Der Kurzschluß der Marktwirtschaft: Instrumentalisierung und Emanzipation des Konsumenten [1 ed.] 9783428495689, 9783428095681

Die Marktwirtschaft hat ihr Ziel, Überwindung der Not und Massenwohlstand, seit langem erreicht. So vollständig erreicht

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Der Kurzschluß der Marktwirtschaft: Instrumentalisierung und Emanzipation des Konsumenten [1 ed.]
 9783428495689, 9783428095681

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HELMUT STEINER Der Kurzschluß der Marktwirtschaft

B e i t r ä g e zur g a n z h e i t l i c h e n Wirtschafts- und Gesellschaftslehre Herausgegeben von

o. Univ.-Prof. Dkfm. Dr. Dr. h.c. J. Hanns P i c h l e r , M. Sc. Wirtschaftsuniversität Wien

Band 9

Der Kurzschluß der Marktwirtschaft Instrumentalisierung und Emanzipation des Konsumenten

Von

Helmut Steiner

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Steiner, Helmut: Der Kurzschluß der Marktwirtschaft : Instrumentalisierung und Emanzipation des Konsumenten / von Helmut Steiner. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Beiträge zur ganzheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftslehre ; Bd. 9) ISBN 3-428-09568-5

Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0522-6457 ISBN 3-428-09568-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Erich Heintel in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet

Vorwort des Herausgebers Vorliegender Band, mit dem die Reihe der „Beiträge zur ganzheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftslehre" fortgesetzt wird, widmet sich in systemkritischer Weise grundlegenden Fragestellungen der Marktwirtschaft mit deren offensichtlichen Verzerrungen, Abgleitflächen und Marktunvollkommenheiten im Blick insbesondere auf die entwickelten Konsumgesellschaften. Ausgehend von der „klassischen" Ziel-Mittel-Beziehung als systematisierenden Ansatz der Wirtschaftswissenschaft schlechthin, kommt es in individualistisch eigennutzbestimmter Fundierung von System und Funktionsweisen der Marktwirtschaft zu dessen so typisch einseitig betonter Konsumorientierung. Diese Vereinseitigung, wie der Autor zu zeigen versucht, führt notwendigerweise zu einer folgenschweren Engführung des Bedürfnisbegriffes und damit zu einer - nach ganzheitlich umfassenderem Verständnis - unzulässig eingeschränkten Sicht von der intrinsischen Komplexheit wirtschaftlicher Ziele, die als solche nicht von ihrem wesensgemäß gesellschaftlichen Bezug loszulösen sind; oder anders formuliert: daß es (mit Wilhelm Röpke) für den Bereich der Wirtschaft sehr wohl Fakten und Phänomene durchaus auch ,Jenseits von Angebot und Nachfrage" zu berücksichtigen gelte. Wirtschaftswissenschaft im tradierten Sinne einer „Politischen Ökonomie" ist so zugleich immer eingebettet in eine sie überhöhende Rangbestimmtheit von gesellschaftlicher Relevanz mit von daher letztlich auch zu begründenden Werten und Zielen. Im sogenannten „mainstream" der modernen Nationalökonomie (und in deren Textbüchern) scheint demgegenüber allerdings die Frage nach dem Ursprung, nach dem Zustandekommen von Bedürfnissen in deren tieferen Fundierung und damit nach Prägung der Ziel weit des Wirtschaftens i.w.S. gar nicht mehr gestellt oder schlichtweg ausgeblendet; gilt somit einfach als Tatsache, die allein von den Entscheidungen der Konsumenten bzw. Nachfrager her zu begründen sei. Vor dem Hintergrund einer so gesehen auch systemtheoretisch argumentierten Untermauerung der Entwicklung der Marktwirtschaft in deren prägenden Merkmalen, Facetten und Instrumentarien formuliert der Verfasser schließlich seine im Titel signalisierte - These vom „Kurzschluß der Marktwirtschaft": sich darlebend in einer buchstäblichen Verkehrung des zugrundeliegenden, wesensgemäß zweckgerichteten Ziel-Mittel-Zusammenhanges im Wege heute zunehmend künstlicher „Produktion" sowie damit einhergehender „Manipulation" von Bedürfnissen mittels Werbung und deren Instrumentalisierung via Medienmacht.

Vorwort des Herausgebers

8

All dies schließlich mit der Konsequenz bzw. auf Kosten von „Entfremdungslasten", die vom Konsumenten über allenthalben zu ortende Defizite in der Wirtschaft bis hin zu Überforderungen in Politik und Gesellschaft ihren Niederschlag finden. Diesen Defiziten, so das schlußfolgernde Plädoyer vorliegender Arbeit, gelte es durch eine grundlegende Neuorientierung auf ordnungsund gesellschaftspolitischer Ebene bewußt entgegenzutreten im Sinne einer nachhaltigen Korrektur aufgezeigter systemimmanenter Entsprechungsstörungen in den modernen Marktwirtschaften mit auf Dauer nicht zuletzt gesellschaftsgefährdenden Entartungserscheinungen und Folgewirkungen.

Wien, im Frühjahr 1998

J. Hanns Pichler

Vorwort Der Europäischen Kommission zufolge nimmt die Zufriedenheit der EUBürger seit Jahrzehnten nicht mehr zu, und zwar trotz enormer Steigerung von Sozialprodukt, Einkommen und Konsum: ein überraschendes Faktum insofern, als es zum Credo der Wohlstandsgesellschaft gehört, durch Vermehrung von Einkommen und Konsum würden wir immer glücklicher werden. Daß dies nicht zutrifft, zeigt Sattheit bzw. Überfluß an, denn nur wenn man satt ist, bringt zusätzlicher Konsum keinen Nutzen. So gesehen scheint es bei uns im großen und ganzen keinen Mangel zu geben. Dennoch bleibt der allgemeine Wunsch nach mehr Einkommen und Konsum bestehen, unabhängig vom jeweils erreichten Wohlstandsniveau. Trotz Überflusses empfinden wir die eigenen Mittel stets als knapp. Da aus solch seltsamer Knappheit ökonomische Sachzwänge abgeleitet werden, die uns heute in großem Stil Sparen, ja Arbeitslosigkeit und Sozialabbau verordnen, lohnt es, den Sachverhalt zu untersuchen. Das Problem ist freilich komplex. In pragmatischer Absicht geschrieben, will der vorliegende Text nicht nur eine Problemanalyse, sondern auch einen Lösungsvorschlag anbieten. Meine Überzeugung von der Gangbarkeit des vorzuschlagenden Weges stützt sich auf eine der überragenden Stärken der Marktwirtschaft: ihre Anpassungsfähigkeit. Für kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Anregungen habe ich zu danken: Peter Burger, Randolf Hartmann, Dori Koller, Marie-Theres Koller, Thomas Manndorff, Michael Nitsche, Georg Steiner, Helga Steiner und Friedel Wicke. Darüber hinaus bin ich all jenen verbunden, die zu meinem Problembewußtsein wesentlich beigetragen haben: Uwe Arnold, Peter Heintel, Hans-Dieter Klein, Traugott Lindner, Bernhard Pesendorfer und Gerhard Schwarz - sowie, keineswegs zuletzt, meinen Lehrern Karl Skowronnek und Walter Heinrich. Zu allererst danke ich Erich Heintel.

Wien, im Mai 1998

Helmut Steiner

Inhaltsverzeichnis Α. Konsum im Überfluß 1. Ökonomische Sachzwänge aufgrund von Knappheit 2. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in der EU 3. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in reichen EU-Ländern 4. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in den USA 5. Stagnierende Letztverbrauchermärkte 6. Wachsende Werbeausgaben 7. Paradoxe Priorität von Einkommens- und Konsumsteigerung 8. Exkurs: Bedürfnisbefriedigung ohne Marktentnahme

15 15 16 18 20 22 23 25 26

B. Knappheiten 1. Gesellschaftliche Knappheit 2. Negative externe Effekte 3. Unbefriedigte kollektive Bedürfnisse 4. Geltungskonkurrenz und Zufriedenheit

30 30 31 32 33

C. Triumphe der Marktwirtschaft 1. Konsum als Zweck der Marktwirtschaft 2. Überwindung der Not 3. Materieller Wohlstand

37 37 39 41

D. Leidensgeschichte der Marktwirtschaft 1. Ein Widerspruch im System: Die These 2. Bloße Instrumentalität der Wirtschaft 3. Arbeit als Mittel und als Selbstzweck 4. Sozialkämpfe 5. Arbeiterbewegung 6. Unternehmer und Manager 7. Betriebliche Sozialpolitik 8. Vereinnahmung der Umwelt

45 45 47 48 50 51 51 52 54

E. Entwicklungsschritte der Marktwirtschaft 1. These: Dialektik der Systementwicklung 2. Freie Marktwirtschaft 3. Soziale Marktwirtschaft 4. Ökosoziale Marktwirtschaft 5. Exkurs: Zum „Turbokapitalismus" 6. Ordnungsrahmen

56 56 56 57 59 60 62

F. Konsumfreiheit 1. Die ökonomische Zeitenwende 2. Exkurs: Wirtschaftswissenschaft und Freiheit

64 64 66

12

Inhaltsverzeichnis 3. Wahlfreiheit 4. Konsumentensouveränität 5. Konsumentenautonomie

68 70 73

G. Bedürfnisse 1. Die Frage des Entstehens freier Bedürfnisse 2. Objektbesetzung 3. Plastizität 4. Standards 5. Exkurs: Grenzen der Konsumfreiheit

76 76 77 78 80 82

H. Zur Rolle der Unternehmung 1. Autonomie der Unternehmung und Gewinnziel 2. Exkurs: Gewinnmaximierungszwang der Unternehmung 3. Interpretation der Konsumenten wünsche 4. Bedürfnisproduktion

84 84 86 89 91

I. Das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion 1. Zur Fragestellung 2. Technische Sichtweise der Werbung 3. Werbung als „Clown der Wirtschaft" 4. Funktionale Sichtweise ^ler Werbung 5. Universalität der Werbung 6. Güterwelt 7. Die Motivdimension der Güter 8. Exkurs: Die Subjektivität des Wirklichen 9. Marketing 10. Zur „Kundenorientierung" des Marketing

94 94 95 96 98 101 103 104 107 108 110

J. Der Kurzschluß der Marktwirtschaft 1. Kopfstand der Wirtschaft 2. Zirkel der Instrumentalität 3. Schlagseite der Bedürfnisproduktion 4. „Manipulation" 5. Medienmacht 6. „Weckung latenter Bedürfnisse": das Argument 7. „Weckung latenter Bedürfnisse": das Sophisma 8. Argumentationsnotstand der Werbung 9. Suggestivität der Werbung 10. Absenz der Bildungsbereiche

112 112 114 116 118 121 123 124 127 128 132

K. Entfremdungslasten des Konsumenten 1. Vorbemerkung zum Begriff 2. Das Mehrprinzip 3. Zur Attraktivität des Neuen 4. Die Bedürfnisspirale 5. Positionsgüter 6. Besitz als Identität

134 134 134 138 140 141 146

Inhaltsverzeichnis 7. 8. 9. 10.

Potenzierungsgüter und Gemeinschaftsdefizite Marktwert als Identität Lasten des Wirtschaftswachstums Die „Blamage des Marketing"

147 148 149 151

L. Entfremdungslasten der Wirtschaft 1. Die These 2. Absatzprobleme 3. Beeinträchtigung der Arbeitsmoral 4. Wirtschaftlichkeitsdefizite 5. Schleichende Inflation 6. Labilität

154 154 154 156 159 160 162

M. Entfremdungslasten der Politik 1. Überforderung der Politik 2. Gefährdung der Demokratie 3. Armut der Staatshaushalte 4. Konkurrenz privater und kollektiver Bedürfnisse 5. Vernachlässigung des Notwendigen 6. Massenarbeitslosigkeit 7. Flexibilisierung der Arbeit 8. Zum Diktat der Knappheitsillusion

164 164 166 168 169 171 173 174 175

N. Die ordnungspolitische Aufgabe 1. Zur Legitimität ordnungspolitischer Intervention 2. Die ordnungspolitische Lücke 3. Zielpluralismus 4. Relativierung der privaten Konsumwünsche

179 179 181 182 183

O. Die gesellschaftspolitische Aufgabe 1. Anforderungsprofil einer Problemlösung 2. Zur Realisicrungschance 3. Kommunikationsaufgabe 4. Relativierung der Geltungskonkurrenz

185 185 186 189 190

P. Motivationsarbeit 1. Bedürfnisbildung 2. Dialektischer Prozeß 3. Zur Frage der Veränderungskompetenz 4. Organisationserfordernisse 5. Führungsrolle der Humanwissenschaften 6. Emotionale Motivierung 7. Ironie und Humor 8. Institutionalisierung 9. Finanzierung

193 193 195 198 200 202 203 205 206 209

Q. Systematischer Rückblick 1. Sattheit der Konsumgesellschaft 2. Der Wunsch nach Einkommens- und Konsumsteigerung

211 211 212

Inhaltsverzeichnis

14

3. Freie Bedürfnisse 4. Einseitigkeit der Bedürfnisproduktion 5. Motivationsmacht Werbung 6. Werbesuggestion 7. Der Kurzschluß des Systems 8. Entfremdungslasten des Konsumenten 9. Entfremdungslasten der Wirtschaft 10. Entfremdungslasten der Politik 11. Die ordnungspolitische Aufgabe 12. Bildungsaufgabe 13. Motivationsprozeß

213 214 215 216 216 218 218 219 220 220 221

Literaturverzeichnis

223

Personenverzeichnis

233

Sachverzeichnis

236

Α. Konsum im Überfluß 1. Ökonomische Sachzwänge aufgrund von Knappheit Konsumsteigerung gilt immer noch als Zielpriorität der Marktwirtschaft. Aus Knappheiten im Konsumbereich werden harte ökonomische Sachzwänge abgeleitet. Ökonomische Sachzwänge bedürfen heute schon deshalb der Begründung, weil sie der großen Mehrheit der Bevölkerung Belastungen und Einschränkungen verordnen. Allenthalben muß gespart werden: in den Privathaushalten, in den Unternehmungen, im öffentlichen Bereich. Selbst in reichen Ländern kann Wichtiges, wie Arbeit und befriedigende soziale Absicherung für alle oder ausreichender Umweltschutz, aus Mangel an Mitteln nicht verwirklicht werden. Ökonomische Sachzwänge resultieren ausnahmslos aus einem Mangel an Mitteln. In der Ökonomie ist der Mangel an Mitteln als Faktum und Axiom in seltener Einmütigkeit vorausgesetzt. Die Wirtschaftswissenschaft spricht in diesem Sinn von „Knappheit". Gemeint ist der Mangel an Mitteln für die Erreichung aller gegebenen Ziele. Knappheit ist demnach ein relativer Begriff, welcher sich einerseits auf die verfügbaren Mittel und andererseits auf den geltenden Zielhorizont bezieht. Deshalb werden die Ziele, wo immer gewirtschaftet wird, nach ihrer Wichtigkeit gereiht, um mit den verfügbaren Mitteln die wichtigsten Ziele erreichen zu können, während die minder wichtigen Ziele nicht zum Zuge kommen - bekanntlich das kleine ökonomische Einmaleins. Knappheit darf aber nicht etwa als Fehler der real existierenden Wirtschaft gesehen werden, sondern: Knappheit ist die unabdingbare Voraussetzung allen Wirtschaftens. Ohne Knappheit gäbe es zwar Mittel im technischen Sinn, doch keine Mittel im wirtschaftlichen Sinn.1 Die reale Wirtschaft wie die Wirtschaftswissenschaft existieren nur im Medium der Knappheit. Auch das „wirtschaftliche Prinzip", die generelle wirtschaftliche Handlungsmaxime, ist allein in der Knappheit der Mittel in Relation zum geltenden Zielhorizont begründet. Die geforderte Minimierung des Mittelaufwands bei Maximierung der Zieler1

Siehe die strenge Unterscheidung von Wirtschaft (als finales System der Mittel) und Technik (als kausales System der Mittel) bei Othmar Spann: Fundament der Volkswirtschaftslehre, Graz 19675, S. 60 ff.

16

Α. Konsum im Überfluß

reichung (des „Nutzens") ist nur bei Knappheit sinnvoll, dann allerdings logisch zwingend. In der politischen Realität konkretisiert sich das Prinzip der Nutzenmaximierung bzw. Aufwandminimierung als Anspruch „ökonomischer Sachzwänge", welche Anerkennung und Befolgung fordern. Die Regierungen finden sich heute weithin in der Rolle von Exekutoren ökonomischer Sachzwänge. So kann J. Hanns Pichler bündig formulieren: „Das ,Maximum-Minimum-Gesetz' ... dominiert unsere Gesellschaft". 2 Ökonomische Sachzwänge lassen sich nur aus einem Mangel an Mitteln für einen bestimmten Zielhorizont der Gesellschaft ableiten. Ziele, deren Erreichung sich durch zusätzlichen Mittelaufwand nicht verbessern läßt, können ökonomische Sachzwänge nicht begründen. Sollen solche Ziele dennoch der Ableitung ökonomischer Sachzwänge dienen, müssen sie sich auf ihre Gültigkeit im Sinne von Knappheit hinterfragen lassen. Hinterfragt man nun die gegenwärtige westliche Gesellschaft auf ihren wirtschaftlichen Zielhorizont, so kommt die merkwürdige Tatsache in Sicht, daß die Marktwirtschaft seit Adam Smith - nach den großartigen Erfolgen von gut zweihundert Jahren und in einer völlig veränderten Situation der Gesellschaft immer noch an der Priorität ihres ursprünglichen Zieles festhält: an der Steigerung des Konsums. Vor diesem Hintergrund sei eine häretische Fiktion gestattet: Würde im Bereich des Konsums nicht mehr Knappheit, sondern Überfluß herrschen, dann wäre dem gegenwärtigen Primat der Konsummaximierung und den daraus abgeleiteten ökonomischen Sachzwängen der Boden entzogen. Dieser Nachweis soll in der Folge versucht werden.

2. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in der EU Dem amtlichen „Eurobarometer " der Europäischen Kommission zufolge hat die Zufriedenheit der El]-Bürger seit langem nicht mehr zugenommen. Das ,JEurobarometer", die Zeitreihe repräsentativer periodischer Meinungsumfragen der Europäischen Kommission, weist einerseits das hohe Niveau der bei den EU-Bürgern erhobenen Zufriedenheitswerte, andererseits deren Stagnation seit Jahrzehnten aus:3 2 J. Hanns Pichler / Hubert Ve rhonig / Norbert Hentschel: Inflation und Indexierung, Berlin 1979, S. 39 f. 3 „Standard Eurobarometer-Meinungsumfragen" werden im Auftrag der Generaldirektion „Information. Kommunikation, Kultur, Audiovisuelle Medien" der Europäischen

. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in de

17

U

„Auf EU-Ebene hat sich die Reaktion auf diese Frage (nach der Zufriedenheit, Anm. d. V.), seit sie im Herbst 1973 in den damals neun Mitgliedländern zum ersten Mal gestellt wurde, nur unwesentlich verändert. Tatsächlich entsprechen die auf EU12-Ebene ermittelten Zahlen von heute exakt denen, die vor 20 Jahren auf EG9-Ebene verzeichnet wurden." 4 Im Jahr 1996, nach der Aufnahme von Österreich, Finnland und Schweden in die EU, ergeben die Erhebungen (Feldarbeit im Frühjahr 1996), daß „these life satisfaction scores have remained remarkably constant over the past twenty-five years" 5. Die Fragestellung lautete stets: „On the whole, are you very satisfied, fairly satisfied, not very satisfied, or not at all satisfied with the life you lead?" - Die Ergebnisse in Zahlen: Zufriedenheit in der Europäischen Gemeinschaft 6 Jahr

1973 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Very satisfied

%

Fairly satisfied %

Not very satisfied %

Not at all satisfied %

21 20 20 21 22 21 21 21 23 19 20 21 21 21 22

58 57 55 56 56 56 57 55 56 59 58 57 59 58 54

16 17 18 17 16 17 16 17 16 16 16 17 15 16 19

4 6 6 6 6 5 5 6 5 6 5 6 5 5 5 - Fortsetzung -

Kommission seit Herbst 1973 durchgeführt. Die repräsentativen Meinungsumfragen in den Mitgliedsländern der EG bzw. EU wurden (mit Ausnahme von 1974) jährlich einmal oder mehrmals erstellt. Wo das Eurobarometer aufgrund wiederholter Umfragen in einem Jahr mehrere Ergebnisse ausweist, habe ich die Prozentwerte der besseren Übersichtlichkeit halber gemittelt und gerundet. Für 1993 und 1995 konnte ich die Werte nicht erheben. 4

Eurobarometer 41, Brüssel 1993, S. 35 und Tabelle B l .

5

Eurobarometer 45, Brüssel 1996, S. 38. Siehe auch Tabelle 2.2., S. B. 22 f. - Das Eurobarometer 47, S. 1, stellt für 1997 eine leichte Abnahme der Lebenszufriedenheit bei zunehmendem Pessimismus fest. 6

Einschließlich Griechenland ab April 1981.

2 Slcincr

Α. Konsum im Überfluß

18 - Fortsetzung Jahr

1989 1990 1991 1992 1994 1996 1997

%

Not very satisfied %

Not at all satisfied %

59 59 59 57 59 61 58

12 12 13 14 16 14 17

4 5 4 5 4 4 5

Very satisfied %

Fairly satisfied

25 24 25 24 21 20 19

Das Zufriedenheitsniveau in der EU ist durch die zwischenzeitig eingetretene Erhöhung des materiellen Wohlstands unbeeinflußt geblieben.

3. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in reichen EU-Ländern Die Entwicklung in den bedeutendsten europäischen Industrienationen bietet das gleiche Bild von Sattheit . Die ausgewiesenen EU-Durchschnittswerte sind durch den Beitritt ärmerer Länder im Berichtszeitraum keineswegs verfälscht. Um das zu zeigen, ist in der Folge die Entwicklung des Zufriedenheitsniveaus in den bedeutendsten europäischen Industrienationen Deutschland (West), Frankreich und England (UK) gesondert dargestellt, und zwar in der übersichtlichen Form eines Schulnotensystems (1 = very satisfied, 2 = fairly satisfied, 3 = not very satisfied, 4 = not at all satisfied):

1973 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986

EU

D(W)

F

UK

2,01 2,09 2,08 2,08 2,06 2,04 2,03 2,06 2,03 2,09 2,04 2,10 2.04

2,00 2,07 1,97 1,97 1,94 1,86 1,94 1,98 1,92 2,02 1,98 2,03 1,94

2,10 2,13 2,21 2,25 2,25 2,28 2,28 2,22 2,17 2,19 2,21 2,22 2,19

1,82 1,86 1,94 1.89 1,87 1,90 1.85 1,86 1,84 1,90 1,83 1,88 1,88 -

Fortsetzung -

3. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in reichen EU-Ländern

19

- Fortsetzung -

1987 1988 1989 1990 1991 1992 1994 1996 1997

EU

D(W)

F

UK

2,05 2,07 1,95 1,98 1,98 2,00 2,03 2,00 2,06

1,99 1,94 1,83 1,69 1,87 1,88 1,92 1,99 2,14

2,20 2,27 2,05 2,15 2,17 2,22 2,16 2,19 2,23

1,90 2,00 1,79 1,89 1,89 1,88 1,83 1,85 1,83

Während schon ein flüchtiger Blick das beiläufige Gleichbleiben des Zufriedenheitsniveaus nicht nur in der EU insgesamt, sondern auch in den wirtschafüich stärksten Mitgliedsländern zeigt, fallen doch die Jahre 1989 und 1990 durch höhere Zufriedenheitswerte ein wenig aus dem Rahmen. Dieses Faktum könnte auf den ersten Blick als unseren generellen Befund relativierend bewertet werden, doch sollte man einen solchen Schluß nicht voreilig ziehen. War doch das Jahr 1989 wegen des Zusammenbruchs des kommunistischen Ostblocks, wegen des Endes der latenten Kriegsbedrohung und wegen der euphorischen Stimmung des Aufbruchs in eine bessere Zeit ein außergewöhnliches Datum in der Geschichte Europas. So darf die Verbesserung der Zufriedenheitswerte gerade in diesem Jahr nicht verwundern. Die Euphorie der „Wende", am deutlichsten begreiflicherweise in Deutschland aufgrund der Wiedervereinigung, ist in den Folgejahren weitgehend verflogen, und tatsächlich sind die Zufriedenheitswerte von 1996 jenen des Jahres 1973 recht ähnlich. Die Stagnation des Zufriedenheitsniveaus ist vor dem Hintergrund eines eindrucksvollen Wirtschaftswachstums in diesem Zeitraum zu bewerten, wo sich die Wachstumsraten zu einem Gesamtwert von 50 bis 60 Prozent addiert haben: Reales Wachstum Bruttoinlandsprodukt (% p.a.)7

1971-1980 1981-1990 1991

EU

D(W)

F

UK

3,0 2,4 1,5

2,7 2,2 5,0

3,3 2,4 0,8

2,0 2,6 -2,0 - Fortsetzung -

7

Eurostat - European Commission: EC Economic Data Book Nr. 7 / 1997. Die schrittweise Erweiterung der EU durch Aufnahme neuer Mitgliedsländer ist eingeschlossen. Die für Deutschland ausgewiesenen Wachstumsgrößen beziehen sich ab 1990 nicht auf Westdeutschland, sondern auf das wiedervereinigte Deutschland. Die Werte von 1996 sind Schätzungen vom Frühjahr 1997. 2'

Α. Konsum im Überfluß

20 - Fortsetzung EU

D(W)

F

UK

1992 1993 1994 1995 1996

1,0 -0,4 2,9 2,4 1,6

2,2 -1,1 2,9 1,9 1,4

1,2 -1,3 2,8 2,2 1,3

-0,5 2,1 3,9 2,5 2,1

Total ca.

57,0

55,9

57,4

50,1

Angesichts solcher realen Wachstums werte bleibt es beim Befund daß die subjektive Zufriedenheit der Menschen - nach Sicherung der Existenz - vom absoluten Wohlstandsniveau und dessen Steigerung so gut wie unabhängig ist. Die Außerstreitstellung dieses Faktums ist für unser Thema fundamental. Die fehlende Korrelation von Wohlstand und Zufriedenheit läßt sich nur als Zustand der Sättigung der materiellen Bedürfnisse bzw. als Überfluß verstehen: Wie wollte man denn „Sättigung" bzw. „Überfluß" anders definieren denn als Zustand, in dem Wohlstandsmehrung keinen Zuwachs an Zufriedenheit bringt? Die Gründe, warum wir trotz Sättigung unserer materiellen Bedürfnisse nach immer mehr Geld und Konsum streben, werden später zu erörtern sein.

4. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in den USA In den USA ist die Zufriedenheit der Menschen im Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg trotz enormer Zunahme der Realeinkommen kaum gewachsen. Unser privates wie politisches Leben ist von der Überzeugung beherrscht, daß uns eine Steigerung von Einkommen und Konsum glücklicher und zufriedener 8 macht. Wohlstandsmehrung gilt als Königsweg zum Glück. Weil dieses Ziel und der Weg dahin so gut wie allgemein außer Streit gestellt scheinen, soll das Fehlen der Korrelation zwischen einer Mehrung des materiellen Wohlstands und einer Steigerung der subjektiv empfundenen Zufriedenheit auch am Beispiel der USA erhärtet werden. 8

Glück und Zufriedenheit sind zwar nicht dasselbe - „Glück" bezeichnet einen emotionalen Zustand, „Zufriedenheit" eine kognitive Selbsteinschätzung - , doch korrelieren sie mit 0,5 bis 0,7 als „Gefühl subjektiven Wohlbefindens" so hochgradig (.Ronald Inglehart: Kultureller Umbruch - Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt / MainNew York 1989, S. 277), daß wir die beiden Begriffe hier synonym verwenden können.

4. Stagnierendes Zufriedenheitsniveau in den USA

21

Wiederum spricht das Ergebnis empirischer Untersuchungen eine klare Sprache. Tibor Scitovsky berichtet aufgrund repräsentativer Meinungserhebungen in den USA, daß die selbstgeschätzte Zufriedenheit der Amerikaner zwischen 1946 und 1970 - die letzte Erhebung dieser Zeitreihe fand im Dezember 1970 statt9 - so gut wie gleich geblieben ist, und zwar trotz einer enormen Steigerung der Realeinkommen in diesem Zeitraum. Scitovsky präzisiert: „Im Beobachtungszeitraum von fast fünfundzwanzig Jahren stiegen die Pro-Kopf-Einkommen um zweiundsechzig Prozent, während der Anteil der Menschen, die sich als sehr zufrieden, ziemlich zufrieden und nicht zufrieden bezeichnen, sich, abgesehen von der ersten Nachkriegszeit, fast überhaupt nicht verändert hat. Demnach stehen wir uns wirtschaftlich zwar immer besser, aber wir sind deswegen offenbar nicht glücklicher." 10 Man braucht die folgenden Zahlen 11 nur überblicksweise anzusehen, um das bestätigt zu finden:

Zeitpunkt Apr. 1946 Dez. 1947 Aug. 1948 Nov. 1952 Sept. 1956 Sept. 1956 März 1957 Juli 1963 Okt. 1966 Dez. 1970

sehr zufrieden

recht zufrieden

nicht sehr zufrieden

Befragte Pers.

39 42 43 47 53 52 53 47 49 43

50 47 43 43 41 42 43 48 46 48

10 10 11 9 5 5 3 5 4 6

3151 1434 1596 3003 1979 2207 1627 3668 3531 1517

Der Nachweis im großen und ganzen unveränderter Zufriedenheitswerte läßt einen Zusammenhang mit der Erhöhung der Realeinkommen nicht erkennen. Mögliche Zweifel an diesem Faktum könnten freilich durch die in der Tabelle ausgewiesene Halbierung der Unzufriedenheitswerte in den ersten Nachkriegsjahren genährt werden. Tatsächlich muß man das pauschale Untersuchungs9 Tibor Scitovsky: S. 23.

Human Desire and Economic Satisfaction, Brighton, Sussex 1986,

10

Tibor Scitovsky: Psychologie des Wohlstands, Frankfurt / Main - New York 1977, S. 118. 11

Vgl. R.A. Easterlin: Does Economic Growth Improve the Human Lot?, in: P.A. David / M.W. Reder (Hrsg.): Nations and Households in Economic Growth. Essays in Honor of Moses Abramovitz, New York 1974. Die Erhebung wurde vom American Institute of Public Opinion (AIPO) erstellt.

Α. Konsum im Überfluß

22

ergebnis insofern differenzieren, als die durchaus beachtliche Verringerung der Unzufriedenheitswerte in der Nachkriegszeit auf die Überwindung materieller Not in einem Teil der amerikanischen Bevölkerung zurückzuführen ist. Zwischen 1944 und 1957 ist nämlich die Anzahl der US-Privathaushalte mit Einkommen über dem Existenzbedarf von 12,0 Millionen auf 20,5 Millionen angewachsen.12 Menschen, deren Einkommen vorher kaum zur Deckung des Existenznotwendigen reichte, sind nach Überwindung der Not selbstverständlich zufriedener als vorher. Es ist also der in diesen Fällen plausible Zusammenhang zwischen Wohlstandsmehrung und Zufriedenheit, was sich in der Tabelle als Verringerung der Unzufriedenheitswerte ausdrückt. Demnach müssen wir unterscheiden zwischen einer Wohlstandsmehrung, die das Existenznotwendige sichert, und einer Wohlstandsmehrung, die Konsum darüber hinaus ermöglicht. Eine Verallgemeinerung des Untersuchungsergebnisses würde demnach lauten: Eine Bevölkerung wird zufriedener durch Sicherung ihres Existenzbedarfs und eines bescheidenen Wohlstands, doch eine weitere Steigerung des absoluten Einkommens- und Konsumniveaus erhöht das Zufriedenheitsniveau nicht Elisabeth Noelle-Neumann hat erst jüngst resümiert: „Die demoskopischen Umfragen, sowohl in Amerika als auch bei uns, zeigten, daß trotz des außerordenüichen wirtschaftlichen Wachstums die Menschen nicht glücklicher geworden sind." Und sie fügt hinzu: „Das war ein Schock." 13

5. Stagnierende Letztverbrauchermärkte Die Vermarktung neuer Konsumgüter ist zusehends schwieriger geworden. Das Wachstum der Letztverbrauchermärkte stößt an die Grenzen der Aufnahmebereitschaft der Konsumenten. Unser Befund - Sättigung bzw. Überfluß im Bereich des Konsums - gewinnt an Überzeugungskraft, wenn man ihn mit anderen Phänomenen in Zusammenhang bringt. Gemeint ist die Entwicklung der Letztverbrauchermärkte und die Entwicklung der Werbeausgaben der Unternehmungen zwecks Erweiterung ihres Absatzpotentials. In den USA waren Ende der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts 90 Prozent der Letztverbrauchermärkte wachsend, Ende der achtziger Jahre waren 90

12

George Katona: Die Macht des Verbrauchers, Düsseldorf und Wien 1962, S. 26.

13

Elisabeth Noelle-Neumann: Interview, in: Die Furche Nr. 8 vom 19. 2. 1998.

6. Wachsende Werbeausgaben

23

Prozent der Letztverbrauchermärkte stagnierend. 14 Einer vor kurzem für die American Marketing Association unter den Marketingspezialisten, Marktforschern und Präsidenten der nach Fortune tausend erfolgreichsten Unternehmungen durchgeführten Umfrage zufolge meinten zwei Drittel der Befragten, „daß sich die Einführung eines neuen Produktes heute sehr viel schwieriger gestaltet als noch vor einem Jahrzehnt" und „daß inzwischen weniger als ein Viertel ihrer neuen Produkte Erfolg haben." 15 Im Gegensatz zu ihrer früheren Überzeugung glaubten sie nicht mehr, daß „gutes Marketing ein Produkt verkauft oder verkaufen könnte". 16 Alvin Achenbaum, Vorstandsvorsitzer eines auf Marketingstrategien spezialisierten New Yorker Beratungsunternehmens, sagt 1989 in Advertising Age bezüglich der Einführung neuer Produkte, daß „weniger als ein Prozent auch nur einen bescheidenen Erfolg aufweisen können" 17 . Eine „vergleichbare Fehlschlagsquote" gebe es „bei neuen Finanzprodukten und Dienstleistungen: Kreditkarten, Versicherungssysteme, Maklerdienste." 18 „Heute wächst die Nachfrage nach vielen Konsumgütern nur noch so langsam wie die Bevölkerung." „Und der technologische Fortschritt hat uns eine Unmenge von Produkten ähnlicher Qualität beschert, so daß sich Unternehmen nur noch sehr schwer profilieren können." 19

6. Wachsende Werbeausgaben Die Stagnationstendenz der Letztverbrauchermärkte erfordert verstärkte Werbetätigkeit bei ins Gigantische steigenden Werbeausgaben. Auch dieses Phänomen soll hier nur unsystematisch schlaglichtartig beleuchtet werden: Für den Anfang der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts wurden die Werbeaufwendungen der westlichen Welt mit über 20 Milliarden Dollar bezif-

14

Torsten H. Nilson: Third Wave Marketing, in: The Business Magazine, Issue 3, Maidenhead, Berkshire 1993, S. 20. 15

Kevin J. Clancy / Robert S. Shulman: Die Marketing-Revolution, Vom Wunschdenken zur Realität, Frankfurt / New York 1993, S. 13. 16

Ebenda, S. 14.

17

Alvin Achenbaum: How to Succeed in New Products, in: Advertising Age vom 26. 6. 1989, zitiert in: Clancy /Shulman: S. 15. 18

Clancy /Shulman: S. 15.

19

Business Week Anfang 1990, zitiert bei: Clancy / Shulman: S. 22.

Α. Konsum im Überfluß

24

fert. 20 In den USA allein betrugen die Werbeausgaben wenig später bereits zwölf Milliarden Dollar, nahezu das Budget des amerikanischen Unterrichtsministeriums.21 In der Bundesrepublik Deutschland machten die Werbeausgaben Ende der sechziger Jahre fast 16 Milliarden D M aus, mehr als vier Fünftel der Ausgaben für die Bundeswehr 22 - schon damals respektable Zahlen und Relationen. Mitte der achtziger Jahre beliefen sich in der Bundesrepublik die Werbekosten (einschließlich Werbeproduktion und Werbeverwaltung) auf 33,4 Milliarden D M oder zwei Prozent des Bruttosozialprodukts. 23 1989 betrugen die Werbeausgaben in den USA, der Berechnung von Advertising Age zufolge, 124 Milliarden Dollar. Eine Schätzung für 1990 kommt auf mehr als 130 Milliarden Dollar. 24 „Dagegen nehmen sich die von der amerikanischen Regierung aufgewendeten 22 Milliarden Dollar für das Bildungswesen und die 5 Milliarden Dollar für die Umwelt eher bescheiden aus. Die Etats der siebzehn US-Unternehmen mit dem größten Werbeauflkommen übersteigen das Gesamtvermögen ganzer Firmen, die in der Fortune-500-Liste erscheinen." 25 1995 betrugen die US-Werbeausgaben etwa 162 Milliarden Dollar. 26 Im Jahr 1991 gaben die europäischen Unternehmungen knapp 100 Milliarden D M für Werbung aus, und etwa drei Viertel von ihnen planten die Aufstockung ihrer Werbeetats (von damals drei bis zehn Prozent des Umsatzes) in den nächsten fünf Jahren. 27 Hans Sasserath spricht im gemeinsamen Medium der Werbewissenschaftlichen Gesellschaften Bonn und Wien von einer kommunikativen Katastrophe": „Allein im Zeitraum 1985 bis 1994 hat sich die Anzahl der im TV ausgestrahlten Werbesendungen ungefähr verzwanzigfacht. Während noch im 20

Ernest Zahn: Soziologie der Prosperität, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen des Wohlstandes, München 1964, S. 19. 21

Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf-Wien 1968, S. 248.

22

Karl Schiller , Kongreß der Werbung in München 1969, zitiert nach: W & V werben und verkaufen, Sondernummer 2 vom 12. Juni 1969, S. 5. 23

Rolf Kloepfer / Hannelore Landbeck: Ästhetik der Werbung, Frankfurt am Main 1991, S. 17, unter Berufung auf eine Mitteilung des Zentralausschusses der Werbewirtschaft (ZAW) laut HB vom 18.5.1988. 24

Clancy / Shulman: S. 19.

25

Ebenda, S. 19.

26

Die Presse vom 11. November 1995 berichtet, daß die Werbeausgaben in den USA von McCann-Erickson, der weltgrößten Werbeagentur, für 1995 auf 161,9 Milliarden Dollar geschätzt werden. 27

Econ: Werbeannual 1992, Düsseldorf-Wien 1992, S. 236.

7. Paradoxe Priorität von Einkommens- und Konsumsteigerung

25

Jahr 1985 etwa 45.000 Werbesendungen ausgestrahlt wurden, waren es im Jahr 1994 bereits mehr als 1 Million." 2 8 Demnach verdienen nicht nur die riesigen Größenordnungen der Werbeausgaben Beachtung, sondern auch deren Steigerungsraten. Die Tatsache, daß sie erforderlich sind, um den Konsumenten bei der Stange zu halten und möglichst doch noch zur Konsumsteigerung zu bewegen, bildet neben der Stagnation der Zufriedenheitswerte ein zusätzliches Indiz für Sättigung und Überfluß. Grosso modo ergibt sich für die Überflußgesellschaft das folgende Bild: Der Werbeeinsatz steigt progressiv, während die Zufriedenheit der Konsumenten überhaupt nicht steigt. Zusätzliche Werbung unterliegt dem Gesetz vom abnehmenden Ertrag. Die Werbung treibt jeweils das Anspruchsniveau in die Höhe, kann aber jeweils nur die Differenz zwischen den Ansprüchen und deren Befriedigung konstant halten.

7. Paradoxe Priorität von Einkommens- und Konsumsteigerung Obgleich wir dadurch nicht zufriedener werden , scheint uns die immer weitere Steigerung von Einkommen und Konsum zum Wichtigsten im Leben überhaupt geworden . Wenn man die berichteten Fakten - Stagnation des Zufriedenheitsniveaus trotz beträchtlicher Wohlstandssteigerung und Stagnation vieler Letztverbrauchermärkte trotz enormer Steigerung der Werbeausgaben - unvoreigenommen im Zusammenhang auf sich wirken läßt, erhebt sich unabweisbar die Frage: Warum eigentlich ist uns die Vermehrung von Einkommen und Konsum so überaus wichtig, daß dieses Ziel geradezu zum Angelpunkt unseres privaten wie politischen Lebens geworden ist? Warum streben wir etwas an, von dem wir ohnehin mehr als genug besitzen? Warum behalten wir die Verhaltensmuster der Not auch im Überfluß bei? Um die ohnehin evidente Tatsache des individuellen Strebens nach immer mehr Geld und Konsum auch quantitativ zu belegen: Katona / Strümpel / Zahn berichten über eine amerikanische Untersuchung, derzufolge der Wunsch nach mehr Einkommen auch nach seiner Erfüllung unvermindert fortbesteht, und sie kommentieren: „In jedem Stadium ihrer Karriere möchten die Amerikaner gerade ungefähr 25 Prozent mehr haben - aber natürlich bleibt diese Marge von 25 28 Marc Sasserath: Marketing 2001 - Ausblicke in die nahe Zukunft, in: Werbeforschung & Praxis, Werbewissenschaftliche Gesellschaften Bonn / Wien, 2 / 95, S. 42.

Α. Konsum im Überfluß

26

Prozent bestehen, wenn das ursprüngliche Anspruchsniveau erreicht wird..." 2 9 Gleiches ist auch für die Wiener Bevölkerung nachgewiesen.30 Die Differenz zwischen Anspruchsniveau und Versorgungsniveau, von Emil Küng als Maßstab der individuellen Zufriedenheit vorgeschlagen 31 - je größer die Differenz, desto geringer die Zufriedenheit - , bleibt nahezu unabhängig vom ökonomischen Status etwa gleich. Wäre die Zielpriorität der Steigerung von Einkommen und Konsum zusätzlich nachzuweisen, käme man um Gemeinplätze nicht herum: „Lebensstandard" setzen wir mit Konsumstandard als Verfügung über käufliche Güter gleich; der Erhöhung der Kaufkraft zuliebe rennen wir den preisgünstigsten Warenangeboten nach; die Sucht nach eigener Wohlstandsmehrung macht uns weitgehend unfähig, mit wirklich Bedürftigen zu teilen; der Steigerung von Einkommen und Konsum opfern wir sogar unsere Überlebensnotwendigkeiten, wie die Schonung der natürlichen Umwelt; im wirtschaftspolitischen Bereich ist, wie bereits erwähnt, Kosten- und Preissenkung der Konsumgüter zwecks Konsumsteigerung trotz schwerer dadurch verursachter Probleme das Hauptargument für die Errichtung wirtschaftlicher Freihandels-Großräume in Europa, Amerika und Asien und für die Globalisierung der Konkurrenz. Wenn man dazu noch die Bemühungen der Interessenvertretungen welcher Bevölkerungsgruppe immer um Einkommenssteigerung ihrer Mandantschaft veranschlagt, kann man am beständigen, massiven Wunsch der meisten nach mehr Geld zwecks ständiger Erhöhung des materiellen Lebensstandards nicht zweifeln. Einen solchen Zweifel wird wohl ohnehin niemand hegen, doch umso unabweisbarer stellt sich die Frage nach dem Motiv unseres beharrlichen Wunsches nach Einkommens- und Konsumsteigerung.

8. Exkurs: Bedürfnisbefriedigung ohne Marktentnahme Der Anteil der nicht durch Kauf erworbenen Güter an der Gesamtheit unserer Bedürfnisbefriedigungen wird zu Unrecht vernachlässigt. Die Fixierung der Überflußgesellschaft auf Einkommenssteigerung zwecks Konsumsteigerung erscheint umso erklärungsbedürftiger, als wir nur einen Teil 29 Robert Merton: Social Theory and Social Structure, 1965, S. 136 f., zitiert in: Katona /Strümpel/Zahn: Zwei Wege zur Prosperität, Wien und Düsseldorf 1971, S. 213. 30 Unveröffentlichte Analyse der Geldmotivation und des Geld Verhaltens der Wiener Bevölkerung aus dem Jahr 1970, durchgeführt von der Inter-Management Sozialforschung und Organisationsberatung, Wien. 31

Emil Küng: Wohlstand und Wohlfahrt, Tübingen 1972, S. 26 f.

8. Exkurs: Bedürfnisbefriedigung ohne Marktentnahme

27

unserer Bedürfnisse durch die Nutzung von Gütern befriedigen, die wir vom Markt beziehen, also für Geld gekauft haben. Die Fixierung auf Geld und Kauf wäre nur dann selbstverständlich, wenn der Anteil der nicht gekauften Güter wegen seiner Geringfügigkeit zu vernachlässigen wäre. Deshalb wollen wir uns nun der Frage der größenordnungsmäßigen Relationen der gekauften Bedürfnisbefriedigungen einerseits und der nicht-gekauften Bedürfnisbefriedigungen andererseits zuwenden. Die Rechnung der Ökonomen erfaßt bekanntlich nur die über den Markt gegangenen - also die im weitesten Sinn gekauften - Güter und Dienstleistungen, während die nicht durch Kauf erzielten Bedürfnisbefriedigungen außer Ansatz bleiben. Ihre Bedeutung im Rahmen der Gesamtheit unserer Bedürfnisbefriedigungen ist daher aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht ablesbar, was unser Vorhaben allerdings erschwert. Wiederum können wir uns an Tibor Scitovsky orientieren, welcher bezüglich der nicht vom Markt bezogenen Bedürfnisbefriedigungen die folgenden Sektoren anführt: - Selbstversorgung 32. - Gegenseitige Anregung 33 . - Externe Effekte 34 . - Güter und Dienstleistungen ohne Marktwert 35 . - Arbeit als Selbstanregung 36. Fragen wir nun nach den Anteilsverhältnissen einerseits der gekauften (im ausgewiesenen Sozialprodukt enthaltenen) und andererseits der nicht gekauften (im ausgewiesenen Sozialprodukt nicht enthaltenen) Bedürfnisbefriedigungen, stellt sich natürlich das Problem der quantitativen Bewertung der nicht über den Markt bezogenen Bedürfnisbefriedigungen. Während sich der Wert der Güter und Dienstleistungen ohne Marktwert noch einigermaßen abschätzen läßt, ent-

32

Tibor Scitovsky: Psychologie des Wohlstands, S. 73 ff.

33

Ebenda, S. 75 f. - Gemeint ist gegenseitige Anregung in zwischenmenschlicher Kommunikation. 34 Ebenda, S. 77 f. - Gemeint ist die Befriedigung anderer durch eigene Bedürfnisbefriedigung, beispielsweise deren Freude am Anblick eines mit Blumen geschmückten Hauses. 35 Ebenda, S. 78 ff. Gemeint sind im privaten Bereich beispielsweise Leistungen innerhalb der Familie wie Hausarbeit und Dienstleistungen im Freundeskreis oder im öffentlichen Bereich die Verpflichtung zu Militärdienst und zum Geschworenenamt. 36 Ebenda, S. 81 ff. Gemeint ist der Befriedigungswert der Arbeitsfreude. Der Wert der Arbeit liegt ja nicht allein im Produkt als Arbeitsergebnis.

Α. Konsum im Überfluß

28

ziehen sich die anderen Bereiche der unmittelbaren Quantifizierung. 37 Um sie dennoch meßbar zu machen, ist eine indirekte Methode der Bewertung erforderlich. Da unsere nicht-gekauften Befriedigungen, außer der Arbeit, in der Freizeit stattfinden, haben Ökonomen versucht, den Wert zu schätzen, den wir der Freizeit beimessen. Das ist nicht ganz unproblematisch, doch stehen für die USA amüiche Schätzungen zur Verfügung, welche immerhin einen Eindruck von ihrer Größenordnung zu vermitteln vermögen. 38 Eine größenordnungsmäßige Gegenüberstellung der über den Markt bezogenen Bedürfnisbefriedigungen und der anderen Bedürfnisbefriedigungen - jene aus Arbeitstätigkeit ausgenommen39 - bietet die folgende (auszugsweise zitierte) Übersicht 40 :

Volkseinkommen, Arbeit ohne Marktwert und Freizeit (Milliarden Dollar zu Preisen von 1958) Jahr

1929

1945

1954

1965

Volkseinkommen Wert der Arbeit ohne Marktwert

131,1

176,5

306,9

454,7

85,7

152,4

211,5

295,4

Summe Wert der Freizeit

216,8 339,5

328,9 450,7

518,4 523,2

750,1 626,9

Gewiß, diese Untersuchungen beziehen sich auf die USA, und sie sind nicht jüngsten Datums. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, daß das Ergebnis im wesentlichen nicht auch auf Westeuropa und für heute zutreffen würde: Lassen wir den geschätzten Freizeitwert beiseite, so beliefe sich der Anteil der vom Markt bezogenen Bedürfnisbefriedigungen demnach auf etwa 60 Prozent. Und

37

Ebenda, S. 90 f.

38

Ebenda, S. 91 ff.

39

Tibor Scitovsky (ebenda S. 81 ff.,) bringt einige recht überzeugende Argumente für seine These, daß der Befriedigungswert der Arbeit in den westlichen Gesellschaften heute das Arbeitsleid meist überwiegen dürfte. - Der Saldo von Befriedigung einerseits und Arbeitsleid andererseits bleibt hier außer Ansatz. 40 Row 1, US Department of Commerce, Office of Business Economics, The National Income and Product Accounts of the United States, 1929-65, Statistical Tables; andere Daten von W. Nordhaus / J. Tobin: Is Growth Obsolete?: National Bureau of Economic Research, General Series 96, zitiert in: Tibor Scitovsky : ebenda, S. 91.

8. Exkurs: Bedürfnisbefriedigung ohne Marktentnahme

29

bei Einbeziehung des geschätzten Freizeitwertes machen die gekauften Bedürfnisbefriedigungen in den genannten Jahren nur etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Bedürfnisbefriedigungen aus. Selbst wenn wir von diesen Relationen, als bloß geschätzt, nicht ganz ohne Vorbehalt Kenntnis nehmen wollten, resultiert, daß wir die Gesamtheit unserer Befriedigungen jedenfalls nur zum Teil - wahrscheinlich sogar nur zum kleineren Teil - den vom Markt bezogenen gekauften Gütern und Dienstleistungen verdanken. „Wie bereits aus früheren Untersuchungen bekannt ist", stellt Ronald Inglehart fest, „trägt Geld erstaunlich wenig zu Glück und Zufriedenheit bei." 41 Die Fixierung der Überflußgesellschaft auf Geld und Kauf bleibt erklärungsbedürftig. Und sofern man Einkommen mit Kaufkraft zum Erwerb von auf dem Markt angebotenen Gütern und Dienstleistungen gleichsetzen kann, wird dieser Befund auch durch einen Vergleich der Zufriedenheitswerte in Abhängigkeit vom Familieneinkommen in entwickelten Industriegesellschaften (1980 bis 1986) erhärtet. 42 Die folgenden Prozentzahlen, welche sich auf jene Personen beziehen, die angaben, mit ihrem Leben insgesamt „zufrieden" oder „sehr zufrieden" zu sein, weisen bezüglich der verschiedenen Einkommensklassen nur mäßig differierende Zufriedenheitswerte aus, was ebenfalls zeigt, daß den Bedürfnisbefriedigungen durch Marktentnahme nur relative Bedeutung zukommt:

Zufriedenheit Familieneinkommen im untersten Viertel zweiten Viertel dritten Viertel obersten Viertel

41

Mittelwert % 72 78 82 86

Ronald Inglehart: S. 293. Inglehart zufolge (S. 275) stützen sich die empirischen Forschungsarbeiten über das Thema des subjektiven Wohlbefindens auf eine „außergewöhnlich breite Basis von Langzeitdaten". 42

Ebenda, S. 293.

Β. Knappheiten Neben Sattheit bzw. Überfluß auf der einen Seite gibt es in der Konsumgesellschaft allerdings auch echte Knappheiten , und zwar Knappheiten verschiedener Art und Ursache. Sie resultieren aus Nutzengrenzen des privaten Konsums, aus unbefriedigten kollektiven Bedürfnissen und aus negativen externen Effekten des Wirtschaftswachstums. Hauptursache der empfundenen Knappheit an Geld und privatem Konsum ist aber eine Abhängigkeit des gesellschaftlichen Ranges eines Individuums vom ökonomischen Status. Diese Abhängigkeit bildet den eigentlichen Grund des unstillbaren Bedürfnisses nach mehr Geld und Konsum. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf den letztgenannten Punkt, wollen aber die anderen Ursachen zunächst wenigstens skizzieren.

1. Gesellschaftliche Knappheit Gesellschaftliche Bedingungen des Konsums schränken das Nutzenerlebnis des Konsumenten ein. Ein erster - ökonomischer - Grund für das Stagnieren des Zufriedenheitsniveaus in der Konsumgesellschaft liegt in den sozialen Grenzen des Wachstums. Die sozialen Grenzen des Wachstums erweisen die Vorstellung, unser Glück würde sich durch Einkommensvermehrung und Erhöhung des Konsums unendlich steigern lassen, als illusorisch. Wir verdanken die ökonomische Analyse der „gesellschaftlichen Knappheit" Fred Hirsch 43 : Der subjektive Nutzen eines Gutes hängt auch von den Rahmenbedingungen dessen Nutzung ab. Die Konsumbefriedigungen des einzelnen werden durch das Konsumverhalten anderer derart beeinflußt, daß der Nutzen in vielen Bereichen mit zunehmender Verbreitung eines Gutes abnimmt. Bedürfnisbefriedigung des einzelnen verschlechtert oft die Bedingungen gleichartiger Bedürfnisbefriedigungen für alle anderen. Beispiele: Das Anwachsen des Individualverkehrs führt immer häufiger zu Verkehrsstaus auf den Straßen. Mobilität und Freiheitserlebnis des Autofahrens 43

Fred Hirsch : Die sozialen Grenzen des Wachstums - Eine ökonomische Analyse der Wachstumskrise, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 17 u.ö.

2. Negative externe Effekte

31

nehmen ab, und in der Folge stehen alle Autofahrer schlechter da als früher, als es noch weniger Autos gab. Andere Beispiele: Die Freude am eigenen Einfamilienhaus im Grünen wird durch zunehmende Verbauung der Landschaft empfindlich getrübt; wachsender Massentourismus beeinträchtigt oft das erwartete Urlaubserlebnis; das zufällige Zusammentreffen einer Dame auf einer Abendgesellschaft mit einer anderen Dame im gleichen anspruchsvollen Kleid kann beiden die Freude vergällen. Schließlich ist an dieser Stelle auch auf den Umweltverbrauch hinzuweisen: Je mehr Leute die natürliche Umwelt durch beliebige Nutzung in Anspruch nehmen, desto zweifelhafter wird das Naturerlebnis für jeden einzelnen und für alle. 44 In allen diesen Fällen kann der einzelne nicht bekommen, was er eigentlich wollte. Gesellschaftliche Knappheit verringert die Befriedigung durch zusätzlichen Konsum und trägt auf ihre Weise zur Stagnation des Zufriedenheitsniveaus bei.

2. Negative externe Effekte Negative Effekte des Wirtschaftswachstums wachs immer weniger ausgeglichen.

werden durch den Nutzenzu-

Ein weiterer ökonomischer Faktor von zunehmender Bedeutung für die Nutzengrenzen des Konsums und damit für die Zufriedenheit des Konsumenten sind die negativen externen Effekte des Wirtschaftswachstums. Einer deutschen Untersuchung zufolge, die auf amtlichem statistischem Material basiert, werden sie durch die positiven Nutzenzuwachseffekte der Konsumsteigerung kaum noch aufgewogen 4 5 Der Nutzen des Wirtschaftswachstums für den Konsumenten droht bei Fortsetzung der Entwicklung in absehbarer Zeit negativ zu werden. Dieser für Deutschland erhobene Befund - der Bericht stammt aus dem Jahre 1990 - läßt annehmen, daß dies heute nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf die anderen hochentwickelten Industriegesellschaften zutrifft. Ähnliches wird vom Anwachsen der defensiven Ausgaben zur Kompensation von Schäden und Verschlechterungen der Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen in Deutschland berichtet, die im Gefolge von Negativeffekten des industriegesellschaftlichen Wirtschaftsprozesses auftreten. Christian Leipert analysiert den Anteil der Defensivausgaben am Bruttosozialprodukt für den Zeitraum von 1970 bis 1988: Betrug deren Anteil am BSP 1970 noch 7,0 Pro44 45

Ebenda, S. 16 ff., S. 159 f. u.ö.

Roland Hirscher: Die Wirkungen einer wachsenden Wirtschaft auf die Bedürfnisbefriedigung, Pfaffenweiler 1990, S. 169 ff. und S. 204.

Β. Knappheiten

32

zent, so machte er 1988 bereits 11,6 Prozent aus.46 „Das BSP stieg im 18-JahresZeitraum real... um knapp 50%, also erheblich langsamer als die gesellschaftliche Defensivkostenbelastung, die um fast 150% ... zunahm. Das Wachstumstempo der Defensivkosten liegt mithin dreimal so hoch wie jenes des gesamten BSP... 21% des gesamtwirtschaftlichen ,Wachstums4 in dieser Periode bestehen mithin aus dem Wachstum der Defensivkosten der Schadens- und Nachteilsregulierung." 47 Leipert folgert: „Durch die Aufdeckung der Defensivkosten wird eine Politik des globalen und möglichst raschen Wirtschaftswachstums diskreditiert. Sie kann unter den heutigen Bedingungen sowohl produktiver als auch destruktiver Potenzen der Technologieentwicklung nicht mehr auf das Apriori der Gleichsetzung von Wirtschaftswachstum und Wohlfahrtsmehrung setzen."48 Die Ungeeignetheit des Wirtschaftswachstums als Indikator des Wohlstands bzw. Wohlbefindens wird auch von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Amory B. Lovins und L. Hunter Lovins in ihrem Bericht an den Club of Rome festgestellt. Während das Bruttosozialprodukt (BSP) und der Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW) in der Früh- und Hochphase der Industrialisierung sich weitgehend parallel entwickelten, driften sie in der Spätphase, besonders seit Mitte der siebziger Jahre, deutlich auseinander." Der ISEW betrug in den USA zu Anfang der neunziger Jahre nur mehr etwa ein Viertel des BSP.49

3. Unbefriedigte kollektive Bedürfnisse Die privaten Konsumbedürfnisse des Großteils der Bevölkerung befriedigt , die kollektiven Bedürfnisse weit weniger.

sind

Dem Reichtum der Privathaushalte steht die Armut der öffentlichen Haushalte gegenüber. Sie können wichtigen Bedürfnissen der Bürger, die sich nur kollektiv befriedigen lassen, nicht entsprechen. Die Knappheit an Mitteln für Zwecke der Allgemeinheit ist eines der großen gegenwärtigen Probleme der Politiker. An Beispielen fehlt es nicht. An dieser Stelle sollen nur einige der Probleme stichwortartig genannt sein: die Betreuung der Kinder und Alten, die Sanierung 46

Christian Leipert: Die heimlichen Kosten des Fortschritts - Wie Umweltzerstörung das Wirtschaftswachstum fördert, Frankfurt am Main 1989, S. 133. 47

Ebenda, S. 134.

48

Ebenda, S. 137.

49

Ernst Ulrich von Weizsäcker / Amory B. Lovins /L Hunter Lovins: Faktor vier: doppelter Wohlstand - halbierter Naturverbrauch, Der neue Bericht an den Club of Rome, München 1995, S. 302 f.

4. Geltungskonkurrenz und Zufriedenheit

33

der Umwelt, die Ermöglichung befriedigender Wohnverhältnisse für alle, der Schutz der Bevölkerung vor Verbrechen, im Zusammenhang damit auch die Entwicklungspolitik in unserm eigenen Interesse zwecks Eindämmung der Migration und, heute besonders akut, die Bewahrung vor unverschuldetem sozialem Absturz und die Sicherung von Arbeitsplätzen für alle Arbeitswilligen. Einzelne dieser Probleme werden später in anderen Zusammenhängen genauer zu erörtern sein.

4. Geltungskonkurrenz und Zufriedenheit Die eigene Zufriedenheit hängt nicht vom absoluten, sondern vom relativen Einkommens- und Konsumniveau im Vergleich mit anderen ab. Die im Bereich der kollektiven Bedürfrisse aus Geldmangel bestehenden Befriedigungsdefizite zeigen, daß sich mit Geld einiges zur Anhebung des Zufriedenheitsniveaus aller und jedes einzelnen bewerkstelligen lassen würde; doch die Frage, warum der private Bereich unersättlich bleibt, ist damit nicht beantwortet. Die Frage nach dem Grund des beständigen Wunsches aller nach Einkommens- und Konsumsteigerung hat seitens der Soziologen und Ökonomen, soweit sie sich damit befassen und nicht einfach die Tatsache registrieren, eine klare, übereinstimmende Antwort gefunden. Es ist hier zunächst auf zwei altbekannte sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten hinzuweisen: auf den „Bandwagon-Effekt", also auf das Streben, es der Mehrheit gleichzutun („to keep up with the Joneses"), und auf den „SnobEffekt", das Streben, sich als Konsumführer von anderen abzuheben und den eigenen, höheren Status als persönliche Höherwertigkeit zu demonstrieren. Die „Snobs" laufen dauernd vor der Masse her, und die Masse versucht ständig, die Snobs einzuholen: im Zusammenwirken von Bandwagon- und Snob-Effekt eine Spirale ohne Ende. Um den Sachverhalt zu klären, sind zweierlei Fakten, die einander zu widersprechen scheinen, miteinander in Zusammenhang zu bringen: einerseits das oben ausführlich belegte, überraschende Faktum, daß der Grad der allgemeinen Zufriedenheit von der absoluten Einkommenshöhe (nach Deckung der Existenzbedürfnisse) unabhängig ist; andererseits das durch die eigene, subjektive Erfahrung gedeckte Faktum, daß die Zufriedenheit des einzelnen mit steigendem Einkommen wächst. Scitovsky präzisiert den Sachverhalt: „Das Sonderbare ist, daß ein Aufsteigen in der Einkommensskala zwar die Chancen der eigenen Zufriedenheit zu ver3 Sicincr

Β. Knappheiten

34

bessern scheint, daß dies aber nicht gilt, wenn alle Einkommen gleichmäßig steigen." 50 Ich zitiere das von Scitovsky vorgelegte Zahlenmaterial 51 wegen seiner Plausibilität nur auszugsweise:

Prozentuale Aufteilung der Bevölkerung nach Zufriedenheit und nach Einkommensklasse Jahreseinkommen in Dollar

sehr zufrieden

ziemlich zufrieden

nicht sehr zufrieden

20 31 37 48 48 53

52 55 54 48 48 38

27 14 9 4 3 8

1.000 3.000-3.999 5.000-5.999 7.000-7.999 10.000-14.999 15.000 u.mehr

Auf den ersten Blick scheinen die beiden zitierten Befunde - das Gleichbleiben der Zufriedenheit bei allgemeiner Einkommenssteigerung und die Erhöhung der Zufriedenheit bei individueller Einkommenssteigerung - miteinander unvereinbar. Der Widerspruch löst sich aber, sobald wir realisieren, daß die subjektive Zufriedenheit nicht von der absoluten Höhe des eigenen Einkommens- und Konsumniveaus abhängt, sondern von der relativen Position innerhalb der eigenen Nation. Dieter Birnbacher faßt die empirischen Forschungsergebnisse (unter Berufung auf N.M. Bradburn 52, Katona/ Strümpel / Zahn53 und R.A. Easterlin 54) folgendermaßen zusammen: Nach gesicherter Deckung der Existenzbedürfnisse „weist alles, was wir wissen, in die Richtung, daß der technische und wirtschaftliche Fortschritt die subjektive Zufriedenheit aufs Ganze gesehen nicht wesentlich erhöht hat, sondern diese auf ungefähr demselben Niveau konstant geblieben ist. Alle bisher durchgeführten empirischen Untersuchungen ... weisen ... eine einheitliche Grundtendenz auf, die sich durch alle Nationen und alle Personengruppen hindurch durchhält: Als glücklicher* bezeichnen sich jeweils diejenigen, die sich in der sozio-ökonomischen Hierarchie auf einem jeweils höheren Niveau befinden, wobei die jeweils spezifische 50

Tibor Scitovsky: Psychologie des Wohlstands, S. 118.

51

J. L. Simon: Interpersonal Welfare Comparisons Can be Made - And Used for Redistribution Decisions: Kyklos 27, 1974, Tab. 2, S. 86, zitiert bei: Tibor Scitovsky , Psychologie des Wohlstands, S. 118. 52

N.M. Bradburn: The structure of psychological well-being, Chicago 1969, S. 97.

53

Katona / Strümpel /Zahn: S. 92 f.

54

RA. Easterlin: S. 89-125.

4. Geltungskonkurrenz und Zufriedenheit

35

nationale Hierarchie den Bezugspunkt abgibt. Jemand, der sich etwa in Indien in der Mitte der sozio-ökonomischen Hierarchie befindet, schätzt sich hinsichtlich seines subjektiven Glücks ebenso ein wie jemand, der in den USA in der Mitte der sozioökonomischen Stufenleiter steht, auch wenn dieser ein Vielfaches des Einkommens des Inders bezieht. ... Da sich jeder mit jedem anderen Angehörigen seiner Nation vergleicht, schätzt er seine eigene Lage nach Maßgabe der in seiner Nation bestehenden Verteilung von Lebenschancen und orientiert seine Selbstzufriedenheit, seine Selbstachtung, sein Selbstbewußtsein daran." 55 Auf die Relativität von Zufriedenheit und Identität weisen übrigens auch die Armutsgrenzen in Ländern unterschiedlichen wirtschaftlichen Standards hin. Die folgende Aufstellung zeigt eine Variationsbreite etwa zwischen einem Fünftel und einem Drittel des Pro-Kopf-Bruttoinlandsproduktes. Wie unterschiedlich immer die Armutsgrenzen in absoluten Beträgen sind, enthalten sie doch eine Aussage über den als noch zumutbar empfundenen materiellen Mindeststandard, der noch Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft gewährt. Armut ist in der Ökonomie zu einem relativen Begriff geworden.56

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Armutsgrenze (ohne Renten) in ausgewählten Ländern und Jahren 57

USA (1965) Schweiz (1966) Kanada(1965) Dänemark (1965) Finnland (1967) Frankreich (1965) Verein. Königreich (1963) BR Deutschland (1962) Japan (1964) Irland (1962) Ägypten (1953)

BIP / Kopf uss

Individuelle Armutsgrenze als % des BIP / Kopf

3.240 2.265 2.156 2.070 1.801 1.626 1.395 1.321 717 639 92

25,8 30,3 23,3 24,4 24,1 22,4 32,8 25,4 30,3 24,3 21,0

55 Dieter Birnbacher: Was wir wollen, was wir brauchen und was wir wollen dürfen, in: Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein - Bedürfnisforschung und Konsumkritik, hrsg. von Klaus M. Meyer-Abich und Dieter Birnbacher. München 1979, S. 52 f. 56 57

Vgl. Fred Hirsch: S. 163.

Quelle: Koji Taira: Consumers Preferences, Poverty Norms and Extent of Poverty, in: Quarterly Journal of Economics and Business 1969, S. 37, zitiert in: Tibor Scitovsky: Psychologie des Wohlstands, S. 102. 3'

36

Β. Knappheiten

Zurück zur Frage nach dem Grund des allgemeinen Strebens der einzelnen nach Erhöhung des Einkommens- und Konsumstandards trotz Sattheit und Überfluß. Eine von der eigenen Rangposition in der ökonomischen Hierarchie abhängige Identität - Ansehen, Zufriedenheit, Selbstachtung, Selbstwertgefühl führt zu einem allgemeinen Positionsgerangel, welches sich im Wunsch nach jeweils mehr Geld und Konsum ausdrückt. Die Identität des einen basiert auf dem Identitätsdefizit des anderen . Nur ganz wenige überholen die anderen klar und auf Dauer, während andere abstürzen und die meisten auf demselben Zufriedenheitsniveau verbleiben. Das allgemeine Zufriedenheitsniveau bleibt gleich - aufs Ganze einer Nation gesehen ein Nullsummenspiel, was Katona / Strümpel / Zahn bemerken läßt: „Familie, Schule und Arbeitsplatz - die wichtigsten Institutionen, die die Persönlichkeitsstruktur und die Ziele der Amerikaner prägen - wirken zusammen, um den Grad der Disziplin zu vermitteln, der nötig ist, soll ein Individuum beständig und immer wieder ein Ziel verfolgen, das ihm jeweils unter den Fingern entgleitet." 58 Die Frage nach dem Motiv der einzelnen , dieses Spiel zu treiben, scheint vorerst ansatzweise geklärt; die Frage des Sinnes kollektiven Strebens nach ständiger Einkommens- und Konsumsteigerung ist damit aber nicht beantwortet .

58

Robert Merton: S. 137, zitiert in: Katona / Strümpel / Zahn, S. 213,

C. Triumphe der Marktwirtschaft Wenn man sich an eine Kritik der real existierenden Marktwirtschaft und an einen Vorschlag zur ordnungspolitischen Weiterentwicklung des Systems wagt, ist es angebracht, zunächst dessen Erfolge zu würdigen. Seine Errungenschaften müssen gerade dann ins Bewußtsein gerufen werden, wenn sie heute als selbstverständlich empfunden werden.

1. Konsum als Zweck der Marktwirtschaft Konsum ist von Anfang an der einzige Zweck der Marktwirtschaft. Diese Zielbestimmung gilt in der marktwirtschaftlichen Theorie und Ideologie bis heute. Von Triumphen der Marktwirtschaft zu sprechen ist nicht nur wegen deren Effizienz berechtigt, sondern auch im Hinblick auf den festgeschriebenen Anspruch des Systems: die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung optimal zu befriedigen. 59 Daß die Befriedigung der Konsumbedürfnisse tatsächlich das ursprüngliche und eigentliche Ziel der Marktwirtschaft bildet, erscheint zunächst durch die berühmte These ihres wichtigsten Begründers, Adam Smith, belegt, welche übrigens von John Maynard Keynes fast zweihundert Jahre später mit den nahezu gleichen Worten bestätigt und bekräftigt werden wird. 60 Smith sagt bekanntlich:

59 Zum Begriff des Konsums: „Unter Konsum im weiteren Sinne versteht man die Nutzung von Leistungen knapper Güter zum Zwecke der unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse der Letztverbraucher." „Unter Konsum im engeren Sinne versteht man die Einkommensverwendung für Zwecke des Konsums im weiteren Sinne oder die Marktentnahme von Konsumgütern/' „Konsum im engeren Sinne ist die Nachfrage der Letztverbraucher." (Erich und Monika Streissler, Hrsg: Konsum und Nachfrage, Köln-Berlin 1966, S. 13.) 60

John Maynard Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money, deutsch: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1955, S. 89.

C. Triumphe der Marktwirtschaft

38

„Konsumtion ist der alleinige Zweck aller Produktion". 61 Und dieser Satz erschien ihm angesichts der damals herrschenden Not so selbstverständlich, daß er seine Begründung expressis verbis für entbehrlich hielt. Konsum als alleiniger Zweck der Wirtschaft hat im marktwirtschaftlichen Konzept den Rang einer Fundamentalthese. 62 Das gesamte System des Freihandels 63, der Konkurrenz 64 und der Arbeitsteilung zielt auf die niedrigsten Kosten, auf die niedrigsten Preise und damit letztlich auf den maximalen Verbrauchernutzen ab. Dieses Prinzip wird - tendenziell weltweit - mit oft geradezu brutaler Konsequenz, wenngleich ideologisch im Namen der Humanität, durchgezogen. Eine Berücksichtigung anderer als der Verbraucherinteressen bildet im marktwirtschaftlichen Konzept nur die Ausnahme. Die Maximierung des Konsumentennutzens gilt als das letzte und durchschlagende Argument. Es besteht kein Zweifel, daß dieses Prinzip auch heute, nicht nur zur Zeit des Massenelends von früher, überragende Gültigkeit und Handlungsmächtigkeit besitzt oder doch, systemkonform, besitzen soll. 65 Alfred Müller-Armack, repräsentativer Sprecher der Sozialen Marktwirtschaft, formuliert: „Entscheidend für die Marktwirtschaft ist die strenge Hinordnung aller Wirtschaftsvorgänge auf den Konsum ..." 66. 61

Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, deutsch: Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes (Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, hrsg. von Heinrich Waentig, Bd 12, 2. Aufl., Jena 1923, 2. Bd, S. 518). - Es kann kein Zweifel bestehen, daß Adam Smith mit seinem ökonomischen Gesamtkonzept die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Steigerung des Wohlstandes für alle, gerade auch für die Armen, angestrebt hat (vgl. Leonhard Bauer / Herbert Matis: Geburt der Neuzeit - Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft, München 1988, S. 487 ff.). 62

Peter Meyer-Dohm: Sozialökonomische Aspekte der Konsumfreiheit - Untersuchungen zur Stellung des Konsumenten in der marktwirtschaftlichen Ordnung, Freiburg im Breisgau 1965, S. 43: Konsum als einziger Zweck des Wirtschaftens ist „von den Erben des Smit/zschen Lehrgebäudes in den Rang einer Hauptthese erhoben worden." 63 Ebenda, S. 44: „Die Freihandelslehre ist seit Adam Smith immer unter dem Hinweis auf das Verbraucherinteresse verfochten worden." 64

Alfred Müller-Armack: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, in: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 1946, S. 93: „Das Konkurrenzsystem der Marktwirtschaft dient gerade dadurch dem Gesamtnutzen, daß es die Einzelinteressen auf die Erfüllung volkswirtschaftlich nützlicher Leistungen ausrichtet ..." 65 Das gilt nicht nur für die Gesamtwirtschaft, sondern auch für die Einzelwirtschaft. So fordert der Grundgedanke des Marketing, einer in der Gegenwart unbesü ittenen unternehmenspolitischen Maxime, Orientierung an den Kundenbedütfnissen (für alle Autoren: Philip Kotler: Marketing-Management, Stuttgart 1974, Zweite Aufl., S. 18). 66

Alfred Müller-Armack:

Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft (1946), S. 90 f.

2. Überwindung der Not

39

Das Plansoll der Marktwirtschaft ist heute nicht nur erfüllt, sondern übererfüllt. In wichtigen Branchen herrscht weltweit Überproduktion. In der Überflußgesellschaft bildet nicht mehr die Produktion, sondern der Absatz das betriebswirtschaftliche Hauptproblem. Das ist auch durch die riesigen Werbeaufwendungen zum Zweck der Bedürfnisweckung und des Verkaufs 67 belegt. Die Wirtschaft vermag heute nicht nur die aktuellen, als Nachfrageinitiative des Konsumenten geltend gemachten Wünsche zu befriedigen. Sie ist bemüht, darüber hinaus auch unsere „latenten Bedürfhisse" aufzuspüren, zu wecken und zu befriedigen - ein Anspruch und eine Praxis, die in der Folge zu problematisieren sein werden.

2. Überwindung der Not Die Überwindung des Massenelends von früher ist nicht nur dem technischen Fortschritt, sondern auch dem marktwirtschaftlichen System zu danken. Zur Zeit des Entstehens des marktwirtschaftlichen Konzeptes vor gut zweihundert Jahren herrschte Massenelend. Paul Kennedy schildert die damaligen Zustände als unbefriedigtes „Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung, Obdach und Arbeit... Jede Hütte auf dem Lande schien von kleinen Kindern zu wimmeln. Die Behörden in den Städten kämpften mit einer wachsenden Flut von Vagabunden. In den größeren Städten gab es eine heimatlose Bevölkerung von Zehntausenden von Arbeitslosen, die nachts auf nackter Erde schliefen und sich tagsüber in die Straßen der Stadt ergossen. Gefängnisse, Armenhäuser, Findlingshospitäler und Irrenanstalten waren überfüllt von den Unglücklichen, die ihr gemeinsames Grab noch nicht gefunden hatten." 68 Dem setzte die Marktwirtschaft zwar nicht von heut auf morgen ein Ende, aber im großen und ganzen kann man doch sagen, daß sich die Lage der meisten Menschen dort, wo dieses Wirtschaftssystem in demokratisch regierten Ländern mit einiger Konsequenz praktiziert wurde, seither ganz entscheidend verbessert hat. 69 67

Vgl. oben S. 23 ff.

68

Paul Kennedy: In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1993, S. 15 f. 69 Reste von Not bei Bevölkerungsgruppen, deren Interessen nicht von mächtigen Lobbies vertreten werden, sind freilich nicht zu übersehen. Aber wenn heute vielfach von „neuer Armut" die Rede ist, so ist zu beachten, daß die Armutsgrenzen in den entwickelten Ländern regelmäßig dem (gestiegenen) Lebensstandard angepaßt werden. Sie markieren hier nicht ein „physiologisches Existenzminimum", sondern eher einen „Mindestlebensstandard", welcher die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft ermöglicht und repräsentiert (Tibor Scitovsky: Psychologie des Wohlstands, S. 101 f.).

C. Triumphe der Marktwirtschaft

40

Wenn man dieses Verdienst oft vor allem der Entwicklung der Technik zuzuschreiben neigt, wird man dem Anteil unseres Wirtschaftssystems nicht gerecht. Gewiß hat der technische Fortschritt dabei eine bedeutende Rolle gespielt, doch ohne entsprechende Kapitalbildung durch die Gewinne der Unternehmungen hätten die verbesserten technischen Möglichkeiten zur Überwindung des Massenelends nicht genutzt werden können, weil die Mittel für die erforderlichen Investitionen gefehlt hätten. Das marktwirtschaftliche System war und ist eine treibende Kraft des technischen Fortschritts. 70 An Produktivität ist die Marktwirtschaft insbesondere einer Zentralverwaltungswirtschaft überlegen. Das marktwirtschaftlich-kapitalistische System hat sich trotz seiner Schattenseiten als Chance der Überwindung materieller Not im jeweils eigenen Land im großen und ganzen bewährt. 71 Zur Illustration eine Gegenüberstellung der Bruttoinlandsprodukte (BIP) einiger Volkswirtschaften auf vergleichbarer Kulturstufe, doch mit unterschiedlichen Wirtschaftssystemen. Die Daten stammen aus dem Zeitraum Mitte bis Ende der achtziger Jahre, also vor der „Wende" in Osteuropa 72:

Land Rumänien Polen Ungarn Bulgarien Jugoslawien Sowjetunion Tschechoslowakei DDR Spanien Italien Großbritannien

BIP pro Kopf in Dollar 3000 4000 4500 4750 5000 6000 7750 8000 8989 10682 12270 - Fortsetzung -

70

Joseph A. Schumpeter : Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 5. Aufl. München 1980, S. 181). 71 Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg im Breisgau 1966, S. 131: „Als sozialpolitischen Gewinn müssen wir ... die größere wirtschaftliche Ergiebigkeit der Marktwirtschaft buchen, durch die im 19. Jahrhundert der Reallohn um ein Vielfaches gesteigert wurde. Der damit entfesselte Güterstrom kam der Konsumtion zugute, an der die breiten Schichten in gleichem, wenn nicht sogar in höherem Maße Anteil hatten." 72

UN-Entwicklungsprogramm, zitiert in Paul Kennedy: S. 445 ff.

3. Materieller Wohlstand

41

- Fortsetzung Land

BIP pro Kopf in Dollar

Österreich Niederlande Japan Schweden Frankreich BRD Schweiz USA

12386 12661 13135 13780 13961 14730 15403 17615

Bei einem solchen Produktivitätsvergleich darf eine Reihe anderer Faktoren, vor allem das politische System, selbstverständlich nicht unbeachtet bleiben. Der Vergleich sagt zwar über die Verteilung des Wohlstands in den einzelnen Gesellschaften nichts aus, er gibt aber sehr wohl Auskunft über die systembedingt unterschiedlichen Chancen der Überwindung von Not.

3. Materieller Wohlstand Wo immer das kapitalistisch-marktwirtschaftliche System in demokratischen Gesellschaften lange Zeit hindurch praktiziert wurde, ist aus Mangel Wohlstand geworden. Während in früheren Zeiten Wohlstand und Aufstiegsmöglichkeiten auf eine dünne Oberschicht beschränkt waren und der Lebensstil des Adels, der Kaufleute und Unternehmer von dem der breiten Masse sehr verschieden war, können sich heute die meisten Menschen stets neuartige Waren kaufen, die früher unbekannt bzw. als Luxusartikel nur für wenige erschwinglich waren. Heute gibt man Geld nicht nur für das Lebensnotwendige aus, sondern auch für das Begehrte. Die Emanzipation aus materiellen Zwängen ist für die meisten vollzogen. 73 Dazu einige Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich des Ausstattungsgrades der Privathaushalte (Hauhaltstyp 2) der Jahre 1965 und 1986 74 :

73

Vgl. Katona / Strümpel /Zahn: S. 15 f.

74

Statistisches Bundesamt, zitiert in: Roland Hirscher: S. 144.

C. Triumphe der Marktwirtschaft

42

Ausstattungsgrad der Privathaushalte Jahr PKW Farbfernsehgerät Schwarz-Weiß-Fernseher Stereoanlage Fotoapparat Tiefkühltruhe Gefrierkombination Elektrische Nähmaschine

1965

1986

30%

93 % 90% 40% 56 % 98 % 72% 23 % 77%



%

69 % —

%

78 % 2% —

%

26 %

Die Zunahme des Wohlstands hat sich fortgesetzt. Die Rolle des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems läßt sich an der Entwicklung Ostdeutschlands nach der „Wende" eindrucksvoll erkennen: „Zumindest wenn's ums Fernsehen geht, ist die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West längst erreicht... Auch bei Telephonen holt der Osten mächtig auf. 1995 hatten immerhin vier von fünf Haushalten einen eigenen Anschluß - vier Jahre zuvor waren es nur 17,6 Prozent. Die Telekommunikation boomt auch gesamtdeutsch."75 Der Anteil der Privathaushalte mit Haus- und Grundbesitz in der Bundesrepublik Deutschland erhöhte sich von 37,9 Prozent im Jahr 1962 / 63 auf 45,5 Prozent im Jahre 1983.76 Der Blick auf die Vermögensbildung privater Haushalte darf auch dann nicht fehlen, wenn dem Eigentum oft eine erhebliche Schuldenlast gegenübersteht. In gewissem Sinn kann ja auch die gewachsene Kreditwürdigkeit der Privathaushalte als Zuwachs an Vermögen im Sinn von Dispositionsmöglichkeit gelten. Der wirtschaftliche Entscheidungsspielraum der Durchschnittsfamilie hat sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutend erweitert. 77 Als Beispiel für die Wohlstandssteigerung im Bereich des Konsums seien schließlich noch die Ausgaben für Auslandsreisen angeführt - wenn man beruflich bedingte Auslandsreisen abrechnet, zur Gänze ein Konsumvergnügen weit jenseits aller Notwendigkeit. Im Jahr 1993 gaben die US-Amerikaner für Auslandsreisen rund 41,3 Milliarden Dollar, die Deutschen 37,5 Milliarden Dollar und die Japaner 26,9 Milliarden Dollar aus. Pro Kopf belegten die Öster-

75

Die Zeit Nr. 7 vom 7. 2. 1997, S. 18 (Quelle: Statistisches Bundesamt, DVI, Stand

1995. 76

Statistisches Bundesamt, zitiert bei Roland Hirscher, S. 136.

77

Katona / Strümpel /Zahn: S. 57.

3. Materieller Wohlstand

43

reicher mit 1.020 Dollar den ersten Rang, auf Platz zwei folgten die Schweizer mit 840 Dollar, Rang drei belegten die Belgier mit 640 Dollar. 78 Als Wohlstandssteigerung ist auch die Verkürzung der Arbeitszeit zu werten. Die folgende Tabelle bietet einen Langzeitüberblick über die Entwicklung der wöchentlichen Arbeitszeit von Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland79:

Jahr 1825 1850 1900 1940 1950 1960 1970 1980 1985

Arbeitsstunden pro Woche

82,0

68,0 60,0 50,0 48,0 44,6 41.5 41,2 39.6

Nicht weniger beeindruckend ist die Verlängerung der jährlichen Urlaubszeit in Deutschland von 15,5 Tagen 1960 auf 30,2 Tage 1986. Im Jahre 1960 waren einschließlich der Sonn- und Feiertage ca. 100 Tage arbeitsfrei, im Jahr 1986 aufgrund der längeren Urlaube und der freien Samstage ca. 150 Tage,so Während den meisten Menschen noch vor zwanzig Jahren der Bezug wichtiger als die Freizeit war, rangiert er heute (1990) auf der Werteskala auf dem fünften Platz, die „Freizeit ist zum Lebensideal geworden." 81 Den dank der Marktwirtschaft erreichten Massenwohlstand weiter zu dokumentieren ist schon deshalb müßig, weil er als Tatsache anerkannt scheint.82 Die Anziehungskraft des westlich-marktwirtschaftlichen Konsumstandards hat auch nicht unwesentlich zum Zusammenbruch der osteuropäischen Zentralverwaltungswirtschaften beigetragen. Geblendet vom westlichen Wohlstand wollen

78

World Tourism Organization, zitiert in: Die Presse vom 17. 2. 1995, S. 17.

79

H.J. Anders: Freizeit: „Stille Reserven" in besetzten Märkten, in: GFK-Nürnberg (Hrsg.): Rosa Zeiten für Konsum - an der Schwelle der „7 fetten Jahre"?, ohne Ort 1986, S. 24, zitiert in: Roland Hirscher: S. 183. 80

Zitiert in: Roland Hirscher: S. 183 f.

81

Horst W. Opaschowsky: Freizeit, Konsum und Lebensstil, Köln 1990, S. 15.

82

Eine empirisch fundierte Übersicht über den Lebensstil der Wohlstandsgesellschaft bietet Horst W. Opaschowski , ebenda.

44

C. Triumphe der Marktwirtschaft

nun alle die Früchte der Marktwirtschaft genießen - ein Triumph besonderer Art für dieses Wirtschaftssystem. Der Aufbau wirksamer sozialer Sicherungsnetze in marktwirtschaftlich verfaßten Ländern kann zwar dem marktwirtschaftlichen System nicht unmittelbar zugerechnet werden, weil es nur Marktleistungen honoriert, nicht Hilfebedürftigkeit. Aber dieses Wirtschaftssystem hat aufgrund seiner Produktivität die Möglichkeit des Auf- und Ausbaus gewaltiger sozialer Sicherungen geschaffen, welche im Wege der Umverteilung den wirtschaftlich Schwachen zugute kommen können.83

83

Die Tatsache, daß die sozialen Sicherungsnetze in manchen marktwirtschaftlich organisierten, im übrigen hochentwickelten Ländern unterentwickelt sind, läßt sich nicht als Argument gegen die vom marktwirtschaftlichen System geschaffenen Möglichkeiten einwenden. Andererseits ist freilich nicht zu leugnen, daß insbesondere eine calvinistisch fundierte kapitalistische Ideologie zur Verminderung der Chancen für die sozial Schwächeren neigt. Paul Kennedy (S. 387) berichtet, daß in den USA 30 Prozent der Afro -Amerikaner und 20 Prozent der Hispano-Amerikaner unter der offiziellen Armutsgrenze leben. Aber das kann man nicht dem System der Marktwirtschaft als solchem anlasten, es resultiert aus ideologischen und politischen Positionen.

D. Leidensgeschichte der Marktwirtschaft 1. Ein Widerspruch im System: Die These Die Wirtschaft ist im marktwirtschaftlichen Konzept ausschließlich Mittel (für den Konsum als ihren einzigen Zweck); doch andererseits kann sie nicht bloß Mittel sein, weil auch der Mensch als Arbeitskraft Teil der Wirtschaft ist. Die Überwindung der Not und die Erreichung des Wohlstands von heute haben schwere Opfer gekostet. Um den systemimmanenten Grund der „Leidensgeschichte" der Marktwirtschaft zu sehen, lohnt eine grundsätzliche Überlegung bezüglich der alles Wirtschaften fundierenden Kategorie von Mittel und Zweck. Sie wird sich auch für das Verständnis des Kurzschlusses der heute real existierenden Marktwirtschaft, das eigentliche Thema dieser Arbeit, als fundamental erweisen. Auszugehen ist von der marktwirtschaftlichen Fundamentalthese, daß Konsum der alleinige Zweck der Wirtschaft ist. Diese These besagt denknotwendig, daß die Wirtschaft Mittel für den Konsum ist - genauer: ausschließlich Mittel Das ist nicht bloß Theorie. Die Praxis entspricht dieser Zielbestimmung der Wirtschaft vollkommen, denn die marktwirtschaftlichen Funktionsmechanismen sind konsequent auf Konsum und den Nutzen des Konsumenten ausgerichtet. Der Gegensatz von Mittel und Zweck ist in kategorialer Radikalität systemkonstitutiv. Zweck, Selbstzweck, ist im marktwirtschaftlichen System einzig und allein der Konsum. Im Verständnis der Marktwirtschaft gibt es innerhalb der Wirtschaft schlechthin nichts, was als Selbstzweck Eigenwert besäße und deshalb um seiner selbst willen verwirklicht werden sollte. Diese These von der bloßen „Instrumentality " der Wirtschaft läßt sich freilich nicht in jedem beliebigen Lehrbuch nachlesen. Das Mittel-ZweckVerhältnis, in welchem die Wirtschaft in der Gesellschaft die Rolle eines bloßen Mittels spielt, fundiert das marktwirtschaftliche Denken und Handeln in solcher Selbstverständlichkeit, daß der Sachverhalt meist unerwähnt, wenn nicht unreflektiert bleibt. Um es in diesem fundamentalen Sachverhalt nicht an terminologischer Klarheit fehlen zu lassen, darf angemerkt sein, daß hier von „Mitteln" und

46

D. Leidensgeschichte der Marktwirtschaft

„Zwecken" durchaus i m umgangssprachlichen Sinn die Rede ist. Dennoch erscheint es angebracht zu präzisieren, was hier unter Mitteln und was unter Zwecken verstanden ist: „ M i t t e r haben ihren Wert nicht in sich, sondern außer sich, und zwar i m Zweck, dem sie dienen;,Zwecke" hingegen haben ihren Wert in sich, nicht außer sich. Mittel sollen aufgewendet werden, um Zwecke zu verwirklichen. Auch wenn sie dabei zugrunde gehen, haben sie ihren Sinn als Mittel durch die Erreichung des Zweckes erfüllt. Nun zur These des Systemfehlers im marktwirtschafüichen Konzept. Sie erkennt den Satz „die Wirtschaft ist bloß M i t t e l " als richtig und falsch zugleich. Er ist einerseits richtig i m Hinblick auf die marktwirtschaftliche Ideologie und Praxis: denken und handeln doch die Wirtschaftssubjekte tatsächlich so, als ob die Wirtschaft in allen ihren Teilen ausschließlich Mittelcharakter besäße; andererseits ist er insofern falsch, als die Wirtschaft nicht bloß M i t t e l sein kann, weil es j a nicht nur Sachgüter, sondern auch Menschen sind, die in der Wirtschaft arbeiten. 84 Das ist zu verdeutlichen: Als „Produktionsfaktor Arbeit" sind Menschen Teile der Wirtschaft und als solche - im marktwirtschaftlichen Konzept - bloß Mittel. Wie bei einem Sachgut unterliegt der Preis der Arbeit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Der Mensch kann jedoch - so meine These - seinem Wesen

84

Deshalb kritisiert Erich Egner: Grundsätze der Verbraucherschutzpolitik, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen 6, Göttingen 1956, S. 201, die bloße Mittelhaftigkeit der Wirtschaft als undenkbar: Die „These von der Instrumentalität der Wirtschaft, genauer von der bloßen Instrumentalität der Wirtschaft im allgemeinen und der Produktion im besonderen, ist ein vollendeter ontologischer Irrtum." - Othmar Spann hingegen hat die Trennung des rein mittelartigen gesellschaftlichen Subsystems Wirtschaft von den Zwecksystemen der Gesellschaft besonders radikal vollzogen: „Betrachten wir die verschiedenen Gebiete der Gesellschaft, so finden wir als solche, die ihrem Wesen nach das Wertvolle, die Zwecke zum Inhalte haben, Gebiete wie: Wissenschaft, Kunst, Religion, Sittlichkeit, Recht, Staat, denen das Wahre, Schöne, Heilige, Gute, Rechte als Urwert zugrunde liegt. Das einzige Gebiet hingegen, dem der Wert in jenem Sinne des Selbstzweckes fehlt, ist die Wirtschaft. Sie liegt im Reich der Mittel." (Othmar Spann: Fundament, S. 39.) Zugleich (ebenda, S. 41 ff.) unterscheidet Spann aber zwischen „reinen Mitteln" und „Mitteln höheren Stammes", das sind Mittel, die zugleich auch Zwecke sind. An erster Stelle nennt er (ebenda, S. 42) die Arbeit: „Diese ist zwar zunächst nur Mittel, da sie als Mühe und Leid nicht selbst gewollt wird , sondern weil und sofern sie der Erreichung eines Zieles dient. Sofern die Arbeit aber doch aus Freude an der Betätigung der Kräfte und um des sittlichen Wertes willen, der in ihr steckt, also rein um ihrer selbst willen gewollt wird, insofern ist sie zugleich Selbstzweck, nicht mehr Mittel." - Das Problem solcher Differenzierung ersparen sich freilich alle jene Autoren, für die Arbeit im Sinne der herrschenden Theorie bloß ein Produktionsfaktor unter anderen Produktionsfaktoren ist und bloß als solcher behandelt wird. Für sie ist die Wirtschaft durch und durch bloß Mittel.

2. Bloße Instrumentalität der Wirtschaft

47

gemäß niemals bloß Mittel sein, auch wenn er bloß als Mittel verwendet wird, paradigmatisch in jeder Art von Sklavenarbeit. Denn der Mensch hat seinen Wert nicht bloß außer sich (als Mittel für irgendeinen anderen Zweck), sondern er hat seinen Wert auch in sich selbst. Der Mensch ist auch Selbstzweck . Diese These läßt sich von der Wissenschaft nicht einfach als ethisches Werturteil abwehren, sie ist auch empirisch verifizierbar. Denn das Motiv, nicht bloß Mittel - also Sklave - zu sein, ist eminent geschichtsmächtig geworden. Das wird noch zu erörtern sein; zuvor aber die keineswegs polemische Frage, ob einer von jenen, die dem zu widersprechen neigen, selbst bloß Mittel für die Zwecke anderer sein wollte? Die Verifizierung des fundamentalen Widerspruchs im System der Marktwirtschaft wird demnach zweierlei nachzuweisen haben: erstens, daß die Wirtschaft in Konzept und Praxis der Marktwirtschaft tatsächlich die Rolle eines bloßen Mittels spielt; und zweitens, daß die bloße Instrumentalität der Wirtschaft in bezug auf den arbeitenden Menschen durch die Praxis als unhaltbar widerlegt ist .

2. Bloße Instrumentalität der Wirtschaft Die Marktwirtschaft ist in allen ihren Teilen und Handlungsvollzügen tatsächlich nichts als bloßes Mittel. Zuerst zur Erhärtung der - im anschließenden Abschnitt als unhaltbar zu widerlegenden - These von der bloßen Instrumentalität der Wirtschaft. Dieser grundlegende Befund stützt sich keineswegs nur auf die Smith'sehe Fundamentalthese, sondern auch auf die wesentlichen Systemkriterien und Funktionsmechanismen der Marktwirtschaft. Daß die folgende Argumentation nur Bekanntes zitiert, sollte ihre Beweiskraft nicht schmälern. Die bloße Instrumentalität der Wirtschaft ist zunächst durch das Konkurrenzsystem belegt, welches die minder leistungsfähigen Unternehmungen aus dem Markt wirft und bedenkenlos vernichtet. Das wäre unmöglich, wäre den im Wettbewerb unterlegenen Unternehmungen ein Wert über die bloße Mitteltauglichkeit hinaus zugeordnet. Ohne über die Zweckmäßigkeit solcher Theorie und Praxis zu befinden, geht es hier nur darum, daß die am Markt vorbeiproduzierenden Unternehmungen als untaugliche Mittel der Vernichtung preisgegeben sind. Wilhelm Röpke sagt einmal, die Marktwirtschaft werde durch den Konkurs regiert. So ist es in der Tat, und dem marktwirtschafüichen Konzept zufolge soll es auch so sein. Untaugliche Mittel büßen eben ihren Mittelcharakter ein, sie sind

48

D. Leidensgeschichte der Marktwirtschaft

wertlos, sie haben keine Existenzberechtigung mehr. Deshalb bestraft die Marktwirtschaft ein Unternehmen, das sich im Markte nicht bewährt, mit dem Konkurs als dem wirtschaftlichen Tod. Die Verwendung der Wörter „Exekution" und „Vollstreckung" im Strafrechts Vollzug wie im Insolvenzrecht erscheint nicht zufällig. Damit soll keineswegs der Sinn des Konkurrenzsystems in Frage gestellt sein, es geht hier einzig und allein um den Nachweis des bloßen Mittelcharakters der Wirtschaft aus ihren praktischen Verfahrensweisen. Die Strenge des Konkurrenzsystems wäre undenkbar und unmöglich, wenn die Wirtschaft hier nicht die Rolle eines bloßen Mittels spielte. Daß der Wirtschaft im marktwirtschaftlichen System die Rolle eines bloßen Mittels zugeordnet ist, zeigt sich weiters in der Radikalität der Anwendung des wirtschaftlichen Prinzips (kleinster Aufwand bei größtem Nutzen) als Entscheidungsnorm. Den Aufwand an Mitteln zu minimieren wird in den Betrieben schon jedem Lehrling eingebleut. Bei Knappheit der Mittel - Voraussetzung allen Wirtschaftens - wird die Minimierung des Mittelaufwandes zur zwingenden, in Theorie und Praxis unbestrittenen Handlungsnorm. Die bloße, durchgängige Instrumentalität der Wirtschaft zeigt sich nun in der fraglosen Selbstverständlichkeit, mit welcher ein unnötiger Mittelaufwand vermieden werden soll. Alle Unternehmungen bemühen sich um Rationalisierung, ohne sich mit der Frage zu befassen, ob durch die Vermeidung eines vermeidbaren Mittelaufwandes etwas an sich Wertvolles zugrunde gehe, bzw. unverwirklicht bleibe. Die Sachzwänge betriebswirtschaftlicher Entscheidungen ordnen den aufzuwendenden Gütern und Leistungen keinerlei Eigenwert zu. Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, für die Betriebe und Unternehmungen, sind sie eben nichts weiter als Mittel zum Zweck, welchen ohne Zweckdienlichkeit kein Wert zukommt - quod erat demonstrandum.

3. Arbeit als Mittel und als Selbstzweck Der „Produktionsfaktor Arbeit" fihrt das Verständnis der Wirtschaft bloßes Mittel ad absurdum. In Fortführung des Gedankens geht es nun, nach Erhärtung der These der bloßen Mittelhaftigkeit der Wirtschaft, um deren Widerlegung. Wie bereits bemerkt, kann der arbeitende Mensch nicht bloß als Mittel bewertet werden. Der arbeitende Mensch ist zwar einerseits Mittel, aber andererseits auch Selbstzweck. Die Doppelstellung der Arbeit und des arbeitenden Menschen wird nun näher zu begründen sein.

als

3. Arbeit als Mittel und als Selbstzweck

49

Zunächst ist auf ein zugegeben banales, eigentümlich widersprüchliches Phänomen hinzuweisen, das die Doppelstellung der Arbeit bezeugt. Viele, vielleicht sogar die meisten Menschen in unserer Gesellschaft, streben einerseits Arbeitstätigkeit und andererseits Arbeitszeitverkürzung an. Wir sind für Arbeit und gegen Arbeit zugleich, ein Widerspruch, der eine ambivalente Einstellung zur Arbeit erkennen läßt. Auch die Gewerkschaften ihrerseits repräsentieren diese Ambivalenz, indem sie einerseits für Vollbeschäftigung und andererseits bisher jedenfalls unabhängig vom jeweiligen Ausmaß der Normarbeitszeit - für Arbeitszeitverkürzung eintreten. Dieses Phänomen läßt sich nur zum Teil mit dem gewiß auch bestehenden Motiv maximalen Einkommens bei minimaler Anstrengung erklären. Denn Arbeitslosigkeit wird nicht nur wegen einer Verringerung des Einkommens als Unglück empfunden, sondern auch weil der Arbeitslose unter emotionalen Defiziten leidet. Bleiben ihm doch das Erlebnis der eigenen Leistungskraft und das Gefühl, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, teilweise vorenthalten. Arbeitstätigkeit als solche enthält zumindest potentiell einen hohen Befriedigungswert 85, Arbeit wird nicht nur zwecks Einkommenserzielung angestrebt. Während besonders Menschen in Führungsfunktionen und anderen anregenden, herausfordernden Tätigkeiten, mit denen sie sich identifizieren, geradezu in Arbeitsrausch verfallen können („workaholics"), wird Arbeitstätigkeit ohne Selbstverwirklichung, Arbeit als bloßes Mittel eben, abgelehnt.86 Der Eigenwert der Arbeit wird gerade in einer Zeit hoher Arbeitslosenraten bewußt. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze nimmt heute in den Regierungsprogrammen auch der Ersten Welt einen hohen Stellenwert ein. Soviel vorweg, um eine pauschale Sicht der Wirtschaft als bloßes Instrument in Frage zu stellen. Die Logik der weiteren Argumentation ist folgende: Wenn es wirklich dem Wesen des Menschen widerspricht, bloß Mittel zu sein, dann muß dies in seinem Wollen und Handeln zum Ausdruck kommen. Soweit er als Arbeitskraft tatsächlich nur die Funktion eines Mittels unter anderen Mitteln also wie ein Sachmittel - hat bzw. hatte, müßte sich nicht nur in der konkreten Arbeitssituation, sondern auch aus der Geschichte der Marktwirtschaft nachwei85 Vgl. oben S. 27 f. die Schätzung des Anteils der Befriedigung durch Arbeit an unseren Gesamtbefriedigungen. 86 G.W.F. Hegel : Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1975, S. 65: „Die Tätigkeit ist des Menschen Bedürfnis, Trieb, Neigung und Leidenschaft. Daran, daß ich etwas zur Tat und zum Dasein bringe, ist mir viel gelegen, ich muß dabei sein, ich will durch die Vollführung befriedigt werden. Ein Zweck, für welchen ich tätig sein soll, muß auf irgendeine Weise auch mein Zweck sein. Dies ist das unendliche Recht des Subjekts, daß es sich selbst in seiner Tätigkeit und Arbeit befriedigt findet."

4 Steiner

50

D. Leidensgeschichte der Marktwirtschaft

sen lassen, daß sich die arbeitenden Menschen dagegen wehrten und wehren. Und dann müßte die Geschichte der Marktwirtschaft (auch) eine Geschichte sozialer Kämpfe sein.

4. Sozialkämpfe Die Tatsache ständiger Sozialkämpfe in der Geschichte der Marktwirtschaft bezeugt, daß der arbeitende Mensch systemgemäß zwar bloß Mittel sein soll doch nicht bloß Mittel sein will Der oben skizzierte Widerspruch im System der Marktwirtschaft lautet: Die Marktwirtschaft ist ihrem Konzept, ihrer Ideologie, ihrer Substanz und ihrer Praxis nach bloß Mittel auch der arbeitende Mensch als „Produktionsfaktor". Nun kann der Mensch zwar auch die Funktion eines Mittels haben - wir alle gebrauchen einander ganz selbstverständlich auch als Mittel - , doch kann der Mensch seinem Wesen nach nicht auf Mittelsein reduziert werden. Deshalb ist es inadäquat, ihn bloß als Mittel, wie eine Maschine etwa, zu behandeln. Das resultiert aus seiner Freiheit und steht in der abendländischen Philosophie außer Streit. 87 Doch ist hier nicht philosophisch zu argumentieren. Der Praktiker wird sich unschwer durch die Erfahrungstatsache überzeugen lassen, daß nur der freiwillig arbeitende Mensch seine volle Arbeitsleistung erbringt. Zwangsarbeit gilt als ineffizientestes Arbeitssystem überhaupt. Das heißt, daß der arbeitende Mensch nur dann als Mittel voll funktionsfähig ist, wenn er nicht bloß als Mittel eingesetzt wird. Er braucht auch ein hinreichendes Maß an Selbstverwirklichung in der Arbeit. Je mehr ihm Selbstverwirklichung durch Zwang vorenthalten wird, desto geringer wird seine Arbeitsleistung, und zwar bis zu jener Grenze, wo die Sanktion für ein Leistungsdefizit schmerzlicher empfunden wird als das Arbeitsleid. Unter Zwang pendelt sich die Arbeitsleistung auf dem in diesem Sinn niedrigsten Niveau ein. Den geschichtlichen Nachweis für den Widerstand des arbeitenden Menschen gegen seine Totalverzweckung eigens zu führen sollte sich eigentlich erübrigen, weil die historische Tatsache permanenter sozialer Kämpfe in der Geschichte der Marktwirtschaft hinlänglich bekannt, ja bis heute ständige Erlebnis Wirklichkeit ist. So kann ich mich, ohne dem Verdacht spekulativer Konstruktion ausgesetzt zu sein, auf einige Hinweise beschränken. 87 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 1788, S. 155 f., formuliert: „In der gesamten Schöpfung kann alles ... auch bloß als Mittel gebraucht werden. Nur der Mensch ... ist Zweck an sich selbst."

6. Unternehmer und Manager

51

5. Arbeiterbewegung Die Arbeiterbewegung führte einen Emanzipationskampf Instrumentalisierung des arbeitenden Menschen.

gegen totale

Wenn man in der Geschichte der Marktwirtschaft nach Beispielen für den Widerstand des arbeitenden Menschen gegen seine Instrumentalisierung als bloßes Mittel sucht, ist zunächst natürlich die - teils revolutionäre, teils evolutionäre - Arbeiterbewegung anzuführen. Paul Kennedy liefert einen erschütternden Bericht über die Zustände damals: „... abgesehen von der kritischen Frage nach Arbeitsplätzen für die wachsende Bevölkerung, brachte die Industrialisierung der ersten und auch der zweiten Generation ihrer Arbeiter wenig Gutes. Sie litten unter entsetzlichen Bedingungen in den Fabriken und Bergwerken, sie waren in einem strengen, zeitkontrollierten Arbeitssystem, für das es kein geschichtliches Beispiel gab, praktisch an ihre Maschinen gefesselt." 88 Man denkt in diesem Zusammenhang natürlich primär an Streik und Aussperrung, an die Gewerkschaftsbewegung und an die im Lauf der Zeit erreichte, auch in der Gegenwart - jedenfalls bis vor kurzem - unter politischem Druck sich weiterentwickelnde Sozialgesetzgebung. War es ursprünglich ums nackte Überleben der „Arbeiterklasse" gegangen, so ging und geht es in der Folge um die Humanisierung der Arbeitsbedingungen, um ein Gutes Leben in Sicherheit und Wohlstand sowie um den größtmöglichen Anteil am Sozialprodukt.

6. Unternehmer und Manager Im marktwirtschaftlichen System sind auch die Unternehmer und Manager als bloße Werkzeuge instrumentalisiert. Bemerkenswerterweise waren es die Unternehmen welche sich schon früh gegen die Brutalität des Konkurrenzsystems zu wehren versuchten und dies bekanntlich bis heute tun. Im Konkurrenzsystem ist ja auch der Unternehmer insofern als bloßes Mittel vereinnahmt, als er wirtschaftlich vernichtet wird, wenn er im Markte unterliegt. Um das Konkurrenzsystem zu retten, mußte und muß der Gesetzgeber einschreiten. Nun mag der Kampf gegen den freien Wettbewerb gewiß auch auf das Gewinnstreben der Unternehmer zurückzuführen sein; aber das Gewinnstreben seinerseits entspringt nicht nur der Habgier,

88

4*

Paul Kennedy: S. 21.

D. Leidensgeschichte der Marktwirtschaft

52

wie das gerne gesehen wird, sondern auch dem begreiflichen Wunsch, sich durch Stärkung des Eigenkapitals gegen den systemimmanent drohenden Existenzverlust abzusichern. Auch die Manager ihrerseits wehren sich gegen Ausbeutung. Wenn ihnen nachgesagt wird, sie würden die von ihnen geleiteten Unternehmungen oft für ihre eigenen Zwecke benutzen89, so mag unbewußt auch eine Art Revanchebedürfnis mitspielen. Das Gefühl, ausgebeutet zu werden, wird durch die in aller Regel herrschende Erwartung totaler Verßgbarkeit, wie bei einem Sachmittel, verständlich. Wenn der Manager nicht Existenz und Karriere aufs Spiel setzen will, muß er dieser Erwartung entsprechen. Der Manager wird zwar durch Macht, Status und Einkommen belohnt, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß er eigentlich bloß als Werkzeug betrachtet und verwendet wird. Der Widerstand dagegen findet zwar in der Öffentlichkeit wenig Beachtung, weil man den Manager, wie auch den Unternehmer, eher als Nutznießer denn als Opfer des Systems zu sehen pflegt und weil sich der Sozialkampf auf dieser Ebene überwiegend hinter den Kulissen abspielt. Aber auch Manager sind Menschen und nicht bloß Werkzeuge. Ihre Erfolge im Sozialkampf - hohe Bezüge, Firmenpensionen, Privilegien verschiedener Art - verdanken sie weniger der Menschenfreundlichkeit der Aufsichtsräte und Aktionäre, als ihrem Wert auf dem Arbeitsmarkt als hochqualifizierte, total engagierte Mittel.

7. Betriebliche Sozialpolitik Unternehmer und Manager haben erkannt, daß der arbeitende Mensch ein Wirtschaftsmittel besonderer Art ist. Im großen und ganzen hat sich die Emanzipation der Arbeitnehmer gegen den Widerstand der Arbeitgeber vollzogen, nicht unbedingt aus Inhumanität der Entscheidungsträger in den Unternehmungen, sondern aufgrund von Sachzwängen. Denn höhere Arbeitskosten verringern Erträge und Konkurrenzfähigkeit. So wird die tatsächliche Entwicklung durch einen dialektischen Widerspruch bestimmt: Einerseits muß der arbeitende Mensch bloß als Mittel behandelt werden, um die Kosten zu minimieren; andererseits darf er nicht bloß als Mittel behandelt werden, um seiner Leistungsentfaltung nicht im Wege zu stehen. Dieser Widerspruch war geschichtsmächtig, und er wird es auch in Zukunft bleiben. Seine Lösung erfolgt in Form der Auseinandersetzung zwischen den Sozial89

John K. Galbraith: Die moderne Industriegesellschaft, München / Zürich 1968.

7. Betriebliche Sozialpolitik

53

partnern. Diese Auseinandersetzung, zunehmend mit friedlichen Mitteln, bildet einen Teil der wirtschaftlichen und politischen Kultur der Gegenwart. Im Anschluß an die Bemerkung über Freiwilligkeit und Zwang ist noch ein anderer Aspekt zu erwähnen. Der wirtschaftliche und soziale Fortschritt hat es mit sich gebracht, daß viele Menschen nicht durch das nackte Überlebensinteresse zu arbeiten gezwungen sind. Es ist klargeworden, daß der arbeitende Mensch ein Mittel besonderer Art ist. Erwartet man von ihm volles Arbeitsengagement, muß man ihn motivieren. Er muß arbeiten wollen , nicht nur arbeiten müssen?0 In diesem Sinn steht die moderne betriebliche Sozialpolitik und Betrieb sßhrung vorrangig im Zeichen der Motivationsaufgabe. Motivieren gilt heute als eine der wichtigsten Führungsfunktionen. 91 Das ändert zwar nichts an der Tatsache, daß die Arbeitskraft für die Wirtschaft nach wie vor bloß Mittel ist; aber man sieht sich gezwungen, die betriebliche Realität den besonderen Eigenschaften dieses Mittels anzupassen, wie man ja auch die je bestimmten technischen Eigenschaften eines Materials oder einer Maschine im Produktionsprozeß berücksichtigen muß. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal des Menschen von anderen Wirtschaftsmitteln ist seine Freiheit und das Bewußtsein seiner Freiheit. Mit anderen Worten: Dem arbeitenden Menschen muß Selbstverwirklichung in der Arbeit als freies Wesen ermöglicht werden. Das Wettbewerbssystem hat insofern eine neue Dimension erhalten, als die Unternehmungen einander auf dem Arbeitsmarkt mit Selbstverwirklichungsangeboten an die umworbenen potentiellen Mitarbeiter überbieten. Da man nach Überwindung der Not und bei fortgeschrittener Sozialgesetzgebung deren Wünschen zunehmend Rechnung tragen muß, resultiert - gewissermaßen als externer Effekt der Instrumentalisierung des arbeitenden Menschen - auch ein Trend zur Humanisierung der Arbeitswelt. 90 Die erfolgsentscheidende Motivation der Mitarbeiter ist erst jüngst wieder eindrucksvoll statistisch belegt: J. Hanns Pichler stellt aufgrund zweier europaweit großangelegter empirischer Untersuchungen von etwa 1.500 mittelständischen Unternehmern über deren Werthaltungen fest: „Erfolgreiche Unternehmer zahlen nicht notwendigerweise höhere Löhne und Gehälter, sondern ... versuchen ... bewusster, ihre Mitarbeiter in den Entscheidungsprozess beziehungsweise in die Entscheidungsfindung direkt einzubinden." (/. Hanns Pichler : Profile unternehmerischer Werthaltungen als Abbild gewachsener europäischer „Unternehmenskultur", in: Einheit und Vielfalt - Ein Essay zum 60. Geburtstag von Dr. Wilfried Stoll, Esslingen 1997, S. 215 ff., bes. S. 229 ff. 91 Vgl. Thomas J. Peters ! Robert H. Waterman jr.: Auf der Suche nach Spitzenleistungen - Was man von den bestgeführten US-Unternehmen lernen kann, Landsberg am Lech 1983, 3. Aufl., S. 81 ff.

54

D. Leidensgeschichte der Marktwirtschaft

8. Vereinnahmung der Umwelt Das Umweltproblem liegt seiner Substanz nach nicht in der Schädigung der Natur als solcher, sondern in der Vernichtung von Lebensgrundlagen künftiger Generationen. Zur Leidensgeschichte der Marktwirtschaft abschließend noch ein Aspekt auf die Umweltproblematik 92: Nur vordergründig scheint kein Zusammenhang zwischen der Instrumentalisierung des arbeitenden Menschen und dem Umweltproblem zu bestehen, weil man das Umweltproblem meist nur als Bedrohung unserer Biosphäre wahrzunehmen pflegt; doch eigentlich geht es nicht um die Biosphäre als solche, sondern um den Menschen: um die heute lebenden Menschen, vor allem aber um die künftigen Generationen. Die Mißachtung deren Lebensmöglichkeit ist die wahre Bedeutung der Umweltzerstörung. So bestätigt auch die Bedenkenlosigkeit wirtschaftlicher Nutzung der Natur 93 den Fehler im Systemkonzept, welcher in der Totalisierung des Mittelaspektes wurzelt: daß es auch den Menschen - ausgenommen den Konsumenten - verzweckt. Die Unternehmungen eignen sich alles, was ihren Zwecken dient und keine Kosten verursacht, in pragmatischer Selbstverständlichkeit und systemkonformer Zwangsläufigkeit ohne Rücksicht auf die Folgen als bloßes Mittel an. Die gesamte Weltwirklichkeit wird vom marktwirtschaftlichen System ausschließlich im verengten Aspekt der Nützlichkeit als Mittel für ökonomische Zwecke wahrgenommen, und dies in der Praxis meist nur im kurzfristigen Zeithorizont eines Geschäftsjahres bzw. der Periode eines Vorstandsmandates. Der Verwendung kostenlos verfügbarer Mittel ist im Rahmen der Legalität keine Grenze gesetzt. Es ist festzuhalten, daß es hier in keiner Weise um eine Inkriminierung der Unternehmer oder Manager geht, sondern einzig und allein um den Nachweis, daß die Marktwirtschaft, ihrer Zielbestimmung und ihrem Selbstverständnis

92

Inhaltlich wie bezüglich der sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Umweltproblematik höchst beachtlich: Friedrich Romig: Sind wir am Ende? Die ökologische Katastrophe und ihre Hintergründe, in: Zeitschrift für Ganzheitsforschung, 41. Jahrgang, Wien Π / 1997, S. 71 ff. 93 Heinrich Beck: Transkulturelle Aspekte menschlicher Identität - Ein kultur- und evolutionsphilosophischer Beitrag zur aktuellen geistigen Neuorientierung, in: Wege zur Ganzheit, Festschrift für J. Hanns Pichler zum 60. Geburtstag, hrsg. von Geiserich E. Tichy, Herbert Matis und Fritz Scheuch, Berlin 1996, S. 176 f. zeigt den geistesgeschichtlichen Zusammenhang der Ausbeutung der Natur mit Kants kategorischem Imperativ, dem zufolge „der Mensch zwar nicht den Mitmenschen, wohl aber die Natur als ,bloßes Mittel für seine Zwecke' betrachten dürfe."

8. Vereinnahmung der Umwelt

55

gemäß, bloß Mittel ist und bloß Mittel sein muß, soll sie in ihrer systemspezifischen Weise funktionieren; und um den Nachweis, daß sich daraus Probleme ergeben, wenn es Menschen sind, die von der Wirtschaft als bloße Mittel vereinnahmt werden. Der Sachverhalt wird sich für unser eigentliches Thema als zentral erweisen. Es wird zu zeigen sein, daß auch der Konsument, seiner systemkonformen Stellung als einziger Zweck der Marktwirtschaft beraubt, als bloßes Mittel instrumentalisiert ist.

E. Entwicklungsschritte der Marktwirtschaft 1. These: Dialektik der Systementwicklung Der systemimmanente Widerspruch der Instrumentalisierung tenden Menschen wurde zum Motor der Entwicklungsschritte wirtschaftlichen Systems.

des arbeides markt-

Ein Rückblick in die Systemgeschichte der Marktwirtschaft läßt zwei wesentliche Entwicklungsschritte erkennen: den Schritt von der Freien Marktwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft und - in jüngerer Zeit ansatzweise - den Schritt von der Sozialen Marktwirtschaft zur Ökosozialen Marktwirtschaft. Diese Metamorphosen - so die These - sind auf den oben entwickelten sachimmanenten Widerspruch zurückzuführen: daß der Mensch für das marktwirtschaftliche System einerseits bloß Mittel sein muß, doch andererseits nicht bloß Mittel sein kann. Die Spannung dieses Widerspruchs ist zum Motor der Weiterentwicklung des Systems geworden. Die Marktwirtschaft befand und befindet sich auf der Suche nach einer Synthese. Die Wandlungen der Marktwirtschaft sind folgend kurz zu rekapitulieren, um die Wandelbarkeit des Systems aus seiner Geschichte zu belegen und dem schließlich vorzuschlagenden weiteren Entwicklungsschritt den Weg zu bereiten.

2. Freie Marktwirtschaft Das System der Freien Marktwirtschaft nicht Bestand haben.

konnte wegen seiner Inhumanität

Im Konzept der Freien Marktwirtschaft spielt der arbeitende Mensch bloß die Rolle eines Produktionsfaktors neben den Produktionsfaktoren Grund und Boden und Kapital. Es herrscht hier die eigentümliche Schizophrenie, daß ein und derselbe Mensch einerseits als Konsument einziger Sinn und Zweck der Wirtschaft, andererseits jedoch als Produzent bloß Mittel der Wirtschaft sein

3. Soziale Marktwirtschaft

57

solle: ein Mittel unter anderen Mitteln, zwar technisch unterschieden aufgrund spezifischer Eignungen als Werkzeug, doch nicht grundsätzlich unterschieden aufgrund seines Menschseins. Folgerichtig wird er behandelt wie eine Maschine. Man setzt ihn mit größtmöglicher technischer Effizienz ein, man entwickelt technische Arbeitssysteme wie Fordismus und Taylorismus, und man trennt sich von ihm, wenn man ihn nicht mehr mit Vorteil gebrauchen kann, ohne Rücksicht auf die Frage, was das für ihn als Mensch bedeute. Das ist bekannt, darf aber mit dem folgenden, einem Sachbuch großer Verbreitung entnommenen Zitat schlaglichtartig illustriert werden: „Die soziale Frage, d.h. die Verelendung der Arbeiter, ... war ... das beherrschende Thema des 19. Jahrhunderts. Das Überangebot an Arbeitskräften kam einem Nachfragemonopol der Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt gleich: Sie allein diktierten Arbeitsbedingungen und Entlohnung der Beschäftigten, die Arbeiter hatten keinerlei Möglichkeit, ihren Lohn, der häufig unter dem Existenzminimum lag, zu beeinflussen. Eine Absicherung vor ... Krankheit, Alter, Unfällen usw. gab es nicht." 94 Es leuchtet ein, daß dieses Wirtschaftssystem in den entwickelten demokratischen Industriegesellschaften einem menschlicheren System weichen hat müssen.

3. Soziale Marktwirtschaft Die Soziale Marktwirtschaft ist ein Entwicklungsschritt sierung der Arbeitswelt und der Gesellschaft insgesamt

zur Humani-

Das zentrale Motiv des Emanzipationskampfes des arbeitenden Menschen Befreiung aus der Rolle eines bloßen Mittels - ist nun für unser Vorhaben zur Genüge abgehandelt. Wir sollten dieses Motiv schon deshalb ernstnehmen, weil es geschichtsmächtig geworden ist: geschichtsmächtig nicht nur als Emanzipationskampf, sondern auch als Entwicklung der Freien Marktwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft. Durch einen entsprechenden ordnungspolitischen Rahmen geregelt, wird die menschliche Arbeitskraft von der Sozialen Marktwirtschaft nicht mehr bloß wie ein Sachmittel behandelt. Tendenziell werden Eigenwert, Würde und Bedürfnisse des arbeitenden Menschen im Wege einer Sozialgesetzgebung abgesichert.

94

Michaela Wimmer: Marktwirtschaft (Heyne Sachbuch), München 1992, S. 44.

E. Entwicklungsschritte der Marktwirtschaft

58

Um die für unser Thema so entscheidend wichtige Anpassungsfähigkeit des Systems auch in der Theorie nachzuvollziehen und das humane Selbstverständnis der Sozialen Marktwirtschaft zu belegen, soll Alfred MüllerArmack, ein geistiger Vater und führender Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft, ausführlich zu Wort kommen: Müller-Armack betont die „Notwendigkeit, den Menschen in den Mittelpunkt der industriellen Arbeit zu stellen" und eine Politik zu forcieren, „die jenseits des Ökonomischen auf die vitale Einheit des Menschen gerichtet ist. Wir können diese Einheit der menschlichen Umwelt nicht allein in der Familie, in Haus und Garten herstellen. Der Mensch unserer Zeit lebt zwangsläufig in einer ... Umwelt, aus der seine betriebliche Existenz nicht fortzudenken ist. Die Gesetzgebung der Zukunft wird nicht umhin können, hier strengere Normen zu setzen als die, die in einer Zeit gefunden wurden, in der man den Betrieb in erster Linie als Stätte eines mechanischen Produktionsablaufs sah." 95 Damals bereits ganz im Sinne eines modernen „Mitarbeiter-Marketing", welches sich nicht nur an den ökonomischen Notwendigkeiten, sondern auch an den Bedürfnissen der Mitarbeiter orientiert, fordert Müller-Armack Maßnahmen zur Neugestaltung der betrieblichen Umwelt, wie die Chance des „Selbständigwerdens im Betrieb" durch entsprechende Betriebsverfassungen, Unfallverhütungsmaßnahmen und Gesundheitsdienste in den Betrieben 96. Dem einzelnen „muß nicht nur die Möglichkeit gegeben werden, seinen Platz in der Gesellschaft, seine Ausbildung, seine Wirkungsmöglichkeiten zu finden, es bedarf nicht minder einer Bemühung, ihm seine ... Furcht vor jenen Mechanismen einer freien Wirtschaft zu nehmen, denen er sich ausgeliefert fühlt." 97 Müller-Armack sieht das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft in der Verbindung des Prinzips der Freiheit auf dem Markte mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs 98 und versteht die Soziale Marktwirtschaft ausdrücklich als Weiterentwicklung der Freien Marktwirtschaft. Er sagt, „es wäre ... eine Übertreibung, eine noch nicht gesteuerte Marktwirtschaft bereits als eine in jedem Sinne befriedigende Ordnung zu bezeichnen. Der Austauschmechanismus stellt sich uns als ein formaler Apparat dar, der wesensmäßig eine allseits befriedigende Lösung nicht automatisch erzielen kann, es sei denn, daß seine Energien durch eine bewußte Steuerung nach dieser Richtung gelenkt werden." 99 95

Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 9, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956, S. 280. 96

Ebenda, S. 279 f.

97

Ebenda, S. 278.

98

Ebenda, S. 243.

99

Ebenda, S. 131.

4. Ökosoziale Marktwirtschaft

59

4. Ökosoziale Marktwirtschaft Die Weiterentwicklung zur Ökosozialen Marktwirtschaft soll künftige Generationen vor der Ausbeutung für Zwecke der heute lebenden Generation bewahren. Die zweite große Wandlung der Marktwirtschaft ist die Entwicklung von der Sozialen Marktwirtschaft zur „Ökosozialen Marktwirtschaft". Aus ökonomischer Sicht geht es bei diesem noch jungen Entwicklungsschritt des Systems um die Erhaltung der Naturgrundlagen der Wirtschaft auf Dauer. Der Begriff „nachhaltige Entwicklung" steht heute im Zentrum der Diskussion. 100 Im Rahmen eines Förderungsprogramms des deutschen Bundeswirtschaftsministeriums mit dem Ziel, den Bürgern der ehemaligen DDR die Grundzüge der Marktwirtschaft nahezubringen, begründet Jürgen Feldkamp das ökologische Defizit und die Notwendigkeit dessen Behebung - streng im Sinn des marktwirtschafüichen Konzepts - damit, daß die Marktwirtschaft von sich aus „ökologische Knappheiten" nicht registriert, wenn Umweltressourcen frei zugängliche, kostenlose Güter sind, „denen der Markt einen Preis von Null zuordnet. Als Steuerungssignal besagt dies, daß ökologische Ressourcen im Überfluß vorhanden seien und deshalb weder geschont noch reproduziert werden dürfen. Der negative Rückkoppelungsmechanismus ist also schadhaft. Die resultierende Fehlsteuerung zu korrigieren ist dann Aufgabe der Umweltpolitik in einer Marktwirtschaft. Zum sozialen Rahmen der sozialen Marktwirtschaft muß also ein ökologischer Rahmen treten, der neben die ökonomischen Knappheiten ökologische Restriktionen setzt und beide gemeinsam in marktwirtschaftliche Lenkungssignale umformt." 101

100

Stephan Schmidheiny (mit dem Business Council for Sustainable Development): Kurswechsel - Globale unternehmerische Perspektiven für Entwicklung und Umwelt, München 1992, S. 32: „Der Begriff,nachhaltige Entwicklung' rückte immer mehr in den Mittelpunkt der Umwelt- und Entwicklungsdebatte. Im Jahr 1987 wurde die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung unter dem Vorsitz der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland von der Vollversammlung der Vereinten Nationen eingesetzt. Sie machte ,sustainable development' (nachhaltige Entwicklung) zum Hauptthema ihres Berichts Unsere gemeinsame Zukunft. Sie definierte den Begriff als eine Form von Fortschritt, die ,die Bedürfnisse der Gegenwart deckt, ohne zukünftigen Generationen die Grundlage für deren Bedürfnisbefriedigung zu nehmen'." - Siehe dazu: J. Hanns Pichler: Sustainable Economy. Einige grundsätzlichere Aspekte und Diskussionsthesen, in: IfG- (Institut für Gewerbeforschung / Gewerbe- und Handwerksforschung) Mitteilungen, 2. Hj. Wien 1992. 101 Jürgen Feldkamp: ECON-Handbuch Marktwirtschaft, Düsseldorf und Wien 1992, S. 73 f.

60

E. Entwicklungsschritte der Marktwirtschaft

Beiden Entwicklungsschritten ist, trotz organisatorischer Unterschiedlichkeit, letztlich die Vorkehrung gegen die Instrumentalisierung des Menschen gemeinsam. Der erste Schritt, der zur Sozialen Marktwirtschaft, bewertet den „Produktionsfaktor Arbeit" nicht mehr bloß als Mittel zum Zweck, sondern auch als Inbegriff von Menschen mit dem Wunsch und Recht freier Selbstverwirklichung in der Arbeit; der zweite Schritt, zur Ökosozialen Marktwirtschaft, bewertet den „Produktionsfaktor Grund und Boden" (im weitesten Sinn von „Natur") nicht mehr als unbegrenzt ausbeutbares Wirtschaftsmittel, sondern auch als Lebensgrundlage für die heute und nach uns lebenden Menschen. Genau in diesem Sinn erklärt die UNO-Konferenz von Rio 1992 über Umwelt und Entwicklung:„Das Recht auf Entwicklung muß so verwirklicht werden, daß die Entwicklungs- und Umweltbedürfnisse heutiger und zukünftiger Generationen gleichermaßen befriedigt werden." Und: „Um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, wird Umweltschutz einen integrierten Teil des Entwicklungsprozesses darstellen und nicht isoliert davon betrachtet werden." 102

5. Exkurs: Zum „Turbokapitalismus46 Die Weiterentwicklung der Marktwirtschaft chen Emanzipationsprozesses. Rückschritte hend erweisen.

ist Teil des weltgeschichtliwerden sich als vorüberge-

Angesichts der Radikalisierung der marktwirtschaftlichen Funktionsmechanismen in jüngster Zeit („Turbokapitalismus") könnte die skizzierte Entwicklungsdialektik - schrittweise Aufhebung der Instrumentalisierung des Menschen als bloßes Mittel - realitätsblind erscheinen. Tatsächlich zeichnet sich ja gegenwärtig die genau gegenteilige Entwicklung ab: Sozialdumping und Ökodumping unter Berufung auf „ökonomische Sachzwänge", die sich freilich nur aus den System selbst ableiten, sowie zunehmende Herrschaft des Produktionsfaktors Kapital im Zeichen des „Shareholder-Value" als betrieblicher Handlungsmaxime - tendenziell ein Rückschritt hinter die Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft 103 und sogar hinter die am Kundennutzen orientierte MarketingBewegung 104 . Deshalb ist hier einem naheliegenden Mißverständnis der vorgelegten Entwicklungsthese vorzubeugen. Gewiß haben die skizzierten Entwicklungsschritte 102

Zitiert aus: Ernst Ulrich von Weizsächer et al., S. 236 f.

103

Vgl. oben S. 57 f.

104

Vgl. unten S. 108 ff.

5. Exkurs: Zum „Turbokapitalismus"

61

der Marktwirtschaft zur Sozialen und zur Ökosozialen Marktwirtschaft, soweit vollzogen, Wirtschaft und Gesellschaft per Saldo humanisiert, doch darf der entwickelte dialektische Widerspruch nicht im Sinne eines linearen Entwicklungsfortschritts abgespannt verstanden werden. Der unvermeidbare Widerspruch der Mensch einerseits als Mittel andererseits als Selbstzweck, welcher nicht bloß Mittel sein kann - bleibt als wesensbedingt in der Geschichte auch in Zukunft wirksam. Bleibend ist folglich auch der Emanzipationskampf um Selbstverwirklichung des Menschen als freies, selbstbestimmtes Wesen. Die Entwicklung der Marktwirtschaft darf nicht anders denn als Auseinandersetzung zwischen Widersprüchen verstanden werden. Eine Zukunftsautomatik, der wir nur wie dem Wechsel der Jahreszeiten zuzusehen hätten, hat es nicht gegeben und wird es nicht geben. Auf theoretischer Ebene ist das Problem bereits in einer Fülle aktueller Literatur thematisiert 105 , auf wirtschaftspolitischer Ebene spielt sich der Emanzipationskampf in Europa heute vor allem als Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ab. Nach Rezepten wird gesucht, freilich sogar von den Gewerkschaften meist nur im Rahmen der von der herrschenden Ökonomie verbleibenden reduzierten Möglichkeiten. Verändert haben sich in der zivilisierten Welt die Methoden der Auseinandersetzung, aber die Entwicklungsdialektik als solche ist durch die wechselnden Szenarien nicht aufgehoben. Damit soll aber nicht einer Verharmlosung der gegenwärtigen Entwicklung das Wort geredet sein. Bezüglich des akuten Problems der Massenarbeitslosigkeit, soweit durch die Totalisierung des Wettbewerbs verursacht, erweist sich der Turbokapitalismus übrigens als päpstlicher als der Papst. Hatte doch Adam Smith selbst Ausnahmen von der Freihandelskonkurrenz anerkannt: unter anderem dann, wenn „sie viele Tausende unseres Volkes um ihr gewöhnliches Geschäft und Brot bringen würde" 106 . Von solcher Humanität ist die herrschende ökonomische Theorie und Praxis der Gegenwart weit entfernt.

105 Siehe dazu auch den Bericht von Uwe Jean Heuser über die „Gruppe von Lissabon" unter dem Titel „Dämme gegen das Kapital" (Die Zeit Nr. 9 vom 21. 2. 1997, S. 25.) Die Gruppe von Lissabon, in welcher 22 alternative Wissenschaftler und Unternehmer unter Führung des Italieners Ricardo Petrella wirken, wendet sich im Buch „Grenzen des Wettbewerbs" (München 1997) gegen die „Knute der Marktideologie. Wirtschaftliches und politisches Schaffen richtet sich auf ein Ziel, das zum Selbstzweck mutiert: Wettbewerbsfähigkeit. Ob es um Bildungsreform oder Familienpolitik geht, um neue Konzepte für Umwelt oder Sozialstaat - sie alle sollen im Dienst des Standorts stehen. Und wie beendet man die eklatante Beschäftigungskrise? Na klar: wettbewerbsfähiger werden." 106

Adam Smith: S. 237.

E. Entwicklungsschritte der Marktwirtschaft

62

6. Ordnungsrahmen Grundsätzliche Einwendungen gegen einen Ordnungsrahmen lassen sich auch aus fundamentalistisch marktwirtschaftlicher Position nicht begründen. Die vorliegende Arbeit wird eine (nicht-legistische) Erweiterung des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens vorzuschlagen haben. Weil dieser Gedanke einem fundamentalistischen Laissez-faire-Standpunkt als Ursünde wider den liberalen Geist der Marktwirtschaft erscheinen und von vornherein auf Ablehnung stoßen mag, läßt sich hier ein grundsätzliches, wenngleich banales Wort zur Selbstverständlichkeit eines Ordnungsrahmens nicht vermeiden. Wer einen Ordnungsrahmen prinzipiell abzulehnen neigte, sollte bedenken, daß die Marktwirtschaft immer schon eines Ordnungsrahmens bedurfte. Man denke nur an die Rechtsinstitute des Eigentums und der Eigentumsübertragung, an das Wettbewerbs- und Gesellschaftsrecht oder an die Währungsordnung. Ohne derartige Rahmenbedingungen könnte die Marktwirtschaft, welcher Ausformung auch immer, nicht existieren und nicht funktionieren. Wer die Marktwirtschaft an sich bejaht, kann einen Ordnungsrahmen nicht ablehnen. Die Frage reduziert sich auf dessen Beschaffenheit. Die Institution des Ordnungsrahmens wurde vor allem in der Absicht dessen Veränderung durch den Staat im Sinne einer sozial erwünschten Wirtschaftsordnung reflektiert 107 . Müller-Armack wehrt die Vorstellung einer völlig ungeregelten Ökonomie mit folgendem Argument ab: „Die Marktwirtschaft stellt eine Wirtschaftsordnung im strengsten Sinne dar. Sie ist keineswegs, wie das Laienvorurteil ihr gegenüber besagt, durch das Fehlen jedes Organisationsprinzips gekennzeichnet... Sie ist alles andere als ein chaotisches Durcheinander von Marktbeziehungen." 108 Die marktwirtschaftliche Ordnung „ist nur ein überaus zweckmäßiges Organisationsmittel aber auch nicht mehr, und es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, der Automatik des Marktes die Aufgabe zuzumuten, eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen und die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus zu berücksichtigen. " 109 107

Der Gedanke des Ordnungsrahmens geht auf das von Walter Eucken und Alexander Rüstow 1932 erstellte neoliberale Programm zurück. Die Verwirklichung wurde 1948 von Ludwig Erhard, dem damaligen Bundes wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler, in Angriff genommen. Die Ziele reichen von der Aufrechterhaltung eines fairen Wettbewerbes bis zur sozial gerechten Umverteilung der Einkommenszuwächse. 108

Alfred Müller-Armack:

109

Ebenda, S. 106.

Wirtschaftsordnung, S. 90.

6. Ordnungsrahmen

63

Die Notwendigkeit eines Ordnungsrahmens ist übrigens von modernen Unternehmern, deren marktwirtschaftliche Gesinnung über jeden Zweifel erhaben ist, erkannt und anerkannt. So sagt Stephan Schmidheiny, die „jüngste Geschichte hat aufs neue die Vorzüge der Marktwirtschaft vor anderen Wirtschaftssystemen bestätigt. Der Markt verfügt über die effizientesten Methoden zur Schaffung von Reichtum und bietet durch die Förderung der menschlichen Kreativität die besten Chancen für den Fortschritt. Der Gesellschaft weist er effektive Wege zu ihren Zielen auf; diese im Rahmen des politischen und gesetzgeberischen Prozesses festzulegen, bleibt jedoch Aufgabe der Gesellschaft." 110 Auch der Club of Rome fordert einen den gegenwärtigen und künftigen Notwendigkeiten angepaßten Ordnungsrahmen: „Würde man alle Zügel schießen lassen, so würde der brutale Einsatz der Kräfte des Marktes zu Ausbeutung, Mißachtung der sozialen Belange, Zerstörung der Umwelt und zu kurzfristigem Verbrauch der Ressourcen führen, die für die Zukunft notwendig sind." 111 „In der wirklichen Welt existieren keine Lösungen, die ausschließlich auf der Grundlage des Marktes beruhen... Es herrscht Einigkeit darüber, daß ein reiner Marktansatz ... Fragen von langfristigem Interesse nicht lösen kann." 112 „Auch die am stärksten auf Privatinitiative eingeschworenen Regierungen anerkennen die Notwendigkeit, die Grenzen zu definieren, innerhalb derer der Markt funktionieren kann." 113 Wer einen den Erfordernissen der Zeit entsprechenden Ordnungsrahmen prinzipiell ablehnen wollte, würde die Grundlagen und Zukunftschancen auch der Marktwirtschaft selbst zerstören. Dem Gedanken einer Erweiterung des Ordnungsrahmens sollten allenfalls Interessen, doch nicht Einwände grundsätzlicher Art entgegenstehen.

110

Stephan Schmidheiny: S. 64 f.

111

Club of Rome (Hrsg.), Autoren: Alexander King / Bertrand Schneider: Die erste globale Revolution - Bericht zur Lage der Welt, Frankfurt 1993, S. 216. 112

Ebenda, S. 271.

113

Ebenda, S. 216.

F. Konsumfreiheit 1. Die ökonomische Zeitenwende Der Übergang vom Mangel zum Überfluß hat ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit aufgeschlagen. Als Adam Smith die Konsumtion als einzigen Sinn und Zweck aller Produktion festschrieb, war der Grund dafür, die materielle Not eines großen Teiles der Bevölkerung, einleuchtend. Wie erwähnt, ist es unserem Wirtschaftssystem in Verbindung mit dem technischen Fortschritt zu danken, daß die Not in den wirtschaftlich entwickelten Ländern der Ersten Welt zumindest potentiell überwunden ist. Die heute noch bestehenden Reste von Not resultieren nicht aus einem Mangel an Gütern, sondern aus deren Verteilung. Aus Mangel ist Überfluß geworden. Die Befriedigung der Existenzbedürfhisse, wie immer sie zu definieren seien, beansprucht in aller Regel nur mehr einen Teil der Kaufkraft der Privathaushalte. Der allmähliche Übergang aus dem Zeitalter des Wirtschaftens für die Befriedigung der Überlebensbedürfnisse ins Zeitalter des Wirtschaftens zur Befriedigung freier Bedürfnisse läßt sich zwar nicht mit einer bestimmten Jahreszahl datieren, stellt aber in der Weltgeschichte eine Marke dar, die man ohne Übertreibung als „ökonomische Zeitenwende" bezeichnen kann. George Katona befaßte sich bereits zu Anfang der sechziger Jahre mit diesem Thema: Der vom Zwangsverhalten der Not befreite Privathaushalt hat einen Freiheitsraum individueller Konsumentscheidung gewonnen, welcher ihn für die Produzenten weniger berechenbar macht. Der Konsument ist zu einem Machtfaktor geworden, der weit mehr als vorher Stabilität oder Unbeständigkeit der Wirtschaft bewirken kann. 114 Solange nämlich das gesamte Einkommen fürs bloße Überleben ausgegeben werden muß, „hat der Konsument keine Entscheidungsfreiheit... In den Vereinigten Staaten von heute aber ist die Rolle des Verbrauchers grundlegend anders. In der letzten Zeit haben wichtige Entwicklungen die Macht des amerikanischen Konsumenten wesentlich vermehrt. Sie gaben ihm die Freiheit, seine Anschaffungen zu beschleunigen oder

114

George Katona: S. 21.

1. Die ökonomische Zeitenwende

65

zu verzögern und entweder mehr oder weniger als sein laufendes Einkommen auszugeben."115 Katona gewährt uns auch einen statistischen Blick in den Prozeß der wirtschaftlichen Zeitenwende. Sein Vergleich des Jahres 1944 mit dem Jahr 1957 in den USA zeigt - geldwertbereinigt - das folgende Bild: 1 1 6

Zunahme der Familien mit über dem Existenzbedarf liegenden Einkommen Jahr

Existenzbedarf

Zahl der Familien mit Einkommen über dem Existenzbedarf

Summe der Einkommen dieser Familien

1944

$ 4.000

12,0 Millionen

$ 84 Milliiarden

1957

S 6.000

20,5 Millionen

S 220 Milliarden

Während das Wort „Überleben" die Existenz des Menschen auf dem Niveau des Notwendigen meint, eröffnet die ökonomische Zeitenwende im Bereich des Konsums eine qualifizierte Chance der Selbstverwirklichung in Freiheit, d.h der Lebensßhrung nach eigenem Entwurf Wer früher seine ganze Kraft und Zeit in harter Arbeit erschöpfen mußte, bloß um zu überleben, findet nunmehr entscheidend bessere Möglichkeiten der Selbstverwirklichung vor. In diesem Sinn steht dem Begriff des bloßen „Überlebens" der Begriff des „Guten Lebens" gegenüber, selbstverständlich ohne diesen auf Konsum einzuschränken. Zum Guten Leben gehört ja vielerlei, das man nicht kaufen und nicht konsumieren kann. In diesem Sinn sind wir mit der ökonomischen Zeitenwende und der damit verbundenen Erweiterung des wirtschaftlichen Dispositionsraumes aus dem Reich der Not ins Reich potentieller Freiheit übergetreten. Die ökonomische Zeitenwende, ein wesentlicher Schritt der Emanzipation aus den Zwängen der Natur, wird sich als fundamentales Datum für unser Thema, den Konsum als Produktionsfaktor, erweisen. Was die westliche Menschheit aus dieser Chance gemacht hat, ist freilich eine andere Frage. „Unser bestehendes ökonomisches System", sagt Peter Heintel in Problematisierung dieser Frage, „ist in radikaler Weise historisch angetreten, um allen Mangel - materiell, durch Produkte - zu bewältigen, zu überwinden; es hat aber, wie es scheint, keine Verfahrensformen entwickelt, mit Überfluß umzuge -

115

Ebenda, S. 24.

116

Ebenda, S. 26.

5 Steiner

F. Konsumfreiheit

66

hen, in ihm Maß zu finden bzw. Reichtum zu steuern. Also tut man so, als wäre immer noch derselbe Mangel zu überwinden..." 117

2. Exkurs: Wirtschaftswissenschaft und Freiheit Jede Wirtschaftswissenschaft Diskussion und Differenzierung gestattet sein.

setzt Entscheidungsfreiheit voraus. des Freiheitsbegriffes müssen deshalb

Unser zentrales Thema ist die Problematik der neuen Konsumfreiheit jenseits des Notwendigen: die im marktwirtschaftlichen Konzept implizit vorausgesetzte Entscheidungsfreiheit, die Defizite an Konsumfreiheit in der real existierenden Marktwirtschaft und schließlich die Chancen der Autonomie des Konsumenten durch Ergänzung des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens. Das erfordert an dieser Stelle einen knappen Exkurs über das Thema „ Freiheit" im Aspekt der Wirtschaftswissenschaften, läuft doch die Annahme von Freiheit Gefahr, von jenen Sozialwissenschaftlern, die sich verfahrensmäßig am Leitbild der Naturwissenschaft orientieren, als ideologisches Werturteil abgetan zu werden. Demgegenüber verlangt das gegenständliche Thema die grundsätzliche Außerstreitsteilung der Möglichkeit und Wirklichkeit von Freiheit und wenigstens ansatzweise - eine Differenzierung des Freiheitsbegriffs. Anders als in anderen Wissenschaften bedarf die Frage der Möglichkeit und Wirklichkeit von Freiheit in den Wirtschaftswissenschaften freilich keiner tiefgründigen Erörterung. Sobald wir uns nämlich vergegenwärtigen, daß Freiheit zumindest die Möglichkeit bedeutet, jeweils auch anders entscheiden zu können (Erich Heintel), also zwischen wenigstens zwei Alternativen wählen zu können, ist diese Frage für die Wirtschaftswissenschaften von vornherein entschieden. Denn die wirtschaftliche Praxis, das Wirtschaften als Handeln, ist - im Gegensatz zu Naturabläufen - dem Wesen nach Entscheiden zwischen Möglichkeiten. Schon das wirtschaftliche Prinzip - als Handlungsmaxime formuliert: „handle nutzenmaximierend bzw. aufwandminimierend" - setzt Entscheidungsfreiheit voraus. Nutzenmaximierung bzw. Aufwandminimierung wird zum dominanten Motiv wirtschaftlichen Handelns. 11* Besäße der wirtschaftende Mensch nicht die 117 Peter Heintel: Alternative Modellbildung in der Ökonomie, in: Der verlorene Glanz der Ökonomie, Kritik und Orientierung, Wien 1993, S. 17 f. 11S

George Katona: S. 64, formuliert: „Die klassische Wirtschaftstheorie setzt ein einziges umfassendes Motiv voraus - das Streben nach größtmöglichem Nutzen oder Gewinn." - Näheres dazu: Helmut Steiner: Einführung in die Theorie der wirtschaftlichen Werbeleistung, Berlin 1970. S. 89 ff.

2. Exkurs: Wirtschaftswissenschaft und Freiheit

67

Freiheit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden, hätte die Wirtschaftswissenschaft keinen Gegenstand. Die Freiheit menschlichen Handelns bildet demnach eine conditio sine qua non der realen Wirtschaft wie der Wirtschaftswissenschaft. Bei dieser Sachlage sollte die Möglichkeit und Wirklichkeit von Entscheidungsfreiheit als Minimalkonsens aller wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen von vornherein außer Streit stehen. Und damit müßte auch der Weg für die Differenzierung des Freiheitsbegriffes, soweit für unser Thema erforderlich, offen sein. Als selbstverständlich wäre das nicht erwähnenswert, würde nicht der Mainstream der Nationalökonomie im Bestreben, es der Naturwissenschaft gleichzutun, Veranlassung zu solcher Klarstellung bieten. Wird die Nationalökonomie wie eine Naturwissenschaft betrieben, kann die Freiheit der Wirtschaftssubjekte zwar methodologisch ausgeklammert werden, doch müßte diesfalls die resultierende Einschränkung der Aussagefähigkeit beachtet werden. 119 Wie sehr die Freiheit des Menschen zu Problemen einer solchen Ökonomie führt, zeigt das folgende Bonmot aus der Feder des bekannten Ökonomen Kenneth E. Boulding: „Die Wirtschaftswissenschaft ist... eine Art Astronomie von Waren, die sich mit den Bewegungen und wechselseitigen Beziehungen zwischen ... zeitlichen Varianten beschäftigt, und wenn diese Bewegungen regelmäßig genug sind, kann die zufällige Tatsache, daß Waren von Menschen bewegt werden, ausgeklammert werden. So können die Astronomen in ähnlicher Form die Frage ausklammern, ob die Planeten von Engeln bewegt werden oder nicht, Engel sind so entzückend regelmäßig in ihrem Verhalten, daß sie ausgeklammert, zumindest aber durch Differentialgleichungen ersetzt werden können." Und er fügt den Stoßseufzer hinzu: „Leider Gottes sind die Menschen für den Wirtschaftstheoretiker in ihren Bewegungen nicht so regelmäßig wie die Engel." 120 Milton Friedman, radikaler Vertreter des Neoliberalismus bzw. Monetarismus und als politischer Berater ein Vater der „Reagenomics" wie des „Thacherismus", bezeichnet die Wirtschaftswissenschaften einmal als „verkapptes Fach der Mathematik". 121 Diese hochgradig abstrakte Richtung vermochte sich, dem

119

Siehe dazu die tiefschürfende differenzierende Analyse des theoretischen Physikers Herbert Pietschmann: Sind naturwissenschaftliche Paradigmen in den Wirtschaftswissenschaften brauchbar? in: Wege zur Ganzheit - Festschrift für J. Hanns Pichler zum 60. Geburtstag, S. 103 ff. 120 Kenneth E. Boulding: Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, in: Diogenes, Köln 1957, S. 248 f. 121

5*

Milton Friedman: Essays in positive economics, New York 1953, S. 12.

F. Konsumfreiheit

68

Zeitgeist entsprechend, als Mainstream zu etablieren. Sie dominiert heute die wirtschaftspolitischen Entscheidungen weltweit. Selbstkritik ist freilich nicht die Stärke einer in naturwissenschaftlicher Analogie betriebenen Ökonomie. Das kann zum Zweifel an ihrer Brauchbarkeit führen, wie er etwa von Nikolaus Piper in der eingängigen Form des Witzes geäußert wird: „Ein Heißluftballon, so erzählt man sich, ist vom Kurs abgekommen und treibt orientierungslos über Berge und Täler. Endlich sehen die beiden Piloten tief unten einen Wanderer: ,Wo sind wir? 4 rufen sie ihm zu. - ,Ihr seid in einem Ballon! 4 lautet die Antwort. Worauf der eine Ballonfahrer zum anderen sagt: ,Die Antwort ist präzise, formal korrekt und absolut nutzlos. Der Mann muß ein Ökonom sein. 4 " 1 2 2 Widerstand gegen eine solche Art von Wirtschaftswissenschaft formiert sich heute zunehmend auch als Kritik an der Realitätsfremdheit des Verfahrens. 123 Kritik, die Konsequenzen fordert, kommt selbstverständlich insbesondere auch von soziologisch-sozialpsychologischer Seite. Günter Wiswede beispielsweise beklagt, daß die Kritik an der mangelnden Realitätsnähe dieser wirtschaftswissenschaftlichen Methode nicht „zu einer breitflächigen Bekehrung all jener geführt hätte, die den eindrucksvollen Stand formalisierter Modellableitungen höher schätzen als den Informationsgehalt von Theorien. 44124

3. Wahlfreiheit Allein mit der Freiheit der Wahlentscheidung zwischen den angebotenen Gütern ist Konsumfreiheit noch nicht gewährleistet Wenn wir uns nun der Frage der Konsumfreiheit im besonderen zuwenden, mag der Hinweis auf das merkwürdige Paradoxon nicht uninteressant sein, daß die Konsumtion in der klassischen Periode des Wirtschaftsliberalismus einerseits als einziger Sinn und Zweck aller Produktion betrachtet, andererseits jedoch als bloße Vernichtung von Gütern aus der ökonomischen Betrachtung ausgeschlossen wurde. 125

122

Nikolaus Piper in: Die großen Ökonomen, Stuttgart 1996, Vorwort, S. V.

123

Etwa: Tony Lawson: Economics and Reality, London 1997, Buchbesprechung von Eckehard Rosenbaum, in: Die Zeit Nr. 51 vom 12. 12. 1997, S. 29. 124 Günter Wiswede: Sozialpsychologische Aspekte der Präferenzbildung, in: Reinhard Tietz: Wert- und Präferenzprobleme in den Sozialwissenschaften, Berlin 1981, S. 83 ff. 125

Monika Streissler in: Erich und Monika Streissler S. 35 u. S. 37.

3. Wahlfreiheit

69

Die Bewertung des Konsums hat sich inzwischen gründlich geändert. Spätestens seit Einführung des Grenznutzengedankens in die Ökonomie spielt die Frage der Befriedigung der Konsumbedürfnisse eine zentrale Rolle. Das ist hier nicht auszuführen, denn einerseits ist es bekannt, und andererseits geht es bei unserem Thema nicht, wie beim Grenznutzendenken, um quantitative Differenzierung der Bedürfnisbefriedigung, sondern um die Bedürfnisinhalte: um deren Zustandekommen und um den inhaltlichen Beitrag der Bedürfnisbefriedigungen zur Selbstverwirklichung des Konsumenten als Mensch. Für diese Frage kann die Bedeutung der ökonomischen Zeitenwende kaum überschätzt werden. Denn während an der durch Natur und Tradition bestimmten Vorgegebenheit der Überlebensbedürfnisse nicht zu zweifeln ist, stellt sich für den Bereich der freien Bedürfnisse die Frage, was denn hier überhaupt „Bedürfnis" sei: Was ist esy das nun inhaltlich den Zielhorizont der Wirtschaft bilden solle? Ist die Befriedigung der Konsumbedürfnisse auch nach der ökonomischen Zeitenwende nicht nur im marktwirtschaftlichen Konzept, sondern auch in der real existierenden Marktwirtschaft das Maß aller Dinge? Zunächst zum Rang der im marktwirtschaftlichen Konzept postulierten Konsumfreiheit: Die Marktwirtschaft ist zutiefst im Liberalismus verwurzelt Konsumfreiheit stellt das Pendant zu den politischen Freiheiten dar. Sie gehört im westlich-marktwirtschaftlichen Bereich zu den nicht in Frage gestellten, selbstverständlichen Freiheiten. Die Konsumsphäre gilt als der Privatbereich des Menschen schlechthin, wo er sich ohne Einschränkungen frei entfalten können soll. 126 Konsumfreiheit hat den Rang eines Grundrechtes, das nicht angetastet werden darf. Der marktwirtschaftliche consensus omnium in diesem Punkt betrifft allerdings nur die uneingeschränkte Wahlfreiheit des Konsumenten in dem Sinn, daß er im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten zwischen den angebotenen Gütern und Dienstleistungen durch Kauf nach Belieben entscheiden kann. Die Übereinstimmung in diesem Punkt kann freilich nicht überraschen, wenn man bedenkt, daß ohne Wahlfreiheit des Käufers das gesamte Konkurrenzsystem, ein Grundpfeiler der Marktwirtschaft, ad absurdum geführt wäre. Zwischen den verschiedenen Angeboten wählen zu können ist denknotwendig und tatsächlich eine Möglichkeitsbedingung der Marktwirtschaft. Nun ist die Wahlfreiheit gewiß eine Freiheit, die wir nicht missen möchten. Wer wählen kann, ist freier als einer ohne Wahlmöglichkeit. Aber offenkundig hängt der Wert der Wahlfreiheit von den konkreten Entscheidungsmöglichkeiten, also vom realen Konsumgüterangebot ab. Die unbefriedigende Lage des Konsumenten seinerzeit in den Zentralverwaltungswirtschaften des Ostens bestand ja

126

Vgl. Peter Meyer-Dohm: S. 22.

70

F. Konsumfreiheit

oft weniger im Mangel an Wahlfreiheit als in der Unzulänglichkeit des Warenangebotes. In den entwickelten Marktwirtschaften ist das Konsumgüterangebot gewiß nicht dürftig; dennoch stellt sich die Frage, ob die bloße Wahlmöglichkeit die ganze Antwort der Marktwirtschaft auf die Frage der Konsumfreiheit sein könne: Genügt allein die Wahlfreiheit, um den Konsumenten in die vom Konzept der Marktwirtschaft postulierte Rolle deren einzigen Zweckes einzusetzen?

4. Konsumentensouveränität Konsumentensouveränität, ein normatives Postulat des marktwirtschaftlichen Systems, ist durch Wahlfreiheit allein nicht verwirklicht. Die bedeutsame Frage, ob Konsumfreiheit allein in der Wahlfreiheit des Konsumenten bestehe, wird vom ursprünglichen Konzept der Marktwirtschaft eindeutig verneint, über die bloße Kaufentscheidung in konkreter Situation hinaus ist dem Konsumenten nämlich die Steuerung der Produktion im Wege der Nachfrage zugeordnet Der Konsument soll nicht nur zwischen irgendwelchen Angeboten wählen können, sondern auch das Güterangebot selbst mitbestimmen - ein Quantensprung an Konsumfreiheit gegenüber der bloßen Wahlmöglichkeit. Das ganze System der Marktwirtschaft, vor allem der Konkurrenzmechanismus, ist auf Steuerung der Produktion und damit des Warenangebotes durch die Nachfrage - zuletzt durch die Nachfrage des Konsumenten - angelegt. Unternehmungen, deren Produkte nicht gefragt sind und deshalb nicht gekauft werden, gehen zugrunde. Für die Steuerung der Wirtschaft durch die Nachfrage des Letztverbrauchers hat sich der Begriff „Konsumentensouveränität" eingebürgert. Das ein wenig pathetische Wort 1 2 7 besagt, daß dem Wesen der Sache nach der Konsument Herrscher über die Produktion ist bzw. sein soll. 128

127 Der Terminus technicus Konsumentensouveränität dürfte auf William H. Hütt zurückgehen, welcher ihn 1931 erstmals verwendet haben soll (vgl. Peter Meyer-Dohm, S. 54). 128 Dieses Verständnis von Konsumentensouveränität scheint das gängige zu sein. In der Literatur findet sich allerdings auch eine insofern strengere Auffassung, als die Frage der Autonomie des Konsumenten einfließt, so etwa bei Jerome Rothenberg: Wiedersehen mit der Konsumentensouveränität und Entdeckung der Vorteile der Wahlfreiheit, in: Konsum und Nachfrage, hrsg. von Erich und Monika Streissler, S. 471 : „So wie es gegenwärtig gebraucht wird, ist das Prinzip der Konsumentensouveränität ein Werturteil, das die Forderung enthält, wir sollten den Grad der Erfüllung der Konsumentenwünsche (bzw. den Grad, bis zu dem die Marktleistung den Geschmacken der Konsumenten ent-

4. Konsumentensouveränität

71

Konsumentensouveränität ist ein normatives Postulat des marktwirtschaftlichen Systems, „ v ö l l i g in das liberale Ordnungsgebäude und Denken als selbstverständliches Element eingeschmolzen" 1 2 9 . „Consumer Sovereignty and the liberal system ... stand or fall together." 1 3 0 „Consumer Sovereignty is a basic concept o f economics." 1 3 1 In Analogie zum politischen System der Demokratie spricht man von „Demokratie des Marktes", in welcher der Konsument m i t seiner Kaufentscheidung, als „Stimmzettel" quasi, zur Steuerung der Produktion berufen i s t . 1 3 2 Das Postulat der Konsumentensouveränität resultiert denknotwendig aus einem Wirtschaftssystem, i n dem der Konsum alleiniger Zweck und die Wirtschaft bloß M i t t e l i s t . 1 3 3 Beachtlicherweise w i r d die Herrschaft des Konsumenten über die Wirtschaft von A d a m Smith nicht nur aus seiner Fundamentalthese abgeleitet, sondern auch spricht) als Kriterium der Bewertung der gesellschaftlichen Erwünschtheit verschiedener sozialer Verhältnisse verwenden - und damit der Erwünschtheit der verschiedenen öffentlichen Maßnahmen oder institutionellen Gegebenheiten, auf denen die sozialen Verhältnisse beruhen." Die Kritik Rothenbergs bezieht insofern auch Elemente der Autonomie des Konsumenten mit ein, als er (S. 479 ff.) zeigt, daß die kaufentscheidenden Geschmacke des Konsumenten ihrerseits durch Werbung und andere endogene Faktoren beeinflußt sind. Aus diesem Grund sieht Rothenberg den Begriff der Konsumentensouveränität ad absurdum geführt und plädiert für die bloße Wahlfreiheit. - Ich stimme dieser Problematisierung zu, weil die vom System geforderte Souveränität des Konsumenten verloren geht, wenn der „Souverän" seinerseits durch fremde Faktoren beherrscht wird, ziehe es aber vor, die Autonomieproblematik gesondert zu behandeln. Die Frage der Selbstbestimmung des Konsumenten und der Versuch ihrer Lösung bildet das Hauptthema der vorliegenden Arbeit. 129

Peter Meyer-Dohm: S. 57.

130

George H. Hildebrand: Consumer sovereignty in modern times, in: American Economic Review 41, 1951, Papers and Proceedings, S. 33. 131

Ch. Fulop: Consumers in the Market, Heft 13 der Research Monographs, hrsg. von The Institute of Economic Affairs, London and Thetford 1967, S. 11 (zitiert in: Dietmar Jeschke: Konsumentensouveränität in der Marktwirtschaft - Idee, Kritik, Realität, Berlin 1975. 132

Wilhelm Röpke: Civitas Humana, Erlenbach-Zürich 1946, S. 61, prägt das Wort von der „Demokratie der konsumierenden Gesellschaft". 133 In diesem Sinn sagt Peter Meyer-Dohm, S. 77: „Die Wirtschaftsordnung ist, wie bekanntlich das Wirtschaften selbst, nicht Selbstzweck, sondern von außerökonomischen Zielen und Zwecksetzungen abhängig. Sie hat instrumentalen Charakter... Die menschlichen Bedürfnisse, deren Befriedigung Zweck des Wirtschaftens ist, lassen damit den Bedürfnisträger, den Konsumenten, in einer ausschlaggebenden Position erscheinen." Meyer-Dohm zitiert in diesem Zusammenhang Otto von Zwiedinek- Südenhorst (Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl. Berlin-Göttingen-Heidelberg 1948, S. 2) als repräsentativ für die herrschende Lehrmeinung: „Im Mittelpunkt allen Wirtschaftens steht der Mensch mit seinen Zielen und Zwecken, also auch mit seinen Bedürfnissen, denn deren Befriedigung setzt er als Zweck."

72

F. Konsumfreiheit

mit einer Interessenabwägung verbunden. Da alle Menschen Konsumenten sind, erachtet er das Konsumenteninteresse als Allgemeininteresse, das Produzenteninteresse hingegen als Partialinteresse. Folgerichtig fordert er den Primat des Konsumenteninteresses vor dem Produzenteninteresse. 134 Wenn hier von einem Gegensatz zwischen Konsumenten- und Produzenteninteresse ausgegangen ist - übrigens auch geschichtlich bedingt 135 - , so imponiert es als Geniestreich des marktwirtschaftlichen Systems, diesen Gegensatz durch das Wirken der berühmten „unsichtbaren Hand" zugunsten beider Teile aufzuheben. Denn der Produzent dient hier dem Konsumenteninteresse gerade durch eigene Gewinnmaximierung optimal. In diesem Sinn ist Konsumentensouveränität als Postulat nicht nur vom Konsumenten, sondern auch von den Konsumgüteranbietern internalisiert. Dies zumindest in der Kommunikation mit dem Kunden, wie sie sich in der charakteristischen Kaufmannssprache der Anbieter darstellt, wenn sie „zu Diensten stehen" und den Kunden „König" sein lassen. Die real existierende Marktwirtschaft entspricht dem Postulat der Konsumentensouveränität freilich nur zum Teil. Als Gründe für die Differenz von Norm und Wirklichkeit werden genannt: Es fehle an Voraussetzungen wie vollkommene Konkurrenz der Anbieter und vollständiger Markttransparenz der Konsumenten; die Konsumenten könnten insbesondere bei neuartigen Produkten die echten Marktleistungen nicht erkennen; die Präferenzen der Konsumenten würden als gegeben angenommen, unterlägen aber in Wirklichkeit der Beeinflussung durch die Werbung; der Konsument entscheide nicht rational, seine „Souveränitätswürdigkeit" sei daher fraglich; schließlich lasse sich die Einheit der Person des produzierenden und konsumierenden Menschen nicht in einen herrschenden Teil (als Konsument) und einen dienenden Teil (als Produzent) aufspalten. 136 Derartige Kritik zeigt zwar Grenzen möglicher bzw. wirklicher Konsumentensouveränität auf, stellt aber die Konsumentensouveränität als normatives

134 Adam Smith, S. 518 f.: „Konsumtion ist der einzige Zweck aller Produktion; und das Interesse des Produzenten sollte nur insoweit berücksichtigt werden, als es zur Förderung des Konsumenteninteresses nötig ist". 135 Historisch bedingt durch das Selbstverständnis des Wirtschaftsliberalismus im Gegensatz zum Merkantilismus, in welchem Adam Smith das Konsumenteninteresse dem Interesse des Produzenten weitgehend untergeordnet sieht {Adam Smith: S. 519). 136 Vgl. Peter Meyer-Dohm: S. 63 ff., Zusammenfassung S. 74 f. - Es ist an dieser Stelle nochmals festzuhalten, daß sich manche Einwände gegen die Konsumentensouveränität nicht gegen diese selbst richten, sondern gegen Autonomiedefizite des Konsumenten. Die beiden Begriffe werden oft nicht hinreichend unterschieden. - Siehe dazu auch Erich und Monika Streissler, Einleitung, S. 135 f.

5. Konsumentenautonomie

73

Postulat nicht grundsätzlich in Frage. Bezüglich der Realisierung scheinen nur zwei Punkte von wesentlicher, nicht bloß gradueller Bedeutung. Der eine Punkt betrifft die radikale Spaltung des Menschen einerseits in einen herrschenden zweckartigen Teil als Konsument und andererseits in einen dienenden mittelartigen Teil als Produzent 131. Sie ist deshalb unhaltbar, weil der Mensch in der Einheit seiner Person letztlich ein unteilbares Ganzes ist und sich als solches erlebt. Der zweite Punkt betrifft die Beeinflussung des Konsumenten durch die Anbieter mittels Werbung - unser eigentliches Thema. Die Substanz des Problems besteht darin, daß die Beeinflussung des Konsumenten durch die Anbieter einerseits notwendig und unvermeidbar ist, andererseits jedoch unterbleiben muß, um Konsumfreiheit zu ermöglichen. Dieses Problem wird in der Folge zu entfalten sein, um abschließend einen Lösungsvorschlag anzubieten.

5. Konsumentenautonomie Der Konsument ist „LetztverbraucherLetztverbrauch kraft autonomer Setzung des Konsumenten.

ist Selbstzweck

Konsumfreiheit ist ein Anspruch des marktwirtschaftlichen Systems gegen sich selbst und ein dem Konsumenten geleistetes Versprechen. Konsumfreiheit ist, einem Wort Oswald v. Neil-Breunings zufolge, von „existenzieller Bedeutung" für die Humanität einer freien Gesellschaft. 13S Die weitere Untersuchung des Problems erscheint begründet. Wie schon erwähnt, neigen viele Ökonomen zur Gleichsetzung von Wahlfreiheit und Konsumfreiheit. Dies vor allem mit der zunächst plausibel scheinenden Begründung, daß der Konsument, wenn er unter verschiedenen Angeboten wählen kann, sich selbstverständlich für jene Angebote entscheidet, von denen er sich ceteris paribus - den größten Nutzen verspricht. Die von Paul A. Samuelson 1938 in die Nationalökonomie eingeführte Hypothese der durch den Kauf bekundeten Präferenz („ revealed preference "J 1 3 9 simplifiziert das Problem der Konsumfreiheit insofern, als sie die Frage nach dem Zustandekommen der Präferenzen erübrigt 137

Vgl. William H. Hütt: Economists and the Public - A Study of Competition and Opinion, London 1936, S. 257 f.: „... as a Consumer he commands other producers." As a producer „he must apply himself ... to producing what the community wants..." 138

Oswald v. Nell-Breuning : Sinnbestimmung der Wirtschaft aus letzten Gründen, in: Grundsatzfragen der Wirtschaftsordnung, Berlin 1954, S. 245. 139 Paul A. Samuelson: A note on the Pure Theory of Consumers Behavior, Economica, 5 (1938), S. 61 ff.

74

F. Konsumfreiheit

und den Ökonomen auf den sicheren Boden der Fakten im Sinne der Marktdaten, also der Mengen und Preise, stellen zu können meint. 140 Daher ist die Bereitwilligkeit von Ökonomen, die Frage nach dem Zustandekommen der Verbraucherpräferenzen auszuklammern und Konsumfreiheit mit Wahlfreiheit gleichzusetzen, verständlich; eine andere Frage ist es freilich, ob wir uns damit hinsichtlich der vom marktwirtschaftiichen Konzept geforderten Konsumfreiheit bescheiden können. Ist diesbezüglich nämlich nicht gerade die ausgeklammerte Frage nach dem Zustandekommen des Kaufverhaltens des Konsumenten von allergrößter Bedeutung ? Wie frei wäre denn ein Konsument, wenn seine Geschmacke und Nutzenvorstellungen überwiegend durch Fremdeinflüsse verursacht wären? Zur Klärung dieser Frage müssen wir tiefer schürfen. Wie so oft hilft uns die Sprache dabei, indem wir von Konsum synonym als „Endverbrauch" oder „Letztverbrauch" reden: Konsum ist nicht irgendein Zweck, sondern Endzweck, letzter Zweck der Marktwirtschaft. Wodurch nun unterscheidet sich der Konsum als Endverbrauch von anderen Arten von Verbrauch, wie sie überall in der Wirtschaft vorkommen? Wodurch unterscheiden sich Enc/zwecke von Zwecken, die nicht Endzwecke sind? Im betrieblichen oder gqsamtwirtschaftlichen Kreislauf mode II von Mitteln und Zwecken läßt sich keiner der Zwecke, für die Mittel aufgewendet werden, als Endzweck bestimmen. Was in der einen Beziehung Zweck ist, wird in der anderen Beziehung zum Mittel. Beispielsweise ist im betrieblichen Umsatzprozeß die Materialbeschaffung Mittel für den Zweck der Produktion; die Produktion ihrerseits ist Mittel für den Zweck des Verkaufs; der Verkauf wiederum ist Mittel für den Zweck der Erzielung von Erlösen; die Erlöse sind Mittel für die Finanzierung des Materialeinkaufs usf. - ein Kreislauf von Mitteln und Zwecken ohne Ende, in welchem keiner der Zwecke als Endzweck und keiner der Verbräuche als Leiziverbrauch auszumachen ist. Gleiches gilt, mutatis mutandis, für die Gesamtwirtschaft. Im Kreislaufmodell stellt sich die Produktion als Mittel für die Konsumtion und die Konsumtion als Mittel für die Produktion dar. Auch hier gibt es kein Ende und nichts Letztes. Doch folgt der fundamentale Systemgedanke der Marktwirtschaft dem Kreislaufmodell im Hinblick auf den Konsum nicht. In der Marktwirtschaft gilt Konsum als einziger Zweck schlechthin. Wiewohl dieser Endzweck in der Marktwirtschaft durch betriebliche und gesamtwirtschaftliche Kreisläufe verwirklicht wird, spielt der Konsum hier nicht die Rolle eines Mittels für andere Zwecke. Nur aus diesem Grund soll ja gerade der Konsumentennutzen maximiert werden, 140

Vgl. Tibor Scitovsky: Psychologie des Wohlstands, S. 13. - John K. Galbraith (Gesellschaft im Überfluß, 3. Aufl., Knaur Taschenbuch Bd 23, 1970, S. 159 f.) zufolge ist es eine Hauptthese der Theorie der Verbrauchernachfrage, daß die Bedürfnisse der Persönlichkeit des Verbrauchers selbst entspringen.

5. Konsumentenautonomie

75

während der Maximierungsimperativ für keinen der Zwecke im betrieblichen oder gesamtwirtschaftlichen Kreislauf gilt. Etwa wäre es sinnlos, ja tödlich, die Produktion über die absetzbare Menge hinaus zu steigern oder gar zu maximieren. Daraus folgt nun die weitere Frage, wodurch eigentlich die Konsumzwecke ihre Gültigkeit als Endzwecke erlangen. Auf diese Frage gibt es nur eine einzige sinnvolle und systemkonforme Antwort: Als Endzweck gilt der Konsum kraft autonomer Setzung des Konsumenten. 141 Der Konsument entscheidet aus eigenem über seine Konsumziele als für ihn subjektiv gültige Eigenwerte und Selbstzweckt. Seine Entscheidung bedarf keiner anderen Begründung oder Rechtfertigung als durch seinen eigenen Wunsch und Willen. Im marktwirtschaftlichen Konzept ist der Konsument autonom. Das marktwirtschaftliche Konzept darf freilich nicht mit der real existierenden Marktwirtschaft verwechselt werden. Denn diese scheint, allen ideologisch motivierten Beteuerungen zum Trotz, von Selbstbestimmung des Konsumenten recht weit entfernt. Das ließen ja schon die eingangs dieser Arbeit zitierten Fakten vermuten, wenn sie zeigen, daß sich das Streben des Konsumenten heute auf ein Ziel richtet, dessen Erreichung ihn nicht zufriedener macht. Die Autonomie des Konsumenten besser als gegenwärtig zu verwirklichen ist als systemimmanentes Postulat der Marktwirtschaft und als gesellschaftspolitischer Auftrag ernstzunehmen. Folglich müssen wir nun genau die von der Ökonomie so gerne vermiedene, hypothetisch ausgeklammerte Frage nach dem Zustandekommen der durch den Kauf bekundeten Präferenzen gründlich untersuchen. 141

Die Unterscheidung zwischen Zwecken, die wieder anderen Zwecken dienen, und Endzwecken geht übrigens auf die Unterscheidung von Poiesis und Praxis schon bei Aristoteles zurück. „Unter Poiesis versteht er die Herstellung von Gegenständen, das handwerkliche Können, zum Beispiel Schuhmacherei, Schneiderei, Baumeisterei... Beispiele für Praxis im Sinne des Aristoteles wären Freundschaft, Hauswirtschaft, Politik... Poiesis hat ihren letzten Zweck immer außer sich, sie ist an Mitteln orientiert, die zuletzt immer einem anderen Zweck dienen, der durch die Poiesis nicht bestimmt ist. Praxis aber meint Handlungen, welche ihren Zweck in sich selbst haben..." (Hans-Dieter Klein: Geschichtsphilosophie, Einführung, Wien 1984, S. 25). - Daß in diesem Zusammenhang die Hauswirtschaft unter den Endzwecken (als Praxis) genannt ist, im Gegensatz zu den Handwerken (als Poiesis), zeigt, wie wenig die Fundamen tal these der Marktwirtschaft Konsum als alleiniger Zweck aller Produktion - der bloßen Willkür eines Adam Smith und seiner Nachfahren oder etwa zeitbedingten Umständen entstammt. Denn die Hauswirtschaft (der „Haushalt", das „Haus") ist Ort des Konsums und der konsumtiven Selbstverwirklichung. Wegen der unmittelbaren Konsumbezogenheit der Hausarbeit ist es auch aus heutiger Sicht gerechtfertigt, die Produktionssphäre des Haushaltes den Endzwecken zuzuordnen. Produktion und Konsumtion sind im Privathaushalt - wenngleich nicht technisch, so doch motivlich - konkret eins. In diesem Zusammenhang scheint beachtlich, daß Hausarbeit zwar dann als „Arbeit" gilt, wenn sie von Dienstboten verrichtet wird, doch nicht, wenn sie von einem Familienmitglied geleistet wird.

. Bedürfnis 1. Die Frage des Entstehens freier Bedürfnisse Die Existenzbedürfnisse sind durch Natur und Tradition freien Bedürfnisse nicht: Wie kommen sie zustande?

vorgegeben, die

Die Wirtschaftspraxis geht mit dem Wort „Bedürfnis" meist recht sorglos um. Was immer zum Kauf von Gütern und Dienstleistungen durch den Konsumenten führt oder führen kann, wird als Bedürfnis bezeichnet. Die schlichte Logik solchen Denkens und Sprachgebrauchs liegt darin, daß der Konsument ohne entsprechendes Bedürfnis ja nicht kaufen würde. Derart unkritische Verwendung des Wortes Bedürfnis mochte vor der ökonomischen Zeitenwende, als weithin Mangel am Existenznotwendigen herrschte, Berechtigung haben, weil die Überlebensbedürfnisse, durch Natur und Tradition bestimmt, mehr oder weniger fix gegeben waren. Die freien Bedürfnisse der Überflußgesellschaft hingegen sind nicht in dieser Weise vorgegeben. Bedeutenden Nationalökonomen der Gegenwart ist dieser Sachverhalt durchaus bewußt. Erich Streissler faßt unter Hinweis auf J.S. Duesenberry, Th. Veblen, R.T. Norris und G. Katona zusammen: „Der Neoklassik erschienen die Bedürfnisse in ihrer überindividuellen Grundlage weitgehend vom Wesen des Menschen vorgegeben. Ebenso implizierten viele ihrer Modelle den Gedanken, daß der Mensch beim Eintritt in das Konsumleben ein wohlformuliertes und ein für allemal festgelegtes Nutzensystem aufweist. Heute ist man sich stärker bewußt, daß kaum die großen Bedürfniskategorien (mit Ausnahme etwa der Nahrung) naturgegeben sind und ihre Einzelausformungen, soweit sie überindividuelle Gleichartigkeit aufweisen, fast nur sozial bedingt sind..." 1 4 2 Mit der sozialen Bedingtheit der Bedürfnisse ist unser zentrales Problem angesprochen. Halten wir fest: Mit zunehmender Bedeutung der freien Bedürfnisse sowie nach entsprechender Ausweitung und Differenzierung des Güterangebotes kann die Vorgegebenheit bestimmter Bedürfnisse nicht mehr vorausgesetzt werden. Im Gegensatz zu den Überlebensbedürfnissen liegt ja die Freiheit der freien Bedürfnisse eben darin, daß sie nicht vorgegeben, sondern der autonomen Entscheidung des Konsumenten überlassen sind. 142

Erich Streissler:

Konsum und Nachfrage, S. 22.

2. Objektbesetzung

77

So stellt sich die Frage, wie es denn zur Bestimmtheit freier Bedürfnisse komme: Wie entstehen unsere konkreten Konsumwünsche nach bestimmten Gütern? Es wird zu zeigen sein, daß unsere Wünsche und Bedürfnisse - entgegen einem naiven subjektiven Empfinden - nicht im sozialen Vakuum als autarke Akte des einzelnen entstehen können. Der Hinweis auf den eigenen Wunsch und Willen vermag die Frage nach der geforderten Autonomie des Konsumenten nur vordergründig zu beantworten. Genau diese Frage ist aber für unser Thema problemkonstitutiv: Einerseits muß die Wirtschaft Gegebenheit der Bedürfnisse voraussetzen, um sich an ihnen als ihren Zwecken orientieren zu können, doch andererseits ist diese Voraussetzung unzulässig, weil sie auf die freien Bedürfnisse nicht zutrifft. Der Widerspruch wird zu untersuchen sein.

2. Objektbesetzung Ohne konkretes Güterangebot könnte der Konsument gar nicht wissen, was er braucht. In der Wissenschaft hat sich der Bedürfnisbegriff Friedrich von Hermanns durchgesetzt, welcher unter Bedürfnis bekanntlich das „Gefühl eines Mangels mit dem Streben, ihn zu beseitigen" versteht. 143 Die Praxis hingegen pflegt das Wort „Bedürfnis" in pragmatischer Direktheit als Streben nach einem bestimmten Gut - beispielsweise nach einem Glas Wein, nach einem Abendkleid oder nach einem Fotoapparat - zu verwenden. Der Unterschied der beiden Begriffe liegt in der Objektbesetzung. Während die Praxis im Bedürfnisbegriff ein bestimmtes Objekt der Bedürfnisbefriedigung mitdenkt, fehlt dem in der Wissenschaft vorherrschenden abstrakteren Bedürfnisbegriff die Objektbesetzung. Das objektbesetzte Bedürfnis pflegt sie mit dem Wort „Bedarf" zu bezeichnen.144 Ohne die wichtige Differenz der Objektbesetzung preiszugeben, schließe ich mich dem Sprachgebrauch der Praxis an und unterscheide zwischen „Antrieb" 143

Friedrich

von Hermann: Staatswissenschaftliche Untersuchungen, München 1870,

S. 5. 144

Erich Streissler. Konsum und Nachfrage, S. 22: „Die subjektive, psychische Grundlage des Konsumwillens wird Bedürfnis genannt ... Die Objekte, auf die sich die Bedürfnisse richten, heißen Bedarfe: Es sind dies die zur Bedürfnisbefriedigung geeigneten wirtschaftlichen Güter." - Dietmar Jeschke: S. 82, spricht von „ziel- und objektblinden Bedürfnissen" und nennt sie „Blankobedürfnisse", ebenso wie Peter Meyer-Dohm, a.a. O., S. 171 f. - über die „Formierung der Bedürfnisse" im Sinn deren Konkretisierung zu Bedarfe η scheint weitgehend Einigkeit zu herrschen.

G. Bedürfnisse

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und „Bedürfnis". Antrieb sei ein Streben noch ohne bestimmte Objektbesetzung 145 , das noch nicht konkretisierte Gefühl eines Mangels, während das Wort Bedürfnis - hier und in der Folge - das Streben nach etwas Bestimmtem meint: nach einem bestimmten Gut, nach einer bestimmten Dienstleistung. So empfinden wir beispielsweise das „Bedürfnis nach einer größeren Wohnung" oder das „Bedürfnis nach einem Urlaub in der Sonne" oder das „Bedürfnis nach Pflegebetreuung". Solche Bestimmtheit der Bedürfnisse ist im Bereich der Existenzbedürfnis se vor der ökonomischen Zeitenwende durch gewachsene Traditionen entstanden und in diesem Sinn gegeben. Das trifft nach der ökonomischen Zeitenwende auf die freien Bedürfnisse, wie schon gesagt, nicht in gleicher Weise zu. Es liegt dies im Wesen der freien Bedürfnisse. Der Sachverhalt ist übrigens sowohl aus Sicht des Konsumenten (als Käufer) als auch aus Sicht des Anbieters (als Verkäufer) leicht nachvollziehbar. Hat doch die betriebswirtschaftliche Vertriebsfunktion die Konkretisierung eines vorher noch nicht objektbesetzten Antriebes zum Bedürfnis nach dem Produkt des Anbieters zur Aufgabe. Der Konsument kann ja nur aufgrund solch konkreter Bestimmtheit kaufen. Etwas Unbestimmtes kann man nicht kaufen. Jedes Bedürfnis ist demnach auch durch das Mittel zu seiner Befriedigung bestimmt, also durch das Güterangebot. Das hat Folgen für die Autonomie des Konsumenten.

3. Plastizität Durch die nahezu grenzenlose Formbarkeit der menschlichen Antriebe und Bedürfnisse stellt sich die Frage nach den formenden Kräften in aller Radikalität. Die Natur des Menschen setzt der Gestaltbarkeit seiner Antriebe bzw. Bedürfnisse kaum Grenzen. Sie sind in weitem Rahmen „plastisch" 146 . Bezüglich der 145 Zwecks terminologischer Klarheit ist anzumerken: Die bekannte Einteilung der Bedürfnisse nach Abraham Maslow: Motivation und Persönlichkeit, Ölten 1978, S. 74 ff., in 1. physiologische Bedürfnisse, 2. Bedürfnis nach Sicherheit, 3. Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe, 4. Bedürfnis nach Achtung, 5. Bedürfnis nach Selbstverwirklichung klassifiziert im Sinne meiner Terminologie mangels bestimmter Objektbesetzung nicht verschiedene „Bedürfnisse", sondern verschiedene „Antriebe". 146

Gerhard Scherhorn: Soziologie des Konsums, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, hrsg. von René König, Π. Bd., Stuttgart 1969, S. 31, formuliert: „... das Bedürfnis muß als plastisch, als wandelbar und formbar aufgefaßt sein, und es darf nicht als individuell gegeben vorausgesetzt... werden." - Und Peter Hunziker: Erziehung zum

3. Plastizität

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Bedürfnisse - als objektbesetzt - erweist sich die Formbarkeit schon aus der Vielfalt des Güterangebotes. Ein und derselbe Antrieb läßt sich zu unterschiedlichen Bedürfnissen ausformen, wie schon die unterschiedlichen Speisezettel der verschiedenen Nationen zeigen. Die Plastizität der Bedürfhisse macht die Befriedigungsmittel in weitem Rahmen substituierbar , was zum Phänomen der nahezu universellen Konkurrenz der Anbieter von Konsumgütern über die Grenzen von Branchen und Güterarten hinweg führt. Das gilt insbesondere für die freien Bedürfnisse . Da im Überfluß überhaupt nichts Bestimmtes mehr notwendig ist, sind sie im weitesten Rahmen durch das Güterangebot gestaltbar und gestaltet. Die Wahlentscheidung des Konsumenten für ein bestimmtes Angebot hängt von der subjektiven Attraktivität der verschiedenen Angebote ab. Ein entsprechend vielfältiges Güterangebot wird deshalb zur Möglichkeitsbedingung der konkreten Erfüllung dieses Raumes der Freiheit des Konsumenten. So weit, so gut. Die Konsumgüteranbieter tun ohnehin alles, um die Vielfalt des Angebotes und die Attraktivität ihrer Angebote zu steigern. Woher aber kommt deren Attraktivität? Um diese Frage zu klären, müssen wir nochmals auf die Antriebe zurückkommen. Denn die Antriebe des Menschen ihrerseits sind nicht wie beim Tier einfach naturgegeben, sondern variabel und formbar. Arnold Gehlen weist mit Nachdruck auf die „innere Unstabilität des menschlichen Antriebslebens ... als fast grenzenlos" 147 hin. Unter Berufung auf die in Amerika betriebene vieldimensionale Kulturforschung spricht er von der „Flüssigkeit des Trieblebens", von einer „außerordentlichen menschlichen Plastizität und Formbarkeit", von „Instinktentbundenheit und Nichtfestgelegtheit des Menschen" 148 . Genau hier liegt unser Problem. Die Erfolge der Marktwirtschaft haben nämlich nicht nur unsere objektbesetzten Bedürfrisse gründlich verändert, sondern auch unsere Antriebsstruktur Im allgemein herrschenden Streben nach mehr Geld und Konsum sind unsere Wertvorstellungen und Lebensziele andere geworden. Deshalb verdient die Frage , in welcher Weise die real existierende Markt Überfluß - Soziologie des Konsums, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1972, S. 10, erläutert: „Die tierische Bedarfsstruktur ist Ausdruck organischer Gegebenheiten. Wie diese ist sie praktisch unveränderbar. Dasselbe gilt für die Art und Weise der Bedarfsdeckung; beim Wegfall der natürlich vorgegebenen Befriedigungsmöglichkeiten kann sie das Tier meist nicht durch andere ersetzen. Die Bedürfnisstruktur des Menschen dagegen ist variabel und relativ vage. Sie konkretisiert sich erst in der Auseinandersetzung mit den Befriedigungsobjekten, welche die Umwelt darbietet. Die menschlichen Bedürfnisse sind also nicht naturgegebene Tatbestände..., sondern sie sind gesellschaftlich vermittelt, weitgehend abhängig von den vorhandenen Befriedigungsmöglichkeiten..." 147 Arnold Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 59. 148

Ebenda, S. 22.

G. Bedürfnisse

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Wirtschaft unsere Antriebe und Bedürfnisse in den weiten Grenzen deren Gestaltbarkeit beeinflußt, im Hinblick auf die Autonomie des Konsumenten unser volles Interesse.

4. Standards Das Autonomieproblem des Konsumenten läuft letztlich auf die Frage hinaus, welche Instanzen es sind, die unser Denken, Fühlen und Verhalten in welcher Weise regeln. Ein Haupteinwand gegen das Autonomiepostulat wird aufgrund der Tatsache erhoben, daß der Konsument in seinen Wünschen und Entscheidungen von anderen beeinflußt ist. Jerome Rothenberg drückt den Sachverhalt in einem einprägsamen bildhaften Vergleich aus: „In früheren Zeiten konnte man sich vorstellen, daß der Geschmack einer Person eine einzigartige Wiedergabe dessen sei, was ihre unzerstörbare Eigenart ausmachte. Die Membram, welche das Individuum von seiner Umgebung trennt, wurde als Festkörper gedacht. Die Sozialwissenschaft der letzten 30 Jahre hat diese Auffassung geändert. Jetzt sieht man, daß und wie Geschmacke, ja die Persönlichkeit selbst, im Sozialnexus geschaffen und zerstört werden. Die abgrenzende Membram ist beängstigend durchlässig. Die Geschmacke einer Person ... sind auch nicht mehr annähernd ...ihre eigeul49

nen. An der Tatsächlichkeit solcher Beeinflussung wird wohl niemand zweifeln. Sie beginnt schon im Kindesalter in der Familie. Ist es doch Aufgabe der Erziehung, den jungen Menschen in die Gesellschaft einzugliedern und ihm deren Wertvorstellungen einzupflanzen. 150 Dieser Integrationsprozeß wird durch die Schule und das Leben insgesamt fortgesetzt. Er vollzieht sich durch Vermittlung der in einer Gesellschaft gültigen „Standards": deren Denk-, Fühlund Verhaltensnormen. Ein Großteil unseres Lebens ist in dieser Weise geregelt. Aus dieser Art von Beeinflussung läßt sich indes nur von einer völlig unhaltbaren radikal individualistisch-atomistischen Ideologie her ein grundsätzlicher Einwand gegen die Autonomie des Individuums ableiten. Denn der Mensch ist animal sociale, Gemeinschaftswesen. Das gilt nicht nur im Sinn der Tatsache, daß der einzelne in aller Regel mit anderen Menschen zusammenlebt, sondern viel grundsätzlicher. Es gilt für das Wesen des Menschen. Der Mensch ist a pri149 150

Jerome Rothenberg, S. 484.

René König: Soziologie der Familie, in: Soziologie, hrsg. von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, 2. Aufl. Düsseldorf und Köln 1955, S. 134 f., spricht von einer „zweiten Geburt" des Menschen in der Familie.

4. Standards

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ori Gemeinschaftswesen. Die Vorstellung eines absolut einzelnen ist irreal und unsinnig. Ohne von anderen Menschen beeinflußt zu sein, hätten wir nicht einmal Sprache. Wir wären in der Welt orientierungslos, unfähig zu Kommunikation und Kooperation. 151 Obgleich Freiheitseinschränkung durch gesellschaftliche Standards nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet die Beeinflussung durch soziale Normen keineswegs zwangsläufig Freiheitseinschränkung. Im Gegenteil: Die internalisierten Standards treten an die Stelle der dem Menschen fehlenden Instinktregelungen. Arnold Gehlen zufolge dienen sie auch der Entlastung des Individuums 152, denn sonst müßten wir einen beträchtlichen Teil unserer Energie zur Bewältigung banaler Alltagssituationen aufwenden. So gesehen sind die Standards nicht nur Einschränkung, sondern auch Möglichkeitsbedingung individueller Freiheit. In der Beeinflussung durch andere das Postulat der Konsumentenautonomie ad absurdum geführt zu sehen, gerät in den Verdacht, sich um die Aufgabe, Konsumfreiheit zu ermöglichen und zu gewährleisten, drücken zu wollen. Eine Preisgabe dieses Postulats hätte katastrophale Folgen für das liberale Ethos der Marktwirtschaft, unter welchem sie angetreten ist, weil wir bei der Konkretisierung unserer Bedürfnisse unabdingbar auf das Angebot an bestimmten Konsumgütern angewiesen sind. 153 Und diese stammen in einer Tauschwirtschaft großteils von anderen. Zumal jeder Markenartikel wird als eigener Standard vermarktet, oft sogar als Kultgegenstand. Die Konsumgesellschaft als solche ist in gewissem Sinn ein Gesamtstandard, dem sich ihre Mitglieder fügen. Zwar kann sich der einzelne den herrschenden Standards widersetzen, doch bezahlt er dafür den Preis des Außenseitertums, eine empfindliche Sanktion der Konsumgesellschaft. 151

Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, München 1992, S. 57 f., illustriert den Sachverhalt empirisch: „Von den vielen berichteten Fällen ist wohl die Geschichte von Amala und ihrer Schwester Kamala, um die sich von ihrer Säuglingszeit an Wölfe in den Dschungeln Indiens kümmerten, am besten dokumentiert. Als man sie fand, brachte man sie in ein Waisenhaus, wo ein Pfarrer namens Singh und seine Frau versuchten, sie für das Leben in menschlicher Gesellschaft zu erziehen. Die meisten der mühevollen Anstrengungen der Singhs schlugen fehl oder hatten geringen Erfolg. Die Mädchen fühlten sich elend und lagen nackt in der Haltung von Wölfen in den Ecken ihrer Räume. Nachts wurden sie aktiv und heulten, um die Aufmerksamkeit ihres alten Wolfsrudels auf sich zu ziehen. Nach langem Training lernte Kamala, auf zwei Beinen zu gehen; aber laufen konnten sie immer nur auf allen Vieren. Eine Zeitlang weigerten sie sich, Kleider zu tragen oder gekochte Nahrung zu sich zu nehmen; sie bevorzugten rohes Fleisch und Aas. Kamala lernte fünfzig Wörter, ehe sie im Alter von fünfzehn Jahren starb. Ihre geistige Reife zu dieser Zeit schätzte man - gemessen an menschlichen Standards - auf dreieinhalb Jahre." 152

Arnold Gehlen: S. 64.

153

Siehe oben S. 77 f.

6 Steiner

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G. Bedürfnisse

Das Autonomieproblem des Konsumenten läßt sich demnach nur vor dem Hintergrund des Eingebettetseins des Individuums in die Gesellschaft stellen. In der Marktwirtschaft läuft es letzüich auf die Frage hinaus, wer in welchem Interesse welche Konsumstandards setzt. Da es sich bei unserem Thema um das Konsumgüterangebot der Unternehmungen - nicht der Privathaushalte - handelt, werden wir uns - nach einem kurzen Exkurs über die unaufhebbaren Grenzen der Konsumfreiheit - mit der Rolle der Unternehmungen für die Entstehung der Konsumbedürfnisse zu befassen haben.

5. Exkurs: Grenzen der Konsumfreiheit Die Begrenztheit der Konsumfreiheit Autonomiepostulat.

bildet keinen Einwand gegen das

Wenn Einwendungen gegen die Konsumentensouveränität bzw. gegen die Konsumentenautonomie erhoben werden, lassen sie sich im wesentlichen auf zwei Argumente zurückführen: Erstens würde eine über die Wahlfreiheit hinausgehende Konsumfreiheit nicht die Realität beschreiben; und zweitens sei sie, im Gegensatz zur Wahlfreiheit, nicht realisierbar. Während man dem Befund, daß Souveränität und Autonomie des Konsumenten in der real existierenden Marktwirtschaft nicht verwirklicht seien, zustimmen wird müssen, sollten wir den Einwand der Unrealisierbarkeit schon deshalb untersuchen, weil Souveränität und Autonomie des Konsumenten damit auch als Postulat ad absurdum geführt wären. Da Konsumfreiheit immerhin den Rang einer Zielbestimmung des marktwirtschaftlichen Systems einnimmt, sollten wir eine über die bloße Wahlfreiheit hinausgehende Konsumfreiheit nicht leichtfertig über Bord werfen. Wir müssen differenzieren und die nicht aufhebbaren Grenzen der Konsumfreiheit in Augenschein nehmen, um den Sinn der Konsumfreiheit nicht falsch verstandenen irrealen Ansprüchen preiszugeben. Es wäre ja widersinnig, Konsumfreiheit einerseits zu fordern und andererseits so zu interpretieren, daß ihre Verwirklichung grundsätzlich unmöglich ist. Demnach müssen wir zunächst jene Grenzen der Konsumfreiheit in Augenschein nehmen, die in ihrem Wesen liegen: 1. Die Freiheitseinschränkung beginnt bereits bei unseren Antrieben. Es liegt im Wesen des Antriebes, daß er Befriedigung fordert und schon dadurch die Beliebigkeit unseres Denkens, Fühlens und Wollens einschränkt. Hans-Dieter Klein charakterisiert diesen unaufhebbaren dialektischen Widerspruch im Wesen der Freiheit pointiert als „unfreie Freiheit" 154 . 154

Hans-Dieter Klein: Vernunft und Wirklichkeit, Wien-München 1973, S. 141.

5. Exkurs: Grenzen der Konsumfreiheit

83

2. Eine weitere Einschränkung der Freiheit liegt darin, daß wir uns bei der Entwicklung der Bedürfnisse aus unseren Antrieben auf bestimmte Objekte zu ihrer Befriedigung fesüegen müssen. Damit werden wir vom Güterangebot abhängig, also relativ unfrei 3. Eine weitere Freiheitseinschränkung liegt darin, daß die Freiheit im Akt ihrer Verwirklichung verloren geht: Wenn ich mich aus freien Stücken zur Befriedigung eines Bedürfnisses durch Kauf eines bestimmten Gutes entscheide, so ist dies einerseits die Verwirklichung meiner Freiheit, aber andererseits wird dadurch die Freiheit, mich anders entscheiden zu können, vernichtet. (Aus dem Verlust der Entscheidungsfreiheit erklärt sich übrigens nicht nur das ambivalente Zögern des Käufers in Ausübung seiner Wahlfreiheit bei nicht routinemäßigen größeren Anschaffungen, sondern auch das Phänomen der Verunsicherung des Käufers nach dem Kauf. Autoprospekte pflegen bekannüich niemals so genau wie nach vollzogenem Kaufabschluß studiert zu werden. 155 4. Wegen der Knappheit der verfägbaren Mittel, Voraussetzung allen Wirtschaftens, bedeutet die Befriedigung des einen Bedürfnisses den Verzicht auf die Befriedigung eines anderen Bedürfnisses. Auch darin liegt eine Freiheitseinschränkung. Konsum ist zugleich Konsumverzicht. 156 5. Die Sozialbedingtheit unserer Konsumwünsche durch Standards wurde bereits erörtert. Einerseits ermöglichen uns die angebotenen Güter Konsumfreiheit, andererseits schränkt die Sanktionierung nonkonformen Konsumverhaltens die Konsumfreiheit ein. Die skizzierten unvermeidlichen Freiheitseinschränkungen lassen uns bescheidener werden: Absolute Konsumfreiheit gibt es nicht. Dieser Sachverhalt bildet aber keinen Einwand grundsätzlicher Art gegen das Postulat der Konsumentenautonomie und Konsumentensouveränität als normative Grundlagen des marktwirtschaftlichen Systems. Beide finden hier eine bessere Verwirklichungschance vor als in irgendeinem anderen Wirtschaftssystem.

155

Vgl. Harry Henry: Motivation research, New York 1958, deutsch: Was der Verbraucher wünscht, Düsseldorf 1960, S. 106. 156 Vgl. Helmut Steiner: Lebensgestaltung in Konsum und Arbeit - Zur Zielbestimmung der Sparkassen, Wien 1972, S. 57.

*

Η . Zur Rolle der Unternehmung 1. Autonomie der Unternehmung und Gewinnziel Das Gewinn- bzw. Wachstumsziel beherrscht die Unternehmungen systemkonform, denknotwendig und tatsächlich. Wir können uns nun der Rolle der Unternehmung in der real existierenden Marktwirtschaft mit der Frage zuwenden, in welcher Weise sie Konsumfreiheit einerseits ermöglicht, andererseits bedroht. In der Marktwirtschaft gibt es einzelwirtschaftliche Gebilde verschiedenartiger Zielsetzung: von Kleinbetrieben im Erzeugungs-, Handels- und Dienstleistungsbereich, die, quasi als Einheit von Betrieb und Person, zunächst den Existenzbedürfhissen des Inhabers dienen, bis zu großen gewinnorientierten Unternehmungen und Großbetrieben in öffentlicher Verwaltung, die nicht auf Gewinn, sondern auf Kostendeckung abgestellt sind, wie Universitäten oder Krankenhäuser; doch das paradigmatische einzelwirtschaftliche Gebilde der Marktwirtschaft ist die „Unternehmung". Die Freiheit der Freien Wirtschaft besteht vor allem in der Freiheit der Unternehmungen. Von Adam Smith bis heute gelten die Einschränkungen der unternehmerischen Freiheit - etwa durch Wettbewerbsregelungen, durch Sozialund Umweltgesetzgebung - als Ausnahmen. Durch solche Ausnahmen ist aber das Prinzip der Freiheit der Unternehmung nicht in Frage gestellt, sondern als Prinzip eher bestätigt. Vor allem durch die Freiheit der Unternehmungen unterscheidet sich die Marktwirtschaft vor allem auch vom Typus der Zentralverwaltungswirtschaft. Die Unternehmung ist autonom. Konkret besteht die Freiheit der Unternehmung, im Rahmen von Gesetz und Moral, einerseits in der Beliebigkeit der Zielsetzung, andererseits in der Beliebigkeit der Wahl der Mittel zur Erreichung der selbstgesetzten Ziele. Nur in einem einzigen Punkt unterliegt die Unternehmung in ihrer Zielsetzung einem Sachzwang: bezüglich des Gewinnziels. Ein einzelwirtschaftliches Gebilde ohne Gewinnziel ist keine Unternehmung im marktwirtschaftlichen Sinn. Im Systemgedanken der Marktwirtschaft hat das Gewinnziel der Unternehmung bekanntlich den Sinn, die optimale Befriedigung der Konsumbedürfnisse zu

1. Autonomie der Unternehmung und Gewinnziel

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gewährleisten . Unter der Bedingung des Wettbewerbs dient die Unternehmung dem Konsumenten gerade durch ihr Gewinnstreben. 157 Wenn Adam Smith das Gewinnstreben der Unternehmungen psychologisch mit dem Eigennutz der Unternehmer begründet, so mag das nicht unrealistisch sein, gewiß lassen sich auch Unternehmer von eigennützigen Motiven leiten; aber die ökonomischen Argumente für das Gewinnstreben sind überzeugender. Denn Gewinn erhöht die unternehmerischen Chancen: stärkt das Eigenkapital, gewährt einen Zuwachs an Autonomie und Entscheidungsspielraum, vermindert die Abhängigkeit von Kapital- und Kreditgebern, stärkt die Innovationskraft, erhöht die Sicherheit, verbessert die Position im Wettbewerb und stützt den Börsenkurs. Gewinn ist der Nutzen der Unternehmung schlechthin. Gewinn stellt sich im historischen Aspekt als notwendig im eigentlichen Wortsinn dar. Bestand doch die Not der Bevölkerung vor der ökonomischen Zeitenwende im Mangel an Mitteln. Deshalb war die Vermehrung der Mittel durch Gewinne sinnvoll und geboten. Dieser Gedanke kann nicht mit der Begründung als zynisch zurückgewiesen werden, daß sich die vermehrten Mittel primär nicht im Magen der Bedürftigen, sondern in der Hand der Wohlhabenden ansammelten. Die erzielten Gewinne wurden und werden ja nicht nur konsumiert, sondern auch reinvestiert 158. Auf diesem Umweg ermöglichen sie zunehmenden Wohlstand aller - bis hin zur Bildung von verzinstem Sparkapital und zum Erwerb von Obligationen und Aktien, was ja nichts anderes bedeutet als direkte oder indirekte Gewinnbeteiligung. Das Gewinnstreben der Unternehmungen muß also nicht auf die riskante psychologische Hypothese einer bestimmten Charakterstruktur der Unternehmer zurückgeführt werden. 159 Wenngleich exzessive Praktiken nicht bestritten wer157 Jürgen Feldkamp : S. 71, führt in diesem Handbuch, welches vor allem der Orientierung der Neubundesbürger nach der „Wende" dienen soll, aus: „Es ist nur scheinbar paradox, daß in Marktwirtschaften die Verbraucherinteressen im Prinzip umso besser befriedigt werden, je konsequenter die einzelnen Wirtschaftseinheiten ihre Eigeninteressen wahrnehmen. Durch den Zwang zu Leistungsangeboten, die aus der Sicht der jeweiligen Geschäftspartner vorteilhaft erscheinen, löst nämlich der Wettbewerb das Grundproblem, Millionen von an sich im Eigeninteresse verfolgten wirtschaftlichen Aktivitäten ohne staatliche Anordnung ... auf das Gesamtinteresse an einer günstigen Versorgung umzulenken." 158

„Gewinne werden in Österreich, nach dem Bonmot eines jungen Marxisten, als ,Maschinen für Arbeiter, nicht als Swimmingpools für Kapitalisten' interpretiert; das aber heißt, Gewinne sind in der sozialen Apperzeption gar keine ,Einkommen', sie sind eben ... nicht wahrgenommene Konsummöglichkeiten, sondern nur wahrgenommene Investitionspflicht." (Erich Streissler: Die schleichende Inflation als Phänomen der politischen Ökonomie, Zürich 1973, S. 24) 159

Jürgen Feldkamp : S. 107, merkt an: „übrigens sind auch die Angehörigen der nichtwirtschaftlichen Berufe überwiegend abgeneigt, ohne Entgelt ihrem Beruf nachzugehen. Trotzdem würden sie sich dagegen verwahren, wenn man ihnen jenseits des Geldes das

86

Η. Zur Rolle der Unternehmung

den können, wäre doch eine grundsätzliche Inkriminierung des Gewinnstrebens aus handfesten ökonomischen Gründen zurückzuweisen. Die Möglichkeit der Gewinnerzielung und das Gewinnstreben sind conditiones sine qua non für das Funktionieren der Marktwirtschaft und für die Existenz der Unternehmungen. Bezüglich des Gewinnziels der Unternehmung gibt es schließlich noch ein Argument logischer Art. Da die Wirtschaft in der Gesellschaft der Bereich der knappen Mittel ist, muß denknotwendig auch die Unternehmung, als Teil der Wirtschaft, ihrem Wesen nach Mittel sein. Da nun die Unternehmung in bezug auf ihre Zielsetzung frei ist, resultiert das Dilemma, daß nicht der Zweck das Mittel, sondern umgekehrt das Mittel den Zweck setzt. Solch sinnwidrige Umkehrung des Mittel-Zweck-Verhältnisses müßte die Unternehmung angesichts der Aufgabe, ihre Zwecke selbst zu setzen, in die peinlichste Verlegenheit bringen, weil ja die Zwecke nicht durch die Mittel bestimmt werden können. Die einzig denkbare - und auch tatsächliche - Lösung dieses Widerspruchs liegt darin, daß die Unternehmung, in Bejahung ihrer Mitte lhaftigke it } die Vermehrung ihrer Mittel als Zweck setzt. Vermehrung der Mittel ist aber nichts anderes als Gewinn bzw. Wachstum. Gewinn ist das einzig mögliche, logische und tatsächliche Ziel der Unternehmung als freies Wirtschaftsgebilde. Die Realitätsnähe dieses Befundes wird übrigens indirekt auch durch ein substanzielles Marketingverständnis bestätigt, wenn die Autoren nicht müde werden, den Unternehmern und Managern einzubleuen, daß sie sich vor allem an den Kundenbedürfnissen orientieren sollen. Bestätigt doch solcher Missionierungsdrang der Marketing-Literatur, daß die Praxis vom Gewinnmotiv in einem Maß beherrscht wird, daß der marktwirtschaftlich systemkonforme Weg der Gewinnerzielung, die Zufriedenstellung der Kunden, außer Sicht geraten kann. So gesehen ist die Botschaft des Marketing der Ordnungsruf, Gewinne ausschließlich durch das Bemühen um optimale Befriedigung der Kundenbedürfnisse zu erstreben.

2. Exkurs: Gewinnmaximierungszwang der Unternehmung Als Entscheidungsmotiv verstanden ist die Maximierung des Gewinnes Sachzwang. Eine Relativierung oder gar Inkriminierung des Maximierungsstrebens wäre so irreal wie ungerecht. Die Rede von „Gewinnmaximierung" ist von betriebswirtschaftlichen Theoretikern oft bekämpft, ja lächerlich gemacht worden. Durchaus zu Recht wurde einberufliche Ethos und das Arbeiten aus Freude, Interesse, Gestaltungsdrang oder Ehrgeiz abspräche. Es gibt keinen Beweis dafür, daß der Wirtschaftler stärker an die eine der vielen Antriebskräfte denkt, die man mit dem Ausdruck ,Geld' oder,Gewinn' bezeichnet, als andere Berufe."

2. Exkurs: Gewinnmaximierungszwang der Unternehmung

87

gewendet, daß Gewinnmaxima weder rechnerisch ermittelt (1) noch exakt geplant (2) noch als tatsächliche Zustände festgestellt (3) werden könnten. 160 Wenn man den Begriff der Gewinnmaximierung derartigen Kriterien unterwirft, führt er sich tatsächlich ad absurdum. Eine völlig andere Sicht ergibt sich allerdings, sobald wir uns vom abstrakten Gewinnbegriff der Buchhaltung trennen und Gewinnmaximierung nicht als Rechenaufgabe, sondern als dominantes Entscheidungsmotiv der Unternehmensführung verstehen. Das ist kurz zu erläutern: Ad 1: Unter „Gewinn" sei hier nicht nur, im Sinne der Buchhaltung, der Überschuß der Einnahmen über die Ausgaben bzw. der Erlöse über die Aufwendungen verstanden, sondern die Vermehrung der Mittel und Möglichkeiten einer Unternehmung, wodurch immer sie entstehe. Auch eine bilanziell nicht aktivierbare Vermehrung der Mittel - etwa ein Zuwachs an Macht und Ansehen eines Unternehmens, an Marktanteil und Markengeltung, eine Absicherung der strategischen Position oder eine Verbesserung der Leistungsmotivation der Mitarbeiter, eine Erhöhung des Börsenkurses usf. - all das ist: „Gewinn". Um die Akzeptanz dieses in der Betriebswirtschaftslehre unüblichen Gewinnbegriffes zu erleichtern, bietet sich das Zeitwort „gewinnen" an: sprechen wir doch in aller Selbstverständlichkeit davon, daß etwa Marktanteile, Ansehen, Macht oder Einfluß „gewonnen" werden: Gewinn ist jede Vermehrung der Mittel und Möglichkeiten einer Unternehmung. So und nicht anders soll hier und in der Folge von „Gewinn" die Rede sein.

160

Hans Seischab: über das Gewinnmaximieren, in: Allgemeine Forst- und Jagdzeitung, 130. Jg., Frankfurt am Main 1959, Heft 4 / 5 , führt aus: Die bei der Ermittlung des Gewinnmaximums anzuwendende Differentialrechnung sei an die irreale Bedingung des ceteris paribus gebunden; die Bedingung der Kenntnis aller Daten von Gewinnrelevanz sei so wenig gegeben wie die vollkommene Voraussicht der Zukunft; das Problem der Fixierung der Bezugsperiode sei theoretisch unlösbar; die Wahl des Zinsfußes für die Diskontierung der künftigen Gewinne unterliege dem subjektiven Ermessen; und schließlich scheitere die Gewinnmaximierungshypothese am Problem des Risikos, weil das Gewinnmaximierungsprinzip keine Aussage über das „richtigerweise" einzugehende Risiko enthalte. Damit sei der Rest von Aussagekraft des Gewinnmaximierungsprinzips entschwunden. - In diesem Zusammenhang ist auch ein Wort zur kritisch eingewendeten Hypothese von der angestrebten Erzielung eines „befriedigenden Gewinnes" zu sagen, welche das Gewinnmaximierungsprinzip psychologisch aufweicht und Realitätsnähe für sich in Anspruch nimmt: Es ist j a klar, daß jede Unternehmensleitung im Entscheidungsprozeß einen Punkt erreicht, wo sie mit dem Überlegen aufhören und entscheiden muß. Dieser Punkt mag sich als Erwartung eines (im Hinblick auf die Gesamtsituation, insbesondere auf den Wettbewerb und die Kapitalgeber) befriedigenden Gewinnes kennzeichnen lassen; doch wenn sich ein höherer Gewinn - in der Planung oder im nachhinein - als möglich herausstellt, hört der vorher befriedigend gewesene Gewinn auf, befriedigend zu sein.

88

Η. Zur Rolle der Unternehmung

Ad 2: Obgleich sich Gewinnmaxima nicht errechnen lassen, strebt die Unternehmung doch tatsächlich Gewinnmaximierung (im definierten Sinn maximaler Vermehrung der Mittel und Möglichkeiten) an. Gewinnmaximierung ist keine Rechenaufgabe, sondern ein Motiv: Wenn der Nutzen der Unternehmung, wie gesagt, Gewinn heißt, so stellt sich Gewinnmaximierung nur als Sonderfall von Nutzenmaximierung im Sinne des bei Knappheitsverhältnissen zwingenden wirtschaftlichen Prinzips dar. Demnach ist die Unternehmung nicht nur hinsichtlich des Gewinnzieles an sich, sondern auch hinsichtlich des Ausmaßes des anzustrebenden Gewinnes nicht frei: Sie muß den größtmöglichen Gewinn (immer im Sinn von Vermehrung der Mittel und Möglichkeiten) anstreben, und das tut sie auch tatsächlich. Die Untersuchung der Position des Konsumenten erfordert solches Beharren auf Motiv und Realität der Gewinnmaximierung. Dies auch dann, wenn das Thema in der Öffenüichkeit oft hochgradig emotionell abgehandelt und Gewinnmaximierung als moralisch minderwertig inkriminiert wird. Nicht selten verleitet ja zügelloses Gewinnstreben zu dubiosen, sogar kriminellen Praktiken, und Gewinnstreben muß man auch nicht unbedingt als das edelste der menschlichen Motive ansehen. Deshalb mag es nicht immer leicht sein, sich zu diesem Motiv zu bekennen und es zu verteidigen. So könnte auch der oben skizzierte mißlungene Versuch einiger Betriebswissenschaftler, Gewinnmaximierung als Fehlbegriff zu entlarven und damit auch für die Praxis ad absurdum zu führen, bewußt oder unbewußt Teil einer Verteidigungsstrategie sein. Adam Smith scheint dem Unternehmertum mit der Begründung des Gewinnstrebens aus der Charakterstruktur des Unternehmers keinen guten Dienst erwiesen zu haben. Es ist also auch zur moralischen Entlastung der Unternehmer und Manager wichtig zu erkennen und anzuerkennen, daß das Streben nach Maximalgewinnen im marktwirtschaftlichen System nicht der Habgier entspringen muß, sondern schlicht und einfach Sachzwang ist. Die Unternehmung ist schon durch den Wettbewerb zur Gewinnmaximierung gezwungen. Eine Unternehmung, die auf Gewinnmaximierung verzichten wollte, würde auf Mittel und Möglichkeiten verzichten, die den Mitbewerbern verfügbar sind. 161 Dadurch würde sie nicht nur

161 Dadurch wird der Entscheidungsspielraum der Unternehmung erheblich eingeschränkt. Walter Serti und René Clemens Andeßner formulieren unter dem Aspekt der Unternehmensethik: „Aus moralischen Bedenken auf ein Geschäft zu verzichten, bedeutet ... einen Verzicht auf mögliche Deckungsbeiträge... Ein eventuell daraus erwachsender Verlust ist solange kein Problem, als es den Unternehmen möglich ist, Anpassungsschritte zu setzen, die sicherstellen, daß diese Verluste durch spätere Gewinne wieder ausgeglichen werden können und die Kapitalgeber ihr Vertrauen in die Ertragskraft des Unternehmens nicht verlieren." (Walter Serti / René Clemens Andeßner: Unternehmensethik, Marktwirtschaft und betriebswirtschaftliche Sachzwänge, in: Wege zur Ganzheit, Festschrift für J. Hanns Pichler zum 60. Geburtstag, S. 318.)

3. Interpretation der Konsumenten wünsche

89

Chancen ignorieren, sondern auch ein vermeidbares Risiko in Kauf nehmen, letztlich das Risiko des Existenzverlustes. Gewinnmaximierung ist in der Marktwirtschaft im kaum streitig zu machenden Überlebensinteresse der Unternehmung geboten . Auch aus Sicht des Managements erscheint das Gewinnmaximierungsmotiv zwingend. Der Shareholder Value bildet ein entscheidendes, heute vielleicht das folgenreichste Bewährungskriterium für ein Management. Der Shareholder Value hängt aber nicht nur vom Bilanzgewinn ab, sondern mehr noch vom Börsenkurs , welcher aus der vom Markt eingeschätzten Gesamtlage der betreffenden Unternehmung resultiert. Das Management hat also auch im Eigeninteresse allen Grund, Gewinnmaximierung im Sinn des skizzierten Begriffs anzustreben. Das soll natürlich nicht heißen, das Gewinnmaximierungsziel würde der Unternehmensführung jeweils nur einen einzigen, im vorhinein feststellbar „richtigen" Weg offenlassen. Wenn überhaupt, läßt sich die gewinnmaximale Strategie nur rückblickend im nachhinein objektivieren, sobald nämlich die aus der Ungewißheit der Zukunft resultierenden Unsicherheitsfaktoren, mit welchen jede Strategie belastet ist, durch die zwischenzeitig eingetretenen Entwicklungen weggefallen sind. Optimale Möglichkeiten der Gewinnmaximierung zu finden und zu realisieren ist die Kunst der Unternehmensführung. Demnach sollte außer Streit stehen: Gewinnmaximierung im definierten Sinn ist systembedingt, zwangsläufig und tatsächlich das dominante Ziel der Unternehmung. Wer die Marktwirtschaft um ihrer Vorteile willen bejaht, muß sich auch zur Gewinnmaximierung bekennen.

3. Interpretation der Konsumentenwünsche Anders als bei handwerklicher Auftragsproduktion muß die industrielle Konsumgüterproduktion Bedürfnisse und Kaufmotive des Konsumenten spekulativ vorwegnehmen. Noch vor Jahrzehnten waren die auf Konsum gerichteten Antriebe im Großteil der Bevölkerung zu recht stabilen Bedürfnissen ausgeformt. Beispielsweise folgte die Kleidung primär den Erfordernissen des Witterungsschutzes, den Vorschriften von Sitte und Anstand und den Standesregeln der Tracht. Der Spielraum für individuelle Variation war ziemlich eng. Gleiches galt für den Nahrungsbedarf. Der bäuerlichen bzw. hauswirtschaftlichen Produktionsweise, auch der handwerklichen Auftragsproduktion, war und ist ein Problem unbekannt, das sich der

90

Η. Zur Rolle der Unternehmung

industriellen Konsumgüterproduktion als schwierige, riskante Aufgabe stellt: Wenn ein Industriebetrieb ein Konsumgut herzustellen erwägt, dessen Akzeptanz durch traditionelle Konsumstandards nicht geregelt ist, handelt es sich um eine vorwegnehmend konkretisierende Interpretation vermuteter Bedürfnisse, deren Akzeptanz durch die präsumtive Zielgruppe zur Zeit der Produktentwicklung und der Produktion noch nicht feststeht. Derartige Interpretation der Konsumentenwünsche gilt als „genuin wirtschaftlicher Akt" 1 6 2 . Gültigkeit oder Ungültigkeit der Interpretation werden sich erst später durch die Kundennachfrage erweisen. Die Produktion baut auf der unvermeidbar unsicheren Hypothese künftiger Absetzbarkeit der Produkte auf. Für den Anbieter ist es dabei erfolgsentscheidend, den Geschmack der präsumtiven Käufer zu treffen. Der Konsument spricht ja keineswegs auf jedes beliebige Angebot an, wie so mancher Anbieter immer wieder leidvoll erfahren muß. Bei der Interpretation der Konsumentenwünsche handelt es sich um einen Interaktionsprozeß zwischen Produzent und Konsument 163, mit welchem ein spezifisches Risiko verbunden ist. Auch wenn die Gefahr von Fehlentscheidungen durch Motiv-, Meinungs- und Marktforschung, durch Testmärkte usf. minimiert wird, bleibt das Risiko doch grundsätzlich bestehen. Das gilt selbstverständlich in erster Linie für Produkt Innovationen. Zu Innovationen sehen sich die Erzeuger und Anbieter aber in aller Regel gezwungen, um am Markt zu bleiben. Indes trifft das spezifische Absatzrisiko auch viele traditionelle Produkte. Beispiele: Ein Auto kann man heute zu den traditionellen Konsumgütern rechnen, doch erfüllt eine neue Autotype bekanntlich keineswegs immer die in sie gesetzten Nachfrageerwartungen; im Bereich der Kleidung wurde die Beständigkeit der Tracht durch kurzfristige Moden abgelöst; bei manchen Nahrungsmitteln hat sich die Motivation vieler Konsumenten insofern geradezu pervertiert, als oft nicht der Nährwert, sondern die Minimierung des Nährwertes gefragt ist. Das einzig Beständige ist in weiten Konsumbereichen der Wandel geworden. An die Interpretation der Konsumentenwünsche werden hohe und immer höhere Anforderungen gestellt. Wie das Beispiel der Nahrungsmittel zeigt, sind die Existenzbedürfnisse durch die Entwicklung nicht unbeeinflußt geblieben, auch sie wurden in gewisser Weise zu freien Bedürfnissen. Die Unterscheidung der beiden Bedürfnisarten hat bei uns heute eher historische Bedeutung. Da nichts Bestimmtes mehr notwendig ist, erstreckt sich die Interpretation der Konsumentenwünsche zunehmend auf die Gesamtheit unserer Antriebe. Deren Besetzung mit bestimmten Gütern ist zu ihrer Befriedigung zwar unerläßlich, doch sind die Güter und sogar verschiede -

162

Peter Meyer-Dohm: S. 88.

163

Vgl. Katona/Strümpel/Zahn:

S. 146.

4. Bedürfnisproduktion

91

ne Güterarten in weitem Rahmen substituierbar geworden. Ein Prestigewunsch etwa, das wurde schon erwähnt, kann ebenso durch neue Möbel wie durch einen neuen Wagen oder durch eine Fernreise erfüllt werden, von der man im bewundernden Bekanntenkreis erzählen kann.

4. Bedürfnisproduktion Da konkrete Bedürfnisse erst durch das Konsumgüterangebot entstehen, ist die Mitwirkung der Wirtschaft am Entstehen der Bedürfnisse unabdingbar. Die Interpretation der Konsumwünsche ist eine Aufgabe der Produzenten, die letztlich durch das Angebot konkreter Güter erfüllt wird. Nur so entstehen aus dem Antriebspotential des Konsumenten Bedürfnisse. Das folgt einfach daraus, daß die Bedürfnisse durch das Angebot an Konsumgütern mitbestimmt sind. 164 Der Konsument kann seine Wünsche und Antriebe nur durch Objektbesetzung befriedigen, d.h. wenn er sie als Bedürfnisse nach bestimmten Gütern konkretisiert. In diesem Sinn werden die Bedürfnisse notwendigerweise auch durch das Güterangebot produziert. Die Bedeutung dieses Sachverhaltes für die Frage der Konsumfreiheit legt die Erhärtung durch Zitierung einiger bedeutender Autoren nahe: Für Arnold Gehlen besteht „kein Zweifel, daß unter ihren wesenseigenen ... Bedingungen die Industrie nicht von einer traditionellen, stereotypen Bedarfslage her produziert, sondern daß sie umgekehrt die Bedürfnisse mitproduziert, die Bedürfnisse für Produkte, die sie ganz unabhängig von jeder Nachfrage (die erst dem neugezüchteten Bedürfnis folgt) aus sich selbst heraus entwickelt." 165 Hans Freyer sagt, daß unsere Gesellschaft nicht nur neue Konsumgüter und Möglichkeiten anbietet, sondern auch die entsprechenden Motivlagen, Werturteile und Gesinnungen etabliert. 166 Im gleichen Sinn ein jüngerer Autor wie Dietmar Jeschke: „Die Produzenten und Händler beeinflussen die Formierung der Bedürfnisse bereits durch ihr Marktangebot an Konsumgütern, weil sich die Bedürfnisse am Konsumgüterangebot orientieren und den Gütern nachwach-

164

Vgl. oben S. 77 f.

165

Arnold Gehlen: S. 221.

166

Hans Freyer: Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1957, S. 28 f. 167

Dietmar Jeschke: Konsumentensouveränität, S. 83.

Η. Zur Rolle der Unternehmung

92

Dieser Befund muß sich gegen zweierlei gegensätzliche Positionen verteidigen. Zunächst gegen eine marktwirtschaftliche Ideologie, welche die Bedürfnisproduktion durch die Wirtschaft zu negieren neigt, um sich, bewußt oder unbewußt, gegen den Vorwurf der Bedürfnismanipulation zu schützen. Sie geht von der Vorgegebenheit der Bedürfnisse aus und hält auch heute noch daran fest, indem sie - mangels konkreter Nachfrage, die der Konsument aus sich heraus entwickeln würde - „latente Bedürfnisse" annimmt, welche sie wecke und befriedige. Bedürfnisproduktion ist der in einer Zeit des Massenelends entstandenen Marktwirtschaft gewiß nicht ins Stammbuch geschrieben; doch im Gegensatz zu unreflektierten, interessenbedingten oder ideologischen Positionen ist die Entstehung der Bedürfnisse kein autarker Akt des Konsumenten. Als in der Objektbesetztheit der Bedürfnisse begründet, ist Bedürfnisproduktion durch die Anbieter nach der ökonomischen Zeitenwende unvermeidbar. Die zweite Verteidigungslinie hat eine von Kritikern der Marktwirtschaft vertretene Position abzuwehren. Wenn die Bedürfnisproduktion der Unternehmungen von vornherein als „Manipulation" kritisiert wird - meist mit erhobenem Zeigefinger in inkriminierender Absicht und bei Schuldzuweisung an die Unternehmer und Manager - , so ist einer solchen Position wegen der Unabdingbarkeit der Bedürfnisproduktion durch die Konsumgüteranbieter entgegenzutreten. Es wäre uneinsichtig, unbillig und irreal, nach der ökonomischen Zeitenwende eine von der Wirtschaft völlig unabhängige Entstehung der Bedürfnisse zu fordern, um der Marktwirtschaft Konsumfreiheit bescheinigen zu können. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, daß die Konsumgüterwirtschaft zur Bedürfnisproduktion gezwungen ist, will sie sich nicht in geradezu selbstmörderischer Beschränkung auf die Befriedigung der hergebrachten Bedürfnisse durch traditionelle Güter reduzieren lassen. Nach Befriedigung der Überlebensbedürfnisse, also nach Beseitigung der existentiellen Knappheiten, muß sie tatsächlich immer wieder neue Knappheiten erzeugen, um überleben zu können. Joseph A. Schumpeter sieht das in aller Klarheit, wenn er sagt, der „fundamentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält, kommt von den neuen Konsumgütern ..., welche die kapitalistische Unternehmung schafft." 168 Im gleichen Sinn Herwig Büchele: „Die große Triebkraft der industriellen Produktion ist die Mobilisierung der Wünsche, Ansprüche und Begierden." 169 Die für jede Unternehmung existenznotwendigen Märkte entstehen aus Bedürfnissen. Peter F. Drucker, der bedeutende Unternehmensberater und Autor, formuliert pointiert: „Es gibt... nur einen 168 169

Joseph A. Schumpeter: S. 136.

Herwig Büchele: Eine Welt oder keine: sozialethische Grundfragen angesichts einer ausbleibenden Weltordnungspolitik, Innsbruck- Wien-Mainz 1996, S. 44.

4. Bedürfnisproduktion

93

einzigen richtigen Unternehmenszweck, nämlich die Schaffung von Absatzmärkten." 170 Bedürfnisproduktion durch die Wirtschaft ist keineswegs eine Randerscheinung, sondern eine wesentliche Funktion der Marktwirtschaft, sobald sie mehr als die Überlebensbedürfnisse durch die traditionellen Güter befriedigt. 171 Diese Funktion grundsätzlich abzulehnen hieße, der Gesellschaft den möglich gewordenen technischen und wirtschaftlichen Fortschritt im Bereich des Konsums vorenthalten zu wollen - womit freilich die Frage noch nicht entschieden ist, was Fortschritt inhaltlich bedeute. Eine weitere Frage ist die Dringlichkeit der von den Unternehmungen geschaffenen Konsumbedürfnisse, welche von John K. Galbraith mit einem kaum widerlegbaren Argument bezweifelt wird: „Wenn die Bedürfnisse des einzelnen als dringend gelten sollen, müssen sie von ihm selber ausgehen. Wenn sie erst erdacht werden müssen, können sie nicht dringend sein. Vor allem dürfen sie nicht durch den Produktionsprozeß ,erzeugt4 werden, der dazu da ist, sie zu befriedigen. Denn das bedeutet, daß alle die Argumente für die Notwendigkeit der Produktion, die sich wiederum auf die Notwendigkeit der Bedarfsdeckung berufen, in sich zusammenfallen. Man kann nicht die Produktion damit rechtfertigen, daß sie vorhandene Bedürfnisse befriedige, wenn die gleiche Produktion selbst erst die Bedürfnisse weckt... Die Produktion füllt nur eine Lücke aus, die sie selbst erst geschaffen hat!" 1 7 2 Um diese Fragen zu klären, müssen wir nun das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion und seine Wirkweise in Augenschein nehmen. Es wird sich als mit dem marktwirtschaftlichen Prozeß untrennbar verbunden und als weit machtvoller herausstellen, als man zunächst annehmen möchte. Insbesondere wird sich zeigen, daß die Bedürfhisproduktion durch die Wirtschaft nicht nur die Bedürfnisse, sondern auch die menschliche Antriebsstruktur in einer für die Konsumfreiheit beachtlichen Weise verändert.

170

Peter F. Drucker: Die Praxis des Management, München / Zürich 1970, S. 44.

171

Eduard Heimann: Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen 1963, S. 318: „Wenn es solche Bedürfnisse nicht gibt, müssen sie produziert werden, damit die Produkte der Zwangsexpansion eine Nachfrage finden." 172

John K. Galbraith: Gesellschaft im Überfluß, S. 168 f.

I. Das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion 1. Zur Fragestellung Es wäre irreführend, die Frage nach dem Instrumentarium der Bedürfnisproduktion nur als Frage nach den angewandten Sozialtechniken zu stellen. Der unbefangene Blick auf das Instrumentarium der Bedürfhisproduktion ist in der Regel insofern getrübt, als die meisten Ökonomen von der vermeintlichen Vorgegebenheit der Bedürfnisse ausgehen. Bedürfnisproduktion kommt nicht einmal als Frage in Sicht, weil sie durch die Hypothese der bekundeten Präferenzen verfahrensmäßig ausgeklammert ist. Wenn wir aufgrund der Einsicht, daß die freien Bedürfnisse keineswegs vorgegeben sind, dennoch nach dem Instrumentarium der Bedürfnisproduktion fragen, müssen wir den Blick auf die Vertriebsfunktion der Unternehmungen und speziell auf Werbung und Marketing richten. Hier tritt allerdings wiederum die Schwierigkeit auf, daß diese Frage meist nur im Aspekt bestimmter Techniken der Beeinflussung gestellt und abgehandelt wird. Deshalb ist begriffliche Auseinandersetzung mit der gewohnten Sicht der Dinge unvermeidbar. Erschließt sich doch der umfassende Blick auf die Instrumente der Bedürfnisproduktion nicht von den angewandten Beeinflussungstechniken, sondern nur von deren Funktion her. Demnach stellt sich vorerst die Frage, was bewirkt wird, und nicht wie es bewirkt wird: Gefragt ist ein allgemeiner Funktionsbegriff. Die Tatsache, daß die bedürfnisproduzierende Beeinflussung des Konsumenten auf technisch recht unterschiedliche Weise erfolgt, erschwert die Bestimmung des Funktionsbegriffes. In hypothetischer Annäherung scheinen sich aber die technisch unterschiedlichen Weisen der Bedürfnisproduktion auf den funktional gemeinsamen Nenner des „Motivierens" bringen zu lassen. Davon ausgehend stellt sich die Suche nach dem Instrumentarium der Bedürfnisproduktion als Frage nach allem, was seitens der Wirtschaft auf den Konsumenten motivierend einwirkt, und zwar unabhängig von den angewandten Techniken. Ein wenig Begriffsarbeit lohnend erweisen.

ist dabei freilich unvermeidlich, aber sie wird sich als

2. Technische Sichtweise der Werbung

95

2. Technische Sichtweise der Werbung Das übliche Verständnis der Werbung als Anwendung spezieller Beeinflussungstechniken ist theoretisch wie praktisch unhaltbar. Der Blick in die Werkstätte der Bedürfnisproduktion fällt zu allererst auf das Instrument Werbung. Wenn man dabei spontan an die Anwendung spezieller Werbemittel - wie Inserate, Plakate, Prospekte oder Fernsehspots - denken mag, so entspricht dies zwar dem Populärverständnis, doch es erweist sich als unzureichend in bezug auf die Bedeutung der Werbung für die Bedürfnisproduktion und darüber hinaus als fatal für Selbstverständnis und Ansehen der Werbewirtschaft. Das wird nun zu zeigen sein. Um dem vorzuschlagenden funktionalen Verständnis der Werbung den Boden zu bereiten, soll ein berufener Zeuge sowohl für den gängigen technischen Begriff der Werbung als auch für dessen Fragwürdigkeit zu Wort kommen. Der große deutsche Betriebswirt Erich Gutenberg definiert „Werbung" ganz im Sinn des Populärverständnisses: „Wenn ein Unternehmen Inserate oder Plakate oder Drucksachen bestimmter A r t . . . benutzt, wenn es den Film oder den Rundfunk für seine Zwecke verwendet, ... seinen Kunden Werbegeschenke überreicht oder seine Geschäftsräume (Läden) attraktiv gestaltet - alles zu dem Zweck, günstige Voraussetzungen für seinen Absatz zu schaffen, dann tritt damit ein neuer zusätzlicher Faktor in das absatzpolitische Spiel ein: Werbung mit Hilfe der Verwendung von Werbemitteln." 173 Dieses Zitat bringt die gängige Auffassung der Werbung treffend zum Ausdruck - und man soll das Wort beim Wort nehmen. Gutenberg unterscheidet nämlich in der Folge zwischen „Werbung" und „werbenden Wirkungen": „Der Sinn einer jeden absatzpolitischen Maßnahme besteht darin, werbende Wirkungen zu erzielen. Diese werbenden Wirkungen ... können nicht jene spezielle ,Werbung4 sein, wie sie hier als selbständiges absatzpolitisches Instrument aufgefaßt wird. Die Unternehmungen machen vielmehr von gewissen Werbemöglichkeiten besonderer Art Gebrauch, die zusätzlich und neben die Preisstellung, die Produktgestaltung und die Absatzmethodik als ein besonderes absatzpolitisches Instrument treten..." Auch Qualitäts- und Sortimentspolitik erkennt er als Ursachen für „werbende Wirkungen". 174

173

Erich Gutenberg: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, Zweiter Band, Der Absatz, Berlin-Heidelberg-New York, 10. Aufl. 1967, S. 409. 174

Ebenda, S. 408 ff. - Um dem Verdacht haarspalterischer willkürlicher Interpretation Gutenbergs zu entgehen, ist anzumerken, daß er die Unterscheidung zwischen „Werbung" und Maßnahmen, die „werbende Wirkungen" hervorbringen, ausdrücklich mit der notwendigen Klarheit der Abgrenzung des Begriffes Werbung begründet und

96

I. Das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion

Demnach gäbe es, Gutenberg zufolge, Ursachen für „werbende Wirkungen", die nicht „Werbung" seien: „Werbung" ist in seiner Begriffsbildung eingrenzt und ausgrenzt zugleich. Neben der logischen Fragwürdigkeit ergibt sich aber auch ein beachtlicher Einwand aus betriebswirtschaftlicher Sicht, welcher den Praktiker gewiß überzeugt: Die Anwendung „spezieller Werbemittel" als Unterscheidung zwischen Werbung und werbenden Wirkungen läßt sich schon deshalb nicht durchstehen, weil alle Werbewirkungen, einschließlich der „werbenden Wirkungen", im Bewußtsein des Umworbenen zusammenkommen und hier ein Ganzes bilden, dessen Teile sich nicht einzelnen Ursachen zurechnen lassen: Welche Wirkungen sind „Werbewirkungen", und welche sind „werbende Wirkungen"? Ob beispielsweise das Interesse an einem bestimmten Automodell durch das „spezielle Werbemittel" Inserat (mit der Abbildung des betreffenden Wagens) oder durch die „Absatzäußerung" Produktgestaltung zustandegekommen ist, läßt sich nicht entscheiden. Mein betriebswirtschaftlicher Einwand lautet: Im Zuge eines Kosten-NutzenVergleichs kommen bei solcher Begriffsbildung auf der Kostenseite bloß die Kosten der „speziellen Werbemittel" zum Ansatz, während auf der Nutzenseite auch die „werbenden Wirkungen" enthalten sind: für betriebliche Entscheidungen untauglich, ja irreführend. Ein solcher Begriff würde die Werbung in der Praxis geradezu ausrotten, weil der Betriebswirt den „kostenlosen" werbenden Wirkungen den Vorzug geben und die spezielle Werbung aufs Minimum beschränken müßte.

3. Werbung als „Clown der Wirtschaft" Durch ein technisches Verständnis gerät die Werbung ins schiefe Licht bloßer Illus ionie rung der Umworbenen, wenn nicht gar des Betruges. Nun zu den Konsequenzen für die Rolle der Werbung, wenn sie - bei Gutenberg wie im Populärverständnis - auf die ihr expressis verbis zugeordnete

diese Unterscheidung als „grundsätzlich" erachtet, doch andererseits nicht zu sagen vermag, worin deren Grundsätzlichkeit bestehe. Er erschöpft sich in exemplarischer Aufzählung von „speziellen Werbemitteln". - Vgl. Helmut Steiner: Einführung in die Theorie der wirtschaftlichen Werbeleistung, S. 16 ff. Hier findet sich auch eine Kritik anderer theoretischer Ansätze - wie des Versuches einer genetischen Abgrenzung des Begriffes der Werbung und des Versuchs der Begriffskonstitution durch das subjektive Motiv des Werbers - sowie die grundlegende Auseinandersetzung mit der werbetechnischen petitio principii und mit dem kausalen Modell der Werbung.

3. Werbung als „Clown der Wirtschaft"

97

Funktion eines Zusatzes zum normalen Wirtschaftsprozeß eingeschränkt wird. 1 7 5 Eine solche Auffassung geht ganz offenkundig von der Vorstellung aus, daß die Wirtschaft auch ohne Werbung funktioniere, also auch ohne diesen Zusatz denkbar und wirklich sei. 176 Welche reale Funktion bliebe dann noch der Werbung? Die zusätzliche Verwendung spezieller Werbemittel wäre eine Einwirkung auf die Psyche des Umworbenen, die nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Vorstellung von der Wirklichkeit veränderte. Werbung würde dann eine unwirkliche Welt von Einbildungen und Illusionen schaffen, die zur realen Welt der Fakten in Gegensatz, jedenfalls aber in Differenz stünde. Daß diese Sicht der Dinge nicht an den Haaren herbeigezogen ist, sondern weitverbreiteter Meinung entspricht, zeigt das Ergebnis einer schon in den sechziger Jahren in den USA durchgeführten Meinungsumfrage über die Einstellung zur Werbung: „Jährlich werden Milliarden dafür ausgegeben, um den Mann auf der Straße davon zu überzeugen, daß man ihn für einen ausgemachten Dummkopf hält... Die Befragten machten ihrem Unmut unverhüllt Luft, beklagten sich über die offensichtlichen Übertreibungen und den Mißbrauch der Sprache und bezichtigten die Werbung wiederholt des offenen Betruges. Die bedenkenlose Simplifizierung in der Argumentation zahlreicher Anzeigen wurde als Angriff auf die Würde des Individuums bezeichnet..." 177 Die Werbung gerät durch den gängigen Fehlbegriff in ein schiefes Licht. Die so konstituierte Differenz zwischen Wirklichkeit und Vorstellung von der Wirklichkeit heißt bekanntlich „Irrtum". Wenn Werbung als Zusatz zu einer 175

Vgl. Helmut Steiner: Einführung, S. 53 ff.

176

Diese reduktionistische Vorstellung vom Wesen der Werbung scheint vor allem auch historisch begründet. Denn die Reflexion auf das Phänomen Werbung datiert mit der Verwendung der Massenmedien für Werbezwecke. Die Identifizierung der Werbung mit dem Einsatz von Massenkommunikationsmitteln war und ist daher verständlich. Und nach derart erfolgter Identifizierung erscheint der Zustand vorher eben als Zustand ohne Werbung. 177 Zitiert nach der Schweizer Werbefachzeitschrift Kriterion, Internationale Werbe-, Marketing- und Management-Information, Nr. 34, 6. JG., Zürich, April / Mai 1964, S. 17. - Eine in der Konsequenz gleiche Position, wenngleich in dieser Weise nicht reflektiert, vertritt übrigens auch zumindet ein Teil der Fachwelt. Es kennzeichnet die Situation, wenn Volkmar Löbel (Kundendienst als absatzwirtschaftliche Leistung, Band 22 der Schriftenreihe der GfK „Marktwirtschaft und Verbrauch", Nürnberg 1966, S. 17 f.) dem Kundendienst „werbliche Wirkungen" bescheinigt, aber die Abgrenzung gegenüber der Werbung dadurch erleichtert sieht, daß der Kundendienst, im Gegensatz zur Werbung, eine „effektive Leistung" erbringe. Gleichsinnig Demetre Kalussis (Absatzpolitik und Werbung, in: Betriebswirtschaft und Marktpolitik, Festschrift für Rudolf Seyffert zum 75. Geburtstag, Köln und Opladen 1968, S. 243), welcher als Kriterium zur Unterscheidung zwischen Konditionspolitik und Werbung anführt, daß entgegenkommende Vertragskonditionen „reelle Vorteile, ... echte Leistungen" anböten.

7 Steiner

98

I. Das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion

ohnehin schon fertigen Wirklichkeit (etwa der Ware) gedacht ist, dann bestünde die Werbewirkung unweigerlich in der Herbeiführung von Irrtümern. Das kann man, wenn man will, als harmlose, vielleicht sogar nette Verzauberung einer sonst allzu prosaischen Welt bewerten; wenn man aber nicht will, sieht die Sache anders aus. Denn der in Gewinnabsicht herbeigeführte Irrtum eines anderen würde sich schlicht als „Betrug" qualifizieren - peinlich für Image und Selbstverständnis der Werbewirtschaft, übrigens auch eine wesentliche Facette von Vorwürfen seitens des Konsumerismus. Die Verabschiedung von einem solchen Begriff der Werbung liegt in deren ureigenstem Interesse. Ergänzend ist anzumerken, daß sich die reduktionistische Auffassung der Werbung als Wirtschaftszusatz auch in der Rechtssphäie niederschlägt. Das Wettbewerbsrecht stellt den Tatbestand „wahrheitswidriger Anpreisung" in einen Rahmen, der einerseits durch „objektive Unrichtigkeit" nachprüfbarer Angaben und andererseits durch „reklamehafte Übertreibung" abgesteckt ist. Objektive Unrichtigkeit ist als wahrheitswidrige Anpreisung inkriminiert, reklamehafte Übertreibung - als Kriterium gilt, daß sie als nicht ernst gemeint erkennbar sein muß - hingegen nicht. Das „reine Werturteil, das keine Tatsachen zum Gegenstand hat und daher auch sachlich nicht überprüft werden kann (Beispiel: ,Unsere Erzeugnisse zeichnen sich durch besondere Schönheit aus4)" ist aus dem Tatbestand wahrheitswidriger Anpreisung ausdrücklich ausgenommen. 178 Während also der Werbung nach der Seite der Objektivität hin eine harte Grenze gesetzt ist, lädt die Rechtsordnung zu blauäugigem Betreten des grenzenlosen Raumes phantasievoller Illusionierung ein. Eine solche Disqualifizierung der Werbung zum nicht ernstzunehmenden „Clown der Wirtschaft' 4, den man nachsichtig gewähren läßt, solange er nur Spaß treibt, könnte kaum solider fundiert werden als durch das gängige Verständnis der Werbung als zusätzliche Verwendung spezieller Werbemittel Dieser Fehlbegriff ist untauglich, die reale Bedeutung der Werbung zu erfassen. Wir werden nach einem substantiellen Begriff der Werbung Ausschau halten müssen.

4. Funktionale Sichtweise der Werbung Was immer andere Menschen zielgerichtet

motiviert,

ist: „ Werbung

Der kritisierte technisch-reduktionistische Begriff der Werbung erweist sich nicht nur als logisch unhaltbar und als fatal hinsichtlich der Konsequenzen für die Werbung selbst, er bringt darüber hinaus auch nur einen Teil des Instrumen-

17S

Franz Hohenecker / Gerhard F rie dl: Wettbewerbsrecht, Graz-Köln 1959, S. 22 ff.

4. Funktionale Sichtweise der Werbung

99

tariums der Bedürfnisproduktion in Sicht. Es ist nun ein weiterführender problemadäquat-realistischer funktionaler Begriff der Werbung vorzulegen. Was immer man funktional , also im Hinblick auf die beabsichtigte Wirkung , unter Werbung verstehe - Beeinflussung 179, Bekanntmachung180, überzeugen 181, überzeugendes Gewinnen 182 und dergleichen - stets geht es darum, andere Menschen zur Mitwirkung an der Erreichung eigener Ziele zu motivieren. Dieses oben als Hypothese eingeführte Verständnis von Werbung deckt meines Erachtens als Oberbegriff generell alle Arten von Werbung ab: die Wirtschaftswerbung, die politische Werbung, die religiöse Werbung, die Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations), die innerbetriebliche Werbung (Human Relations) usf., ja sogar die Brautwerbung. Der Werber will andere, die ohne entsprechende Motivation die erstrebte Handlungsweise versagen würden, zur Mitwirkung an der Erreichung seiner Ziele bewegen. 183 Die Wörter „motivieren", „Motiv" oder „Motivation" sind hier durchaus im umgangssprachlichen, gerade auch in der Wirtschaftssprache eingebürgerten Sinn verwendet, etwa wenn wir von der Motivationsaufgabe des Managers oder von den Kaufmotiven des Kunden oder vom Tatmotiv im Strafrecht sprechen.

179

Christian Behrens: Absatzwerbung, Wiesbaden 1963, S. 12; H.F.J. Kropff: Wörterbuch der Werbung, Essen 1959, S. 389; Arthur Lisow sky: Wirtschaftswerbung, in: Handbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, Bern 1939, Bd. II, S. 560; Henry Reigner: Das Inserat als Werbemittel in der Absatzwirtschaft, Basel 1950, S, 13. 180

Viktor Mat aja: Die Reklame, München und Leipzig 1926, S. 15.

1S1

Erich Schäfer : Die Aufgaben der Absatzwirtschaft, Köln und Opladen 1950, S. 118.

182

Karl Skowronnek: Wesen und Wert der Werbung, in: Schriftenreihe des Wirtschaftsförderungsinstitutes der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien, Wien 1964, S. 130. 183

Wenn im vorgelegten Begriff der Werbung das Ziel des Werbers im Vordergrund steht, so ist damit keineswegs Beliebigkeit der Zielsetzung gemeint. Der Umworbene ist ja nur dann zur Mitwirkung bereit, wenn er dadurch auch eigene Ziele erreicht. Werbeziele sind ihrem Wesen nach so beschaffen, daß ihre Erreichung Selbstverwirklichung nicht nur für den Werber, sondern auch für den Umworbenen bedeutet, welcher Sachverhalt übrigens zum zentralen Denkansatz des Marketing geführt hat. Der vorgelegte Begriff der Werbung schließt auch die bloße Information ein. Eine Information, die dem Adressaten nicht in irgendeiner Weise nützte, entbehrte der Begründung und Berechtigung, weil der Empfänger dadurch nur belästigt wäre (vgl. Helmut Steiner: Einführung, S. 170 ff.). - Um nicht mißverstanden zu werden: Motivationswirkung tritt bekanntlich auch dann ein, wenn eine Werbebotschaft dem Umworbenen Selbstverwirklichung nur vermeintlich oder in irreführender Absicht glaubhaft macht. Dieses Problem wird uns später unter dem Stichwort „Manipulation", vorher aber schon im Abschnitt „Marketing" zu befassen haben. Ύ

100

I. Das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion

Zur Verdeutlichung: Wann immer w i r etwas tun oder unterlassen, dann stets aufgrund unserer Motive: aufgrund unserer Meinungen, Ansichten, Absichten, Überlegungen, Wünsche, Gefühle, Einstellungen usf. Die M o t i v w i r k l i c h k e i t k o m m t in Sicht, sobald w i r nach dem Warum eines bestimmten Verhaltens fragen: nach dessen - bewußten oder unbewußten, rationalen oder emotionalen, wie immer beschaffenen und entstandenen - subjektiven Sinngründen als Beweggründen von Tun und Lassen. „Innere" Motivation und „äußeres" Verhalten bilden im „ Handeln " des Menschen eine konkrete Einheit. 184 Der vorgelegte Begriff der Werbung - zielgerichtetes Motivieren - w i l l nicht etwa bloß ein Wort wie „beeinflussen" oder „überzeugen" durch ein anderes Wort ersetzen. Er beschreibt das Wesen der Werbung auch nicht bloß psychologisch oder ökonomisch, sondern spricht die conditio humana kategorial an, denn es ist die Motivation, was das Handeln des Menschen von bloßem Naturgeschehen unterscheidet: Motiviert handelnd entscheidet der Mensch zwischen Möglichkeiten. 1* 5 Das gilt zweifelsfrei und nicht zuletzt für alles wirtschaftliche Handeln. 106 Werbung ist zielgerichtet motivierendes Handeln - ohne Unterschied bezüglich der angewandten Mittel, der Ziele und der Adressaten. 1 8 7 So gesehen ist

184 Die Bedeutung der Handlungsmotivation ist zwar im praktischen Leben und für den Hausverstand selbstverständlich, doch nicht unbedingt für den wissenschaftlich Gebildeten - selbst in den Sozialwissenschaften nicht, wie etwa in den Wirtschaftswissenschaften. Darauf wurde oben im Abschnitt „Wirtschaftswissenschaft und Freiheit", S. 66 ff., bereits hingewiesen. 185 Erich Heintel: Der Mann ohne Eigenschaften und die Tradition, in: Wissenschaft und Weltbild, Wien, Septemberheft 1960, S. 185 f., formuliert philosophisch, „es liegt ... die eigentümliche Dialektik des Möglichkeitsgedankens in Beziehung auf das, was ,Handeln' heißt, zugrunde: Handeln schließt nämlich immer die Möglichkeit, ,vorher' auch anders handeln zu können, ein, und zugleich die notwendige Aufhebung dieser Möglichkeit in dem jetzt' wirklichen und bestimmten Handeln, das erst ,nachher' wiederum auf andere Verwirklichungsmöglichkeiten hin reflektiert und relativiert werden kann. Ginge dem Handeln nicht die Möglichkeit als Reflexion voraus, dann wäre es kein Handeln, kein in sich reflektiertes Tun, sondern ein bloßer Naturablauf (Geschehen), in dem motiviertes Entscheiden keinen Platz hat; wäre in der motivierten Entschiedenheit alle Möglichkeit nicht in die jeweilige Bestimmtheit aufgehoben, dann wäre Handeln nicht wirklich und an seine Stelle träte, als ein Pseudohandeln, das endlose Kreisen der Reflexion in bloßen Möglichkeiten, ohne die Kraft zur Entscheidung. Kurz, motiviertes Handeln ... impliziert als ,motiviert' Reflexion, als ,Handeln' deren Aufhebung; es ist als wirkliches immer das Ganze von Möglichkeit und der von ihr unterschiedenen Wirklichkeit und ist nicht anders als in diesem dialektischen Ganzen begriffen." - Vgl. auch: Erich Heintel: Die beiden Labyrinthe der Philosophie, Band 1, Wien und München 1968, S. 254 f. 186

Vgl. oben S. 66 f.

187

Vgl. Helmut Steiner: Einführung, S. 122 ff.

5. Universalität der Werbung

101

Werbung das Instrument der Bedürfnisproduktion schlechthin. Die Letztverbraucherwerbung w i l l nichts anderes als den Konsumenten i m Sinn des A n bieters motivieren. U m den Anschluß an den entwickelten Bedürfnisbegriff herzustellen: Durch Werbung werden Antriebe aktiviert und zu konkreten Bedürfnissen ausgeformt, d.h. mit bestimmten Gütern oder Dienstleistungen, Gegenstand der Nachfrage werden sollen, objektbesetzt.

welche

Vom vorgeschlagenen Allgemeinbegriff der Werbung her ist nun konkret nach den Instrumenten

der Bedürfnisproduktion

zu fragen.

5. Universalität der Werbung Ausnahmslos

alle Gegenstände

und Vorgänge des Wirtschaftsverkehrs

haben Motivations -, also Werbewirkung. Was immer zielgerichtet motiviert, ist i m Sinne unseres Allgemeinbegriffes Werbung. Dieser Begriff, er w i r d sogleich durch Konkretisierung nahezubringen sein, sprengt jedes Verständnis von Werbung, das sich am Einsatz bestimmter Techniken festmacht. Die Frage, was „Werbemittel" sei, ist neu zu stellen. I n radikalem Gegensatz zum kritisierten Populärbegriff der Werbung als eines Zusatzes zur normalen Wirtschaftstätigkeit lautet meine - übrigens keineswegs n e u e 1 8 8 - These: Die Gesamtwirklichkeit eines Unternehmens - in allen seinen 188

Karl Skowronnek (Funktionen des Werbebetriebs, in: Funktionen- und Leistungsdenken in der Betriebswirtschaft, Festschrift für Karl Oberparieiter zu seinem 70. Geburtstag, hrsg. von Willy Bouffier, Wien 1956, S. 89 ff.) spricht von „Universalität der Werbung". - Rudolf Seyffert (Wirtschaftliche Werbelehre, 4. Aufl. Wiesbaden 1952, S. 87, sagt, daß letztlich „alles, was in einem Betrieb geschieht, auch in den Dienst werbender Zwecke gestellt werden" könne. - Günter Friedrichs (Verkaufswerbung, Berlin 1958, S. 11 f.) zählt ausdrücklich auch Qualität, Preis, Produktform, Verpackung usf. zu den Werbemitteln. Arthur Lisowsky (Zur Theorie und Systematik der Handelsfunktionen, in: Sonderreihe der Betriebswirtschaftlichen Blätter, 7. Heft, Wien 1937, S. 16) sieht die Werbung „mit der Totalität des Betriebes in der Weise verbunden, daß sie mit den anderen Funktionen und durch sie zum Ausdruck kommen kann". - Für Alfred Herberg (Ist die Wirkung des Werbeaufwandes betriebswirtschaftlich feststellbar? Diss. München 1934, S. 22) stellt sich der Betrieb in seiner Gesamtheit als „eine einzige, große Werbeangelegenheit" dar. - Wladimir Eliasberg (Reklamewissenschaften, Bonn- Brünn-Prag-Leipzig-Wien 1936, S. 104 f.) sagt, es gebe keine öffentliche „Lebensäußerung" des Betriebes, „die nicht werbend wirken kann und tatsächlich werbend wirkt, ob wir es wollen oder nicht". - Burghardt Röper (Die vertikale Preisbindung bei Markenartikeln, Tübingen 1955, S. 169) zufolge soll beim Markenartikel „eigentlich alles werbend wirken, was mit dem Werk und der Ware irgendwie im Zusammenhang steht: Ein ansehnliches Fabrikgebäude,... die gute Zusammenarbeit der Belegschaft, jeder Briefbogen und jedes Rechnungsformular sowie jeder Lastkraftwagen und jeder repräsentative Lagerraum. In erster Linie soll aber die Ware selbst für sich werben."

102

I. Das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion

Teilen und Funktionen - wirkt zielgerichtet „Werbemittel". 1* 9

motivierend

und ist in diesem Sinn

Führen wir uns das, auch wenn sich Banalitäten da nicht vermeiden lassen, zunächst an einer so unbestreitbar zum normalen Wirtschaftsgeschehen gehörenden Sache wie der „Ware" vor Augen. Der gängigen Auffassung nach würde es Ware auch ohne Werbung geben. 190 Werbung würde diesfalls an der Ware selbst schlechthin nichts ändern. Wenn eine Ware durch Werbung besser verkauft wird, so betreffe das nur ihren Absatz, doch nicht die Ware selbst. Prüfen wir diese Sicht der Dinge am Beispiel einer neuen Ware bisher unbekannten Verwendungszweckes. Wenn wohl außer Streit steht, daß man unter Waren käufliche Gegenstände des Wirtschaftsverkehrs versteht, dann muß man auch das Bestehen von Kaufmotiven potentieller Kunden als Inhalt des Begriffes „Ware" gelten lassen. Wo Kaufmotive fehlen, handelt es sich entweder um Produkte, die nach dem Erzeugungsprozeß noch nicht auf den Markt gebracht sind, oder um unverkäufliche „Ladenhüter", also keinesfalls um marktgängige „Ware". Das heißt aber nichts anderes, als daß die Motivationswirkung wirklichkeitskonstitutiv ist für das, was wir unter Ware verstehen: Ware motiviert, Ware wirbt. Das deckt sich ja auch mit dem geflügelten Wort der Kaufmannspraxis, daß eine „gute Ware die beste Werbung" sei. Dieser Befund führt weiter zur Funktion des „Anbietens", welche gleichfalls untrennbar zur normalen Wirtschaftstätigkeit gehört, doch der gängigen Auffassung zufolge nicht zwangsläufig mit Werbung verbunden sei, oft sogar ausdrücklich gegenüber Werbung abgegrenzt wird. 1 9 1 Wir müssen uns also fragen, was „Anbieten" bzw. „Angebot" eigentlich heiße: Das Wort ist in der 189

Diese These hat primär normativen Charakter in dem Sinn, daß die Gesamtheit eines Unternehmens aufgrund der mit allen ihren Teilen und Funktionen verbundenen Motivationswirkung wesensgemäß - dem Nutzenmaximierungsimperativ entsprechend zugleich Werbemittel sein soll. Sie ist insofern aber nicht unbedingt eine Tatsachenaussage, als die anzustrebende und angestrebte Werbewirkung auch verfehlt werden kann. Auch kontraproduktive Wirkung ist nicht auszuschließen. Darauf wird später, vor allem im Abschnitt „Marketing", zurückzukommen sein. 190 Erich Gutenberg (S. 458 ff.) spricht mehrfach von einem „ohne Werbemitteleinsatz" zu erreichenden Absatz. 191 Die von Erich Streissler (Konsum und Nachfrage: S. 102) gegebene Definition der Werbung erweist sich gerade deshalb als aufschlußreich, weil sie im Sinn des kritisierten Populärverständnises konzipiert ist: „Werbung ist der Versuch eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe, durch wie immer geartete Mittel, aber ohne Veränderung von Preis, technischer Qualität oder angebotener Menge, die Nachfrage nach einem Gut zu erhöhen." Die angebotene Menge wäre demnach auch ohne Werbung bereits „angeboten". Diese Sicht der Dinge zwingt wiederum zur Frage, welche reale Funktion die Werbung dann eigentlich erfülle.

6. Güterwelt

103

Umgangssprache klar, bedarf aber im Hinblick auf die Werbefunktion der Präzisierung: Angebot bedeutet zunächst Information über die räumlich- zeitlich-rechtliche Verfügbarkeit eines Gutes. Wer nicht informiert, bietet nicht an. Der präsumtive Kunde eines neuartigen Produktes wüßte ja ohne Information gar nicht, welchem Zweck es dienen und warum er es erwerben solle. (Um das zu illustrieren, darf an den Bericht eines Ethnologen über einen primitiven Stamm in Feuerland erinnert sein, welcher ein so einfaches Gerät wie eine Leiter nicht verwenden konnte, weil seine Mitglieder mangels Information nicht die Sprossen, sondern nur die Zwischenräume zu sehen vermochten.) Information erweist sich demnach als impliziter Begriffsinhalt von „Ware". Gleiches gilt für den Motivationscharakter des Angebotes. Zwar ist es nicht unproblematisch, einen Gegensatz zwischen Information und Motivation zu konstruieren, weil jede Information, die „ankommt", motiviert; die Unterscheidung mag aber insofern begründet erscheinen, als ja nur ein Teil aller Informationen, die wir empfangen, in unseren Entscheidungshorizont eingeht. Gerade darauf kommt es aber an bei einem Angebot, das als Angebot wirken soll: Es will zu Nachfrage und Kauf bewegen. Ein Angebot, das nicht motivierte, wäre demnach gar kein wirkliches Angebot: Jedes Angebot motiviert, d.h. es wirbt. Gleiches gilt für den Preis der Ware 192 , ebenfalls ein unabdingbares Element des normalen Wirtschaftsverkehrs und keineswegs bloß ein Zusatz. Würden Preisgestaltung und Werbung als zwei Dinge erachtet, die begrifflich nichts miteinander zu tun hätten, so würde man verkennen, daß Preise Motivationswirkung haben und haben müssen. Der Kaufpreis soll den Kunden zunächst im Sinne von Preiswürdigkeit zum Kauf motivieren. Ein Großteil aller Kaufentscheidungen wird bekanntlich durch den Preis bestimmt oder jedenfalls mitbestimmt. Der Preis ist also ein höchst wirksames Werbemittel. - Was über Ware, Angebot und Preis in bezug auf Motivation und Werbung gesagt wurde, ist uneingeschränkt zu verallgemeinern.

6. Güterwelt Konsumgüter produzieren Bedürfnisse.

schon durch ihr bloßes Vorhandensein

Bisher war von Bedürfnisproduktion nur als einem aktiven Handeln die Rede. Wir werden aber nicht nur durch Handlungen motiviert, sondern auch durch die existierende Güterwelt insgesamt. Die Welt der Konsumgüter, in der wir im öffentlichen wie im privaten Bereich leben, die wir tagtäglich sehen - Haus, 192

Siehe Helmut Steiner: Einführung, S. 38 f.

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I. Das Instrumentarium der Bedürfnisproduktion

Kleid, Auto, Fernseher, Schmuck usf. - , signalisiert schon durch ihr bloßes Vorhandensein mögliche Wünsche und Wunscherfüllungen, sie verheißt Nutzen, läßt Wünsche entstehen. Mit der bloßen Existenz der Güter ist eine Anmutungsqualität, ein Aufforderung scharakte r, ein spezifischer Appeal verbunden. Ein kürzlich erschienenes einschlägiges Buch trägt den Titel „Produkte als Botschaften" 193 . Die Güter selbst sagen uns etwas, sie motivieren. Sie präsentieren sich in derart attraktiver Gestalt, daß sie nicht nur als Warenangebot im Geschäft, in Prospekt, Inserat oder Plakat, sondern wie und wo immer einfach durch ihr Vorhandensein - in der Nachbarschaft, im Bekanntenkreis, in Gesellschaften oder auf der Straße Bedürfnisse erzeugen. Was wir an Dingen sehen, stellt uns vor die Frage, ob wir es nicht auch selbst haben möchten. Der so triviale Sachverhalt ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Bedürfnisproduktion und für das Klima der Konsumgesellschaft. Die Motivations· bzw. Werbewirkung der Güterwelt ist allgegenwärtig und nahezu unbegrenzt. „Alles Gegebene motiviert" (Erich Heintel).

7. Die Motivdimension der Güter Güter sind Motive. Der vermutlich als absurd empfundene Satz „Güter sind Motive" will die materielle Wirklichkeitsdimension der Güterwelt natürlich nicht leugnen, er soll nur einen anderen Aspekt des Wirklichen, der uns weniger bewußt zu sein pflegt, provokant ins Blickfeld rücken. Es erhebt sich ja die Frage, wieso Produkte „Botschaften" sein können, wieso Dinge zu uns „sprechen" können. Führen wir uns den Sachverhalt anhand eines recht simplen Beispiels vor Augen. Wenn wir jemanden etwa fragen, was ein Fernsehapparat ist, so würde er ihn wohl folgendermaßen beschreiben: ein Kästchen mit einem Bildschirm, mit Drehknöpfen oder Schiebern, mit einer Bildröhre, mit Drähten, Kondensatoren, Transistoren, einer Antenne usw.; fragen wir aber, warum er einen Fernseher kauft, wird er etwas anderes sagen: etwa daß er ein Fernsehgerät zwecks Information, Kunstgenuß und Unterhaltung haben will. Die technische Beschaffenheit des Gerätes (die Drähte, die Knöpfe, die Transistoren, die Bildröhre usw.) 193 Helene Karmasin: Produkte als Botschaften, Wien 1994. - Siehe dazu auch: Michael Nitsche: Werbewirkungsforschung zwischen Befragung, Psychobiologie und Semiotik, in: Werbeforschung & Praxis 5 / 94, S. 178 f., Hrsg. Österreichische Werbewissenschaftliche Gesellschaft, Wien, und Deutsche Werbewissenschaftliche Gesellschaft, Bonn.

7. Die Motivdimension der Güter

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als solche ist ihm ziemlich egal. Sie könnte auch eine andere sein, wenn das Gerät nur „funktioniert", d.h. den erstrebten Nutzen (Information, Kunstgenuß und Unterhaltung) stiftet. Erst dadurch wird das Gerät zum Gegenstand eines Handelns, also des Kaufens und Verwendens. In bezug auf Kauf und Verwendung „ist" der Fernseher ein bestimmtes Motiv bzw. MotivbündeL - Das gewählte Beispiel läßt sich ohne Einschränkung verallgemeinern. Es handelt sich hier offenkundig um zwei verschiedene Arten von Wirklichkeit, bzw. um zwei verschiedene Aspekte auf die konkrete Wirklichkeit. Die beiden unterschiedlichen Momente - technische Materie einerseits und Motivation andererseits - existieren freilich nicht unabhängig voneinander. Die technischmaterielle Wirklichkeit Fernseher hängt mit der Möi/vwirklichkeit Fernseher derart zusammen, daß die Technik Möglichkeitsbedingung des angestrebten Nutzens ist. Ohne die entsprechende technische Apparatur wäre Fernsehen unmöglich; aber das zu Kauf und Verwendung Bewegende ist nicht die materiell-technische, sondern die Motivwirklichkeit. Trotz Gewöhnungsbedürftigkeit dieser Sicht der Dinge sollte man gerade in wirtschaftlichen Zusammenhängen die Motivwirklichkeit, welche Nachfrage und Kauf verursacht, nicht als minder real ansehen als die materielle Wirklichkeit, welche Nutzen ermöglicht. Im konkreten „Gut" bilden beide Momente ein Ganzes. Nun wird man gegen die Behauptung, das für unser Handeln allein Entscheidende sei die Motivwirklichkeit, einwenden, daß bestimmte Kaufentscheidungen sehr oft gerade wegen der besonderen technischen Beschaffenheit eines Gutes erfolgen. Für die Anschaffung einer bestimmten Autotype beispielsweise mag man sich wegen ihrer beeindruckenden Beschleunigungswerte oder wegen ihres niedrigen Treibstoffverbrauchs entscheiden. Das ist realistisch, führt aber nicht zur Widerlegung, sondern ganz im Gegenteil zur Verallgemeinerung des Motivationsaspektes. Denn wer sich durch die bestimmte technische Beschaffenheit eines Gutes zum Kauf veranlaßt sieht, handelt ja aus bestimmten Gründen, also aufgrund von Motiven - sei es, daß er sich davon einen höheren Verwendungsnutzen oder etwa das Gefühl der Überlegenheit oder die ökologische Rechtfertigung seiner Kaufentscheidung verspreche. 194 194

An dieser Stelle scheint eine Bemerkung zu Wilhelm Vershofens Unterscheidung eines „Grundnutzens" von einem „Zusatznutzen" (Wilhelm Vershofen: Die Marktentnahme als Kernstück der Wirtschaftsforschung, Berlin-Köln, 2. Aufl. 1959, S. 86 ff.) unvermeidlich, weil diese Unterscheidung zu den bekanntesten außer Streit gestellten Lehrstücken der Absatz- und Werbelehre gehört. Vershofens historisches Verdienst liegt darin, daß er uns die Augen für die Motivdimension der Güterwelt geöffnet hat. Dennoch fordert zumindest die populär gewordene Fassung dieses Lehrstückes zu kritischer Stellungnahme heraus: insofern nämlich, als hier einem stofflich-technischen „Grundnutzen