauen, die sich auf die Zubereitung eines harntreibenden und vor allem gegen Wassersucht hilfreichen Mittels spezialisiert hatten. Weil die akademische Medizin den Gelendzsik nicht als Krankheit, sondern eben nur als Anhäufung von Symptomen verstand, glaubte man, dass europäische Ärzte diese Krankheit weder erkennen noch heilen könnten. Vor allem beim Auftreten von Ödemen hatte sich die sofortige Konsultation einer Gelendszikdsch eingebürgert. Das von diesen heilkundigen Frauen verabreichte Mittel war – wie Rigler selbst zugestand – wirksam, ohne dass die europäische Medizin genauer erklären konnte, warum. Dass sich diese Heilmethode so großen Zuspruchs erfreute, hatte mehrere Gründe: Zum einen erlebte das ,,rote Wasser“ in den 1840er-Jahren eine besondere Konjunktur, weil Sultan Abdülmecid – noch zu Lebzeiten seines Vaters – selbst durch die Verabreichung des Mittels durch eine Armenierin namens Maria Dudu geheilt worden war. Die Umstände seiner Erkrankung machen klar, warum man den Mitteln der Armenierin mehr Vertrauen schenkte: Ein zu Abdülmecids Behandlung einberufenes Ärztekonsilium

Vgl. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 45. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 342. Er schätzt die Zahl der einheimischen Heilkundigen in Konstantinopel um 1852 inklusive der ebenfalls ärztliche Funktionen ausübenden Apotheker auf 7.000 bis 8.000. Ihnen stand eine ständig wachsende Kolonie europäisch gebildeter Ärzte gegenüber; in der Wiener Medicinal-Halle spricht man Anfang der 1860er von 300 akademisch ausgebildeten Ärzten. Medicinal-Halle 47, 1861, 449. 215 Kanʿān, Aberglaube und Volksmedizin im Lande der Bibel, 1914, 46. 216 Z. B. bei Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 362-265; Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 447. 213 214

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konnte sich auf keine Behandlungsweise einigen, stellte aber einhellig fest, dass der Zustand des Kronprinzen ernst war. Mit der Uneinigkeit der Ärzte konfrontiert ließ Mahmud II. nach der Armenierin schicken, die das Mittel verodnete und damit einen Heilerfolg erzielte.217 Solche Ärztekonsilien waren an der Tagesordnung und es lässt sich leicht nachvollziehen, warum eine sinnvolle ärztliche Behandlung nur selten möglich war. Wenn es dann doch zu einer Einigung kam, war die Heilmethode, wie im Fall des Gelendszik, womöglich noch kontraproduktiv: Vor allem die Ärzte der älteren medizinischen Schulen verwendeten gerne den Aderlass als Heilverfahren, was die geschwächten Kranken noch weiter belastete.218 Das Vertrauen in die Fähigkeiten europäischer Ärzte mag auch durch das immer wieder vorkommende Experimentieren mit den Heilmethoden der traditionellen Medizin erschüttert worden sein. In der Wiener Medicinal-Halle wird ein solcher Unglücksfall beschrieben. Wie auch in Europa war Quecksilber ein anerkanntes Heilmittel für Syphilis, das in Konstantinopel äußerlich in Form von Räucherungen angewendet wurde. Da Quecksilberdämpfe giftig sind, achtete man darauf, die zu Behandelnden den Dampf nicht einatmen zu lassen. Ein europäischer Arzt, der mit dieser Behandlungsmethode experimentierte, verzichtete auf diese Sicherheitsregel und „da er seinen Kranken vor dem Einatmen des Quecksilbers nicht schützte, starb dieser nach einigen Minuten, was einige Tage großen Lärm machte; aber Todte klagen nicht“219, stellte ein Wiener Fachblatt lapidar fest. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts kam eine neue Generation von Ärzten, die in Wien und Paris ausgebildet worden waren, ins Osmanische Reich. Die Mehrzahl dieser Ärzte hatte ihre Praxis in Pera, dem europäischen Viertel Konstantinopels, wo sie zunächst hauptsächlich von Europäern und einer entstehenden europäisierten Oberschicht konsultiert wurden.220 Sie vertraten andere Sichtweisen als die einheimischen Heilkundigen und auch als ihre Doktorenkollegen der alten Schulen. Therapeutische Methoden wie den Aderlass als ,,Allheilmittel“, deren Wirksamkeit sich nicht auf naturwissenschaftlichem Weg belegen ließ, lehnte die neue Schule ab. Die Konsultation des Arztes und auch die Qualifikationen desselben wichen in den 1840er-Jahren noch stark vom europäischen Vorbild ab. ,,In den höhern Klassen der Gesellschaft werden zwar Frenk-Hekims gerufen, aber es ist nicht Sitte, den Arzt zu bitten, dass er den Kranken während des ganzen Verlaufs der Krankheit besuche, wie dies in Europa der Fall ist“, berichtete der russische Arzt Rafalowitsch, der Konstantinopel und die Medizinische Schule 1846 besuchte.

Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 365. Wiener Medicinal-Halle 47, 1861. Wiener Medicinal-Halle 46, 1861, 437. Über Konstantinopel – und mit Einschränkungen auch über den Balkan – hinaus, scheint es zur Mitte des 19.  Jahrhunderts nur in Smyrna eine maßgebliche Zahl akademisch ausgebildeter Ärzte gegeben zu haben, die eine größere Praxis für die Zivilbevölkerung unterhielten. 217 218 219 220

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Man bezahlt ihm wenig oder viel nach jedem Besuch und verspricht es, ihn im Notfall in Kenntnis zu setzen. Geht es dem Kranken besser, so schickt man nicht nach dem Arzte, um ihn nicht ohne Not zu zahlen, wird er schlechter so wendet man sich an einen anderen Arzt, oder der erste lehnt auch den Besuch unter allerlei Vorwänden ab, um nicht in seiner Praxis einen Todesfall zu haben, dessen seine Kollegen sich bedienen, um seinem Rufe zu schaden. So können die hiesigen Ärzte in der Privatpraxis selten vollständige Beobachtungen sammeln, und in vielen Fällen erfahren sie den Ausgang der von ihnen behandelten Krankheit nur durch Hörensagen. Daraus erklärt sich auch, warum so wenige von den alten Ärzten im Stande sind, genügende Angaben über den Charakter und die Eigenschaften der herrschenden Krankheiten mitzuteilen, abgesehen davon, dass die mit der Privatpraxis sich abgebenden Europäer größtenteils bei Weitem nicht die genügende Bildung erlangt haben, und durch allerlei andere Interessen, außer der Philantropie und der Wissbegierde nach dem Orient getrieben wurden.221

Dabei war es nicht so, dass die Angelegenheiten der öffentlichen Gesundheit der Hohen Pforte gleichgültig waren. Der Reisende John Mason erwähnte als Beispiel für die Bemühungen der Pforte um die Hebung der medizinischen Versorgung das Problem des Ertrinkens: Der Sultan hatte aus eigener Kasse die Errichtung von Hilfseinrichtungen für Ertrinkende gesichert, am Bosporus und an den Seehäfen. Entsprechende Instruktionen wurden gedruckt und an die Provinzverwaltungen geschickt.222 Auch in der Quarantänefrage haben neuere Forschungen gezeigt, dass die osmanische Seite mit der Schaffung bestimmter Einrichtungen sehr wohl eigene Interessen verfolgte.223 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Pläne, ein europäischen Vorbildern entsprechendes Zivilgesundheitswesen zu schaffen. In den größeren Provinzstädten gab es seit der Reformierung des Quarantänewesens Anfang der 1840er-Jahre jeweils einen von der Regierung entlohnten Provinzarzt, zu dessen Aufgaben die unentgeltliche Versorgung von Kranken zählte. Dass die von den österreichischen Ärzten neu eingerichtete Medizinische Schule von Konstantinopel nicht allein dem Militär dienen sollte, beweist eine Unterredung Spitzers mit dem Sultan, in der der Sultan auch die Notwendigkeit der Einrichtung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung betonte.224 1845 wurden auf Initiative von Sigismund Spitzer, dem Leiter der Medizinischen Schule, 125 neue Zöglinge aufgenommen, fünf aus jeder Provinz, die nach ihrer Ausbildung ,,als Ärzte in den Gemeinden, die sie gesendet haben, angestellt werden, durch welche Maßregel mit der Zeit dem fast vollständigen Mangel an Ärzten und Apothekern in den

221 Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 447. Rigler und Spitzer nehmen Rafalowitsch übrigens von diesem Pauschalurteil expressis verbis aus. 222 Vgl. Mason, Three years in Turkey, 1860, 181. 223 Allgemein dazu: Bulmuş, Plague, quarantines and geopolitics, 2012. 224 Kernbauer, Die österreichischen Ärzte in Istanbul, 1990, 16.

Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern

Provinzen abgeholfen werden wird.“225 Dennoch schien dieser Plan gescheitert zu sein; 1861 hieß es in einem Bericht in der Wiener Medicinal-Halle, dass es in den Provinzen außer den Ärzten im Militärdienst kaum niedergelassene Ärzte mit europäischer Bildung gebe; nur die bedeutende Hafenstadt Smyrna bilde eine Ausnahme.226 Den aus Europa kommenden Ärzten schwebte aber eine Ordnung nach jener Fasson vor, die ihnen aus Europa vertraut war. Der Direkor der Medizinischen Schule in Konstantinopel, Sigismund Spitzer, betonte in seinem Jahresbericht 1847 die Bedeutung der Einrichtung eines Lehrstuhles für „Medizinische Polizei“ und Gerichtsmedizin in diesem Jahr. „Medizinische Polizei“ wurde von Spitzer klar als Grundlage für die Errichtung einer öffentlichen Gesundheitspflege gesehen. Unterricht und Ausübung der Gerichtsmedizin seien wichtig, auch wenn die Ausführung von Autopsien noch großen Hindernissen gegenüberstehe. Gemeinsam mit dem Lehrstuhl wurden auch zwei Ärzte der Polizei zugeteilt, die sich mit allen gerichtsmedizinischen und allen auftretenden medizinischen Fragen beschäftigen sollten.227 Vor allem die Apotheker nahmen in der medizinischen Versorgung des städtischen Raums eine wichtige Rolle ein. Ähnlich wie die bereits beschriebenen Heilkundigen deckten einzelne Apotheker mit ihren Ständen und kleinen Geschäften bestimmte medizinische Fachgebiete ab und ordinierten – vielfach ohne Konsultation eines Arztes – selbst Heilmittel für einzelne Leiden. Die Buden dieser Apotheker waren in den Städten erste Anlaufstelle für viele Hilfesuchende. Für neu eintreffende Ärzte waren diese Buden daher auch die einzige Chance, sich einen Ruf zu erwerben beziehungsweise zu Patienten zu kommen. Dabei waren sie wohl auch gezwungen, wider besseres Wissen zu den Mitteln eben dieser Apotheker zu greifen, wobei auch Europäer verstanden, sich gerade in den Städten in dieses Geschäft hineinzudrängen.228 Diese enge Bindung der Ärzte an die Apotheker bestand auch dort, wo akademisch gebildete Ärzte sich bereits niedergelassen hatten, wie in Pera, dem stark von Europäern bewohnten Viertel von Konstantinopel. Auch hier kam den Apothekern eine wichtige Rolle bei der Behandlung einer Krankheit zu.229

Allgemeine Medicinische Central-Zeitung 15, 1846, 711–712. Wiener Medicinal-Halle 48, 1891, 468. Mason, Three years in Turkey, 1860, 180. Er spricht wörtlich von „legal medicine“. Der Apotheker Johann Martin Honigberger, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Arzt in vielen Teilen des Osmanischen Reiches praktizierte, empfahl als Heilmittel für Knochenbrüche Mumienpulver, was in der Wiener Medizinischen Wochenschrift 1851 als Scharlatanerie gebrandmarkt wurde. Vgl. Früchte aus dem Morgenlande von Joh. Martin Honigberger. Kritik, in: Wiener Medizinische Wochenschrift, 1851, 169, 170. 229 Auch hier wäre es aber verfehlt, davon auszugehen, dass die Hohe Pforte bzw. die lokalen Autoritäten schlichtweg „alles“ geschehen ließen. 1803 hieß es in Konstantinopel anlässlich der schon erwähnten PestAffäre des italienischen Arztes Dr. Valli, der vorgab, ein neues Schutzmittel gegen die Pest entwickelt zu haben: „Als Herr Politti vor einigen Tagen dies Vorbauungsmittel bei dem Apotheker holen lassen wollte, dem man es zum Verkauf anvertraut hatte, so ließ ihm dieser sagen: die hohe Pforte habe die Dispensation des selben so lange untersagt, bis Herr Valli zurückgekommen seyn und einem Comité von Aerzten, die Zusammensetzung 225 226 227 228

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Im Gegensatz zu Europa, wo dem Mediziner die Leitung des Behandlungsprozesses oblag, war es hier üblich, nach Konsultation mehrerer Ärzte den Apotheker im Falle gegensätzlicher Diagnosen entscheiden zu lassen. Fast verbittert berichteten die Korrespondenten der Wiener Medicinal-Halle über die Aufnahme europäischer Ärzte: ,,Kommt ein Arzt das erste Mal nach Byzanz, so begegnet seiner noch nicht erprobten Fähigkeit allgemeines Misstrauen: Seine wissenschaftliche Bildung und sein guter Ruf werden nicht in Betracht gezogen, weil diese mit der Kunst der eingeborenen Quacksalber verglichen für nichts gehalten werden.“230 Auf Erlass des Hekim Bashi (und wohl auf Druck Spitzers) wurden Apotheker 1847 daran gebunden, in Zukunft nur mehr dann praktizieren können, wenn sie den Kurs an der Medizinischen Schule (zwei Jahre) absolviert hatten. Alle bisher tätigen Apotheker konnten weiterhin aktiv bleiben, durften ihr Geschäft aber an niemanden weitergeben, der nicht den Kurs absolviert hatte und mussten auch ihre Kinder an die Schule schicken, wenn sie ihr Geschäft an die Kinder weitergeben wollen. Spitzer, der sich offenbar sehr für diese Regelungen eingesetzt hatte, appellierte 1847 nachgerade, dass diese Regeln auch eingehalten werden.231 Eine wesentliche Festlegung des Reformedikts von Gülhane, mit dem 1839 Reformen in vielen Bereichen der osmanischen Gesellschaft in die Wege geleitet worden waren, war die Gleichberechtigung der unterschiedlichen Konfessionen. Die Medizinische Schule war einer jener Orte, an denen diese Gleichberechtigung praktiziert wurde. Die Einrichtung stand Schülern aller Konfessionen offen. Der Wiener Arzt Ludwig August Frankl berichtet in seinem Reisewerk ,,Nach Jerusalem!“ von einem Treffen mit dem Oberrabbiner des Osmanischen Reiches, in dem er erfuhr, dass die türkische Regierung […] an der medizinischen Schule, wo sechzehn jüdische Studenten aufgenommen sind, ihnen einen eigenen Schlächter angestellt hat, der für sie besonders, nach dem strengen Speisegesetze kocht. Ein Chacham wohnt mit den jungen Leuten und leitet ihren Gottesdienst. Bereits ist der Sohn des Chacham Chajim als Arzt aus dieser Schule hervorgegangen, und als Hauptspital-Arzt in Aleppo mit einem jährlichen Gehalte von 24 000 Piastern angestellt.232

Auch die Feiertage der einzelnen Konfessionen wurden bei den Ausgängen der Studenten offenbar berücksichtigt233, im Rahmen ihrer Examina hatten die Absolventen darüber hinaus einen Eid zu leisten, den die Muslime auf den Koran, die Christen auf

dieses Arkanums bekannt gemacht haben werde. Es scheint, die Pforte fange endlich an, die Individuen ins Auge zu fassen, welche die Heilkunde betreiben, und man darf hoffen, dass der neue Hekim-Baschi, (Protomedikus oder Chef der Aerzte,) hierin eine bessre Ordnung einführen werde, so gut es nehmlich die Lokalität erlaubt.“ Carro/ Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 119. 230 Wiener Medicinal-Halle 4, 1861, 448. 231 Mason, Three years in Turkey, 1860, 180. 232 Ludwig August Frankl, Nach Jerusalem!, Wien 1860, 222. 233 Wiener Medicinal-Halle 51, 1862, 483.

Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern

das Evangelium ablegten.234 Diese Chancengleichheit in der Ausbildung schien jedoch nur an der Oberfläche bestanden zu haben. Andere, etwas spätere Berichte über den Umgang mit Angehörigen der einzelnen Konfessionen strichen klar heraus, dass nur Türken eine Chance auf eine medizinische Karriere im Staatsdienst hätten, während Christen und Juden vor allem bei der Besetzung der oberen Rangstufen benachteiligt würden.235 Wenn es das Ziel sein sollte, das neue System in alle Bereiche der Gesundheitsversorgung zu bringen, mussten auch Frauen mitgedacht werden. Kurse in Geburtshilfe wurden bereits an der 1827 eingerichteten Medizinischen Schule abgehalten. 1842 wurde an der neu geschaffenen Schule eine eigene Klasse für Hebammen eingerichtet, die für die Ausbildung von Hebammen im gesamten Osmanischen Reich vorgesehen war. Der theoretische Unterricht erfolgte durch Konstantin Caratheodory sowie zwei Hebammen namens Messani und Pizipio, die über Vermittlung Österreichs nach Konstantinopel gekommen waren und wie ihre männlichen Kollegen Verträge hatten, die neben einem Monatsgehalt auch eine Pension vorsahen. Da die Hospitalisierung von Frauen nicht vorgesehen war, übernahmen die Hebammen oft auch die medizinische Betreuung von Frauen. Das Fehlen weiblicher Patienten im klinischen Unterricht wurde als Mangel gesehen, der dringend behoben werden sollte.236 1843/44 schrieb der deutsche Reisende Karl Koch nach einem Besuch der Schule über das im Aufbau befindliche Hebammenwesen, die „Entbindungskunde“ sei in der Türkei noch eine „unmögliche Wissenschaft“, weil man keine jungen Frauen finden würde, die sich sich zur Belehrung oder zum eigenen Besten entbinden lassen würden.237 1847 wurde bereits berichtet, dass durch die ambulante Tätigkeit der beiden Hebammen Messani und Pizipio auch Anschauungsmöglichkeiten für den medizinischen Unterricht bestünden. Auch andere Institutionen wurden nach europäischen Vorbildern modelliert und etabliert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in den meisten Städten des Nahen Ostens keine Krankenanstalten im europäischen Sinn. Armenhospitäler, sogenannte „maristan“, in denen Mittellose und Menschen ohne familiären Anschluss versorgt wurden, bildeten die einzige institutionelle Krankenpflegeeinrichtung. Sie wurden über wohltätige Stiftungen finanziert, die einen religiösen Hintergrund hatten. Wissenschaftliche Forschung und systematische Behandlungsabläufe spielten in den „maristan“ eine untergeordnete Rolle, im Vordergrund stand das religiöse Gebot der Wohltätigkeit gegenüber den Mittellosen. Im Osmanischen Reich waren diese Krankenhäuser oft Teil eines Komplexes, der verschiedene andere wohltätige Einrichtun-

Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 420. Wiener Medicinal-Halle 51, 1862, 483. Eine Ausnahme der Sohn des Oberrabbiners des Osmanischen Reiches, der nach Abschluss der Schule eine leitende Position im Krankenhaus von Aleppo bekommen habe. Frankl, Nach Jerusalem!, 1860, 222. 236 Ulman, Portraits of Italians in Health Affairs, 2008, 143f. 237 Koch, Wanderungen im Oriente, 1846, 252. 234 235

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gen beeinhaltete.238 Europäische Beschreibungen dieser Armenhospitäler wiesen im 19. Jahrhundert fast immer auf die unzureichenden hygienischen und medizinischen Zustände hin. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Osmanischen Reich ein von den europäischen Mächten protegiertes konfessionelles Spitalswesen, das den einzelnen Religionsgemeinschaften in den bedeutenderen Städten eigene Krankenhäuser beziehungsweise ambulante Behandlungsstellen verschaffte. Von Bedeutung war diese Trennung vor allem für Christen und Juden; Muslime waren dagegen weit eher bereit, sich von Angehörigen anderer Konfessionen behandeln zu lassen. Die in deutscher Sprache zugänglichen Berichte in den medizinischen Medien vermittelten den Eindruck, dass es im ganzen Osmanischen Reich nur wenige öffentliche Krankenanstalten gegeben hätte;239 als solche wahrgenommen wurden nur wenige, so das Mitte der 1840er-Jahre auf Initiative der Sultan-Mutter in Gurebe errichtete Hospital, das als erstes Zivilkrankenhaus im Osmanischen Reich galt, für 700 Kranke ausgelegt war und in dem trotz einer ausdrücklichen Widmung auch für Frauen fast ausschließlich Männer behandelt wurden.240 Außer den Militärspitälern und der Klinik der Medizinischen Schule waren es vor allem die Nationalspitäler der europäischen Gemeinden Konstantinopels, die von der Zivilbevölkerung frequentiert wurden. Auch Österreich unterhielt und unterstützte mehrere Krankenhäuser im Orient: das St. Georgs-Hospital in Konstantinopel, das St. Anton-Hospital in Smyrna sowie ein Hospiz in Jerusalem. Auch das Jerusalemer Rothschild-Krankenhaus stand direkt unter österreichischem Schutz.241

238 Zu den Krankenhäusern im Osmanischen Reich siehe die Arbeiten von Miri Shefer-Mossensohn, insbesondere die Konstantinopel betreffende Arbeit: Miri Shefer, Old patterns, new meaning. The 1845 hospital of Bezm-i Alem in Istanbul, in: Dynamis (Granada, Spain) 25, 2005, 329–350. 239 Der Wiener Arzt Andreas Witlacil berichtet von einer Reise nach Konstantinopel in den 1860er-Jahren, dass überhaupt keine Zivilkrankenhäuser bestünden. Rigler erwähnt in seinem Türkei-Werk das Gurebe-Krankenhaus als von der Regierung erhaltenes ,,Civil-Spital“ und weist darauf hin, dass früher ,,jede Moschee einige Krankenzimmer hatte“, diese aber längst geschlossen seien. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 381. 240 Arslan Terzioǧlu, Deutsche Einflüsse auf die osmanischen  Krankenhäuser im 19. und beginnenden 20.  Jahrhundert, in: Heinz Goerke/Arslan Terzioğlu (Hg.), Die medizinischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, Bd. 1: Schriftenreihe der Münchener Vereinigung für Geschichte der Medizin, München 1978, 35–64, hier: 36. Eine moderne Aufarbeitung anhand osmanischer Quellen bietet: Shefer, Old patterns, new meaning, 2005. 241 Zu den diversen Krankenanstalten im heutigen Israel vgl. besonders Schwake, Die Entwicklung des Krankenhauswesens, 1983. Das österreichische Spital in Konstantinopel behandelte zuletzt Elmar Samsinger, „Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Ansehen im Oriente ist das Spital“. Von segensreichen Krankenhäusern und der liederlichen Posse eines k. u. k. Regimentsarztes, in: Elmar Samsinger (Hg.), Österreich in Istanbul III: K. (u.) K. Präsenz im Osmanischen Reich. With Abstracts in English. Türkçe özetler ile, Bd. 14: Forschungen zur Geschichte des österreichischen Auswärtigen Dienstes, Wien 2018, 299–345.

Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern

Ein Hospital für die Untertanen des Kaisers in Konstantinopel wurde 1830 gegründet. Ab 1854 befand es sich im St. Georgs-Kloster in Galata.242 Das Konstantinopeler Krankenhaus war mehr als alle anderen von Österreich unterstützten Gesundheitseinrichtungen ein ,,österreichisches“. Es stand in enger Verbindung mit der Internuntiatur und dem Außenministerium, dem der Verwaltungsrat des Krankenhauses direkt zugeordnet war. Die Leitung des Hauses lag bei einem Vertreter der Internuntiatur, einem Rechnungsinspektor, dem Arzt der Internuntiatur und dem Vorsitzenden der Handelskammer243. Angesichts der engen Verbindung mit Österreich mag es auf den ersten Blick verwundern, dass die Einrichtung von österreichischen Besuchern zwar meist wohlwollend, aber kaum als vorbildlich beschrieben wird. Das Haus, das eigentlich die Vorzeigeeinrichtung einer sich als solcher verstehenden „Wiener Schule“ hätte sein können, war von seinen Financiers  – vor allem dem österreichischen Staat  – vernachlässigt worden. Im Jahr des Umzuges ins St. Georgs Kloster versuchte man einen Ankauf des Komplexes, was vom Finanzminister aus finanziellen Gründen abgelehnt wurde. Der Wiener Arzt Andreas Witlacil besuchte auch das österreichische Hospital, das unter der Leitung des ,,liebenswürdigen und intelligenten“ Oberarztes Dr. Weissbach stand, in dem – wie Witlacil meinte – „die Wiener Schule einen würdigen Vertreter“ gefunden hätte. Auch in dem Bericht über die österreichische Einrichtung fehlte nicht die gehörige Betonung der Reinlichkeit; nur zwischen den Zeilen klang die Unzufriedenheit mit den räumlichen Verhältnissen in dem offenbar zu kleinen und kaum entsprechenden Holzbau durch. Wie unzureichend diese Räumlichkeiten tatsächlich gewesen sein mussten, zeigte ein Folgebericht von einer weiteren Reise Witlacils zwei Jahre später. Anlässlich dieses Besuches fand der Wiener Besucher weit klarere Worte für die Unzulänglichkeit des Hauses, das der Wiener Medizin eigentlich zur Ehre gereichen sollte: ,,Nur die primitiven Zustände, an welche man sich hier in jeder Beziehung gewöhnt hat, machen es möglich, dass man diesen fünf Zimmern mit ihren 38 Betten den Namen eines österreichischen Spitals zuerkennt.“244 In dem einzigen Isolierzimmer des Krankenhauses würden Geisteskranke gemeinsam mit Blattern- und Krätzepatienten untergebracht,

242 Arslan Terzioğlu/Erwin Lucius, Gülhane ve Cumhuriyet‘in Kuruluş Döneminde Türk Tıbbına Katkıları Simpozyumu bildirileri. Cumhuriyetimizin kuruluşunun 75. yıldönümünde Gülhane‘nin 100. kuruluş yıldönümü anısına = Verhandlungen des Symposions Über das Gülhane-Krankenhaus und Seine Rolle für die Entwicklung der Türkischen Medizin, Bd. 6: Türk tıp tarihi yıllığı = Acta turcica historiae medicinae, İstanbul 1999, 79. 243 Ebd., 79. 244 WMW, 1872, 989. Was die Geisteskranken betrifft, scheint die Unterbringung im österreichischen Spital keine Ausnahme dargestellt zu haben. Im selben Bericht findet sich eine ausführliche Schilderung der einzigen ,,öffentlichen Irrenanstalt von Stambul“, in der Angehörige aller Nationalitäten und Religionen kostenlos Aufnahme fanden. Die Bedingungen, unter denen die Patienten betreut wurden, waren mehr als einfach; eine Heizung gab es nicht, der Mangel an Beschäftigung oder irgendeiner Betreuung der Patienten war allgegenwärtig.

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Zustände, die eine Veränderung schon aus Gründen der ,,Wahrung der Ehre Österreichs“ notwendig machen würden.245 Das Haus in Konstantinopel war nicht das einzige seiner Art im Osmanischen Reich. Das österreichische (katholische) Hospital in Smyrna erwarb sich während der Pestepidemien ab 1815 einen besonderen Ruf unter der Bevölkerung, weil es neben dem griechisch-orthodoxen Krankenhaus als einziges ,,Nationalhospital“ die Pestkranken der Stadt versorgte. Vor der Zerstörung durch einen Brand konnte es 100 Kranke aufnehmen, später ist von 60 Betten die Rede.246 Geleitet wurde es seit den 1820er-Jahren von einem Dr. Hohenberg. 1846 befand es sich – während eines Besuches von Rafalowitsch  – noch in eher provisorischem Zustand, eine in Österreich durchgeführte Sammlung brachte aber die Mittel für einen Neubau. Auch hier wurden neben akut Kranken auch Geisteskranke betreut. Noch ein zweites Spital in Smyrna hatte einen österreichischen Hintergrund: Das jüdische Hospital, das von der Wiener Familie Rothschild gespendet worden war. Das Krankenhaus war einfachst ausgestattet und verfügte nicht einmal über Betten, sondern nur Matratzen, auf denen die Kranken lagerten. Die medizinische Leitung lag in der Hand eines einheimischen Heilkundigen, der aber auch über beachtliche theoretische Kenntnisse verfügte, wie Rafalowitsch festhielt.247 Wo Angebote wuchsen, entwickelten sich auch Gegensätze, die manchmal auf dem Rücken der Bewohner ausgetragen wurden. In Palästina war der Betrieb der konfessionellen  Krankenanstalten  – anstatt der Bevölkerung eine bessere Versorgung zu bieten – zunächst eine Zone von Auseinandersetzungen zwischen den Religionsgemeinschaften geworden. Besonders das 1840 gegründete protestantische Missionskrankenhaus in Jerusalem war für die zeitgenössische Publizistik ein Zankapfel. Ziel der Missionare war es, die jüdische Bevölkerung von Jerusalem für das Christentum zu gewinnen, da ihre Heilsvorstellungen von einer gänzlichen Konversion des jüdischen Volkes zum Christentum geprägt waren. Auch in Jerusalem hatte die Familie Rothschild (vielleicht nicht zuletzt aufgrund der Tätigkeit der protestantischen Missionare) 1853 ein eigenes Krankenhaus gestiftet. Der Arzt Bernhard Neumann, der lange als Leiter des jüdischen Rothschildschen Spitals in Jerusalem tätig war, richtete deshalb seine besondere Kritik gegen das evangelische Krankenhaus. Es sei wie alle Wohltätigkeitseinrichtungen der Protestanten eine „auf Armut berechnete Einrichtungen, welche zum Abfalle vom Judentum verleiten sollen“. Die konservativen Juden der Stadt installier-

245 Witlacil hob das preußische Spital hervor, das von den beiden aus Preußen stammenden Ärzten Dr. Mühlig und Dr. Mordtmann geleitet wurde und in dem die Pflege – wie bei den Schwesterinstituten in Jerusalem und Alexandria – von geistlichen Schwestern aus dem Orden der Diakonissinnen übernommen wurde. 246 Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 487. 247 Ebd., 488.

Versuche zur Strukturierung des Gesundheitswesens nach europäischen Vorbildern

ten als Gegenmaßnahme eine Art „theologische Polizei“, die jene Juden, die sich in dem Krankenhaus behandeln lassen wollten, mit dem Bann bedrohte.248 In den Krankenanstalten Konstantinopels versuchte man offensiv, die eigenen therapeutischen Prinzipien umzusetzen und dem Gedanken der „Schule“ gerecht zu werden. Stolz berichtete Rigler 1852, dass in den neuen Militärspitälern Konstantinopels und in der Medizinischen Schule der Stadt nach den Grundsätzen der „Wiener Schule“ behandelt und gelehrt werde.249 In der Klinik der Schule wurde der Bevölkerung ein Behandlungsangebot gemacht, das im Kontext der Verhältnisse nur als „Werbung“ für die Medizin gesehen werden konnte: Dort wurden 1845 640 Kranke stationär behandelt und 160 Operationen vollzogen. 1842/43 waren es 823 stationäre und zumindest 835 ambulante Behandlungen.250 An der Medizinischen Schule bestand eine Polyklinik, an der jeden Tag von 12 bis 16 Uhr Kranke behandelt wurden. Der Zustrom zu dieser Klinik war enorm – an die 18.000 sollen es 1845 gewesen sein, die sich dort behandeln ließen, meist Frauen und Kinder.251 Der Zulauf zu den ambulanten Versorgungseinrichtungen sei so groß, dass auf Befehl des Hekim-Bashi zwei weitere Einrichtungen dieser Art in Skutari und Konstantinopel geschaffen wurden, die abwechselnd von Studenten betreut wurden.252 Trotz dieser Bemühungen etablierte sich das System „Krankenhaus“ nicht nach den Vorstellungen der europäischen Ärzte. Auch Impf-Kampagnen wurden im Rahmen der Bemühungen um den Aufbau eines europäisch geprägten Gesundheitswesens propagiert. Ab 1840 fanden kostenlose Impfungen an der Medizinischen Schule statt.253 Gemeinsam mit der Medizinischen Schule wurde in Konstantinopel eine kostenlose Impfanstalt eingerichtet, an der 1842/43 2.295 Kinder geimpft wurden. 1845 kam es in Konstantinopel zu einer schweren Epidemie. Als Reaktion und wohl auch unter dem Einfluss der europäischen Ärzte wurde in Konstantinopel verlautbart, dass alle Kinder verpflichtend zu impfen seien254, sodass es in diesem Jahr bereits 11.000 Impfungen gab. 1845 wurde in Konstantinopel an der Medizinischen Schule eine umfassende Impfinstruktion in vier Sprachen herausgegeben. Darüber hinaus bemühte man sich, das Wissen um die Kuhpockenimpfung und ihre Methoden durch die Ausbildung von Impfärzten zu forcieren. Alle Provinzen wurden aufgefordert, Personen zur Ausbildung als Impfärzte an die Medizinische Schule nach 248 Bernhard Neumann, Die heilige Stadt und deren Bewohner. In ihren naturhistorischen, culturgeschichtlichen, socialen und medicinischen Verhältnissen, Hamburg 1877, 286. 249 Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 350. 250 Weiß von Starkenfels spricht von dieser Zahl; in der Medicinischen Central-Zeitung wird 80.000 angegeben, eine Zahl die auch Kernbauer in seinem Artikel zu Recht infrage stellt. Vgl. Kernbauer, Die Medizinische Schule von Galatasaray, 1995, 129. 251 Reiseberichte eines russischen Arztes, in: Das Ausland: Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde, 417. 252 Mason, Three years in Turkey, 1860, 185. 253 1840 wird in Konstantinopel die kostenlose Impfung an der Medizinischen Schule eingeführt. Im Schuljahr 1841/1842 wurden immerhin 1.705 Kinder geimpft.  1843 waren es bereits 1.843. Vgl. Ünver, An outlook on the history of smallpox vaccination, 1948, 283. 254 Ebd., 284.

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Konstantinopel zu entsenden.255 Um Impfungen, denen die Bevölkerung zunächst ablehnend gegenüberstand, zum Durchbruch zu verhelfen, ließ der Sultan auf seinen Reisen in die Provinzen Impfungen vornehmen, offenbar um der Bevölkerung die Scheu vor dem vergleichsweise kleinen, aber doch ungewohnten Eingriff zu nehmen. Mangels einer ausreichenden Zahl an niedergelassenen Zivilärzten wurden für Impfkampagnen meist Militärärzte aus den lokalen Regimentern herangezogen.256 Die strukturellen Veränderungen erfassten sehr bald alle Teile des Reiches. In Tunis wurde der persönliche Arzt des Beys 1856 auch mit der Lizensierung der Ärzte beauftragt, Mitte der 1860er-Jahre eine Sanitätspolizei etabliert.257 Mitte der 1860er-Jahre bestand der staatliche Sanitätsdienst in Ägypten in den einzelnen Provinzen aus einem Sanitätsarzt (dem Hekim Bashi), einem ägyptischen Wundarzt und einer Hebamme bzw. Ärztin (Hakima). Letztere waren Absolventen und Absolventinnen der Medizinischen Schule und wurden in Kario ausgebildet und geprüft. Hebammen, die legal praktizierten, mussten nicht verpflichtend die Schule besucht haben, mussten sich aber einer Prüfung vor dem Hekim Bashi unterziehen und waren dann nur zu Geburtshilfe, nicht aber zur Behandlung von Frauenkrankheiten berechtigt.258 Dem Sanitätsrat fiel dabei sowohl die Zulassung aller in medizinischen Berufen tätigen Personen wie Hebammen, Barbiere, Apotheker und Ärzte zu als auch die Gesamtaufsicht über die medizinische Ausbildung, die Administration des öffentlichen Gesundheitswesens und die Überprüfung der Qualifikation aller im Gesundheitswesen tätigen Personen. In der Frage der Gleichberechtigung der ägyptischen Ärzte blieb der von den europäischen Interessen dominierte Gesundheitsrat in Ägypten dagegen zurückhaltend. Entgegen den Forderungen zahlreicher Absolventen der Medizinischen Schule, die nicht in Europa studiert hatten, weigerte sich der Gesundheitsrat, ihnen wie allen an europäischen Universitäten ausgebildeten Ärzten ein Doktordiplom zu verleihen. Die in Ägypten niedergelassenen europäischen Ärzte dürften eine nicht unwesentliche Rolle bei dieser Obstruktion gespielt haben.259 So blieben die leitenden Stellen des Gesundheitswesens ein wesentlicher Markt für europäische Ärzte.

Ünver, An outlook on the history of smallpox vaccination, 1948, 286. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 393. Gallagher, Medicine and power in Tunisia, 1983, 63–65. Flora, Aerztliche Mittheilungen aus Aegypten, 1869, 3. Der Sanitätsarzt verdiente ca. 7.800 Francs jährlich, der ihm beigegebene Wundarzt 2.340 Francs, die Hakima nur 936 Francs. 259 Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991, 90. 255 256 257 258

Scheitern am eigenen Anspruch

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„Der Orient ist kein gelobtes Land“: Scheitern am eigenen Anspruch

Materielle und wissenschaftliche Anerkennung waren ein wesentlicher Faktor für die Reise in den Orient. In den für die Österreicher ungewohnten Verhältnissen wurde Anerkennung auf ungewöhnlichen Wegen zuteil: 1845 berichteten Frankls Sonntagsblätter, der Sultan habe dem ersten Professor der Schule zu Galata Serai ,,zum Beweise seiner Zufriedenheit für das Talent und den Eifer, welche er in der Ausübung seiner Dienstverrichtungen fortwährend entwickelt“, ein ,,prachtvolles arabisches Pferd“260 verehrt. Spitzer hatte den Sultan zuvor erfolgreich behandelt und war daraufhin auch zum Leibarzt des Sultans befördert worden. In dieser Stellung erwarb Spitzer nicht nur das Vertrauen seines Herrn, sondern auch ein beträchtliches Vermögen, das für ihn die Grundlage eines seiner Stellung als gewesener Leibarzt entsprechenden Lebensstils gewesen sein dürfte. Pferde waren am Hof des Sultans ein durchaus verbreitetes Anerkennungsgeschenk; daneben waren Geldgeschenke und mit Edelsteinen verzierte Metallwaren wie Schwerter oder Dosen üblich.261 Die Verdienstmöglichkeiten für europäische Ärzte waren im Orient zunächst vergleichsweise gut. Auch für den bereits in den 1820er- und 1830er-Jahren durch das Osmanische Reich reisenden praktizierenden Laien Johann Martin Honigberger war die Praxis im Orient vor allem eine Möglichkeit, Geld zu verdienen: Immer wieder berichtete er von fürstlichen Entlohnungen, die ihm für seine Dienste zuteil wurden. Schon Magister der Chirurgie, die eine Stellung als Bataillonsärzte in der osmanischen Armee anstrebten, konnten um 1850 mit einem Monatsgehalt von 100 Gulden Konventionsmünze rechnen.262 Trotz dieser guten Bezahlung sei ihre Stellung nicht beneidenswert, denn ,,ohne Rang dastehend, der Willkür und Laune jedes Offiziers preisgegeben, wird eine solche Lage dem fühlenden Menschen im Laufe der Zeit unerträglich, und gerne würde jeder von ihnen nach einer Reihe von unangenehmen Erfahrungen, die bescheidenste Stellung in seiner Heimat diesem glänzend scheinenden Loose vorziehen“263, die Verhältnisse würden die meisten jedoch zwingen zu bleiben, denn eine Rückkehr in die Heimat sei nach Jahren in der Fremde, in denen man den Anschluss an die heimatlichen Verhältnisse und den Lauf der Wissenschaft verloren habe, nur mehr schwer möglich. Ihr Ehrgeiz schwinde und viele würden sich daher dem Laster des Trunkes ergeben. Doktoren der Medizin aus Europa, die in den großen Militärkrankenhäusern Konstantinopels angestellt waren, konnten mit 100 bis zu 250 Gulden Konventionsmünze Bezahlung rechnen. Doch auch ihre Anstellung war eine mit Ablaufdatum, der ein Wechsel in

Sonntagsblätter, 11. Mai 1845, 454. Vgl. Kernbauer, Sigismund Spitzer und die Medizinische Schule in Istanbul, 1993, 70. Der Wiener Anatom Joseph Hyrtl erhielt vom Sultan Abdülmecid 1842 eine mit einem Brillanten versehene Dose, nachdem er eine große Zahl an anatomischen Präparaten für die Medizinische Schule zur Verfügung gestellt hatte. 262 Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 394. 263 Ebd. 260 261

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der Regierung oder der Gunst eines Vorgesetzten jederzeit ein schnelles Ende machen konnte. Auf Bitten des Wiener Anatomen Joseph Hyrtl intervenierte Sigismund Spitzer 1849 für einen Herrn Pregl aus Wien, doch in einem Schreiben an seinen Wiener Kollegen bat Spitzer, demselben ,,mitzuteilen, dass ich durch unangenehme Erfahrung belehrt, mich nicht darauf einlassen kann, irgend jemand zu einem Engagement für ottomanische Dienste zu veranlassen.“264 Ärzte wie Rigler, Spitzer und Warthbichler waren in einer weit komfortableren Position als jene, die auf eigene Faust in den Orient gereist waren. Aufgrund ihrer Berufung durch die osmanische Regierung verfügten sie über garantierte Verträge, die aufzulösen vor allem aufgrund des Rückhaltes vonseiten der österreichischen Internuntiatur weit schwerer fiel. In Konstantinopel hatten sie darüber hinaus die Möglichkeit, eine private Praxis zu betreiben, was ebenfalls sehr einträglich sein konnte. Bis Ende der 1840er-Jahre dürfte das Leben in Konstantinopel für Europäer zunächst vergleichsweise günstig gewesen sein.265 Spätestens mit Ausbruch des Krimkrieges wendete sich das Blatt. Zahlreiche Ärzte aus Frankreich und England kamen im Gefolge des Krieges nach Konstantinopel, die Konkurrenz unter den Ärzten nahm zu. Auch die Lebenskosten in Konstantinopel stiegen an: ,,Meine Praxis ist ziemlich ausgebreitet, doch das Leben hier ist so enorm teuer, dass ich jährlich mit meiner kleinen Familie – Frau und zwei Kinder – 6000 fl CMze ausgebe und mir beinahe nichts ersparen kann“, schrieb der k. k. Internuntiaturs-Arzt Sotto, der damals bereits mehr als 10 Jahre in Konstantinopel verbracht hatte, 1856 nach Wien. ,,Man zahlt hier für ein elendes, meist hölzernes Haus von 5–6 Zimmern 1000–1200 Gulden und in diesen Proportionen das übrige. Und für sein gutes Geld bekommt man noch obendrein das elendste Zeug. Der Orient ist kein gelobtes Land, seit dem letzten Kriege ist hier alles zum schlimmsten gediehen.“266 Die Verdienstmöglichkeiten brachen offenbar noch weiter ein. 1863, also nur sieben Jahre nach Sottos Brief nach Hause, berichtete die Wiener Medicinal-Halle: ,,Vor einigen Jahren haben unter allen europäischen Völkern die Türken ihre Ärzte am glänzendsten honoriert; diese gute Zeit ist jedoch schon vorüber und der Türke gibt heut zu Tage seinem Arzt entweder gar nichts oder er bezahlt ihn äußerst schlecht.“267 Interessant ist die Begründung, die der Korrespondent für Konstantinopel gab: Die schlechtere Entlohnung der Ärzte habe zum Teil in der Verarmung der türkischen Mittelklasse ihren Grund. Der Wohlstand dieser Gruppe war zum größten Teil auf dem Handel begründet, der im

Gasser, Prof. Dr. Joseph Hyrtl, 1994, 110. Vgl. Koch, Wanderungen im Oriente, 1846, 115. Koch berichtet, das Leben in Konstantinopel sei bei Weitem nicht so teuer wie man allgemein annehme, sondern im Gegenteil billiger als in den großen Städten Deutschlands. Neuerdings vgl. dazu auch: Samsinger, Vom Wiener Dioskurides zu den Begründern der modernen Medizin in Konstantinopel, 2018, 260. Er kommt aufgrund eigener Berechnungen zu dem Schluss, dass zumindest die Einkommen der aus Österreich nach Konstantinopel bestellten Ärzte vergleichsweise großzügig bemessen waren. 266 Gasser, Prof. Dr. Joseph Hyrtl, 1994, 114. 267 Wiener Medicinal-Halle 48, 1861, 468. 264 265

Scheitern am eigenen Anspruch

letzten Dezennium aber durch die zunehmenden europäischen Einfuhren kaum mehr große Verdienstmöglichkeiten übrig ließ. Die Zahl der österreichischen Ärzte nahm in dieser Zeit bedeutend ab, was auch in Zusammenhang mit der politischen Haltung der Monarchie während des Krimkrieges zu sehen ist. Die europäische Politik war ab den 1840er-Jahren aus der Tätigkeit europäischer Ärzte im Osmanischen Reich und Ägypten nicht mehr wegzudenken. Das traf zum einen die „Leibärzte“. Macht und Einfluss, die mit dieser Position zusammenhingen, machten die Leibärzte zur Zielscheibe von Intrigen und Widerständen, die manchmal mit der Position an sich, in manchen Fällen aber auch mit dem Aufeinandertreffen von verschiedenen medizinischen Kulturen zu tun hatten. Von der Bedeutung der diplomatischen Kontakte Österreichs zum Osmanischen Reich bei der Berufung der ersten Österreicher nach Konstantinopel war bereits die Rede. Vor allem die französische Diplomatie bediente sich bei der Besetzung vakanter Posten ähnlich einflussreicher Personen; der französische Arzt Sulpice Antoine Fauvel wurde Anfang der 1850er-Jahre zum Direktor der Schule bestellt, nachdem ein von Österreich nominierter Arzt namens Vallon verstorben war und man in Wien keinen geeigneten Nachfolger in Vorschlag bringen konnte. Für Fauvel wie auch für den Italiener Barozzi hatte sich der einflussreiche französische Botschafter de Thouvenel bei der Pforte eingesetzt.268 In Wien sah man den einst gefeierten Einfluss auf die Konstantinopeler Schule schwinden. Schon 1852 berichtete die Wiener Medizinische Wochenschrift verbittert, dass ,,diese Lehranstalt jetzt wieder so stark wie ehedem dem französischen Einflusse, der eine Zeit lang durch den deutschen verdrängt zu sein schien, verfallen ist“.269 Einige Jahre später beklagte ein deutschsprachiger Arzt aus Konstantinopel in einem Leserbrief, dass die französischen Ärzte fast überall die Suprematie über die Deutschen erlagt hätten.270 Die fachliche Qualifikation des Leiters der Medizinischen Schule, Fauvel, wurde dabei offen in Zweifel gezogen; seinen Posten habe er nur dem Botschafter und nicht seinen Fähigkeiten zu verdanken. Auch in Ägypten gelangten einige Ärzte aus der Habsburgermonarchie in dieser Zeit in höchste administrative Funktionen. 271 Die zeitweilige Übernahme einflussreicher Positionen bei Hof und in der Verwaltung durch deutsche Ärzte ermöglichte Ende der 1840er-Jahre zum ersten Mal die Entsendung größerer Bildungsmissionen an Universitäten in den deutschen Sprachraum.272 Für das höhere Bildungswesen in

Medicinal-Halle 52, 1862, 491. WMW 38, 1852, 616. Medicinal-Halle 44, 1863, 426. Nach der Rückkehr des Franzosen Clot Bey nach Europa dürfte vor allem der aus Bayern stammende Franz Pruner den größten Einfluss auf den Nachfolger Muhammad Alis, Abbas Pascha ausgeübt haben. Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991, 61–65. 272 Die Entsendung von größeren Studentengruppen nach Europa, um an den wichtigsten Universitäten medizinische und technische Fächer zu studieren, etablierte sich parallel zum Ausbau des Schulwesens in Ägypten schon ab den 1830er-Jahren. Nachdem die Missionen zunächst nach Frankreich entsandt wor268 269 270 271

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Ägypten brachte die Regierungszeit Abbas’ tatsächlich einen vollkommenen Wandel. Abbas ließ in Ägypten fast alle verbliebenen höheren Schulen schließen, rief die in Paris befindlichen Studienmissionen ins Land zurück und hob auch die Pariser Schule auf. Dennoch konnte und wollte Abbas nicht auf europäisches ,,Know-how“ verzichten. Für die Beziehungen Ägyptens zum deutschen Sprachraum brachte die Regierungszeit des angeblich europafeindlichen Vizekönigs gerade deshalb einen ersten Höhepunkt. Zu Beginn der 1850er-Jahre wandte sich die ägyptische Ausbildungspolitik vor allem im Bereich der Medizin für einige Jahre stärker als bisher Mitteleuropa zu. Sowohl Reyer als auch Lautner stiegen in Kairo auch ohne die österreichische Protektion binnen kurzer Zeit zu höchsten Ehren auf – und das trotz zahlreicher Probleme. Da war zum einen das, was die deutschsprachigen Ärzte als ,,Mentalitätsproblem“ verstanden: In einem Beitrag für das „Archiv für physiologische Heilkunde“, der 1853 erschien, ließ Griesinger durchblicken, dass trotz der vergleichsweise guten Ausstattung die Alltagsarbeit in dem großen Kairoer Krankenhaus nicht immer nach seinen Wünschen verlaufen war.273 Enttäuscht spricht Griesinger den Ägyptern die ,,Kultivierbarkeit“ ab: Die Bewohner des Landes seien ,,die Nachkommen der alten Egypter“, die ,,durch tausendjährige Knechtschaft unter fremden Herren moralisch verkommen, und leider ohne Elemente zur eigenen Weiterentwicklung der von einem grossen Regenten gewaltsam eingeführten europäischen Civilisation“ seien.274 Doch auch Griesinger zeigte sich wenig adaptionsfähig; schon 1852 scheiterte er an den ägyptischen ,,Charaktereigenthümlichkeiten“ und kehrte nach Deutschland zurück, um sich dort einen Namen als bedeutender Psychiater zu machen. Nach seinem Abgang übernahm der Wiener Dr. Alexander Reyer die Leitung der Schule und des Krankenhauses. Das Land am Nil entwickelte sich unter dem seit Beginn der 1840er-Jahre immer stärker werdenden Einfluss der europäischen Mächte rasch – ganz so, wie man es sich auf europäischer Seite erhoffte. Ägypten habe seit Mehmet Ali […] an Wohlstand zugenommen und schreitet täglich vorwärts. Der Grund liegt weniger in dem selbständigen Wirken und Schaffen des Vize-Königs, als in dem Zusammenwirken dreier Elemente: 1. der täglich zunehmenden Ansiedlung der Europäer, 2. dem Wetteifer Englands und Frankreichs durch Einführung europäischer Institutionen, europäischer Cultur und Erfindungen, durch Anstellung europäischer Beamten in den wichtigsten Branchen der Verwaltung vorwiegenden Einfluß zu gewinnen und 3. in der unendlichen Cultur- und Ertragsfähigkeit des wundervollen Bodens,

den waren, wandte man sich ab Beginn der Regierung Abbas Paschas auch anderen Zielen zu. Die Motive für diesen Wechsel konnten nicht allein der Frankreich gegenüber besonders skeptischen Haltung Abbas Paschas zugeschrieben werden – auch der persönliche Einfluss dem jeweiligen Herrscher nahestehender Personen spielte dabei eine große Rolle. 273 Wilhelm Griesinger, Wilhelm Griesinger‘s Gesammelte Abhandlungen, Berlin 1872, 479 f. 274 Ebd., 479 f.

Scheitern am eigenen Anspruch

hieß es im Bericht eines österreichischen Diplomaten von einer Reise durch Ägypten Mitte der 1850er-Jahre.275 Dass sich vor allem Frankreich im Kampf um Einfluss im Lande hervortat, blieb Österreich nicht verborgen: ,,[Frankreich] besetzt die einflussreichsten Stellen mit Franzosen, lässt die ägyptische Armee durch solche einexerzieren und errichtet überall französische Schulen, um die Kenntnis der französischen Sprache und die Vorliebe für Frankreich und alles, was von ihm kommt im Lande und in der heranwachsenden Generation zu verbreiten.“276 Obwohl Österreich die Bedeutung des informellen Einflusses auf Regierung und Bildungswesen also erkannt hatte, blieben entsprechende Anstrengungen trotz der Bedeutung Ägyptens als Handelsplatz weitgehend aus. Das wurde sehr wohl als Manko wahrgenommen: Die Leistungsbilanz des Konsulates sei in dieser Hinsicht mehr als dürftig und selbst der Schutz der eigenen Untertanen erfolge nur unzureichend, beklagte der Bericht. In Anbetracht der existenziellen Probleme, mit denen das nachrevolutionäre Österreich zu Hause konfrontiert war, unterblieben Maßnahmen für eine Verstärkung des eigenen Engagements aber dennoch. Bezeichnenderweise hatte das offizielle Österreich auch an der Karriere Lautners und Reyers in den 1850er-Jahren nur geringen Anteil. Beide waren im Zuge der Revolution von 1848 aufseiten der Revolutionäre gestanden und hatten bewusst den Weg ins Exil gesucht – wie übrigens auch Karl Hammerschmidt, der nach 1848 als Reformer des osmanischen Gesundheitswesens und Gründer des ,,Roten Halbmondes“ in der Türkei wirkte.277 Auch die bereits eingangs erwähnten strukturellen Probleme machten den neuen Leitern zu schaffen. Die Medizinische Schule Kairos hatte 1850 bereits eine über 20-jährige Tradition aufzuweisen, doch es erwies sich als ziemlich schwer, die Schule und ihre Strukturen von ihrem Gründer Clot zu lösen. Ein Franzose und ein Ägypter hatten die Schule vor der Ankunft Griesingers kurzzeitig geleitet, doch offenbar ohne bleibenden Erfolg. Nicht zu unterschätzen war auch der Widerstand vonseiten der verbliebenen Angehörigen der ,,französischen Schule“. Vor dem Hintergrund des sowohl international als auch im Lande immer dramatischer werdenden Gegensatzes zu Frankreich hatten Lautner und Reyer in Ägypten keinen leichten Stand. Als Sympathisanten der Revolution standen die beiden wohl mit echter Sympathie aufseiten der gerne als ,,deutsche Partei“ bezeichneten Seite, auch oder gerade weil sie vom offiziellen Österreich nur wenig zu erwarten hatten. Ab den 1850er-Jahren begannen sich die ersten Bruchlinien zwischen europäischen Ärzten und dem einheimischen Nachwuchs zu zeigen. Die auf Regierungskosten ausgebildeten ägyptischen Ärzte waren zum Verbleib im Staatsdienst verpflichtet; vor al-

275 HHStA, Politisches Archiv des Ministeriums des Äußeren, F12/K61, No 39. Bericht Reyer an Prokesch-Osten vom April 1857. 276 Ebd. 277 Arslan Terzioǧlu/Erwin Lucius (Hg.), Österreichische-Türkische medizinische Beziehungen. 28 ve 29 Nisan 1986‘da istanbul‘da yapılan simpozyuma sunulan bildiriler = Österreichisch-türkische medizinische Beziehungen; Berichte des Symposions vom 28. und 29. April 1986 in Istanbul, Istanbul 1987, 54.

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lem jenen, die sich durch die Ausbildung in Europa besondere Qualifikationen und nach ihrer Rückkehr einen guten Ruf erworben hatten, erschien diese Verpflichtung gegenüber den in Ägypten tätigen Europäern als Ungerechtigkeit. Als die Schule 1856 nach der kurzfristigen Schließung wieder eröffnet wurde, fand der wieder eingesetzte Direktor Clot Bey eine völlig andere Situation vor als zum Zeitpunkt seiner Abreise. Zahlreiche Angehörige der ersten Generation ägyptischer Ärzte hatten sich einen Ruf als Arzt und auch als Lehrer erwerben können und wandten sich gegen die Bevorzugung von ausländischen Ärzten. Clot, der von seinen ägyptischen Schülern zutiefst verehrte Begründer der Schule, war vor dem offenen Gegensatz zwischen den beim Vizekönig einflussreichen deutschen Ärzten und ihren arabischen Kollegen so etwas wie ein Kompromisskandidat geworden; dennoch hielt es den alternden und des Kämpfens müde gewordenen Mann nur mehr zwei Jahre an der Schule. Ab 1858 übernahmen arabische Ärzte die Leitung der Schule und behielten sie bis zum Einmarsch der Briten im Jahr 1882.278 Die jungen Ärzte aus dem deutschen Sprachraum, die nach Ägypten berufen wurden, waren von den ebenfalls in Europa ausgebildeten Arabern keineswegs mit offenen Armen aufgenommen worden. Die in Frankreich ausgebildeten arabischen Ärzte erschienen den deuschsprachigen dabei als eine der „deutschen Schule“ feindlich gesinnte, infame Opposition: ,,Sie [Lautner und Reyer, Anm.] fanden bei ihrer Ankunft die in Frankreich gebildeten arabischen Ärzte nach Selbstherrschaft schnaubend, an der Spitze eines wüthenden arabischen Chorus, welcher hinter der Scene von deutschfeindlichen Europäern geleitet wurde“, hieß es in einem Bericht in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“.279 Zum ersten Mal nahm damit auch die Gruppe der arabischen Ärzte Parteienstellung ein. Nach europäischen Maßstäben zu vollwertigen Ärzten ausgebildet, erwarteten sie, auch als solche anerkannt zu werden, als Angehörige der ,,französischen Schule“ fühlten sie sich von ihren deutschsprachigen Kollegen nicht ernst genommen. Die mehr oder weniger offenen Proteste gegen die Neuankömmlinge blieben nicht ohne Erfolg. Die Position der Wiener Ärzte war sowohl in Konstantinopel als auch in Ägypten bald geschwächt, obwohl sie bei Hof und in den Familien einflussreicher Persönlichkeiten als Ärzte tätig waren. In den medizinischen Ausbildungs- und Verwaltungsstrukturen gewann Frankreich diplomatisch und damit auch fachlich die Oberhand. Während der Regierungszeit Saids kam es wie auch in Tunesien oder in Konstantinopel zu einer engeren Reglementierung der medizinischen Praxis. Der Sanitätsrat wurde neu konstituiert und zur obersten Instanz in allen Gesundheitsfragen gemacht. Obwohl in diesem Gremium auch ägyptische Ärzte und Beamte vertreten waren, wurde es zu einem der wichtigsten Einflussbereiche der europäischen Konsuln, die das Recht zur Nominierung ihnen nahestehender Kandidaten behielten.280 278 279 280

Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991, 88. WMW 40, 1856, 628. Vgl. Sonbol, The creation of a medical profession in Egypt, 1991.

Scheitern am eigenen Anspruch

Nicht nur bei Reyer und Lautner in Ägypten, sondern auch bei Rigler in Konstantinopel hatte sich in diesen Jahren Enttäuschung breit gemacht. Stolz war man wohl auf das Erreichte; was die Nachhaltigkeit der durchzusetzenden Maßnahmen betraf, fand man aber überall Skepsis. ,,Mit Stolz konnte Rigler auf die von ihm durchmessene Laufbahn zurückblicken, und wenn seine Bemühungen nicht eine bleibende Verbesserung der Sanitäts-Zustände des türkischen Militärs herbeigeführt haben, so wird diese Erfahrung keine neue sein, sondern die gleiche, wie mit anderen Anstalten, welche aus den Händen von Abendländern in türkische übergingen“, heißt es in einem Nachruf auf ihn, den ein Grazer Kollege verfasst hat.281 Rigler selbst habe sich darüber trotz der Wertschätzung für einige Kollegen keinen Illusionen hingegeben. Die besten Schüler der Medizinischen Schule würden, „sobald sie ins praktische Leben treten, mit wenigen Ausnahmen, den Fehlern, an welchen die Nation im Allgemeinen leidet, Schlaffheit, Mangel an wissenschaftlichem Interesse, Trägheit und gewissen materiellen Tendenzen in der kürzesten Zeit anheim fallen“282, schrieb er selbst in seinem Türkei-Werk. In ihrem Selbstverständnis, das bestehende System der europäischen akademischen Medizin im Osmanischen Reich zu implementieren, waren die Ärzte gescheitert. Um die eigene Leistung dabei nicht schmälern zu müssen, wurden andere Erklärungsmuster bemüht. Der „Medizinische Orient“, der aus Sicht der Mediziner letztlich in seiner Essenz unbelehrbar blieb, hatte sich verfestigt. Dieses Scheitern ist bei allen Berichten, die in der deutschsprachigen Literatur erschienen sind immer im Hinterkopf zu Behalten.

281 282

Heschl, Nekrolog, WMW. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 403.

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Viele der oben vorgestellten Textausschnitte werden den mit „orientalistischer europäischer Literatur“ vertrauten Leser kaum überraschen. Ihre Bedeutung liegt neben ihrer Rolle als Grundlage für den folgenden Prozess des Eindringens der europäischen Medizin in den Orient vor allem in ihrer Wirkungsgeschichte. Die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelten Bilder eines medizinisch rückständigen Orients verfestigten sich in einem Ausmaß, das auch die Medizinhistoriographie bis ins 21. Jahrhundert prägte. Ein besonders nachhaltiges Beispiel ist der angeblich charakteristische „Fatalismus“ aller Muslime. Schon 1831 stellte die „Medicinisch-Chirurgische Zeitung“ fest, dass „der Glaube an Prädestination den gemeinen Türken von dem Gebrauche der Arzneyen abhält“1. Der Einfluss dieser Festschreibung aus europäischer Perspektive wird selbst in neueren medizinhistorischen Aufsätzen greifbar: 2003 heißt es in den „Annals of Anatomy“ in einem Artikel über „The role of Austrian physicians and Prof. Joseph Hyrtl (1810–1894) on modernizsation of Ottoman-Turkish-medicine“: „But because of social dogma and oppression of religion on the science of Human anatomy they could not get a chance to improve for centuries.“2 Ebenfalls 2003 schreiben Yaron Perry and Efraim Lev in einem Artikel über die Einführung europäischer medizinischer Versorgung in Palästina: „The standard of medicine in a country can be measured by the state of the public health system, medical training and medicinal substances. In Palestine, medical science, as distinct from folk medicine, rested on the classical Hippocratic-Galenic medical methods that the Muslims had adopted and improved in the course of the Middle ages.“3 Auch in diesem Narrativ ist das Paradigma des Niedergangs und der Rückständigkeit, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, neben „poverty and ignorance, as well as a lack of public health care facilities“ ein Medicinisch-Chriurgische Zeitung Nr. 61/1831, 145. Ann Anat, 2003, 185: 593–596. Perry/Lev: The medical activities of the London Jews Society in Nineteenth-Century Palestine. In: Medical History 47, 2003, 67–88.

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zentrales Element. Aufgrund der Abwesenheit einer ausreichenden medizinischen Versorgung seien die Einwohner gezwungen gewesen, sich auf eine Volksmedizin zu verlassen und „diseases and epidemics were seen as inevitable, the result of fate or decreed by heaven“.4 Es ist wohl kein Zufall, dass die bedeutendste Quelle für den Zustand der medizinischen Versorgung Palästinas um 1850 die Arbeiten des deutschsprachigen Schweizer Arztes Titus Tobler bilden, auf die auch Perry und Lev ihre Untersuchung stützten. Das Wissen der „Levantiner“, wurde kaum wahrgenommen und vielfach verworfen, auch wenn es eigentlich der Wahrheit näher war als die eigenen Vorstellungen.5 Der Quarantänearzt Ludwig Hermann, der 1839 nach Trapezunt in der heutigen Türkei reiste, um dort die sanitäre Situation zur Pestabwehr zu prüfen, stellte mit gehörigem Unverständnis fest: „Den Levantinern will es nicht einleuchten, daß die Pest in einer Stadt von selbst entstehen könne, sie suchen ihr Erscheinen immer von Außen herzuleiten, und fanden, bei dem thätigen Handelsverkehr mit den Nachbarländern auch meist ihre Ursache in dem zufälligen Ankommen eines Schiffes mit Reden aus den von der Pest befallenen Ländern […].“6 Die europäische akademische Medizin entwickelte im 19. Jahrhundert einen universalistischen Anspruch, wie es im 18. Jahrhundert die Ideen der Aufklärung taten. Was gut für Europa war, musste gut für die ganze Welt sein. Parallel dazu entwickelte sich als Denkfigur der Orientalismus. Er erlaubte es, die Andersartigkeit bestimmter Verhältnisse zu herauszugreifen und diese Verhältnisse dann getrennt vom eigenen universalistischen Anspruch diskutieren zu können. Gleichzeitig wurde der Orient „zu einem Experimentierfeld, auf dem Kriterien für die Konstruktion von Unterschieden erprobt wurden, die letztlich auch im eigenen Umfeld anwendbar waren.“7 Der deutsche Islamwissenschaftler Reinhard Schulze fasste den Nutzen des Orientalismus für alle zusammen, die sich mit den Verhältnissen in der außereuropäischen Welt auseinandersetzen mussten:

Perry/Lev, 67. Der Begriff „Levantiner“ hat eine eigene, komplexe Verwendungsgeschichte. Oft bezeichnet er die mit Europa verbundenen Bevölkerungsteile osmanischer Städte. Hier scheinen aber pauschal alle Bewohner der Stadt gemeint zu sein. Zur Verwendung des Begriffs vgl. Oliver Jens Schmitt, Levantiner in Konstantinopel und Smyrna im „langen 19. Jahrhundert“. Die Entstehung einer übernationalen Konfessionsgruppe und das „Spiel der Identitäten“, in: Yavuz Köse (Hg.), Istanbul: vom imperialen Herrschersitz zur Megapolis; historiographische Betrachtungen zu Gesellschaft, Institutionen und Räumen, München 2006, 107–130. 6 Ludwig Hermann, Mittheilungen aus Trapezunt, in: Neue Folge der Gesundheits-Zeitung IV/19, 1840, 151–154, hier: 152. 7 Johann Heiss/Johannes Feichtinger, Der Orient als Metapher. Wie Österreichs Osten vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg vorgestellt wurde, in: Barbara Haider-Wilson/Maximilian Graf (Hg.), Orient & Okzident: Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl., Bd. 4: Forschungen zu Orient und Okzident, Wien 2017, 53–77, hier: 53. 4 5

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Um einerseits denken zu können, dass alle Menschen frei und gleich sind, aber es andererseits für möglich zu erachten, Sklaven zu halten und Mamluken zu töten, um das also denken zu können, ohne in einen internen moralischen Widerspruch der rationalen Vernunft zu geraten, bot der Orientalismus eine Form der Bewältigung der universalistischen Aufklärungsidee in der realen Welt an. Der Orientalismus beschrieb gleichzeitig eine Grenze des Universalismus: Menschen, denen eine ‚orientalische Kollektividentität‘ zugeschrieben wurde, unterlagen nicht den Betrachtungsweisen des Universalismus und wurden auch nicht mit seinen Werten ausgestattet.8

Ein Kennzeichen dieses „Partikularismus“ des Orients war seine Freiheit. Vielen von den aus Mitteleuropa durch die Niederschlagung der Revolution Vertriebenen erschien das einstmals als wild und despotisch gefürchtete Osmanische Reich Ende der 1840er-Jahre als Hort der Freiheit. Die Reformen, die auf europäischem Wissen aufbauten, hatten eine große Nachfrage nach europäischen Experten geschaffen, die bereit waren, ihr Wissen weiterzugeben. Die Bezahlung – vor allem in den öffentlichen Positionen – war darüber hinaus überaus gut und die persönliche Freiheit durch die Loslösung aus dem fremden islamischen Rechtskontext besonders groß. Vor allem die an den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 beteiligten Ärzte, die größtenteils im Osmanischen Reich Aufnahme gefunden hatten, neigten dazu, die Toleranz und die gegenüber den europäischen Regimen des Vormärz große persönliche Freiheit herauszustreichen. „Was den bekannten, früher so verrufenen Despotismus der türkischen Regierung betrifft, so ist auch dieser ganz oder fast ganz verschwunden und – auf die christlichen Regierungen übergegangen“9 berichtete der 1849 aus Ungarn ins Osmanische Reich geflüchtete Arzt Arnold Mendelssohn. Und, vielleicht auch in Bezug auf sein eigenes Schicksal: ,,In einer Zeit, wo die russische Regierung in Polen mit Feuer und Schwert gewirtschaftet hat, ist es ein eigentümlicher Widerspruch, von der Grausamkeit des türkischen Despotismus zu reden […].“ Ähnlich äußerte sich vor allem der Wiener Publizist und Arzt Ludwig August Frankl nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Palästina. „Bei der ungestörten Entwicklung der Leidenschaften in den Individuen, bei der gesegneten Abwesenheit einer Polizei, bei aller Willkür der Beamten doch sind, wie die Statistik nachweiset, die Verbrechen im türkischen Reiche seltener, als in den Ländern der europäischen Vielregiererei und der belohnten Denunzianten.“10 Europa erschien manchen Reisenden verlogen und oberflächlich, im Orient seien die Menschen von Natur aus sittsam. Vor allem jene, die länger blieben oder den Orient mehrfach bereisten, neigten, so eine literaturwissenschaftliche Darstellung der österreichischen Orientliteratur, zu dieser Sichtweise.11 Die Tendenz, die Reise als 8 Schulze, Orientalism, 2007, 51. 9 Rabien, Dr. med. Arnold Mendelssohn, 2003, 189. 10 Frankl, Nach Jerusalem!, 1860, 249. 11 Bernard, Österreicher im Orient, 1996, 131.

Ausblick auf eine Wirkungsgeschichte des „Medizinischen Orients“

Spiegel für eigene Ansichten oder die eigene Kultur zu verwenden, war nicht nur auf die deutschen Besucher des Osmanischen Reiches beschränkt. Einem britischen Liberalen erschien der Gegensatz noch drückender. Adolphus Slade, der zuvor Österreich bereist hatte, schrieb 1840: „The Ottoman Porte leaves its subjects the right of self-government; […] no police regulations, or passports, or regiments of officials, check the habit of thinking for oneself, or of providing for casualties. The Austrian government, on the contrary, is paternal, it cares for the material wants of the people as though they were schoolboys, furnishes them with promenades, music and museums, keeps them in tranquil course of existence, and discourages discussion on any subject, whether of domestic or of general import.“12 Jene Ärzte, die in Konstantinopel, Alexandria, Kairo oder einer anderen Stadt des Osmanischen Reiches oder Ägyptens in Verwaltungspostionen berufen wurden, sahen das meist nicht so. Diese Freiheit war ein Systemfehler, der behoben werden musste. Ihre Erfahrung war von den Schwierigkeiten geprägt, die mit der Transformation eines wissenschaftlichen Ausbildungssystems verbunden waren. Diese Schwierigkeiten mussten in ihren Gründen erfasst werden, um dem Einzelnen die Schmach des Scheiterns von den Schultern zu nehmen. In großen Werken verarbeiteten einige ihre Eindrücke. Manche wurden zu Wegbereitern des modernen, wissenschaftlichen Rassismus. Bedeutend ist neben den in den vorangegangenen Kapitalen bereits erwähnten Werken Riglers, Rösers und Oppenheims das Buch Franz Pruners: „Die Krankheiten des Orients vom Standpunkte der vergleichenden Nosologie“. Im Vorwort schrieb Pruner, dass er die Anregung dazu seinem Lehrer in München, dem in Wien ausgebildeten Arzt Ernst Grossi, verdankte.13 Grossi war 1816 als Übersetzer der Schrift Assalinis über die ägyptische Augenentzündung schriftstellerisch in Erscheinung getreten. Pruner, der sich unter anderem auf die Augenkrankheiten spezialisiert hatte, war selbst ab 1832 Lehrer der Anatomie an der Medizinischen Schule in Kairo und unternahm in den Folgejahren ausgedehnte Reisen, unter anderem auch nach Arabien.14 Pruner war ein Wegbereiter des wissenschaftlichen Rassismus des 19. Jahrhunderts. Auch wenn er in seiner Arbeit über die „Krankheiten des Orients“ noch das Klima in den Vordergrund rückte, so ist die grundsätzliche Unterlegenheit des Orientalen

Slade, Travels in Germany and Russia, 1840, 94. „Indem wir endlich diesen schwachen Versuch der vergleichenden ärztlichen Naturforschung dem Andenken eines uns heiligen Namens weihen, geschieht es im vollen Bewusstseyn, dass unter seiner Anregung die ersten Ideen zu diesem Unternehmen in unserer Seele erwachten, und die Ausführung nur durch die Erinnerung an sein Beispiel gediehen.“ Franz Pruner, Die Krankheiten des Orients vom Standpunkte der vergleichenden Nosologie, Erlangen 1847, VI. 14 Ich halte mich hier an die biographischen Daten, die Pruner selbst in der Vorrede zu seinem Buch gibt. Hirsch bringt in der Allgemeinen Deutschen Biographie leicht abweichende Jahreszahlen für seinen Aufenthalt in Ägypten, die hier jedoch nicht von Bedeutung sind. August Hirsch, Pruner, Franz, in: Rochus Freiherr von Liliencron (Hg.), Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 26, Leipzig 1875ff, 675–676. 12 13

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durch seine Lebensumstände bei ihm bereits klar umrissen.15 Im Bezug auf die Bewohner des Sudans und der südlichen Teile Ägyptens schrieb Pruner: Ebensowohl als der physische Zustand des Negers vorteilhafte Veränderungen durch hinreichende Nahrung und passende Uebung eingeht, ist auch die moralische Seite einiger Verbesserungen fähig. Jedoch möchte eine 500jährige Geschichte hinreichen, um diejenigen zu enttäuschen, welche sich durch die Einbildungskraft verleitet, zu sanguinischen Hoffnungen hingeben. Seit undenklichen Zeiten sind die Negervölker, obwohl in Berührung mit den gebildetesten Nationen des Erdballes, in einem fast stationären Zustande verblieben; sie haben immer eine sehr untergeordnete Rolle im Welttheater gespielt; nie haben sie eine Geschichte gehabt – ein Besitz, dessen sich doch jedes Volk, welches zu einem höheren Geschicke berufen, selbst in seiner Kindheit rühmt. Wenn wir daher auf der einen Seite die Bestrebungen derjenigen für abgeschmackt halten, welche den Neger als eine verschiedene Art des Menschengeschlechtes betrachten, so begreifen wir auf der anderen auch die Anforderungen derjenigen nicht, welche uns mit einem falschen Eifer, der die Natur der Dinge a priori erklärt, begreifen machen wollen, dass alle Menschenfamilien dazu berufen seyen, dieselbe Aufgabe auf dieser Erde zu lösen. Wir verabscheuen die schrecklichen Eingriffe in die Freiheit unserer gefärbten Brüder, zweifeln jedoch eben so sehr an ihrem Berufe zur Bildung.16

Bei Pruners Krankheiten des Orients war der „Neger“ keine „eigene Art des Menschengeschlechts“ – die Fähigkeit zur Bildung sprach er ihm aber ab. Pruner war noch geprägt von den humoralpathologischen Vorstellungen der früheren medizinischen Systeme. Er sprach von unterschiedlichen Temperamenten und den Säften, die in den Menschen überhandnehmen. Gemäß dem Denkstil, dem in Wien Beer in den 1830erJahren das Wort geredet hatte, nämlich dem Klima und seinem Einfluss auf die Gesundheit und Krankheit von Menschen mehr Aufmersamkeit zu schenken, war Pruner überzeugt davon, dass die Lebensweise der Orientalen schädlich für Nerven und Gehirn sein müsse.17 Auch der Europäer verliere auf lange Sicht seine Kraft und verbleibe kaum im Zustand, in dem er aus Europa gekommen sei. Pruners Rassismus war noch nicht auf genetischen Prinzipien gegründet, sondern auf klimatischen. Zurück in Europa ordnete sich Pruner dort ein, wo seine Gedanken zu Ende gedacht wurden. Er betrieb kraniologische Forschungen und wurde Präsident der Société d’Anthropologie in Paris.

Pruners Bedeutung in diesem Zusammenhang ist noch wenig beschrieben. Einen Einblick in den Kontext rassistischen Denkens bei Pruner vor dem Hintergrund des zu seiner Zeit „Denkbaren“ eröffnet die Arbeit von Andrea Adams, Psychopathologie und „Rasse“: Verhandlungen „rassischer“ Differenz in der Erforschung psychischer Leiden (1890–1933), Bielefeld 2014, 38–42. 16 Pruner, Die Krankheiten des Orients, 1847, 68. 17 Ebd., 294; und Adams, Psychopathologie und „Rasse“, 2014, 42. 15

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Der Gedanke, dass die Lebensumstände das „geistlich-sittliche Leben“ der Menschen bestimmen könnten, hatte sich in Europa genau in diesen Jahren bereits durchgesetzt. 1851, als Pruner gerade nach Paris zurückkehrte, schreibt der Hygieniker Friedrich Oesterlen: Während so ein reinliches, heimisches und überhaupt wohlgeordnetes Hauswesen einen günstigen Einfluss auf die Sitten, auf den Gemüthszustand der Bewohner äussert, und alle Glieder der Familie noch weiter zu einem reinlichen, nüchternen Wesen ermuntert, wird umgekehrt eine finstere, dumpfe Wohnung voll von Schmutz und Unrath gerade das Gegenteil bewirken. In solchen Höhlen kann sich nicht wohl Sittenreinheit, Schaam- und Ehrgefühl, der nöthige Grad von Selbstachtung erhalten.

Von Menschen, die in derartigen Lebensumständen leben müssten, könne man nicht erwarten, dass sie Sinn für ihre Bürgerpflichten entwickelten.18 Durch ihre Erfahrungen im Orient fühlte sich die Medizin in dieser Sicht weiter bestätigt. 1862 hieß es in der Wiener „Medicinal-Halle“: Der Orthodoxe Türke hängt mit großer Zähigkeit an den Grundsätzen des Islams und ist jeder Neuerung abgeneigt, während die frivole jüngere Generation jedes sittlichen Haltes entbehrt. So wird das öffentliche Leben täglich mehr durch Charakterlosigkeit und Frivolität untergraben und der politische Körper schreitet bei dem Mangel jedes besseren Elementes unter der falschen Maske der Reform täglich mehr seiner Auflösung und seinem unausweichlichen Ruine entgegen.19

Der Orient, dem die Medizin begegnete, war, wie schon im Kapitel über die Augenentzündung angedeutet wurde, auch ein Ort der Unverfälschtheit. Das galt auch für die Wahrnehmung medizinischer Verhältnisse. Schon 1820 berichtete Ludwig Frank aus Ägypten: „Vor allen Dingen werde ich bemerken, daß es in Egypten Krankheiten gibt, bei welchen eine bewunderungswürdige Einfachheit herrscht, wie fast bey allem in der Natur. Es ist wahr, daß man häufig gewisse epidemische Krankheiten beobachtet, als zum Beyspiel, Augenentzündung, Ruhr und die Pest; aber viele andere begegnen sich niemals, oder wenigstens nur selten.“20 Diese vermeintliche Einfachheit wurde in alle Richtungen weitergedacht. In „Hufelands Journal“ erschien 1830 ein kurzer, über kaum mehr als vier Seiten reichender Bericht mit Bezug auf den Reisebericht eines Dr. Madden, der 1824 das Osmanische Reich besucht hatte. Der Bericht beginnt mit einer überraschenden Feststellung:

Friedrich Oesterlen, Handbuch der Hygiene für den Einzelnen wie für eine Bevölkerung, Tübingen 1851, 521, zitiert nach: Labisch, Homo hygienicus, 1992, 119. 19 Wiener Medicinal-Halle 8, 1862, 78. 20 Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, 1. 18

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Alle Reisebeschreiber kommen darin überein und auch der neueste, Dr. Madden, bestätigt es, daß der Wahnsinn eine seltene Krankheit bei den Türken ist, da er leider in dem civilisirten Theile von Europa jetzt eine der häufigeren, ja leider dergestalt in progressiver Zunahme begriffen ist, dass nach den neuesten Berechnungen in England schon unter 1000, ja in manchen Gegenden, unter 800 Menschen ein Wahnsinniger enthalten ist.21

Der Bericht gab drei Erklärungsversuche. Erster Grund sei die „geringere Kulturstufe“, auf welcher die Türken stünden. Je höher die Kultur und insbesondere die Verfeinerung der Ausbildung eines Volkes, desto höher steige auch seine Krankheitsempfindlichkeit, sowohl im Physischen als auch im Geistigen. Dabei sei jedoch zu unterscheiden: Nicht die wahre Kultur, sondern die damit so leicht verbundene Hyperkultur, Ausartung, einseitige Kultur, besonders die Kultur und höhere Potentierung der Phantasie und Sinnlichkeit über die anderen Seelenkräfte, wozu unleugbar das, selbst unter dem gemeinen Volk überhandnehmende Lesen schlechter Romane, sittenverderbende Schauspiele u. dgl. das meiste beitragen.22

Der zweite Grund: die Enthaltsamkeit von Spirituosen, da selbige zum Wahnsinn beitrügen, während das im Orient weit weniger verbreitete Opium mehr Lähmung und Stumpfsinn als Wahnsinn hervorbringe.23 Der dritte Grund sei der Verlust des Glaubens bei den Europäern. Die dafür gegebene Erklärung war ikonisch für viele folgende Verweise: Während man beim Gang durch ein europäisches Irrenhaus Menschen begegne, die von „herrschend gewordenen Leidenschaften, fehlgeschlagenen Hoffnungen, vereitelten Plänen, unbefriedigten Trieben oder Überspannungen des Geistigen, tiefsinnigen Grübeleien und schließlich von Religionsskrupeln“ geplagt seien, wisse der Türke von all dem nichts. „Ihn plagen keine Religionsskrupel, keine Grübeleien über unbegreiliche Gegenstände, keine Zweifel über die Zukunft, kein Kummer über fehlgeschlagene Hoffnungen. Denn diess alles verschlingt der unbedingte Glaube an das Fatum, an die unabänderliche Vorherbestimmung, und die daraus erfolgende gänzliche Resignation und Passivität.“24 Auch der schon mehrfach erwähnte Ludwig Frank sah das so. Die verschiedenen Arten von Wahnsinnigen, welche unsere Spitäler in Europa anfüllen, finden sich sehr selten in Egypten. Wenn man die Ursache dieses Unterschiedes suchen

Türkische Medizin. Bruchstück aus Dr. Madden‘s Travels in Turkey, Egypt and Nubia, in: Hufelands Journal der practischen Heilkunde, April 1830, 121–123, 121, https://books.google.at/books?id= DJWGrqpKwZoC. 22 Ebd., 122. 23 Ebd. 24 Vgl. Türkische Medizin. Bruchstück aus Dr. Madden‘s Travels in Turkey, Egypt and Nubia, in: Hufelands Journal der practischen Heilkunde, Apr.  1830, 121–123, 122f, https://books.google.at/books?id= DJWGrqpKwZoC. 21

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wollte, so würde man leicht finden, daß der Egypter nicht vom Ehrgeiz beherrscht ist, daß kühne Projekte ihn nie beschäftigen, und daß feine Religion seine Vernunft niemals stören könnte. Er kennt keine Romane und somit keine erotischen Affekte, kurz nichts, was seine Phantasien entzünden könnte. Er leidet die größten Unglücksfälle mit einer bewunderungswürdigen Resignation, und die politischen Ereignisse, welche die Muthvollsten zuweilen zur Verzweiflung bringt, sind nie im Stande gewesen, die Seele des Egypters in Aufruhr zu bringen. Sollte man sich nicht für berechtigt glauben zu denken, daß die Maximen der höchsten Philosophie oft weit besser von einem unwissenden Volke geübt werden, als von den jenigen, welche sich für die aufgeklärtesten halten.25

Hufeland stand in der Tradition der Naturphilosophie, Frank war vom System Browns überzeugt, beides Konzepte, die wenige Jahre später als Denkstil von den neuen, naturwissenschaftlichen Paradigmen verdrängt werden sollten. Die Vorstellung von der Festigung der „Orientalen“ in der Religion sollte aber, wie so viele Orientalismen aus dem Diskurs der Zeit, diesen Paradigmawechsel überdauern. Die Generation Franks sah sich noch berechtigt, aus diesem Faktum die positivsten Schlüsse zu ziehen: Ich werde daher nicht besorgen zu weit zu gehen, daß wenn Egypten einer mächtigen und aufgeklärten Regierung angehören könnte, dieses Land das schönste, gesündete und glücklichste der Erde wäre. Zu Herodots Zeiten waren die Egypter eine blühende Nation, welche eine außerordentliche Bevölkerung zählte; und ohne Zweifel würde man ihr den ganzen alten Glanz wiedergeben, wenn man dieselben Mittel, welche man ehemals anwandte, ins Werk setzen möchte.26

In seiner medizinischen Geographie der Türkei widmete Lorenz Rigler dem Einfluss der Religion auf die Entstehung von Krankheiten einen eigenen Abschnitt. Nüchtern stellte Rigler fest, dass das türkische Volk physisch schwach geworden sei; Grund dafür sei zum Teil die Religion und ihr „Hass des Fremden“. „Verweichlicht durch das Glück der Waffen, eingeschläfert durch den Übergenuss von Tabak, Kaffee, Wein und Branntwein, entnervt von Onanie, Polygamie und Sodomie“, habe das Volk nur wenige Menschen hervorgebracht, die sich mit den praktischen Wissenschaften beschäftigt hätten.27 Erst der Niedergang habe zu einem Umdenken geführt, das sich in Reformen äußere, für die man die Hilfe von Außen benötigen würde. Doch selbst damit wäre der Rückstand zu den anderen Staaten in Wissenschaft und Kunst nicht mehr aufzuholen. Frank, Sammlung kleiner Schriften medizinisch-praktischen Inhalts, 1817, 6. Ebd. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 310. Allgemein sei an dieser Stelle vermerkt, dass sich die Arbeit Riglers schon allein aufgrund ihres unglaublichen Umfanges und ihres Faktenreichtums eine gesonderte Betrachtung verdient hätte. Eine umfassende Einordnung Riglers in den medizinischen Denkstil seiner Generation (Rigler gehörte dem Alter nach der Generation Skodas und Hebras an) wäre zu einem vertieften Verständnis dessen, was hier wirklich an Gedankengut aus der „Erfahrung Orient“ mitgenommen wurde, wünschenswert, war im Zuge dieser Arbeit aber nicht zu leisten.

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Auch Rigler meinte, es gäbe weniger Geisteskrankheiten; das sei wohl der Fall, weil die durch den „Fanatismus“ bedingte „Melancholia religiosa“ in demselben Maße wie der „Fanatismus“ abgenommen habe und nichts an die Stelle dieser Krankheit getreten sei. Wenig später sagte Rigler dann, dass die Christen den Muslimen im Fanatismus um nichts nachstünden; freilich übe er auf sie keinen negativen, sondern einen positiven Einfluss aus, der dazu beigetragen habe, dass die Türkei eben einen Aufschwung nehme.28 Überhaupt stünde der Koran seiner Natur nach „Fortbildung“ entgegen. Dies war für Rigler ein Spezifikum des Islam. Wo die katholische oder protestantische Religion das tun würde, läge es nicht an der Religion selbst, sondern an ihren Verkündern.29 Diese Idee ist bis heute erhalten geblieben. Auch in der gegenwärtigen Diskussion wird die Religion als wesentlicher Hemmschuh wissenschaftlichen Denkens dargestellt. Der bekannte amerikanische Orientalist Bernard Lewis fasste diese Sichtweise in Worte: Der Islam sei Innovationen gegenüber grundsätzlich negativ eingestellt und zwar aus theologischen Motiven. Neuerung würde im Islam mit Abweichung von der Tradition gleichgesetzt und würde daher grundsätzlich abgelehnt. Das gelte vor allem für jene Techniken, die von den „Ungläubigen“ übernommen würden.30 Bis heute befragen wir den Orient, den Rigler und seine Zeitgenossen für sich entdeckten, stets nach ähnlichen Kategorien. Die Vorgaben dazu wurden bereits an der Wiege orientalistischer Darstellungsweisen gemacht. Der Reisende Leopold Graf Berchtold schrieb 1791 in seiner „Anweisung für Reisende, nebst einer systematischen Sammlug zweckmäßiger und nützlicher Fragen“, es gebe sehr viele Gegenstände, die der besonderen Aufmerksamkeit des Reisenden wert seien. Zur ersten Klasse der „besonders wichtigen Gegenstände“ gehörten alle Dinge, die einen unmittelbaren Bezug auf das „Menschenwohl“ hätten.31 Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Veronika Bernhard hat festgestellt, dass praktisch alle Punkte, die Berchtold nannte, und seinen Lesern zur Beachtung empfahl, auch Eingang in die Werke österreichischer Orientreisender fanden: Ursprung, Sitten und Gebräuche der Nation, Gestalt und charakteristische Gesichtsbildung, Einfluss des Klimas, Charakter der Nation, Aberglaube und Vorurteile, Betragen gegen Fremde, Kleidung, Einrichtung der Wohnungen, öffentliche Feste, Gebräuche bei Hochzeiten.32 Das galt auch für die medizinischen Reisenden und ihre Berichte. Titus Tobler behandelte in seiner „Medizinischen Topographie von Jerusalem“ Mitte der 1850er-Jahre zunächst die Berufsgruppen und Institutionen,

Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 313–316. Ebd., 311. Vgl. Lewis, The Muslim discovery of Europe, 2001, 224. Leopold Berchtold, Anweisung für Reisende, nebst einer systematischen Sammlung zweckmäßiger und nützlicher Fragen. Aus dem Englischen des Grafen Leopold Berchthold mit Zusätzen von Paul Jakob Bruns Professor und Bibliothekar zu Helmstädt., Braunschweig 1791, 16f. 32 Bernard, Österreicher im Orient, 1996, 3. 28 29 30 31

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danach das Sexualleben, die allgemeine Gesundheitslage und erst danach – geordnet nach Symptomen – einzelne Krankheitsbilder.33 Auch Rigler widmete in seinem Opus Magnum dem Sexualleben, der Religion, der „Rasse“, dem Familienleben und zahlreichen Spezifika wie der Beschneidung, den türkischen Bädern und den „Betäubungsmitteln“ eigene Kapitel.34 Die Beschreibungen der Lebensweisen überschnitten sich: Keuschheit der Sprache und der äußeren Form, sexuelle Ausschweifungen im Privaten, großer Wert auf den Erhalt der Fruchtbarkeit (Aphrodisiaka) wechselten fast überall mit erklärenden Worten zur Vielehe (fast alle hielten fest, dass es schwer sei, sich mehr als eine Frau zu leisten) und zur Lage der Frauen ab, die als ungebildete, nur dem Gefallen dienende Objekte dargestellt wurden. Vor allem bei Rigler führte der kategorisierende Blick zu geradezu skurrilen Überzeichnungen: ,,Alle Frauen haben ein unangenehmes, gellendes Sprachorgan“, schrieb Rigler, nicht ohne festzustellen, dass Frauen schnell altern würden und zur Fettleibigkeit neigten. Rigler führte als Gründe dafür das träge Haremsleben und die Einschränkung der Respiration durch den Schleier an.35 Das „ausschweifende Leben der Orientalen“ trieb als Gedanke in der europäischen Medizin manchmal skurrile Blüten. Zeitgleich, als man in Europa die Quarantänen wissenschaftlich völlig infrage stellte, wurde dem Orient ein Quarantänesystem aufgezwungen, das den Interessen des europäischen Handels zu dienen hatte. Schmutzig waren diese Einrichtungen an Häfen, deren Heimatbevölkerung dieser von Europäern importierten Idee nichts abgewinnen konnte; Korruption war an einem aus Sicht der einheimischen Bevölkerung völlig sinnentleerten Ort an der Tagesordnung, geradezu aberwitzig manche Praktiken. Der deutsche Priester Graul traf in Gaza 1849 den italienischen Quarantänearzt der Stadt, der ihm berichtete, dass pro Jahr rund 20 Europäer in die Stadt kämen. Von dort zog man durch die Wüste nach Suez, wo Durchreisende aus Gaza – die also durch die Wüste gekommen waren – zwar fünf Tage Quarantäne halten mussten, es aber kein Quarantänegebäude gab, sodass der Reisende Graul und seine Begleitung die Quarantäne hier im Zelt zubringen mussten, bevor sie vom ägyptischen Quarantänevorsteher und dem ebenfalls einheimischen Arzt per Handschlag entlassen wurden.36 Die Zustände in den Quarantänen wurden nicht dem ursächlich damit verbundenen europäischen

Tobler, Beitrag zur medizinischen Topographie, 1855, 1. Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, Kapitelübersicht o. S. Die Kapitel bei Rigler lauten: A. Physische Geographie, B. Klimatologie, C. Flora, D. Fauna der Umgebung von Konstantinopel, E. Bewohner, F. Nahrungsweise der Orientalen, G. Familienleben, H. Betäubungsmittel, J. Beschneidung, K. Türkische Bäder, L. Beheizung, M. Charakter des Türken, N. Klimatische Verhältnisse, O. Acclimatisation, P. Einfluss der Religion auf die Erzeugung von Krankheiten, Q. Einfluss der Race auf die Erzeugung von Krankheiten, R. Einfluss der Beschäftigung auf die Erzeugung von Krankheiten, S. Wissenschaftliche und Volks-Medizin, T. Die Spitäler von Constantinopel und das Medicinal-Wesen in der Türkei, U. Das Quarantaine-Wesen der Türkei. 35 Vgl. ebd., Bd. 1, 211. 36 Graul, Reise nach Ostindien, 1856, 262. 33 34

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Handel zugeschrieben, sondern, wie der reisende Priester Graul es formuliert, der „Kluft […], die in ihrer tiefsten Tiefe nichts anderes ist, als der ungeheure Abstand zwischen Christentum und Muhammedanismus.“37 Die vermeintliche Überlegenheit des Christentums dringt in vielen Beschreibungen durch. „Doch die Zeit sehe ich nicht mehr fern, wo Mohammeds grausame Bekenner zurück in ihre Wüsten, von denen sie ausgegangen, geschleudert werden, um mit Tigern und Hyänen ihr elendes Dasein zu erkämpfen. Der erbleichte Halbmond wird bald von den früheren Kirchen herabgerissen sein und das milde Kreuz des Christentums ersteht hoffentlich mit neuem Glanze.“38 Das schrieb kein Priester, sondern der Arzt und Reisende Karl Koch. Er sah Konstantinopel als verfallende Stadt und die Herrschaft der Osmanen als eine dem Untergang preisgegebene Despotie. Die Beschreibung der Menschen und des Stadtbildes folgte den klassischen Mustern von nach Volksgruppen geordneten Stereotypen. Der osmanische Staat stünde am Rande des Abgrunds: Kochs drastische und islamophobe Darstellung war in ihrer Deutlichkeit Mitte der 1840er-Jahre ein Extremfall, auch, weil sie im Gegensatz zu den meisten anderen Darstellungen dieser Jahre davon ausging, dass jegliche Reformversuche zwecklos seien.39 Dass sich wahrgenommene Realität, Gehörtes und Gelesenes in den Darstellungen überschnitten und verschmolzen, wird an manchen Stellen greifbar. Die Betonung des verbreiteten Aberglaubens gehörte zu den feststehenden Themen der Auseinandersetzung mit dem Medizinischen Orient. Der Schweizer Titus Tobler berichtete 1855 vom großen Aberglauben der Menschen in Palästina. Der Glaube an Geister sei ebenso verbreitet wie das Vertrauen in Amulette. Dann führte Tobler aus: „Aus dem vorigen Jahrhunderte vernimmt man, dass es in Jerusalem Zauberer aus Afrika gab, welche mit Buchstaben oder Dreiecken versehene Zettelchen austheilten. Diese wurden dann gegen viele Uebel an den Hals der Kranken gehängt.“ Die Zauberer, von denen Tobler sprach, waren wohl Araber aus dem Maghreb, die nach Jerusalem gekommen waren.40 Tobler stützte sich in seiner Darstellung wie in vielen anderen Fällen auf reiche Literatur und verwies im Unterschied zu vielen auch genau darauf. Im Text verschwammen jedoch die Grenzen zwischen dem, was er selbst gesehen und was er bei teils viel älteren Autoren gelesen hatte. Die Beschreibung der „Zauberer“, die Zettel verteilten, stammte von einem französischen Autor aus dem 17. Jahrhundert. Ob und in welcher Form er diese Praxis selbst angetroffen hatte, darüber schwieg sich Tobler aus.41 Toblers Eindrücke bestimmten, wie schon eingangs erwähnt, das historiographische Narrativ. „During the Ottoman rule, the local population relied mainly on traditional medicine, including herbal medicine, bone-setting, cauterization, blood-letting, leeching, cupping, as well as

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Graul, Reise nach Ostindien, 1856, 39. Koch, Wanderungen im Oriente, 1846, 114. Ebd. Vgl. Tobler, Beitrag zur medizinischen Topographie, 1855, 7. Ebd.

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amulet writers, midwives, and male religious healers.“42 Dieses Zitat stammt aus einem wissenschaftlichen Aufsatz zur Geschichte der Pockenimpfung in Palästina zur Zeit des britischen Mandats43 und es ist wohl richtig; lesen wir solche Zeilen, vergessen wir allerdings bis heute gerne, dass die Medizin auch in unseren Breiten sehr lange von denselben Methoden bestimmt war. „Die Wahrheitsliebe fordert mich übrigens auf, Zeugnis zu geben, dass man in gewöhnlichen Fällen den europäischen Ärzten, zumal den Chirurgen, gerne vertraut, und dass die Zaubereien etwas selten sind“44, fügte Tobler seinen Ausführungen noch hinzu, ein Ruf, der in der Rezeption jedoch ungehört verklang. „[D]ie Bemühungen des europäischen Arztes scheitern nur zu oft an ‚Aberglaube und Volksmedizin‘, die in der religiösen und damit in der innersten Gefühls- und Gedankenwelt des Volkes wurzeln. Wer als Arzt im Orient Erfolg haben will, der muß diesen Feind kennen, auf den er täglich stösst“, schrieb der Orientalist Becker im Geleitwort eines 1914 in Hamburg erschienenen Buches, das sich mit den wichtigsten magischen Elementen und Vorstellungen traditioneller Medizin in Palästina beschäftigte. Die Arbeit war keine umfassende Darstellung der gesamten traditionellen arabischen Medizin, sondern vor allem eine Untersuchung magischer Konzepte in der Volksmedizin in Palästina. Becker vertrat im Geleitwort der Arbeit allerdings die Ansicht, dass die vom Verfasser gemachten Beobachtungen für die gesamte islamische Welt Geltung hätten.45 100 Jahre zuvor hatte man den Aberglauben noch besser einordnen können, ohne die Religion bemühen zu müssen. Bei Weitem nicht alle Ärzte schrieben den Widerstand gegen die Einführung der Kuhpockenimpfung um 1800 der Religion zu. Vielmehr sei dieser Widerstand in allen Weltgegenden zu finden, schrieb der britische Arzt Jukes aus Bushire in Persien nach Wien, als er sich 1804 um die Einführung der Kuhpockenimpfung bemühte. Ich werde nun alle Mittel, die mir zu Gebote stehen, anwenden, um diese große Wohlthat in dem persischen Reiche zu verbreiten. Ich fürchte jedoch, daß ich mit mancherley Schwierigkeiten werde zu kämpfen haben, wenn es mir gelingen soll, die Kuhpocke im Gange zu erhalten, denn es wird Ihnen so viel als mir bekannt seyn, welche Menge von abergläubischen Begriffen bei allen Volksklassen in jeder Weltgegend im Schwange geht, und wie sehr der große Haufe geneigt ist, sich gegen jede neue in Vorschlag gebrachte Sache aufzulehnen; diese Vorurtheile sind es, welche den Menschen nicht verstatten, die unzuberechnenden Vortheile einzusehen, die man dadurch erhalten könnte.46

Nadav Davidovitch/Zalman Greenberg, Public health, culture, and colonial medicine. Smallpox and variolation in Palestine during the British Mandate, in: Public health reports (Washington, D.C.  1974) 122/3, 2007, 398–406, hier: 399, doi: 10.1177/003335490712200314. 43 Ebd. 44 Tobler, Beitrag zur medizinischen Topographie, 1855, 10. 45 Kanʿān, Aberglaube und Volksmedizin im Lande der Bibel, 1914, v. 46 Carro/Friese, Geschichte der Kuhpokkenimpfung, 1804, 161. 42

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Beileibe nicht alles, was der Orient zu bieten hatte, war negativ: Die Badekultur im Osmanischen Reich erfreute sich bei den europäischen Besuchern regen Interesses. Viele Ärzte folgten dem Beispiel des französischen Arztes Brayer, der seine Erfahrungen in der Türkei in einem viel gelesenen Werk verarbeitete. In der Wiener „Gesundheits-Zeitung“ gab man 1836 einen ausführlichen Auszug seiner Behandlung der Bäder, in dem es einleitend hieß: „Man muss es mit Bedauern gestehen, es herrscht im ganzen Abendlande Europas ein Hang zum unglaublichen Schmutz.“47 Entgegen dem was der Europäer über das Bad dächte, sei es kein Ort der Unkeuschheit, sondern ein wesentlicher Ort der Gesundheitspflege. Die persönliche Sauberkeit der Orientalen wurde von fast allen Ärzten wahrgenommen.48 Disziplin und Ordnung waren die Antwort auf alles, was dem Diktat der akademischen Medizin widersprechen wollte. Was diszipliniert werden sollte, musste zuerst geordnet werden. Minutiös beschrieb Lorenz Rigler den Harem als Ort privaten osmanischen Lebens, wie er ihn kennengelernt hatte und wie er demzufolge auch zu sein hatte: Jedes türkische Haus ist in zwei streng geschiedene Abteilungen getrennt, wovon die eine, für den Harem bestimmt, streng verschlossen bleibt, und auch durch enge Holzgitter an den Fenstern von der Neugierde der Vorübergehenden gesichert ist, während die andere dem Zutritt freisteht. In jene haben nur die Eunuchen oder durch ihre Decrepidität Vertrauen einflössende Bediente, und hin und wieder die Anverwandten Zugang. Die Verbindung beider besteht darin, dass die männliche Dienerschaft im Hofraume an einer dem Harem zunächst liegenden Bretterwand die Aufmerksamkeit erregt und das Verlangen der Ankommenden meldet, denen nun auf dieselbe Weise die Antwort oder die Erlaubnis des Zutritts erheilt wird.49

Medizinische Kenntnisse waren für männliche Europäer ohne ärztlichen Hintergrund die Eintrittskarte in den privaten Bereich muslimischer Familien. Der bayrische Orientreisende Wagner, der selbst über keinerlei medizinischen Hintergrund verfügte, wurde von den Bewohnern eines Ortes, in dem er nächtigte, für einen „Frenk Hekim“ gehalten. Die plötzlich bewusstlos gewordene Tochter einer Familie holte Wagner nach eigenen Angaben mit einer Prise Riechsalz ins Leben zurück. Als das Mädchen zu Bewusstsein kam und vor Schreck über den Anblick eines fremden Mannes ihr Gesicht verstecken wollte, erklärte man ihr, dass es sich bei Wagner um einen Arzt handle und sie sich ihm ruhig zeigen könne, was dieser sichtlich genoss: „Die hübsche Patientin sah noch immer sehr scheu auf uns mit ihren schüchternen Gazellenaugen, ließ es aber

Gesundheits-Zeitung, Nr. 12, 19. März 1836. So lobt Rigler auch die generelle Sauberkeit der Aborte: Rigler, Die Türkei und deren Bewohner, 1852, 257. Dieses Thema würde sich eine vertiefte Betrachtung verdienen, die im Rahmen dieser Arbeit leider nicht möglich war. 49 Ebd., B. 1, 204. 47 48

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doch geschehen, dass ich ihr hübsches Händchen noch einmal fasste, um die Pulsschläge zu zählen.“50 In Ägypten besuchte der deutsche Arzt und Naturforscher Alfred Brehm gemeinsam mit seinem Kollegen Vierthaler ein arabisches Haus. Seine Beschreibung des Besuches ist ebenfalls typisch. Ein Besuch in einem einfachen ägyptischen Haushalt enthüllt die erotischen Phantasien, die mit dem Privatleben der „Orientalen“ verbunden wurden. Ich erinnere mich nicht, jemals wieder eine Frau gesehen zu haben, welche dieser an Schönheit nur entfernt geglichen hätte. Sie besaß das lieblichste, feinste und edelste Gesicht, vereint mit der schlanken, herrlichen Gazellengestalt und Händchen und Füßchen, wie die eines neunjährigen Kindes! Bei Allah und seinem Propheten, die Frau war schön! Ja, in der That, der Orient hat zarte, schöne Blumen; wohl dem, glücllich der, dem es gelingt, eine davon zu pflücken. Und dass er sie dann warten möge, mit aller Sorgfalt; aber wie bald wird sie verblüht sein, die kaum erblühte Rose! Hier im Morgenlande wird sie nie zu ihrer wahren Blüte gelangen; hier vernichtet die rohe Hand des Mannes, welcher durch die verfeinerte Cultur und Sitte europäischer Länder noch nicht gebildet, schon den Keim erfaßt, ehe er tiefe Wurzeln geschlagen, die später herrlich prangende Blume.51

Geprägt vom Orient-Bild eines Hammer-Purgstall berichtete der stets auf amouröse Abenteuer lauernde Fürst Schwarzenberg im Jahr 1837: „Es ist nicht leicht, mit türkischen Frauen zu einem Einverständnis zu gelangen und schwer in ihre häuslichen Mysterien eingeweiht zu werden, außer unter der geborgten Maske des Arztes.“52 Da verwundert es nicht, dass der deutsche Arzt Koch, der das Osmanische Reich Anfang der 1840er-Jahre bereiste, festhielt, dass die Frauen in den entlegeneren Gebieten des Osmanischen Reiches weit größere Bewegungsfreiheit genossen als in jenen Gegenden, in denen sich die Europäer niedergelassen hätten.53 Verständige Staatsbeamte der Türkei, die sogar nur eine rechtmässige Frau hatten, und scheinbar gebildete Kaufleute unter den Christen führten mich auf keine Weise zu ihrer Frau und ließen, wenn sie krank war, sie nur aus der Ferne behandeln. Ohne Zweifel hat das dissolute Leben vieler Europäer, und besonders der Franzosen und Russen, denen ebenfalls meistens ein echtes Familienleben nicht bekannt ist, zu dieser sonst nicht zu begreifenden Erscheinung Veranlassung gegeben […].54

Wagner, Reise nach Persien und dem Lande der Kurden, 1852, 122. Alfred Edmund Brehm, Reiseskizzen aus Nord-Ost-Afrika. Oder den unter egyptischer Herrschaft stehenden Ländern Egypten, Nubien, Sennahr, Rosseeres und Kordofahn; gesammelt auf seinen in den Jahren 1847 bis 1852 unternommenen Reisen, 2. unveränd. Ausg, Jena 1862, 263f. 52 Friedrich von Schwarzenberg, Fragmente aus dem Tagebuche während einer Reise in die Levante, Leipzig 1837, 69. 53 Koch, Wanderungen im Oriente, 1846, 260. 54 Ebd. 50 51

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Diese Zeilen lassen erkennen, dass die Strukturierung und Darstellung häuslichen Lebens im Osmanischen Reich mit der Praxis des Alltagslebens im engen Zusammenhang stehen. Der „Harem“ als geheimnisvoller, sündenhafter Ort entstand aber erst aus diesen Berichten. Es mag sein, dass auch hier das gilt, was Antonio Gramsci und (auf Gramsci aufbauend) Edward Said feststellten: Einer unterdrückten Gruppe kann durch kulturelle Praxen und Erziehung eine Einwilligung in hegemoniale Ordnungsverhältnisse abgerungen werden.55 Der „Harem“ wird unter solchen Verhältnissen zu dem, was Europäer von ihm erwarten: ein Ort der Gelüste und der Sinnlichkeit. Zu den Genüssen des Orients gehörte auch der Konsum von Opium. Kaum ein Arzt verzichtete auf den Selbstversuch mit Opium; doch meist gab es nur Kopfschmerzen und einen kräftigen Kater.56 Der Zwang und die Gewalt, die mit der Umsetzung der europäischen Medizin einhergingen, fanden sich in den Selbstzeugnissen der europäischen Ärzte nur selten. Karl Koch, der dem Islam und dem Orient sehr skeptisch gegenüberstehende Besucher der Schule in Konstantinopel, ließ einen Blick hinter den Vorhang der Zivilisation zu. Ein angeblicher Simulant war zu Bernard gebracht worden, der ihn coram publico examinierte. Der zweite Kranke war ein junger, kräftiger Soldat, der von seinem Offiziere gezüchtigt, nicht mehr gehen zu können, behauptete. Die Untersuchung gab auch nicht die geringste Beschädigung zu erkennen, und so lag die Verstellung deutlich vor. Dr. Bernard stellte ihm nochmals das Unwahre seiner Behauptung vor, doch der Soldat tat ferner sehr kläglich. Wie bei uns, kommen Fälle, wo Menschen sich krank stellen, auch in der Türkei vor, uns zwar hier umso mehr, als die körperliche Züchtigung jetzt ebenfalls beschränkt worden ist. Bernard ließ, unter allgemeinem Jubel der Studenten, das Glüheisen applizieren, und unter noch lauterem Jubel lief der Kranke, als das Eisen kaum die Haut berührt hatte davon.57

Ein Ereignis wie dieses mag sich ohne Weiteres auch in einem europäischen Garnisonsspital zugetragen haben. Bezeichnend ist hier vor allem, dass die Bestrafung im Setting einer zuvor als wissenschaftlicher Leitinstitution gefeierten Einrichtung einem Orientalen galt, dessen Verhalten als typisch für seine Landsleute gesehen wurde. Dieser Soldat ist nicht einfach ein Simulant. Er ist zunächst Orientale; faul und betrügerisch. Die europäischen Ärzte hatten in wenigen Jahren versucht, ihr Modell einer (militär-)ärztlichen Ausbildung zu kopieren und dem „kranken“ Osmanischen Reich genau jene Strukturen als Heilmittel verordnet, die sie zu Hause kennengelernt hatten. Do Mar Castro Varela/Dhawan, Orientalismus und postkoloniale Theorie, 2007, 33. Pruner, Die Krankheiten des Orients, 1847, 90. Eine Beschreibung gibt auch die Populäre Österreichische Gesundheits-Zeitung 1830 aufgrund einer brieflichen Mitteilung eines anonymen Arztes aus Konstantinopel. Zwar erlebte dieser heftigste Tagträume, doch die „schmerzlichen Gefühle verloren sich nur nach und nach und er nahm sich vor, diesen Versuch nie wieder vorzunehmen“. Gesundheits-Zeitung, Nr. 50, 20. Oktober 1830, 199. 57 Koch, Wanderungen im Oriente, 1846, 254. 55 56

Ausblick auf eine Wirkungsgeschichte des „Medizinischen Orients“

Als vieles (nicht alles) scheiterte oder sich zumindest als problematisch erwies, boten orientalistische Erklärungsansätze eine willkommene Erklärungsmöglichkeit. Wenige deutschsprachige Besucher dieser Zeit waren hellsichtig genug, den größeren Zusammenhang zu sehen. Anton von Prokesch (1795–1876), der lange Jahre als österreichischer Diplomat in Ägypten, dem Osmanischen Reich und Griechenland tätig war, schrieb in seinen „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen aus dem Orient“ 1836/37: Wenn ich recht sehe, so geht dieses Reich einer schweren Krise entgegen, die über sein Leben oder seinen Tod entscheiden wird. Aus kräftigen Elementen zusammengesetzt, ist es hinsichtlich seiner Wirkung nach außen und seiner Vertheidigung dennoch schwächer als irgendeine der europäischen Mächte, mit welcher es täglich in Streit kommen kann. Wie ist diesem Übelstande abzuhelfen? – Reisige Volksbeglücker sind mit der Antwort hierauf schnell fertig: europäische Civilisation heißt der Talisman, den sie ihm anhängen wollen, und erwägen nicht, ob er sich für die Brust der Moslemin schickt, und mit welcher Aufopferung von Wahrhaftigkeit und ebenmässigem Glücke, worin die Bewohner der Länder des Sultans so weit demjenigen der europäischen Reisenden vorausgeht, derselbe erkauft werden müsse. Ich halte jede Civilisation für verderblich, die nicht auf die Grundlagen der Eigenthümlichkeiten des Volkes und Landes gebaut ist, nicht aus dem heimathlichen Boden hervovorwächst. Dass der Koran eine solche zulasse, kann nur, wer ihn nicht kennt, und die Dienste vergessen will, welche die Araber den Wissenschaften und Künsten leisteten, läugnen.58

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Zitiert nach: Bernard, Österreicher im Orient, 1996, 202.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivalien und Übersicht der verwendeten Medizinischen Periodika

Für diese Arbeit wurden ausgewählte Archivalien aus dem Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte in Wien, der österreichischen Nationalbibliothek in Wien, den Sammlungen der Medizinischen Universität Wien am Josephinum, dem Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien und dem Institut für Geschichte der Medizin der Universität Mainz verwendet. Archivalien Berndt, Joseph (1837): Pest-Polizey-Ordnung für die k. k. Oesterreichischen Staaten. Insitut für Geschichte der Medizin der Meduni Wien. In: Medicinische Jahrbücher des k. k. österreichischen Staates. Bilharz, Theodor: Briefe aus dem Nachlass. Inst. f. Geschichte der Medizin der Universität Mainz. Dr. Jacob Eduard Polak (1861): Brief an Franz Romeo Seligmann. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, I. N. 95942. Brief. Interntuntiatur Konstantinopel (1841): Diplomatische Berichte Türkei. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Staatenabteilung VIII, K 15. Interntuntiatur Konstantinopel (1841): Diplomatische Berichte Türkei. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Staatenabteilung, VIII, K 16. Interntuntiatur Konstantinopel (1859): Konsulatsberichte. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, PA XXXVIII K128 Konsulate 1859 A-Be. k. k. Gesellschaft der Ärzte (13.05.1838): Protokoll der Sitzung vom 13. Mai 1838. Archiv der k. k. Gesellschaft der Ärzte, Faszikel 1 (1837–1839), Prot. Nr. 21. Referent Gesellschafts-Sekretär Dr. Knolz. k. k. Landesregierung in dem Erzherzogthume Oesterreich unter der Enns: Circular. Sammlungen der Medizinischen Universität Wien ( Josephinum), SA 2533. Lafont-Gouzi, Gabriele Gregoire (18.10.1803): Brief an Jean de Carro. Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Sammlung von Handschriften und Nachlässen., Autogr. 82/33–1. Staatskanzlei, Staatenabteilung (1838): Berichte. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, k. k. Min. d. Äußeren, Staatenabteilung Türkei VIII, 1838 K11. Staatskanzlei, Staatenabteilung (1838): Berichte 1838 K11. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Staatenabteilung VIII, Türkei, Berichte 1838, K 11. Wirer, Franz (02.01.1839): Über die Bekämpfung der Pest (Manuskript). Hausarchiv der Gesellschaft der Ärzte, Älteste Reihe, Fasz. 1, Prot. Nr. 88.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Allgemeine Periodika Annalen der Literatur und Kunst in den Österreichischen Staaten, Wien Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst, Beyträge zum Gelehrten Österreich. Das Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker Neue allgemeine Wiener Handlungs- und Industrie-Zeitung, oder Mittheilungen des Neuesten  … aus dem Gebiethe des Handels, des Fabriks- und Gewerbswesens, der Haus- und Landwirthschaft und der Kunst Österreichischer Beobachter, Wien Wiener Zeitung, Wien Medizinische Periodika Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin, Leipzig Berliner medicinische Central-Zeitung, Berlin Medicinisch-Chirurgische Zeitung, Salzburg Populäre Österreichische Gesundheits-Zeitung London Medical Gazette: Or, Journal of Practical Medicine, London Neue Folge der Gesundheits-Zeitung, Wien Wiener Medizinische Wochenschrift, Wien, (Kürzel im Text: WMW) Oesterreichische Medicinische Wochenschrift, Wien Medicinische Jahrbücher des k. k. österr. Staates, Wien Allgemeine Medizinische Zeitung, Leipzig Hufelands Journal der practischen Heilkunde, Berlin Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde, gesammelt u. mitgetheilt von Ludwig Friedrich v(on) Froriep, Jena Wiener Medicinal-Halle, Wien Medicinische Nationalzeitung für Deutschland: und die mit selbigem zunächst verbundenen Staaten. Altenburg Verhandlungen der k. k. Gesellschaft der Ärzte zu Wien, von Entstehung der Gesellschaft bis zum Schlusse des dritten Gesellschaftsjahres, Wien Litterarische Annalen der gesammten Heilkunde, Berlin

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Literaturverzeichnis

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2016. 126 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11176-8 Martin Dinges / Andreas Weigl (Hg.) Gender-Specific Life Expectancy in Europe 1850–2010 2016. 217 S. mit 2 Abb., 63 Graf. und 25 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11258-1 Jenny Linek Gesundheitsvorsorge in der DDR zwischen Propaganda und Praxis 2016. 242 S. mit 7 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11281-9 Philipp Eisele Pluralismus in der Medizin aus der Patientenperspektive Briefe an eine Patientenorganisation für alternative Behandlungsmethoden (1992–2000) 2016. 497 S. mit 4 Abb., 43 Schaubildern und 34 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11255-0 Nina Grabe Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945–1975 2016. 425 S. mit 13 Abb., 30 Graf. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11332-8 Susanne Kreutzer / Karen Nolte (Hg.) Deaconesses in Nursing Care International Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th and 20th Century 2016. 230 S. mit 6 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11355-7 Pierre Pfütsch Das Geschlecht des „präventiven Selbst“ Prävention und Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik Deutschland aus geschlechterspezifischer Perspektive (1949–2010) 2017. 425 S. mit 24 s/w-Abb., 22 Farbabb. und 64 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11638-1

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Ausländer“ in Westdeutschland (ca. 1950–1975) 2020. 237 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12557-4 Ylva Söderfeldt Krankheit verbindet Strategien und Strukturen deutscher Patientenvereine im 20. Jahrhundert 2020. 117 S. mit 12 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-12654-0 Markus Wahl (Hg.) Volkseigene Gesundheit Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR 2020. 211 S. mit 5 s/w-Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12671-7 Martin Dinges / Pierre Pfütsch (Hg.) Männlichkeiten in der Frühmoderne Körper, Gesundheit und Krankheit (1500–1850) 2020. 536 S. mit 15 s/w-Abb., 7 Farbabb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12646-5 Sebastian Wenger Arzt – ein krank machender Beruf? Arbeitsbelastungen, Gesundheit und Krankheit von Ärztinnen und Ärzten im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert 2020. 219 S., kt. ISBN 978-3-515-12751-6 Carlos Watzka Seelenheil und Seelenleid Die Diätetik der Emotionen im frühneuzeitlichen Katholizismus in Bayern und Österreich 2021. 800 S. mit 54 s/w-Abb., 13 Farbabb. und 7 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12806-3 Christoph Schwamm Wärter, Brüder, neue Männer Männliche Pflegekräfte in Deutschland ca. 1900–1980 2021. 160 S. mit 5 s/w-Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12790-5 Sebastian Knoll-Jung Vom Schlachtfeld der Arbeit Aspekte von Männlichkeit in Prävention, Ursachen und Folgenbewältigung von Arbeitsunfällen in Kaiserreich und Weimarer Republik 2021. 597 S. mit 16 s/w-Abb., 4 s/w-Graf. und 8 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12972-5

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begegnet die deutschsprachige Medizin dem „Anderen“: dem als „Orient“ konstruierten Südosten Europas, dem Osmanischen Reich und den Gebieten Nordafrikas, Persiens und der arabischen Halbinsel. In der Fachliteratur, in Debatten und in den Erfahrungen vor Ort tätiger Ärzte spiegelt sich die Begegnung unterschiedlicher medizinischer Systeme – die „akademische Medizin“ integriert das Wissen der heilkundlichen Lehren des Osmanischen Reichs, nutzt es als Experimentierfeld und Erfahrungsraum. Später verändert sich die Position der ärztlichen Akteure: Von Beobachtern und vereinzelt Teilneh-

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menden werden auch deutschsprachige Ärzte im Osmanischen Reich und Ägypten zu Betreibern eines grundlegenden strukturellen Wandels, der auf eine Verdrängung der traditionellen heilkundlichen Methoden abzielt. Die Periode einer als „Modernisierung“ und „Reform“ verstandenen Machtübernahme europäischer medizinischer Strukturen im Osmanischen Reich beginnt. Marcel Chahrour wirft einen Blick auf die Vorgeschichte dieser „Reformperiode“ und zeigt vom Standpunkt Wiens, wie die sich verändernde Medizin Europas das „Andere“ konstruiert, während sie sich selbst findet.

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