Der jüdische Messianismus im Zeitalter der Emanzipation: Reinterpretationen Zwischen Davidischem Königtum Und Endzeitlichem Sozialismus 3110284294, 9783110284294

In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhren die traditionellen jüdischen Messias-Vorstellungen eine tiefgreifende Rei

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German Pages 328 [326] Year 2017

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Der jüdische Messianismus im Zeitalter der Emanzipation: Reinterpretationen Zwischen Davidischem Königtum Und Endzeitlichem Sozialismus
 3110284294, 9783110284294

Table of contents :
Zur Schriftenreihe
Vorwort
Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus in der jüdischen Reformtheologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Der Messias, Vier Sonette
Confirmanden-Unterricht für Israeliten
Die Religion des Geistes
Die Messiaslehre der Juden
Zwei Predigten über die Lehre vom Messias
Das Ceremonialgesetz im Messiasreich
Die Messiasidee des Judenthums
Die Messiasidee nach der Bestimmung der Offenbarungslehre
Die politische Legitimität und die Lehre der Offenbarung
Der Geburtstag des Messias
Die Messias-Zeit
Brief an eine christliche Freundin
Die Messiasidee
Bibliographie
Personenregister

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Der jüdische Messianismus im Zeitalter der Emanzipation

Mar’ot

Die jüdische Moderne in Quellen und Werken Herausgegeben von Christian Wiese

Band 2

Der jüdische Messianismus im Zeitalter der Emanzipation Reinterpretationen zwischen davidischem Königtum und endzeitlichem Sozialismus Herausgegeben von George Y. Kohler

ISBN 978-3-11-028429-4 e-ISBN 978-3-11-028807-0 ISSN 2192-9661 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Zur Schriftenreihe

Zur Schriftenreihe

Wann in der jüdischen Geschichte die „Moderne“ beginnt, ist – wie zumeist im Falle historischer Periodisierungen – umstritten, ebenso wie die Frage, ob sich die Geschichte der jüdischen Minorität in Europa überhaupt in den traditionellen Kategorien von „Antike“, „Mittelalter“ und „Neuzeit“ erfassen lässt, zumal es sich bei diesen auch mit Blick auf die nichtjüdische europäische Geschichte um der Definition und Differenzierung bedürftige und immer wieder zu destruierende Konstrukte handelt. Für die außereuropäischen Orte jüdischer Diasporaexistenz, etwa im islamischen Herrschaftsbereich, auf die sich die europäischen Begriffe und die damit verbundenen Deutungen und Wertungen nicht einfach übertragen lassen, kompliziert sich die Periodisierungsfrage zusätzlich. Die Schwierigkeit besteht einmal in der unübersehbaren Vielgestaltigkeit und Ungleichzeitigkeit jüdischer Geschichte in den unterschiedlichen Kontexten der Diaspora: Wann beginnt die „moderne“ jüdische Geschichte in West- und Mitteleuropa, in Osteuropa, im Zarenreich, im Osmanischen Reich oder in der arabischen Welt? Während die „Moderne“ nach Auskunft der Historiographie unter den spanischportugiesischen Juden Amsterdams bereits im frühen 17. Jahrhundert anbrach, haben Modernisierungsprozesse in anderen jüdischen Gemeinschaften dagegen – je nach politischem und kulturellem Kontext – mit deutlicher Verzögerung eingesetzt. Dazu kommt, dass es vielfach die Perspektive der Historikerin oder des Historikers ist, die den Maßstab für die „Modernität“ eines Phänomens bestimmt: So erblickten westeuropäische Historiker wie Heinrich Graetz oder Abraham Geiger im 19. Jahrhundert den Beginn der „Moderne“ in der aus der Französischen Revolution und der europäischen Aufklärung resultierenden Emanzipation der Juden, mitsamt der Integration in die bürgerliche Kultur und der Neuinterpretation jüdischer Tradition im Zuge der Haskala und der Diversifizierung des Judentums in konkurrierende modernisierende Strömungen. Demgegenüber konnten zionistische Historiker wie etwa der Jerusalemer Gelehrte Benzion Dinur die Auswanderung einer Gruppe von Juden nach Palästina um das Jahr 1700 als Beginn einer „modernisierenden“ Revolte gegen das Leben im Exil und als Vorläufer des modernen Nationaljudentums deuten, und Gershom Scholem charakterisierte bereits die epochale Zäsur der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 und ihre spirituellen Folgen, die er in den kabbalistischen Zirkeln von Safed, im Sabbatianismus und im Chassidismus ausmachte, als Anbruch der „Moderne“. Angesichts der Vielfalt und Komplexität dessen, was sich historiographisch unter dem Phänomen der „Moderne“ mit Blick auf die jüdische Religion, Geschichte und Kultur fassen lässt, zielt diese den Quellen und Schriften der jüdischen Moderne gewidmete Schriftenreihe nicht auf eine bestimmte Definition, sondern geht von einem weiten Begriff aus, der es ermöglicht, darunter eine

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 Zur Schriftenreihe

Pluralität von Prozessen und Erscheinungen zu verstehen, die spätestens in der radikalen Herausforderung durch Spinoza und der ganz anders gearteten, mit dem Auftreten Sabbatai Zvis im Osmanischen Reich verbundenen Krise des europäischen Judentums zu greifen sind, d.h. in der Mitte des 17. Jahrhundert – ohne dass damit die Zeit davor ganz aus dem Blick geraten müsste. Der hebräische Titel der Reihe – Mar’ot („Spiegel“) – deutet bewusst die komplexe, facettenreiche Entwicklung an, in der die zahlreichen „Judentümer“ dieser Epoche zwischen 1650 und der Gegenwart – in ihren religiösen, kulturellen und nationalen Aspekten – in den vielfältigen „Spiegeln“ der eigenen Tradition, der jeweiligen zeitgenössischen Kultur sowie der politischen Erfahrung von Integration, aber auch von Antisemitismus und Verfolgung neue, moderne, vielfach von unterschiedlichen Brechungen bestimmte Identitätsentwürfe des Jüdischen hervorbrachte. Die vielgestaltigen jüdischen Wege in die Moderne werden von einer reichhaltigen Literatur begleitet und bezeugt. Seit der Frühen Neuzeit, und insbesondere seit der Aufklärung bis zum heutigen Tag, denken Juden über jüdisches Selbstverständnis und die conditio humana in der Moderne nach und beteiligen sich in unterschiedlicher Weise und Intensität an allgemeinen Debatten. Entstanden ist dabei – neben der Fortschreibung traditioneller Genres – nicht bloß eine moderne, im Gespräch und in Auseinandersetzung mit den nichtjüdischen Umweltkulturen und Wissenschaftsbestrebungen formulierte jüdische Geschichtswissenschaft, Philosophie und Philologie, sondern auch eine faszinierende Literatur jüdischer Reflexion zu politischen, religiösen, philosophischen und säkularen Fragen. Mit der Shoah, der Staatsgründung Israels und der Verlagerung der jüdischen Diaspora in die USA sowie anderen Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts hat dieses Nachdenken wichtige neue Bezugspunkte erhalten. Viele der grundlegenden Texte, welche die jüdische Moderne ausmachen, sind jedoch heute schwer zugänglich oder liegen z.T. in verstreuter Form, z.T. nur in zeitgenössischen Ausgaben vor, deren wissenschaftshistorische Kontexte häufig nur wenigen Experten geläufig sind und die der geschichtlichen Interpretation bedürfen. Die Schriftenreihe setzt sich zum Ziel, Quellen und Werke sowie thematische Textsammlungen, die zum Verständnis jüdischer Geschichte und jüdischen Denkens seit dem 17. Jahrhundert von Bedeutung sind, in kommentierter und mit wissenschaftlicher Einleitung versehener Fassung neu herauszugeben und über die spezialisierte Fachwelt hinaus neu ins Bewusstsein zu heben. Wie mit Blick auf die Periodisierung liegt das Bestreben auch hier in besonderer Weise darin, die grundlegende Pluralität und Polyphonie der jüdischen Moderne vernehmbar zu machen. In die Reihe sollen daher Bände aufgenommen werden, die das Profil der unterschiedlichen religiösen Strömungen oder Facetten säkularen jüdischen Selbstverständnisses ebenso widerspiegeln wie die mannigfaltigen Konstellatio-



Zur Schriftenreihe 

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nen nationaljüdischen Denkens oder gegenläufiger Bestrebungen. Innerjüdische Diskurse sollen gleichermaßen Raum erhalten wie interreligiöse und interkulturelle Bezüge oder die Reflexion über allgemeine gesellschaftliche und kulturelle Debatten der jeweiligen Zeit. Nicht zuletzt hat die Schriftenreihe die multi- und transnationale Dimension der jüdischen Moderne vor Augen und zielt darauf, Quellen aus zahlreichen nationalen und kulturellen Kontexten Europas sowie aus dem amerikanischen Judentum und aus Israel – zum Teil in Übersetzungen – zugänglich zu machen.

Christian Wiese, Frankfurt am Main

Vorwort Kaum ein anderer Aspekt des jüdischen Denkens hat die Geschichte des westlichen Religionsverständnisses so geprägt wie der Messianismus. Die Idee einer besseren Zukunft als Alternative zur enttäuschenden Gegenwart, die Idee des endgültigen Sieges der Gerechtigkeit und des Guten, die Idee eines Weltgerichts, ja überhaupt einer einheitlichen Menschheit – all diese Gedanken traten, ausgehend von den Büchern der biblischen Propheten, ihren Siegeszug durch die Geistesgeschichte an. Sie fanden Ausdruck in literarischen Texten aller Gattungen, aber auch immer wieder im Auftreten zahlreicher Messias-Anwärter, deren Bedeutung vom lokalen Sektenführer bis zum Gründer von Weltreligionen reichte. Auch in der Moderne, und trotz weitgehender Säkularisierung und Politisierung, ist der Messianismus lebendig geblieben, ja, die Debatten und Auseinandersetzungen über den wahren Charakter der bevorstehenden Erlösung, über ihre Vorbedingungen und die von ihr Begünstigten gestalten sich heftiger denn je. Auch innerhalb des modernen jüdischen Denkens fanden sich in den letzten zweihundert Jahren ausdrucksstarke Vertreter aller Facetten des Messianischen: seiner ethischen und seiner apokalyptischen Elemente, seiner universalistisch-missionarischen Ansprüche wie auch seiner partikularistisch-territorialen Ausprägung. Das wissenschaftliche Ziel dieses Bandes besteht vor allem darin, die bislang vorherrschende Auffassung, die moderne jüdische Messiaslehre beginne erst mit dem großen Religionsphilosophen Hermann Cohen (1842–1918), an Hand der Edition ausgewählter Texte zum Messianismus aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu widerlegen. Alle zentralen Ideen der Messiaslehre Cohens, zugleich die Kernelemente einer liberalen Theologie der jüdischen Mission im Zusammenhang der modernen Gesellschaft und Kultur – die Entpersonifizierung des Messias, das Ideal des ethischen Universalismus dieser Lehre, dessen innere Verknüpfung mit dem strengen jüdischen Monotheismus, vor allem aber die Deutung der historischen Leiden des Volkes Israel als messianische Stellvertretung – finden sich bereits bei den Denkern, deren Texte in diesem Quellenband zusammengefasst sind. Bei den Autoren handelt es sich überwiegend um reformorientierte deutsche Rabbiner, die in unterschiedlichen Kontexten eigene Ideen zu einer modernen Neuinterpretation der traditionellen Messiaslehre des Judentums entwickelten. Aus diesen Ideen entstand spätestens in den 1870er Jahren eine einheitliche messianische Missionstheologie, die Hermann Cohen schließlich um die Jahrhundertwende in eine systematische, idealistische Religionsphilosophie ausformulierte. Die Textanordnung in diesem Band folgt vor allem chronologischen Erwägungen. Die Textgenres sind dabei aber bewusst breit gewählt und reichen vom Gedicht über die Synagogen-Predigt bis hin zu wissenschaftlichen Auf-

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 Vorwort

sätzen, Passagen aus religionsphilosophischen Schriften oder auch kleinen Monographien zu messianischen Themen. Auch in geographischer Hinsicht versucht die vorliegende Anthologie den gesamten deutschsprachigen Raum – einschließlich Österreich-Ungarns – zu berücksichtigen und bezieht zudem die deutschsprachigen Reformgemeinden in den USA mit ein. Die ausführliche Einleitung dient der inhaltlichen Hinführung und detaillierten Kommentierung der abgedruckten Texte, soll jedoch zugleich weitere kürzere Beispiele messianischen Denkens im Zeitalter der Emanzipation vor Augen führen, die aufgrund ihres andersartigen Kontextes nicht in die Textauswahl aufgenommen werden konnten. Dabei handelt es sich z.B. um rabbinische Rechtsgutachten, um Protokolle von Rabbinerkonferenzen oder sogar um Presseberichte, etwa jene über einen Wiener Gerichtsprozess im Jahre 1864, in dem der jüdische Messianismus öffentlich verhandelt wurde. Die Anmerkungen im Textteil sind bewusst kurz gehalten. Wo die Autoren selbst auf biblische, talmudische oder spätere rabbinische Quellen hinweisen, wurden diese Angaben überprüft und gegebenenfalls stillschweigend verbessert. In den Text eingefügte hebräische Passagen wurden überall dort korrigiert, wo die fehlerhafte Schreibweise für die Autoren nicht von inhaltlicher Bedeutung war, wie z. B. bei der Verwendung zensierter Talmudausgaben. An zahlreichen anderen Stellen habe ich selbst Hinweise auf frei zitierte Schriftverse und ohne Quellenangabe herangezogene Talmudstellen hinzugefügt und diese – besonders im Falle der talmudischen und mittelalterlichen Literatur – kurz erläutert. Anmerkungen und Literaturhinweise der Autoren, die schon im Original begegnen, sind nur erhalten geblieben, sofern sie zweckdienlich waren – in solchen Fällen sind sie als ursprüngliche Fußnoten gekennzeichnet. Bei Passagen, die im Original gesperrt gedruckt sind, wurden die Sperrungen größtenteils aufgehoben, es sei denn, es handelt sich um deutsche Übersetzungen oder freie Wiedergaben von Bibelstellen. Einzelne gesperrte Wörter wurden meist beibehalten. Die Rechtschreibung des neunzehnten Jahrhunderts ist weitgehend beibehalten, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Ziel ist somit nicht eine wissenschaftliche Edition der hier aufgenommenen Quellen im strengen Sinne, vielmehr geht es insgesamt in diesem Band um die Dokumentation des Prozesses der Transformation des Messianismus in der Neuzeit. Der vorliegende Band entstand während eines einjährigen Forschungsaufenthaltes an der Martin Buber-Professur für jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ich bin dem Lehrstuhlinhaber, Prof. Christian Wiese, für seine aufopfernde Hilfe, seine gründliche Redaktion des Manuskripts und die Aufnahme des Bandes in die Schriftenreihe zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Auch der Minerva-Stiftung, die meinen Aufenthalt in Frankfurt großzügig finanzierte, gilt mein ausdrücklicher Dank.

Inhalt Zur Schriftenreihe  Vorwort 

 V

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Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus in der jüdischen Reformtheologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts   1 Moritz Samuel Freystadt Der Messias, Vier Sonette 

 93

Elias Grünebaum Confirmanden-Unterricht für Israeliten  Salomon Formstecher Die Religion des Geistes 

 97

 99

Samuel Hirsch Die Messiaslehre der Juden 

 121

Levi Herzfeld  Zwei Predigten über die Lehre vom Messias  Samuel Holdheim Das Ceremonialgesetz im Messiasreich  Sigismund Stern Die Messiasidee des Judenthums 

 147

 165

 201

Salomon Ludwig Steinheim Die Messiasidee nach der Bestimmung der Offenbarungslehre  Salomon Ludwig Steinheim Die politische Legitimität und die Lehre der Offenbarung  David Einhorn Der Geburtstag des Messias 

 243

 233

 221

XII 

 Vorwort

Samuel Schwarz Die Messias-Zeit 

 251

Klementine von Rothschild Brief an eine christliche Freundin  Hermann Cohen Die Messiasidee  Bibliographie  Personenregister 

 287  305  313

 281

Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus in der jüdischen Reformtheologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

Unsere messianische Idee ist nicht die, daß alle Menschen Juden, sondern daß die Juden Menschen werden würden, nachdem alle Übrigen es geworden sind. Samuel Holdheim, 1845

Der einflussreiche Religionshistoriker Gershom Scholem (1897–1982) hielt den traditionellen jüdischen Messianismus für eine ausgemachte Katastrophentheo­ rie.1 Veranlasst wurde er zu dieser Deutung durch vereinzelte Hinweise in der talmudischen und kabbalistischen Literatur, vor allem aber durch die gelegentlichen Schilderungen der biblischen Propheten, die das Kommen des Messias etwa mit dem Tag des Herrn verbinden, der „Finsternis, nicht Licht“ bringen wird.2 Ob Scholem mit seiner Einschätzung tatsächlich das ganze Bild beschreiben, oder ob er sich – wie in anderen Zusammenhängen – gegen seine verhassten Vorgänger aus der Wissenschaft des Judentums abgrenzen wollte, mag vorerst offen bleiben.3 Die deutsch-jüdischen Denker des neunzehnten Jahrhunderts jedenfalls vertreten in ihrer überwiegenden Mehrheit unübersehbar eine diametral entgegengesetzte Deutung der messianischen Idee im Judentum. So hört etwa Hermann Cohen die Propheten ein Reich universeller Erkenntnis und damit ratio­naler Sittlichkeit verkünden, wenn sie von der messianischen Zeit sprechen. In ihrem Messianismus seien die biblischen Propheten die eigentlichen Erfinder des philosophischen Zeitbegriffs der Zukunft und des ethischen Konzepts der geeinten Menschheit, und ihr Messiasbild verweise gerade nicht auf apokalyptische Katastrophen, sondern sei „ein Symbol für den Frieden der Menschheit“. „Wahrlich, wenn die jüdische Religion nichts anderes gebracht hätte als die mes-

1 Gershom Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, in: Judaica, Bd. 1 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968), 7–74, hier 14. 2 Amos 5, 18–20. Zur Vorstellung der „Geburtswehen des Messias“, einer vormessianischen Zeit des Niedergangs, vgl. bT San 98b (‫ )חבלו של משיח‬und Sotah 49b, San 97a etc. 3 Zu Scholem und der Wissenschaft des Judentums vgl. ausführlich Christoph Schulte, „Scholems Kritik der Wissenschaft des Judentums und Abraham Geiger“, in: Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums, hrsg. von Christian Wiese (Berlin: De Gruyter, 2013), 407–424.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

sianische Idee des Prophetismus“, schreibt Cohen, „so wäre sie die tiefste Kulturquelle der sittlichen Menschheit.“4 Vom ethischen Monotheismus der Propheten, der in seiner theologischen Konsequenz auf einen optimistischen Messianismus hinausläuft, führt sodann eine unmittelbare Linie zum Werk des Maimonides (1138–1204), der die jüdische Messiaslehre in seinem religionsphilosophischen Werk systematisiert und vollkommen rationalisiert hat.5 Hatte der Talmud immerhin noch die Möglichkeit eines plötzlichen, göttlich herbeigeführten Eintretens einer von Wundern begleiteten Messiaszeit diskutiert, in der sowohl die Gebote der Torah als auch die Naturgesetze außer Kraft gesetzt sein würden, so postulierte Maimonides die strikte theologische Trennung von Messiaszeit und Olam habah, der jüdischen Idee des Jenseits.6 Die messianische Ära beschreibt Maimonides in seinem Kommentar auf die Mishnah als vollkommen diesseitig, den Messias selbst als einen starken König, der Israel befreit und in seine alte Heimat zurückführt. „Aber dann wird der Messias sterben“, schreibt Maimonides, „und sein Sohn wird an seiner Stelle regieren, und dann sein Enkelsohn.“7 Die Messiaszeit des Maimonides ist kein eudämonistisches Schlaraffenland, sondern ein Reich der reinen Gottes-

4 Alle Zitate aus Hermann Cohen, „Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt der Menschheit“, Sonderausgabe aus dem Protokoll des 5. Weltkongresses für freies Christentum und religiösen Fortschritt (Berlin: Protest. Schriftvertrieb, 1910), 13f. Ausführlich zum Messianismus bei Cohen vgl. das 13. Kapitel seiner nachgelassenen Theologie Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (zuerst 1918), hier zitiert nach der Ausgabe Frankfurt am Main: Kauffmann, 1929. 5 Zu Maimonides’ Messiaslehre vgl. Jakob Dienstag (Hg.), Eschatology in Maimonidean Thought: Messianism, Resurrection, and the World to Come (New York: Ktav, 1983); Maimonides, Der Brief in den Jemen. Texte zum Messias, hrsg., übers. u. komm. von Sylvia Powels-Niami (Berlin: Parerga, 2002); für die Wiedergabe der Mishneh Torah hat die Herausgeberin hier allerdings die zensierte Ausgabe benutzt. Auch Scholem ist sich natürlich dessen bewusst, dass eine rationalistische Linie in der jüdischen Messianismus-Deutung von Maimonides zu den Denkern der Wissenschaft des Judentums im neunzehnten Jahrhundert führt, behauptet aber, mit dieser Tradition der Leugnung jeder apokalyptischen Tendenz im Judentum gehe eine Verfälschung der historischen Wahrheit einher; vgl. Scholem, „Zum Verständnis“, 8f. 6 Die zentrale Stelle ist bT Berachot 34b (und Parallelen): Während Rabbi Jochanan der Auffassung zuneigt, alle von den Propheten angekündigten Wunder würden sich in den Tagen des Messias ereignen, und mit Jesaja 64, 3 argumentiert, kein Auge habe je die zukünftige Welt gesehen, prägte Mar Samuel den vielzitierten Satz: „Es gibt keinen Unterschied zwischen dieser Welt und den Tagen des Messias – außer dem Ende der Unterdrückung Israels durch fremde Königreiche.“ Dafür beruft er sich auf Deuteronomium 15, 11, wo es heißt, dass die Armen nie von der Erde verschwinden werden. Samuel scheint mit dieser Vorstellung allerdings in der Minderheit geblieben zu sein. 7 Maimonides, Kommentar zur Mishnah, San 10, 1.



Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus 

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erkenntnis, die überhaupt erst die materiellen Grundlagen eines besseren Lebens gewährleistet. Dieses Reich ist dabei durchaus universell gedacht, insofern es der gesamten Menschheit Frieden und Gerechtigkeit bringt: „[…] alle Welt wird sich mit nichts anderem beschäftigen als mit der Erkenntnis Gottes. Darum werden alle hervorragende Weise sein, und sie werden die verborgenen Dinge ergründen und die Gedanken ihres Schöpfers, soweit der menschliche Geist dies vermag, erfassen – wie es bei Jesaja heißt: denn die Welt ist voll der Erkenntnis des Herrn, so wie die Wasser das Meer bedecken (Jes. 11, 9).“8 Doch die rationalistisch-ethisierende Messianologie des Judentums setzte sich keineswegs einfach in einer geraden Linie von Maimonides bis in die Moderne fort. „Ich für meinen Theil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechts“, schrieb Moses Mendelssohn (1729–1786) 1783 in Jerusalem, und der Berliner Philosoph konnte sich auch nicht vorstellen, dass sein „verewigter Freund Lessing“ von allein auf derart merkwürdige Ideen gekommen war. Moralischen Fortschritt gäbe es Mendelssohn zufolge lediglich für den einzelnen Menschen im Laufe seines Erdenlebens – dass hingegen „die Menschheit hienieden, in der Folge der Zeiten immer vorwärts rücken, und sich vervollkommnen soll, dieses scheint mir der Zweck der Vorsehung nicht gewesen zu seyn“.9 Diese unüberhörbare Kritik an Lessing besitzt auch eine auf den ersten Blick möglicherweise wenig auffällige theologische Dimension, hatte doch die maimonidische Tradition im jüdischen Denken des Mittelalters den biblisch-prophetischen Gedanken des Messianismus immer als genau das verstanden: als eine Erziehung der (gesamten) Menschheit zu Moral und Gottesfurcht, als eine Verbesserung der weltlichen Zustände und als Hoffnung auf die Erlangung des ewigen Friedens durch allgemeine Weisheit und Erkenntnis. Mendelssohns religiös motivierte Ablehnung des Gedankens einer ethischen Entwicklung der Menschheit verstellte ihm jedoch offenbar auch den Weg zu einer solchen Weisheits-Eschatologie. In seinen unveröffentlichten Gegenbetrachtungen zu Bonnets Palingenesie zitiert er denselben Vers aus Jesaja wie Maimonides am Ende des Mishneh Torah, zieht ihn aber ins Lächerliche: „Diese Vorstellung ist der menschlichen Seele so ergötzend, dass sie mit Wollust dabei verweilet, und die Glückseligkeit in der Einbildung genießt, die dem menschlichen Geschlechte nach einer so heil-

8 Maimonides, Mishneh Torah, am Ende des gesamten Werkes. 9 Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, hrsg. von David Martyn (Bielefeld: Aisthesis, 2001), 92. Zu Mendelssohn und Lessing vgl. den klassischen Aufsatz von Ernst Cassirer, „Die Idee der Religion bei Lessing und Mendelssohn“, in: Festgabe zum zehnjährigen Bestehen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums (Berlin: AkademieVerlag, 1929), 22–41.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

samen Revolution bevorstünde.“10 Die Seligkeit des Individuums, schreibt er in diesem Zusammenhang, muss in der Anerkennung der allgemeinen Vernunftgesetze begründet liegen, nicht in der Anerkennung der Vollmacht eines göttlichen Gesandten.11 Vermutlich war Mendelssohns Skepsis gegenüber dem davidischen Messianismus aber nicht nur durch die Erinnerung an das Auftreten der zahlreichen Pseudo-Messiasse, sondern auch durch die Ablehnung der traditionellen kabbalistischen Zahlen-Spiele bedingt, die das Kommen des königlichen Erlösers „berechnen“ wollten, wie eine andere, recht zynische Bemerkung in Jerusalem zeigt.12 Für Mendelssohn herrscht in Israel am Ende der Tage Gott selbst, nicht ein irdischer König. Auch den meisten Maskilim der Generation nach Mendelssohn blieben wichtige Dimensionen der jüdischen Messiasidee fremd. Lazarus Bendavid (1762– 1832) urteilte 1823 in seinem Essay Über den Glauben der Juden an einen künftigen Messias, heute finde der Jude seinen Messias darin, „dass gute Fürsten ihn ihren übrigen Bürgern gleichgestellt, und ihm die Hoffnung vergönnt haben, mit der völligen Erfüllung aller Bürgerpflichten auch alle Bürgerrechte zu erlangen“.13 Der gute Fürst als Erlöser der Juden – in dieser Deutung erscheint der Messiasglaube des Judentums in grundlegend säkularisierter Gestalt, und der Messianismus als theologisch-eschatologische Zukunftsdebatte im jüdischen Denken ist einer eklatanten „Naherwartung“ gewichen. David Friedländer (1750–1834) hingegen lehnte den traditionellen Messianismus im Kontext einer neuen aufklärerischen Vernunftreligion gleich vollständig ab. Schon 1799 schrieb er an Probst Wilhelm Abraham Teller (1734–1804): „Der mächtigste Gewinn für die Juden ist auch wohl der, daß die Sehnsucht nach Messias und Jerusalem aus dem Herzen

10 Moses Mendelssohn, „Gegenbetrachtungen zu Bonnets Palingenesie“, in: Schriften zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik, Bd. 2, hrsg. von Moritz Brasch, (Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1968), 564–602, hier 594. 11 Ebenda, 586. Zu Mendelssohns messianischen Andeutungen vgl. ausführlicher Gideon Freudenthal, No Religion without Idolatry: Mendelssohn’s Jewish Enlightenment (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2012), 235–245. Aus Mendelssohns Sicht, so Freudenthal mit einiger Berechtigung, ist die messianische Zeit nicht etwa durch eine einzige Vernunftsreligion bestimmt, sondern dadurch, dass „pluralistischer Monotheismus“ an die Stelle religiöser Intoleranz tritt. 12 In Jerusalem erwähnt Mendelssohn das Jahr 2240, das dem Jahr 6000 der jüdischen Rechnung entspricht (58). Laut bT San 97a währt die Welt insgesamt nur sechstausend Jahre. Zur Geschichte messianischer Bewegungen, vgl. Roland H. Worth, Messiahs and Messianic Movements through 1899 (Jefferson: McFarland, 2005) und Harris Lenowitz, Jewish Messiahs: From the Galilee to Crown Heights (New York: Oxford University Press, 1998). 13 Lazarus Bendavid, „Über den Glauben der Juden an einen künftigen Messias“, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1 (1923): 197–230, hier 225.



Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus 

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sich immer mehr entfernt, so wie die Vernunft diese Erwartungen als Chimären immer mehr verwarf.“14 Dass die Wiederentdeckung des Messianismus als zentrales Thema der jüdischen Theologie somit den Reformdenkern des neunzehnten Jahrhunderts vorbehalten blieb, ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass die religiöse Erneuerung des Judentums in der Neuzeit nicht, wie oft vermutet, unmittelbar aus der Haskalah hervorging, sondern ihre Wurzeln eher in noch traditionell geprägten Kreisen des Rabbinats fand, die nun durch das Universitätsstudium, aber auch durch die Desillusionierung angesichts der ausgebliebenen bürgerlichen Emanzipation mit ihrer talmudischen Erziehung in Konflikt gerieten. Eines der interessantesten Beispiele für den ebenso zwiespältigen wie kreativen und zukunftsweisenden Umgang mit diesen Konflikten um Tradition und Neuerung bietet die intensive Auseinandersetzung der ersten Reformrabbiner mit der jüdischen Idee des Messianismus.15 Durften die Juden in der Moderne noch auf die wunderbare Erlösung und Rückführung ins Heilige Land hoffen und darum beten? Widersprach ein solcher Messias-Glaube nicht ihren mit der Integration in die europäische Gesellschaft verbundenen patriotischen Pflichten? War nicht sogar das Exil Ausdruck eines ewigen göttlichen Plans zur universellen Verbreitung des strengen Monotheismus? In der Diskussion über diese komplizierten Fragen stellte sich etwas Erstaunliches heraus: Trotz aller Bedenken gegen die restaurativen Formulierungen der jüdischen Messias-Liturgie wollte keiner der an den Debatten Beteiligten auf den eigentlichen messianischen Gedanken im Judentum verzichten. Die Gründe dafür waren unterschiedlich: Neben der offenbar immer dringender werdenden Abgrenzung der jüdischen Reformtheologie vom Christentum, das

14 David Friedländer, Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion (Berlin: Mylius, 1799), 39. Zu dem Zeitraum bis 1820 vgl. Baruch Mevorach, „Der Messiasglaube in den Debatten der ersten Reformer“ [hebr.], in: Zion 34 (1969): 189–218. Interessant dagegen ist der hebräische JesajaKommentar von Herz Homberg (1749–1841), der 1818 in Wien erschien. Zu Jesaja 52–53 zeichnet Homberg ein geradezu christlich anmutendes Messiasbild eines verkannten und verhöhnten Erlösers, der Israel aus dem Exil befreien wird, indem er Israels Leid auf sich nimmt. 15 Etwa um dieselbe Zeit beginnt sich außerhalb des Judentums der Begriff des „Messianismus“ als weltliche, politisch-soziale Heilserwartung herauszubilden, wie er später in die politikwissenschaftliche Terminologie eingegangen ist. Als Ursprung dieser Entwicklung wird im Allgemeinen das philosophische Hauptwerk von Josef Hoëné-Wronski gesehen, vgl. Messianisme: union finale de la philosophie et de la religion, 2 Bde. (Paris: 1831 und 1839). Dieser Aspekt muss hier allerdings weitgehend unberücksichtigt bleiben, obwohl er, wie sich im Folgenden oft zeigen wird, mit dem theologischen Hintergrund besonders des jüdischen Messiasgedankens eng verbunden ist und sich letztlich im Werk Hermann Cohens wieder mit der Theologie vereinigt.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

sich seinerseits der Messiasidee bemächtigt und ihr einen anderen Sinn gegeben hatte, ist vor allem der Rückgriff auf die biblischen Propheten zu nennen, die den jüdischen Messianismus geprägt hatten und deren Texte von den Reformern als die zentrale Botschaft eines modernen Judentums verstanden wurden. Der Wille zur Bewahrung des messianischen Gedankens auch in einem modernisierten Judentum ging allerdings mit der Forderung nach einem neuen, zumindest aber nach einem transformierten Inhalt des traditionellen talmudischen Konzepts des davidischen Erlöser-Königs einher, der zuerst Israel, dann auch die übrigen Völker entweder nach Zion führt oder mit dem Schwerte besiegt.16 Aus dieser Notwendigkeit der Neuformulierung ergab sich bald eine umfangreiche Literatur zu messianischen Themen – von Predigten bis hin zu philosophischen und theologischen Streitschriften.17 Den jüdischen Denkern der 1840er Jahre kam dabei vor allem der Umstand zur Hilfe, dass bereits die gesamte Literaturtradition des Judentums, von den Propheten über den Talmud bis hin zu den großen rabbinischen Denkern des Mittelalters, (wenigstens) zwei unterschiedliche messianische Ansätze kennt: erstens die Erwartung der apokalyptischen, endzeitlichen und vor allem übernatürlichen Erlösung und zweitens die – vor allem von Maimonides theologisch ausformulierte Vorstellung eines diesseitigen Reichs der Weisheit und des Friedens, das nicht das Ende der Geschichte markiert, sondern jenen konkreten historischen Augenblick, in dem durch allgemeine Gesetzesobservanz eine sozial gerechte und geistig erneuerte Gesellschaft entsteht.18 Die ersten Reformrabbiner erkannten sehr früh, dass dieses zweite,

16 Zur traditionellen jüdischen Messiasliteratur immer noch hilfreich ist Moritz Zobel, Gottes Gesalbter. Der Messias und die messianische Zeit in Talmud und Midrasch (Berlin: SchockenVerlag, 1938). Im vorliegenden Band vgl. den Text von Salomon Formstecher mit zahlreichen Hinweisen auf das rabbinische Schrifttum (S. 104–113). 17 Vgl. dazu Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte (München: C. H. Beck, 2002), 51: „Erst am Ende des 19. und besonders im 20. Jahrhundert spielt der Messianismus bei jüdischen Denkern wie Moses Hess [sic], Hermann Cohen, Walter Benjamin oder Ernst Bloch überhaupt wieder eine Rolle.“ Der vorliegende Band soll diese Auffassung widerlegen. Auch Pierre Bouretz schreibt über Cohens „modern rediscovery of Messianism“; vgl. Pierre Bouretz, „Messianism and Modern Jewish Philosophy“, in: The Cambridge Companion to Modern Jewish Philosophy, hrsg. von Michael L. Morgan und Peter E. Gordon (Cambridge und New York: Cambridge University Press, 2007), 170–191, hier 178. 18 Eine umfassende Darstellung dieses Themenkomplexes harrt noch der Ausführung. Gershom Scholems Klassiker von 1959 „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“ (vgl. Anm. 1) zeichnet sich aus naheliegenden Gründen durch eine stark einseitige Überbetonung der apokalyptischen Seite aus. Auch Gilbert Rosenthal, „Messianism Reconsidered“, in: Judaism 40 (1991): 552–568 ignoriert den gesamten Themenkomplex dieses Bandes und geht in der historischen Darstellung vom Chassidismus direkt zur Pittsburgh Platform (1885) des



Die Debatte um das Hamburger Gebetbuch 

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rationalistische Messianismus-Modell das Potential für eine theologisch-spirituelle Rechtfertigung der Fortexistenz des Judentums in der Moderne und somit eine Zukunftshoffnung in sich barg, die in ihrer Universalität auch unabhängig von partikularistischer Talmudtreue verstanden werden konnte.19

Die Debatte um das Hamburger Gebetbuch Die wiedererwachte theologische Diskussion um die Stellung des Messias im modernen Judentum setzt etwa zu Beginn der 1840er Jahre ein. Im Jahre 1841 veröffentlichte die mit dem Hamburger Israelitischen Tempel verbundene jüdische Reformgemeinde ein neues Gebetbuch, das sofort allgemeines Aufsehen erregte. Die Hamburger Tempelgemeinde war um diese Zeit die älteste noch existierende Reformgemeinde Deutschlands, und schon zwanzig Jahre zuvor, zur Zeit ihrer Gründung, war es besonders ihr reformiertes Gebetbuch gewesen, das Zorn und Protest der jüdischen Orthodoxie auf sich gezogen hatte.20 Isaac Bernays (1792–1849), der Führer der orthodoxen Fraktion der Hamburger Judenschaft, hatte bereits 1819 den Tempel-Siddur gebannt. 1841 veröffentlichte er sodann eine offizielle rabbinische Bekanntmachung, die es jedem gesetzestreuen Juden verbot, die neue Ausgabe des Gebetbuchs zu benutzen. Eines der Argumente, die Bernays gegen den reformierten Text ins Feld führte, war der Vorwurf der Missachtung eines zentralen Elements des traditionellen Judentums – der Hoffnung auf den Messias. Da Bernays in seiner Bekanntmachung keine detaillierte Begründung für diesen Vorwurf lieferte, konnte Gotthold Salomon (1784–1862), sein Hamburger Gegenspieler und einer der führenden Prediger der Tempelgemeinde, das Argu-

amerikanischen Reformjudentums über. Unmittelbar zu den Themen dieses Bandes äußert sich nur der kurze Artikel von Michael A. Meyer, „German Jewish Thinkers Reflect on the Future of the Jewish Religion“, in: Leo Baeck Institute Yearbook 51 (2006): 4–10, dessen Aussagen hier durchgehend geteilt werden; neuerdings auch Kenneth Seeskin, „Judaism and the Idea of a Better Future“, in: Judaic Sources and Western Thought: Jerusalem’s Enduring Presence, hrsg. von Jonathan. A. Jacobs (New York und Oxford: Oxford University Press, 2011), 49–70. 19 Anders als bei den Aufklärern war der Messianismus der jüdischen Reformtheologen jedoch nicht nur eine „metaphor for social progress“, wie David Myers vermutet, sondern, wie der vorliegende Band zu zeigen unternimmt, eine ernsthafte theologische Herausforderung; vgl. David N. Myers, Resisting History: Historicism and its Discontents in German-Jewish Thought (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2003), 132. 20 Zur Geschichte der Tempelgemeinde und der Streitigkeiten um ihr Gebetsbuch vgl. Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform. Der Hamburger Israelitische Tempel 1817–1938 (Hamburg: Dölling & Galitz, 2000), bes. 45–56.

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ment in einer ebenfalls noch 1841 erschienenen Streitschrift überzeugend wider­legen. Obwohl dem mittelalterlichen Religionsphilosophen Josef Albo (1380– 1444) zufolge die Messiaslehre kein Grundprinzip des Judentums darstellt, würde, wie Salomon etwas apologetisch anmerkt, „doch ein Gebetbuch ohne alle Spuren von jenem Messiasglauben nicht leicht Eingang finden in Israel“.21 Salomon verweist dann zu Recht auf die zahlreichen aus der traditionellen Liturgie übernommenen Stellen des Hamburger Siddurs, die einen persönlichen Messias erwähnen, hauptsächlich in der Formulierung ‫„( זכרון משיח בן דוד עבדך‬das Andenken des Messias, Sohn deines Knechts David“) aus der Festtags-Einschaltung in die Hauptgebete (‫)יעלה ויבוא‬, aber auch in den Festgebeten der hohen Herbstfeiertage oder in der Jigdal-Hymne. Diese häufig gesungene Synagogenhymne lässt allerdings auch die Fragwürdigkeit von Salomons Verweis auf Albo erkennen, handelt es sich dabei doch um eine poetisierte Fassung von Maimonides’ berühmten Dreizehn Glaubensartikeln, die den eigentlichen Beginn einer jüdischen „Dogmatik“ verkörpern. Obwohl Glaubensgrundsätze im Judentum nie dieselbe autoritäre Bedeutung erlangten wie in der christlichen Überlieferung, sind es doch bis heute eher die Artikel des Maimonides, und nicht die stark reduzierte Dogmen-Liste Josef Albos, die die jüdische Theologie entscheidend geprägt haben.22 Maimonides erwähnt den Glauben an das Kommen eines persönlichen Messias ausdrücklich im zwölften der dreizehn Artikel, und diese Lehre bestätigt sich auch in dessen religionsgesetzlichem Hauptwerk, dem Mishneh Torah, das seine beiden Schlusskapitel der ausführlichen Beschreibung von Funktion und Auftreten des Messias widmet.23 Welche Verwirrung zu Beginn der 1840er Jahre noch um den jüdischen Messiasbegriff herrschte, zeigt die Erwiderung des Orientalisten und späteren Leipziger Professors für semitische Sprachen, Julius Fürst (1805–1873), der im Dezember 1841 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der Orient Bernays’ Verdikt entschieden entgegentrat. Wie Salomon behauptete Fürst, der Glaube an das einstige Erscheinen des Messias zähle nicht zu den jüdischen Glaubensartikeln –

21 Gotthold Salomon, Das neue Gebetbuch und seine Verketzerung. Auszug aus einem grösseren Ms., als eine Schrift f. d. Volk (Hamburg: Berendsohn, 1841), 6. 22 Als Studien zur jüdischen Dogmatik in der Wissenschaft des Judentums vgl. Abraham Geiger, „Jüdische Philosophie“, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 4 (1862): 271–281, hier 278; Jacob Guttmann, Über Dogmenbildung im Judentum (Breslau: Verein für Jüdische Geschichte und Litteratur zu Breslau, 1894); Leo Baeck, „Besitzt das überlieferte Judentum Dogmen?“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 4 (1926): 225–236; insbesondere aber Julius Guttmann, „Die Normierung des Glaubensinhalts im Judentum“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 5 (1927): 241–255. 23 Maimonides, Mishneh Torah, Gesetze von Königen und Kriegen, Kap. 12–13.



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jedenfalls nicht in einem religiösen Sinne. Fürst wollte offenbar die Messiasidee des Judentums ganz auf den politischen Aspekt beschränken und warf Bernays vor, allein das Christentum sehe im Messias „nur eine religiöse Moment-Befreiung von der Sünde“ – das wäre, „was Jesus den Christen geworden“, nämlich eine rein religiös verstandene Erlösung.24 Fürst schrieb dies, wie er später bekannte, bevor er die zahlreichen Verteidigungsschriften anderer Autoren lesen konnte, die ironischerweise in genau entgegengesetzter Richtung argumentierten. In diesem Zusammenhang ist es daher interessant, zu beobachten, dass viele der reformorientierten Rabbiner, die der Tempelgemeinde in Hamburg mit religionsgesetzlichen Gutachten gegen Bernays’ Verbot des neuen Gebetbuches zu Hilfe kamen, sich nicht mit Salomons Argument zufrieden gaben, der Messias werde, obwohl das theologisch gar nicht nötig sei, im Siddur doch mehrfach erwähnt. Viele der Gutachter versuchten – jenseits dieses Arguments – die eigentliche theologische Bedeutung und den praktischen Inhalt des jüdischen Messiasglaubens in der Gegenwart darzustellen. Auf Initiative Gabriel Riessers (1806–1863), eines Vorkämpfers der politischen Emanzipation der jüdischen Bevölkerung Deutschlands und gleichzeitig eines prominenten Mitglieds der Hamburger Tempelgemeinde, gelang es in einem 1842 erschienenen Band, zwölf Schreiben von bekannten jüngeren deutschen Rabbinern zusammenzutragen, die allesamt Bernays verurteilten, obwohl die versammelten Autoren, wie auch andere, die später separate Gutachten einreichten (von Zacharias Frankel bis Abraham Geiger), bei weitem nicht in allen mit der Liturgie verbundenen Fragen übereinstimmten.25 Während nun diese eindrucksvolle Gutachtensammlung im Allgemeinen beweist, wie sich in den zwanzig Jahren seit dem Erscheinen des ersten Hamburger Tempelgebetbuchs unter der überwiegenden Mehrheit des deutschen Rabbinats die Auffassung herausgebildet hatte, eine Gebetsbuchreform sei ebenso möglich wie notwendig, lassen die Gutachten im Einzelnen auch eine ganz neue Sicht der jungen Theologen im Hinblick auf die Messiasfrage erkennen. Es scheint, als habe der Streit um den Hamburger Reform-Siddur nur den lange gesuchten Anlass geboten, endlich eine tiefgreifendere theologische Debatte über die Bedeutung des Messiasglaubens im Judentum der Moderne herbeizuführen. Tatsächlich beginnt hier, in den frühen 1840er Jahren, die für die Zukunft liberaler jüdischer Theologie so prägende Formulierung einer unpersönlichen,

24 Julius Fürst, „Das neue Hamburger Gebetbuch des israelitischen Tempels“, in: Der Orient 49 (1841): 307f., hier 308. 25 Theologische Gutachten über das Gebetbuch nach dem Gebrauche des neuen israelitischen Tempelvereins in Hamburg (Hamburg: Berendsohn, 1842).

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ethisierenden Auffassung vom Messias, die wenigstens die nächsten siebzig Jahre über Gültigkeit bewahrte und schließlich im jüdisch-theologischen Werk Hermann Cohens ihren Höhepunkt fand. Die praktische Frage, der sich die Redakteure des Tempel-Siddurs zu stellen hatten, war der von ihnen wahrgenommene Unwille vieler Gemeindemitglieder, weiter um die Rückführung der in der Diaspora verstreuten Juden in ein wiederherzustellendes Reich in Palästina zu beten – nach traditioneller Auffassung eine der klassischen Aufgaben des Messias. Der Messias als König dieses zukünftigen Friedensreiches war gleichzeitig auch für dessen Herbeiführung verantwortlich, für den Sieg über die Feinde, die sich seiner Errichtung widersetzen würden, und für das „Einsammeln der Zerstreuten“ (kibbuz galujot). Gerade letztere Vorstellung, obwohl durch die Liturgie weit verbreitet, blieb äußerst vage und wurde kaum je von jüdischen Autoren auf ihre praktische Realisierung hin beschrieben. Auf der anderen Seite aber, und das ist vielleicht der interessantere Aspekt, verspürten die für die neue Liturgie Verantwortlichen, wie die oben angeführte Bemerkung Salomons zeigt, offenbar eine starke Abneigung, den jüdischen Messiasglauben ganz aus ihrem Gebetbuch zu streichen. Salomon vertraute offensichtlich selbst nicht auf die Autorität des von ihm ins Feld geführten Josef Albo, dem zufolge ein einfaches Auslassen aller auf den Messias bezogenen Gebetsstellen für die theologische Lehre des Judentums keinerlei ernsthafte Folgen zeitigen würde. Die Gründe für diese tiefsitzende Abneigung sind vielfältig und sollen hier im Einzelnen untersucht werden. Sicher weisen sie über schlichte Gewohnheit hinaus, die Unmöglichkeit, liebgewonnene, vertraute, aber gleichwohl veraltete oder unreflektierte Gebetsformeln allzu rasch und unvermittelt abzuschaffen. Dieses Argument, das später durch Zacharias Frankel (1801–1875) zum Grundprinzip konservativer Reformen werden sollte, wollte die junge Reformbewegung von Anfang an auch mit theoretischen Überlegungen stützen. Wo Frankel argumentierte, das Kriterium für die Berechtigung von Änderungen in der Tradition müsse immer die Bereitschaft der Gemeinde – und im Grunde des gesamten jüdischen Volkes – sein, die jeweils vorgeschlagene Reform anzunehmen, hatte der radikalere Flügel der Bewegung schon im neunzehnten Jahrhundert kritisch angemerkt, auf diese Weise werde dem Gefühl vor der Wissenschaft der Vorzug gegeben. Dabei war ja die Reformbewegung mit der Wissenschaft des Judentums gerade deshalb ein – aus ihrer Sicht überlebensnotwendiges – Bündnis eingegangen, weil in der nach-kantischen Moderne nur dasjenige Element der Religion überleben könne, das auf einer fundierten theologischen Grundlage beruhe. Wollte man also auch einem modernisierten Judentum den Messiasglauben bewahren, so musste der traditionelle Messiasbegriff neu bestimmt und durch klare theologische Prinzipien abgesichert werden. Ein solcher Prozess allerdings, das war den beteiligten Rabbinern von Anfang an bewusst, ließ sich nur dann



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plausibel machen, wenn man ihn seinerseits in eine beglaubigte Tradition des Judentums einbettete, die am besten parallel zur traditionellen, persönlichen und politischen Lehre vom Messias-König verlief. Genau darauf zielte der Tenor der Gutachten im Hamburger Tempelstreit von 1841, insbesondere in der Messias­ frage, und tatsächlich wies die Mehrzahl der rabbinischen Autoren zunächst darauf hin, dass bereits die klassischen jüdischen Quellen, Bibel und Talmud, die widersprüchlichsten Aussagen zum Thema Messias enthielten, es also „kaum in der israelitischen Glaubenslehre ein Dogma“ gebe, „welches so sehr der Erläuterung und Feststellung“ bedürfe wie der Messianismus – so die Einleitung, die Rabbiner Joseph Aub (1804–1880) aus Bayreuth seiner Erörterung der Messiasfrage in der Liturgie voranstellte.26 Schon die Bibel kenne sowohl messianische Prophezeiungen, „welche rein religiösen oder geistig-sittlichen Inhalts sind, und solche, welche allerdings politische Aussichten zu ihrem Gegenstande haben“. Der Talmud führe dann diese Unterscheidung fort, ohne allerdings zu einer einheitlichen Auffassung zu gelangen, und erst Maimonides habe in den Schlusskapiteln des Mishneh Torah die unterschiedlichen Auffassungen zu vereinigen versucht. Doch auch dieser Versuch musste an der Autorität des talmudischen Textes scheitern, wie viele Maimonides-Kommentatoren kritisch feststellten – und so stehe bis in die Gegenwart keine eindeutige Quellenlage zur Verfügung, die eine autoritative Kritik an der einen oder anderen liturgischen Formulierung zum Kommen des Messias rechtfertigen könnte.27 Auch der Stuttgarter Rabbiner Joseph Maier (1798–1873) führte in seinem Gutachten die Gewohnheiten der Gemeinde und die tiefe Verwurzelung der alten Messiasvorstellung im jüdischen Gebetbuch an. Die traditionelle Liturgie sei sogar ganz auf dem Grund und Boden der Messiaslehre aufgebaut, „mit welchem die Wiederherstellung der Nationalität, die Wiederaufbauung des Tempels usw. zusammenhängt“. „Dieses Dogma hat die jüngste Zeit in Frage gestellt“, fährt Maier fort, doch noch stünden die theoretische Erörterung der Messiasfrage und eine definitive theologische Entscheidung aus, so dass keine der beiden Parteien das Recht auf die gültige liturgische Form beanspruchen könne. Er ließ allerdings keinen Zweifel daran, zu welcher Deutung er neigte, und definierte damit in seinem Gutachten erstmals eine neue, liberale und unpolitische Variante der

26 Joseph Aub, ein aktiver, aber moderater Reformer, hielt während seines Lebens drei rabbinische Posten: erst in Bayreuth, dann für 15 Jahre das bedeutende Rabbinat von Mainz, und schließlich kam er 1865 als Nachfolger von Michael Sachs (1808–1864) nach Berlin. Die von ihm verfasst Synagogenordnung von 1831 sorgte für erhebliche Kontroversen, und sein Ruf nach Berlin sorgte für die Spaltung der dortigen Gemeinde und die Gründung einer Austrittsgemeinde unter Esriel Hildesheimer (1820–1899). 27 Alle Zitate von Aub, in: Theologische Gutachten, 41.

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jüdischen Messiaslehre. „Erst wenn ausgesprochen sein wird“, schreibt er recht pathetisch, daß wir unter der Hoffnung auf eine Erlösung nicht die Rückkehr nach Palästina, die Wiederherstellung des Tempels und die Herrschaft Israels über alle Völker, sondern die Erlösung der Menschheit von Wahn und Unglauben, den Sieg und die Ausbreitung der wahren Religion und die Verbrüderung der Nationen zu verstehen haben; erst wenn das Bewusstsein zum Durchbruch gekommen sein wird, daß das Judentum keine andere Mission habe, als die Idee eines höchst vollkommenen Gottes festzuhalten, bis sie Eigenthum der ganzen Menschheit geworden ist […] wird eine Ausscheidung des Nationalen vom Reinmenschlichen und eine entschiedene durchgreifende Geltungmachung des Letzteren möglich sein.

Obgleich Maier hier noch offen lässt, ob es sich bei der „wahren Religion“ um das Judentum selbst oder um eine neuartige, eher philosophische Universalreligion handelt, und so gewiss das „Reinmenschliche“ in diesem Zusammenhang ein vager Begriff bleibt, ist die radikale Umformung des traditionellen Messiasbilds schon klar zu erkennen. Weder wird die Hoffnung auf einen personalisierten Messias-König erwähnt noch steht überhaupt die Erlösung des jüdischen Volkes im Vordergrund: Das Judentum hat eine menschheitliche Mission, die auf die universale Verbreitung des Monotheismus zielt. Die allgemeine Durchsetzung der richtigen Gottesidee führt dieser Theorie zufolge schließlich zur Verbrüderung der Völker, ja zur Aufgabe jeglicher Nationalität. Wie alle anderen Gutachter von 1842 bleibt Maier eine exegetische Herleitung dieser Lehre aus der Bibel schuldig, eine Tatsache, die allerdings eher mit dem juristischen Charakter des Gutachtens zu tun haben dürfte. Sehr wahrscheinlich hat Maier seine Vorstellung von der messianischen Zukunft ursprünglich tatsächlich aus den Büchern der biblischen Propheten gewonnen.28 Auch Michael Gutmann (1805–1862), der Distriktsrabbiner von Redwitz, unterscheidet zwischen zwei parallelen, aber gleich alten Traditionen der jüdischen Messiaslehre, wobei jedoch in seinem Gutachten die Vorliebe der Theologen für die „geistige“ Version des Messiasglaubens, die im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts im liberalen Judentum immer klarer zutage trat, unmittelbar erkennbar ist. „Es hat sich von jeher im Schooße des Judentums selbst neben der fleischlichen Ansicht von dem Messias und der Erlösung auch eine geistige Ansicht dieses wichtigen Glaubensartikels ausgebildet und forterhalten“, schreibt Gutmann, und zwar stützt sich diese letztere auf sehr gewichtige Aussprüche der größten Propheten, welche das Heil, das durch den Messias herbeigeführt werden soll, nicht an ein gewisses

28 Zitate Maier in: Theologische Gutachten, 87f.



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Land knüpfen und auch nicht auf die Mitglieder des jüdischen Volkes allein beschränken, sondern, in der Größe und Fülle des göttlichen Geistes über die Beschränktheit ihrer Zeitgenossen sich erhebend, erwarten sie von dem Erscheinen des verheißenen Erlösers eine Erhebung des ganzen Menschengeschlechts aus dem Zustande der geistigen Knechtschaft und des notwendig damit verbundenen leiblichen Elends zur klaren Einsicht und Erkenntnis der ewigen Wahrheit und zur Verwirklichung der großen sittlichen Ideen […].29

Diese beiden Stellungnahmen aus dem Jahre 1842 nehmen in ihrer einseitigen Betonung des ethischen Universalismus der prophetischen Messiaslehre im Ansatz bereits die spätere liberale Missionstheologie vorweg, die für die philosophische Positionierung des deutschen Reformjudentums so entscheidend werden sollte. Es sei diese universalistische Idee einer sittlichen Menschheit, für die die Juden beten sollten, so Gutmann, und nicht für die Wiederherstellung der „ehemaligen Absonderung Israels“, wie er – mit einem optimistischen Blick auf die bereits erreichte Integration und Gleichstellung der jüdischen Minderheit – hinzufügt. Sein Verständnis der Messiasfrage werde auch vollkommen von „den Israeliten meines Vaterlandes“ geteilt, bemerkte Gutmann im Anschluss in einem der seltenen Hinweise auf die zeitgenössische Stimmung in den Gemeinden, wie sie sich jenseits radikaler und theoretischer rabbinischer Reformtheologie darstellte. Sechs Jahre zuvor hatte der König von Bayern die Juden seines Reiches zur Bildung von Kreissynoden angehalten, die vor allem klären sollten, welche Grundlehren das bayerische Judentum nach wie vor vertreten könne und in welcher Form. Auf der Synode seines eigenen Kreises, so berichtet Gutmann, sei auch die Lehre vom Messias diskutiert worden, und die versammelten „Rabbiner, Lehrer und Gemeindedeputierten“ hätten einstimmig festgehalten, dass sie „in dieser Lehre keineswegs eine Zurückführung nach dem ehemals den Vätern angewiesenen Lande, oder eine Wiederherstellung des jüdischen Staates“ erwarteten. Alle Stellen im Gebetbuch, so der Antrag der Synode, die das ausdrücklich verlangten „und die sich mithin nicht auf die geistige Erlösung deuten ließen“, seien aus dem Gebetbuch zu entfernen.30 Einen Weg zu finden, wie diese „geistige“ Deutung des jüdischen Messias­ glaubens theologisch fundiert und ausgestaltet werden, und wie damit der Messias selbst in der jüdischen Religion gerettet werden könne, das sahen die jungen Reformrabbiner als ihre eigentlich Aufgabe an. Nur einer der Gutachter allerdings deutete vorsichtig an, auf welchem Wege eine solche „geistige Erlösung“ zu denken sei, stelle sich doch nun die neue Frage, wie das „geistige“ Messiasreich, wenn denn der Messias nicht mehr als mächtiger König verstanden werden

29 Theologische Gutachten, 70. 30 Alle Zitate: Theologische Gutachten, 71.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

könne, der sein Reich aus eigener Macht erschaffe, auf eine andere Art herbeigeführt werden könne. Abraham Kohn (1807–1848), Rabbiner im österreichischen Hohenems, stimmte der Überzeugung der anderen Gutachter zu, wonach auch eine unpolitische Messiasdeutung ihren Platz in der jüdischen Theologie habe. Doch, fügte er hinzu, […] so verschieden man auch das Messiasdogma und die verheißene Erlösung Israels sich denken mag, so bleibt doch immer die Verbreitung der Erkenntnis des einigen Gottes über die ganze Erde und die Herbeiführung seines Reiches, des Reiches der Wahrheit und der Liebe der eigentliche Zweck und Culminationspunkt der Verheißung und unsere Aufgabe, um die Erfüllung zu beschleunigen, keine andere, als auf Recht zu halten und Tugend zu üben.31

Hier sind nicht nur, wie in manchen anderen Gutachten, die Idee des persönlichen Messias und das Motiv seiner politisch-nationalen Rolle preisgegeben, zugleich ist auch die strikte Gesetzesobservanz, die das rabbinische Judentum stets als Voraussetzung für das Kommen des Erlösers gefordert und vorausgesetzt hatte, ausdrücklich einer viel allgemeineren Mischung aus ethischen und bürgerlichen Forderungen gewichen, die die Errichtung des Messiasreiches beschleunigen sollen.32 Doch hier kündigte sich auch eine gewisse Gefahr an. Wollte man dem Judentum einen – wenn auch transformierten – Messiasglauben erhalten, so durfte man dabei nicht, wie die jüdischen Aufklärer der Generation nach Mendelssohn, in das entgegengesetzte Extrem verfallen und die Moderne, das heißt die Erlangung der bürgerlichen Rechte für die Juden, mit der erfüllten Messiaszeit gleichsetzen. Sollte die Bewahrung der Rolle des Messias in der jüdischen Theologie einen Sinn haben, so die Einsicht der ersten Reformer, so musste sich die messianische Hoffnung auch weiterhin auf ein Zukunftsideal richten, und zwar auf ein erstrebenswertes Ziel der ganzen Menschheit, auf ethischen Universalismus. Im Laufe der Ausformung dieser Theologie sollte das traditionelle Judentum der Gesetzesobservanz bald sogar ganz hinter dieser Zukunfts-Mission des Judentums zurücktreten. 1842 aber, zu Beginn dieses Prozesses, ging es vorerst noch darum, überhaupt eine alternative Messiasdeutung zu entwerfen, die beanspruchen konnte, ebenfalls in der jüdischen Tradition zu wurzeln. In diesem Sinne schrieb Leopold Stein (1810–1882), damals noch Rabbiner in Oberfranken, in seinem Gutachten zum Hamburger Tempelstreit, es sei notwendig, „das Volk vor der materi-

31 Theologische Gutachten, 79 [meine Hervorhebung]. 32 Vgl. hier den bekannten rabbinischen Ausspruch, dass der Messias kommt, wenn alle Juden zwei aufeinanderfolgende Shabbatot halten (bT Sab118b).



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ellen Gesinnung zu bewahren, als wäre mit der Erlangung der Emanzipation das Reich des Messias schon angekommen. Aber das, was eben durch das Reich des Messias bezweckt werden soll, damit es ein Reich des allmächtigen Gottes werde, Befestigung der Wahrheit, Ausbreitung der Tugend, Ruhe und Frieden, um durch die ungestörte Erfüllung des göttlichen Willens das ewige Leben zu erringen, das ist nach den Lehren unserer Weisen die Hauptsache“.33 Eine radikalere Auffassung als viele andere Gutachter vertrat der junge Samuel Holdheim (1806–1860), der zu dieser Zeit mecklenburgischer Landesrabbiner in Schwerin war. Holdheim hatte vorauseilend bereits 1841 ein selbstständiges Gutachten zum Hamburger Gebetbuch verfasst, auf das er in seiner kurzen Stellungnahme in der Sammlung von 1842 verwies. „Ich weiß nicht woher es kommt“, hatte Holdheim 1841 ironisch gefragt, „und es beruht augenscheinlich auf Unkunde und Verkennung des ganzen die Religion durchdringenden Geistes, wenn Glaubensgenossen von ‚unserer religiösen Zukunft‘ sprechen, als wenn wir eine besondere religiöse Zukunft hätten, als wenn die religiöse Zukunft, auf die wir hoffen, nicht die Zukunft der ganzen Menschheit wäre, als wenn die Propheten von einer engherzigen, Israel allein zu Gute kommenden und nicht die ganze Menschheit begreifenden Erlösung gesprochen hätten.“34 Einer der „schönsten Vorzüge“ des Hamburger Gebetbuches bestehe nun darin, so Holdheim, dass es durch seine liturgischen Eingriffe in Bezug auf den Messianismus „den Glauben, wie er im prophetischen Judenthume lebt, mit dem Ausdrucke des Gebetes in harmonische Übereinstimmung gebracht“ habe.“35 Holdheims theologischer Ansatz ist weit entfernt von allen Rücksichten auf die liebgewonnenen liturgischen Gewohnheiten der Gemeinde, denn für ihn zählt nur die innerreligiöse Logik, und seine Deutung der Erwähnung des Messias im Gebet folgt ausschließlich den Gesetzen rationaler Folgerichtigkeit.

33 Leopold Stein hatte an der Universität von Würzburg studiert. In den 1850er Jahren gab er die Zeitschrift Der israelitische Volkslehrer heraus, wirkte beständig für die Vereinheitlichung der liturgischen Veränderungen, die verschiedene Reformgemeinden vorgenommen hatten, und führte sie in einem neuen liberalen Gebetbuch zusammen, das schließlich 1882 erschien. Stein war der Präsident der zweiten Rabbinerversammlung 1845 in seiner Wirkungsstätte Frankfurt am Main. Seine moderaten Reformen führten 1849 zur Bildung der ersten Separatgemeinde, als einige orthodoxen Mitglieder die Hauptgemeinde verließen und 1851 Samson R. Hirsch (1808– 1888) als Rabbiner beriefen. Stein leitete die Hauptgemeinde bis 1861, auf seine Initiative kam es zur Errichtung der neuen großen liberalen Synagoge in der Stadt; vgl. Robert Liberles, „Leopold Stein and the Paradox of Reform Clericalism“, in: Leo Baeck Institute Yearbook 27 (1982), 261–280. 34 Die Formulierung „unsere religiöse Zukunft“ hatte Isaac Bernays in seiner Verurteilung des Hamburger Gebetbuches benutzt. 35 Samuel Holdheim, Über das Gebetbuch nach dem Gebrauch des neuen Israelitischen Tempelvereins in Hamburg (Hamburg: Berendsohn, 1841), 16 [Hervorhebungen im Original].

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

Soll die Liturgie eine Bitte um zukünftige Erlösung enthalten, so muss sie ganz im Sinne der prophetischen Texte formuliert sein, die überhaupt erst eine religiöse Orientierung auf eine bessere Zukunft als Gedanken in die jüdische Religion eingeführt haben. Für unsere Zwecke aufschlussreich ist dabei vor allem, dass auch Holdheim die Propheten als Universalisten liest, die ein ethisches Menschheitsideal voraussehen, das eine jüdische Sonderstellung mit Tempel und Nationalstaat auszuschließen scheint. Nachdem ein anonymer orthodoxer Kritiker Holdheim wegen dieses Votums zu Gunsten des neuen Hamburger Siddurs heftig angegriffen hatte, veröffentliche dieser 1842 eine weitere, diesmal viel ausführlichere Stellungnahme zum selben Thema, in der er nicht allein diese Angriffe zurückwies, sondern auch auf Zacharias Frankels Kritik am Hamburger Gebetbuch einging.36 In diesem Buch gesteht Holdheim zu, dass die Propheten neben der „geistigen“ Auffassung des Messias­ glaubens durchaus auch eine persönliche Messiasidee kennen. Aber anders als Frankel (damals weithin bekannter Oberrabbiner von Sachsen) und später Abraham Geiger (1810–1874), die den Redakteuren des Gebetbuchs vorwarfen, in ihrer Vermischung beider Ideen liege eine liturgische Inkonsequenz, scheint Holdheim gerade darin einen Vorteil zu sehen, da so alle unterschiedlichen Prophetentexte in „harmonische Übereinstimmung gebracht“ wurden. Theologisch jedoch, und dies ist der eigentlich wichtige Aspekt im Hinblick auf die Transformation der Messiasidee im neunzehnten Jahrhundert, muss der Widerspruch zwischen beiden Messias-Begriffen auch aus Holdheims Sicht gelöst werden. Die von ihm vorgeschlagene Lösung ist dabei von enormem Interesse, verbindet sie doch sowohl verschiedene exegetische Traditionen im Judentum als auch die jüdische Vergangenheit mit der Zukunft, und schon bald sollte sich der bei dem radikalen Reformer nur angedeutete Gedanke zum jüdisch-liberalen Messiasverständnis als allgemeingültig durchsetzen. Die Lösung besteht darin, schreibt Holdheim 1842, „daß Israel seine Mission, die Erlösung der Menschheit durch sich selbst […] dereinst erfüllen werde, welche Zeit das Reich des Messias sein wird“.37 Diese Mission des Judentums, durch sich selbst die Menschheit zu erlösen, läuft

36 Die anonyme Schrift erschien unter dem Titel Jude und Nichtjude: Eine Erwiderung auf die Schriften der Triple-Allianz der Herren Doctoren Holdheim, Salomon und Frankfurter von einem Ungenannten (Hamburg: Berendsohn, 1842). 37 Samuel Holdheim Verketzerung und Gewissensfreiheit: Ein zweites Votum in dem Hamburger Tempelstreit (Schwerin: Kürschner, 1842), 85 [meine Hervorhebung]. Zu Holdheims Position in den Gebetbuchstreitigkeiten vgl. Klaus Herrmann, „Samuel Holdheim and the Prayerbook Reform in Germany“, in: Redefining Judaism in an Age of Emancipation: Comparative Perspectives on Samuel Holdheim (1806–1860), hrsg. von Christian Wiese (Leiden und Boston: Brill, 2007), 143–168.



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auf eine grundsätzliche Gleichsetzung des persönlichen Messias mit dem Volk Israel hinaus, und darin lag die vielleicht wichtigste theologische Neuerung der Reformrabbiner. Der Hintergrund dieses Gedankens liegt in der Zusammenführung zweier unterschiedlicher exegetischer Linien der jüdischen Tradition. So hatte der Talmud den Vers in Jesaja 53, 4 („Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen …“) im Rahmen einer in der langen Messiasdebatte in Sanhedrin 98 durchaus angelegten Figur eines leidenden Erlösers messianisch gedeutet.38 Im Mittelalter allerdings, beginnend mit Raschi (1040–1105), wurde der „leidende Messias“, den der Talmud in Jesaja 53 gesehen hatte, durch die Auslegung der Stelle auf das unter religiöser Unterdrückung leidende jüdische Volkes ersetzt.39 Diese Neuerung richtete sich wohl vor allem gegen die nun allgemein bekannte christologische Interpretation der jesajanischen Gottesknechtslieder; Raschi wollte nicht nur eine messianische Deutung der Lieder durch das Judentum bestreiten, sondern darüber hinaus offenbar auch die Personifizierung des Gottesknechtes in Jesaja verwischen.40 So interpretierte er den Jesaja-Vers dahingehend, dass „durch Israels Leiden Entsühnung für die anderen Völker gebracht werde“ – eine Auslegung, der sich die wichtigsten Exegeten des jüdischen Mittelalters grundsätzlich anschlossen.41 Damit war eine kollektive Messiasdeutung

38 bT San 98b. In der Forschung gilt diese Stelle als korrumpiert, in der verbesserten Version ist der Hinweis auf einen leidenden (hier: kranken) Messias allerdings noch klarer. Vgl. dazu Michael Fishbane, „Midrash and Messianism“, in: Toward the Millenium: Messianic Expectations from the Bible to Waco, hrsg. von Peter Schäfer (Leiden und Boston: Brill, 1998), 57–71. Darüber hinaus kennt die rabbinische Literatur neben dem siegreichen Messias ben David auch die Figur des Messias ben Josef, der sterben muss, damit der wahre Messias erscheinen kann; vgl. etwa bT Sukkah 52a. 39 Vgl. Neubauer, Adolf und Driver, Samuel R., The Fifty-Third Chapter of Isaiah: According to the Jewish Interpreters (New York: Ktav, 1969, zuerst Oxford und London, 1877); Henry A. Fischel, „Die deuterojesajanischen Gottesknechtlieder in der jüdischen Auslegung“, in: Hebrew Union College Annual 18 (1944): 53–76; Joel E. Rembaum, „The Development of a Jewish Exegetical Tradition Regarding Isaiah 53“, in: Harvard Theological Review 75 (1982): 289–311. Eine allgemeine Bibliographie zu Jesaja 53 findet sich in Bernd Janowski und Peter Stuhlmacher (Hg.), Der Leidende Gottesknecht. Jesaja 53 und seine Wirkungsgeschichte (Tübingen: Mohr Siebeck, 1996), 251–272, aktualisiert in Bernd Janowski und Peter Stuhlmacher (Hg.), The Suffering Servant: Isaiah 53 in Jewish and Christian Sources (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2004), 462–492. 40 Vgl. dagegen allerdings Raschi zu Daniel 7, 13: „Das ist der Messiaskönig“. Abraham Ibn Esra (1092–1167) interpretiert diesen Vers allerdings auch schon auf das jüdische Volk. 41 Der Sohar kennt auch im Mittelalter noch einen leidenden Messias (vgl. Abs. Wajakhel), was allerdings auch auf christlichen Einfluss zurückgehen kann, wie schon im neunzehnten Jahrhundert vermutet wurde. Vgl. dazu etwa das theologische Hauptwerk des Frankfurter Rabbiners Leopold Stein, Die Schrift des Lebens. Inbegriff des gesammten Judenthums in Lehre,

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in der Neuzeit auch durch die mittelalterliche Exegese vorbereitet, so dass die Reformtheologen nur noch die beiden exegetischen Linien zusammenführen mussten: Es entstand der Gedanke des messianischen Auftrags des jüdischen Volkes, der sich bis ins Spätwerk von Hermann Cohen zieht.42 Bei Holdheim wird diese Interpretation zur Lösung des für den liberalen Theologen schwierigen Problems einer Erklärung von Prophetenstellen, die – entgegen seiner universalistisch-ethischen Auffassung des Messiasgedankens – auf einen partikularistisch-persönlichen Messias-König hinzuweisen scheinen. Auch Holdheim spricht hier bereits ausdrücklich von Israels Mission, die Menschheit zu erlösen. Die Messiaszeit bricht noch nicht mit der Erlösung allein des Volkes Israel an, so Holdheim, d.h. „Israels verheißene Zukunft, seine diesseitige Glückseligkeit und größtmögliche sittlich-religiöse Veredlung ist also noch nicht der Erlösung letzter Zweck, sondern das von der Vorsehung ausersehene Werkzeug zur Erlösung der Menschheit“. Israels persönliche und partikulare Erlösung wäre nur so etwas wie das „äußerliche Rüstzeug in Gottes Hand“, wobei bei dem eigentlichen Zweck, der Herbeiführung des universalen Messiasreiches, Israel dann „mit aller Beibehaltung seiner spezifischen Eigenthümlichkeit mitbegriffen ist“. Schließt Holdheim mit dieser letzten Bemerkung offenbar eine messianische Auflösung des Judentums als Religion aus, so hält er aus demselben Grund eine liturgische Erwähnung des persönlichen Messias nicht für falsch (anders als viele seiner Mitstreiter gegen Bernays), sondern geradezu für wesentlich – solange darunter Israel verstanden wird. Für Holdheim ist klar, dass eine rein „geistige“ Auffassung des Messiasgedankens, wie sie viele seiner liberalen Rabbinerkollegen forderten, nicht ohne einen Träger dieses Geistes verständlich wird: Wenn wir den Leib zerstören, schließt er diesen Gedanken, dann würde sich auch „der Geist aus der Erscheinungswelt zurückziehen“.43

Gottesverehrung und Sittengesetz (Dogma, Cultus und Ethik), schriftgemäß. Volksthümlich und zur Kenntnußnahme für Israeliten und Nichtisraeliten dargestellt, 3 Bde., hier Bd.1: Die Lehre von Gott und vom Menschen (Mannheim: J. Schneider, 1872), 329. Peter Schäfer hat kürzlich behauptet, das stellvertretende Sühneleidens des Messias sei erst durch das Christentum in das Judentum eingeführt worden; vgl. Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010), besonders das fünfte Kapitel. Zu den christlichen Einflüssen auf den Sohar vgl. Yehuda Liebes, „Christian Influences on the Zohar“, in: ders., Studies in the Zohar (New York: SUNY Press, 1993), 139–161. 42 Der Aufklärer Herz Homberg war in seinem Jesajakommentar (Wien 1818) wieder auf die ursprünglich messianisch-persönliche Deutung von Kap. 53 zurückgekommen, während Samuel David Luzzattos (1800–1865) Kommentar noch 1867 der mittelalterlichen Volk-Israel Interpretation folgte und den Messianismus zurückwies. 43 Alle Zitate in Holdheim Verketzerung und Gewissensfreiheit, 85. Beide Parteien, Holdheim ebenso wie sein anonymer Kritiker (und auch Gotthold Salomon), berufen sich übrigens in ihren



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Mit diesem Motiv der Identifizierung des jüdischen Volkes selbst mit dem „persönlichen“ Messias verband Holdheim die jüdische Messiaslehre in ihrer umgedeuteten Gestalt konsequent mit der liberalen Missions-Theologie und prägte damit zugleich das Grundmotiv, das später in vielen theoretischen Schriften der Reformrabbiner erscheint und schließlich 1918 in Hermann Cohens großangelegter Interpretation der Gottesknechtabschnitte in seinem letzten Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums zum Höhepunkt gebracht wird.44 Holdheim erweist sich hier als der systematischere Theologe, wenn er gerade im Interesse einer „geistigen“ Auffassung des Messiasgedankens darauf besteht, das Judentum als Träger dieses Geistes zu erhalten. Dass mit dieser Forderung allerdings keineswegs eine Fortdauer der Gesetzesobservanz gemeint war, wurde wenige Jahre später deutlich, als Holdheim, wie noch zu zeigen sein wird, die jüdische Messiaslehre bewusst für seine Kampagne gegen die weitere Beibehaltung des orthodoxen Religionsgesetzes instrumentalisierte. Parallel zu den skizzierten grundlegenden Entwicklungen kam es im Zusammenhang mit dem Hamburger Gebetbuchstreit auch zu einer heftigen öffentlichen Kontroverse zwischen dem Tempelprediger Gotthold Salomon und Zacharias Frankel, damals noch Oberrabbiner in Dresden, die neben vielen anderen Themen auch die Frage der messianischen Erlösung und ihrer Bedeutung für ein modernes Judentum berührte. Frankel hatte gleich nach dem Erscheinen des neuen Siddurs in einem privaten Schreiben an die Redakteure einen eher unentschiedenen Standpunkt eingenommen: Einerseits kritisierte er heftig die unbegründete Halsstarrigkeit Bernays’ und deren zugespitzten Ausdruck im öffentlichen Bann des Gebetbuchs, andererseits hatte er selbst vieles an der reformierten Liturgie auszusetzen, und zwar insbesondere die Halbherzigkeit der Reformer: Aus Frankels Sicht hätte man den Siddur entweder ganz umschreiben müssen, sofern die Stimmung der Gemeinde ein Verlassen der Tradition erforderlich mache, oder aber den traditionellen Text ganz beibehalten sollen. Nachdem die Debatte über das Gebetbuch durch Salomon, Holdheim und Naftali Frankfurter (1810–1866) in die Öffentlichkeit getragen worden war, sah sich auch Frankel genötigt, sein privates Gutachten von Februar 1842 an in mehreren Teilen in Julius Fürsts Zeitschrift Der Orient zu publizieren. Ohne die Mes-

Argumenten auf Maimonides’ mittelalterlichen Traktat Führer der Verwirrten und insbesondere auf seine bekannte Interpretation der biblischen Opferlehre. Zu dieser Debatte vgl. George Y. Kohler, Reading Maimonides’ Philosophy in 19th Century Germany: The Guide to Religious Reform (Dordrecht: Springer, 2012). 44 Vgl. Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (Frankfurt am Main: Kaufmann, 1929), besonders 311–313 („Der Knecht des Ewigen ist der Messias, und hat als solcher den Sproß Davids abgelöst …“).

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siasidee direkt zu erwähnen, ließ Frankel durchblicken, dass er eine Preisgabe des nationalistisch-partikularen Aspekts der jüdischen Zukunftshoffnungen für schädlich halte, da der „Wunsch, daß an einem Winkel der Erde – und natürlich in dem Lande unserer Väter, an das uns die heiligsten Erinnerungen knüpfen, unsere Volksthümlichkeit wieder frei hervortrete“, nicht leichtfertig politischen Loyalitätsbestrebungen zum Opfer fallen dürfe. Auch Frankel sah jedoch offenbar ein, dass mit diesem politischen Argument allein den Reformern nicht beizukommen war. Er wagte daher darüber hinaus einen heftigen Angriff auf das universalistisch-ethische Konzept eines transformierten „geistigen“ Messianismus, das die anderen Verteidiger des Hamburger Gebetbuches vorgezeichnet hatten. Werde der messianische Gedanke so ausschließlich in das transzendentale Gebiet einer schwer greifbaren Weltreligion verlagert, schreibt Frankel, so müsse dieses neue Konzept zwangsläufig „inhaltslos“ und „flach“ erscheinen und dem größten Teil des Volkes verschlossen bleiben, ja dem Judentum deshalb gänzlich die Motivation nehmen, für ein zukünftiges Gottesreich zu arbeiten.45 Gotthold Salomon, den Frankel an sich ausgesprochen schätzte, empfand Frankels Kritik als eine scharfe Ablehnung seiner Bemühungen um das neue Gebetbuch und antwortete noch im selben Jahr mit einem offenen Sendschreiben an den Dresdener Oberrabbiner, in dem er die Hamburger Positionen ebenso heftig verteidigte.46 Die Aufklärer und später die jüdischen Reformer in Deutschland, die in den vorausgegangenen sechs Jahrzehnten so viel geleistet hätten, um „die Zustände Israels im Ganzen wie im Einzelnen zu verbessern“, hätten sich alle ausschließlich von dem großartigen Gedanken begeistern lassen, „daß die Zeit einer geistig-religiösen Erlösung für Israel und die Menschheit immer näher komme“, und gerade nicht von Frankels Ideal einer nationalen Selbstständigkeit des Judentums in Palästina.47 Hatte Frankel behauptet, die zweifellos auch für ihn spürbare Ablehnung des alten, national-politischen Messiasdenkens seitens der modernen Juden deute lediglich auf einen „crassen Materialismus“ im Volke hin, der alles ideale Streben unterdrücke, so vertrat Salomon genau die entgegenge-

45 Zacharias Frankel, „Das neue Hamburger Gebetbuch des israelitischen Tempels“, in: Der Orient 3 (1842): 61–64, hier 63. Zu Frankel vgl. Andreas Brämer, Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert (Hildesheim: Georg Olms Verlag, 2000). 46 Salomon habe „schon seit vielen Jahren durch seine Predigten Licht nach innen und außen verbreitet“ und damit viele der jetzigen jüdischen Volkslehrer beeinflusst, befand Frankel, und schon deshalb dürfe er von Bernays nicht verketzert werden; vgl. Der Orient 3 (1842): 54. 47 Gotthold Salomon, Sendschreiben an den Herrn Dr. Z. Frankel: Oberrabbiner in Dresden, in Betreff seines im „Orient“ mitgeheilten Gutachtens über das neue Gebetbuch der Tempelgemeinde zu Hamburg (Hamburg: Berendson, 1842), 26.



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setzte Position. Sobald der Messiasglaube sich nur auf den „Erdwinkel, da Milch und Honig fließt“ ausrichte und sich zudem mit der „Hoffnung auf eine abenteuerliche Herrschaft“ verbinde, so Salomon, der sich hier kritisch auf die talmudischen Schilderungen des zukünftigen Schlaraffenlandes beziehen konnte, reduziere er sich auf materielles Denken und Trachten.48 Eine „geistige“ Auffassung des Messianismus lasse dagegen Materialismus gar nicht erst aufkommen. Zur Unterstützung seiner Haltung beruft sich Salomon auf Maimonides’ großen Kodex des talmudischen Rechts, in dem es ausdrücklich heißt, die Propheten und die talmudischen Weisen hätten nie die Messiastage um der äußeren Macht oder sinnlicher Genüsse willen herbeigewünscht, – sondern um sich, befreit von materiellen Zwängen, in freier Muße der Erkenntnis Gottes zu widmen. Doch das gelte nicht nur für das Judentum, sondern für die gesamte Menschheit (‫כל‬ ‫)העולם‬, wie Salomon wörtlich aus Maimonides zitiert: „das Bestreben der ganzen Menschheit geht dahin, Gott in Wahrheit zu erkennen.“49 Doch Maimonides’ Position steht nicht nur in auffälligem Gegensatz zu den kurz zuvor anonym zitierten talmudischen Paradiesvorstellungen, im Grunde genommen widerspricht sie auch Salomons eigener Auffassung vom Prozess der Herbeiführung des messianischen Zeitalters. Während Maimonides eindeutig die Beendigung der Kriege und die Schaffung allgemeinen Wohlstandes als (materielle) Voraussetzungen für die mit der Messiaszeit verbundene Möglichkeit intellektueller Tätigkeit erachtet, geht Salomon von der umgekehrten, einer geradezu idealistischen Entwicklung aus. „Fürchten Sie ja nicht, daß bei der Auffassung der geistigen Idee das Irdische nicht auch seine Rechnung finden sollte“, schreibt er an Frankel. „Je mehr sich dieselbe der Realisierung nahet, desto besser wird sich auch der weltliche Zustand Israels gestalten.“ Je mehr die Erkenntnis von Gott sich auf der Welt ausbreitet, so Salomon, desto schneller verschwinden Aberglaube, Vorurteile und Herrschaftsdünkel, „die Erde wird desto schöner, je vertrauter die Menschen mit dem Himmel werden“.50 In seiner Antwort an Salomon, die im Juni 1842 – wiederum im Orient – erschien, verteidigte Frankel ausführlich „den frommen Wunsch nach nationaler Selbstständigkeit“ des Judentums und griff die „geistige“ Ausrichtung des Messias­ glaubens in einer Hinsicht an, die Salomon allerdings nie selbst erwähnt hatte.

48 Ebenda, 27. Ohne Angabe seiner Quelle zitiert Salomon hier aus einer Vision des Rabban Gamliel in bT Shabbat 30b: die Erde Israels werde gebackene Kuchen und Seiden-Kleider hervorbringen, die Obstbäume würden ununterbrochen Früchte tragen und die Frauen jeden Tag gebären. 49 Vgl. Maimonides, Mishneh Torah, Gesetze über Könige und Kriege 12, 8. 50 Ebenda, 28.

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Werde an die Stelle des persönlichen Messias-Königs, der Israel in sein Vaterland zurückführen soll, ein universaler, stellvertretend für die anderen Völker leidender Messias in der Gestalt des ganzen Volkes Israel gesetzt, so enthalte diese Form der Messiasidee ein apathisches Element, „denn ihr liegt Resignation, da wir als Träger und Verbreiter des Priesterreiches die betrübendsten Schicksale erdulden sollen, zu Grunde“. So gewiss es auch eine „hohe Mission“ sei, „durch unseren beharrlichen Glauben Licht zu verbreiten, so setzt sie dem Leben doch mehr einen frommen Quietismus als das Leben Förderndes und Kräftigendes entgegen“.51 Abgesehen von dieser erstaunlichen Kritik an einem altbewährten Element traditioneller jüdischer Theologie enthält Frankels Erwiderung allerdings nichts mehr wirklich Neues zum Thema Messias. Anders verhält es sich im Falle der ebenfalls im Frühjahr 1842 erschienenen Broschüre Der Hamburger Tempelstreit, eine Zeitfrage aus der Feder Abraham Geigers, der damals schon Rabbiner in Breslau war. Geiger ist der erste unter den jungen Reformrabbinern, die sich in die Debatte um die liturgische Repräsentation des jüdischen Messiasglaubens zu Wort meldeten, der bei der verbreiteten Zweiteilung des Verständnisses des Messias in national-politischer oder universal-geistiger Hinsicht von einer älteren und einer jüngeren Anschauungsweise zu sprechen beginnt. Während auch er die traditionelle Vorstellung als eine „niemals zu rechtem Abschlusse und klarer Entwicklung gelangten Anschauungsweise“ bezeichnet, liefert Geiger (ebenfalls als erster) eine recht detaillierte Definition der „geistigen“ Messiasidee seiner Zeitgenossen. Neben den Elementen der gesteigerten Erkenntnis, des Weltfriedens und der Herrschaft des Rechts nennt Geiger den Messias in diesem Konzept „bloß eine Personification für die göttliche Weltleitung“, verzichtet also wie Frankel auf die Auslegung der historischen Leiden Israels im Sinne der Gottesknechtlieder Jesajas. Im strikten Gegensatz zu Frankel spricht es Geiger allerdings unmissverständlich aus: „der Werth Palästinas für die Zukunft ist aufgegeben.“ Die Juden – als „Träger der reinen Gottesidee“ – harren der weltweiten Durchsetzung ihrer Gottesidee, die zugleich das Ende jener Vorurteile herbeiführen wird, die immer wieder zu Judenfeindschaft geführt haben.52 Wie schon vor ihm Gotthold Salomon, so versteht auch Geiger den Anbruch der Messiaszeit als einen mit dem fortgesetzten Diaspora-Dasein

51 Zacharias Frankel, „Erwiderung auf das von Herrn Dr. Salomon, Prediger am neuen israelitischen Tempel zu Hamburg, an mich gerichtete Sendschreiben“, in: Literaturblatt des Orient 23 (1842): 353–368, hier 361. 52 Abraham Geiger, Der Hamburger Tempelstreit, eine Zeitfrage (Breslau: Leuckart, 1842), hier zitiert nach Abraham Geiger, Nachgelassene Schriften, hrsg. von Ludwig Geiger, Bd. 1 (Berlin: Gerschel, 1875), 131–196, hier 159.



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der Juden durchaus vereinbaren Prozess. Der Glaube an den Messias dürfe nicht an den Besitz eines Winkels der Erde geknüpft sein, hatte Salomon unter Anspielung auf eine Formulierung Frankels geschrieben, „wenn die Fürsten und Völker unsere Menschenrechte anerkennen, und unsern Kräften und unsern Bestrebungen keine Hindernisse in den Weg mehr legen […] dann ist Israels Messiaszeit gekommen“.53 Ähnlich scheint auch Geiger gedacht zu haben. Aus seiner Sicht war die „geistige“ Auffassung der jüdischen Messiasidee ganz und gar ein Produkt der Moderne. So wie die traditionell-politische Anschauung vom Messias „ihre Wurzel in der traurigen bürgerlichen Lage“ hatte, „in welcher die Juden sich befanden, welche ihnen Ruhe, Friede und Herzensfreudigkeit nur in der möglichsten Entfernung von den Staaten, in denen sie athmeten, und in wieder zu gewinnender Selbstständigkeit hoffen ließ“ – so war die jüngere, religiös geprägte Vorstellung erst in der Neuzeit, mit der beginnenden Emanzipation entstanden. Die universalistisch-ethische Messiasidee lag Geiger zufolge „in der freundlicheren Behandlung von Seiten der Staaten“ begründet, „welche den Juden den Blick in eine Zukunft eröffnete, da sie, aller beengenden Fesseln ledig, den übrigen Einwohnern gleichgestellt sein würden“. Da nun auch von Seiten dieser Staaten als Gegenleistung von den Juden verlangt wurde, ihre Hoffnungen auf eine neue Eigenstaatlichkeit in Palästina aufzugeben, wurde eine „Modification des Messias­ glaubens und dessen Vergeistigung“ erforderlich.54 Aber auch Geigers Argumentation ist nicht immer schlüssig, denn, wie viele der Gegner der Gebetbuchreform immer wieder behaupteten, würden der staatliche Druck und die eigene Akkulturation der Juden in Westeuropa eher ein Absterben des Messiasglauben erklären als seine Modifizierung oder Spiritualisierung. Hier muss also neben dem politisch-emanzipatorischen noch ein religiöses Motiv wirksam gewesen sein, das Geiger ganz offenbar unterschätzte. Dieses Motiv hatte seine Wurzel in dem Umstand, dass die westeuropäischen Juden im neunzehnten Jahrhundert, gerade weil sie ihre bürgerliche Gleichstellung als überfällige Selbstverständlichkeit ansahen, eine von außen diktierte Aufgabe ihres Judentums nicht akzeptieren wollten. Am Beispiel der Messiasidee wird demnach deutlich, dass eine Modifizierung traditioneller jüdischer Theologie kein unmittelbares Ergebnis des äußeren Druckes, sondern die Folge des Willens zur inneren Reform war, mit dem ausdrücklichen Zweck, das Judentum

53 Salomon, Sendschreiben an Frankel, 24. 54 Geiger, Tempelstreit, 160. Zu Geigers Messianismus vgl. auch Eli Kavon, „Abraham Geiger and Abraham Isaac Kook: Messianism’s Return to History“, in: Midstream 55,1 (2009): 19–23.

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der Moderne anzupassen. Die damit einhergehende kulturelle Anpassung hatte jedoch nur ein einziges Ziel – das Überleben der jüdischen Religion. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Beiträge der jungen Reformrabbiner zum Hamburger Tempelstreit bereits alle Elemente der transformierten Messiaslehre des deutschen liberalen Judentums enthielten, wenn auch noch in rudimentärer Form und ohne systematische theologische Ausarbeitung. In den Aussagen der Verfasser der Gutachten, die sich im Rahmen der Diskussion um das neue Hamburger Gebetbuch theologisch mit der Thematik des Messias beschäftigten, sind die Strategie der Entpersonalisierung des Messias und der Überführung des Konzepts des Messias-Königs in die Beschreibung der Messias­ zeit als einer lichteren Zukunft bereits eindeutig angelegt. Dabei wird diese Zukunft als universaler Sieg der Erkenntnis und der Sittlichkeit verstanden, nicht nur als die verheißene Erlösung des jüdischen Volkes allein. Im Gegenteil, es sind die Juden selbst, die, sei es durch die Reinheit ihrer Gottesidee, durch ihre leidvolle Geschichte oder durch eine Kombination beider Elemente, die Erlösung der gesamten Menschheit von Krieg, Armut und Unglauben herbeiführen. Obwohl die im Zusammenhang mit dem Streit um das Hamburger Gebetbuch formulierten neuen Gedanken oft noch vage blieben oder sich auf allgemeinere Andeutungen beschränkten, erfüllte die Debatte doch klar die Funktion eines Katalysators für tiefergehende religionsphilosophische Erwägungen zum jüdischen Messianismus. Der Historiker Isaak Markus Jost (1793–1860) stellte das bereits im Jahre 1847 fest, als er den dritten Supplement-Band zu seiner zwischen 1820 und 1829 erschienenen Geschichte der Israeliten seit den Zeit der Maccabäer veröffentlichte und in seiner Schilderung der Neueren Geschichte der Israeliten von 1815 bis 1845 in knappen Worten die Debatte um die Erwähnung des Messias im Hamburger Siddur beschrieb und abschließend wie folgt bewertete: „Aus dieser Übersicht wird nun zur Genüge hervorleuchten, wie der an sich nicht sehr bedeutende Streit doch Veranlassung wurde, höchst folgenreiche Aussprüche hervor zu rufen, die einmal veröffentlicht, nicht verfehlen, die religiösen Begriffe des Volkes umzugestalten.“55 Jost sollte mit seiner Einschätzung Recht behalten. Innerhalb kürzester Zeit wurden in den 1840er Jahren zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten sowie Predigten publiziert, aber auch öffentliche rabbinische Debatten über die Form geführt, die der jüdische Messiasglaube angesichts der Herausforderungen der Moderne annehmen müsse. Damit war zumindest im Rahmen der liberalen Theologie der traditionelle Messiasbegriff weitgehend transformiert und erneuert worden.

55 Isaak Markus Jost, Geschichte der Israeliten seit den Zeit der Maccabäer, Band 10, 3: Neuere Geschichte der Israeliten von 1815 bis 1845 (Berlin: Schlesinger, 1847), 200.



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Die Frankfurter Rabbinerkonferenz von 1845 Schon vor der Kontroverse um das Hamburger Gebetbuch, an der Rabbiner aus ganz Deutschland beteiligt waren, hatten sich einzelne, meist radikale Reformer durch individuelle Veränderungen der Liturgie oder durch die Herausgabe von jüdischen Reform-Katechismen hervorgetan, in denen auch das Bild des Messias einer gründlichen, von der Tradition abweichenden Neuinterpretation unterzogen wurde. Um diese immer zahlreicher werdenden lokalen Initiativen zu vereinheitlichen, trafen sich reformwillige Theologen aus ganz Deutschland Mitte der 1840er Jahre zu drei maßgebenden Rabbinerkonferenzen, die nun erstmals einheitliche liturgische, theologische und positiv-gesetzliche Standards zumindest für die jeweiligen Heimatgemeinden empfehlen sollten. Auf der zweiten dieser Konferenzen, die 1845 in Frankfurt unter dem Vorsitz des nunmehr dort amtierenden Oberrabbiners Leopold Stein stattfand, wurde auch die Messiasfrage ausführlich diskutiert. Welche Verwirrung inzwischen in dieser Hinsicht herrschte, lässt sich an zwei sehr frühen, dafür besonders aussagekräftigen Beispielen zeigen. Schon 1838 hatte Abraham Geigers enger Freund Elias Grünebaum (1807–1893), der als Kreisrabbiner in Landau in der Pfalz amtierte, einen Leitfaden für den jüdischen Konfirmandenunterricht herausgegeben, in dem neben vielen anderen Themen auch das Messiasreich behandelt wurde.56 In den von Grünebaum für die Religionslehrer seines Kreises vorgeschlagenen Antworten auf die Frage nach dem Charakter dieses Reiches fehlt die Gestalt eines persönlichen Messias ganz, und auch eine partikularistische Erlösung und Rückführung Israels ist nicht mehr erwähnt. Weniger radikal, doch vielleicht noch verwirrender war offenbar die Formulierung in einem Lehrbuch der israelitischen Religion, das „auf Veranlassung der königlich-israelitischen Oberkirchenbehörde zum Gebrauch der Synagogen und israelitischen Schulen Württembergs“ bereits 1837 in Stuttgart erschienen war. Obwohl dieser Text das Messiasreich ebenfalls im universalistisch-ethischen Sinne beschreibt, beinhaltet er nach wie vor eine Darstellung des Messias als Person: „Nach Verheißung unserer Propheten wird ein außerordentlicher Lehrer, ‫( משיח‬Gesalbter), aus Davids Geschlecht, den wir noch zu erwarten

56 Vgl. S. 97–98 in diesem Band. Zu Grünebaum vgl. Carsten Wilke, „Die Erben der Pharisäer: Elias Grünebaum und sein Entwurf einer gemeinsamen Geschichte von Judentum und Christentum“, in: Elias Grünebaum, Die Sittenlehre des Judenthums anderen Bekenntnissen gegenüber, nebst dem geschichtlichen Nachweise über die Entstehung und Bedeutung des Pharisäismus und dessen Verhältnis zum Stifter der christlichen Religion, hrsg. von Carsten Wilke (Wien und Köln: Böhlau, 2010), 7–31.

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haben, Gründer dieses Reiches seyn.“57 Wohl zu Recht beschwerte sich ein anonymer Rabbiner in den von Jost herausgegebenen Israelitischen Annalen, diese Formulierung stelle eine unverständliche Mischung aus der „neuern, mehr rationalistischen“ Ansicht vom Messias und dem „separatistischen, am Buchstaben der Prophetenlehre sich haltenden Glauben“ dar. Werde gemäß der rationalistischen Auffassung der Verzicht auf einen persönlichen Messias im Geiste der Propheten nicht als Ketzerei empfunden, so sei im Rahmen der „separatistischen“ Deutung die Erwartung eines davidischen Erlösers „sehr begreiflich“, vor allem in Folge „der Zeiten des Druckes“ auf Israel. Die Formulierung des Lehrbuches aber, so der anonyme Autor, schlage offenbar eine dritte Ansicht vor, der man entgegenhalten müsse, dass das davidische Geschlecht in der jüdischen Tradition nirgends mit einem Lehramt, sondern lediglich mit dem eines Herrschers und Richters beauftragt worden sei.58 Einige Nummern später ließ Jost eine Antwort auf diese Frage drucken, wiederum anonym, deren Verfasser sich nur als Württembergischer Rabbiner zu erkennen gab. Seine Erwiderung ist von ehrlichem Bemühen um Klärung gekennzeichnet, insofern er zuerst die „schroffe Gegenüberstellung“ von rationalistisch und persönlich in der Messiasfrage als unhaltbar zurückweist, dann jedoch (wie später der Religionsphilosoph Samuel Hirsch) den längst bewiesenen Einfluss „ausgezeichneter Menschensöhne“ in der Weltgeschichte als Argument für eine Personifizierung des Messias geltend zu machen versucht. Ein Lehrer müsse der Messias vor allem deshalb sein, weil Gotteserkenntnis und Gottesverehrung, Menschenliebe, Friede und Eintracht – dem Lehrbuch zufolge die Kennzeichen der Messiaszeit – allein durch Überzeugung, d.h. „nur durch die Lehre des Geistes und niemals durch irgendeinen politischen Machtanspruch oder gar durch den Sieg des Schwertes gewonnen“ würden.59 Nur für die davidische Abstammung des persönlichen Messias kann der Verfasser dieser Stellungnahme kein anderes Argument finden als die Autorität der Bibel und des Maimonides, der in seinem Mishnah-Kommentar zugunsten der davidischen Tradition entscheidet. Um der beschriebenen Unsicherheit Herr zu werden und diese wie andere vergleichbare Fragen durch theologische Reflexion und praktisch-liturgische Vorschläge zu klären, setzten die versammelten Reformrabbiner auch das Thema Messianismus auf die unter dem starken Reformdruck sehr eng gefasste Tagesordnung der Frankfurter Konferenz von 1845. Im Zuge der diesbezüglichen Dis-

57 Elias Grünebaum, Lehrbuch der israelitischen Religion zum Gebrauch der Synagogen und israelitischen Schulen (Stuttgart: Hallberg, 1837), 71. 58 „Frage an die Rabbinen Würtembergs“, in: Israelitische Annalen 35 (1839): 273f. 59 Israelitische Annalen 1 (1839): 372 [Hervorhebung im Original].



Die Frankfurter Rabbinerkonferenz von 1845 

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kussionen wurde erneut deutlich, dass keiner der Wortführer einer religiösen Reform des Judentums auf das theologische Konzept des Messianismus vollständig verzichten wollte, obwohl es angesichts seiner traditionell stark restaurativen, partikularistischen und irrationalen Implikationen eine besondere Herausforderung darstellte. Vielmehr hatten die in Frankfurt versammelten jungen Theologen offenbar das große Potential erkannt, das die traditionelle Messiasidee für ihr eigenes Ideal eines sittlich-universalen Judentums in sich barg. In einem längeren Einleitungsvortrag zur Messias-Debatte berichtete etwa David Einhorn (1809–1871), er habe früher den Messiasgedanken einfach für „ein Surrogat der Unsterblichkeitsidee“ gehalten, dann aber durch erneutes Nachdenken auch dessen „irdischen“ Aspekt erkannt. Diesen Aspekt müsse man lediglich von der Hoffnung auf eine politische Selbstständigkeit Israels trennen, denn das Exil, das früher „als ein Elend beklagt“ worden sei, sei im Grunde „ein Fortschreiten, nicht eine Verkümmerung, sondern eine Erhöhung der Religion“. Gerade in der Diaspora sei Israel seiner eigentlichen messianischen Bestimmung näher gekommen, „das Wort Gottes nach allen Himmelsgegenden“ zu tragen. So verstanden habe auch der in der Messiaslehre enthaltene Gedanke der Auserwähltheit Israels „nichts Anstößiges“ mehr. „Vermittelst Israel“, so Einhorns ausdrücklich als antitalmudisch verstandener Messianismus, solle „geistige Wiedergeburt und Vereinigung aller Menschen im Glauben“ ausgedrückt werden.60 Auch Samuel Holdheim hielt in Frankfurt, wie das Protokoll der Konferenz vermerkt, offenbar eine längere Ansprache über seine Auffassung des religiösen Messianismus. Einen politischen, restaurativen Messianismus konnte es aus Holdheims Sicht im Judentum nur für diejenigen geben, für die „die politische Restauration der mosaischen Theokratie“ die Voraussetzung für die Erfüllung der Gesamtheit des biblischen Gesetzes darstellte. Nur wenn man die Bestimmung des Judentums höher auffasse und deren Erfüllung nicht an das Bestehen eines jüdischen Staates knüpfe, lasse sich die Idee des Messias mit neuem religiösen Inhalt füllen.61 Samuel Hirsch brachte in einer anschließenden Wortmeldung

60 Protokolle und Aktenstücke der Zweiten Rabbiner-Versammlung (Frankfurt am Main: Ullmann, 1845), 73–86, 94–106, hier 74f. David Einhorn war zu dieser Zeit Bezirksrabbiner in Birkenfeld, später löste er Samuel Holdheim als Landesrabbiner in Mecklenburg ab. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Budapest siedelte er 1855 nach Baltimore über und wurde – mit Stationen in Philadelphia und New York – einer der Begründer des radikalen Reformjudentums in den USA. Zu Einhorn vgl. dessen Messiaspredigt in diesem Band, S. 243–250, und Christian Wiese, „Samuel Holdheim’s Strongest Comrade in Conviction: David Einhorn and the Discussion of Jewish Universalism in the Radical Reform Movement“, in: Wiese (Hg.), Redefining Judaism in an Age of Emancipation, 306–377. 61  Protokolle und Aktenstücke der Zweiten Rabbiner-Versammlung, 77.

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seine hegelianisch-theologische Messias-Sicht so auf den Punkt: Betrachten wir Gott lediglich als Schöpfer, so liegt darin vor allem philosophischer Gehalt. „Sagen wir aber, die Menschheit erreicht auf dieser Erde ihr Ziel“, so erfassen wir die religiöse Bedeutung der Schöpfung: „die Vollendung der Menschheit auf dieser Erde ist das Charakteristische des Judentums“, d.h. der Messianismus unterscheidet auf diese Weise die jüdische von allen anderen Religionen. Wenn sich die Propheten diese Vollendung nur im Rahmen eines jüdischen Staates denken konnten, dann zeige das nur, dass sie Menschen ihrer Zeit waren und „die Wahrheit im Bilde ihrer Zeit lehrten“. Heute aber nähere sich die jüdische Messiaslehre „ihrer Verwirklichung mit starken Schritten“, was Hirsch zufolge bedeutete, dem Menschen überall „auf dieser Erde ein sittlich reines und heiliges Leben möglich zu machen“.62 Gotthold Salomon stimmte Hirsch in seiner Auffassung zu, das Judentum habe das goldene Zeitalter im Gegensatz zum Heidentum von Anfang an das Ende der Geschichte verlegt. Wenigstens die intelligenteren Talmudisten hätten allerdings – wie später Maimonides –erkannt, fügte Salomon hinzu (und widersprach damit seinen Vorrednern), dass das politische Messiasreich nur „eine Folge des geistig-sittlichen Fortschrittes der Völker“ sein könne – das sei der Sinn der vielzitierten Talmud-Stelle Berachot 34b.63 Weitere Erwähnungen des Messias im Talmud ließen, so Salomon, vermuten, dass selbst für die talmudischen Rabbiner „ein buchstäblicher Glaube an einen persönlichen Messias eine bloße Redensart war um eine fernliegende Zeit zu bezeichnen“.64 Der Stuttgarter Rabbiner Joseph Maier merkte daraufhin an, der Messiasglaube sei für das Judentum schon allein deshalb ein zentrales, unverzichtbares Element, weil ein Glaube wie der jüdische, der „so mit vollem Rechte als der wahre sich bewußt“ sei, notwendigerweise die Hoffnung beinhalten müsse, eine universelle Religion zu werden.65 An diesen Gedanken anknüpfend setzte sich dann der nächste Redner, Rabbi Abraham Adler (1813–1856) mit der verbreiteten Behauptung auseinander, der Monotheismus sei das eigentlich unterscheidende Merkmal des Judentums im Vergleich zu allen anderen Religionen.66 Diese Auffassung sei falsch, so Adler,

62  Protokolle und Aktenstücke der Zweiten Rabbiner-Versammlung, 79. Zu Hirschs Auffassung vgl. ausführlich weiter unten. 63  Vgl. Anm. 5. 64 Protokolle und Aktenstücke der Zweiten Rabbiner-Versammlung , 80. 65 Ebenda. 66 Abraham Adler (1813–1856) war ein radikaler Reformrabbiner. 1942 gab er das Rabbinat in Worms auf um eine Privatschule für Mädchen zu gründen, 1848 wurde er für seine aktive Unterstützung der Revolution in Mainz für mehrere Monate inhaftiert. Zu Adler vgl. Michael A. Meyer, „Religious Reform and Political Revolution in Mid-nineteenth Century Germany: The Case



Die Frankfurter Rabbinerkonferenz von 1845 

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weil sie das Prinzip mit dem Inhalt verwechsele: Während auch andere Religionen an der Einheit Gottes festhielten, sei der Glaube an einen zukünftigen Messias nur dem Judentum eigen. Diese sicherlich gewagte Behauptung begründet Adler mit vier Argumenten: Allein das Judentum besitze aufgrund seines Messianismus die Zuversicht, dass a) das Gute schließlich siegen würde, dass b) die Weltgeschichte nicht im Kreise, sondern in Richtung auf ein Ziel verlaufe, dass c) dieses Ziel eine Höherentwicklung der Menschheit sei und dass damit d) implizit auch die „ideelle Auferstehung der Völker“ eine individuelle Unsterblichkeit verbürge. Der Rahmen der Diskussionen während der Rabbinerkonferenz gestattete es Adler nicht, diese Gedanken eingehender auszuführen, doch vor allem das zuletzt angeführte Argument lässt erahnen, dass er sich hier, wie wir sehen werden, auf denselben Bahnen wie Samuel Hirsch bewegte, nämlich in Richtung auf die Idee einer Theodizee durch die Weltgeschichte, wie sie später Hermann Cohen in seinem Werk detailliert ausarbeiten sollte.67 Solange im Judentum der Buchstabe angebetet wurde, fuhr Adler fort, solange regierte auch die Sinnlichkeit: Man wartete auf die Rückkehr des Volkes in sein Land, wo Milch und Honig fließt – ein beliebtes Motiv der Restaurationsgegner, die die ursprünglich positive Bedeutung dieser bekannten biblischen Passage umzukehren und als Symbol für das Verlangen nach sinnlicher Freude abzulehnen pflegten. Tatsächlich aber bedeute der jüdische Messianismus das Warten auf „die Rückkehr des Geistes in seine wahre Heimath, in das Reich der Liebe und der Wahrheit“. Anstatt auf die traditionelle Herrschaft des Gesetzes zu bauen, das nur „der Schatten des Geistes ist“, setzte der Messiasglaube auf die Herrschaft des Geistes selbst, „der die Wahrheit des Gesetzes ist“. Der jüdische Messianismus zielte nach Adlers Verständnis auf „eine Versöhnung der Menschheit mit Israels wahrem Glauben“, nicht etwa auf eine neue „Abschließung Israels von den Völkern“.68 Der Frankfurter Prediger Jacob Auerbach (1810–1887) erklärte der Rabbinerkonferenz während derselben Sitzung, die Messiasidee sei „die Seele des positiven Judentums“. In seinem aus heutiger Sicht fast tragischen Optimismus fügte der Schwager des bekannten Schriftstellers Bertold Auerbach (1812–1882) hinzu, der Talmud habe die nationalistischen Erwartungen aus historischen Gründen noch nicht aufgeben können – „in unseren Tagen aber hat das Recht und die

of Abraham Jakob Adler “, in: German-Jewish Thought Between Religion and Politics: Festschrift in Honor of Paul Mendes-Flohr on the Occasion of His Seventieth Birthday, hrsg. von Martina Urbach und Christian Wiese (Berlin: de Gruyter, 2012), 59–82. 67 Hermann Cohen, „Die Messiasidee“ (1898), in: Hermann Cohen, Jüdische Schriften, 3 Bde., hrsg. von Bruno Strauß (Berlin: Schwetschke, 1924), hier Bd. 2, 105–124 (und auf Seite 290 im vorliegenden Band); vgl. auch Cohen, Religion der Vernunft, 312. 68 Protokolle und Aktenstücke der Zweiten Rabbiner-Versammlung, 82f.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

Verbrüderung der Menschen, durch die Gesetze und die Einrichtung der Staaten, wie durch andere Verhältnisse eine Grundlage erlangt, die nie mehr erschüttert werden kann“. Daher dürften die Juden „ruhig jene nationalen Hoffnungen, deren Werth für uns nur in ihrer religiösen Bedeutung zu suchen ist, fallen lassen“. Als oberstes Prinzip eines neuformulierten jüdischen Messianismus schlug Auerbach die „Idee eines Gottesreiches“ vor, an den sich „die Lehre von der Berufung Israels“ anschließen müsse, „an welcher allerdings festzuhalten ist“. Anders als viele seiner Zeitgenossen lehnte Auerbach jedoch jede Form einer aktiven Missionstheologie ab. Nicht „von einer Auserwählung oder Sendung, die Gotteslehre nach Außen zu verbreiten“, solle die Rede sein, vielmehr habe das Judentum „nur im Innern seine religiöse Aufgabe bescheiden zu erfüllen“ und alles andere in Gottes Hand zu geben. Diese Auffassung taucht hin und wieder auch in den Schriften anderer jüdischer Theologen auf, die sich mit dem „priesterlichen Charakter“ Israels beschäftigen, der sich aus Exodus 19,6 zu ergeben scheint. So schreibt beispielsweise David Rothschild (1816–1892) in einer Artikelserie über die Herleitung des jüdischen Messiasglaubens aus den biblischen Schriften, die Religion Israels habe „universelle Weltbedeutung“ und sei dazu bestimmt, in der Messiaszeit auch zum Eigentum der übrigen Völker zu werden, doch habe das religiöse Bewusstsein des jüdischen Volkes von dieser Bedeutung immer schon abstrahiert. Der „Beruf Israels“, so betont Rothschild in einer charakteristischen Unterscheidung, existiere für das jüdische Bewußtsein allein in der Idee, nicht aber der Wirklichkeit nach.69 Jacob Auerbach lieferte zudem eine neuartige Begründung der davidischen Abstammung des Messias, die gleichzeitig eine Variation der von den Reformern angeeigneten Auslegung der Gottesknechtslieder ist: Das Reich der zehn Stämme, so Auerbach, sei nicht geeignet gewesen, Israels Berufung zu erfüllen, und sei daher in der Geschichte verschwunden: „Alle Hoffnung knüpfte sich an das Reich Juda und die davidischen Könige, und hier ist denn auch die Lehre Gottes durchgedrungen und erhalten worden. Wer ist also eigentlich das Haus Davids? Wir, der Überrest Judas, die Juden (‫ )שארית ישראל‬sind es auf welche die demselben gegebenen Verheißungen gehen.“70 Indem er auf diese Weise die davidische Abkunft aller zeitgenössischen Juden begründete, vermochte sich auch Auerbach

69 David Rothschild, „Der Messiasglaube und dessen Begründung im Judentum“, in: Literaturblatt des Orients 1846 (Nr. 41, 42, 43, 44, 51) und 1847 (Nr. 2, 4, 6, 7, 8), hier 42 (1846): 667f. Rothschild studierte in Bonn und war zunächst Prediger in Hamm, ab 1850 dann Rabbiner in Aachen und ab 1862 in Alzey. 70 Protokolle und Aktenstücke der Zweiten Rabbiner-Versammlung, 85. Zur großen Bedeutung des theologischen Begriffs des „Restes Israel“ bei Hermann Cohen vgl. Cohen, Religion der Vernunft, 303–305.



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der Theorie anzuschließen, der eigentliche Messias sei das Volk Israel, das in der Geschichte – bewusst oder unbewusst – für den ideellen Fortschritt wirke. Als die Messianismus-Debatte auf der Frankfurter Rabbinerkonferenz schließlich am nächsten Tag, dem 21. Juli 1845, fortgesetzt wurde, diskutierten die zahlreichen Redner dann entsprechend der selbstgestellten Aufgabe der Versammlung vor allem liturgische und weniger theologische Fragen. Aber neben dem Treffen in Frankfurt und anderen tagespolitischen Reformdebatten gab es immer wieder auch tiefergehende religionsphilosophische Ansätze zum Thema Messianismus, die die theologische Basis für eine Neudefinition dieser für das Judentum so wesentlichen Lehre liefern sollten. Hier traten vor allem Salomon Formstecher und Samuel Hirsch (die beide in Frankfurt anwesend waren), aber auch Salomon Ludwig Steinheim hervor. Den ausführlichen messianischen Theorien dieser drei bedeutendsten jüdischen Religionsphilosophen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sind die folgenden Passagen gewidmet.

Salomon Formstecher Salomon Formstecher (1808–1889) vertritt in seinem 1841 – also vor der Tempeldebatte – erschienenen Werk Die Religion des Geistes eine noch vollkommen personengebundene Auffassung vom Kommen des Messias, während die Messiaszeit selbst auch bei ihm bereits universelle Züge trägt. Der Offenbacher Rabbiner und Philosoph deutet die Propheten als Künder einer „lieblichen“ Zukunft der ganzen Menschheit, die von den biblischen Texten „als eine einzige Familie“ dargestellt wird. Zu den traditionell typischen Elementen der Gotteserkenntnis und der Bruderliebe, der Entfernung der Sünde und der Gewalt, die auch Formstechers Bild des messianischen Zukunft kennzeichnen, tritt in seiner Beschreibung noch das wesentliche Element seiner eigenen Theologie des Geistes hinzu: Mit der gesteigerten Erkenntnis des zukünftigen Zeitalters wird die Menschheit sich schämen, „der Natur wie einem Gotte gehuldigt zu haben.“71 Während die meisten deutschen Reformtheologen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die messianischen Texte des Judentums einer „geisti-

71 Salomon Formstecher, Religion des Geistes. Eine wissenschaftliche Darstellung des Judentums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit (Frankfurt am Main: Hermann, 1841), 186. Zu Formstecher vgl. Bettina Kratz-Ritter, Art. Salomon Formstecher, in: Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen, hrsg. von Andreas B. Kilcher (Stuttgart: Metzler, 2003), 240–242; Bettina Kratz-Ritter, Salomon Formstecher. Ein deutscher Reformrabbiner (Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1991); Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum (Wien und Köln: Böhlau, 2000), 111–114.

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gen“ oder einer davon geschiedenen „politischen“ Tradition zuordneten, weicht Formstechers Verhältnisbestimmung der unterschiedlichen Auffassungen vom Charakter der Messiaszeit überraschenderweise von den ansonsten üblichen Lesarten ab. Aus seiner Sicht repräsentieren die unterschiedlichen Schilderungen der Messiasidee vor allem die jeweiligen sozialen Verhältnisse, unter denen sie formuliert wurden. Er drängt daher auf eine Unterscheidung zwischen objektiven, „absolut wahren“ Ideen vom messianischen Zeitalter, wie sie die Propheten „erschauten“, und den nur „relativ wahren“, subjektiven Zeitvorstellungen, die sich allerdings bereits bei den Propheten finden und nicht erst später den prophetischen Visionen hinzugefügt wurden. Diese subjektiven Ideen seien vom jeweiligen geistigen Entwicklungsstadium des Judentums oder einfach nur von den dort jeweils herrschenden politischen Verhältnissen abhängig. Zur ersten Gruppe gehören laut Formstecher vor allem die prophetischen Schilderungen eines zukünftigen Schlaraffenlandes aus gesteigerter Fruchtbarkeit und Naturfrieden. Diese Schilderungen, so etwa jene der Aussöhnung zwischen Mensch und Tier, sollten dabei durchaus wörtlich und nicht als Metapher verstanden werden, sei doch nach dem unterentwickelten biblischen Begriff der Vergeltung Gottes Lohn für die Frommen immer noch die Schaffung einer friedlichen und wohltuenden Natur als Umwelt für den Menschen. Zu den politisch-subjektiven Zeitideen gehört Formstecher zufolge dagegen „die Wiederherstellung des früheren Staates Israel, an dessen Spitze ein Davide als König thront, und welcher nicht nur von keinem Feinde mehr unterdrückt werde, sondern denselben noch allenthalben besiege“.72 Die objektiv-wahren Zukunftsideen lassen sich auf drei wesentliche Punkte zurückführen, und selbst alle Hinzufügungen und zeitgebundenen Ausschmückungen dieser drei Elemente, die zwangsläufig ein heterogenes Bild erzeugen, gehören bereits in den Bereich der Zeitideen. Die zeitunabhängigen Merkmale des jüdischen Messianismus bestimmt Formstecher dagegen so: „wahre Gotteserkenntnis, reine Tugend und universelle Menschenliebe“. Sobald eines dieser drei Kriterien auch nur mit einem der nicht-objektiven Gedanken verbunden wird, so dass beide Merkmale nebeneinander bestehen, ist die Reinheit der prophetischen Idee verletzt: Als Beispiel führt er die Beeinträchtigung der geistigen Gottesverehrung durch den Opferdienst oder das Nebeneinander von universeller Bruderliebe und partikularistischer Bevorzugung Israels an.73 Dabei geht Formstecher davon aus, die Propheten hätten diese Mischung aus reiner Sittlichkeit und den „Tröstungen für die Gegenwart“ in Bezug auf die Mes-

72 Formstecher, Religion des Geistes, 188. 73 Ebenda.



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siaszeit durchaus bewusst und absichtlich verkündet, denn sie seien keine systematischen Schulphilosophen, sondern zu „Volksbildner(n)“ berufen gewesen, deren Aufgabe darin bestand, alle Menschen in ihren Bann zu ziehen.74 Insofern, so der Philosoph, sei bei einer Analyse des Zukunftsbildes des Judentums streng zwischen „Wesen und Accidenz, zwischen Kern und Hülle“ zu unterscheiden.75 Auf der Grundlage dieser Prämisse gelangte Formstecher, anders als viele andere Theologen seiner Zeit, zu einer einheitlichen Auslegung der Tradition, die nicht etwa von verschiedenen parallelen Strömungen und Auffassungen der Messiasidee bestimmt sei, sondern lediglich in ein und demselben Text unterschiedliche – philosophische und pädagogische – Ebenen enthalte, deren Widersprüchlichkeit vom prophetischen Autor bewusst in Kauf genommen worden sei. Ebenso interessant ist Formstechers von tiefer theologischer Reflexion geprägte Erörterung der Frage, auf welche Weise die Messiaszeit herbeigeführt werden könne. An dieser Stelle kommt es allerdings mitunter zu einer Vermischung seiner Begriffe von biblischem und talmudischem Judentum – zumindest jedenfalls ist seine Auslegung des biblischen Begriffs der menschlichen Freiheit erkennbar von späteren rabbinischen Lehrmeinungen beeinflusst. Der bedeutendste Unterschied zwischen Judentum und den heidnischen Religionen hinsichtlich ihrer Erlösungstheorien, so Formstecher, liegt in dem Umstand, dass die Heiden die Befreiung vom Übel als Akt der Götter verstünden, die Juden hingegen als „alleiniges Werk des Menschen“. Im Judentum sei der Mensch der Schöpfer seines eigenen Schicksals, seine Erlösung hänge allein von seiner Tugend (das heißt von seiner Gottesfurcht) ab. Gemäß Formstechers Verständnis ist das Erlösungswerk des Judentums „eine rein ethische Operation“, während das Heidentum – und es ist nicht klar, ob er diesen Begriff nur antik versteht – einzig und allein die „fatalistisch bestimmte Evolution der Natur“ kennt.76 Mag diese strenge Definition auch für das biblische Judentum zu eng gefasst und stark von den Idealen des neunzehnten Jahrhunderts geprägt sein, so hat sie doch durchaus einen festen Anhalt zumindest an der talmudischen Theologie; von Interesse ist hier zudem vor allem, dass sie sich ganz offenkundig auf Formstechers Messiastheorie auswirkt. In der Konsequenz einer so verstandenen Erlösungslehre muss auch Formstecher den jüdischen Messias, selbst wenn er ihn noch perso-

74 Der eigentliche Charakter der Prophetie war für die jüdische Theologie von Maimonides bis Hermann Cohen immer ein Streitthema. Während Maimonides tatsächlich annimmt, die Propheten seien Philosophen gewesen, versteht Cohen sie eher als Poeten, denen ein ganz besonderer literarischer Stil eigen sei. Vgl. Hermann Cohen, „Der Stil der Propheten“(1901), in: Jüdische Schriften, Bd. 1, 262–283. 75 Formstecher, Religion des Geistes, 189. 76 Ebenda, 189.

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nalistisch auffasst, aller Konnotationen mystischer Gottgesandtheit und aller übernatürlichen Fähigkeiten entkleiden. Der Messias ist demnach durchaus ein Mensch, wenn auch „mit den höchsten Eigenschaften der menschlichen Vollkommenheit“ ausgerüstet.77 Im Gegensatz zur eigentlichen Messiaszeit, die, wie gezeigt, vor allem von „objektiven“, unwandelbaren geistigen Werten bestimmt ist, bleibt der Messias selbst aus Formstechers Sicht eine politische Figur, deren Funktion sich auf Israels „Vereinigung und Befreiung“ beschränkt und nicht etwa darin besteht, „durch eine Selbstaufopferung eine Apotheose des Menschen zu bewirken“, wie es plötzlich doch mit deutlicher Anspielung auf das Christentum heißt.78 In einer Fußnote verweist er allerdings darauf, dass sich schon im siebten Kapitel des Buches Daniel „die ersten Spuren einer Art von Apotheose des Messias finden“ und sich diese Vorstellung im jüdischen Denken bis zum Auftreten Jesu immer mehr gesteigert habe.79 Bemerkenswert ist auch Formstechers Gedanke, die von einigen Talmudlehrern behauptete Unmöglichkeit, die Zeit des Kommens der Erlösung zu berechnen, finde ihren Grund nicht in der Gottgesandtheit des Messias, sondern vor allem in dem Glauben an die Freiheit des Menschen zur ethischen Vervollkommnung.80 Steht dem Menschen gemäß der Lehre des Talmuds jederzeit eine Umkehr (tshuva) offen, so dass Reue und Buße immer möglich sind, so ist auch der Anbruch der messianischen Zeit nicht im Voraus bestimmbar. Formstecher fasst seine Deutung in der Aussage zusammen, die Schilderung des Zukunftsbildes im Judentum verbleibe stets innerhalb dessen, was er – im Titel seines theologischen Hauptwerks – die Religion des Geistes nennt. Die Natur, vor deren Verehrung er das Judentum bewahren will, könne allenfalls den Menschen in seiner einstigen Vervollkommnung belohnen, sich jedoch nicht selbst vervollkommnen. In der Religion des Geistes gibt es keine natürlichen Übel, die Natur ist ganz und gar unveränderliches Geschöpf Gottes, während menschliches Übel dann entsteht, wenn der Mensch aus der Sphäre des Geistes in jene der Natur herabsteigt. Die Erlösung im Messiasreich trägt daher für das Judentum ein „rein humanes, geistiges, ethisches Colorit“, da jüdisches Denken den Gegensatz von Geist und Natur zu erkennen in der Lage ist.81 Diese rationalistisch-ethische Messiastheorie

77 Ebenda, 190. 78 Ebenda. 79 Ebenda, 190, 1.Anm. Vgl. Daniel 7,13 und 14 (die Note hat fälschlich 9, 13.14) Formstecher verweist hier auf den Jesaja-Kommentar von Wilhelm Gesenius (1786–1842), dem damals führenden Orientalisten Deutschlands. 80 Vgl. etwa tB San 97a: Drei Dinge kommen, wenn man sie nicht erwartet: Der Messias, ein Fund und ein Skorpion. Vgl. auch tB Pes 54b. 81 Formstecher, Religion des Geistes, 191.



Salomon Formstecher 

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stimmt nun wieder an verschiedenen Punkten mit den messianischen Gedanken derjenigen Reformrabbiner in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert überein, die die Idee eines persönlichen Erlösers bereits verabschiedet haben. Formstechers radikale Trennung von politischem Messias und idealer Messiaszeit scheint demnach zwar unvollendet, lässt aber Raum für viele der klassischen Elemente des neuen Messias-Verständnisses der liberalen jüdischen Theologie. Formstecher war allerdings sehr viel pessimistischer als viele andere jüdische Denker seiner Epoche, die die Messiaszeit mit der Erlangung der bürgerlichen Emanzipation als für angebrochen hielten. Nimmt man die liberale Definition ernst, so scheint aus seiner Sicht eine in Frieden und Erkenntnis vereinte Menschheit in weiter Ferne zu liegen – „kaum erst ein Drittheil des Menschengeschlechts hat theilweise der Naturvergötterung entsagt […]“. Auch dieser geringe Fortschritt gehe auf das Wirken des Judentums in der Geistesgeschichte zurück –„doch noch vieles muß es wirken, bis es seine hohe Aufgabe gelöst“. Auf dem Weg zur Messiaszeit bediene sich jedoch das Judentum der Hilfe des Christentums und des Islams, schreibt Formstecher in Vorwegnahme eines beliebten Gedankens bei jüdischen Theologen des neunzehnten Jahrhunderts.82 Beide Religionen bedürften, obwohl zutiefst von ihrem jüdischen Ursprung geprägt, für ihre Mission unter den Völkern „des heidnischen Elements“, das Judentum hingegen müsse auch weiterhin seine eigenständige, reine Tradition pflegen, um seine menschheitliche Mission erfüllen zu können, den reinen Menschengeist zu repräsentieren.83 Dieser Geist, die menschliche Vernunft, befähigt Formstecher zufolge dazu, eine ideale messianische Zukunft „nicht nur als poetisches Phantasieproduct, sondern als eine wirklich eintretende Realität“ zu erkennen. Die gesteigerte Erkenntnisbildung in der Messiaszeit bedeutet allerdings nicht, dass dem Men-

82 Der Gedanke geht eigentlich auf Maimonides zurück, doch die entsprechende Stelle war den deutschen Theologen wahrscheinlich unbekannt, weil sie schon lange zuvor der Zensur zum Opfer gefallen war. Vgl. Maimonides, Mishneh Torah, Gesetze von Königen und Kriegen, Kap. 11, 10–11. Maimonides schreibt, Jesus könne nicht der Messias gewesen sein, weil er an der Aufgabe gescheitert sei, Israel zu erlösen. Trotzdem, so der Text weiter, hat Gott in seiner Unerforschlichkkeit auch Jesus dazu beitragen lassen, „den Weg für den Messias zu ebnen“ (‫)ליישר דרך למלך המשיח‬. Vgl. um dieselbe Zeit wie Formstecher etwa Ludwig Philippson, Die Entwickelung der religiösen Idee im Judenthume, Christenthume und Islam und die Religion in der Gesellschaft (Leipzig: Baumgärtner, 1847), der auch die Idee vom Wegbereitertum der christlichen Religion vertritt, die damit allerdings nur eine Übergangslösung in der Weltgeschichte der Religion bildet. Eine radikale Variante dieser später weit verbreiteten Idee liefert Moses Hess, Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätenfrage. Briefe und Noten (Leipzig: Mengler, 1862), 28–30. 83 Formstecher, Religion des Geistes, 414.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

schen nun keine Grenzen des Wissens mehr gesetzt seien, sie zeigt ihm vielmehr klarer als jemals zuvor, wo genau diese Grenzen verlaufen. In einer wie eine eigentümliche Mischung aus Kant und Maimonides anmutenden Analyse versucht Formstecher, in seiner Philosophie diese Epistemologie der Messiaszeit vorwegzunehmen: Auch dann werde die Metaphysik jenseits der menschlichen Erkenntnisfähigkeit liegen, dazu „die Theogonie und Theosophie, die Astrologie und Astrognosie, die Angelo- und Dämonologie“ sowie zuletzt auch „jede Spekulation über das Endschicksal der Seele nach diesem Erdenleben“. Neben diese mystische Dimension des Nicht-Erkennbaren tritt für Formstecher sodann die Theologie, die voll und ganz von der Vernunft durchdrungen werden kann: „Objekt des menschlichen Wissens aber ist Gott nach seinen, in der Schöpfung sich manifestierenden, ethischen Eigenschaften, sowie das Verhältniß, in welchem der Mensch zu ihm sich befindet.“84 Formstechers Vision zufolge wird Frömmigkeit in der messianischen Zeit nicht mehr von dem verunstaltet sein, was er ohnehin nur als Überreste des Heidentums betrachtet: „Aberglaube, Mysthicismus, Fanatismus und Werkheiligkeit“. Doch auch körperliche Askese sei kein Merkmal wahrer Frömmigkeit, das körperliche Dasein sei in erster Linie ein „Mittel zur Erhaltung und Fortpflanzung des geistigen Daseins“.85 Als Alternative zur falschen Frömmigkeit bietet Formstecher in der Folge eine lange schwärmerische Darstellung der Messiaszeit, die, so vage sie für ihn auch bleiben mag, klar erkennen lässt, auf welche Weise er – aus den traditionellen Quellen des Judentums schöpfend –ein humanistisches Zukunftsideal für die Menschheit entwickelt hat, von dessen endgültigem Eintreten ihn sein jüdischer Glaube, gepaart mit der menschlichen Vernunft, vollkommen überzeugt hat: Genusssucht, Habgier und Ehrgeiz werden gänzlich untergehen, und an ihre Stelle tritt „die aufopfernde Liebe, welche ihre höchste Wonne darin findet, das Nebengeschöpf als Geschöpf Gottes zu achten“.86 Zwar klingt diese emphatische Schilderung ganz nach einem phantastischen Utopia, dessen irdische Realisierung undenkbar scheint, doch Formstecher präsentiert dann im weiteren Verlauf seiner Argumentation doch eine Reihe – wenn auch ähnlich idealistischer – politischer Vorstellungen, wie dieses utopische Reich regiert werden könne. Auch hier scheint er von den Messiasvorstellungen der biblischen Propheten ausgegangen zu sein – ein Beweis dafür, wie weit sich für ihn der traditionelle Lehrbegriff des Judentums schon in eine universalistisch-ethische Zukunftsvision der ganzen Menschheit gewandelt hat. Sein Glaube

84 Ebenda, 440. 85 Ebenda, 441. 86 Ebenda.



Samuel Hirsch 

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an die Erfüllbarkeit dieser Vision gründet sich dabei vor allem auf seine religiöse Gewissheit hinsichtlich des Kommens des Messias. Auch wenn er in diesem Zusammenhang offen lässt, ob man sich unter dem Oberhaupt des zukünftigen jüdischen Staates, wie er ihn beschreibt, eine Art abstrakten Messias vorzustellen hat, so ist dieser Gedanke angesichts der Gesamtkonstellation seiner Deutung jedenfalls nicht auszuschließen. Formstechers etwas obskure Mischung aus – realisierbarer – Utopie und biblischem Restauratismus bleibt philosophisch von zukunftsweisender Originalität gewiss weit entfernt. In seinem Werk hat er jedoch vielleicht zum ersten Mal in der jüdischen Geistesgeschichte die bis ins neunzehnte Jahrhundert allgemein gehaltenen traditionellen Vorstellungen von der Messiaszeit in konkrete Zukunftsvisionen ausformuliert und dabei prophetische und rabbinische Quellen auf eine Weise mit den philosophischen Idealen seiner Zeit ins Gespräch gebracht, die für das theologische Denken der liberalen Rabbiner des neunzehnten Jahrhunderts typisch war: weder ein Verzicht auf ihre angestammte Religion waren sie bereit zu leisten, noch aber sahen sie diese Religion als mit der humanistischen Ethik der Aufklärung unvereinbar an.

Samuel Hirsch Das neu erwachte Interesse an einer theologischen Auseinandersetzung mit dem jüdischen Messianismus im Gefolge des Hamburger Tempelstreits liegt sicher auch der Entscheidung des Reformrabbiners Samuel Hirsch zugrunde, 1843 eine Sammlung von zwanzig Predigten zum Thema „Die Messiaslehre des Judentums“ zu veröffentlichen, die er zwischen 1839 und 1842 – in seiner Zeit als Rabbiner in Dessau – gehalten hatte.87 Am bekanntesten ist Hirsch für sein 1842 publiziertes Hauptwerk Die Religionsphilosophie der Juden geworden, das auch eine längere quellenkritische Auseinandersetzung mit dem Wesen des messianischen

87 Zu Samuel Hirsch, der später als Oberrabbiner in Luxemburg wirkte und 1866 nach Amerika auswanderte, wo er zwei Jahrzehnte lang zum radikalen Flügel der Reformbewegung gehörte, vgl. Hartwig Wiedebach, Art. Samuel Hirsch, in: Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen, hrsg. von Andreas B. Kilcher (Stuttgart: Metzler, 2003), 249–251; Meyer, Antwort auf die Moderne, 114– 116; Christian Wiese, „Von Dessau nach Philadelphia. Samuel Hirsch als Philosoph, Apologet und radikaler Reformer“, in: Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, hrsg. von Giuseppe Veltri und Christian Wiese (Berlin: Metropol, 2009), 363–410; Gershon Greenberg, „Religion and History According to Samuel Hirsch“, in: Hebrew Union College Annual 44 (1972): 103–124.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

Zeitalters enthält.88 Die Predigten zur Messiaslehre verstand er selbst als eine Art Einführung in seine systematische Religionsphilosophie, und der erste Text aus dem Jahre 1839 beweist, dass Hirsch, wie schon Formstecher, bereits vor dem Hamburger Tempelstreit daran gelegen war, sich theologisch wieder mit dem jüdischen Messianismus auseinanderzusetzen. Gerade in einer Zeit, in der große Verwirrung über die jüdische Messiaslehre herrscht, so Hirsch in seiner Predigt, „geziemt es uns“ vom Messias und von unseren messianischen Erwartungen zu reden. Israel kann ohne seine Lehre vom Messias nicht bestehen, und die Begründung für diese deutliche Aussage ist ebenso überraschend wie aussagekräftig für die Neudeutung des Messiasbegriffes unter den Bedingungen der Moderne. Wie können wir diejenigen Juden „verdammen“, fragt Hirsch, die ihr Judentum preisgeben wollen, weil sie es im Europa des neunzehnten Jahrhunderts für überholt halten, wenn wir die Messiaslehre aufgeben? Schließlich sähen „unsere Brüder, welche von Israel sich lossagen“, in der Lehre vom jüdischen Messias einen der Hauptangriffspunkte gegen das traditionelle Judentum, weil sie „zu dem Wahne geneigt sind, daß das Festhalten an den messianischen Hoffnungen Israels sie hindere, den bürgerlichen und sittlichen Beruf zu wählen, zu dem ihnen Gott Kräfte und Anlagen verliehen“ habe.89 Gerade deshalb müsse der Messias gepredigt werde, wobei es deutlich zu erklären gelte, was genau das Judentum mit dieser Lehre verbinde. In Hirschs Ausführungen laufen gleich mehrere grundlegende Ansätze der jüdischen Reformtheologie der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zusammen: Der Zweck einer Erneuerung theologischen Denkens im Judentum (nicht nur hinsichtlich des Messias) ist immer die Rückgewinnung der „verlorenen Brüder“, die Stärkung des Judentums angesichts der Anforderungen der Moderne, letztlich das Überleben der jüdischen Religion in der Neuzeit. Die Eingliederung der Juden in die bürgerliche Gesellschaft zu ermöglichen ist dabei nicht das Ziel der Reformen, sondern vielmehr eine für selbstverständlich gehaltene Erwartung an die nichtjüdische Umwelt.90 Traditionelle Elemente des Judentums um der bür-

88 Vgl. vor allem das sechste Kapitel, § 74–75 und § 80. Ich beschränke mich hier allerdings auf Hirschs Diskussion der Messiaslehre in seinen publizierten Predigten, die deutlichere Aussagen treffen als die Religionssphilosophie. 89 Samuel Hirsch, Die Messiaslehre der Juden in Kanzelvorträgen, zur Erbauung denkender Leser (Leipzig: Hunger, 1843), 2. 90 Vgl. hier Michael A. Meyers Kritik an Jacob Katz in „German Jewish Thinkers Reflect on the Future of the Jewish Religion“ (wie Anm. 18), und George Y. Kohler, „Judaism Buried or Revitalised? ‘Wissenschaft des Judentums’ in Nineteenth Century Germany – Impact, Actuality and Applicability Today“, in: Jewish Thought and Jewish Belief, hrsg. von Daniel J. Lasker (Beer Sheva: Bialik, 2012), 27–63.



Samuel Hirsch 

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gerlichen Gleichberechtigung willen aufzugeben, lehnt Hirsch als „Wahn“-Lösung ab, die nur auf einem Missverständnis jüdischer Theologie beruhen kann, da deren eigentliches Wesen der bürgerlichen, vor allem aber der sittlichen Integration keineswegs im Wege steht, sich mit ihr im Gegenteil vollkommen im Einklang befindet. Hirsch wusste sehr genau, dass die einfachste und rascheste Form der Akkulturation im christlichen Staat in der vollständigen Aufgabe des Judentums bestünde, ja dass die nichtjüdische Mehrheit dessen Verschwinden als Preis für die Emanzipation im Grunde voraussetzte, und erachtete es daher als genuine Aufgabe des Rabbiners, das Wesen der jüdischen Tradition, in unserem Falle der Lehre vom Messias, so darzustellen, dass ihr eigentlicher theologischer Kern zu Tage trat, indem er ihre geschichtlich bedingte, scheinbar integrationsfeindliche Schale entfernte. Theologische Reform ist daher gemäß Hirschs Verständnis keine wirkliche Neuerung innerhalb der jüdischen Religion, sondern im Wesentlichen die Wiedergewinnung der eigentlichen Inhalte, die in Folge von jahrhundertelanger Verfolgung und Unterdrückung zu lange brach gelegen haben.91 Vordergründig sieht Hirsch den Messiasglauben zuerst als Quell der Hoffnung für das jüdische Volk, in dem es „Trost und Beruhigung für alles, was uns sonst betrübt“ finden soll. Bei genauerer Lektüre wird jedoch bald deutlich, dass er auch den universellen Aspekt der Messiaszeit, die zukünftige Vereinigung der gesamten Menschheit in der Verehrung „unseres Gottes“, mit Nachdruck hervorhebt. In der Messiaszeit „werden die Menschen menschlich leben und daher göttlich“. Das drückt sich nach traditionellem jüdischen Verständnis vor allem im Verschwinden der äußerlichen Götzenbilder aus, aber, wie Hirsch ausdrücklich betont, auch der Götzenbilder, die „wir in unserem Herzen beherbergen, sowohl die Furcht vor dem Nichtigen als die Liebe zu Nichtigem“. Gottes Herrschaft über die Herzen der Menschen werde in der Messiaszeit zu einer universellen Sittlichkeit führen, denn dann „werden auch all unsere Wünsche göttlich sein, werden auch unserer Bestrebungen nur edle Zwecke verfolgen“.92 Bereits hier zeigt sich schon unverkennbar, was Hirsch dann in einer späteren Predigt klar ausspricht: Für ihn, wie für viele andere Reformtheologen seiner Zeit, ist der jüdische Messiasgedanke kein ausschließlich politischer Ausdruck für die Befreiung von der

91 Von daher scheint die oft wiederholte These, die Reformer hätten den jüdischen Messianismus vor allem deshalb umgestaltet, „um ungehindert in der europäischen Gesellschaft aufzugehen“, gegenstandslos. Die vorliegende Textsammlung soll dazu beitragen, diese verfehlte Deutung endgültig zu widerlegen; das Zitat stammt aus Michael Graetz, „Jüdischer Messianismus in der Neuzeit“, in: Zukunftshoffnung und Heilserwartung in den monotheistischen Religionen, hrsg. von Abdoldjavad Falaturi, Walter Strolz und Shemaryahu Talmon (Freiburg i. Br.: Herder, 1983), 167–188, hier 169. 92 Alle Zitate in Hirsch, Messiaslehre, 8.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

Fremdherrschaft über das Judentum im Exil, im Gegenteil – diese Befreiung ist durch die bürgerliche Emanzipation der Juden bereits gegeben, ohne dass damit allerdings die Messiaszeit schon angebrochen wäre: „In unserem deutschen Vaterlande darf Israel sich nicht mehr über den unnöthigen Druck beklagen“, schreibt Hirsch 1840, aber es darf dennoch auf eine „schönere, herrliche Zukunft“ hoffen.93 Doch auch die Juden selbst werden in dieser zukünftigen Zeit keine anderen Völker unterdrücken, fügt er hinzu, offenbar um dem verbreiteten judenfeindlichen Argument vorzubeugen, das sich auf verschiedene diesbezügliche talmudische, vor allem aber mittelalterliche Aussagen beruft.94 Besonderen Wert legt Hirsch darauf, dass „gewaltsames Herrschen“ mit dem jüdischen Gedanken vom Messias nicht vereinbar sei. Diese Auffassung steht somit auch in deutlichem Gegensatz zu den säkularisierten messianischen Theorien, die jüdische Denker im zwanzigsten Jahrhundert ihren Vorgängern entgegengestellt haben. Besonders bei Gershom Scholem, Walter Benjamin und später bei Jacob Taubes wird der Messianismus zu einer nihilistisch-anarchistischen Revolution, die in einem apokalyptischen Akt den Himmel gewaltsam auf die Erde zwingen will und für diese destruktive Dimension des Messianismus vor allem die gescheiterten Erhebungen der Pseudo-Messiasse anführt.95 Im neunzehnten Jahrhundert jedoch herrschte unter den jüdischen Theologen noch fast einhellig die Auffassung vor, die messianischen Prätendenten von Bar-Kochba bis Sabbatai Zwi hätten das Wesen des biblischen Messianismus verfehlt und ihm geschadet, – indem sie „den wahren, bibelverheißenen und dem jüdischen Geiste innewohnenden Messias durch Mystification und falsche Deutung zum Betruge ausbeuteten“, wie der ungarische Rabbiner Samuel Schwarz im Jahre 1860 urteilte.96

93 Ebenda, 31f. 94 Vgl. etwa Exodus Rabba 1, 26, wo der Messias „Rache über Edom“ (Rom) bringt. Vor allem in Folge der Unterdrückung und Verfolgung der Juden im Mittelalter bildeten sich zahlreiche Legenden von einer gewaltsamen Rache und kriegerischen Erlösung Israels von der Herrschaft der andern Völker. Vgl. dazu Raphael Patai, The Messiah Texts (Detroit: Wayne State University Press, 1988), besonders Kapitel 15–18. 95 Vgl. Siegfried Gehrlich, „Zur politischen Theologie des Judentums“, in: Sezession 43 (2011): 32–35, hier 32. Gehrlichs Darstellung berücksichtigt allerdings keine anderen oder früheren Auffassungen zu diesem Thema – wie etwa die hier beschriebene Samuel Hirschs. Zu Walter Benjamin, Gershom Scholem und anderen vgl. auch Pierre Bouretz, Witnesses for the Future: Philosophy and Messianism (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2010). 96 Samuel Schwarz, Die Messias-Zeit. Erläuterungen der Talmudstellen, die Bezug aus Israels Zukunft haben, mit Rücksicht auf unsere Zeit (Lemberg: Piller, 1865), 26 und S. 262 in diesem Band. Zu vergleichbar negativen Auffassungen, besonders zu Bar Kochba, vgl. auch Ludwig Philippson, Die Israelitische Religionslehre, Bd. 3 (Leipzig: Baumgärtner, 1865), 136.



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Die vollständige Entpolitisierung der Messiaslehre bei Samuel Hirsch ist zweifellos radikal und nur schwer mit den traditionellen Quellen vereinbar. Theologisch neu und bedeutsam erscheint vor allem der gesellschaftlich-historische Entwicklungsgedanke, den das eigentlich rabbinische Denken kaum kennt und der sehr wahrscheinlich auf Hirschs Hegelstudium zurückgeht: „Die Menschheit schreitet vorwärts, das ist der erste Satz unserer Religion“, ruft Hirsch in einer anderen Predigt aus dem Jahre 1840 aus, obgleich er sich durchaus dessen bewusst ist, dass das talmudische Geschichts- und Moralverständnis bis auf Moses Mendelssohn eigentlich vom genauen Gegenteil ausgeht, die Welt als eine ständig fortgesetzte Gegenwart sieht, in der der Wille Gottes immer wieder erfüllt werden muss. Die einzige Ausnahme von dieser Vorstellung, wohl inspiriert vom Vorbild der prophetischen Texte der Bibel, ist für die talmudischen Weisen die Lehre vom künftigen Kommen des Messias – doch auch hier wird der Übergang in die bessere Zukunft oft eher als abrupte Zäsur gesehen, als plötzliche, wunderbare Entscheidung Gottes, auf die menschliches Handeln wenig Einfluss hat. Hirsch dagegen bezeichnet es als den Grundgedanken seiner Überlegungen zum Messias, dass die Menschheit in einem allmählichen Lernprozess „dem Besserwerden“, dem von Gott gesetzten Ziel der Geschichte, „immer näher“ kommt. Der Messias gilt ihm letztlich als Garant dafür, „daß der göttliche Zweck, den der Herr der Menschheit gestellt, erreicht werden wird“.97 Dieser Gedanke vom Messianismus als Gewährleistung für das schließliche Erreichen eines zugleich göttlich verheißenen und menschlich zu erstrebenden universalen „Zieles“ der Geschichte hatte weitreichende Folgen für die liberale Theologie des neunzehnten Jahrhunderts und fand schließlich bei Hermann Cohen seinen prägnantesten Interpreten. Für Cohen haben die biblischen Propheten mit ihrer messianischen Idee vor allem die komplexe Frage nach der Möglichkeit der Verwirklichung der sittlichen Menschheit eindeutig bejaht. Erst und nur mit dem Messianismus, so schrieb Cohen siebzig Jahre nach Hirsch, werde die Idee des Einen Gottes vollendet, ohne diesen Gedanken fehle dem ethischen Monotheismus die notwendige Zukunftsperspektive.98 Hirsch hat hier angelegt, was Cohen später die Theodizee der Weltgeschichte genannt hat: Die noch bei Mendelssohn religionsphilosophisch unentbehrliche Unsterblichkeit der Seele des Individuums wird als Mythos entlarvt und durch Hirschs „Vorwärtsschreiten der Menschheit“ abgelöst, die sittliche Aufgabe der Menschen ihrerseits mit dem religiösen Gedanken des Messianismus identifiziert. Damit schwindet – im Verlaufe eines historischen

97 Beide Zitate in Hirsch, Messiaslehre, 86. 98 Vgl. Hermann Cohen „Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt der Menschheit“, in: Jüdische Schriften, Bd. 1, 18–35, hier 32f.

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Prozesses – jeder Zweifel an Gottes Gerechtigkeit, und das messianische Bewusstsein der Propheten verwirklicht sich in einer idealen Zukunft der Menschheit.99 Hirschs Messianismusdeutung hat somit auch weitreichende Folgen für die Bestimmung der Stellung des Religionsgesetzes im Judentum. Es ist nämlich nicht mehr die Erfüllung des göttlichen Gebots allein, die den Lebenszweck des Menschen ausmacht, vielmehr identifiziert Hirsch, wie viele Reformtheologen mit ihm, einen außerhalb der eigentlichen Gesetzesobservanz liegenden Zweck der religiösen Praxis, der das traditionelle Diktum von der Torah als Selbstzweck aufzuheben scheint. Die jüdische Messiaslehre, wie er sie in den Prophetenbüchern vorgezeichnet findet und wie er sie für die Erfordernisse der Moderne umzugestalten versucht, dient ihm als theologische Beschreibung und vor allem als Rechtfertigung dieses Zwecks, der idealen Zukunft der gesamten Menschheit. Ohne die Hoffnung auf den Messias wäre nicht nur „unser ganzes Erdendasein ein Räthsel“, so Hirsch 1842 in einer seiner Messiaspredigten, und auch „unsere heilige Geschichte, unsere einzig dastehenden Erinnerungen“ seien ohne den Messiasgedanken ganz und gar unverständlich. Für Hirsch bot die fromme Gesetzestreue um ihrer selbst willen als traditioneller jüdischer Lebenszweck offenbar nicht nur keine Alternative zu einer messianischen Zukunft, auch die in der Bibel dargestellte Geschichte des jüdischen Volkes ergab in seinen Augen nur dann einen Sinn, wenn sie schließlich in die Messiaszeit mündete: „Wozu unser Auszug aus Ägypten, unsere Wanderschaft durch die Weltwüste […], wenn das gelobte Land nur Milch und Honig hat, nur den Körper labt, den Geist aber nicht erquickt?“, so seine implizite Polemik gegen die rabbinische Tradition. Aber auch Politik, Wissenschaft und Kunst entbehren eines eigentlichen Sinnes, wenn Gott Israel aus Ägypten erlöst, sein Werk aber nicht „zu Ende führen“ würde, wenn Gotteserkenntnis sich nicht verbreitete wie bei Jesaja beschrieben (11, 9).100 Hier ist erneut der Einfluss Hegels zu spüren, ohne dessen Vorstellung von einem dialektischen Entwicklungsprozess in der Geschichte, der auf die immer vollständigere Realisierung des absoluten Geistes hinlenkt, auch der neue Gedanke einer spezifisch jüdisch-messianischen Mission an den Rest der Menschheit undenkbar gewesen wäre.101 Diese Deutung des prophetischen Messianismus als eine solche Mission der Verbreitung des reinen Monotheismus mit allen ihren sozialen

99 Vgl. Hermann Cohen „Die Messiasidee“ (1898), in: Jüdische Schriften, Bd. 2, 105–124, hier 117 und im vorliegenden Band, 296. 100 Alle Zitate in Hirsch, Messiaslehre, 396f. 101 Zu Hirschs Abhängigkeit von Hegel vgl. Emil L. Fackenheim, Samuel Hirsch and Hegel (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1964) und Dirk Westerkamp, „Platon in Moses. Hegels Kritik der Substanzmetaphysik und die philosophia haebraeorum“, in: Hegel-Jahrbuch 2005 (Berlin: Akademie-Verlag, 2005), 106–113, hier 110f.



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und ethischen Folgen wurde schon bald von der jüdischen Religionsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts als der entscheidende Beitrag des Judentums zur menschlichen Zivilisation herausgearbeitet und blieb bis zu ihrer Verdrängung durch gegenläufige zionistische Konzepte eines der wesentlichen Merkmale des theologischen Denkens des akkulturierten westeuropäischen Judentums.102 Von dieser Idee eines messianischen Menschheitszieles aus konnte Hirsch nun die Frage beantworten, die das zentrale Thema der letzten seiner zwanzig Predigten bildete – jene nach dem persönlichen Messias.103 Ungewöhnlich ist bei seinen Überlegungen bereits die Formulierung dieser Frage: Wenn die Erde voll ist von Gotteserkenntnis, Krieg und Hass aufgehört haben „und die Nationen uns hingebracht haben nach Zion, und dort der Gottesdienst verrichtet wird auf die rechte Weise“ – wozu bedarf es dann noch „eine(r) Sprosse aus dem Stamme Jischai“ (Jesaja 11, 1), der Person des Messias?104 Die Zielrichtung dieser Fragestellung entspricht schon an sich nicht der talmudischen Messiastradition, die den Messias gerade als den Erlöser Israels (auch im politischen oder gar militärischen Sinne) versteht, d.h. als denjenigen, der kraft seiner weltlichen Macht das ideale Zionsreich überhaupt erst errichten soll. Hirsch, so offenbart auch seine spätere Antwort auf diese Eingangsfrage, stellt sich der Fall umgekehrt dar. Hier verbirgt sich sicherlich eine auch ihm selbst wichtige theologische Neuerung, die einen bedeutenden Teil seiner Interpretation der jüdischen Zukunftserwartungen ausmacht und verständlich macht, warum er den Messiasgedanken als „Grundstein“ des Judentums auffasst, ohne den wir „das Ganze unserer Religion verkehren und unverständlich machen“.105 Diese Bedeutung wurde der Messiaslehre traditionell kaum zugemessen, und Hirschs Postulat der zentralen Stellung dieser Lehre im Gesamtgefüge jüdischen Denkens kann daher als wegweisend für die Reformtheologie des neunzehnten Jahrhunderts gelten. Den wesentlichen Gedanken seiner Neuinterpretation konnte Hirsch in einem Satz zusammenfassen: Der Messias „soll nicht den Anfang, sondern das

102 Vgl. Max Wiener, „The Concept of Mission in Traditional and Modern Judaism“, in: YIVO Annual of Jewish Science 2–3 (1947/48): 9–24; vgl. auch David Novak, Jewish Social Ethics (New York und Oxford: Oxford University Press, 1992), 228–236. 103 Hirsch, Messiaslehre, 397. Vgl. zu diesem Thema um dieselbe Zeit auch die exegetische Artikelserie „Lehrt die Bibel einen persönlichen Messias?“ von Saul Isaac Kämpf (1818–1892), die leider unvollendet blieb. Kämpf, der in Halle bei Gesenius studiert hatte, löste 1846 Michael Sachs (1808–1864) als Rabbiner in Prag ab und wurde 1858 dort auch Universitätsprofessor. Seine philosophische Herleitung des jüdischen Messiasbegriffes erschien 1845 im Literaturblatt des Orients (Nr. 7, 18, 19, 27), bricht aber nach dem vierten Teil in der Mitte der Darstellung ab. 104 Hirsch, Messiaslehre, 397. 105 Ebenda.

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Ende der Erlösung bezeichnen“. Der Messias kommt nach seinem Verständnis nicht, um den Menschen „einen neuen Geist einzupflanzen“, vielmehr tritt er erst dann in die Geschichte ein, wenn die Menschen diesen neuen Geist schon errungen haben. Unter Berufung auf das Gottesknechtslied am Anfang von Jesaja 42 argumentiert Hirsch, der Messias könne nur dort Recht verbreiten, „wo alle schon das Recht und nichts als das Recht wollen“. Ansonsten bestünde die Gefahr, so fährt er fort, „jemanden zu verletzen, oder irgendjemandem in irgend einem Wunsche zu nahe zu treten“ – so, als wäre das nicht – zumindest aus Sicht eines wichtigen Teils der jüdischen Tradition –gerade die unvermeidbare Pflicht eines politisch verstandenen Messianismus. Hirsch lehnt jedoch offenbar ein solches „gewaltsames“ Verständnis auf so grundlegende Weise ab, dass er hier in die Nähe eines Zirkelschlusses gerät. Die Aufgabe des Messias wäre dieser Deutung zufolge nämlich nicht die Errichtung, sondern nur die Bewahrung des idealen Zukunftsreiches der Menschheit, d.h. bei dem Messias-König Hirschs „wird nur Belehrung gesucht, auf daß die Liebe sich nicht verirre“, was offenbar aus seiner Sicht – selbst bei hinreichend verbreiteter Gotteserkenntnis – immerhin eine reale Möglichkeit darstellt.106 Der Sinn dieser pazifistischen, ja nahezu passiven Messiasdeutung ist offenkundig: Hirsch will um jeden Preis die Idee einer wunderbaren, übernatürlichen Erlösung vermeiden. Er deutet den Weg zum idealen Zukunftsreich vielmehr als einen langen Lern- und Selbsterziehungsprozess der Menschheit, und jeder Gedanke an eine plötzliche Verwandlung der moralischen und gesellschaftlichen Situation ist ihm offenbar aus theologischen Gründen vollkommen fremd: „Nicht eine wunderbare und unbegreifliche Erscheinung soll uns jene Sprosse sein, nicht ein plötzlich vom Himmel herabgekommener Gott, den wir nicht erwartet und nicht erwarten gekonnt.“107 Selbst wenn hier keine eindeutige Kritik am mystischen Aspekt des christologischen Messiasbildes vorliegen sollte, so wird doch in jedem Falle erkennbar, wie Hirsch das traditionelle Bestehen der jüdischen Theologie auf dem ausschließlichen Menschsein des Messias interpretiert: als klares Gegenargument gegen eine plötzliche, unerwartete, unvorbereitete und daher übernatürliche Erlösung, denn diese läge außerhalb der Möglichkeiten des Menschen.108

106 Alle Zitate in ebenda, 398f. 107 Ebenda, 398. 108 Vgl. hier Hirschs Jesus-Darstellung in der Religionsphilosophie. Jesus wurde nach seinem Tod von seinen Anhängern „in dichtender Begeisterung mit den Prädikaten ausgeschmückt, die man vom Messias zu erwarten sich berechtigt fühlte“; vgl. Samuel Hirsch, Die Religionsphilosophie der Juden oder das Prinzip der jüdischen Religionsanschauung und sein Verhältnis zu Heidentum, Christentum und zur absoluten Religion (Leipzig: Hunger, 1842), 623f. – von Interesse ist das



Samuel Hirsch 

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Für den durchaus noch persönlich verstandenen Messias-König bleibt in Hirschs Theologie nur noch eine recht kleine Rolle übrig, und zwar nicht die des Kriegers, sondern eher die eines Richters, wenn auch des „höchsten Richters auf Erden“, dessen Aufgabe wohl vor allem darin besteht, nach dem Sieg des Guten und dem Anbruch der wahren Gottesherrschaft durch das Verkünden von Wahrheit und Recht einen Rückfall in die vor-messianische Zeit zu verhindern. Dass es sich aber um eine Person handeln müsse, lehrt die Geschichte: „Alle Geschichte beginnt mit der Herrschaft eines Einzelnen“, schreibt Hirsch, „und darum wird sie auch mit der Herrschaft eines Einzelnen enden.“109 Dabei handelt es sich um ein beinahe klassisches Plädoyer für einen aufgeklärten Monarchismus: die Königsherrschaft, die die Völker zu Beginn ihrer Geschichte rein intuitiv gewählt hätten, die sie „im Gefühle ihrer Bedürftigkeit sich im Anfang gefallen ließen“, werde im Laufe der Zeit auch als die vernünftigste Regierungsform erkannt werden, und die Völker würden sie „am Ende der Tage aus freier Einsicht wieder wählen“. Hirschs Messianismus, obwohl streng monarchistisch, ist jedoch nicht restaurativ, zielt nicht auf eine einfache Rückkehr zu einer utopisch verklärten Frühzeit des Naturfriedens und menschlicher Ur-Harmonie. Das Element der gewachsenen Erkenntnis, das Maimonides als prägendes Merkmal messianischer Zeit in die jüdische Eschatologie eingeführt hatte, ist bei aller monarchischen Endzeit-Romantik auch für Hirsch unverzichtbar. Die Wiedererrichtung der Monarchie (offenbar tatsächlich als Alternative zu einer Volksherrschaft gemeint) geschieht nach Hirsch am Ende der Tage nur deshalb „aus freier Einsicht“, weil die „Menschheit zur Erkenntnis fortgeschritten“ sein wird. Bis dahin wird eine ungeheure moralisch-intellektuelle Entwicklung stattgefunden haben, die eine Rückkehr in die Zeit der „Greuelthaten und Laster“, die zwischen Anfang und Ende der menschlichen Geschichte liegt, verhindern soll.110 Obwohl Hirsch also an der Person des Messias festhielt, ist dennoch klar erkennbar, dass sein theologischer Ansatz mit dem traditionellen Messianismus nur noch wenig zu tun hat und sich der überlieferten Terminologie und Motive vor allem deshalb bedient, um eine gewisse religionshistorische Kontinuität herzustellen. Insbesondere seine Theorie vom Erscheinen des Messias am Ende einer

gesamte fünfte Kapitel. Die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Messianismus wird erst im späteren neunzehnten Jahrhundert auch immer mehr zu einer scharfen Auseinandersetzung mit dem Christentum und dessen Messiasbild. Als ein Beispiel von vielen vgl. Ludwig Philippson, „Vergleichende Skizzen über Judentum und Christentum“ (1869), in: Philippson, Gesammelte Abhandlungen, 2 Bde., hrsg. von Martin Philippson, Bd. 1 (Leipzig: Fock, 1911), 199–324, hier 316–324. 109 Hirsch, Messiaslehre, 408. 110 Alle Zitate in ebenda, 408f..

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umfassenden moralischen Selbsterziehung der Menschheit widerspricht eindeutig der Tradition, einschließlich der Aussagen der biblischen Propheten; man kann sie, selbst wenn der Messias hier noch personal aufgefasst wird, problemlos innerhalb eines modernen Konzepts „geistiger“ Messiasdeutungen verstehen. Der von Hirsch erhoffte Messias besitzt keinerlei die Geschichte verändernde politische Macht, sondern beschränkt sich darauf, einer zur freien Einsicht bereiten Menschheit Recht und Wahrheit zu verkünden. In dieser Hinsicht bedarf Hirschs schwacher Messias der freiwilligen Anerkennung der Gemeinde, die den eigentlichen Sieg über das Böse erkämpft. Doch ein bloßer Ideal-Mensch darf der Messias Hirsch zufolge auch nicht sein, er scheint ihn vielmehr als so etwas wie einen idealen Rabbiner zu verstehen, denn es „darf Jeder, auch der Ärmste und Bescheidenste, zu ihm kommen und offen sich aussprechen, und frei sein Recht fordern, denn er ist ein Richter der Völker, ein Richter, der nicht müde wird und nicht ermattet, bis das Recht in Wahrheit überall durchgedrungen ist“.111 Um das Problem des Persönlichen im jüdischen Messianismus zu bewältigen, löst Samuel Hirsch den Messiasgedanken in einem kühnen Zug vollständig vom Zustandekommen eines idealen Zukunftsreiches. Der erhoffte Messias wird demnach lediglich der Verwalter dieses Reiches sein, und auch diese Funktion wird ihm nur zugeschrieben, um die traditionelle Idee eines messianischen Individuums zu retten, die Hirschs eigenem politischen Monarchismus entsprach. Dafür allerdings greift er weder auf den „Mosaismus“ der Aufklärer zurück, noch vermag er sich ganz mit dem talmudischen Denken zu identifizieren: Wo die hebräische Bibel in sein messianisches Konzept passt, zieht er sie für seine Deutung heran, wo talmudische Theologie sie in Hirschs Sinne abgelöst hat, schließt er sich dem Talmud an. Andere deutsche Reformtheologen seiner Zeit, und vor allem in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, sind weiter gegangen als Hirsch, insofern sie die Konsequenz aus seinem Denken zogen und sich von der Vorstellung des persönlichen Messias ganz abwandten. Aber schon bei Hirsch finden sich alle Ansätze dieser späteren jüdischen Messiastheorien: Im Judentum muss theologisch die Befreiung vom Übel als ein Akt des Menschen verstanden werden, und deshalb kann der Messias nicht plötzlich und unerwartet als Gottesgesandter auftreten. Vielmehr setzt die Messiaszeit einen stetigen

111 Ebenda, 412. Hirschs Buch mit den gesammelten Predigten zur Messiaslehre des Judentums wurde kurz nach seinem Erscheinen ausführlich im Literaturblatt des Orients besprochen. Der Rezensent stimmt Hirsch in allen Punkten zu und betont seinerseits, die Messiaslehre sei ein Eckstein des Judentums, ohne den das gesamte Gebäude zusammenfalle – daher müsse die Verbreitung der Messiaswahrheit noch heute Aufgabe des Judentums sein; Literaturblatt der Orients 1843, Nr. 18, Spalte 274.



Salomon Ludwig Steinheim 

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Erkenntnisgewinn der Menschheit im Laufe der Geschichte voraus, der schließlich in einem universellen und sittlichen Friedensreich mündet.

Salomon Ludwig Steinheim Auch der nach Salomon Formstecher und Samuel Hirsch dritte bedeutende jüdische Religionsphilosoph der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866), befasste sich eingehend mit einer neuen Messiasinterpretation.112 In einem Aufsatz von 1845 über „Die Messiasidee“ stellte er fest, die moderne Wissenschaft habe längst mit der alten heidnischen Vorstellung vom Goldenen Zeitalter aufgeräumt.113 Der „Fortschritt in Natur- und Geschichtskunde“ verweise ganz unabhängig von theologischen Überlegungen auf die beständige Weiterentwicklung der Welt und zeige, dass nicht die Vergangenheit, sondern allein die Zukunft Besserung verheiße. Diese zukunftsorientierte Anschauung sei jedoch keine Erfindung der Moderne, behauptete Steinheim, sondern lange vor der Etablierung des Fortschrittsgedankens durch die Naturwissenschaft, in einer finsteren, stets rückwärts blickenden Vergangenheit, sei eine Weltanschauung entstanden und gelehrt worden, die das vorwärtsgewandte, optimistische Grundprinzip der Gegenwart vorweggenommen habe: „die Messiaslehre im alten Bunde nach der Schilderung der Propheten“.114 Auch das Judentum, so gestand Steinheim zu, kenne eine mystische Lehre von der herrlichen Vorzeit, diese sei jedoch völlig anders als alle vergleichbaren heidnischen Vorstellungen. Das goldene Zeitalter der Griechen sei vor allem ein Reich des sinnlichen Naturfriedens, des Heroentums und des materiellen Glücks, während die jüdische Tradition von Anfang an – bereits in der biblischen Para-

112 Zu Steinheim vgl. Hans-Michael Haußig, Art. Salomon Ludwig Steinheim, in: Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen, 216–218; Joshua O. Haberman, Philosopher of Revelation: The Life and Thought of S.L. Steinheim (Philadelphia: Jewish Publication Society, 1990) und Aharon Shear-Yashuv, The Theology of Salomon Ludwig Steinheim (Leiden: Brill, 1986). 113 Salomon Ludwig Steinheim „Die Messiasidee nach der Bestimmung der Offenbarungslehre“, in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 1 (1845): 21–23, 41–49. Vgl. hier auch Joshua O. Habermans Aufsatz „S.L. Steinheim’s Critique of Messianism“, in: Jerusalem Studies in Jewish Thought 11 (1993): 25–36. Haberman konzentriert sich darin ganz auf einen Artikel Steinheims aus dem Jahre 1855 und ignoriert nicht nur den oben erörterten früheren Text, sondern behauptet auch, Steinheim stehe mit diesen Reflexionen völlig alleine da: „One cannot name a single Jewish theological study of substance, authored in the 19th century, which thourougly examined such concepts as ‚Messiah’ or ‚Messianic Age’ …“ (30). Der vorliegende Band unternimmt es, das Gegenteil zu beweisen. 114 Steinheim, „Die Messiasidee“, 42.

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diesgeschichte – das sittliche Moment betont habe und selbst der Verfall unter ethischem Aspekt gedeutet werde. Noch weit bedeutender seien die Unterschiede in Hinblick auf die jeweiligen Zukunftsvorstellungen. Sofern das Heidentum überhaupt eine Ahnung vom Gedanken einer lichtvolleren Zukunft hege, so urteilt schreibt Steinheim, werde die Veredelung der Zeit dort jedoch stets in ein Jenseits verlegt – „eine geistigere, sittlichere Aera der Menschheit im Ganzen noch hienieden kennt und lehrt einzig das Alte Testament“.115 Auf der Grundlage dieser Argumentation kann Steinheim geltend machen, die messianischen Verkündigungen der Propheten machten das Judentum zu einer Religion der Zukunft, da es als einzige Religion die Idee „eines stätig steigenden Menschenthums“ verkündige. Was das Judentum von allen anderen Religionen unterscheide, sei demnach seine „Zuversicht einer endlichen Verwirklichung der menschlichen Bestimmung in der Idee des messianischen Reiches auf Erden“.116 Steinheim zufolge liegen darin der universelle Kern des Messiasgedankens und die kulturhistorische Rechtfertigung des Judentums in der menschlichen Zivilisation, wenn nicht sogar seine Überlegenheit gegenüber den anderen Religionen begründet. Die theologisch entscheidende Kategorie ist hier nicht so sehr der Gegensatz zwischen sinnlich und sittlich, der in Steinheims Zeit fast schon zu vereinfachend wirkt, sondern vielmehr die Betonung des Diesseitigen des jüdischen Messianismus. Die religionsphilosophisch offensichtliche Konsequenz dieser Differenz bestand jedoch aus Steinheims Sicht darin, dass das Judentum, sofern es (nur) eine „Religion der Zukunft“ gebe, die Religionen der Vergangenheit, die nun „ihre Sendung vollbracht“ haben, zwangsläufig ablösen müsse. Die jüdische Religion trägt kraft ihres messianischen Elements eine „hochheilige Mission in sich“, und Steinheim erachtet es als Aufgabe seiner Zeit, diese Mission „vor den Augen der ganzen Menschheit zum Bewußtsein zu bringen“.117 Klingt hier erneut die liberale Missionstheologie an, die das Reformjudentum für die folgenden hundert Jahre prägen sollte, so entwickelt Steinheim aus seiner Theorie noch einen weiteren für die jüdisch-theologischen Bestrebungen des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland charakteristischen Gedankengang: die Konstruktion einer exegetischen Begründung für den (von den Reformern als solchen verstandenen) Kampf der Propheten gegen das Opfer. Die zahlreichen theologischen, liturgischen und wohl auch ästhetischen Vorbehalte, die das liberale Judentum gegenüber dem biblischen Opfergebot mit seinem Element der stellvertretenden Genugtuung und den entsprechenden Zeremonien empfand,

115 Ebenda, 43 [meine Hervorhebung]. 116 Steinheim, „Die Messiasidee“, 44. 117 Ebenda.



Salomon Ludwig Steinheim 

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wurden später vielfach mit der prophetischen Kritik am Opferdienst in Verbindung gebracht.118 Steinheim kann hier als einer der ersten jüdischen Denker gelten, die sich theologisch mit dieser Thematik auseinandersetzten. Dass die Opferlehre allenfalls ein „heterogenes Element“ im Judentum sei, zeige die Messiasidee der Propheten, die er im Gegensatz dazu als „consequentes Judenthum“ erachtet. Die Propheten verwerfen die Opfer, eben weil sie den Messias lehren, denn der Opfergedanke verlangt zwangsläufig „die Voraussetzung eines Abfalls“, d.h. dahinter verbirgt sich eine „Compensationstheorie“, nach der ein Mangel auf andere Weise ausgeglichen werden müsse, und daraus wiederum ergibt sich die „ganze Lehre von der stellvertretenden Genugthuung dieser Gerechtigkeit Gottes“.119 Die „reine Messiaslehre“ der Propheten entspricht Steinheim zufolge dagegen dem „wahren Wesen der Offenbarung“, da es hier um eine „Lehre von der freien That und der Gnade Gottes“ geht. Die Verheißung einer besseren Zukunft dulde keine Kompensationen in der Gegenwart. Auch nach Steinheims Verständnis ist es die sittliche Erkenntnis des Menschen, die den Fortschritt zu dieser Zukunft beschleunigt. Die reine Messiaslehre muss daher, wie er in implizitem Gegensatz etwa zu Samuel Hirsch argumentiert, auch ohne einen „politisch-legitimistischen Zusatz“ auskommen. Die Tradition der davidischen Abstammung des Messias läuft für ihn ebenso wie die Opferidee auf ein sinnliches und daher „fremdartig“heidnisches Bild von der Zukunft hinaus, erinnere sie doch allzu sehr an die „Vorstellungen von der Descendenz gewisser Menschen und Familien von Gottheiten und alle auf ihnen begründeten Ansprüche und Privilegien“. Der Gedanke des Erbadels sei der Offenbarung jedoch grundsätzlich fremd, sie kenne lediglich ein Reich des Geistes und seiner Freiheit: Vor Gott müssen, wie der zentrale biblische Satz von der Erschaffung im Ebenbild (Gen 1, 27) lehrt, alle Menschen gleich sein.120 Wie Samuel Hirsch schreibt auch Steinheim dem „langen, schmerzlichen und leidvollen Weltgange“ des Judentums einen messianischen Sinn zu: Das jüdische Volk ist der alleinige Träger „der reinen Gottes und Messiaslehre“, und

118 Es ist sicher kein Zufall, dass die religionsgeschichtliche Überwindung des Opferdienstes schon zu den bekanntesten und radikalsten Lehrstücken des Maimonides gehört (vgl. Moreh Nevuchim III, 32). Oft daran anknüpfend sehen die meisten jüdischen Reformtheologen in jeder geistigen Anerkennung des Opferwesens einen „Rückfall in das Heidentum“; vgl. Abraham Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte, 3 Bde., hier Bd. 1 (Breslau: Schletter, 1865), 53. Vgl. auch Hermann Cohens Diskussion in Religion der Vernunft, 199–201 und 482–484 (nach der 2. Aufl. Frankfurt: Kaufmann, 1929). 119 Steinheim, „Messiasidee“, 46f. 120 Ebenda, 47. Vgl. Shear-Yashuv, The Theology of Salomon Ludwig Steinheim, 60.

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

die in dieser Lehre angekündigte Verwirklichung eines Gottesreiches auf Erden ist „das lichte Ziel“, das der Glaube des Judentums „und nur er allein in still erhabener geistiger Einsamkeit“ der Menschheit vor Augen geführt. Das jüdische Volk sei daher glücklich zu nennen, auch wenn es nur „auf dem Dornenpfad des Märtyrerthums in armseliger Knechtsgestalt“ die Reinheit der monotheistischen Lehre vom Messias zu bewahren vermochte. Diese Bildersprache, die auf auffällige Weise mit christlichen Motiven arbeitet, dient nicht nur dem Nachweis der Existenzberechtigung der jüdischen Religion für die Zukunft der Menschheit, sondern auch der Rechtfertigung der zahllosen Leiden der jüdischen Geschichte, bietet also erneut eine Art messianischer Geschichts-Theodizee. In Anspielung auf das von Gott geforderte Priestertum Israels (Exodus 19, 6) schreibt Steinheim sehr plastisch: Selbst dann noch ist der Priester selig zu preisen, wenn er zugleich auch als Opfer auf dem Altare der Menschheit bluten muß. Aus seinen Leiden, aus seinem Blute sproßt das Heil, und der leiblich überwundene Dulder wird gleichwohl zum siegreichen Helden, der das Panier des göttlichen Königthumes aller Völker der Erde voran zu tragen gewürdigt worden ist.121

Steinheims Interpretation zielt demnach erkennbar auf die messianische Rolle des leidenden Volkes Israel, dessen Vergangenheit im Zeichen einer Überwindung des Leiblichen zugunsten der Bewahrung der Idee einer besseren Zukunft für die ganze Menschheit stehen soll, einschließlich seiner Unterdrücker. In eigentümlichem Gegensatz zu dieser Geschichtsdeutung erkennt Steinheim die Eigenart des jüdischen Messianismus in der Zukunft gerade in einer innerweltlichen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse, in einem – allerdings geistigmoralisch verstandenen – Paradies, das sich durch seinen irdischen Charakter grundsätzlich von den Jenseitsvorstellungen anderer Religionen unterscheidet. Weiteren Aufschluss über diese widersprüchliche Theorie gibt eine kleine theologische Debatte, die sich noch im selben Jahr auf den Seiten der Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums zwischen Steinheim und dem Herausgeber des Publikationsorgans des „positiv-historischen Judentums“, Rabbi Zacharias Frankel, entspann.

121 Steinheim, „Die Messiasidee“, 48.



Zacharias Frankel 

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Zacharias Frankel Nur drei Monate nach seinem Aufsatz über die Messiasidee veröffentlichte Steinheim – ebenfalls in der Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums – einen kürzeren Artikel über „Die politische Legitimität und die Lehre der Offenbarung“, den er ausdrücklich als Ergänzung seiner Gedanken über den jüdischen Messianismus verstanden wissen wollte.122 Der neue Aufsatz konzentrierte sich nunmehr ganz auf den politischen Aspekt der Messiaslehre, wenn auch in einem umfassenden theologischen Rahmen, und setzte sich vor allem mit dem traditionellen, „zu einem politisch-religiösen Dogma ausgebildeten Messiasglauben“ der jüdischen Quellen auseinander.123 Zacharias Frankel dagegen, der offenbar Steinheims früheren Artikel nicht gelesen hatte oder wenigstens nun nicht mehr beachtete, wandte sich gegen dessen Thesen und versuchte ein aufgeklärt-liberales Messiasbild im Judentum theologisch zu rechtfertigen. Damit ergab sich die ironische Konstellation, dass der konservative Rabbiner Frankel eine unorthodoxe Messiasauffassung gegen den liberalen Denker Steinheim verteidigte, der im Grunde in dem umstrittenen Artikel nur kritisch die orthodoxe Theologie referierte, während seine eigene, teilweise für das Judentum der Moderne bahnbrechende liberale Theorie des Messianismus längst vorlag. Auf Steinheims Erklärung hin, der Messias werde im Judentum traditionell als König, d.h. als politischer Herrscher verstanden, der allerdings von Gott gesandt wird, um so dem „Dilemma zu entrinnen“, dass das Volk Gottes Herrschaft zugunsten eines Königs verwerfen könnte, antwortete Frankel mit einer langen, in den Text eingeschalteten Fußnote.124 „Im Messias wird nicht der König und gewaltige Herrscher erhofft und erbeten“, machte er geltend, „sondern der Lehrer und Verbreiter des Glaubens und der Wahrheit“. Was die meisten liberalen Theologen des neunzehnten Jahrhunderts als zu überwindende Anschauung der Messiasgestalt betrachten, wird hier kurzerhand auf die jüdische Tradition projiziert: „die materielle Macht, die Herrschaft, der Sieg des monarchischen Princips, im Hause Davids repräsentiert, ist wahrlich nie das Ziel der Wünsche gewesen.“ Die Quellen, die Frankel für seine Thesen zitiert, sind wenig überzeugend, – denn sowohl der berühmte Ausspruch Mar Samuels aus dem Talmud, dem zufolge in der Messiaszeit nichts anders sein werde als in der Gegenwart, sondern lediglich

122 Salomon Ludwig Steinheim „Die politische Legitimität und die Lehre der Offenbarung“, in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 4 (1845): 130–39. 123 Ebenda, 133. 124 Das Dilemma bezieht sich auf die Klage Samuels über den Wunsch des Volkes, einen König zu krönen (1. Samuel 8).

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die äußere Bedrückung Israels aufhören werde,125 als auch der ungenaue Verweis auf Maimonides’ Gesetze von den Königen und Kriegen scheinen geradezu das Gegenteil zu beweisen: Beide Texte betonen ausdrücklich den politischen Aspekt des Messianismus (obwohl Maimonides daneben auch den gesteigerten Erkenntniswert in der Messiaszeit kennt und hervorhebt). Auch die biblischen Propheten, so Frankel weiter, wollten doch, obwohl sie „auf den Messias hinweisend ihn einen König aus dem Hause Davids nennen“, im Grunde „nicht einen absoluten Herrscher bezeichnen“. Vielmehr sei das Ideal der Propheten so erhaben, dass es weit über das Niveau von politischer Legitimität hinausrage. In Wirklichkeit sei der Begriff des Königs nur ein volkstümlich-verständlicher Ausdruck für das, was die Propheten der Bibel eigentlich unter einem Messias verstanden hätten, so behauptet Frankel exegetisch kühn, und statt an einen König müsse man tatsächlich an „einen Richter, einen Präsidenten an der Spitze der Republik“ denken.126 Hier verbinden sich mehrere Grundzüge der bisher analysierten Messiastheorien zu einem neuen Gesamtbild. Von Samuel Hirsch bezieht Frankel die Deutung des Messias als eines Richters – nicht die Herrschaft ist sein Merkmal, er verkörpert vielmehr das Recht und die Wahrheit, die keiner gewaltsamen Durchsetzung mehr bedürfen. Im Gegensatz zu Hirsch vertritt Frankel jedoch eine klar antimonarchistische Haltung, die immerhin so weit geht, dass er die biblischen Propheten zu heimlichen Republikanern erklärt, also zu Befürwortern einer echten Volksherrschaft. Von Steinheim selbst übernimmt Frankel hingegen (vielleicht unbewusst) die Ablehnung einer wörtlich verstandenen davidischen Dynastie, offenbar aufgrund ihrer undemokratischen Natur, die Hirsch noch als ideale Regierungsform bezeichnet hatte. Doch auch in Frankels Augen ist der Messias lediglich ein Mensch, eine Person, die an der Spitze des wiedererrichteten jüdischen Staates steht. Steinheim erblickte in der politischen Messiasidee, wie sich sie sich im vorchristlichen Judentum ausgebildet hatte, den Gedanken der „einstigen sittlichen Vollendung des Menschengeschlechts in einem einzigen gottähnlichen hohen Menschenexemplar“. Diese Formulierung scheint für Steinheims Variante des Bildes einen zukünftigen persönlichen Messias besonders aufschlussreich und bietet eine gewisse Erklärung für den Widerspruch zwischen seiner Vergangenheits- und Zukunftsdeutung. War für seine theologische Sicht der Vergangenheit eine christlich anmutende Exegese von für die Menschheit vergossenem Blut kennzeichnend, aus dem Heil entsteht, so ist hier mit Blick auf die Zukunft ebenfalls die Gestalt des Messias als gottähnlicher und somit im Grunde unerreich-

125 bT Ber 34b: ‫אין בין העוה"ז לימות המשיח אלא שעבוד מלכיות בלבד‬ 126 Steinheim, „Die politische Legitimität“, 133f. (2. Fußnote).



Zacharias Frankel 

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barer idealer Mensch verstanden. Das Auftreten dieser Gestalt bezeichnet Steinheim ausdrücklich als einen „wesentlichen Theil der Offenbarung“, das höchste zu vergebene Prädikat innerhalb seiner allgemeinen Theologie von der Offenbarung als dem Wesen des Judentums.127 Frankel sieht hier einen weiteren Punkt, der aus theologischen Gründen sein redaktionelles Eingreifen verlangt und fügt erneut eine ausführliche Fußnote ein. Doch auch hier scheint seine Kritik am Ziel vorbeizugehen – Steinheim braucht die sittlich verstandene Gottähnlichkeit der Messiasfigur vor allem für seine radikale Ablehnung der politischen Legitimität des davidischen Königshauses, der der Rest seines Aufsatzes gewidmet ist. Frankels Zurechtweisung illustriert nochmals, wie sehr sich die Messiasvorstellung im neunzehnten Jahrhundert gewandelt hat, vor allem insofern sie die moralische Selbstvervollkommnung des Menschen in der Messiaszeit einem Wunder wirkenden himmlischen Erlöserkönig entgegenstellt. Die „Persönlichkeit des Messias hat nichts Übernatürliches“, hält Frankel Steinheim entgegen, jeder Mensch kann ihr nicht bloß nachstreben, sondern sie sogar erreichen, denn auch der Messias hat seine „Vollkommenheiten durch eigenes Streben unter dem Beistande Gottes erlangt“. Folgerichtig muss jeder Mensch „auch dann noch weiter an seiner Vervollkommnung arbeiten“, wenn, wie der Talmud und Maimonides es gleichermaßen erwarten, Religionshass und äußerer Druck ein Ende gefunden haben.128 Der Messias ist hier eindeutig zu einem moralischen Vorbild reduziert, und von königlicher Herrschaft oder auch nur gerechtem Richtertum ist keinerlei Rede mehr. Interessanterweise hatte bereits Samuel Hirsch diesen Gedanken eines messianischen Vorbilds in der Sittlichkeit als wenig aussagekräftig verworfen. Weshalb Gott überhaupt einen solchen Elite-Menschen in seinen Plan für die Zukunft der Menschheit aufgenommen haben sollte, der scheinbar an die Stelle der von Maimonides geforderten imitatio dei tritt, kann auch Frankel nicht wirklich beantworten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Frankels recht halbherzige Verteidigung der davidischen Abstammung des Messias. Damit verhalte es sich wie mit der Erwählung des Volkes Israel selbst: Gott hatte „Gefallen an Israel wegen seiner Urahnen“ und machte es daher zu dem Volk, „von dem die Erkenntnis weiter verbreitet werden soll“, und so sollte auch ein Mann aus dem Hause Davids auserwählt werden, „da der Herr an diesem Wohlgefallen gefunden“. Dieses Argument greift eine der vielen Erwählungstheorien in der jüdischen Theologie auf, ist aber nur bedingt ernst gemeint, vermutlich weil auch Frankelt weiß,

127 Beide Zitate in ebenda, 137. 128 Ebenda, 137, Fussnote.

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wie wenig sich daraus ein echter davidischer Erbadel ableiten lässt.129 Letztlich kommt es für ihn jedoch gar nicht darauf an. Wird der persönliche Messias nur als ein von allen erreichbares Vorbild an Sittlichkeit verstanden, so wird er tatsächlich schnell obsolet. „Die eigentliche Verheißung und die Sehnsucht“, so schließt Frankel seinen Gedanken, ist doch ohnehin auf die Messiaszeit gerichtet, und vor ihr verschwindet „die Individualität des Messias“.130 Damit spricht Frankel unüberhörbar aus, was viele Reformrabbiner seit Beginn der 1840er Jahre immer wieder betonten: Eine moderne Interpretation des jüdischen Messiasgedankens vermag ganz ohne einen persönlichen Messias auszukommen und findet dafür auch Rückhalt wenigstens in einem Teil der traditionellen Quellen des Judentums. Steinheim selbst aber wendet sich in seinem Artikel vor allem gegen eine „angeborene Suprematie“ des Hauses David, die er offenbar für das reformwürdigste Element des traditionellen Messiasglaubens des Judentums hält. In der Gottesebenbildlichkeit des Menschen findet er den theologischen Ansatz für das Streben nach einem Ende der menschlichen Knechtschaft, einer Art religiösem Sozialismus, der für ihn mit der Messiaszeit identisch ist. Diese neue Gesellschaftsform der universellen Gleichheit aller Menschen und der schon gegenwärtig im messianischen Gedanken enthaltene „erhabene Protest gegen die Knechtschaft und geistige Unwürdigkeit“, werden durch die Annahme eines Erbadels im Judentum empfindlich gestört. Königliche Stammbäume, die zur Legitimation herrschaftlicher Rechte herangezogen werden, gehören für Steinheim zum „altasiatisch-heidnischen Kastenwesen“. Zwischen der Welt der Naturgesetze, „welchen die Thierwelt untergeben ist“, und der Idee eines Gottesreiches, in dem „der endliche Sieg des Geistes über die Materie“ errungen ist, lässt sich eine strenge begriffliche Unterscheidung aufzeigen. Die messianische Idee kann nur einem der beiden Konzepte angehören: Entweder besteht die „Messiaswürde deshalb, weil man irgendwoher seinen Stammbaum ableitet“, oder sie entspricht „einer unbedingten Theokratie“. Dann aber sind – vor Gott – alle Stammbäume

129 Die Theorie geht auf ein theologisches Prinzip im Judentum zurück, das auf Hebräisch ‫( זכות אבות‬die Makellosigkeit der Patriarchen) heißt und sich auf den Vers Levitikus 26, 42 stützt: „Und ich werde gedenken an meinen Bund mit Jakob und an meinen Bund mit Isaak und an meinen Bund mit Abraham und werde an das Land gedenken …“ – Gottes Erwählung Israels liegt in der Makellosigkeit der Patriarchen begründet und nicht in Israels eigenen Vorzügen. Schon der Talmud erklärt allerdings die Wirkung dieser Makellosigkeit für inzwischen beendet (bT Shab 55a). 130 Steinheim, „Die politische Legitimität“, 137, Fußnote. Noch 1842 hatte Frankel in seiner Erwiderung an Gotthold Salomon die Idee eines persönlichen Messias ausdrücklich verteidigt; vgl. Frankel, Erwiderung, in: Literaturblatt des Orient (1842), Nr. 23: 361.



Levi Herzfeld 

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„eine gleichgültige Sache“. Aus Steinheims Sicht lautet die entscheidende Frage nach dem Messias, ob in der verheißenen Zukunft „das alte Vorurteil der Race und der Präponderanz des animalischen Gesetzes“ herrscht oder Gott selbst sein ideales Reich regiert, in dem das Naturgesetz zugunsten „einer allwaltenden Vernunft und Gerechtigkeit auf Erden“ außer Kraft gesetzt ist. Seine Kritik an der jüdischen Tradition zielt darauf, dass sie die beiden – an sich unvereinbaren – messianischen Vorstellungen miteinander vermischt, Gottes- und Königreich also in eins gesetzt habe und somit Gefahr laufe, die Offenbarung „um ihre ganze innere Wahrheit zu bringen“.131 Diese Verzerrung der messianischen Idee zu korrigieren, betrachtet Steinheim offensichtlich als wichtige Aufgabe seiner eigenen Theologie. Als Kantianer ist er dabei weniger von Hegels dialektischer Geschichtsphilosophie der Entwicklung beeinflusst und mehr an einer weitgehenden Idealisierung des jüdischen Messianismus interessiert. Damit aber finden wir auch bei ihm den erkennbaren Versuch einer grundsätzlichen Transformation der klassisch-jüdischen Messias­ idee, wie er für alle hier vorgestellten Denker in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts typisch ist. Steinheim ist dabei sicherlich der radikalste unter ihnen, insofern die Messiaszeit bei ihm kaum noch traditionelle Elemente aufweist, sondern sich in eine universelle Theokratie verwandelt hat, die per definitionem alle Menschen gleichstellen muss. Diese Zukunftsform grenzt seiner Deutung zufolge allerdings durchaus wieder an das Wunderbare, steht doch der Mensch in ihr bereits jenseits seiner naturgebundenen Materialität und ist reine Vernunft.

Levi Herzfeld Eine interessante Debatte um den jüdischen Messianismus entspann sich Mitte der 1840er Jahre zwischen dem Braunschweiger Landesrabbiner und Historiker Levi Herzfeld (1810–1884) und Salomon Holdheim, dessen radikale Auffassung des Messias-Problems schon im Kontext der Kontroverse um das Hamburger Gebetsbuch deutlich wurde. Herzfeld hatte zunächst an der Jeschiwa in Würzburg und später an der Berliner Universität studiert, wo er eng mit Leopold Zunz (1794– 1886) zusammenarbeitete. 1844 initiierte er gemeinsam mit Ludwig Philippson (1811–1889) die erste Rabbinerkonferenz in Braunschweig, nahm aber auch an den folgenden beiden Treffen aktiv teil. Herzfeld war außerdem ein eifriger Historiker, der 1847 sein Hauptwerk veröffentlichte, eine dreibändige Geschichte

131 Alle Zitate in Steinheim, „Die politische Legitimität“, 138.

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Israels zur Zeit der Bibel.132 Ende 1844 übergaben Freunde des Braunschweiger Rabbiners zwei seiner Festpredigten, die er anlässlich des ersten und letzten Tags des Sukkot-Festes im selben Jahr gehalten und dem jüdischen Messianismus gewidmet hatte, dem Druck. Das 30seitige Heft war offenbar weit verbreitet und wurde viel gelesen: Zwei der bedeutendsten Organe des deutschen Judentums brachten schon kurz nach seinem Erscheinen Rezensionen, und Samuel Holdheim setzte sich in seinem eigenen monographischen Werk über das Messiasreich, das nur ein halbes Jahr später erschien, intensiv und kritisch mit Herzfelds Predigten auseinander.133 Herzfeld erkannte in der wiedererwachten Diskussion um den jüdischen Messianismus ein deutliches Zeichen einer „neuen Blüthe“ des Judentums, dem man in der Moderne schon unaufhaltsamen Verfall nachgesagt hatte. Die Rehabilitierung des Messias in der jüdischen Theologie sei jedoch eine Entwicklung der allerjüngsten Zeit, hätten doch noch die Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts den Messiasglauben ohne Prüfung verworfen, und zwar „aus Furcht, daß ihre bürgerlichen Ansprüche darunter litten“. Aber auch die Orthodoxie habe den jüdischen Messianismus entweder schüchtern verschwiegen oder feige verleugnet, und nur der aufstrebenden Reformbewegung im Judentum sei es zu danken, „daß jetzt die Messiaslehre auf den Kanzeln, in den Schulen, in Schriften wieder vorgetragen werden kann und, was sie wirklich ist, als ein Grundpfeiler unserer Religion hingestellt wird“.134 Ein weiterer Grund für die allgemeine Ablehnung, die der Messiasgedanke bis vor kurzem im Judentum erfahren habe, so Herzfeld, sei ein wörtliches Verständnis der oft überschwänglichen Formulierungen der Bibel, wenn es um den Messias ging. Diese Art der literarischen Sprache habe „dem Messiasreiche den Vorwurf des Abenteuerlichen zugezogen“, weshalb es die Aufgabe einer neuen messianischen Theologie sei, diese Bibelstellen richtig zu interpretieren, um zu einem besseren Verständnis des Messiasgedankens zu kommen. Die biblischen Propheten, so Herzfeld, seien sich in zweierlei – auch für den modernen Messianismus relevanter – Hinsicht einig gewesen. Als erstes sei die Erwartung zu

132 Levi Herzfeld, Geschichte des Volkes Israel von der Zerstörung des ersten Tempels bis zur Einsetzung des Makkabäers Schim’on zum hohen Priester und Fürsten (Braunschweig: Westermann, 1847). Zu Herzfeld vgl. den Eintrag in: Biographisches Handbuch der Rabbiner, hrsg. von Michael Brocke und Julius Carlebach, Bd. 1, (München: Saur, 2004), 428f., und Ismar Schorsch, „Scholarship in the Service of Reform“, in: Leo Baeck Institute Yearbook 35 (1990): 73–101, hier 92–95. 133 Vgl. die Besprechungen in: Allgemeine Zeitung des Judentums 51 (1844): 748f., und in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 2 (1845): 70. 134 Levi Herzfeld, Zwei Predigten über die Lehre vom Messias (Braunschweig: Vieweg, 1844), 7.



Levi Herzfeld 

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nennen, dass im Zeitalter der messianischen Herrschaft alle Völker monotheistisch werden und die Abgötterei hinter sich lassen würden. Unter dem Dienst an Götzen versteht Herzfeld allerdings keineswegs nur den antiken Bilderdienst, sondern etwas ganz Gegenwärtiges: Es gelte nämlich vom Götzenaltar auch diejenigen Menschen herabzustürzen, „denen wir abgöttisch dienen, Menschenfurcht wird dann nicht mehr sein, Menschendienst, Schmeichelei, Kriechen im Staube vor Staubgeborenen, alles das wird dann nicht mehr sein“.135 Dieser Sieg des Monotheismus führe dem prophetischen Messianismus zufolge wie von selbst zur Errichtung eines universellen Friedensreichs. Insofern ist die neu gedeutete Messiaslehre der Reform aus Herzfelds Sicht dann auch „kein ausschließlich jüdischer Glaubenssatz, sie ist Glaubensartikel der ganzen Menschheit“.136 Im zweiten Teil der ersten Predigt geht Herzfeld der Frage nach der eigentlichen Errichtung eines solchen Messiasreiches nach. Viele hätten die Bibel so verstanden, „daß dies geschehen solle vermittelst eines einzelnen von Gott wunderbar begabten Mannes, welcher König sein und mit so viel Gottesfurcht und Weisheit herrschen werde, daß unter seinem Zepter all das Herrliche eintreten würde, von dessen Schilderung die Propheten voll sind“. Aber an keiner Stelle, so argumentiert er dann ganz im Sinne der klassischen deutsch-jüdischen Reformtheologie, lehre die Bibel wirklich, dass ein solcher individueller menschlicher Messias sein Reich selbst herbeiführen werde. Dieses Szenario käme tatsächlich einem Wunder gleich – denn wie sollten „so viele falsche Religionen“ plötzlich der wahren Religion Platz machen können? Eine wunderbare Bekehrung, predigt Herzfeld, ist jedoch keine echte Bekehrung, diese Vorstellung müsse daher falsch sein. Gott ändert nicht die Natur des Menschen, fügt er in Anlehnung an ein bekanntes Diktum des Maimonides hinzu, und das Messiasreich kann erst dann errichtet werden, wenn der Mensch „mit Ueberzeugung und mit freiem Willen den Weg des Irrthums verlasse“.137 Doch wer, wenn nicht ein Messias-König, ist dann mit der Aufgabe betraut, dieses Reich herbeizuführen? Herzfelds Antwort ist eindeutig: es kann nur das Judentum selbst sein. Wie schon Samuel Holdheim vor ihm identifiziert Herzfeld den Messias mit dem jüdischen Volk, das durch sich selbst Erlösung für die gesamte Menschheit bringen soll. Er scheint allerdings zu spüren, dass dieser Gedanke für seine Gemeinde recht neu, unverhofft und radikal klingen muss. Das über Jahrhunderte unterdrückte und verlachte Judentum, das bewusst den Rückzug ins Partikulare gewählt hatte, sollte nun, anstatt Vergeltung zu suchen,

135 Ebenda, 9. 136 Ebenda, 10. 137 Vgl. Maimonides Moreh III, 32 und Herzfeld, Zwei Predigten, 11f.

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in einem zukünftigen messianischen Zeitalter Frieden und Gerechtigkeit verbreiten? Herzfeld gibt sich jedoch in seiner Predigt davon überzeugt, dass „diese Ansicht einst die herrschende wird“.138 Der Begriff vom Judentum meint Herzfelds wenig traditionellem Verständnis zufolge allerdings „vorläufig nicht eine einzige Ceremonie“, sondern vielmehr eine Sammlung ethischer Grundwerte, namentlich aller „Lehren und sittlichen Gebote, welche das Judenthum in die Welt eingeführt hat und noch künftig einzuführen berufen ist“.139 Seine theologisch interessante Liste enthält erklärtermaßen nur die wichtigsten dieser Lehren: die Abschaffung jeglichen Götzendienstes, die Beseitigung der Furcht vor Jenseits und Tod, die Betonung der göttlichen Gerechtigkeit im Gegensatz zur Vorstellung von Gottes despotischer und willkürlicher Herrschaft, die menschliche Freiheit, göttliche Strafe durch Umkehr abzuwenden, und die Etablierung der universalistischen Idee der Gerechten der Völker, die Anteil an der kommenden Welt haben. Allerdings ist Herzfeld noch kein Vertreter einer offensiven jüdischen Missionstheologie: Alle diese Lehren wurden aus seiner Sicht durch Israels „stilles Beispiel den Völkern überbracht“.140 Allerdings folgte dieses „Eindringen in die Welt“ der ethischen Lehren des Judentums offenbar doch einem durch den Messianismus vermittelten höheren Plan. Bei der Verwirklichung dieses Planes, so erklärt Herzfeld, wie vor ihm Formstecher und nach ihm die meisten jüdischen Reformtheologen, spielten die beiden Tochterreligionen des Judentums, der Islam und das Christentum, eine wichtige Rolle. Beide Religionen gründen theologisch in jüdischen Ideen, im Falle des Christentums sogar vermittelt durch die zentrale Stellung eines Juden, der aus dem Geist des Judentums schöpfte, und beide Religionen verdankten ihre heutige Verbreitung allein der Erhabenheit der ihnen eingeschriebenen jüdischen Lehren. Auch Herzfelds Theorie kann nicht umhin, eine gewisse Undankbarkeit der Tochterreligionen festzustellen, aber unbeirrt davon ruft er aus: „Was geht es unsere Religion an, wenn jene dabei doch ihre Abkunft vergessen? Das Kind vergißt oft seine Mutter, und gehet allein seines Weges!“ In jedem Falle seien diese beiden Religionen mitzuzählen, „wo es gilt, Israels religiöse Wirksamkeit, Israels religiösen Einfluß auf die Welt einmal abzuschätzen“.141 In seiner zweiten Messias-Predigt beschäftigt sich Herzfeld ausführlich mit der philosophischen Entwicklung der Messiasidee im Judentum und formuliert auch hier zum Teil radikal neue Gedanken. Als Historiker, der an der Berliner

138 Herzfeld, Zwei Predigten, 12. 139 Ebenda. 140 Ebenda, 14. 141 Ebenda, 15.



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Universität den historischen Ansatz der deutschen Geschichtswissenschaft aufgenommen hatte, verstand er den messianischen Prozess als eine dialektisch-historische Entwicklung, die am Berg Sinai begonnen habe und in einem notwendigen geschichtlichen Ziel – dem Messiasreich – enden werde. An mehreren Stellen seiner Predigten betont Herzfeld, schon in der Gegenwart glaubten zwei Drittel der Menschheit an einen monotheistischen Gott, und erblickt in diesem Umstand ein klares Zeichen des stetigen Fortschritts, den das Messiasreich im Laufe der Geschichte gemacht hat. Die kontinuierliche Ausweitung dieses Reiches versteht er allerdings nicht nur geographisch, sondern auch im Sinne einer ständigen Verfeinerung seines theologischen Inhalts. Das Entscheidende in der Geschichte liegt dem zufolge nicht in der Macht von Königen und ihren Kriegen, sondern im Fortschritt des Messianismus, d.h. in der wachsenden Gotteserkenntnis. Hier liegt ein klassisches Beispiel von counter history vor: Der Triumph einer missionarischen Idee, die vom schwächsten aller Völker durch die Jahrhunderte getragen wird, wird hier zum entscheidenden Kriterium historischen Fortschritts und universaler Vollendung der Menschheit erhoben. Die wesentliche Frage der Menschheitsgeschichte lautet daher nach Herzfelds Interpretation, welchen Fortschritt das Messiasreich gemacht habe. Dieser Fortschritt ist jedoch kaum auf friedlichem Wege zu erreichen: Den Irrtum zu bekämpfen, bedeutet sich Feinde zu machen, die niemals vergeben. Dieser Kampf ist der eigentliche Hintergrund der talmudischen Ankündigungen, dem Messiasreich würden große Schlachten vorausgehen. Weil Israel von Beginn an gegen alles ankämpfte, „was die irrende Menschheit hoch und theuer hielt“, gestaltete sich die reale jüdische Geschichte so leidvoll und tragisch. Wie im Falle des Götzendienstes liegt auch hier eine theologisch-psychologische Deutung historischer oder politischer Ereignisse vor: Die Lehre des Judentums „war von Anfang an im Kriegszustande mit den Schwächen und Irrthümern der Menschen“, so Herzfeld, und deshalb ist dieser Kampf, trotz der politischen Emanzipation des Judentums in der Neuzeit, „noch nicht ausgekämpft“. Der Krieg der Völker gegen Jerusalem, von dem die Propheten sprechen, ist daher nichts anderes als eine Metapher für den Widerstand gegen die Lehre des Judentums, die natürliche menschliche Abneigung gegen die Lehre Gottes. Das Leiden des Messias schließlich, seine Geburtswehen (‫)חבלי המשיח‬, von denen der Talmud häufig spricht, symbolisieren das Leiden des jüdischen Volkes auf dem Weg zur schließlichen Anerkennung der messianischen Herrschaft.142 Diese radikale Neu-Interpretation und Allegorisierung messianischer Themen geht in Herzfelds zweiter Predigt mit einer ausführlichen Diskussion der Frage

142 Herzfeld, Zwei Predigten, 22f. Vgl. bT San 98b (‫ )חבלו של משיח‬und Sotah 49b, San 97a etc.

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einher, ob das jüdische Zeremonialgesetz in der Messiaszeit weiterhin Gültigkeit besitzen werde. Ihren Grund hat diese Frage darin, dass die rabbinische Literatur zahlreiche Hinweise auf die Erwartung enthält, der Messias werde eine „neue Torah“ mit sich bringen, die offensichtlich in mancherlei Hinsicht zu den früheren, den biblischen Vorschriften im Widerspruch stehen wird.143 Dahinter steht der talmudische Gedanke vom Joch-Charakter der biblischen Gebote,144 der am Ende der Zeiten in einem messianischen Erlösungsakt aufgehoben werden wird: Die Belastung durch bestimmte religionsgesetzliche Einschränkungen, welche die Frommen aus Gottesfurcht freiwillig auf sich nehmen, werden ihnen vom Messias bei dessen Ankunft erlassen.145 Selbst Moses Mendelssohn, für den das jüdische „Ceremonialgesetz“ vor allem Abgrenzungscharakter hatte, vermochte sich noch eine wunderbare „zweite öffentliche Erscheinung“ vorzustellen, einen zweiten Propheten auf mosaischem Niveau, der „neue Religionsübungen einführen wird“, die es den Völkern der Welt ermöglichen sollen, nunmehr gemeinsam ihren Schöpfer zu verehren.146 Diesen traditionellen Gedanken haben sich dann später radikale Reformer, vor allem Samuel Holdheim, zu eigen gemacht, die den Beginn der Messiaszeit mit der bürgerlichen Emanzipation identifizierten und auf diese Art das von ihnen befürwortete Außerkraftsetzen bestimmter gesetzlicher Vorschriften talmudisch zu rechtfertigen suchten.147 Aus Herzfelds Sicht verbirgt sich hinter diesem Problem vor allem die Frage, ob in der Messiaszeit alle Völker zum Judentum konvertieren werden, und seine Antwort ist eindeutig negativ. Schon der Talmud kannte die Regel “‫מצוות בטולות‬ ‫( “לעתיד לבוא‬bT Nidah 65b),148 und dieser kühne Satz findet, so Herzfeld, seine

143 Augehend von Jesaja 51, 4 (von Zion kommt die Torah) wurde daraus im Midrasch Levitikus Rabah, Kap. 13 schon „eine neue Torah“; im Jalkut Shimoni (13. Jahrhundert) wird diese neue Torah dann unmittelbar vom Messias gegeben (vgl. Jalkut Shimoni zu Jesaja 26). Vgl. hier auch den Midrash Kohelet Rabah (Kap. 11), wo die Torah, die der Mensch in dieser Welt lernt, im Vergleich zur Torah des Messias als „nichtig“ (hevel) bezeichnet wird. 144 Joch der Gebote oder Joch des Himmels – vgl. u.a. Mishnah Ber. 2, 2. Vgl. auch Avot 3, 6 und bT Ber. 61b, wo R. Akiva bei seiner brutalen Hinrichtung das „mit ganzer Seele“ (Deuteronomium 6, 5) als Annahme des Jochs des Himmels interpretiert. 145 Mitunter kündigen die talmudischen Rabbiner etwa als Belohnung für das Befolgen der Speisevorschriften die Erlaubnis des Genusses unkoscherer Speisen im Messiasreich an; vgl. LevR 13, 3. 146 Mendelssohn, Schriften zur Philosophie, 594. 147 Vgl. Samuel Holdheim, Das Ceremonialgesetz im Messiasreich (Schwerin: Kürschner, 1845), 44–46 und S. 183 in diesem Band. Vgl. auch die kritische Diskussion dieses Themas bei Hermann Cohen, Religion der Vernunft, 424f. 148 „In der Messiaszeit werden (die) Gebote ausgesetzt“ – der Kontext dieser oft zitierten Stelle setzt allerdings voraus, dass die Errichtung des Messiasreiches doch von Wundern begleitet



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Rechtfertigung, wenn man sich die Gründe für das Einsetzen des jüdischen Zeremonialgesetzes vergegenwärtigt. Um dem „unentwickelten Geiste“ der frühen Israeliten zu Hilfe zu kommen, waren es im Wesentlichen drei Ziele, die die biblischen Zeremonien erreichen sollten: die Erziehung zum Monotheismus, die Vermeidung eines engeren Kontaktes mit den heidnischen Nachbarvölkern und die Bewahrung der Erinnerung an besonders wichtige Ereignisse der israelitischen Geschichte durch die Einsetzung der jüdischen Feiertage.149 Alle drei Gründe werden in der messianischen Zeit jedoch hinfällig, denn per definitionem werden dann alle Völker monotheistisch sein. Interessanter ist das zweite Argument: Der Beginn eines universellen Friedensreiches auf Erden, behauptet Herzfeld, wird als ein so bedeutendes Ereignis empfunden werden, dass selbst der Exodus aus Ägypten dagegen verblassen muss und seine fortdauernde Vergegenwärtigung im Pessachfest obsolet wird. Auch hier hätte er sich auf talmudische Passagen berufen können, die die Aussetzung der jüdischen Feste mit der Messiaszeit verbinden; vermutlich hatte er solche Texte vor Augen, machte aber in der Predigt keinen Gebrauch davon.150 Von praktischer Bedeutung für die jüdische Reformbewegung des neunzehnten Jahrhunderts war darüber hinaus die Frage, wann eine solche Aussetzung der Gebote beginnen sollte, ob man also in dieser Hinsicht von einem Anbrechen des messianischen Zeitalters bereits in der Gegenwart reden dürfe. Während Samuel Holdheim diese Frage wenig später klar bejahte, weicht Herzfeld ihr hier offensichtlich aus, denn er setzt den messianischen Prozess einfach mit der gesamten theologischen Geschichte des Judentums gleich. Das Judentum, erklärt er, kannte zu allen Zeiten Reformer und Reformtheologen, und neben den Propheten seien es auch die Talmudisten selbst gewesen, die unter der Hand viele biblische Gesetze abgeschafft hätten, „weil Israel weiter gekommen war“. Während nun in den über tausend Jahren mittelalterlicher Unterdrückung des Judentums der messianische Prozess in eine Art lethargischer Stagnation gefallen sei, habe das Messiasreich in der Neuzeit wieder große Fortschritte gemacht. Es sind eben diese Fortschritte, schließt Herzfeld, die das Fallenlassen bestimmter Religionsgesetze heute rechtfertigen. Es ist als riefen uns die Talmudisten zu: „thuet es

wird, im konkreten Fall von der Auferstehung der Toten, was Herzfeld sicher abgelehnt oder zumindest allegorisch uminterpretiert hätte. 149 Herzfeld, Zwei Predigten, 24. 150 Vgl. hier den Midrasch zu Mishlei (9. Kap.), wo es allerdings heißt, dass das Purimfest niemals aufgehoben wird, woraufhin Rabbi Eleasar hinzufügt: auch der Versöhnungstag. Maimonides’ Kodex übernimmt die Ewigkeit von Purim, lässt aber alle Prophetentexte und Hagiographia in der Messiaszeit ihre Geltung verlieren. Die Feste des Pentateuchs und sogar das gesamte mündliche Gesetz bleiben aber in Geltung (Megilah 2, 18).

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

freimüthiger, als wir es durften, wir waren gebunden, euere lichte Zeit sollte die Umwege verschmähen!“151 Dieser ausdrückliche Aufruf zu religiösen Reformen im Namen eines neuformulierten Messianismus bedeutete jedoch keineswegs, dass Herzfeld das messianische Ziel als mit der bürgerlichen Emanzipation der Juden und mit dem sozialen wie moralischem Fortschritt der Moderne als bereits erreicht erachtet hätte. Der Braunschweiger Rabbiner war zudem ein typischer Vertreter der eher gemäßigten Reform, die er, wie gezeigt, noch dazu unbedingt mit talmudischer Autorität legitimieren wollte. Hier vor allem sollte kurze Zeit später Holdheims Kritik an Herzfeld ansetzen, der im Gegensatz zu dem radikalen Reformer jedoch nicht glaubte, dass das schon angebrochene Messiasreich das Reformieren des Judentums gestatte, sondern überzeugt war, dass auf dem Weg zu diesem Reiche im Gegenteil die jüdische Religion „noch einen Läuterungsprozess durchzumachen“ habe, also erst eine echte Reform den messianischen Prozess vorantreiben könne. Zum Abschluss könne dieser Prozess ohnehin erst dann kommen, wenn auch die Tochterreligionen „so dastehen, dass wir eine vollständige Verschmelzung mit ihnen anstreben dürften“ – also erst in einer fernen Zukunft. Bis dahin müssen, so Herzfeld, im Judentum „mancherlei trennende Ceremonien in Übung bleiben“, und zwar vor allem um der Bewahrung seiner theologischen Eigenheiten willen, die er als Garanten für die zukünftige Verwirklichung des messianischen Ideals verstand.152 Damit hat er eine Position erreicht, die in ihrer ursprünglichen Form auf Moses Mendelssohn zurückgeht, der in seinem berühmten Brief an Herz Homberg von 1783 gefordert hatte, das Zeremonialgesetz beizubehalten, solange sich der reine Monotheismus nicht überall durchgesetzt habe.153 Die Reformer der neunzehnten Jahrhunderts hielten im Allgemeinen an dieser Grundidee fest: Die Teile des rabbinischen Recht, die sie nicht als veraltet verwarfen, wurden mit dem Hinweis begründet, sie dienten ausschließlich zur Bewahrung des Judentums als dem einzigen Träger eines reinen Monotheismus. So schreibt beispielsweise der Magdeburger Rabbiner Ludwig Philippson in einer für die Missions-Theologie typischen Predigt zum 9. Av 1845: „Israel hat den Beruf, die Lehre des einigen Gottes zu tragen, bis die ganze Menschheit sich zu ihr bekennt […] wir können nicht werden wie ihr, als bis ihr geworden wie wir, als bis ihr ohne Zusatz, ohne Bedingung, ohne Klausel sagt: der geoffenbarte einige Gott, den Israel bekennt

151 Herzfeld, Zwei Predigten, 26. 152 Ebenda, 28. 153 Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften (Jubiläumsausgabe), Bd. 13 (Stuttgart: Frommann, 1977), 134.



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[…] der allein ist Gott.“154 Dieses Argument wird sich dann auch fast wörtlich in Hermann Cohens Spätwerk zur Religion der Vernunft wiederfinden, wo die Beibehaltung trennender Zeremonien ebenfalls vom religiösen Fortschritt der anderen monotheistischen Religionen abhängig gemacht wird.155 Auch unabhängig von dieser auffälligen Übereinstimmung mit Cohen und vielen anderen Reformtheologen weisen Herzfelds Messias-Predigten von 1844 alle Merkmale des liberalen Messianismus des neunzehnten Jahrhunderts in so klarer Ausprägung auf, dass sie als geradezu klassische Belegtexte für die moderne Umwandlung des traditionellen jüdischen Messiasgedankens gelten können. Relevante Kritik an dem zuletzt genannten Aspekt der fortdauernden Observanz formulierte im Grunde nur Samuel Holdheim, dessen Messianismuskonzept dadurch noch um ein Vielfaches radikaler wurde und wohl deshalb – wie auch im Falle anderer Elemente seines Reformprogrammes – unter den jüdischen Theologen seiner Zeit kaum Widerhall fand.

Samuel Holdheim Nur ein halbes Jahr nach dem Erscheinen von Herzfelds klassischen MessiasPredigten veröffentlichte Holdheim eine eigene Monographie zum Thema Messianismus, in der er – neben der ausführlichen Darlegung seiner eigenen Position zur Frage des Zeremonialgesetzes in der Messiaszeit – auch der Kritik an Herzfeld breiten Raum widmete. Seine Schrift bietet im Grunde einen langen theologischen Beweis für die oben erwähnte talmudische Regel, der zufolge in einem zukünftigen Messiasreich das jüdische Zeremonialgesetz aufgehoben sei. Holdheim, der dem Talmud in diesen Fragen aber keinerlei Autorität zumisst, führt diesen Beweis nun mit seinen eigenen Argumenten, die jedoch interessanterweise immer aus dem rabbinischen Fundus schöpfen: Er will die Talmudisten mit ihren eigenen Waffen schlagen, ihr starres Festhalten am Gesetz mit logischer Konsequenz ad absurdum führen. Dabei bedient er sich ohne weitere Begründung eines „geistigen“ Modells der Messiaslehre, die auch von ihm als „freiester Universalismus“ und als „Weltregierung Gottes“ bezeichnet wird, unter der einst alle Religionen verschmelzen werden.156 In diesem Sinne muss das Festhalten an einem besonderen jüdischen Zeremonialgesetz in der Messiaszeit natürlich

154 Ludwig Philippson, „Das Wort der Völker an Israel und das Wort Israels an die Völker, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 9 (1845): 531. 155 Cohen, Religion der Vernunft, 395. 156 Holdheim, Das Ceremonialgesetz im Messiasreich, 40.

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als „wahre Absurdität“ gelten. Wird aber der jüdische Partikularismus im messianischen Reich notgedrungen untergehen, so steht das Zeremonialgesetz auch „für die Gegenwart schon auf sehr schwachen Füßen“. In einer überraschenden Wendung des Gedankens, der bei Herzfeld noch die Beibehaltung trennender religionsgesetzlicher Vorschriften begründet hatte, forderte Holdheim, wer ernsthaft an der Herbeiführung des Messiasreiches arbeiten wolle, müsse doch gerade bestrebt sein, alles Trennende zwischen dem Judentum und den anderen Völkern zu beseitigen und „die Einigung im Geiste und in der Liebe mit der Menschenwelt immer größer zu machen“. Als ewiges Vorbild in partikularistischer Gesetzestreue auszuharren, bis die anderen Religionen den universellen messianischen Gedanken annehmen, wie es Herzfeld vorschwebt, wäre nach Holdheims Überzeugung für die Juden kein in sich folgerichtiger Weg zum Messiasreich: „Von Absonderungsgesetzen heute noch und in religiösem Interesse zu reden und im Leben Notiz zu nehmen, würde heißen: das Messiasreich in immer größere Ferne hinausrücken.“ Die Theokratie sei untergegangen, ruft er schließlich aus „und aus den letzten Flammen, die über Tempel und Altar zusammenschlugen, ist der Messias geboren.“157 Holdheim war allerdings der Auffassung, dass die hier zugrunde liegende „geistige“ Messiasauffassung eindeutig im Widerspruch zum Messianismus des Talmud stand und nicht, wie viele andere Reformtheologen seiner Zeit annahmen, etwa nur eine konkurrierende Denkschule zur politisch-restaurativen Sicht darstellte. Für seine zentrale Frage nach der Aufhebung des Gesetzes im Messiasreich spielte das jedoch, wie er betonte, eigentlich keine Rolle. Selbst der davidische Erlöser-König der rabbinischen Tradition solle ja „die ganze Menschheit zur Annahme der sieben Noachidischen Gebote zwingen“ und sie damit zu Monotheisten machen.158 Auch gegenüber nichtjüdischen Monotheisten, so Holdheim, entbehrten die strengen Absonderungsgesetze des Judentums jeglichen Sinnes, selbst wenn es im Messiasreich keine Vereinigung der Religionen und Völker geben sollte. Seine Argumentation beruht allerdings auf zwei wichtigen Voraussetzungen: Zum einen lässt eine wörtliche Interpretation der Noachidischen Gebote, die nur den Götzendienst verbieten, theoretisch auch die Möglichkeit des Atheismus zu, was er jedoch offensichtlich nicht vor Augen hatte. Zum anderen

157 Ebenda, 41f. [Hervorhebung im Original]. Hier verbirgt sich ein bekanntes rabbinisches Motiv, dem zufolge der Messias am Tag der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (9. Tag des Monats Av) geboren wurde; vgl. den Midrasch Eicha Rabba 1,51 und pT Berachot 17b (2, 4/12– 14). Diese Legende bekam später eine gewisse historische Bedeutung durch das Auftreten von Sabbatei Zwi, der behauptete am 9. Av geboren zu sein. 158 Ebenda, 40, Zu den Noachidischen Geboten vgl. bT San 56a–b und David Novak, Natural Law in Judaism (Cambridge und New York: Cambridge University Press, 2008).



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jedoch, und diese Möglichkeit diskutierte er ausführlich, geht das Wegfallen des Grundes für die Einsetzung eines Gebotes nach rabbinischem Recht keineswegs mit der Aufhebung eines solchen Gebotes einher, vielmehr kann die Abschaffung biblischen und talmudischen Rechts nach dem Talmud nur durch eine Instanz erfolgen, die zumindest die gleiche (oder höherer) Autorität besaß wie diejenige, die das Gebot ursprünglich erlassen hatte.159 Hier genau liegt der Grund, weshalb sich Mendelssohn gezwungen sah, die Möglichkeit einer zweiten Offenbarung einzuräumen, denn biblische Verordnungen scheinen nach dieser Regel im traditionellen Sinn nur durch einen neuen Propheten aufzuheben zu sein, was – wie gezeigt – aber in einem gewissen Widerspruch selbst zur traditionellen jüdischen Messiaslehre steht. Holdheim wirft den alten und neuen Talmudisten deshalb eine „rein juristische Auffassung der Religion“ vor, die sie auch auf die Messiaszeit auszuweiten versuchten. Nach der Überzeugung moderner Rabbiner jedoch, „die Religion aus rein religiösen Gesichtspunkten auffassen“, lege Gottes Weisheit nahe, dass er in einem zukünftigen Messiasreich alle Absonderungsgesetze aufheben werde, da sie dann bedeutungslos geworden seien. Unter dieser Voraussetzung ergibt sich laut Holdheim folgerichtig, dass die Aufhebung des Zeremonialgesetzes bereits „in den Plänen der Vorsehung zur Herbeiführung eines messianischen Reiches von vorn herein als in Gottes Weisheit und Liebe nothwendig begründet gelegen haben muß“. Trifft aber diese Prämisse zu, so folgert er, dann wäre eine teilweise Abschaffung der Absonderungsregeln in der Gegenwart nichts anderes als ein Fortschritt des Messiasreiches. Dies nun ist der Punkt, auf den seine gesamte Argumentation hinzielte: eine messianisch begründete Rechtfertigung der religiösen Reform des Judentums, deren praktische Durchsetzung er anstrebte. Deutlich wird allerdings auch, wie wenig dabei für Holdheim der Messias theologisch tatsächlich von Bedeutung ist und wie sehr aus seiner Sicht die historische Überholtheit des rabbinischen Gesetzes den eigentlichen Grund für die Notwendigkeit darstellt, es abzuschaffen: „Wird denn der Ausspruch durch den Mund des Messias deutlicher und vernehmlicher sein, als der Ausspruch durch die achtzehnhundertjährige Geschichte“, fragt er und meint damit eine Geschichte, die den Juden nicht die Absonderung, sondern das Leben unter den anderen Völkern aufgetragen hat. Die rabbinisch verordnete Ewigkeit des Zeremonialgesetzes, so Holdheims Fazit, lässt sich nicht vor der Konsequenz der Idee eines Messiasreiches retten, in dem der „Geist der schrankenlosen, umfassenden Menschenliebe“ herrscht.160

159 Holdheim selbst verweist hier zu Recht auf die Diskussion in bT Beza 5b. 160 Holdheim, Das Ceremonialgesetz im Messiasreich, 40.

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An dieser Stelle seines Werkes bricht Holdheim die Darstellung seiner eigenen Position abrupt ab und geht zu einer ausführlichen Kritik der Predigten Herzfelds über. Interessant ist vor allem, dass er Herzfeld in den wesentlichen Punkten nahezu vorbehaltlos zustimmt und lediglich an dessen Versuch Anstoß nimmt, die neuformulierte Messiaslehre der Reformtheologen weiterhin aus dem Talmud zu begründen. Dieser Vorwurf findet seinen ideengeschichtlichen Hintergrund in einer interessanten Debatte, die sich durch die gesamte religiöse Aufklärung der jüdischen Moderne zieht: Ist religiöse Reform Innovation oder die Wiederherstellung eines ursprünglich reinen Charakters des Judentums, d.h. das Auffinden eines authentischen spirituellen Kerns in einer dicken, vertrockneten Schale aus mit der Zeit gewucherten Regulierungen? Ähnlich wie viele der Maskilim im achtzehnten Jahrhundert, die einen biblischen „Mosaismus“ wiederzufinden versuchten, begannen die Reformtheologen des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland die rabbinische Tradition auf ihre ursprünglichen, noch nicht korrumpierten Elemente hin zu durchsuchen. Leopold Zunz etwa erblickte schon 1832 den Sinn religiöser Reformen in der „Wiederherstellung, in der Rückkehr von dem Mißbrauche zum dem Brauch, welches die Rückkehr von der erstarrten zur lebenskräftigen Form ist“.161 Abraham Geiger versuchte in einem Buch über die Mischna zu zeigen, dass deren frühe Textebenen noch unverfälschte rabbinische Exegese enthielten und dass die Gemara die mischnaischen Regeln oft missverstanden habe.162 In diesem Sinne stützte sich auch die Mehrheit der ersten Reformrabbiner zur Rechtfertigung der von ihnen vorgeschlagenen Änderungen des rabbinischen Rechts auf den Talmud selbst oder zumindest auf talmudische Passagen, in denen sie ihre eigenen Intentionen wiederzuentdecken glaubten. Nur wenige radikale Theologen, an ihrer Spitze zweifellos Holdheim, lehnten diese Methode ab.163 „Es ist eine unverzeihliche Schwäche, die man endlich von sich fern halten soll“, betonte er, „den steifgewordenen Händen des Talmuds die Fahne des Fortschritts aufzudrängen“.164 Holdheim hegte nicht zu Unrecht

161 Leopold Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden (Berlin: Asher, 1832), 479. 162 Abraham Geiger, Lehr und Lesebuch zur Sprache der Mischnah (Breslau: Leuckart, 1845); vgl. auch Abraham Geiger, „Das Verhältnis des natürlichen Schriftsinnes zur thalmudischen Schriftdeutung“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 1 (1844): 53–81 und 2 (1844): 243–259. Max Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (Berlin: Philo, 1933), 10f., behauptet allerdings, auch Geiger sei trotz gegenteiliger Äußerungen im Grunde überzeugt gewesen, etwas vollkommen Neues zu leisten. 163 Vgl. etwa Samuel Holdheim, Das Gutachten des Herrn L. Schwab zu Pesth, über die Religionsgenossenschaft daselbst (Berlin, Sittenfeld, 1848), 8. 164 Holdheim, Das Ceremonialgesetz im Messiasreich, 49. „Es ist endlich Zeit, daß man sich dem Talmud gegenüber stark genug fühle und mit dem über ihn längst hinausgegangenen



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den Verdacht, dass die Reformer vor allem aus apologetischen Motiven auf ausgewählte Talmudstellen zurückgriffen, und forderte, die Reform des Judentums müsse aus dem religiösen Bewusstsein der Gegenwart anstatt aus der talmudischen Zeit heraus verstanden und begründet werden. Allein das Eingeständnis der Fortentwicklung dieses Bewusstseins im Vergleich zu Bibel und Talmud biete eine ehrliche Grundlage für eine Erneuerung der jüdischen Religion, wie er das Ziel seiner Reformbestrebungen unverhohlen charakterisierte. Vor diesem Hintergrund muss auch Holdheims Kritik an Levi Herzfeld verstanden werden. Wenn Herzfeld „zwei seinem Gedächtnis vorschwebende agadische Floskeln“ aus dem Talmud zitiere und glaube, damit die Position des gesamten Talmuds zur Frage des Gesetzes in der Messiaszeit anzugeben, so Holdheims schonungslose Analyse, mache er sich einer „handgreifliche(n) Unwahrheit“ schuldig. Der Talmud schrieb die Ewigkeit des Zeremonialgesetzes eben deshalb vor, weil er voraussetzt, dass auch seine zwischenzeitlich unerfüllbaren Gebote in einer restaurativ verstandenen Messiaszeit wieder erfüllbar werden. Hatte Holdheim in der Darstellung seiner eigenen Position noch ausführlich die Inkonsequenz dieser talmudischen Vorstellung nachgewiesen, so bringt er dieses Argument nun unvermindert gegen Herzfelds Harmonisierungsversuch in Stellung. Die Talmudisten waren keine – noch so zaghaften – Reformer, und ihr religiöses Bewusstsein unterschied sich nicht wesentlich von dem ihrer Vorgänger, jedenfalls keinesfalls in dem Maße, wie sich das gegenwärtige von dem der talmudischen Zeit unterscheidet. Hätte Herzfeld Recht und die talmudischen Rabbiner betrachteten die Gegenwart tatsächlich als eine lichtere Zeit als die talmudische, so würden sie Reformen wohl kaum aus dem Talmud begründen. Aber auch im Sinne seiner eigenen Messianismusdeutung hatte Herzfeld aus Holdheims Sicht Unrecht, wenn er angesichts des fortdauernden Läuterungsprozesses der monotheistischen Tochterreligionen ein vorläufiges Festhalten am jüdischen Zeremonialgesetz forderte. Das mag für eine heidnische Vergangenheit gegolten haben, so Holdheim, oder für die jahrhundertelange christliche Judenverfolgung, doch in der Gegenwart, wo „die Pflicht der Selbsterhaltung keine solche Rücksichten mehr gebietet“, sei weiteres Warten auf die Aufhebung trennender Zeremonien hinfällig. Wenn das Judentum tatsächlich die Idee der universellen Menschenliebe hervorgebracht hat, wie Herzfeld behauptet, dann sollten die Juden der Gegenwart gerade deshalb nicht zögern, die partikularistischen Schranken um der Liebe zu ihren christlichen Nachbarn willen aufzuheben:

Bewußtsein ihm entgegentrete, nicht bei jedem Schritte vorwärts mit den schweren Folianten sich fortzuschleppen, und ohne sie aufzuschlagen, ihnen eine unschuldige Aeußerung abzulauern, um darauf das Fundament des Fortschrittes zu begründen“ (S. 187 in diesem Band).

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„Wer eine Wahrheit zuerst gefunden, der lege sie zuerst auf den Altar der Menschheit nieder und zögere nicht, bis diese Wahrheit auch ohne ihn auf schwierigen Umwegen gefunden sein wird; sein Verdienst, sie gefunden zu haben, geht verloren, wenn er, statt sie zu verbreiten, in seiner Brust sie tief verschlossen hält.“165 In den abschließenden Passagen seines Buches beschreibt Holdheim dann auf der Grundlage des bis dahin Gesagten doch noch seine eigene Vision eines messianischen Reiches und der Art und Weise seiner Herbeiführung. Die Juden hätten die Pflicht, allen anderen Konfessionen in Toleranz, Offenheit und Universalismus voranzugehen, gerade weil sie sich von Anfang an dazu berufen glaubten, dereinst kraft ihrer göttlichen Erwählung die Voraussetzungen für ein universelles Messiasreich zu schaffen. Die messianische Idee des Judentums besteht Holdheim zufolge nicht darin, „dass alle Menschen Juden, sondern daß die Juden Menschen werden würden, nachdem alle Übrigen es geworden“. Im Zurückweisen der früheren Volksgebundenheit der Juden, unabhängig von der Reaktion der nichtjüdischen Umwelt, liegt aus seiner Sicht der Anfang des messianischen Reiches. In Holdheims Interpretation begegnet also eine von der Mehrheit der jüdischen Reformtheologien leicht abweichende Vorstellung eines erneuerten Messianismus, die sich vor allem auf die Auswirkungen einer liberalen, ethischuniversalen Messiaslehre auf die religiösen Erfordernisse der Gegenwart konzentriert. Gerade darin wird jedoch sichtbar, wie weit die Umformung des traditionellen Messiasbegriffs Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bereits fortgeschritten war, denn die für frühere Ansätze bedeutenden Fragen –nach einer Personifizierung des Messias, nach seinem von Wundern begleiteten Erscheinen oder nach einer territorialen Restauration Israels in der Messiaszeit – spielten für Holdheim längst keine Rolle mehr. Zwei Jahre nach dem Erscheinen dieser Schrift übernahm Holdheim die Stelle des Predigers bei der Berliner Reformgenossenschaft, die bislang ohne rabbinische Begleitung ausgekommen war. Diese radikale Reformgemeinde war aus einem Kreis jüdischer Intellektueller hervorgegangen, die sich 1845 um den Schuldirektor Sigismund Stern (1812–1867) zusammengefunden hatte, der bis zu Holdheims Ankunft der theologische Wortführer der Gruppe war.166 Stern vertrat

165 Ebenda, 71 [Hervorhebung im Original]. 166 Zu Stern vgl. Meyer, Antwort auf die Moderne, 187–189; Ralph Bisschops, „Samuel Holdheim and Sigismund Stern: The Clash between the Dogmatic and Historicist Approach in Classical German Reform“, in: Wiese (Hg.), Redefining Judaism in an Age of Emancipation, 241–277; Arthur Galliner, Sigismund Stern, der Reformator und der Pädagoge (Frankfurt: Englert und Schlosser, 1930) und zur Geschichte der Reformgenossenschaft vgl. Immanuel Heinrich Ritter, Die jüdische Reformgemeinde zu Berlin und die Verwirklichung der jüdischen Reformideen innerhalb derselben (Berlin: W. J. Peiser, 1902).



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wie Holdheim die selbst in Reformkreisen neue Ansicht, das Judentum der Gegenwart müsse sich ausschließlich durch sein zeitgenössisches religiöses Bewusstsein definieren, statt durch überlieferte Texte oder tradierte Regeln oder durch die von weniger radikalen Reformen wie Abraham Geiger bevorzugte Durchforschung der jüdischen Geschichte nach Vorbildern eines authentischen Spiritualismus. Theoretische Grundlage der religiösen Ideen der Reformgenossenschaft waren die öffentlichen Vorlesungen über das Judentum von 1845, durch die Stern weithin bekannt geworden war. Eine dieser inhaltlich komplexen theologischen Vorlesungen behandelte auch das Messiasreich.

Sigismund Stern Sigismund Sterns Darstellung der messianischen Zukunft aus der Sicht des Judentums trägt, abgesehen von der Erörterung der üblichen universalistischen Elemente der Reformtheologie, auch religionsphilosophische Züge, die erneut einige Denkansätze Hermann Cohens vorwegnehmen. Der radikale Reformer, der seine Messias-Lehre aus einer profunden Kenntnis der biblischen Prophetie herleitet, geht mit den messianischen Texten der Propheten tatsächlich aber viel ungezwungener um als viele andere liberale Theologen: So kann er etwa ohne weiteres zugestehen, dass alle biblischen Propheten letztlich eine politische Restauration Israels im Heiligen Land fordern. Darüber hinaus kritisiert er offen den eudämonistischen Klang einiger der prophetischen Beschreibungen des zu erwartenden messianischen „Schlaraffenlandes“. Diese Schilderungen, so räumt er unumwunden ein, können wir „nicht zum Gegenstande unsres Glaubens und noch viel weniger unsres sittlichen Strebens machen“.167 Insbesondere in der letzten Aussage trifft sich Stern mit dem Denken Cohens, der selbst immer wieder ablehnen sollte, die messianische Zeit als eudämonistischen Utopismus zu sehen.168 Prägend für die Messiaszeit ist laut Stern, wie später für Cohen, vor allem der Aspekt der allgemeinen Gotteserkenntnis. Allerdings folgt er in der Frage der „Absonderungsgesetze“ eher Samuel Holdheim und geht an einigen Stellen noch über ihn hinaus. Mit Israels „freiwilliger Entsagung des ausschließlichen Anrechts auf die Gotteserkenntniß“ im Messiasreich geht gemäß seiner Deutung auch das „selbstbewußte Aufgeben der Abschliessung“ einher, in welcher das mosaische Gesetz das israelitische Volk erhalten zu müssen glaubte“. Erst mit

167 Sigismund Stern, Die Religion des Judentums in acht Vorlesungen (Berlin: Bernstein, 1846), 180. 168 Cohen, Religion der Vernunft, 291.

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der Selbstbefreiung von der gesetzlichen Schranke, „von welcher das sittliche Streben des Juden in den nationalen Verband eingeschlossen war“, beginnt für Stern die eigentliche Messiasidee, die so über die messianischen Hoffnungen des Judentums weit hinauswächst.169 Überhaupt fällt in Sterns Darstellung auf, in welch starkem Maße er gerade die „Sittlichkeitsidee als das Wesen der messianischen Hoffnungen“ ansieht.170 Dabei kommt es zum ersten Mal in der jüdischen Reformtheologie zu einer expliziten gedanklichen Verbindung zwischen den beiden zentralen Elementen der Theorie einer jüdischen Mission an die Kultur der Welt: dem Monotheismus und der Ethik. „Die wahrhafte Erkenntniß von der Unendlichkeit des göttlichen Wesens wird zum Quell für die Unendlichkeit unsres sittlichen Strebens, welches keine Schranke anerkennt, die uns zu gebieten vermöchte“, formuliert Stern mit Bezug auf die messianische Zeit.171 Diese Ableitung einer absoluten Ethik aus dem Prinzip des Monotheismus wird später in der systematischen Philosophie Hermann Cohens zum entscheidenden Beweis dafür, dass der prophetische Messianismus im monotheistischen Gedanken von vornherein angelegt sei: „Die Einheit Gottes bedeutet von Anfang an nichts Anderes als die Einheit der Menschheit“, schreibt Cohen in seiner Ethik des reinen Willens, und wenigstens innerhalb der Religion ist der monotheistische Gott „der methodische Grund der sittlichen Erkenntnis“.172 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern unternimmt es Stern zudem, die von den Propheten angekündigten Umwandlungen der Natur in der Messiaszeit in seine philosophische Deutung einzubeziehen. So ernst nimmt er die prophetischen Texte, dass er diese Schilderungen nicht, wie viele vor ihm, als Metaphern abtun oder ins Reich der orientalischen Legenden verweisen möchte, vielmehr liest er sie als Hinweis dafür, dass die in der messianischen Zeit herrschende vollendete Sittlichkeit, Harmonie und Frieden nicht allein zwischen Mensch und Mensch, sondern auch zwischen Mensch und Natur herbeiführen wird. Was hier beinahe wie der moderne Gedanke der Bewahrung der Umwelt klingt, findet bei Stern eine theologisch-messianische Begründung. Die beiden Teile der Schöpfung, Mensch und Natur, schreibt er, „können nicht bestimmt sein, sich gegenseitig

169 Stern, Religion des Judentums, 176. 170 Ebenda, 183. 171 Ebenda, 186. 172 Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens (Berlin: Cassirer, 1904), 83 und 203. Im Werk Cohens ist dieser Gedanke von wesentlicher Bedeutung für die Unterscheidung von Ethik und Religion, mit der er zeitlebens rang.



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zu bekämpfen und zu zerstören, sondern zu dem unbegreiflichen und einigen Zweck der göttlichen Schöpfung gemeinsam mitzuwirken“.173 Daraus ergibt sich nun für Stern, wie zuvor für Holdheim, die wichtige Frage nach den Folgen einer solchen Auffassung des Messianismus für seine unmittelbare Gegenwart. Doch anders als Holdheim beantwortet er diese Frage vor allem philosophisch: Die Messiasidee des Judentums kann nicht nur Glaube und Hoffnung bedeuten, wie sie traditionelle Quellen im Allgemeinen verstehen. Die Verwirklichung einer universellen Sittlichkeit muss vielmehr als moralische Pflicht verstanden werden, denn das Verlangen nach einer besseren Zukunft, das in den messianischen Prophezeiungen der Bibel zum Ausdruck kommt, ist das Produkt eines sittlichen Pflichtbewusstseins. Messianismus wird bei Stern damit vor allem zu einer konkreten Aufgabe des Menschen, die aus seiner religiösen Erkenntnis hervorgeht. Damit allerdings wird auch für ihn die „Verkündigung der Messiasidee der Beginn der Messiaszeit“, denn einmal als sittliche Aufgabe erkannt, hat ihre Verwirklichung bereits in der Gegenwart begonnen.174 Die auf diese Weise konsequent zu Ende gedachte radikale Umformung des traditionellen jüdischen Messianismus besteht also nicht nur in einer EntPersonifizierung und Universalisierung des traditionellen Messiasgedanken, sondern verlegt nun auch – mit Hilfe der Deutung des Messianismus als moralische Pflicht – das Einsetzen der eigentlichen Messiaszeit in die unmittelbare Gegenwart. Damit hatte die Messiaslehre der jüdisch-liberalen Theologie nicht nur jeden restaurativen, sondern auch ihren eschatologischen Aspekt vollständig verloren. Sie war, wie Hermann Cohen es später ausdrücken sollte, zum „Ideal im Gegensatz zur Wirklichkeit“ geworden, und die Bedeutung des Messias als religionsphilosophische Idee bestand nunmehr darin, der Zukunft einen Sinn zu verleihen – jenen des Ideals der Geschichte.175 Mit Sigismund Stern kann daher die grundlegende theoretische Transformation des jüdischen Messianismus als abgeschlossen betrachtet werden. Die Folgezeit und vor allem die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts brachte, bevor schließlich Hermann Cohen die Ergebnisse dieses Prozesses in seine Religions-

173 Stern, Religion des Judentums, 187. 174 Der Gedanke, den Beginn der Messiaszeit durch sittliche Taten in der Gegenwart zu beschleunigen, hat laut Gershom Scholem seinen Ursprung in der Lurianischen Kabbalah. Das Lurianische Konzept des Tikkun Olam (das allerdings schon auf die Mishnah zurückgeht), gilt dieser Auffassung zufolge als aktiver Messianismus, das Erscheinen des Messias ist identisch mit dem vollendeten Tikkun-Prozess, der für Isaak Luria (1534–1572) allerdings vordergründig in Gesetzesobservanz bestand. Vgl. Gershom Scholem, Major Trends in Jewish Mysticism (New York: Schocken, 1941), 274. Stern war sich dieser Parallele vermutlich nicht bewusst. 175 Cohen, Religion der Vernunft, 291f.

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philosophie einarbeitete, im Wesentlichen nur noch die Wiederholung und fortschreitende Ausbreitung der einmal formulierten neuen Gedanken. 1846/47 veröffentlichte der bereits erwähnte liberale Rabbiner David Rothschild aus Hamm eine zehnteilige Artikelserie im Literaturblatt des Orients, in der er nachzuweisen versuchte, dass sich eine theoretische Begründung der transformierten Messiasidee „aus den Prinzipien des Judentums“ herleiten lasse. In aufwendiger exegetischer Detailarbeit analysierte er unzählige messianische Stellen der hebräischen Bibel, um dem Argument zu begegnen, bei der Messiasidee handle es sich um eine spätere Vereinnahmung, die im ursprünglichen jüdischen Schrifttum, d.h. in den „im Judenthum enthaltenen Offenbahrungslehren“, nicht vorhanden sei. Selbst „das Fortschreitungsprincip“, das sich im modernen jüdischen Messianismus ausdrückt, findet Rothschild schon „in der Messiaslehre an sich ausgesprochen, welche aber einen Zustand vor Augen hat, der sich aus dem Judenthum heraus und der fortschreitenden Geistesbildung seiner Bekenner entwickeln soll“.176 Im Jahre 1860 verfasste dann der eher traditionell orientierte ungarische Gelehrte Samuel Schwarz ein umfangreiches Werk über die talmudischen Quellen des jüdischen Messianismus, in dem die neuen Ideen deutlich zu spüren sind.177 Schon 1858 hatte David Einhorn in Baltimore in dem von ihm edierten Reformgebetbuch die traditionelle Formel des Festtagsgebets ‫יעלה ויבוא‬, die den persönlichen Messias ben David erwähnt, in „zum Andenken an das ganze Volk Israel, Deinen Messias“ umformuliert (‫)וזיכרון כל עמך בית ישראל משיחך‬, um zu betonen, dass auch für ihn und seine Gemeinde der Messias nunmehr mit dem Volke Israel identisch ist.178 1859 war dann ein ausführlicher jüdischer Katechismus des konservativen österreichischen Rabbiners Hirsch Bär Fassel (1802–1883) erschienen, der sich auf acht Seiten mit den messianischen Erwartungen des Judentums beschäftigte. Fassel, ein Absolvent der Jeschiwa von Moses Sofer (1762–1839) in Pressburg, definiert darin das, was das Judentum die Messiaszeit nennt, als „das Reich Gottes auf Erden unter allen Menschen, die wie eine Bruderfamilie leben werden“. Die Quelle für dieses Reich bilden „Einsicht, Erkenntnis und Erleuchtung“, die unter allen Menschen verbreitet sein werden, weil die Menschheit Gott erkannt haben und gemeinsam anbeten wird. Nach weiteren Beschreibungen des Messiasreichs

176 Rothschild, „Der Messiasglaube“, 702 (vgl. Anm. 69). 177 Samuel Schwarz, Die Messias-Zeit: Erläuterungen der Talmudstellen, die Bezug aus Israels Zukunft haben, mit Rücksicht auf unsere Zeit (Wien: Adalbert della Torre, 1860). Vgl. die Seiten 251–279 in diesem Band. 178 David Einhorn, Olat Tamid – Gebetbuch für israelitische Reformgemeinden, zitiert nach der 2. Auflage (Baltimore: Schneidereith, 1862), 13. Der umstrittene Hamburger Reformsiddur von 1841 hatte noch die traditionelle Formulierung, worauf sich seine Autoren zur Verteidigung beriefen (vgl. oben S. 8).



Der Kompert-Prozess 

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stellt sich der Autor des Katechismus dann selbst die Frage, wer „das Werkzeug zur Entwicklung dieser glückseligen Zeit“ sein werde – und die Antwort lautet ganz eindeutig: Das ist „Israel, welches ausgesendet wurde, um gegen die Verwirrungen der Zeiten anzukämpfen“. Auch hier ist also die Vorstellung des davidischen Messias-Königs schon vollständig von der eines messianischen Volkes Israel abgelöst. Um auch Israels Mission an die Menschheit noch deutlicher auszusagen, betont Fassel, dass das jüdische Volk zwar, wie alle Gottgesandte, um ihres Auftrags willen zu leiden habe, jedoch dazu berufen sei, „das Heil und die Beglückung der ganzen Menschheit zu fördern“.179 Das Eindringen dieser Gedanken in eine abseits der Zentren des deutschen Reformjudentums erschienene und eher konservative Sammlung jüdischer Glaubensregeln zeigt deutlich, wie weit sich die modernisierte Messiaslehre inzwischen verbreitet hatte.

Der Kompert-Prozess Eines der interessantesten Beispiele für die messianischen Debatten des neunzehnten Jahrhunderts, die nun schon weit über die Grenzen innerjüdischer Auseinandersetzungen hinausgingen, bietet der sogenannte Kompert-Prozess, der 1863 vor dem Wiener Landgericht stattfand. Zu diesem Prozess kam es, nachdem der jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817–1891) in dem von Leopold Kompert (1822–1886) herausgegebenen Wiener Jahrbuch für Israeliten einen längeren Aufsatz mit dem Titel „Die Verjüngung des jüdischen Stammes“ veröffentlicht hatte, der sich am Ende auch mit dem Messianismus beschäftigte. Graetz stellte in seinem Text fest, das Judentum habe in der Neuzeit eine für alle überraschende Wiederbelebung seines geistigen und religiösen Lebens erfahren. Die dieser Entwicklung zugrunde liegende „Verjüngungsfähigkeit“, behauptete er, sei jedoch in der jüdischen Geschichte ausdrücklich angelegt. In der Folge widmete er dem historischen Nachweis dieser These am Beispiel der Rückkehr aus dem babylonischen Exil den Hauptteil seines Aufsatzes. Im Kontext einer darin eingeflochtenen Interpretation des „exilischen Jesaias“ schreibt nun auch Graetz den Satz „Israel ist das Messias-Volk“. Der „große Gedanke dieses Propheten“ entspricht auch der Überzeugung des Historikers: Israel allein ist aus seiner Sicht „der Heiland der Welt“, und vor „der idealen Größe Gesammt-Israels“ verschwindet die königlich-

179 Hirsch B. Fassel, (‫ )דת משה וישראל‬Die Mosaisch-Rabbinische Religionslehre, katechetisch für den Unterricht bearbeitet (Wien: Braumüller, 1863), 125–128. An späterer Stelle behandelt der Katechismus auch den davidischen König, verwirft aber sowohl diese Vorstellung als auch die einer Rückkehr ins Heilige Land als zeitbedingte Legenden und Metaphern (129f.).

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 Einleitung: Die Wiederentdeckung des Messianismus

davidische Nachkommenschaft des Messias. Graetz führt hier also nicht nur (wie andere vor ihm) die talmudisch-messianische und die Volk-Israel-Auslegung der Gottesknechtlieder zusammen, sondern fordert darüber hinaus – im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger – die christologische Interpretation von Jesaja 53 in seiner nachfolgenden Begründung für die Ablösung des davidischen Messianismus auf nahezu provozierende Weise durch die bewusste Verwendung christlicher Terminologie heraus: „Die Dornenkrone, welche das Messiasvolk geduldig erträgt, macht es eines Königsdiadems würdig.“ Um dies unmissverständlich zu machen, fügt er schließlich noch deutlicher hinzu: „Ein Volk, das durch Leiden und Tod zur Auferstehung […] erweckt werden soll, das hat Sinn.“ Wird das Wort Jesajas aber „auf eine Einzelpersönlichkeit übertragen, wird es Carricatur und führt zur romantischen Schwärmerei“.180 Diese ziemlich unverhüllte Kritik der Messianität Jesu blieb auf christlicher Seite nicht unbemerkt. Nachdem das Jahrbuch die österreichische Zensurbehörde bereits ohne Beanstandungen passiert hatte, wurde der antisemitische katholische Theologe Sebastian Brunner (1814–1893) durch eine Rezension in einer Wiener Zeitung auf Graetz’ Artikel aufmerksam und denunzierte den Autor durch einen heftigen Angriff in seinem eigenen Blatt, der Wiener Kirchenzeitung, bei der österreichischen Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, nicht gegen Graetz selbst, der zu dieser Zeit schon als Professor am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau wirkte, also im Ausland lebte, sondern gegen den österreichischen Politiker und Schriftsteller Leopold Kompert, den Herausgeber der Jahrbücher. Die Anklageschrift, ein kurioses Dokument kaiserlich-österreichischen Rechtsverständnisses, wirft ihm hauptsächlich eine Herabwürdigung der Messiaslehre der „jüdisch-orthodoxen Kirche“ vor, einer in Österreich anerkannten Glaubensgemeinschaft. Hinzu komme, so der k. und k. Staatsanwalt, „vom christlichen Standpunkt objectiv auch das Verbrechen der Religionsstörung nach § 122 StG“, denn auch nach katholischer Lehre sei der Messias „als Einzelperson“ erschienen. Zudem werde er als göttliche Gestalt verehrt, was die Bezeichnung Carricatur zu einer Gotteslästerung mache. Auch die von Graetz verwandte christliche Metaphorik blieb nicht unbemerkt.181

180 Heinrich Graetz, „Die Verjüngung des jüdischen Stammes“, in: Jahrbuch für Israeliten 10 (1863): 1–13, hier 11f. [Hervorhebungen im Original]. Graetz’ lebenslange, offensive antichristliche Polemik sollte später zu der bekannten Treitschke-Affäre führen und erfuhr in diesem Zusammenhang heftige Kritik von Hermann Cohen; vgl. dazu George Y. Kohler, „German Spirit and Holy Ghost: Treitschke’s Call for Conversion of German Jewry: The Debate Revisited“, in: Modern Judaism 30 (2010): 172–195. 181 Zur Anklageschrift und zu einem Protokoll des gesamten Prozesses vgl. Allgemeine Zeitung des Judentums 28 (1864): 29–37. Zum Prozess vgl. auch Nils Roemer, Jewish Scholarship and



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Interessant für unser Thema ist jedoch vor allem der erste Anklagepunkt. Während des eigentlichen Prozesses in Wien am 30. Dezember 1863 hörte das Gericht nicht nur die Verteidigungsrede Komperts, sondern auch die Aussagen zweier rabbinischer Zeugen der Verteidigung. Offensichtlich unfähig, eigenständig die theologische Frage zu klären, ob die jüdische Dogmatik auf einem persönlichen Messias bestehe, hatte das Wiener Gericht vorsorglich sowohl den örtlichen orthodoxen Rabbiner Lazarus Horowitz (1803–1868) als auch den damaligen konservativen Wiener Oberrabbiner Isaak Noah Mannheimer (1793–1865) vorgeladen, die sich zu diesem Punkt äußern sollten. Auf diese Weise erhalten wir aus einer weiteren, ganz unvermuteten Quelle Einblick in das rabbinische Denken der 1860er Jahre zum Thema des jüdischen Messianismus. Eine jüdische Dogmatik gebe es im Grunde überhaupt nicht, machte Leopold Kompert in seiner Verteidigungsrede vor Gericht geltend, und daher auch keine eigentliche jüdische Orthodoxie. Graetz habe in seinem Artikel nicht Anderes getan, als bereits bestehende, traditionelle Auslegungen von Jesaja 53 zu der Aussage zu vereinigen, Israel sei das Messias-Volk. Rabbiner Mannheimer schloss sich in seiner Zeugenaussage Komperts Auffassung an, Jesaja spreche eindeutig vom Messias, und die meisten Interpretatoren hätten später verstanden, dass mit Jesajas Gottesknecht aber das jüdische Volk als Ganzes und nicht eine bestimmte Person gemeint war. Im lebhaften Kreuzverhör mit dem Staatsanwalt wurde Mannheimer dann gefragt, wie er denn an die Ankunft des Messias glauben könne, wenn doch das jüdische Volk schon so lange existiere. Darin liege kein Widerspruch, entgegnete der damals schon siebzigjährige Rabbiner, da sich der jüdische Glauben an den Messias im Wesentlichen weniger auf dessen Person denn auf „seine Mission“ richte. Lazarus Horowitz, der nach Mannheimer befragt wurde, befand ebenfalls, dass Graetz’ Jesaja-Interpretation dem orthodoxen Judentum nicht widerspreche, schloss seine Aussage allerdings mit dem merkwürdigen Satz, zwar glaube jeder Jude an einen persönlichen Messias, „aber die Art und Weise wie er erscheinen werde, sei ihm vorbehalten“.182 Alle jüdischen Gutachter des Prozesses übersahen in diesem Zusammenhang, womöglich

Culture in Nineteenth-Century Germany (Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2005), 58f., und Steven Beller, „New Jews for New Times: Die Neuzeit and the Kompert Trial“ in: Kulturelle Grenzräume im jüdischen Kontext, hrsg. von Klaus Hödl (Innsbruck: Studienverlag, 2008) 55–64. 182 Horowitz bat die Allgemeine Zeitung des Judentums, deren ursprüngliche Berichterstattung seine Zeugenaussage übergangen hatte, diesen Satz ausdrücklich klarzustellen. Ludwig Philippson als Herausgeber kam dieser Bitte am 2.2. 1864 nach, schloss aber einen längeren Kommentar an, in dem er bezweifelte, dass eine solche Aussage unter Eid gemacht werden könne, „da es unzählige Juden gibt, die zwar an eine messianische Zeit, aber nicht an einen persönlichen Messias glauben“; vgl. Allgemeine Zeitung des Judentums 28 (1864): 77f.

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wissentlich, dass die mittelalterlichen Jesaja-Kommentatoren, auf die sie sich mehrfach beriefen, um Graetz’ Behauptung, Israel sei das „Messiasvolk“, mit traditionellen „orthodoxen“ Quellen zu rechtfertigen, allenfalls die Volk-Israel Auslegung, nicht aber den Messianismus der Stelle belegen können. Ibn Esra etwa, der häufig zitiert wird, weist eine messianische Interpretation von Jesaja 53 ausdrücklich zurück, vermutlich einfach deshalb, weil der Messias seiner Deutung gemäß noch unbedingt als Einzelperson verstanden werden muss. Das eindeutig neue Element der Lehre von Israel als dem messianischem Volk ist also im Wiener Kompert-Prozess eher unbemerkt geblieben, und zwar vielleicht gerade auch deshalb, weil es den beteiligten Theologen schon selbstverständlich erschien. Kompert wurde dann folgerichtig vom Vorwurf der Herabwürdigung des Judentums freigesprochen, der Prozess selbst jedoch hatte ein langes Nachspiel in den innerjüdischen Kontroversen des neunzehnten Jahrhunderts.183 Durch die von den zahlreichen Presseberichten über die etwas obskuren Verhandlungen erzeugte Öffentlichkeit war nun auch die deutsche Neo-Orthodoxie auf die radikale Transformation der Messiaslehre in der liberalen Theologie aufmerksam geworden und sah sich zu lautstarkem Protest genötigt.184 Schon in einem ersten Bericht vom Wiener Prozess hob der orthodoxe Mainzer Israelit hervor, es gebe nicht nur eindeutig eine jüdische Dogmatik (also auch eine „Rechtgläubigkeit“), sondern diese fordere ausdrücklich auch den Glauben an einen persönlichen Messias aus dem Hause Davids. Jede andere Ansicht sei eine „irrige, der Religion Israels zuwiderlaufende“, schrieb vermutlich der Herausgeber der Zeitschrift, Marcus Lehmann (1831–1890), selbst in einem Leitartikel vom Januar 1864.185 Ende Februar veröffentlichte der Israelit dann eine Erklärung von 121 orthodoxen Rabbinern zum Kompert-Prozess, die vor allem auf Initiative von Esriel Hildesheimer (1820–1899) zustande gekommen war, der zu jener Zeit noch seiner Jeschiwa in Eisenstadt (Ungarn) vorstand. Im Text der Erklärung heißt es wiederum, allein die Zuversicht auf die einstige Ankunft eines persönlichen Messias davidischer Abstammung könne als orthodox gelten, „weshalb die Abrogation jenes Glau-

183 Kompert wurde allerdings im zweiten Punkt, dem „Verbrechen der Religionsstörung“, für schuldig befunden, d.h. des Vorwurfs, den christlichen Messias „geschmäht und missachtet“ zu haben, und dafür zu 40 Gulden Geldstrafe verurteilt. 184 Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam es in Deutschland und Österreich dann häufiger zu „theologischen“ Gerichtsprozessen, besonders im Zusammenhang mit der Verläumdung des Talmuds durch den Prager Theologen August Rohling (1839–1931). Zu diesen Prozessen vgl. ausführlich George Y. Kohler, „Manuel Joel in Defense of the Talmud: Liberal Responses to Religious Antisemitism in Nineteenth-Century Germany“, in: Hebrew Union College Annual 79 (2008/2010): 141–163. 185 „Der Preßproceß in Wien“, in: Der Israelit 5 (1864): 29–32, hier 32.



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bens als Läugnung der an Israel ergangenen göttlichen Offenbarung betrachtet werden muss“.186 Diese sicherlich bewusst kompromisslosen Formulierungen konnte nun auch die Gegenseite nicht ignorieren. Zuerst war es der ungarische Rabbiner und Gelehrte Leopold Löw (1811–1875), der in seinem eigenen, in seiner Heimatstadt Szegedin erscheinenden Journal Ben Chananja die Herausforderung der orthodoxen Kritik annahm. Wie Mannheimer eher konservativ orientiert, war Löw schon länger am Thema Messianismus interessiert, wie seine nur ein Jahr zuvor veröffentlichte detaillierte und heftige Kritik an Moses Hess’ (1812–1875) politischrestaurativem Messianismus in dessen Rom und Jerusalem zeigt.187 Die Erklärung der 121 Rabbiner gegen eine liberale Entpersonifizierung des Messias, so Löw in seiner „Erklärung zu einer Erklärung“ beweise im Grunde das Gegenteil des Beabsichtigten: Die imposante Zahl 121 stelle trotz allem ja nur einen verschwindenden Teil des mittel- und westeuropäischen Rabbinats dar, was deutlich zeige, dass eine übergroße Mehrheit der Rabbiner von Böhmen bis Frankreich nicht unbedingt mehr an einen davidischen Messias glaube. Insofern rufe die Erklärung der jüdischen Orthodoxie eigentlich zu: „Sehet liebe Brüder, wir sind in der Minorität!!“188 In einem zwei Wochen später erschienenen weiteren Artikel zum Wiener Prozess und seinen Folgen setzte sich Löw dann auch inhaltlich mit dem Thema auseinander. Das messianische Schisma des modernen Judentums, so stellt er darin klar, betrifft nicht die in Wien breit diskutierte Frage nach der Person des Messias oder etwa das Problem, ob der Glaube an sein zukünftiges Erscheinen dadurch aufgehoben werde, dass man ihn mit dem Volk Israel identifiziert. Auch die am meisten „reformistisch gesinnten Juden“ sähen einer messianischen Zeit entgegen. Die eigentliche Differenz bestehe im Problem der Restauration des vollständigen Zeremonialgesetzes im Messiasreich, insbesondere in der Wiedereinsetzung des biblischen Opferkults. Die Reformer legten dem restaurativen Aspekt des Messianismus „nur einen relativen Werth bei“, da er mit dem Geist der Propheten im Widerspruch stehe.189

186 „Die Erklärung von 121 Rabbinern, die bei dem Kompertschen Preßproceß in Wien vorgekommenen Aeußerungen betreffend“, in: Der Israelit 5 (1864): 95–97, hier 96. Zu Hildesheimers Rolle vgl. David H. Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer and the Creation of a Modern Jewish Orthodoxy (Tuscaloosa: University of Alabama Press, 2003), 41. 187 In zahlreichen Folgen, beginnend in Ben Chananja 26 (1862): 225f. 188 Leopold Löw, „Erklärung zu einer Erklärung“, in: Ben Chananja 10 (1864): 193–196, hier 193. 189 Leopold Löw, „Jüdisch Theologische Fragen vor dem Forum des Landesgerichts in Wien“, in: Ben Chananja 12 (1864): 241–46, hier 244.

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Aufschlussreich an der Argumentation konservativer österreichischen Theologen wie Mannheimer und Löw ist vor allem, dass sie den reformierten Messianismus ihrer deutschen Kollegen selten mittragen und selbst noch ganz einem traditionellen Modell anhängen. Doch einmal durch Heinrich Graetz und den Wiener Prozess aufgefordert, die transformierte „deutsche“ Messiaslehre zu durchdenken, finden sie daran überraschenderweise nichts Verwerfliches oder dem Geist des Judentums Widersprechendes. Verwerflich finden sie dagegen fast einhellig den ideologischen Dogmatismus und vor allem den starren Separatismus der deutschen Neo-Orthodoxie. Ein vielsagendes Beispiel für diese Beobachtung bietet die hebräischsprachige Abhandlung, die der Wiener Talmudgelehrte Eisik Hirsch Weiss (1815–1905) über den Kompert-Prozess verfasste. Weiss setzte sich auf den knapp zwanzig Seiten seines Werkes vor allem mit der interessanten Frage der „Rechtgläubigkeit“ im Judentum auseinander und entwickelte erst auf dieser Grundlage seine Auffassung zur Messiaslehre. Er selbst, betont Weiss, glaube – wie seine Väter und Vorväter – mit ganzem Herzen (‫ )באמונה שלמה‬an das Kommen eines Messias-Königs aus dem Hause Davids, doch dieser Glaube werde durch die Tatsache, dass andere die relevanten biblischen Passagen so auslegen, als bezögen sie den Messiasgedanken auf das jüdische Volk als Ganzes, keineswegs erschüttert. Auslegungsdifferenzen hätten im Judentum noch nie zu Glaubenskriegen geführt, und er selbst habe noch nie zuvor gesehen, dass jüdische Gelehrte deswegen übereinander hergefallen seien wie die dogmatischen orthodoxen Angreifer über Graetz’ Verteidiger Mannheimer und Horowitz.190 Wenn „der gelehrte (‫ )החכם‬Doktor Graetz das 53. Kapitel in Jesaja auf die ganze israelitische Nation deuten will“, so Weiss, dann wird dadurch „nicht der geringste Schaden für unseren Glauben entstehen“.191 Selbst er könne sich, trotz seines vollkommen traditionellen Messiasglaubens, problemlos eine geistige Auffassung (‫מושג‬ ‫ )רוחני‬des jüdischen Messianismus vorstellen, der zufolge es unwesentlich sei, auf welche Weise Gott die Erlösung der ganzen Welt herbeiführt, sei es durch ein ausgewähltes Individuum oder durch das jüdische Volk als solches. Niemand könne

190 Eisik Hirsch Weiss, ‫נצח ישראל‬, (Wien: Selbstverlag, 1864), 7. Wie zu erwarten, erntete Weiss’ Buch heftige Kritik von Seiten der so Beschuldigten. Markus Lehmann veröffentlichte im Israelit einen vierteiligen ausführlichen Verriss der Broschüre, der gleichzeitig die orthodoxe Position rechtfertigen sollte; vgl. Markus Lehmann „Die Literatur des Kompertschen Preßprocesses“, in: Der Israelit 3 (1864), Nr. 22–25.. 191 Weiss, ‫נצח ישראל‬, 15. Weiss wirkte mit Mannheimers Nachfolger, Adolf Jellinek (1820–1893), als Lehrer am Wiener Beit Hamidrash. Sein Hauptwerk Dor Dor we-Dorshaw (1871–1891) zur historischen Talmudforschung war bewusst als Ergänzung zu Graetz’ Geschichte der Juden gedacht, da diese, wie im neunzehnten Jahrhundert oft beklagt wurde, die Geschichte der halacha vielfach vernachlässigt hatte.



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behaupten, dass eine solche Auffassung grundsätzlich ketzerisch sei (‫)כופר בעיקר‬ oder den wichtigsten traditionellen rabbinischen Quellen direkt widerspreche.192 Heinrich Graetz selbst antwortete vom sicheren Breslau aus unbeirrt bereits in der folgenden Ausgabe der Wiener Jahrbücher für Israeliten mit einem weiteren ausführlichen Aufsatz, der sich diesmal ganz mit den „Entwicklungsstadien des Messiasglaubens“ im Judentum beschäftigte. Darin zeichnete er die große historische Linie des Messianismus von der Bibel bis in die Gegenwart nach und nannte die Messiasidee in diesem Zusammenhang das „Lebenselixir, welches dem jüdischen Volksstamme einen so wunderbare Zähigkeit verliehen hat“.193 Es überrascht allerdings, dass Graetz die Entwicklung der Messiaslehre im Judentum negativ, nämlich als einen konstant fortschreitenden Wertverlust des messianischen Gedankens von Jesaja bis zu Sabbatai Zwi versteht. Mit Jesajas „Fortschritt“, mit seinem „großen Gedanken des Universalismus der Gotteszugehörigkeit aller Völker“, war der Höhepunkt des jüdischen Messianismus schon erreicht, von dem Graetz’ Empfinden zufolge später – vor allem aus historischen Gründen – nur noch Abstriche gemacht wurden. Der Jesaja des babylonischen Exils aber, so präzisierte Graetz seinen in dem Wiener Prozess inkriminierten Gedanken, verkündete, „daß Israel das Volk sei, berufen Wahrheit und Recht unter den Völkern zu verkünden“.194 Das Auftauchen „der Frage nach der Persönlichkeit des Messias“ war schon das erste Anzeichen des Abfalls vom „naiven, originellen Gehalt“ des prophetischen Messianismus und markiert daher für Graetz den Übergang von Bibel zu Talmud, von „freisprudelnder Produktion“ des Geistes zu einer bloß reflexiven Rekonstruktion in der Schriftauslegung.195 Im Talmud wurde der Messias nun mitunter mit übernatürlichen Eigenschaften versehen, es entstand die Kluft zwischen politischer und spirituell-theologischer Messiasauffassung im Judentum, ja sogar eine Trennung zwischen einem ersten und einem zweiten Messias. Ein neues Stadium der Messiasidee begann dann Graetz zufolge im dreizehnten Jahrhundert mit der Entstehung der kabbalistischen Mystik, die sich entschieden gegen Maimonides’ vollständige Rationalisierung der messianischen Zeit wandte und den Gedanken der Seelenwanderung in den jüdischen Messianismus einschloss. Dagegen gab es allerdings immer wieder Widerstand einer mehr philosophischen Partei im Judentum, und nur aus diesem Anti-Kabbalismus ist Josef

192 Weiss ‫נצח ישראל‬, 18. 193 Heinrich Graetz, „Die Entwicklungsstadien des Messiasglaubens“, in: Jahrbuch für Israeliten 11 (1864): 1–29. Der Titel dort lautet Entwicklungsstudien, was sicherlich ein Druckfehler ist. 194 Alle Zitate in: Graetz, „Entwicklungsstadien“, 5 und 8. 195 Ebenda.

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Albos Lehre zu verstehen, wonach der Messiasglaube nicht in die FundamentalDogmatik des Judentums gehöre.196 Graetz führt seine historische Darstellung sodann bis zum Auftreten des „Pseudomessias“ Sabbatai Zwi und dem osteuropäischen Chassidismus seiner eigenen Zeit, die ihm als weitere Stadien eines allmählichen, aber fortschreitenden Verfalls der reinen Messiaslehre der Propheten erschienen.197 Doch mit der Gegenwart nimmt Graetz’ Darstellung plötzlich eine neue Wendung. Mit seiner zunehmenden theologischen Korrumpierung im Judentum sei der Messiasglaube allerdings nicht „gerichtet“, denn die Weltgeschichte selbst „weißt mit unverkennbaren Zeichen auf ein Messiasreich des Friedens, der Brüderlichkeit unter den Menschen und der lautern Gotteserkenntnis hin“. Wie vor ihm Steinheim verspürt Graetz einen gewissen Stolz darüber, dass das Judentum die messianische Sehnsucht nach dem Umschmieden der Schwerter in Pflugscharen hervorgebracht habe, welche in der Moderne, Jahrtausende später, nun auch „die edelsten Geister aller Nationen mit uns theilen“. Er greift an dieser Stelle sein Konzept von Israel als dem leidenden Messiasvolk auf und entfaltet es näher. Der „israelitische Stamm“ habe nicht nur seit Jahrtausenden „sittliche Wahrheiten zum Heile der Menschheit“ hervorgebracht, sondern weise als besondere Eigenschaft zudem auch „die Kraft des Märtyrerthums, der Opferfähigkeit“ auf. Nur beides zusammen befähige Israel, seine „vergewisserte Sendung zu vollbringen“. Bevor sich jedoch die in Jesaja beschriebene universelle Messiashoffnung erfüllt, fügt Graetz hinzu, bedarf es einer weiteren „Selbstläuterung, Selbstveredlung und Selbsterkenntnis“ des Judentums. Diese Perspektive liegt offenbar in der Konsequenz seines Denkens – nicht die Tochterreligionen, sondern das „Messias­ volk“ selbst steht dem Anbruch des Messiasreiches noch im Wege.198

196 Ebenda, 23. 197 Elliott Horovitz hat kürzlich zu zeigen versucht, dass schon vor Raschi, von Graetz und allen anderen unbemerkt, verschiedene Autoren den leidenden Gottesknecht Jesajas mit dem jüdischen Volk identifiziert hätten. Allerdings fehlt bei diesen Kommentatoren und Liturgikern das bei Raschi so überraschende Element der Versöhnung, die dieses Leiden Israels hervorruft; vgl. Elliott Horovitz, „Isaiah’s Suffering Servant and the Jews“, in: New Perspectives on JewishChristian Relations, hrsg. von Elisheva Carlebach und Jacob J. Schacter (Leiden und Boston: Brill, 2011), 419–436. 198 Graetz, „Entwicklungsstadien“, 27f. Allerdings ist fraglich, ob die theologische Idee von Israel als dem messianischem Volk, wie hier bei Graetz wiederholt, tatsächlich ihre Entsprechung in der zeitgenössischen säkularen „Vorstellung eines kollektiven Messias in Gestalt des politisch handlungsfähigen Volkes als revolutionäres Subjekt“ findet, wie Klaus Schreiner vermutet; vgl. Klaus Schreiner, „Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters“, in: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung,



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Im Jahre 1865, ein Jahr nach dem Erscheinen von Graetz’ Aufsatz zur Geschichte des jüdischen Messianismus, veröffentlichte Ludwig Philippson den letzten Band seines dreibändigen theologischen Hautwerkes Die israelitische Religionslehre, in dem auch er sich ausführlich mit der jüdischen Messiasidee beschäftigte.199 Seine in ein Kapitel mit der Überschrift Die Heiligung des Menschen in seinem Verhältnis zu seinen Mitmenschen eingebettete Interpretation bietet theologisch nichts Neues, sondern liest sich wie eine große Zusammenfassung der Ergebnisse des messianischen Denkens der liberalen Theologie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. So wie die biblischen Propheten in ihrer Zeit immer klarer die Hoffnung auf einen persönlichen Erlöser zugunsten der Idee eines messianischen Zeitalters aufgegeben hätten, schreibt Philippson, so schwächte sich auch in den Juden der neueren Zeit, sobald sie aus ihren engen Ghettos in das große Culturleben der Völker eintraten, der Glaube an einen persönlichen Messias ab und erweiterte sich zu der festen Überzeugung, daß die Menschheit in ihrer Entwicklung zur reinen und ganzen Gotteserkenntnis, wie die Religion Israels sie in ihrem Schoße trägt, und damit auch zur allgemeinen Geltung des Rechts und zum allgemeinen Frieden gelangen werde.200

Auch der theologisch eher dem konservativen Lager zuzuordnende Philippson ist der festen Überzeugung, dass „diejenigen vollständig auf dem Boden des schriftgemäßen Judentums stehen, welche sich die messianische Zeit auch ohne einen persönlichen Messias vorstellen“201 – sich selbst rechnet er aber offenbar nicht dazu. Mit Bezug auf Jesaja 53 entwickelt jedoch auch er den historischen Theodizee-Gedanken, dem zufolge die übrigen Völker erst in der messianischen Zeit verstehen werden, dass das jüdische Volk seine geschichtlichen Leiden „um ihrer Sünden willen“ ertragen haben. Israels Leiden waren auch laut Philippsons Deutung „die Werkzeuge Gottes, um die Völker zur Erkenntnis zu führen“, obwohl doch auch „die Israeliten ihr Geschick durch religiösen und sittlichen Abfall erwirkt und verdient hatten“.202

Existenz und Wirkung des Totalitarismus, hrsg. von Klaus Hildebrand (München: Oldenbourg, 2003), 1–44, hier 11. 199 Ludwig Philippson, Die Israelitische Religionslehre, 3 Bde., hier Band 3 (Leipzig: Baumgärtner, 1865). Die ersten beiden Bände erschienen in Leipzig 1861 und 1862. Das gesamte Werk ist meiner Kenntnis nach von der wissenschaftlichen Forschung noch vollkommen unentdeckt. 200 Ebenda, 136. 201 Ebenda, 144. 202 Ebenda, 147. Als Zusammenfassung derselben Gedanken ist auch David Einhorns kurzer Abschnitt über den Messias in seinem ausführlichen Katechismus Ner Tamid zu sehen (erschienen auf deutsch in Philadelphia 1866); vgl. David Einhorn, ‫( נר תמיד‬Beständige Leuchte).

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Interessant an Philippsons Darstellung ist eher eine neue Tendenz, die bei ihm ein starkes Gewicht erhält und die auch im 1872 erschienenen theologischen Hauptwerk des einflussreichen Frankfurter Reformrabbiners Leopold Stein eine bedeutende Rolle spielt.203 Anders als die bisher vorgestellten Theologen widmeten beide den überwiegenden Teil ihrer in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausformulierten Messiaslehre schon nicht mehr einer religionsphilosophischen Untersuchung von Entstehung und Inhalt des jüdischen Messianismus. Sowohl Philippson als auch Stein scheinen diese Aufgabe als abgeschlossen betrachtet zu haben und konzentrierten sich nun auf eine neue Herausforderung: die Abgrenzung der transformierten liberalen Messiasidee von der Christologie. Mit der Akzentuierung der prinzipiellen Gegensätze zwischen jüdischer und christlicher Messiasdeutung in den Texten Steins und Philippsons scheint ein neues Kapitel in der Geschichte des jüdischen Messianismus in der Neuzeit zu beginnen.204 Leopold Stein war allerdings – im Gegensatz zu Philippson – ein ausgesprochener Gegner der traditionellen Idee des davidischen Messias-Königs. Anders als etwa dreißig Jahre früher Samuel Hirsch, der noch eindeutig für die Vorstellung der Herrschaft eines aufgeklärten Monarchen am Ende der Zeiten plädiert hatte, glaubte Stein seine Ablehnung eines königlichen Messias auf Grundlage der Bibel selbst begründen zu können. Unter Bezugnahme auf die Erzählung von der Salbung Sauls im ersten Buch Samuel behauptet er, das alt-israelitische Königtum sei „nur zugelassen, nicht ursprünglich gewollt“ gewesen, da sich dem biblischen Text zufolge sogar Gott selbst von der Forderung des Volkes nach einem Monarchen verworfen fühlte (1. Sam 8, 7). Folgerichtig sei „auch ein Messias-König für die Zukunft, und möchte er auch seine gerade Abstammung von David noch so klar nachweisen, eine Unmöglichkeit“, denn das Ende könne nicht

Die Lehre des Judentums, dargestellt für Schule und Haus (Philadelphia: Stein und Jones, 1866), 52–56. 203 Leopold Stein, Die Schrift des Lebens – Inbegriff des gesamten Judenthums, Bd. 1. (Mannheim: Schneider, 1872). Der zweite Band erschien 1877 in Straßburg und der dritte wurde 1914 posthum von Cäsar Seligmann in Frankfurt herausgegeben. Auch Steins Werk blieb (soweit mir bekannt) von der Forschung bislang fast unbeachtet, mit Ausnahme einiger Absätze in Andreas Gotzmann, Jüdisches Recht im kulturellen Prozeß. Die Wahrnehmung der Halacha im 19. Jahrhundert (Tübingen: Mohr Siebeck, 1997) 195f.. Zu Stein vgl. Anmerkung 33. 204 Die jüdische Auseinandersetzung mit dem christlichen Messianismus in der Neuzeit bedarf sicherlich einer gesonderten Darstellung. Zu Philippson vgl. George Y. Kohler, „Ein notwendiger Fehler der Weltgeschichte. Ludwig Philippsons Auseinandersetzung mit dem Christentum“, in: Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums, hrsg. von Görge K. Hasselhoff (Berlin: de Gruyter, 2010), 33–62.



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hinter dem großen Anfang der jüdischen Geschichte zurückbleiben, die in ihrer mosaischen Verfassung noch ohne König ausgekommen sei.205 In diesem Sinne macht auch aus Steins Sicht die Tatsache, dass Israel zweitausend Jahre lang trotz „Verfolgung und Bedrängnis bei der reinen Gotteslehre unerschütterlich ausgedauert“ hat, das jüdische Volk selbst zum Sinnbild des leidenden Messias.206 Diesen nun schon altbekannten Gedanken versucht er dann mit Hilfe einer ausführlichen Exegese von Deuterojesaja zu beweisen, die sich über mehrere Kapitel hinzieht. Das 53. Kapitel in Jesaja schildert demnach das „Erstaunen der künftigen Menschheit, welcher die große Sendung Israels klar geworden“. Die übrigen Völker, so glaubt auch Stein, werden in der Messias­ zeit erkennen, dass Israel durch seine irdische Erniedrigung die Vergehen der anderen Nationen auf sich genommen und dadurch „zur freudvollen Einigung des Menschengeschlechts“ den reinen Monotheismus über die Zeiten gerettet hat.207 In einem weiteren ausführlichen Kapitel befasst sich der Frankfurter Rabbiner mit den zahlreichen religiös-ethischen Vorzügen, die das Judentum seiner Überzeugung nach gegenüber allen anderen Religionen aufweist. Am Ende steht folgerichtig ein weiterer klassischer Satz der liberalen Theologie des neunzehnten Jahrhunderts: „Christenthum und Islam sind die Sendboten des Judenthums an die Menschheit.“208 Steins theologisches Werk aus dem Jahre 1872 liest sich – mehr noch als Philippsons Schriften, als groß angelegte und detaillierte Zusammensfassung der Grundsätze der deutschen Reformtheologie. Als die Juden im Zuge der bürgerlichen Emanzipation wieder ein Vaterland bekamen, das sie so lange hatten entbehren müssen, so Stein, da opferten sie diesem „freudig die Sehnsucht nach dem Lande unserer Vergangenheit“. Dieses Opfer kennzeichnet er allerdings als Fortschritt, den er bewusst in einen nicht allein sprachlichen Gegensatz zur „Rückkehr“ nach Zion setzt. Das Judentum, betont er, wolle „keine Nation unter den Nationen mehr sein“, sondern eine Religion unter den Religionen. An den religiösen Besonderheiten des Judentums will der Reformer jedoch unter allen Umständen festhalten und „anhänglich bleiben immerdar“.209 Die Verbürgerlichung und rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden empfindet er als ein Gottesgeschenk, das eine solche Lebensfreude erzeugt, dass dadurch „die Leiden

205 Stein, Die Schrift des Lebens, Bd. 1, 312f. 206 Ebenda, 336. 207 Ebenda, 354. 208 Ebenda, 373. Stein kennt nun bereits die unzensierte Version von Maimonides’ Gesetzen von Königen und Kriegen, Kap. 11, 10–11, die Jesus als Wegbereiter der Messias nennt (vgl. oben, Anm. 82) und stellt sie seinen Lesern ausführlich vor (ebenda, 373f.). 209 Ebenda, 8f.

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unserer Väter gesühnt“ sind. All diese optimistischen patriotischen Bekenntnisse münden jedoch stets in den Aufruf zum unbedingten Festhalten am Judentum, gewissermaßen als Dankbarkeit gegenüber Gott: „Zu welcher tiefinnigen Anhänglichkeit an die Lehre unserer Väter, dieser einzigen Bürgschaft der Welteinigung, sind wir verpflichtet!“210 Was hier im Gesamtbild erkennbar wird, gilt bei Stein auch hinsichtlich des engeren Themas des Messianismus. Die bewusste Preisgabe bestimmter Teile der Tradition verstanden die liberalen Theologen weder als Zugeständnis an die bürgerliche Umwelt noch als eine vertretbare Erleichterung religiöser Normen, sondern als spirituellen Fortschritt, als eine Rückkehr zu wahrer Religiosität, oder als deren grundsätzliche Ermöglichung. Diesen Aspekt betont Stein weit stärker als viele andere der behandelten Autoren: In dem Maße, in dem das Judentum aus seinem monotheistischen Messianismus eine konkrete Mission an die zivilisierte Menschheit ableitet, wird religiöse Indifferenz oder Vernachlässigung der Religion im Judentum geradezu zum „Frevel – ich weiß nicht, ob größer gegen die Zukunft der Menschheit oder gegen die eigene Vergangenheit“.211 Zahlreiche Gebote müssen auf dem Weg ins Messiasreich fallen, insbesondere jene, „welche uns von der Menschheit trennen, unser Voranschreiten hindern“, doch das gilt bei weitem nicht für alle Gebote, die Gebote „den Geist der Religion schirmen“, die das konkrete religiöse Leben gestalten helfen, will Stein, ebenso wie viele seiner Vorgänger bewahren, doch die Reformen sollen sicherstellen, dass fortan nur die Religionen voneinander getrennt sind, nicht mehr die Menschen durch ihre Religionen.212 Mit diesem Gedanken ist Steins ausführliche Zusammenfassung bei der Idee der Notwendigkeit einer Bewahrung des Judentums bis zur messianischen Zeit durch die fortgesetzte Einhaltung gewisser religionsgesetzlicher Regeln angekommen – einer Konsequenz der modernen Messiaslehre, der sich unter allen Reformtheologen des neunzehnten Jahrhunderts eigentlich nur Samuel Holdheim widersetzt hatte. Die große Mehrheit der hier diskutierten Denker war sich einig, dass die jüdische Religion, als alleiniger Träger der reinen Gotteslehre, ihre menschheitliche Zukunftsmission nur dann zu erfüllen vermochte, wenn sie bei aller kulturellen Integration ihre Eigenständigkeit bewahrte.

210 Ebenda, 364. 211 Ebenda, 376. 212 Ebenda, 378–381.



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Hermann Cohen Es bleibt zu prüfen, inwieweit sich zahlreiche der bisher benannten Leitsätze des liberal-jüdischen Messianismus im Spätwerk Hermann Cohens, des vielleicht bedeutendsten jüdischen Theologen der Neuzeit, wiederfinden, und wie viele Aspekte der Messias-Theorie Hermann Cohens tatsächlich neu sind und vollkommen auf sein eigenes Denken zurückgehen. Dass Cohen in der Denktradition des jüdischen theologischen Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts steht und die relevanten Schriften der Reformtheologen kannte und schätzte, lässt sich nicht nur an unzähligen inhaltlichen Zusammenhängen zeigen. Ganz offen äußerte er seine Sympathie für Abraham Geiger, dessen „kriegerische Feder“ er schmerzlich vermisste. Im selben Zusammenhang, einem öffentlichen Vortrag aus dem Jahre 1898, beklagte Cohen zudem, dass seit den Tagen Formstechers und Hirschs keine jüdische Dogmatik mehr geschrieben worden sei, obwohl jede Religion einer wissenschaftlichen Dogmatik als Lebensquell bedürfe und nur mangelhafte Bildung den Gedanken gestatte, unter Dogma habe man eine der Vernunft widersprechende Lehre zu verstehen.213 Etwa um dieselbe Zeit entstand Cohens erster Aufsatz, der sich vorrangig mit der jüdischen Messiasidee beschäftigte.214 In diesem Text sowie in dem 1913 nachfolgenden Essay „Das Gottesreich“ nimmt Cohen bereits große Teile dessen vorweg, was er schließlich in seinem posthum erschienenen Spätwerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums zum messianischen Gedanken des Judentums entwickeln sollte.215 Ganz im Sinne seiner Vorgänger betont auch Cohen, der jüdische Messianismus wende den Blick von der Vergangenheit, dem heidnischen „goldenen Zeitalter“, ab und richte ihn in die Zukunft. Die Identifizierung des verlorenen Paradieses mit der messianischen Zukunft sei ein Irrtum der Bibelforschung, denn das prägende Merkmal der paradiesischen Unschuld werde im Messianismus durch den neuen Aspekt der Erkenntnis aufgehoben. Die messianische Zeit ist nicht mehr die des Naturfriedens, sondern die Epoche der Kultur.

213 Hermann Cohen, „Das Judentum als Weltanschauung“ (1898), wiederabgedruckt in: Dieter Adelmann, „Reinige dein Denken“. Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen, hrsg. von Görge K. Hasselhoff (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010), 321–329, hier 322f.. 214 Hermann Cohen, „Die Messiasidee“, in: Jüdische Schriften, Bd. I, 105–124 und wieder im vorliegenden Band. Dieter Adelmann hat gezeigt, dass dieser Aufsatz nicht, wie von Bruno Strauss, dem Herausgeber der Jüdischen Schriften, angegeben von 1892, sondern frühestens von 1898 stammen kann; vgl. Adelmann, „Reinige dein Denken“, 142f. 215 Hermann Cohen, „Das Gottesreich“, in: ders., Werke, Bd. XVI: Kleinere Schriften, Teil 5: 1913–1915, hrsg. von Hartwig Wiedebach (Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1997), 40–50.

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Cohens Neuerung in der Entwicklung der messianischen Idee in der jüdischen Moderne besteht auch insgesamt weniger in einer inhaltlichen Weiterentwicklung als vielmehr in einer konsequenten philosophischen Idealisierung der transformierten Messiaslehre seiner theologischen Vorläufer im neunzehnten Jahrhundert. Die messianische Zukunft ist für Cohen schlechthin „das Ideal im Gegensatz zur Wirklichkeit“. Damit bezeichnet auch die Überwindung der Vorstellung des Messias als Person seine Idealisierung, die eigentliche Herausbildung seiner Bedeutung als Idee.216 Cohens Deutung zufolge ist es die Aufgabe des Messias, „die Heiligkeit des Menschen vor Gott zum Idealbegriffe des Menschen zu machen“. In der Bestimmung dieser Heiligkeit grenzt auch er sich deutlich vom christlichen Messiasbild ab: Durch die Aufnahme des Messias in die Einheit Gottes würde der Monotheismus „versehrt“, weil der Messias „immanent sein muß im Menschen“ und nicht in Gott.217 Der Messias kann nicht die Sünden der Menschen vergeben, wie auch die Heiligkeit des Menschen nicht etwa Sündlosigkeit meint. Sie bedeutet vielmehr ideale Menschlichkeit, die von idealer Sittlichkeit herrührt. Von der Idealität des Menschen zu sprechen, setzt allerdings die Idee der Menschheit bereits voraus, so dass sich für Cohen mit der idealen Sittlichkeit und der Einheit der Menschheit zwei zentrale Inhalte des Messiasbegriffes ergeben.218 Wie die Mehrheit seiner Vorgänger beharrt auch Cohen darauf, dass auf dem Wege zum Messiasreich die „kulturelle Eigenart Israels“ gewahrt bleiben müsse: „Für die Fortbildung des Monotheismus müssen wir eine nationale Individualität bleiben, denn der Monotheismus hat eine geschichtliche Singularität auf uns geprägt.“219 Immer wieder spricht Cohen von der notwendigen kulturellen „Isolierung“ des Judentums, dessen Staatenlosigkeit einen wesentlichen Vorteil

216 Cohen, Religion der Vernunft, 291 [(Hervorhebung im Original]. Ironischerweise ist es Cohens für viele Jahrzehnte treuester Anhänger, Steven S. Schwarzschild, der in einem Artikel von 1956 zu einer Rückkehr zum persönlichen Messias in der jüdischen Theologie aufrufen wird; vgl. seinen Aufsatz „The Personal Messiah: Towards the Restoration of a Discarded Doctrine“, in: The Pursuit of the Ideal: Jewish Writings of Steven Schwarzschild, hrsg. von Menachem Kellner (New York: SUNY Press, 1990), 15–28. Schwarzschild allerdings weiß sehr gut, wie sehr Cohens Messianimus auf der jüdisch liberalen Tradition aufbaut, und da Schwarzschilds eigener Messianismus, ähnlich wie bei Cohen, „infinite adventism“ ist, bleibt die Frage ohnehin zweitrangig. 217 Bereits 1845 hatte Holdheim geschrieben: „Der christliche Partikularismus, weil er seine Auserwählung nicht an ein bestimmtes Volk, sondern an einen bestimmten Glauben bindet, steht höher – wir wollen das einräumen – als der gesetzliche, aber der messianische, der an den Menschen anknüpft, steht noch höher als der christliche.“ (Vgl. S. 199 in diesem Band). 218 Cohen, Religion der Vernunft, 298. 219 Ebenda, 296.



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bedingt, schützt sie Israel doch vor der Materialisierung der nationalistischen Idee und deren historischen Folgen. Darin ist auch seiner Überzeugung nach eine wichtige Voraussetzung für den Träger der Messiasidee benannt: „Israel“, argumentiert Cohen wie etwa Samuel Hirsch beinahe achtzig Jahre vor ihm, ist „ein Volk ohne Interesse, ohne schöpferischen Anteil an der Wissenschaft“.220 Am systematischsten entwickelt Cohen vor allem die Deutung Israels als des leidenden Gottesknechts, der den mächtigen davidischen Königsohn als Messias ablöst. Dieser komplexen theologischen Theorie und Theodizee verleiht Cohen eine derartige philosophische Prägnanz, dass vielfach der Eindruck besteht, sie gehe überhaupt auf ihn zurück,221 obwohl sie, wie ausführlich dargelegt, im Kern bereits von der jüdischen Reformtheologie des neunzehnten Jahrhundert formuliert wurde. Schon Maimonides hatte Cohen zufolge durch seine strikte Trennung von Diesseits und Jenseits mit Bezug auf die Messiaslehre deren Verwechslung mit der Eschatologie überwunden und kraft der starken Betonung des sozialen wie epistemologischen Aspekts des jüdischen Messianismus „die Grundzüge des ethischen Sozialismus in ihm verzeichnet.“222 Dennoch sei der Messias aus Maimonides’ Sicht immer noch ein Krieger-König gewesen. Einen weiteren Schritt gingen demnach die mittelalterlichen jüdischen Exegeten um Raschi, deren „Scharfblick“ sie in Jesajas Gottesknecht das Volk Israel statt einer individuellen Person erkennen ließ.223 Beide Entwicklungen zusammengenommen münden in Cohens eigener, auf dem neunzehnten Jahrhundert aufbauender Messiaslehre. Auch wenn der Gottesknecht nicht mehr als Königssohn verstanden wird, so Cohen,

220 Religion der Vernunft, 298. 221 Vgl. etwa Andrea Poma, „Suffering and Non-Eschatological Messianism in Hermann Cohen“, in: Hermann Cohen’s Critical Idealism, hrsg. von Reinier Munk (Dordrecht: Springer, 2005), 413–428; David Novak, The Election of Israel: The Idea of the Chosen People (Cambridge und New York: Cambridge University Press, 1995), 67–70, und Rory Schachter, „Hermann Cohen’s Secular Messianism and Liberal Cosmopolitanism“, in: Jewish Political Studies Review 20 (2008): 107–123. 222 Cohen, Religion der Vernunft, 361. Vgl. dazu George Y. Kohler, „‚Die Idealisierung des Diesseits‘. Maimonides’ Einfluss auf das Konzept des Messianismus in Hermann Cohens Essay Charakteristik der Ethik Maimunis“, in: Judaica 3 (2011): 241–262; Martin Kavka, Jewish Messianism and the History of Philosophy (Cambridge und New York: Cambridge University Press, 2004) 106–110; und Kenneth Seeskin, „Maimonides and Hermann Cohen on Messianism“, in: Maimonidean Studies 8 (2008): 375–392. 223 Cohen, Religion der Vernunft, 305. Cohen hält Raschi somit überraschend von antichristlichen Tendenzen in seiner Jesaja-Deutung frei, unterstellt ihm aber auch nicht ahistorisch, den Gottesknecht schon als Messias zu sehen, wie etwa im Wiener Kompert-Prozess geschehen (vgl. oben S. 75–76).

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darf er jedoch nicht von der nationalen Geschichte Israels abgelöst werden. Er kann nur dann Diener Gottes sein, wenn „jeder Israelit dies sein soll“ – auf diese Weise wandelte sich die traditionelle Messiasvorstellung vom Nachkommen der davidischen Dynastie hin zum Verständnis des Messias als des gesamten Volkes Israel. Dessen Leiden unter Missachtung, Unterdrückung und Verfolgung erlangt „eine erhöhte geschichtliche Kraft“ indem es der Wegweiser für die universelle Mission des Judentums wird, die Cohen wie alle seine Vorgänger in der “messianischen Durchführung des Monotheismus“ sieht. Das heißt auch für Cohen also: Israel, das messianische Volk, „leidet als Stellvertreter des Menschenleides“.224 Neu bei Cohen ist allerdings die eingehendere Auseinandersetzung mit dem für das Judentum aufgrund der ihm innewohnenden christologischen Tendenz theologisch problematischen Begriff der moralischen Stellvertretung – ein Dilemma, das die Reformer der neunzehnten Jahrhunderts meist übergangen hatten.225 Wenigstens dem christlichen Verständnis nach scheint der Begriff des Stellvertreters der ethischen Autonomie des Individuums zu widersprechen, lehrt doch schon die talmudische Versöhnungstheorie die absolute Eigenverantwortlichkeit des Menschen in allen sittlichen Fragen. Das Aufsichnehmen von Strafe, um einen anderen von seiner Schuld zu befreien, so lehren die liberalen Theologen des Judentums einhellig, widerspricht grundsätzlich nicht nur dem Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit, sondern auch dem allgemeinen Gesetz Gottes, dem zufolge jeder Mensch einen Selbstzweck in sich trägt.226 Wie sich diese strikte Ablehnung allerdings mit dem Gedanken des stellvertretenden Leidens Israels für die anderen Völker vereinbaren lässt, wie er spätestens seit Raschi in der jüdischen Theologie existiert, wird nur selten diskutiert. Cohen führt nun an diesem Punkt eine wichtige Unterscheidung ein: Sittliche Autonomie schließt „nur den Stellvertreter für die Schuld aus, nicht aber für das Leiden“. Das Messianische muss im Bild des stellvertretenden Leidens und nicht, wie im Christentum, als

224 Cohen, Religion der Vernunft, 312. 225 Mittelalterliche Jesaja-Kommentatoren waren sich des Problems mitunter bewusst; vgl. hier zum Beispiel David Kimchi (1160–1235) zu Jesaja 53, 4, der die Schwierigkeit zu umgehen versucht, indem er den Gedanken von Israels stellvertretendem Leiden für die Vergehen der anderen Völker am Beginn der messianischen Zeit diesen Völkern (den Christen?) selbst in den Mund legt. Auch der Renaissance-Philosoph Isaak Abarbanel (1437–1508) versucht sich dem Problem in seinem Jesaja-Kommentar zu stellen und liest als Lösung den Vers „unsere Schmerzen, er hat sie gelitten“ (53, 4) als die Schmerzen, die von uns (den Völkern) verursacht wurde. 226 So etwa Ludwig Philippson, Vergleichende Skizzen über Judentum und Christentum, 306. Im vorliegenden Band vgl. etwa Samuel Hirsch: „[…] ein Anderer kann niemals meine Sündhaftigkeit aus meinem Herzen wegschaffen, sondern ich muß selbst zu Gott kommen und mich reinigen lassen wollen.“ (S. 134).



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stellvertretende Übernahme der Schuld, verstanden werden. Nur auf diese Art werden Leiden nicht als Strafe missverstanden, sondern als Abwesenheit von Gerechtigkeit begriffen, als „sittlicher Defekt der bisherigen Geschichte“, und gerade durch das Aufsichnehmen dieser Leiden wird der Messias in Cohens Augen zum Idealbild des Menschen und „der Menschheit als der Einheit der Völker“, d.h. zum Träger der sittlichen Welt der Zukunft.227 Hier ergibt sich nun der Ansatz zu Cohens oft zitierter Theodizee der Weltgeschichte. Im eudämonistischen Sinne betrachtet ist das Leiden der Juden ein Unglück, messianisch verstanden dagegen ein Zeichen seiner weltgeschichtlichen „Mission“: Israel leidet „als Stellvertreter für die Mängel und Schäden, die noch immer die Durchführung des Monotheismus hemmen“.228 Cohen überträgt den Gedanken der Theodizee somit vom Individuum auf die Geschichte der Völker. Es geht darum, betont er, den Widerspruch aufzulösen, der darin liegt, dass Israel einerseits unter den Verfolgungen der Götzendiener leidet, andererseits aber mit der Aufgabe betraut ist, den wahren Gottesdienst nicht nur zu bewahren, sondern auch zu verbreiten. Das ist der Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Geschichte, und Cohen kennt keine andere Lösung als diese: „in dem Leiden für die Völker erwirbt sich Israel das Recht, sie zu bekehren.“ Sein Leiden gibt dem jüdischen Messiasvolk erst eine „geschichtliche Menschenwürde“, und sein Messianismus besteht in seiner „tragischen Mission“, an der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts teilzunehmen.229 Mit dem Hinweis auf Lessing schließt sich also in Cohens philosophischer Deutung der Kreis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts und damit zum Anfang eines neuen theologischen Nachdenkens über Idee und Verwirklichung des jüdischen Messianismus. Wesentliche Elemente seiner Messiaslehre – die Entpersonalisierung des Messias und seine Identifizierung mit dem Volk Israel, die Ablösung des davidischen Erlöserkönigs durch den frommen, leidenden Gottesknecht, und schließlich die Umwandlung des Begriffes eines Messiasreichs von der restaurativen Theokratie des jüdischen Partikularismus in Palästina zu einem universellen Friedensreich der Völker – hat Cohen keineswegs selbst

227 Cohen, Religion der Vernunft, 308. Die klare moralische Ablehnung einer Stellvertretung in der Schuld geht schon auf Kant zurück; vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen den bloßen Vernunft (B 95), hrsg. von Bettina Stangneth (Hamburg: Meiner, 2003), 94. Schuld ist für Kant „keine transmissibele Verbindlichkeit“. Zur Problematik insgesamt vgl. Bernd Janowski, „Er trug unsere Sünden. Jes 53 und die Dramatik der Stellvertretung“, in: Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 und seine Wirkungsgeschichte, hrsg. von Bernd Janowski und Peter Stuhlmacher (Tübingen: Mohr Siebeck, 196), 27–48. 228 Cohen, Religion der Vernunft, 313. 229 Ebenda, 330.

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ersonnen, sondern fast unverändert aus der liberalen Theologie des Judentums übernommen. Seine eigentliche Leistung besteht im Ausbau dieser Gedanken zu einem System idealistischer Religionsphilosophie sowie in der Fortführung und theoretischen Klarstellung der Vorstellung vom stellvertretenden geschichtlichen Leiden des jüdischen Volkes als Grundlage einer messianischen Theodizee. Damit entwickelt sich bei Cohen der ursprünglich theologisch gedachte Begriff des jüdischen Messianismus zu einem politischen und sozialen Programm: dem des ethischen Sozialismus.230 Mit Hermann Cohen ist somit die radikale Transformation des traditionellen jüdischen Messianismus, die etwa um 1840 begann, zu einem Endpunkt geführt. Das revolutionär Neue dieser Entwicklung ungefähr acht Jahrzehnte vor der Veröffentlichung seiner Reflexionen liegt wohl vor allem darin, dass es sich hier (vielleicht mit der großen Ausnahme von Maimonides’ Denken) zum ersten Mal um einen religionsphilosophischen Prozess handelte, der nicht bloß innerjüdische theologische Probleme neu fassen wollte, sondern diese Fragen in die Geistesgeschichte der Menschheit einzugliedern versucht. Die Entdeckung und Betonung der weltgeschichtlichen Tendenz der jüdischen Messiasidee im liberalen deutschen Judentum sollte nicht nur, wie Max Wiener (1882–1950) schon 1928 bemerkte, den universalistischen Charakter der jüdischen Religion sicherstellen, sondern „vielmehr das Bestreben, die Messiasidee im Sinne eines immanent in der Geschichte der Menschheit wirksamen Prinzips“ zum Ausdruck bringen und damit den Fortbestand des Judentums in der Moderne grundsätzlich rechtfertigen Messianische Hoffnungen mussten scheitern, solange man an den Messias glaubte, auf sein Kommen wartete, ihn immer wieder in einzelnen Personen identifizierte – einschließlich der Person Jesu. Die Messiashoffnung des Judentums ist, wie der Budapester Rabbiner Ludwig (Lajos) Venetianer (1867–1922) formulierte, nicht die „Narkose des Leidenden, sie entspross nicht aus der Ethik der Unterdrückten.“231 Mit dem Gedanken, dass das leidende Volk Israel selbst messianische Züge annimmt und damit eine historische Mission erfüllt, erscheint die These, dass der Messianismus nur in Zeiten der Verfolgung blüht, in einem ganz neuen Licht. Die Idee des Messianismus ist älter als der Messias, so die zen-

230 Vgl. dazu auch Paul Mendes-Flohr, „The Stronger and the Better Jews: Jewish Theological Responses to Political Messianism in the Weimar Republic“, in: Jews and Messianism in the Modern Era: Metaphor and Meaning, hrsg von Jonathan Frankel (New York und Oxford: Oxford University Press, 1991), 159–185, hier 162. 231 Ludwig Venetianer, „Die Messiashoffnung des Judenthums“ (1915), repr. (Duisburg: Metzler, 2010), 12.



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trale These der liberalen Theologen. Sie ist ein Grundzug der jüdischen Religion, der sich von der Abrahamsverheißung bis zu den großen messianischen Texten der biblischen Propheten entwickelt hat. Es ist die Idee von der verwirklichten Zukunftshoffnung, vom gerechten Friedensreich auf Erden und dessen letztlich notwendiger Möglichkeit. Sie ist dieser Interpretation zufolge nicht zuletzt die unmittelbare und unbedingte Folge des größten kulturgeschichtlichen Beitrags des Judentums zur universellen Zivilisation: dem reinen ethischen Monotheismus.

Moritz Samuel Freystadt

Der Messias, Vier Sonette in: Sulamith (1834), 222–224 Moritz Samuel Freystadt (1810–1870) studierte – nach einer gründlichen talmudischen Ausbildung – an der Universität in Königsberg bei Johann Friedrich Herbart (1776–1841) Philosophie. 1832 erschien sein vielbeachtetes lateinisches Erstlingswerk Philosophia cabbalistica et Pantheismus.1 Als Privatgelehrter in Königsberg veröffentlichte er mehrere philosophische Schriften, beteiligte sich aber, wie seine Broschüre gegen Wilhelm Marr (1819–1904) von 1862 zeigt, auch aktiv am Kampf gegen den zeitgenössischen Antisemitismus. Bei seinen Messias-Sonnetten aus dem Jahre 1834 handelt es sich um ein frühes Zeugnis der Hinwendung jüdischer Theologen im neunzehnten Jahrundert zum Gedanken eines humanitären, universalistischen Messianismus.

Der Messias. Vier Sonnette 1. Die Verheißung. Sie ist dahin! die heil’ge Zionsmauer, Jerusalem ist hin! die Gottesstadt, Und Söhne, Väter, Mütter, Töchter hat Gerechter Gram versenkt in Todestrauer. In alle Welt zerstreut für Lebensdauer Wird Israel des Feindes Spottes satt; Und vom barbar’schen Hohngelächter matt Hüllt Juda sich in tiefe Grabesschauer. Doch tröstend spricht zum Volk der Seher Mund: „Nicht immer zürnt Jehova Dir, nicht immer; Hell leuchtet Dir der Hoffnung Sternenschimmer. Nach Jahren einst, so thut’s der Ew’ge kund,

1 Moritz Freystadt, Philosophia cabbalistica et Pantheismus (Königsberg: Bornträger, 1832). Das Buch wurde in zahlreichen jüdischen und nichtjüdischen Zeitschriften als Ausdruck einer beginnenden philosophischen Beschäftigung mit der Kabbalah besprochen, vgl. u.a. Abraham Geigers ausführliche Rezension in: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 2 (1835): 235–50.

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 Moritz Samuel Freystadt

Verschwindet Glaubenszwist, der Völker Sünde; Vernunft – Messias löst des Wahnes Binde.“

2. Das Embryo. Wie Organismus-Keime sich entfalten Allmählig durch verborg’nes Liebesband, So starrt im Winterschlaf der Wahrheit Land, Eh’ ihrer Samen Früchte sich gestalten. Ha! seht Ihr Fürst und Pöbel schalten Mit Abraham’s Stamm, Jehova’s Pfand? Das ist der Menschheit Embryonen-Stand, Der ihn Äonen lang in Schmach gehalten. Auf Erden herrscht das düstre Reich der Nacht, Und mehr denn Ein Jahrtausend ist entschwunden, Eh’ sich der finstre Irrthum aufgefunden, Der uns’re Väter mit Tyrannenmacht Die sklav’sche Kettenbürde tragen lassen, Mit Satansfreude langsam sie erblassen.

3. Die Geburt. Triumph! entsprossen ist im Lauf der Horen Die schand- und blutgedüngte Duldungssaat; Begonnen hat die längst beschloss’ne That: Humanität – Messias ist geboren; Und edelmüth’ge Männer sind erkoren Zu seiner Pfleg’ in Gottes ew’gem Rath. Nur Muth! mein Volk, die Freiheitsstunde naht; Nur Muth! nun bist Du nicht verloren. Kennst D u Or anien’ s, Washington’ s Gebiet, Kennst D u d e n Angelsachsen noch so wenig, Und Jo s e p h , Philip p und den Preu ßen-König? Dort schau’ und hoff’ und sing’ ein Dankeslied.



Der Messias, Vier Sonette 

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Und horch! worauf ein Dohm, ein K rug gedrungen2, Was Herde r und was Klopstock einst gesungen.

4. Die Erlösung. Noch giebt’s des Truges Bilder große Menge, Noch kämpft Jehuda gegen Vorurtheil, Noch trifft ihn oft des schnöden Hasses Pfeil, Noch reizt der Pöbel ihn durch Spottgesänge. Jedoch, wenn endlich in der Zeiten Länge Zerschmettert liegt des Wahnes Henkerbeil, Dann strahlt im Lorbeerkranz der Sieger Heil, Verkündend laut der Rettung Jubelklänge. Wenn spät in Tagen strenges Recht regiert, Im Juden man den Bruder nur verehret, Und Duldung und Gewissensfreiheit nähret: Dann ist auch das Erlösungswerk vollführt; Dann hat Vernunft die Fessel uns genommen; Messias ist als Friedensfürst gekommen.

2 Der Philosoph Wilhelm Traugott Krug (1770–1842), wie Dohm ein Befürworter der bürgerlichen und religiösen Emanzipation der Juden, war noch am Leben, als dieses Gedicht verfasst wurde. Vgl. vor allem sein Die Politik der Christen und die Politik der Juden im mehr als tausendjährigem Kampfe (Leipzig: Kollmann, 1832), in dem er zahlreiche christliche Einwände gegen die Gleich­ stellung der Juden widerlegt und die Einstellung jeder Missionstätigkeit fordert.

Elias Grünebaum

Confirmanden-Unterricht für Israeliten Neustadt a.d.H.: Gottschick, 1838, 31-33 [Auszug] Elias Grünebaum (1807–1893) studierte nach einer gründlichen talmudischen Ausbildung in Bonn und in München Orientalistik und Philosophie. In Bonn wurde er ein enger Freund Abraham Geigers. 1834 ordiniert, übernahm er zwei Jahre später das Kreisrabbinat im pfälzischen Landau, das er bis zu seinem Tode innehatte. Grünebaum war ein radikaler Reformer und wirkte erfolgreich für die Abschaffung des „Judeneides“ in Bayern. Er war Autor zahlreicher, vor allem historischer Publikationen zur Wissenschaft des Judentums. Seine 1838 erschienene Anleitung für den jüdischen Confirmanden-Unterricht ist ein frühes Beispiel für die neue Gattung der KatechismusLiteratur im Reformjudentum.1 Die vor den Konfirmanden zu unterrichtenden Fragen 37, 38 und 39 behandeln das Messiasreich, und Grünebaum präsentiert hier überraschend universalistischethische Antworten, die schon ganz ohne jüdischen Partikularismus und eine Personifizierung des Messias auskommen.

III. Das Messiasreich. 37te Fr. Wie heißt die dritte Glaubenslehre? Antw. Die dritte Glaubenslehre heißt: Die Menschheit schreitet in der Erkenntniß Gottes ewig fort, bis daß die wahre Verehrung des Höchsten auf der ganzen Erde so verbreitet sein wird, daß alle Menschen Gott als ihrer aller einzigen Vater, und sich gegenseitig als dessen Kinder, als Brüder und Schwestern lieben und achten, und in Liebe, Gottesfurcht und Tugend glücklich sein werden. 38te Fr. Wie heißt diese glückliche Zeit? Antw. Das Reich des Messias, wo die Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe herrschen und die Menschheit erlöset sein wird von dem sittlichen Übel, dadurch

1 Bereits die Haskalah hatte einige jüdische Katechismen hervorgebracht, so die Sammlungen von Hartwig Wessely (1725–1805) und Herz Homberg. Laut Leopold Zunz gab es bereits 1832 etwa fünfzig jüdische Katechismen in Europa (vgl. Zunz, Gottesdienstliche Vorträge, 457), und 1884 zählte Sigmund Maybaum (1844–1919) schon 161 Katechismen nur für den deutschen Raum. Fast jeder bekannte Reformrabbiner veröffentlichte im neunzehnten Jahrhundert eine Sammlung jüdischer Grundlehren – eine reiche theologische Literatur, die die Forschung bislang weitgehend unberührt gelassen hat. Vgl. allerdings Jakob J. Petuchowski, „Manuals and Catechisms of the Jewish Religion in the Early Period of Emancipation“, in: Studies in Nineteenth Century Jewish Intellectual History, hrsg. von Alexander Altmann (Cambridge, MA: Havard University Press, 1964), 47–64.

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aber auch von den vielen Leiden die sie sich durch Ungerechtigkeit und Unliebe so oft gegenseitig bereiten. 39te Fr. Was wird demnach das Kennzeichen der Messiaszeit sein? Antw. Das Kennzeichen der Messiaszeit wird sein, nicht – Unterjochung der Völker, sondern daß sie frei machen wird, frei im Geiste und in der Erkenntniß der lautern Wahrheit und im Leben in derselben. „Der Ewige wird dann als König der ganzen Erde erkannt werden; als das einzige, ewige Wesen, dessen Name ist: der Einzige.“ Sach. 14, 9. „Ihre Schwerdter werden sie zu Pflugschaaren, und ihre Lanzen zu Sicheln umwandeln; ein Volk wird gegen das andere nicht mehr das Schwerdt erheben, und den Krieg wird man nicht mehr lehren. Ungestört wird Jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, denn das Wort des Herrn Zebaoth verheißt es.“ Micha 4, 3. „Erkenntniß Gottes wird dann die Erde füllen, wie Wasser den Meeresgrund bedecken.“ Jes. 11, 9. Darum wollen auch wir das Unsere beitragen, diese herrliche Zeit immer näher und näher heran zu fuhren: immer weiter wollen wir schreiten in der Erkenntniß Gottes, immer mehr zu läutern und zu veredeln suchen unsere Begriffe von Gott und unsere Anbetung und Verehrung des Herrn, in Liebe Alles umfassen, in Tugend und Gottesfurcht Alles setzen, unser Leben und unser Streben, unser Sein und unser Wirken. Diese Grundlehre unsers Glaubens soll uns stets durchdringen bei jeder Sunde, die wir zu begehen, bei jeder Härte und Unliebe, die wir auszuüben im Begriffe stehen gegen irgend einen unserer Mitmenschen; immer soll es uns gegenwärtig sein, daß wir uns damit nicht nur an uns selbst, sondern an der ganzen Menschheit versündigen würden, die wir durch unsere Gebrechen um einen Schritt zurückbringen von jenem großen Ziele allgemeiner Vollendung, allgemeiner Vereinigung in Gott dem Herrn.

Salomon Formstecher

Die Religion des Geistes Frankfurt am Main: Hermann, 1841 [Auszüge] Salomon Formstecher (1808–1889) war einer der drei bedeutendsten jüdischen Religionsphilosophen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er promovierte 1831 an der Universität Gießen und übernahm 1842 das Amt des Oberrabbiners von Offenbach, das er bis zu seinem Lebensende inne hatte. Er beteiligte sich maßgeblich an allen drei Rabbinerkonferenzen der 1840er Jahre und engagierte sich vor allem für eine Reform der jüdischen Liturgie. Sein Hauptwerk Die Religion des Geistes war einer der ersten Versuche, jüdische Theologie in der Moderne philosophisch und historisch neu zu fassen. Formstechers wesentliches Motiv besteht darin, jüdisches Denken in die deutsche idealistische Philosophie einzugliedern und scharf von Christentum und Islam abzugrenzen. Sein Ehrgeiz richtete sich vor allem darauf, die objektive welthistorische Bedeutung der zivilisatorischen Leistungen des Judentums herauszuarbeiten. Bei seiner Messias-Interpretation handelt es sich daher um eine eigentümliche Mischung aus als realisierbar eingestufter Utopie und biblischem Restauratismus – eine Deutung, die sich jedoch in vielerlei Hinsicht für die Entwicklung der deutsch-jüdischen Reformtheologie als wegweisend erwiesen hat.

Bild des verwirklichten Ideals; Vollkommenheit der Menschheit; goldenes Zeitalter; Messiasreich. Hat der Mensch in seinem Entwickelungsgange von der Stufe der Natur zu der des Geistes sich insofern erhoben, daß er zur Erkenntniß seines Ideals gelangt ist und sich zu dem Streben erkräftigt und aufgefordert fühlt: es zu realisiren, dann entwirft er sich ein Bild von der Beschaffenheit seiner eigenen Lage und der seiner Umgebung; er fragt sich: wie wird dann die Menschheit, wie das ganze Dasein gestaltet sein, wenn ich an dem erstrebten Ziele angelangt bin? Und die unzufriedene Sehnsucht, dieser Lebensnerv aller freien geistigen Thätigkeiten, stellt das im Geiste ruhende Ideal mit lebendigen Farben dar und entwirft ein Gemälde von der ersehnten Zukunft. Dieses Gemälde ist somit der treue Abdruck des erkannten Ideals; da aber die Erkenntniß des Ideals sich immer mehr durch eine fortgesetzte Weltanschauung entwickelt und vervollkommnet und dadurch das Ideal selbst, zwar nicht in seiner objectiven Realität, aber doch in der subjectiven Auffassung desselben sich verändert, so muß auch dieser Reflex des Ideals im Laufe der Zeiten sich verändern und nach den localen und temporellen Verhältnissen des erkennenden Subjectes sich gestalten. Soll der Mensch als Träger des Geistes

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sich erweisen, so muß sein Streben mit Bewußtsein um das angestrebte Object verbunden sein, denn bewußtlos erstrebt und verwirklicht ihre Bestimmung nur die Natur, der Gegensatz des Geistes; es ist deßhalb dieses geistige Aufstellen eines Bildes von der Zukunft nicht ein zufälliges Spiel des müßigen Gedankens, sondern eine nothwendige Erscheinung in dem geistigen Entwickelungsgange der Menschheit. Soll der Geist seine Bestimmung erstreben, so muß er sie erkennen; soll er seine Vollkommenheit verwirklichen, wie diese die schon vollendete Natur darstellt, so muß er seinem Streben stets ein Bild dieser Vollkommenheit vorhalten können. Das entworfene Bild von der Zukunft der Menschheit ist die Veranschaulichung des zur Erkenntniß gelangten Zeitideals, Verfertiger dieses Zukunftbildes ist der frei producirende Geist, und die Farben zur Anfertigung desselben leiht er von der Geschichte der Vergangenheit, von den Verhältnissen der Gegenwart und von der Gestalt der ihn umgebenden Natur. So lange der Geist sein Ideal nicht erreicht hat, so lange muß er solch ein Zukunftbild sich entwerfen, darum wird er, mit Anfertigung desselben beschäftigt, sowohl in der antiken als in der modernen Zeit gefunden. Das Zukunftbild, welches die antike Zeit in den prophetischen Religionsschriften aufstellt, verfertigt sie mittels der poetischen Phantasie, das in den traditionellen Schriften mittels des logisch ordnenden Verstandes und das in den Schriften der Uebergangsperiode mittels der Verbindung beider Seelenkräfte. Die Prophetie, in ihrer vollkommnen Blüthenzeit, erkennt die Wahrheit reiner und klarer, als der Verstand in der Uebergangsperiode auf seinen ersten Entwickelungsstadien; das Zukunftbild der ersteren, obgleich stets das Gepräge des Zeitideals tragend, ist dennoch vollkommener und der absoluten Wahrheit adäquater, als das der, ihre Blüthenzeit noch erwartenden, Tradition. Das Zukunftbild der Prophetie ist vollendet, das der Tradition aber erhält seine Vollendung erst dann, wenn das objectiv gegebene Ideal in der Wirklichkeit sich darstellt; wenn die subjective, relativ wahre Offenbarung zur objectiven, absolut wahren sich gesteigert hat; wenn die Menschheit ihre Vollkommenheit repräsentirt. Darf bei der Aufstellung einer Parallele zwischen Judenthum und Heidenthum bei allen Gliedern der Religion nur die Periode der Prophetie, als eine vollendete, der Schilderung sich unterwerfende Sphäre derselben berücksichtigt werden, so muß die Betrachtung des Zukunftbildes beider Religionen um so mehr nur jene Sphäre fixiren, je mehr dieses Bild in der Periode der Tradition noch aller Selbstständigkeit und Eigenthümlichkeit entbehrt.– Das Moralprincip, welches die freie Thätigkeit des Menschen bedingt, ist formgebendes Element bei der Gestaltung dieses Gemäldes von der Zukunft; es gibt dem des Heidenthums das Colorit des Physicismus, und dem des Judenthums das des Ethicismus, und erklärt dadurch nur das des letzteren einer Fortbildung zur absoluten Wahrheit fähig, während das des ersteren, nur eine relative Wahrheit behauptend, mit der Negation des Heidenthums sich selbst negiren muß. –



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Die äußere Gestalt, welche das von der prophetischen Periode aufgestellte Zukunftbild darbietet, ist dieselbe im Judenthume wie im Heidenthume. In beiden zeigt es die Schilderung eines höchst glücklichen Zeitalters, in welchem physische und moralische Uebel entfernt, der Weltfriede die Menschheit als eine einzige liebevolle Familie entzückt, und in beiden nimmt es die Einwirkungen des Raumes und der Zeit insofern an, daß der Nordländer mit andern Farben wie der Südländer, der rohe Barbar mit andern wie der gebildete Grieche dieses Phantasiebild auszuführen sucht. Allein diese Aehnlichkeit, welche die äußere Gestalt des Zukunftbildes im Judenthume mit dem im Heidenthume darbietet, schwindet, sobald dessen inneres Wesen und der es schaffende Plan berücksichtigt wird. Das Heidenthum in seinem Mysterion setzt seinem freien Streben zum Ziele: Gott zu werden; jenes ersehnte goldene Zeitalter ist demnach dann eingetreten, wenn, wie dieß früher war, Götter auf Erden wandeln und herrschen, wenn diese keinen Feind mehr zu bekämpfen und zu besiegen haben, sondern das ganze All, dieser sichtbare Naturgott, den höchsten Frieden und die seligste Harmonie darbietet. Das Judenthum aber, welches den Menschen niemals einen Gott, sondern nur dessen Ebenbild darstellen läßt, bevölkert, selbst dann, wenn sein Messias erschienen ist, die Erde nur mit Menschen und nicht mit Göttern, aber mit vollkommnen und höchst veredelten Menschen. Das prophetische Phantasiebild von der Zukunft trägt deßhalb im Heidenthume mystisch-physisches, und im Judenthume rationalistisch-ethisches Colorit. – Einst, so lehrt das Heidenthum, weilte im Dasein ein goldenes Zeitalter; keine Mißgeburt, kein schädliches, plagendes oder giftiges Geschöpf entwand sich dem Muterschoße der liebenden Erde, Krankheit und Pest waren Fremdlinge in der menschlichen Gesellschaft, und Laster und Bosheit hatten noch nicht das reine Herz befleckt. Als aber ein Theil der Gottheit seine ursprüngliche Reinheit aus Neid und Egoismus aufgebend allein und selbstständig herrschen wollte, so schuf dieser abgefallene Gott sich alle jene genannten Uebel um mit deren Beistand das Lichtreich des Urgottes zu zerstören. Da entstand der Kampf des Moisasur und Rhaboon gegen Bram, des Ahriman gegen Ormuzd, des Typhon gegen Osiris, der Titanen gegen Saturn, jener Götterkrieg des Bösen mit dem Guten, den eine jede Mythe nach den Bedingungen des Climas und der Bildungsstufe des Volkes mit eigenthümlichen Farben zu schildern sucht.1 So lange dieser Kampf dauert, so lange das gute Princip in seinem Streben nach der Alleinherrschaft mit dem Bösen

1 Gestalten aus der hinduistischen, zarathustrischen und griechischen Mythologie. Mytho­ logische Forschung blühte in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrunderts auf. Formstecher bezog sein umfangreiches Wissen vermutlich aus Werken wie: Johann Peter Gerlach, Fides oder Die Religionen und Culte der bekanntesten Volker der Erde alter und neuer Zeit (Erlangen: Palm

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ringen muß, so lange kann jenes ursprüngliche goldene Zeitalter nicht wiederkehren, und neben dem Gotte wandelt der Teufel auf Erden umher. Doch wenn die vom Fatum bestimmten vier Jugs, oder Zeitalter der Prüfung und des Kampfes, welche Inder und Perser sogar genau mit Zahlen anzugeben vermögen, verflossen sind, dann sendet die Gottheit der seufzenden Erde einen Erlöser, welcher den Fürsten der Finsterniß stürzet, mit ihm seine Schöpfung, das physische und moralische Uebel zernichtet, und der Welt wieder ihre ursprüngliche Vollkommenheit verleihet. Dieser Erlöser muß, weil er mit einem Gotte, der, obgleich abgefallen, dennoch ein Gott bleibt, zu kämpfen hat, ebenfalls ein Gott, oder doch wenigstens ein durch Gott gezeugter Prophet, ein Gottessohn in physischer Bedeutung, sein, der auch, ohne Zuthun des Menschen, endlich den Sieg über den Teufel erringt. […] Dieses Zukunftbild, welches die Phantasie des Heidenthums unter localen und temporellen Einwirkungen verfertigte, entspricht gänzlich dem heidnischen Charakter, es ist ein Glied der heidnischen Metaphysik und ein Seitenstück zu dem Bilde von der Cosmogonie. Die einzelnen Bestandtheile des ganzen Bildes sind die personificirten Resultate der Astronomie, der Geognosie, der Chronologie und der Physik, von denen bei der Zusammensetzung bald das eine und bald das andere Resultat sich geltend machte. Die Personification eines ethischen Resultats konnte aber nicht aufgenommen werden, weil das ganze heidnische Erlösungswerk eine fatalistisch mechanische, aber keine freie, vernünftige ist. Nicht von der menschlichen Moral kann das Heidenthum die Erlösung abhängig sein lassen, weil unter dem eisernen Scepter eines Fatums der Mensch aller Freiheit entbehrt, er muß gut oder bös sein, je nachdem sich seiner das gute oder das böse Princip bemächtigt; darum kann nur ein Gott, oder ein eingeborner Sohn Gottes, die Menschen erlösen, was sie selbst als unfreie Wesen bei der Mitherrschaft eines selbstständigen, allmächtigen Teufels nicht vermögen. Die Sünde ist, nach dem Heidenthume, von Gott gesetzt, deßhalb kann sie auch nur von Gott wieder aufgehoben werden, der Mensch selbst verhält sich dabei gänzlich unthätig, wie das giftige oder schädliche Naturgeschöpf, welches ebenfalls gänzlich passiv durch die Macht des Teufels vom Bösen inficirt und nach der Besiegung desselben von diesem Bösen wieder befreit wird. Die Gesetzmäßigkeit, welche die Natur bei allen ihren Bewegungen manifestirt, zeigt sie auch in der heidnischen Religionslehre, in diesem ihrem Selbstbewußtsein, insofern ganz deutlich, daß sie genau die Zeit bestimmt, wann die Welt ihre ursprüngliche Vollkommenheit wieder erreicht, wann die gegenwätig unvollendete Gottheit endlich wieder vollendet sein wird. Die ganze Operation der Welterlösung

und Enke, 1830), oder dem über tausendseitigen Vollständiges Wörterbuch der Mythologie aller Nationen von Wilhelm Vollmer (Stuttgart: Hoffmann, 1836).



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liegt außerhalb der menschlichen Freiheit, sie ist der unfreie fatalistische Gnaden­ act der Gottheit, gehöret dem Gebiete der Naturerscheinungen an, weßhalb sie auch, wie etwa eine Sonnen- oder Mondfinsterniß, berechnet werden kann. – Durch die Welterlösung ist die Wiedervereinigung des Menschen mit Gott vollendet, denn da der heidnische Gott, die Personification der Natur, nicht höher als der Mensch, deren Blüthe, gedacht werden kann, und da der Mensch in seiner gegenwärtigen Erscheinung nur dadurch unter Gott stehet, daß er in einer sündhaften Materie weilt, so muß er, wenn alles Sündhafte zernichtet ist, ein reiner Gott werden, in dem höchsten Wesen selbst sich auflösen. Deßhalb auch ist dann die Erde ein Himmelreich, auf welcher Götter wandeln in höchster Vollkommenheit und Seligkeit. Damit aber kein Theil der Welt von dieser Seligkeit ausgeschlossen werde, bedarf das Heidenthum der Lehre entweder von einer Seelenwanderung, oder von einer Auferstehung der Todten. Der heidnische Pantheismus erblickt in einem jeden Atomen ein Glied seines Gottes; die Anzahl dieser Glieder ist nicht eine willkürliche, denn eine solche widerspräche dem Begriffe von einem organischen Ganzen, sie ist vielmehr, da die Natur überall Bestimmung und Gesetze zeigt, eine bestimmte und gesetzte. Auch die Anzahl der menschlichen Seelen ist bestimmt und festgesetzt, weßhalb auch das Heidenthum überall, wo es bis zu seiner consequent durchgeführten Vollendung gekommen ist, eine Präexistenz der Seele behauptet und lehrt, daß alle Menschenseelen als reine Geister ursprünglich in Gott vereint waren, und daß sie später nach Besiegung und Zernichtung des Bösen jene Vereinigung mit und in Gott wieder erhalten werden. An der Anzahl der menschlichen Seelen darf aber bei dieser Wiedervereinigung keine einzige fehlen, weil eine solche fehlende die Vollkommenheit der Gottheit beeinträchtigte, weßhalb auch diejenigen Menschen, die vor jener Welterlösung als Diener des Teufels starben und durch die läuternde Metempsychose bei der Erscheinung des Welterlösers ihre ursprüngliche Reinheit noch nicht erhielten, vor dessen Erscheinen auferstehen und ein reinigendes Weltgericht erdulden müssen, damit auch sie wieder aufgenommen werden können in das Alleins der Gottheit. Vollendung aller bestimmten Transmigrationen der wandernden Seelen, Auferstehung aller früher Verstorbenen, plagevolles, reinigendes Weltgericht, Erscheinung eines Himmelreiches sind die einzelnen nothwendigen Processe der heidnischen Welterlösung. Sie erscheint auf diese Weise als eine rein physische Operation, alles bewegt sich in ihr nach fatalistisch bestimmten Gesetzen, sie ist die Vollendung der Weltschöpfung, der Schlußstein eines consequent durchgeführten vergötterten Naturalismus. Als diametraler Gegensatz dieser rein physischen Operation zeigt sich die Veredlung der Menschheit im prophetischen Judenthume. Zur deutlichen Hervorhebung dieses Gegensatzes darf aber nur jenes Zukunftbild berücksichtigt werden, welches die Phantasie des rein prophetischen Zeitalters vor der baby-

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lonischen Gefangenschaft entwarf, denn jenes späterer Zeiten verräth durch mannichfaltige Nüancen heidnisch-jüdische Farbenmischung, welches eine geschichtliche Darstellung des Entwickelungsganges der Messiasidee im Judenthume näher nachzuweisen hat. – Den höchsten Aufschwung erlaubt der jüdische Seher seinem beflügelten Geiste dann, wenn er ihn in jene selige Zukunft schauen läßt, deren himmlisches Bild den kühnsten Erwartungen stets vorschwebte. Nicht genügte ihm der erhabenste Ausdruck, nicht der glänzendste Farbenreichthum seiner begeisterten Phantasie zur Ausschmückung dieses reizendsten der Gemälde. Schwierig ist es deßhalb dem ruhigen Forscher bei diesen in höchster Begeisterung ausgeführten Schilderungen die Grenze zwischen poetischem Schmucke und prosaischem Sinne, zwischen subjectiver Gestaltung des einzelnen Propheten und objectiver Erwartung des israelitischen Volksbewußtseins, zwischen relativ wahren Zeitideen und absolut wahren Offenbarungen anzugeben. Schwieriger wird diese Angabe noch dadurch, daß diese Schilderungen in der Phantasiesprache des hebräischen Dialectes dargestellt sind, welche Sprache selbst in ihrem prosaischen Ausdrucke in tropischen Bildern sich mittheilt. Der wesentliche Begriff des Judenthums, verbunden mit der Berücksichtigung seines Entwickelungsstadiums und seiner innern und äußeren politischen Verhältnisse, muß deßhalb bei dem Streben nach genannter Angabe vorzüglich Dienste leisten. – Die erhebende Verheißung, welche in den Urzeiten dem Abraham ward: daß seine Nachkommen zum großen Volke heranwachsen und daß durch ihn sich segnen werden alle Familien der Erde2 blieb zwar unberücksichtigt, solange Israel das Dasein seiner Theokratie gegen die zerstörenden Angriffe des Heidenthums vertheidigen und deßhalb sich particularistisch vor der Menschheit abschließen mußte; trat aber später, nachdem die Theokratie unter David unangefochten sich behauptet hatte, immer stärker und begeisternder hervor, jemehr der zerrüttete, in zwei Theilen aufgelöste Staat Israels solch eine Mißgestalt darbot, daß der vertrauungsvolle Anhänger der Theokratie über seine unbefriedigende Gegenwart sich erheben und im prophetischen Anschauen des entzückenden Zukunftbildes sich beseligen mußte. So oft den Propheten der schmerzlichste Unmuth anwandelt ob der Gesunkenheit seines Volkes, ob der Herrschaft des Lasters und der Ungerechtigkeit, und ob der Untreue gegen den Gott Israels und des Hanges an fremden Göttern, so oft er in diesem Unmuthe die furchtbarsten Strafen und die härtesten, aber gerechten Züchtigungen Gottes verkünden mußte, so oft mußte er sich selbst sowohl, als auch die mit ihm sympathesirenden Frommen beruhigen und trösten durch das Hinweisen auf jene glückliche beseligende Zukunft. Emporgetragen auf den Schwingen des prophetischen Gefühls vermochte er die

2 Genesis 12, 2–3.



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weitesten Zeiträume zu überschauen und Erscheinungen der spätesten Tage als nahe Gegenwart zu verkünden. – […]3 Lieblich und beseligend zeigt sich das Zukunftbild, welches das Judenthum von mehreren Meistern anfertigen läßt; es stellt uns das Menschengeschlecht als eine einzige Familie dar, welche, vom rosigen Bande der Bruderliebe umschlungen, Haß und Zwietracht nie hegt; welche, durch wahre Erkenntniß erleuchtet, sich schämt, der Natur wie einem Gotte gehuldigt zu haben; welche Gott in seiner Wahrheit so weit erkennend, wie dem Menschen es möglich ist, ihn als Vater der Menschheit in kindlicher Liebe verehret. Erkenntniß der Einheit Gottes, Entfernung der Sünde, der Bosheit und des Lasters und die liebevolle Verbrüderung der ganzen Menschheit sind stehende Haupttöne‚ welche in den Accorden aller prophetischen Melodien wiederklingen, welche aber von den verschiedenen Propheten in verschiedenen Modulationen vorgetragen werden, je nachdem Zeiten und Verhältnisse der einzelnen Sänger sie darboten. Ein jeder Prophet hebt das Aufhören desjenigen Uebels mit vorzüglicher Kraft hervor, woran sein Zeitalter vorzüglich kränkelt, und malt mit den glänzendsten Farben jene Hoffnung, deren Realisirung am meisten die sehnsuchtsvolle Brust erfüllt. So nimmt die Schilderung der Messiaszeit in verschiedenen Verhältnissen verschiedenartige Gestalten an und verbindet mit der absolut wahren, vom prophetischen Gefühle klar erschauten, objectiven Idee so viele relativ wahre, subjective Ideen, daß bei der Charakterisirung des Zukunftbildes im Judenthume zwischen Ideen der Zeit und denen der Ewigkeit streng geschieden werden muß. – Zu den Zeitideen mit bloß relativ-wahrer Bedeutung gehören theils jene, die durch das vom Judenthume damals erreichte Stadium seines Entwickelungsganges gezeugt sind, theils jene, welche seine inneren und äußeren politischen Verhältnisse hervorriefen. Zu den Zeitideen ersterer Art müssen die Hoffnungen gezählt werden, daß einst die eingetretene Frömmigkeit vom allvergeltenden Gotte so sehr belohnt werden wird, daß die physische Beschaffenheit des Landes eine höchst glückliche und gesegnete sein wird; die Hoffnung, daß der Ueberfluß an Wasser4 und an erfrischendem Regen5 das Land mit der ergiebigsten Fruchtbarkeit beschenkt6, daß mit den Thieren der Mensch einen Friedensbund geschlossen hat7, daß die

3 An dieser Stelle zitiert Formstecher ausführlich die zahlreichen messianischen Verheissungen in den Texten der bibischen Propheten. 4 Joel 4, 18. [Wo Formstecher zum Beleg mehrere Schriftverse angibt, wird hier zur Vereinfachung nur der erste wiedergegeben]. 5 Ezechiel 34, 26. 6 Jesaja 30, 23. 7 Hosea 2, 20.

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Himmelskörper prachtvoller sind8 und die ganze Natur in erneuerter Gestalt erscheint9. Manche solcher Schilderungen können dem tropischen und hyperbolischen Ausdrucke zugeschrieben, allein die meisten derselben müssen wörtlich aufgefaßt werden. Denn die Natur mit allen ihren Kräften stehet, nach der Lehre des Judenthums, im Dienste Gottes10; mit physischen Uebeln bestraft er die Sünde, so wie er mit physischen Wohlthaten die Gottesfurcht belohnt11. Hat der Mensch die höchste Stufe seiner Vollkommenheit und Frömmigkeit erreicht, so verdient er, nach dem damaligen Begriffe der Vergeltungslehre, daß Gott ihn mit einer höchst friedlichen und wohlthuenden Natur umgebe12, daß Himmel und Erde für ihn eine neue, stets beseligende Gestalt annehme, während er auf der Stufe der Sünde verdient, daß die Natur ihn höchst feindselig umgebe, daß ihm der Himmel wie Eisen, die Erde wie Kupfer werde13. Zu den Zeitideen zweiter Art gehören die Hoffnungen auf die Wiederherstellung des frühern Staats Israel14, an dessen Spitze ein Davidide als König thront15 und welcher nicht nur von keinem Feinde mehr unterdrückt werde16, sondern denselben sogar noch allenthalben besiegen17 und von ihm Geschenke18 und Dienste19 erhalten werde. Zu diesen beiden Arten von Zeitideen müssen alle Schilderungen gerechnet werden, welche mehr als jene genannten drei wesentlichen Elemente: wahre Gotteserkenntniß, reine Tugend und universelle Menschenliebe, in das Zukunftbild aufnehmen, welche dadurch die heterogensten Begriffe zusammenstellten, so daß neben der geistigen Gottesverehrung der Opferdienst, neben der universellen Bruderliebe die particularistische Bevorzugung ersehnt wird. Der Prophetismus erschaut klar und deutlich das entzückende Gemälde der spätesten Zukunft, aber stets im Rahmen der Zeitideen gefaßt und stets durchmischt mit den Hoffnungen und Tröstungen für die Gegenwart. Denn der Prophet des Judenthums wollte in der Mittheilung seines Gesichtes nicht eine theologische Gnosis als ein esoterisches Mysterion für eine abgeschlossene Priesterkaste aufstellen‚ oder mit Resultaten

8 Jesaja 30, 26. 9 Jesaja 65, 17. 10 Psalm 104, 3–4. 11 Levitikus 26, 5. 12 Hiob 5, 20–26. 13 Levitikus 26, 19. 14 Jesaja 49, 8–12. 15 Jeremia 23, 5 und 33,15. 16 Sacharja 9, 8 17 Jesaja 41,15. 18 Jesaja 60, 5–7. 19 Jesaja 60, 10.



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einer unpraktischen Speculation das System einer Schulphilosophie aufbauen, sondern er wollte seinem Berufe als Volksbildner genügen, der von Gott ernannt ist, seinen Nebenmenschen, selbst auf der niedrigsten Bildungsstufe, zu belehren, zu beruhigen, zu trösten und zu begeistern. Er mußte deßhalb in seinem Ausdrucke tief herabsteigen, seine geistigen Hoffnungen in materielle Bilder kleiden, seine universellen Erwartungen in particularistische Formen der Gegenwart gießen, sich dadurch so manchen Widerspruch zu Schulden kommen lassen, damit es ihm desto besser gelinge, auch den niedrigst Stehenden emporzuheben und sein blödes Auge nach und nach an das hellere Licht zu gewöhnen. Bei der Würdigung des Zukunftbildes im Judenthume muß demnach zwischen Wesen und Accidenz, zwischen Kern und Hülle genau unterschieden werden; es darf aber dennoch diese Unterscheidung bei der Vergleichung dieses Zukunftbildes mir dem im Heidenthume nicht berücksichtigt werden, weil auch in diesem die Schilderung desselben das Gepräge des tropischen Ausdrucks und die Einwirkung der Zeitideen deutlich nachweist. Demungeachtet bieten die Zukunftsbilder beider Religionen, auch ohne Sichtung zwischen Hülle und Wesen, gerade so genommen, wie die prophetischen Schriften beider Religionen sie aufstellen, solche charakteristischen Züge dar, wie sie der Reflex der Geist- und Naturreligion nur darbieten kann. Erscheint im Heidenthume die Befreiung vom physischen und moralischen Uebel als ein durch das Fatum bestimmter Act der Götter, als reine Operation des Naturprocesses, auf welchen die menschliche Freiheit nicht den mindesten Einfluß äußern kann; so muß dieselbe im Judenthume als alleiniges Werk des Menschen erkannt werden. Von seiner Tugend, seiner Gerechtigkeitsliebe und Gottesfurcht ausschließlich wird jene Befreiung abhängig gemacht, stets wird er an seine Freiheit erinnert, er selbst wird als Schöpfer seines Schicksals hingestellt, er selbst soll sich erlösen.20 Das Erlösungswerk des Judenthums ist eine menschlich freie, eine rein ethische Operation, während sie im Heidenthume als eine fatalistisch bestimmte Evolution der Natur erkannt werden muß. Der Messias des Judenthums ist darum kein Gott, der es nöthig hat, mit einem Gotte als Teufel zu kämpfen, sondern ein Mensch, aber ausgerüstet mit den höchsten Eigenschaften der menschlichen Vollkommenheit.21 Auch hat dieser persönliche

20 Das ist klassische talmudische Theologie, die die Reformrabbiner im Allgemeinen gern übernahmen. 21 Ezechiel 34, 23. Formstecher merkt hier an: „Die ersten Spuren einer Art von Apotheose des Messias finden sich in dem nachexilischen Daniel, in einer Schrift. welche nicht mehr zu denen der Propheten gehört“, und zitiert zur Bestätigung den Jesaja-Kommentar (1821) von Wilhelm Gesenius (1786–1842).

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Messias nur politische Funktionen, Israels Vereinigung und Befreiung herzustellen, aber keine mystisch-theologische Versöhnung der Gottheit mit sich selbst, nicht durch eine Selbstaufopferung eine Apotheose des Menschen zu bewirken. Ist die Erlösung eine rein ethische, nur von der menschlichen Freiheit abhängige Operation, dann kann auch die Zeit ihrer Erscheinung, wie dieses im Heidenthume geschiehet, nicht berechnet und mit Zahlen angegeben, wohl aber mit Gewißheit erhofft werden, weil dem Herrn allein dieser Tag bekannt ist.22 Ein allgemeines Weltgericht für alle Völker der Erde läßt auch das Judenthum der Messias­ zeit vorausgehen23, aber es bringt mit demselben eine Auferstehung der Todten nur dann erst in Verbindung, nachdem es die heidnische Schule zu Babylon besucht hatte24. Die Schilderung des Zukunftbildes im Judenthume bleibt somit stets innerhalb dem Gebiete des Geistes; zwar nimmt auch die Natur an dieser einstigen veredelten irdischen Gestaltung bedeutenden Antheil, aber nur um den Menschen zu belohnen, für dessen Bestrafung sie ihre Uebel hat, aber nicht um durch diese Umgestaltung sich selbst zu vervollkommnen; denn sie trat höchst vollkommen aus der Hand des Schöpfers und auch Winter und Nacht und alle Wesen mit schädlichen Eigenschaften, in welchen das Heidenthum Geburten des Teufels erkennt, sind Geschöpfe Gottes, die zum Fluche nur dem sündhaften Menschen werden können. Nur für den Menschen lehrt das Judenthum eine Entfernung des Uebels, weil nur für diesen ein solches existirt und zwar durch sein Herabsteigen aus der Sphäre des Geistes in die der Natur; aber nicht für die untermenschlichen Wesen, welche, dem Gebiete der Natur angewiesen, keiner Erlösung bedürfen.25 Ein rein humanes, geistiges, ethisches Colorit trägt somit das Zukunftbild des Judenthums, und sogar die Natur stellt in ihrer Theilnahme an demselben insofern ein solches dar, daß sie in ihm nur als Mittel zur Belohnung und Bestrafung in der Hand Gottes erscheint; während im Heidenthume, aus Mangel an Erkenntniß des Gegensatzes zwischen Natur und Geist, erstere selbstständig auftritt, das Uebel, von dem sie erlöst sein will, in sich selbst findet, dadurch auch eine Umgestaltung ihrer selbst als solche fordert und die Welterlösung zu einer rein physischen Operation herabziehet. – […]

22 Formstecher: Auch hier ist es wieder das Buch Daniel (12, 6–13), das die Möglichkeit bietet, diese Zeit zu bestimmen. Vgl. jedoch Sacharja 14, 7. 23 Joel 4, 2. 24 Daniel 12, 2–3. 25 Zur göttlichen Vorsehung im Judentum im Sinne Formstechers vgl. Maimonides’ Führer der Verwirrten, Teil III, Kapitel 17–18.



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Der Kampf und die Versöhnung zwischen dem antiken und modernen, und zwischen dem heidnischen und jüdischen Elemente ist ein Proceß des objectiven Lebens, der sich gestaltet und vollendet ohne Bewußtsein und ohne Absicht des Subjects. Das Judenthum wirkte zwar kräftig und mit bewußter Planmäßigkeit gegen den nähern Umgang, und vorzüglich gegen die Verschwägerung des Juden mit dem Heiden; der strenge Separatismus aber, der sich später im ganzen jüdischen Leben, in der Weise zu denken, zu sprechen und zu handeln, ausdrückte, kann dennoch nur als das Product des bewußtlosen Volksgeistes betrachtet werden, während der um sich selbst wissende Volksgeist dieses separatistische Leben doch immer nur als eine Anforderung des Cultus ausbildete. Neben dieser Manifestation des objectiven Volksgeistes stellt die Geschichte auch die Spuren des subjectiven Volksbewußtseins dar, und zwar dieses in seinen Wünschen und Hoffnungen. Der Wunsch ist der Ausdruck des bewußten Strebens, er bezeichnet das Ziel, auf welchem der Mensch von derjenigen Lage befreit gedacht wird, welche er in der Gegenwart drückend und schmerzlich fühlt. Die Ansicht, welche das Juderthum von seiner Lage in der Gegenwart, von seinem Ideale für die Zukunft und von dem Verhältnisse zu seiner Umgebung hegte, somit das eigentliche Selbstbewußtsein des Volkes, stellt sich in seinen frommen Wünschen und in seinen messianischen Hoffnungen dar; in ihnen zeigt sich deutlich: wie der religiöse Separatismus das Product des objectiven Volksgeistes war, während der subjective noch immer mit wenigen Ausnahmen den politischen Separatismus als anzustrebendes Ideal betrachtete. – Die messianischen Erwartungen dieser Zeitstrecke bildete die treue Fortsetzung früherer Perioden und mischen absolut wahre und relativ wahre Ideen, moderne und antike, jüdische und heidnische Elemente bunt durch einander. Als eine klare Ahnung von dem absolut wahren Ideale der Menschheit kann die Hoffnung betrachtet werden: daß einst zur Zeit des Messias die Menschheit die höchste Vollkommenheit im Erkennen, im Willen und im Handeln wird erlangt haben. „Die Thora, welche der Mensch in dieser Welt erlernt, ist etwas Eiteles gegen die Thora des Messias“26 zu seiner Zeit werden alle Opfer und Gebete außer dem Dankopfer und dem Dankgebete aufhören27, und weil nur eine wahre Bekehrung die Ankunft des Messias möglich macht28, so wird dann die Neigung und der Wille zum Bösen geschwunden sein.29 Da die

26 Midrasch Rabba zu Koheleth 11, 8. 27 Midrasch Levitikus Rabba 9, 7. 28 bT San 97b. 29 Hier verweist Formstecher auf den Midrasch Pesiktha Rabbati, eine Sammlung von homiletischem Material aus dem neunten Jahrhundert. Zu den außergewöhnlichen Messiasdeutungen in diesem Midrasch vgl. Schäfer, Die Geburt des Judentums, 133–140.

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Ankunft der Messias-Zeit eine Folge der menschlichen Besserung ist, so ist eine Berechnung: wann diese Zeit erscheinen wird, nicht nur dem menschlichen Wissen verborgen30, sondern sogar verboten31. Allein ein klares Auffassen des absolut wahren Ideals der Menschheit lag auf dieser Entwickelungsstufe außerhalb der Erkenntnißfähigkeit des Judenthums, weßhalb die Ansichten über dasselbe so verworren und sich gegenseitig so widersprechend sind, daß ein Rabbi Hillel behauptet: Israel habe gar keinen Messias mehr zu erwarten, weil als solcher schon der König Chiskija erschienen sei32, und Samuel den Unterschied zwischen der gegenwärtigen und der zukünftigen Messiaszeit nur in dem Verhältnisse des Unterthanen zu seinem Fürsten erkennt33. Weit fruchtbarer ist die midraschische Thätigkeit in ihrer Schöpfung der Zeitideen und in der Ausschmückung ihrer mythischen Phantasiebilder. Dem Grundsatze, daß alle Propheten von der messianischen Zeit weissagten gemäß, wurden nicht nur in allen dunkelen Prophetenstellen messianische Verkündigungen gefunden, sondern auch alle Zeitideen der Propheten fortgesponnen und alle ihre Tropen und Metapher ausgemalt und in die Wirklichkeit versetzt. Ist es schon in der prophetischen Darstellungsweise schwierig, die Grenze zwischen bildlichem und reellem Ausdrucke zu bezeichnen, so ist dieses in den midraschischen Schilderungen noch weit schwieriger, fast deßhalb unmöglich, weil uns die äußeren und inneren Verhältnisse im Kleinen unbekannt sind, welche oft die freie Ansicht über die politische Lage in ein räthselhaftes Bild zu hüllen nöthigte. Allegorien und Fabeln, Legenden, Parabeln, Tropen und Hyperbeln sind so durcheinander gemischt, daß die wissenschaftliche Kritik bei einem Sichten derselben höchst vorsichtig sein muß. Tropische Ausdrücke der heiligen Schrift ließen die Phantasie oft ausschweifen in ihren Schilderungen der glücklichen Messiaszeit34, neben der wunderbarsten Fruchtbarkeit läßt sie in Palästina einen solchen Reichthum an irdischen Schätzen sich einfinden, daß die Pforten des Messias-Tempels aus Edelsteinen35 und das Gebälk aus Cedern, die im Paradiese wuchsen36 bestehen werden. Das Menschengeschlecht, welches vor dem messianischen Zeitalter lebt, ist bis zur tiefsten Stufe

30 bT Sanh 99a. 31 bT San 97b. 32 bT Sanh 99a. 33 bT San 99a. Für den talmudischen Weisen Mar Samuel besteht der Unterschied zwischen der gegenwärtigen und der Messiaszeit nicht in einer wunderbaren Veränderung der Natur, sondern nur darin, dass die Fremdherrschaft über Israel aufhören wird. 34 bT Kethuboth 111b–112a. 35 bT Baba Bathra 75a. 36 Targum zum Hohelied 1, 17.



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der Sittenlosigkeit und des Lasters herabgesunken37 und muß große Leiden und unerhörte Drangsale erdulden38. Drei Tage vor der Erscheinung des Erlösers wird seine Ankunft von Elias verkündet39, die Völker müssen die vier Becher des göttlichen Zornes leeren und Messias wird der irdische König der Menschheit40. Zerstreut in den midraschischen Werken finden sich so viele Dichtungen über das Erscheinen, die Persönlichkeit, das Wirken, Richten und Regieren des Messias, daß sich die ausführlichste Schilderung‚ oft mit den sich widersprechendsten Zügen, zusammenstellen ließe; in ihnen wird erzählt: wie zuerst ein Messias ben Joseph auftritt, der im Kriege gegen Gog Umagog getödtet, allgemein betrauert und endlich auf Bitten des Messias ben David wieder belebt wird41; wie letzterer auf einem Esel reitend42 alle Völker unterjochen und die Herrschaft über die Erde antreten werde43 und wie das Weltgericht und die Auferstehung der Todten mit dieser zukünftigen Zeit in engster Verbindung stehen. Aus allen diesen verschiedenartigen und sich widersprechenden Schilderungen leuchtet klar das innere subjektive Volksbewußtsein hervor, welches nach Rache an seinen tyrannischen Unterdrückern, nach politischem Separatismus und nach der Zeit sich sehnte: in welcher auch die früher in Leiden und Elend Verstorbenen an dieser einstigen Glückseligkeit auf Erden Theil nehmen werden. Mit diesen jüdischen Vorstellungen von dem einstigen Zukunftbilde suchten heidnische Mythen sich zu amalgamiren und dadurch heidnisch-jüdische Erwartungen zu produciren. Zu diesen gehört die Erzählung: daß Messias in Lichtgestalt unter dem Gottesthrone präexistirt seit der Weltschöpfung, wo ihn Satan erblickt, in ihm den einstigen Zerstörer seines satanischen Reiches erkennt und darob entsetzlich erschrickt44; daß auch sein Name seit der Weltschöpfung präexistirt45 und er bei seinem Erscheinen in den Wolken sich zeigt.46 Er tritt auf, wenn alle präexistentirenden Seelen auf

37 bT San. 97a. 38 bT San. 97a und bT Sabbath 118a. 39 Jalkut zu Jesaja 42, 7 (Jalkut Schimoni ist eine klassische Anthologie midraschischer Texte, zusammengestellt im zwölften Jahrhundert von Rabbi Schimon haDarschan Kara). 40 Jalkut zu Psalm 75, 9. 41 bT Sukka 52a. 42 Jalkut zu Genesis 22, 3. 43 Jalkut zu Exodus 12, 46 und zu Jesaja 60, 1. 44 Jalkut zu Jesaja 60, 1. Formstecher: Vgl. die Mythe von Ormuzd und Ahriman. 45 Genesis Rabba 1, 4. 46 Formstecher verweist hier auf „Midrasch Wajoscha zu Dan. 7, 13“. Dieser Midrasch enthält allerdings nur Auslegungen zu Exodus, 14, 30 bis 15, 18 (Schirat HaJam). Zu Vers 15, 8 allerdings gibt der Midrasch phantasievolle Beschreibungen der Messiaszeit, die Formstecher gemeint haben könnte.

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Erden erschienen sein werden47, weßhalb er auch zu einer gewissen Zeit mit Nothwendigkeit erscheinen muß48, die sogar berechnet werden kann.49 Nach seinem Erscheinen besitzen alle Juden50, oder alle Menschen eine irdische Unsterblichkeit51 und alles Unreine wird entfernt sein.52 Heidnische Elemente sind in allen denjenigen messianischen Schilderungen zu entdecken, in welchen des Messias Persönlichkeit apotheosirt und sein Wirken nicht nur einen politischen und ethischen, sondern auch insofern einen physischen Erfolg zeigt, daß durch ihn die Natur an und für sich und nicht blos als eine Belohnung für die menschliche, sittliche Vollkommenheit, vom Bösen befreit und in ihrer Productivität vollkommner und edler sein wird. – Diesen messianischen Erwartungen gemäß betrachtete auch das Judenthum sein Verhältniß zur Menschheit; es nannte den Aufenthalt der zerstreuten Juden in den Ländern außerhalb Palästinas eine, durch die Sünden verursachte, Gefangenschaft, doch seien sie von Gott nicht verstoßen, sondern noch jetzt liebt er sie als sein auserwähltes Volk, das er einst zur größten Herrlichkeit erheben wird. Die Ursache, daß Israel höher als alle übrigen Völker stehet, findet die heidnisch-jüdische Lehre in der Hypothese, daß alle Völker nur unter der Leitung der Schutzengel (heidnische Localgottheiten) sich befänden, jenes dagegen unter der Leitung des höchsten Gottes selbst stünde53, allein an anderen Stellen räumt der Midrasch den Frommen aller Nationen einen Antheil an der zukünftigen Welt ein54 und betrachtet sogar diejenigen Nichtisraeliten, welche außerhalb Palästina wohnen, nicht als Götzendiener.55 Mittels des Midrasch löste das Judenthum die Aufgabe: hinter der Ringmauer des Gesetzes seine umhergeworfenen Glieder gegen den zernichtenden Sturm des Heidenthums zu schützen, sie durch den religiösen Separatismus zu einer eng geschlossenen Phalanx zu verbinden, die wohl erschüttert aber nicht besiegt werden konnte. Es war das durch den Midrasch ausgearbeitete Gesetz, welches das Judenthum in seiner materiellen Existenz schützte und in seiner geistigen

47 Aboda Sara 5. 48 Exodus Rabba 25, 12. 49 bT San. 97a. (Der Widerspruch zu der früheren Aussage Formstechers löst sich dadurch, dass diese Talmudstelle beides enthält: sowohl Versuche, die Ankunft des Messias zu berechnen, als auch das schließliche Verbot dieser Versuche). 50 bT Pesachim 68a. 51 Genesis Rabba 26, 5. 52 Pirke de Rabbi Elieser, Kap. 43. 53 Pirke de Rabbi Elieser, Kap. 24. 54 bT San 105a. Dieser bekannte Satz findet sich allerdings nicht (wie oft behauptet) im Text der Gemara selbst, sondern nur in den mittelalterlichen Tosafot zu dieser Stelle. 55 bT Cholin 13b.



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Fortbildung, in seiner Bewegung von der Objectivität zur Subjectivität, förderte. Darum erkannte das Judenthum keine höhere Aufgabe, als das Ceremonialgesetz zu cultiviren, einen jeden religiösen, von den Eltern geerbten Gebrauch bis in seine kleinsten Nüancen zu fixiren und, trotz der immer zunehmenden Subjectivität, unter alle Anordnungen der rabbinischen Autoritäten sich knechtisch zu fügen. Es war das bewußtlose Gefühl von der Notwendigkeit des religiösen Separatismus, welches diesen gedankenlosen Gehorsam zeugte und den höchsten Ruhm und die beseligendste Seelenruhe in der strengen Ausübung aller Ceremonien finden ließ. Die ängstliche Gewissenhaftigkeit, mit welcher alle Gedanken, Gefühle und Bewegungen des Lebens bewacht wurden, daß nur die enge Peripherie des traditionell-rabbinischen Judenthums nicht überschritten werde, war der himmlische Genius, welcher den Juden in seiner Ausdauer, in seinem Vertrauen und in seiner Hoffnung unterstützte und stärkte. Nichts konnte den Juden kräftiger von seinem bedeutenden Berufe und von seiner hohen Mission für die Menschheit überzeugen, als das Staunen, durch den Gedanken erweckt: daß seine Religion, trotz der vielen Anfechtungen, doch noch die einzige ist, die so viele Schwesterreligionen zu Grabe tragen sah, und bei dem mächtigen Umschwunge der Zeiten sich noch lebensfrisch behauptet. Immer enger schloß sich deßhalb der Jude an den Juden an und immer kräftiger wies er die Versuchung zurück, welche durch Gewalt‚ Hinterlist oder Ueberredung ihn zur Untreue gegen die väterliche Religion bewegen wollte. Diese innere nur von der Wahrheit abstammende Kraft gab dem mühselig pilgernden Juden die Stärke, sein Ziel unablässig anzustreben, die Menschheit auf ihrem Zuge von der Objectivität zur Subjectivität zu begleiten, um sie endlich zu demjenigen Ideale zu führen, welchem, als dem Ideale des geistigen Individuallebens, allein absolut wahre Geltung zukömmt. – […] Auf der Höhe der Gegenwart stehend, fühlt der gemüthliche Denker sich dringend aufgefordert, einige spähenden Blicke in die Zukunft der Menschheit zu werfen und sich Aufschlüsse über die bedeutenden Fragen zu suchen, welche dann ihm von selbst sich darbieten. Ist es uns möglich, von der Gegenwart aus die Zukunft der Menschheit zu erschauen? So lautet die erste Frage, welche bei einem versuchten Blicke in die Zukunft dem Nachdenken sich darbietet. Der Mensch, als Theilnehmer an der Natur und als Träger eines Geistes, stehet mit beiden, mit Natur und Geist, in einem bestimmten Verhältnisse und bietet somit auch ein zwiefaches Lebensbild dar. Als Theilnehmer an der Natur fühlt er sich aufgefordert, dieselbe sich insofern zu unterwerfen, inwiefern sie im Allgemeinen ihre Individuen durch Aufopferung anderer Individuen erhält. Auch der Mensch muß einen Theil der Naturindividualitäten seinem Selbst aufopfern, um sein Dasein als Naturgeschöpf behaupten zu können; er hat dabei vor den bewußtlosen

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Naturgeschöpfen den Nachtheil, daß er da, wo er sich auch als Träger des Geistes und nicht mehr in seinem rohen Naturzustande manifestiren will, die Natur für seinen Zweck mittels seiner Denkkraft verarbeiten muß, dagegen vor jenen den Vortheil, daß er zu dieser Verarbeitung der Naturkräfte selbst als der Werkzeuge sich zu bedienen und dadurch die Natur mittels ihrer selbst sich zu unterwerfen vermag. Je mehr dieses dem Menschen gelingt, je mehr er nämlich vermöge seiner Erfindungen im Gebiete der Physik die Naturkräfte selbst für seine physische Selbstbehauptung arbeiten lassen kann, desto weniger hat er nöthig, selbst mechanische Verrichtungen zu vollbringen und desto umsichtiger kann er auf dem Gebiete des Geistes thätig sein. Je mehr deßhalb die Mechanik sich vervollkommnet, desto mehr hört der Mensch auf, selbst nur Maschine zu sein und desto mehr erhebt er sich aus der Sphäre der Natur in die des Geistes. Das Lebensbild des Menschen, als eines Theilnehmers an der Natur, gestaltet sich demnach gänzlich nach seiner Kenntniß, welche er von den Naturkräften besitzt, und zeigt sich somit, bei dem steten Vorwärtsschreiten in dieser Kenntniß, anders in der Gegenwart als vor einem Jahrtausend, anders in England als im Inneren Afrika’s. Ist diese Kenntniß von den Naturkräften vollendet, dann ist auch jenes Lebensbild nicht mehr einer Veränderung unterworfen; da aber der Mensch das Ideal seines Individuallebens realisiren, somit seine Bestimmung und seine Vollkommenheit erreichen kann, wenn auch diese Kenntniß nicht vollendet ist; da es sogar für die Gegenwart noch ein ungelöstes Räthsel bleibt: ob diese Kenntniß je vollendet werden kann, ob nämlich die Natur eine gegebene oder eine unendliche Summe von Kräften umschließt, und ob die verschiedenen Combinationen aller dieser Kräfte nicht stets eine irrationale Größe bietet, so kann auch jenes Lebensbild, sogar das der nächsten Generationen, nicht von der Gegenwart aus erschaut werden, und ein jeder Blick in die Zukunft der Menschheit, als einer Theilnehmerin an der Natur, bleibt vom ewigen Dunkel umhüllt. – Anders dagegen kann die Frage erwidert werden: läßt sich die Zukunft der Menschheit als Trägerin eines Geistes von der Gegenwart aus erschauen? Denn diese Möglichkeit muß allerdings eingeräumt werden. Als Träger eines Geistes tritt der Mensch in einen diametralen Gegensatz zum Naturgeschöpfe; als solcher will er nämlich nicht das Nebengeschöpf seiner Selbstbehauptung opfern, sondern dasselbe als daseinliche Erscheinung erfassen, würdigen und erhalten. In dieser Qualität manifestiert er sein gegensätzliches Verhältnis zum egoistischen Naturstreben darin, daß er dasselbe an seiner eigenen Individualität zwar nicht annulliren will, weil er es als eine wesentliche Manifestation der Erdmonade erkennt, aber es der Leitung des Geistes gänzlich unterzuordnen und dadurch den Dualismus zwischen Natur und Geist aufzulösen strebt. Diese Realisierung des Ideals des geistigen Individuallebens wird somit nicht bedingt von den Fortschritten der Physik, sondern von dem Fortschreiten der Weltanschauung bis zu derjenigen Stufe, auf welcher der



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Geist dieses Ideal in seiner absoluten Wahrheit zu erschauen vermag, und ferner von der moralischen Stärke, vermöge welcher es dem Menschen gelingt, das Naturstreben dem Geistesstreben zu unterwerfen. Jene Stufe der Weltanschauung liegt auf dem Gebiete der Physik nicht da, wo der Mensch seine Kenntniß von sämmtlichen Naturkräften vollendet, sondern da, wo er zum Bewußtsein vom Gegensatze zwischen Natur und Geist gelangt und dadurch seine Stellung und seine Aufgabe auf Erden und sein Verhältniß zur Welt und zu Gott klar zu erfassen vermag. Die moralische Stärke zur Realisierung des Ideals des geistigen Individuallebens wird zwar schon mehr von jener Kenntniß der Naturkräfte bedingt, so daß der Mensch, je weniger er als Naturgeschöpf thätig sein muß, sich destomehr als Geistesgeschöpf erweisen kann und vermöge der dadurch ihm möglichen beständigen Uebung in geistiger Thätigkeit endlich diejenige moralische Stärke gewinnt, welche die Realisierung des Ideals fordert und sie herbeiführt; allein die, aus jener vollkommneren Kenntniß der Naturkräfte erwachsende physische Unthätigkeit kann gerade jener Realisierung störend entgegentreten und eine Genußsucht und Herrschsucht erzeugen, durch welche das Naturelement im menschlichen Leben desto kräftiger und selbstständiger sich geltend zu machen vermag. Nicht die Summe der Kenntnisse von den Naturkräften bedingt demnach die Möglichkeit der ethischen Vollkommenheit, sondern ausschließlich das klare Bewußtsein von dem Verhältnisse zwischen Natur und Geist und die damit verbundene, immer klarer werdende Erkenntniß des Ideals vom geistigen Individualleben. In die Zukunft der Menschheit, als der Trägerin eines Geistes, vermag demnach das forschende Auge allerdings einige Blicke zu werfen und in unsicheren Umrissen das Lebensbild erschauen, das sie einst auf Erden verwirklichen wird. Das Ideal für dieses Lebensbild ward in seiner absoluten Wahrheit vollendet aufgestellt von Israels Prophetie, es erscheint zwar eingeschlossen vom Rahmen der damaligen Zeitbegriffe, allein die fortschreitende Weltanschauung hat während jenes Abschlusses des prophetischen Zeitalters bis zu einer solchen Stufe sich erhoben, daß der subjective Geist der Gegenwart zwischen relativer und absoluter Wahrheit zu scheiden, somit jenes Ideal in seiner ewigen Geltung aufzustellen vermag. Das Zukunftbild der Menschheit, welches das ruhige Nachdenken dem sehnsuchtsvollen Geistesauge nicht nur als poetisches Phantasieproduct, sondern als eine einst wirklich eintretende Realität vorhält, ist das Ideal des geistigen Individuallebens, wie es der Ethik zu Grunde liegt, und wie es zum Theil manchmal bei einzelnen Menschen in der Vergangenheit und in der Gegenwart als concrete Gestalt erschien und erscheint. Ist dieses Ideal in seiner Reinheit als Erkenntnißobject erfaßt und in der Handlungsweise dargestellt, dann hat jenes Zukunftbild der Menschheit seine Wirklichkeit erreicht und im Erkennen und Handeln die Menschheit selbst ihre Vollkommenheit, somit ihre Bestimmung erlangt. Klar

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und deutlich weiß dann der Mensch, wie weit die Sphäre seiner Wissensfähigkeit reicht und welche Objecte der Erkenntniß innerhalb und welche außerhalb der Grenze dieser Sphäre liegen. Jenseits dieser Grenze liegen ihm dann alle jene Objecte, welche ausserhalb des tellurischen Lebens sich befinden, deren Dasein er wohl weiß, deren Wesen aber ihm stets ein ungelöstes Räthsel bleiben wird. Dorthin verweist er die Theogonie und Theosophie, die Astrologie und die Astrognosie, die Angelo- und Dämonologie, die Cosmogonie, die Metaphysik der Psychologie, sowie eine jede Speculation über das Endschicksal der Seele nach diesem Erdenleben. Zu diesen ewigen Räthseln für das menschliche Wissen zählt er auch die Erfindungen, welche durch ein fortgesetztes Erforschen der Naturkräfte möglich werden können und die Gestalt des industriellen Wirkens bei der spätesten Zukunft der Menschheit. Object des menschlichen Wissens aber ist Gott nach seinen, in der Schöpfung sich manifestierenden, ethischen Eigenschaften, sowie das Verhältniß, in welchem der Mensch zu ihm sich befindet.56 Gott wird erkannt als der einzige Träger des Weltalls, welcher aber neben dieser seiner pantheistischen Manifestation wenigstens nicht weniger sein kann als der Mensch, somit eine um sich selbst, demnach auch um ein jedes Atom des Daseins wissende Persönlichkeit sein muß. Die Theologie ist dann der reinste und liebevollste Theismus, den das religiöse Gemüth nur fordern kann, und genügt vollkommen den Anforderungen der Intelligenz sowohl, als denen der Frömmigkeit. Seine Bestimmung findet der Mensch in der Darstellung der Humanität, welche fordert: daß er nicht mehr und nicht minder sei als Mensch, als Theilnehmer an der Natur und als Träger des Geistes, und daß er als solcher in seinem Leben weder die Natur dem Geiste, noch diesen jener opfern, sondern beide der Art erhalten soll, daß er in seiner Individualität die auf Erden sich manifestirenden Gegensätze von Natur und Geist unter der Vorherrschaft des Geistes zur Identität auflöse. – Diese Erkenntniß des absolut wahren Ideals manifestirt sich in allen Empfindungen und Handlungen des Menschen. Jene mißgestalteten Auswüchse einer falschen Frömmigkeit, welche als Ueberreste des Heidenthums noch oft sich geltend machen und unter den Namen: Aberglaube, Mysticismus, Fanatismus und Werkheiligkeit erscheinen, sind gänzlich entschwunden und statt ihrer zeigen die Gefühle und Handlungen eine kindlich liebevolle Ehrfurcht vor Gott und eine innige und

56 Die Erkenntnis Gottes (nur) nach seinen „ethischen Eigenschaften“ geht vermutlich auf Maimonides’ Attributenlehre aus dem Führer der Verwirrten zurück (I, 54) und spielt dann später bei Hermann Cohen eine entscheidende Rolle bei der Vereinnahmung des Maimonides für den ethischen Monotheismus des liberalen Judentums; vgl. Hermann Cohen, „Charakterisitik der Ethik Maimunis“, in: ders., Werke, Bd. 15, 161–269, und die Diskussion in meinem Reading Maimonides’ Philosophy in 19th Century Germany, Kapitel 6.



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thatenvolle Herzensgüte gegen alle Menschen. Das Gemüth verkündet stets eine religiöse Stimmung und eine jede Aeußerung athmet Andacht. Nicht eine die Sinnlichkeit abtödtende Askese ist Frömmigkeit, vielmehr werden die nothwendigen Anforderungen des Körpers befriedigt, doch so, daß das körperliche Dasein nur als Mittel zur Erhaltung und Fortpflanzung des geistigen Daseins erscheint und deßhalb niemals mit gebieterischer Selbstständigkeit auftritt. Darum gelingt es dann dem Egoismus nie, in seiner Naturgestalt sich zu zeigen, mit ihm sind seine Geburten, nämlich: Genußsucht, Habgier und Ehrgeiz, gänzlich untergegangen. Auf die Stelle dieses nur verschlingenden Egoismus tritt die aufopfernde Liebe, welche ihre höchste Wonne darin findet: das Nebengeschöpf als Geschöpf Gottes zu achten, zu erhalten und zu unterstützen. Liebe zu Gott und zu den Menschen ist die Quelle aller Verhältnisse und Handlungen, ihr Ursprung ist rein und ungetrübt von allen selbstsüchtigen Mischungen, ihre Strömung findet nirgends eine Grenze und ihre Einwirkung ist wohlthuend und beseligend. Die Menschheit bildet nur eine einzige Familie, umschlungen vom Bande des Friedens, der Eintracht und der zuvorkommenden herzlichsten Liebe. Kann die Natur im menschlichen Leben nicht mehr mit despotischer Selbstständigkeit auftreten, dann ist vom Genius der Menschheit der Teufel besiegt, nebst seinem ganzen satanischen Gefolge. Unmäßigkeit mit den auf ihrem Boden wuchernden Krankheiten, Laster und Wollust; Habsucht mit ihren Mißgeburten: dem Neide, Geize, der Ungerechtigkeit und der Gewaltthätigkeit; Ehrsucht mit ihren Gefolgen: der Verläumdung, dem Stolze, Hochmuthe, der Bosheit und dem Verfolgungs-Eifer; alle diese Erscheinungen der rohen, noch geistig unbewältigten Natur haben aufgehört, sind auf immer in den Abgrund der Zeiten gestürzt. Das Gute ist in seiner absoluten Wahrheit erkannt, und dieses Erkannte vermag der Mensch mittels seiner erlangten moralischen Tüchtigkeit zu verwirklichen. Die Staatsverfassung der verschiedenen Länder ist dann eine geistige, universelle Theokratie; nur den Willen Gottes vollziehet das Oberhaupt des Staates und nur dieser Wille wird in allen Anordnungen erkannt. Sein Verhältniß zu den Staatsmitgliedern ist das ungetrübt patriarchalische; diese sind die Kinder, jener der Vater, der erziehend, rathend und aufmunternd auf sie einwirkt, und diese die Uebermacht der universell objectiven Vernunft im Verhältnisse zu der individuell subjectiven anerkennend, finden in dem Willen des Staatsoberhauptes nur den Ausdruck der eigenen Vernunft und fügen sich seinen Anordnungen mit kindlicher Liebe. Die Menschheit hat dann ihre ursprünglichen, patriarchalisch-theokratischen Verhältnisse wieder aufgenommen und befindet sich mit subjectivem Vernunftbewußtsein an dem Punkte, von welchem sie im objectiven Gefühlsleben ausging. Das goldene Zeitalter des Menschengeschlechtes, von der Prophetie des Heidenthums geahnt und von der des Judenthums klar erschaut, ist dann gereift auf dem Boden der

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Zeiten, das Ideal des geistigen Individuallebens ist dann verwirklicht und die Schöpfung der Erde vollendet. Eine fernere Frage, welche sich dem forschenden Denker bei einem Blicke in die Zukunft darbietet, ist die: wird einst die ganze Menschheit des goldenen Zeitalters theilhaftig werden? Oder wird sich ein Uebergang zwischen Natur und Geist derart behaupten, daß die Erde stets eine aufsteigende Gradation zwischen dem Repräsentanten der Natur und dem des Geistes darstellen wird? – Physiologische Untersuchungen bewiesen: daß die Menschheit, trotz allen ihren Variationen in der körperlichen Erscheinung, dennoch nur ein Geschlecht bildet und zu einem und demselben Zwecke, nämlich zur Darstellung der Humanität, organisirt ist. Die racenbildenden Merkmale der verschiedenen Völkerschaften sind die Folgen des Clima’s und der von demselben bedingten Lebensweise, der Gewohnheit und der religiösen Sitte. Je roher der Mensch ist und je weniger Spuren des Geistes er zeigt, desto mehr klebt er an seinem Boden und trägt, der Natur noch ausschließlich angehörend, noch gänzlich deren Gepräge. Mit der Entwickelung des Geistes entwindet sich der Mensch nach und nach dieser particularistischen Herrschaft des Bodens, er emancipirt sich aus dem Sklavenstande des Clima’s, bis er endlich als Kosmopolit die ganze Erde wie seinen Wohnsitz betrachtet. Hat er einmal den Einfluß des Clima’s bewältigt, dann unterliegt er nicht mehr dessen Machtgebote; er trägt zwar stets die Spuren seines Wohnortes, da er doch auch Theilnehmer an der Natur ist, wird sich aber niemals wieder wie im ursprünglichen Zustande acclimatisieren. Eingewanderte Colonien werden sich deßhalb auch stets von den früheren Ureinwohnern unterscheiden, stets zeigen, daß sie nicht mehr in ihrem unmittelbaren Naturleben sich befinden, und daß sie in dieser Wohnungsveränderung das unterste Stadium der Wildheit zurückgelegt haben. Auch ist der Mensch zur stärksten Dauer, mithin zur Ausbreitung über die Erde organisirt. Dieses Resultat der Physiologie, das trotz allen climatischen Verschiedenheiten bei allen Menschenracen einen und denselben humanen Urtypus nachweist, verbunden mit der Erfahrung, daß die Sprache, dieser Ausdruck des Geistes, bei allen Thieren, aber bei keinem, auch noch so rohen, Menschen fehlt, und mit der Wahrnehmung, daß sich bei allen Menschen für die geistige Einwirkung nicht nur Empfänglichkeit, sondern auch das Vermögen der Reproduction vorfand, berechtigt zwar zu dem Schlusse, daß einst in den spätesten der Tage die Verwirklichung des Ideals des geistigen Individuallebens Gemeingut der ganzen Menschheit werde, so daß ein jedes ihrer Glieder auch auf den entlegensten Zonen das Bild der vollkommnen Humanität repräsentiren werde; allein dennoch ist vordersamst dieser Schluß noch nicht mit apodiktischer Gewißheit zu urgiren. Denn der Mensch, obgleich Träger des Geistes, bleibt doch immer auch Theilhaber an der Natur und unterliegt somit auch stets ihrem Einflusse, und zwar da am sklavischsten, wo dieser Einfluß sich am stärksten geltend macht; es gelingt



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ihr dieses an den beiden Extremitäten ihres Lebens, unter dem Pole, dem Höhepunkte ihres centripetalen und unter dem Aequator, dem Höhepunkte ihres centrifugalen Wirkens, an welchen beiden Punkten der Geist für seine Selbstbehauptung gegen die Natur am meisten zu kämpfen hat. Ob es dem Menschen auch dort gelingen wird, jenes Ideal zu realisieren, kann nur vermöge einer vollkommenen Kenntniß der Naturkräfte, mittels deren die Natur auch in ihrem Extreme besiegt werden kann, erwidert werden, welcher Kenntniß aber die Gegenwart sich noch nicht erfreut. […] Das Heidenthum neigt sich in sich selbst immer mehr dem ethischen Principe entgegen, bereitet dadurch seine Empfänglichkeit vor für die Einwirkungen der Missionen des Judenthums und unterstützt somit die Hoffnung, daß einst der allgütige Erzieher des Menschengeschlechtes die Verkündigung der israelitischen Prophetie wird in Erfüllung gehen lassen. – Diese Erwartung, daß einst alle Glieder des Menschengeschlechtes, bei welchen sich jetzt noch kein Fünkchen vom ethischen Bewußtsein vorfindet, den Höhepunkt der reinsten Humanität ersteigen werden, kann in der Gegenwart noch immer nur als Object der religiösen Hoffnung und nicht als das des wissenschaftlichen Resultats betrachtet werden und zwar deßhalb, weil wir uns noch immer zu beschränkt in der Kenntniß von den Naturkräften fühlen. Deßhalb auch wird diese Hoffnung stets an Gewißheit zunehmen, je mehr der Kreis dieser Kenntnisse sich erweitert und je mehr dadurch die Natur durch sich selbst dem Geiste untergeordnet werden kann. Der Mangel an wissenschaftlicher Gewißheit in dieser Hinsicht entziehet aber nicht im Mindesten dem Judenthume die Geltung der absoluten Wahrheit, weil diese nicht von der quantitativen, sondern von der qualitativen Herrschaft desselben bedingt ist. Wenn das Ideal des Judenthums in quantitativer Beziehung nicht von einem jeden realisiert wird, welcher die menschliche Gestalt trägt, so beweist dieses nur die Unfähigkeit des relativen Menschen, sich bis zum Höhepunkte der reinen Humanität zu erheben, aber nicht eine nur relative Geltung dieses Ideals selbst; wenn dasselbe aber in qualitativer Beziehung sich da realisiert, wo die gereifte Weltanschauung und die moralische Tüchtigkeit die menschliche Vollkommenheit bezeuget, dann kann nur dieses als der Inhalt absoluter Wahrheit anerkannt werden. Die Frage: wird einst die ganze Menschheit des goldnen Zeitalters theilhaftig werden? läßt sich demnach für die Gegenwart wissenschaftlich noch nicht beantworten, erscheint aber ganz einflußlos auf die Werthschätzung des Judenthums, indem dieses seine absolute Wahrheit mittels seiner intensiven und nicht seiner extensiven Kraft behauptet. –

Samuel Hirsch

Die Messiaslehre der Juden Die Messiaslehre der Juden in Kanzelvorträgen, zur Erbauung denkender Leser, Leipzig: Hunger, 1843 [Auszüge] Samuel Hirsch (1815–1889) zählte ebenfalls zu den drei wichtigsten jüdischen Religionsphilosophen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und kann in vielerlei Hinsicht als eine Figur des Überganges gelten. 1843 veröffentlichte er als Luxemburger Ober-Rabbiner eine Sammlung von zwanzig Predigten zum jüdischen Messianismus, gehalten zwischen 1839 und 1842, die zugleich eine Einführung in sein gesamtes theologisches Denken bieten sollten. In den hier wiedergegebenen Teilen der ersten und in der letzen Predigt besteht Hirsch als überzeugter Monarchist zwar noch auf einem davidischen Köng als Messias, aber schon bei ihm finden sich viele Ansätze der späteren jüdisch-liberalen Interpretation des Messianismus: Die Befreiung vom Übel muss als ein Akt des Menschen verstanden werden, und deshalb kann der Messias nicht plötzlich und unerwartet als Gottesgesandter auftreten, sondern die Messiaszeit bedarf eines stetigen Erkenntnisgewinns der Menschheit, der schließlich in einem universellen und sittlichen Friedensreich münden wird.

Erster Vortrag: Die Freuden und Leiden der messianischen Zeit (gehalten zu Dessau 1839) […]

Vom Messias zu reden und von unsern messianischen Erwartungen geziemt uns in der Zeit, in welcher wir leben. Welche Verirrung und welche Verwirrung herrscht nicht über diese Lehre in Jisrael? Und wie kann Jisrael bestehen, ohne diese Lehre? Und wie können wir die Handlungsweise unserer Brüder, welche von Jisrael sich lossagen, welche nicht als Jisraeliten erkannt sein wollen, welche mit uns nicht kämpfen, mit uns nicht streben, von unserm Wehe nicht berührt werden und unsere Freuden für kindische halten – wie können wir solche Handlungsweise und ähnliche Gesinnung, die wir doch tagtäglich in unserer Mitte treffen, verdammen, wenn wir aufgeben diese Lehre? Den Messias zu predigen und deutlich auszusprechen, was wir an dieser Lehre haben, geziemt uns wahrlich in einer Zeit, wo sowohl Jisraels Söhne als auch die Nichtjisraeliten in dieser Lehre Beschuldigungsgründe gegen uns finden wollen; in einer Zeit, wo Jisraels Söhne zu dem Wahne geneigt sind, daß das Festhalten an den messianischen Hoffnungen Jisraels sie hindere, den bürgerlichen und sittlichen Beruf zu

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wählen, zu dem Gott ihnen die Kräfte und Anlagen verliehen und wo die Nichtjisraeliten immer wieder sagen, daß diese Lehre uns unfähig mache, unser jetziges Vaterland zu lieben und mit ganzer Seele ihm anzuhängen. Deswegen, meine Brüder, wollen wir es heute, im Vertrauen auf den göttlichen Beistand, unternehmen, uns in einer Reihe von Kanzelvorträgen sowohl über den Inhalt unserer messianischen Hoffnungen zu verständigen, als auch über die Nothwendigkeit, diese Hoffnungen niemals aufzugeben, sondern in ihnen Trost und Beruhigung für Alles, was uns sonst betrübt, finden zu wollen. Die Quellen aber, woraus wir diese unsere Hoffnungen zu schöpfen haben, können wir unmöglich alle hier vorlesen. Die ganze heilige Schrift ist ja Quelle dieses Glaubens, die ganze heilige Schrift führt ja zu diesem Glauben, die ganze heilige Schrift bleibt ja unverstanden, wenn nicht festgehalten wird an diesem Glauben. Alle Haphthara’s von jetzt an bis zum Schlusse des Jahres handeln ja von nichts, als von diesem Glauben; alle Propheten enthalten ja diesen Glauben, weisen ja nur auf ihn hin und prophezeihen ja nichts anders als solchen Glauben. Innigst bitten muß ich euch daher, meine Brüder, selbst nachzulesen in der Quelle dieses Glaubens und wenigstens selbst nachzulesen die Haphthara des jedesmaligen Sabbathabschnittes, welche von heute bis zum Schlusse des Jahres in der Synagoge eingeführt sind. Unserm ersten Kanzelvortrage über diesen Glauben, welcher die Freuden und die Leiden der messianischen Zeit im Allgemeinen schildern soll, wollen wir aber zunächst unsere heutige Haphthara zu Grunde legen, und diese daher ganz, aber nur in unserer Muttersprache vorlesen.1 Sie ist enthalten im 40ten Kapitel des Propheten Jeschajahu und lautet daselbst Vers 1–26 also:

1 Die Sprache der Lesungen aus der Bibel war ein heftig umstrittenes Thema unter den Reformtheologen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Während die meisten Rabbiner darin übereinstimmten, dass es keine religionsgesetzliche Grundlage gebe, die die vollständige Beibehaltung des Hebräischen (vor allem bei den Haftara-Texten) vorschreibe, waren viele eher konservativ gesinnte Theologen der Meinung, das Hebräische müsse aus Achtung vor der Tradition alleinige Sprache der Liturgie bleiben. Auf der Rabbinerkonferenz von 1845 in Frankfurt führte diese Debatte schließlich zur bis heute manifesten Spaltung des nichtorthodoxen Lagers in eine Reform- und eine konservative (ursprünglich „positiv-historische“) Richtung, die mit dem Ausscheiden von Rabbiner Zacharias Frankel aus der Frankfurter Konferenz begann. Vgl. dazu Meyer, Antwort auf die Moderne, 204–206. Hier begegnen wir dem Beispiel einer willkürlichen Regelung eines Reformrabbiners noch bevor die Konferenzen versuchten, die reformierten Praktiken zu vereinheitlichen: Hirsch liest die Haftara als Teil seiner Predigt in offenbar eigener deutscher Übersetzung vor. Um diesen Eindruck zu erhalten, ist der Jesaja-Text hier vollständig wiedergegeben, wie er in Hirschs Predigtbuch erscheint.



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„Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihm zu; denn vollendet ist sein Frohndienst, seine Sünde ist gesühnt; denn es hat empfangen aus der Hand des Herrn das Doppelte für alle seine Sünden. Eine Stimme ruft: In der Wüste bereitet den Weg des Herrn, ebnet in der Steppe eine Straße für unsern Gott. Jegliches Thal werde erhöhet, und jeglicher Berg und Hügel erniedrigt; und es werde die Anhöhe zur Ebene und das Unwegsame zum Blachfeld. So wird sich offenbaren die Herrlichkeit des Herrn und alles Fleisch zumal wird sie schauen, denn der Mund des Herrn hat das verheißen. “ „Eine Stimme spricht: „Verkünde!“ und er spricht: „Was soll ich verkünden?“ „Alles Fleisch ist Gras und all seine Anmuth wie des Feldes Blume. Das Gras verdorret, die Blume welket, wenn der Hauch des Herrn sie anwehet – wahrlich das Volk ist Gras! Das Gras verdorret, die Blume welket, aber das Wort unseres Gottes bestehet in Ewigkeit.“ „Auf hohen Berg steig hinan, Friedensbotinn Zion, erhebe gewaltig deine Stimme, Friedensbotinn Jerusalem, erhebe sie, fürchte dich nicht, sprich zu den Städten Jehuda’s: „Siehe da euer Gott!“ Siehe, der Herr, Gott, kommt als Gewaltiger und sein Arm waltet ihm. Siehe, sein Lohn ist mit ihm und seine Vergeltung vor ihm. Wie ein Hirt wird er seine Herde weiden, in seinem Arm fasset er die Lämmer, und in seinem Busen trägt er sie; die säugenden Mütter leitet er.“ „Wer maß mit seiner hohlen Hand die Gewässer, und maß die Himmel mit der Spanne und faßte in den Dreiling den Staub der Erde, und wägte mit der Wage die Berge, und die Hügel mit Wagschalen? Wer ermaß den Geist Gottes und war sein Rathgeber, der ihn unterwies? Wen zog er zu Rath, daß er ihm Einsicht gäbe, und ihn lehrte den Pfad des Rechts, und ihn Kenntniß lehrte, und ihm den Weg der Einsicht wiese? Siehe, Völker sind wie ein Tropfen am Eimer, und wie Staub auf der Wage zu achten; siehe, Inseln wie das Stäubchen hebt er. Und der Libanon reicht nicht hin zum Feuer, und sein Wild reicht nicht hin zum Brandopfer. Alle Völker sind wie nichts vor ihm, als Nichtiges und Leeres sind sie ihm geachtet.“ „Und wem wollt ihr Gott vergleichen, und welche Gestalt ihm beilegen? Das Bild gießt ein Künstler, und ein Schmelzer überzieht’s mit Gold, und silberne Ketten schmelzt er dran. Wer arm an Gaben, wählt ein Holz, das nicht morsch wird, einen geschickten Künstler sucht er sich, zu fertigen ein Bild, das nicht wanket.“ „Erkennet ihr’s nicht? vernehmt ihr’s nicht? ward’s euch nicht vom Anbeginn verkündet? habt ihr nicht gemerkt auf der Erde Gründung? Der da thronet über dem Kreis der Erde und über ihren, wie Heuschrecken, zahlreichen Bewohnern; der da ausspannet wie einen Teppich die Himmel, und sie ausbreitet wie ein Zelt zum Wohnen; der da Fürsten wandelt in nichts, Landesrichter zunichte macht – kaum sind sie gepflanzt, kaum sind sie gesäet, kaum wurzelt in der Erde ihr Stamm, so bläst er sie auch an, und sie verdorren, und ein Sturmwind rafft sie hinweg wie Spreu. – Wem denn wollt ihr mich vergleichen, daß ich ähnlich wäre? spricht der Heilige. Hebt zur Himmelshöhe eure Augen und schaut! Wer hat diese geschaffen? Der herausführt ihr Heer nach der Zahl, sie alle ruft bei Namen; ob seiner großen Macht und gewaltigen Stärke bleibt Keiner aus.“

Und du, unser Gott und Gott unserer Väter, der du in allen Nöthen uns beigestanden und vor allen Gefahren uns schützest, stehe auch uns in der Zukunft bei. Erleuchte unser Auge, daß wir nicht dem Irrthum verfallen, bessere unser Herz, daß wir willig die Wahrheit erfassen und in ihr leben und bei dir bleiben. Amen!

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I. Welches sind die Freuden der messianischen Zeit? Die Freuden der messianischen Zeit werden schön in unserem Texte ausgesprochen: ‫ּבָ ׂשָ ר יַחְ ּדָ ו ּכִ י ּפִ י ה' ִּדּבֵ ר‬-‫וְ נִ גְ לָה ּכְ בֹוד ה' וְ ָראּו כָל‬ „ S o wi rd s i ch offenbaren die Herrlichkeit des Herrn und a lles Fle i s ch zum al w ird sie schau en, denn der Mund des Herrn ha t da s ve r h e i ße n . 2 Die Herrlichkeit des Herrn wird sich offenbaren, meine Brüder, das kann nicht heißen, daß Gott wird Fleisch werden und mit fleischlichen Augen zu sehen sein; denn wir lesen ja gleich in den folgenden Versen: „Wem wollt ihr den Herrn vergleichen? Welche Gestalt wollt ihr ihm beilegen?“ Wir lesen ja ferner in dem vorgelesenen Texte: „Wem denn wollt ihr mich vergleichen, daß ich ähnlich wäre? spricht der Heilige.“ Wir lesen ja in unserer heutigen Sedra: „Hütet euch sehr – daß ihr nicht Gott euch unter der Gestalt eines Geschöpfes vorstellt – denn ihr habt keinerlei Gestalt gesehen, an dem Tage, als Gott mit euch auf dem Choreb sprach mitten aus dem Feuer.“3 Wie könnten wir uns auch denken, daß Gott, der ja ‫„ מקומו של עולם‬der Or t der Welt “ ist und nicht die Welt sein Ort,4 der ja das Endliche und Zeitliche schafft, trägt und erhält, nicht aber von ihm getragen und erhalten wird, daß der Allgegenwärtige so ins Endliche und Zeitliche einginge, daß wir das Endliche und Zeitliche Gott nennen dürften? In der mess i an i s ch e n Z e it w ird die Herrlichkeit des Herrn o ffenb a r s ein und a l l e s Fl e i s ch wird sie sehen, das heißt, alles Fleisch wird erkennen und es herzlich fühlen, alles Fleisch wird wissen und es sich zu Gemüthe führen, „daß

2 Jesaja 40, 5. 3 Deuteronomium 4, 15 – Sedra: der Wochenabschnitt aus dem Pentateuch. In diesem Falle Va‘etchanan (Deuteronomium 3, 23–7, 11), der immer auf den Schabbat nach dem 9. Tag des hebräischen Monats Av fällt, einem jüdischen Trauertag, an dem der Zerstörung des Tempels und anderer nationaler Katastrophen gedacht wird. An diesem „Schabbat des Trostes“ liest man als Prophetenlesung (Haftara) Jesaja 40, 1–26, beginnend mit „Töstet, tröstet …“ wie von Hirsch vorgetragen. Erstaunlich ist, wie oft auch bei den Reformern der 9. Av Anlass zu messianischen Gedanken liefert – vgl. in diesem Band auch die Predigten von David Einhorn (S. 243–250) und von Ludwig Philippson (Einleitung S. 62) – nach einer bekannten rabbinischen Legende ist der 9. Av der Geburtstag des Messias (vgl. Midrash Eicha 1, 51). 4  Hirsch zitiert hier fast wörtlich aus dem Midrasch Bereshit Rabba, Kap. 68. Dort heißt es als Begründung dafür, dass man Gott auch als makom (der Ort) bezeichnet: ‫וקוראין אותו מקום שהוא‬ ‫ מקומו של עולם ואין עולמו מקומו‬. Man nennt ihn makom, denn er ist der Ort der Welt und nicht die Welt sein Ort.



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der Herr Gott ist im Himmel oben und auf der Erde unten und sonst nichts.“5 In der messianischen Zeit wird alles Fleisch „festhalten und innigst verbunden sein dem Ewigen, unserm Gotte, und so in ihm das wahre Leben finden“,6 wird alles Fleisch lieben den einzig Seienden mit ganzem Herzen, ganzer Seele und allen Vermögen, wird alles Fleisch sprechen, wie es in unserm Texte heißt: „Eine Stimme spricht: Verkünde!“ Und er spricht: „Was soll ich verkünden?“ „Alles Fleisch, wenn es nicht in Gott lebt, ist Gras und alle seine Anmuth wie des Feldes Blume. Das Gras vertrocknet, die Blume verwelkt, wenn der Hauch des Herrn sie anwehet.“ Wahrlich das Volk, dem Gott nicht sein Eins und Alles, ‫חייך ואורך ימיך‬ sein Leben und das, was ihm das Leben verlängert ist, wahrlich ein solches Volk ist Gras.7 „Das Gras verdorret die Blume verwelkt, aber in wem das Wort unseres Gottes lebendig geworden, der bestehet ewig.“8 Gott ist im Himmel oben und auf der Erde unten und sonst nichts; im Himmel oben und auf der Erde unten wird man daher auch nichts als göttliches Leben sehen; im Himmel oben und auf der Erde unten wird die Herrlichkeit des Herrn offenbar sein und alles Fleisch wird sie sehen, denn der Mund des Herrn hat geredet und durch den Mund des Herrn ist ja Alles geworden. So wie die Himmel nichts thun, als „die Herrlichkeit des Herrn verkünden“,9 so wird auch die Erde und werden alle Geschöpfe der Erde nichts thun, als die Herrlichkeit des Herrn verkünden und nichts denken als den Preis ihres Schöpfers und nichts fühlen als Gottseligkeit. ‫כל מה שברא הקב"ה בעולמו‬ ‫יתיו‬ ִ ‫ע ֲִׂש‬-‫ אַ ף‬,‫ יְ צַ ְר ִּתיו‬:‫אתיו‬ ִ ‫בֹודי ּבְ ָר‬ ִ ְ‫ וְ לִ כ‬,‫– לא בראו אלא לכבודו שנאמר ּכֹ ל הַ ּנִ קְ ָרא בִ ְׁש ִמי‬. „Alles, was der Heilige, gelobt sei er, in seiner Welt geschaffen hat, lesen wir in den Sprüchen der Väter, hat er nur zu seiner Verherrlichung geschaffen;10 denn es heißt: „Alles, was nach meinem Namen genannt wird, habe ich zu meiner Ehre geschaffen; ich habe es ja gebildet und gemacht.“11 Alles daher, was in der Welt geschaffen ist, wird in jener Zeit dem Herrn zu Verherrlichung gereichen, wird Preis geben seinem Namen, Lob- und Dankgesänge seiner Güte. Jüngling, der Zweck deines Strebens, Mann, der Zweck deines Lebens, Jungfrau, das Ziel deines Sehnens, Mutter, das Ende deines Wirkens soll nur die Verherrlichung Gottes sein und wird in jener Zeit nur offenbar machen die Verherrlichung des Herrn. Der Mund des Herrn hat ja geredet und so bist du entstanden;

5 Deuteronomium 4, 39. 6 Deuteronomium 4, 4. 7 Deuteronomium 30, 20. 8 Jesaja 40, 6–8 in veränderter, wenig wortgetreuer Übersetzung. 9 Psalm 19, 2 – Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. 10 Mischnah Avot 6, 10. 11 Jesaja 43, 7.

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ohne das Wort des Herrn, welches ewig bleibt, wärst du ja nur verdorrtes Gras und alle deine Anmuth und was du für dich und was du für Andere wirkst, eine welke Blume. Du bist aber im Ebenbilde Gottes geschaffen und ein Sohn des Herrn und ein Kind unseres himmlischen Vaters; du vermagst heilig zu leben, denn dein himmlischer Vater ist heilig; vermagst das sündige Streben aus deinem Herzen zu verbannen, denn bei deinem Gotte wohnt die Sünde nicht; vermagst ein Tempel zu sein für den Herrn, vermagst die böse Begierde, deinen bösen Engel, zu zwingen, so daß ‫ בעל כרחו יענה אמן‬auch er sich genöthigt siehet Amen statt der Lüge zu predigen, ‫ בעל כרחו יטף שבחו‬dich vor Gott zu rühmen, statt dich vor dem Herrn anzuklagen:“12 Nun so strebe denn in deinem ganzen Leben und in jeder Minute deines Lebens ein Ebenbild Gottes, ein heiliges Kind deines himmlischen Vaters zu bleiben. Laß durch Alles, was du thust, durch Alles, was du hast, den Herrn gepriesen werden. Laß durch das Größte und durch das Kleinste, durch das Wichtigste und durch das Unwichtigste den Mund des Herrn reden. Denn das ist die Verherrlichung des Herrn, meine Brüder, und nur das ist das Offenbarwerden seiner Ehre, wenn in Beziehung auf Gott es nichts Kleines und nichts Großes mehr bei uns giebt, wenn durch das Kleinste und durch das Größste der Mund des Herrn redet, wenn im Kleinsten und im Größsten Gott wohnt und nichts als Gott wohnt, wenn im Himmel und auf der Erde die Seligkeit zu finden ist, wenn im Himmel und auf der Erde wir festhalten an dem Ewigen, unserem Gotte, wir in Gott leben und Gott in uns, wir Gott lieben und Gott uns, wir an Gott denken immerdar. In jener schönen Zeit, meine Brüder, die uns als die Zeit des Messias verheißen ist, werden die Menschen menschlich leben und daher göttlich, ‫וְ הָ אֱלִ ילִ ים‬ ‫„ ּכָלִ יל ַיחֲֹלף‬werden alle Götzenbilder gänzlich verschwunden sein“,13 sowohl die äußerlichen Götzenbilder als ihre Ursachen, sowohl die Götzenbilder, die wir sehen, als die, welche wir in unserm Herzen beherbergen, sowohl die Furcht vor Nichtigem als die Liebe zu Nichtigem. Alles Nichtige wird verschwinden und nur das Wort unseres Gottes ewig bleiben, und durch das Wort unseres Gottes wird Alles aus seinem Nichts hervorgehen, und weil Gott alsdann in unserm Herzen wohnt und weil nur Gott in unserm Herzen thront, und weil unser Herz dem Herrn ein geweihter Tempel ist, werden auch all unsere Wünsche göttlich sein, werden auch unsere Bestrebungen nur edle Zwecke verfolgen, wird auch unsere Anmuth ewig bestehen. Gott ist ja auch auf der Erde unten und alles Irdische dient ja auch zu seiner Verherrlichung, deswegen kann auch der Gebrauch des Irdischen und das Streben nach den Gütern dieser Erde Gottesdienst und das

12 Vgl. bT Shabbat 119b. 13 Jesaja 2, 18.



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Offenbarwerden seiner Verherrlichung sein. „Sprich daher nicht , Z ion, der He r r h ab e d i ch verlassen, der Ew ige, dein G o tt , hab e deiner verges s e n , s o n d e r n freu e dich in dem Herrn, entzücke deine S eele in d e i n e m G o t te . ‫יֶׁשַ ע ְמעִ יל צְ דָ קָ ה יְ עָטָ נִ י‬-‫„ ּכִ י הִ לְ ּבִ יׁשַ נִ י ּבִ גְ דֵ י‬denn er kleidet dich mit K l e i d e r n d e s Heils, den M antel der Fröm migkeit legt er dir a n.“ 14

II. Ehe aber jene herrliche Zeit eintritt, meine Brüder, jene Zeit, wo ‫ ּבִ ּלַע הַ ּמָ וֶת ָלנֶצַ ח‬der Tod, der geistige Tod, der Tod, der da herrscht, wenn man nicht festhält an dem Ewigen unserm Gotte, für immer aufhören wird, ehe „Gott die Thränen von jeglichem Gesichte abwaschen kann“,15 wird man Zeichen erblicken am Himmel und auf der Erde, Blut, Feuer und Rauchwolken. Die Sonne wird in Finsterniß, der Mond in Blut verwandelt werden, ehe der Tag des Herrn eintritt, der große und furchtbare, lesen wir bei Joel.16 Und auch in unserm Texte ist jener große und furchtbare Tag, der Tag, „an welchem alle Völker versammelt werden im Thale Jehoschaphat, woselbst Gott thront, alle Völker zu richten“,17 der Tag, „an welchem der Herr von Zion ausschreitet und von Jerusalem seine Stimme erhebt und Himmel und Erde zittern“,18 der Tag, „an welchem Gott richtet mit Pest und mit Blut, an welchem der Herr regnen läßt überschwemmenden Platzregen, Hagelsteine, Feuer und Schwefel auf den Feind, auf den Gog von Magog und auf seine Kriegsscharen und auf die zahlreichen Völker, die mit ihm sind, so daß der Herr sich groß und heilig erweist und sich kund thut vor den Augen vieler Völker, daß sie erkennen, daß der Herr allein Gott ist“,19 auch in unserm Texte ist jener Tag angedeutet. „ S iehe der Herr, G ot t , als G ewa ltiger ko mmt er und sein A r m walte t ihm . S iehe, sein Lohn ist mit ihm, s eine Vergelt u ng vo r ih m“ lesen wir in unserm Texte.20 Schon oft, meine Brüder, besonders aber in neuerer Zeit, ist unserer Religion aus diesem Glauben an die Leiden des M essi as ‫חבלי משיח‬, wie der Talmud jene Zeit des furchtbaren Weltgerichts nennt, ein Vorwurf gemacht worden.21

14 Jesaja 61, 10. 15 Jesaja 25, 8. 16 Joel 3, 3–4. 17 Joel 4, 2. 18 Joel 4, 16. 19 Ezechiel 38, 22–23. 20 Jesaja 40, 10. 21 Vgl. bT San 98b (‫ )חבלו של משיח‬und Sotah 49b, San 97a etc.

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Schon oft hat man uns den Vorwurf gemacht, daß wir grausam und rachsüchtig wären, weil wir festhalten an den Aussprüchen der Propheten, weil wir fest glauben, „daß beschämt werden und beschimpft Alle, die uns etwas zu Leide thun, daß zu nichte werden die Männer, die mit uns hadern, daß der Sturm sie fortführt und der Wirbelwind sie zerstreut, wir aber alsdann frohlocken werden im Herrn und des heiligen Israels uns rühmen.“22 Man hat gesagt, daß nur ein argwöhnisches, der Liebe bares und rachsüchtiges Volk von Gott glauben könne, daß er spräche: ‫מַ לְ ּבּוׁשַ י אֶ גְ אָ לְ ִּתי‬-‫ּבְ גָדַ י וְ כָל‬-‫„ וְ אֶ ְד ְרכֵם ּבְ אַ ּפִ י וְ אֶ ְר ְמסֵ ם ּבַ חֲמָ ִתי וְ יֵז נִ צְ חָ ם עַל‬Und ich trat sie in meinem Zorne, und zermalmte sie in meinem Grimme, daß ihr Saft an meine Kleider spritzte, und all mein Gewand besudelte ich“; ‫ּוׁשנַת‬ ְ ‫ּכִ י יֹום נָקָ ם ּבְ לִ ּבִ י‬ .‫„ ּגְ אּולַי ּבָ אָ ה‬denn ein Rachetag war in meinem Sinne, und das Jahr meiner Erlösten war gekommen.“23 Allein, meine Brüder, Jisrael wurde ja von jeher ‫רחמ נים ב ני‬ ‫„ רח מ נ ים‬d i e b arm herz igen K inder barm h erziger Eltern“ gena nnt ,24 und wenn die Barmherzigen an diesem Glauben der Rache und der Strafe festhalten, so muß ein solcher Glaube diesen und allen Barmherzigen ein trostreicher sein. Ja, wir glauben an jenen großen und furchtbaren Tag, an jenes Rache- und Strafgericht; denn die messianische Zeit wird ja die Zeit sein, wo der Herr die Thränen von jedem Antlitze wegwischt, wo der Tod des Geistes aufhören wird, und das ist nicht möglich ohne jenes Rache- und Strafgericht. […] Dieses göttliche Gesetz, meine Brüder, daß die Sünde als Sünde sich gebärden müsse, auf daß sie in ihrer ganzen Häßlichkeit erkannt werde; daß die Sünde das, was sie im Herzen brütet, vor das Licht des Tages zu bringen gezwungen werde, auf daß ihre Nichtigkeit und ihre Ohnmacht Niemandem mehr ein Geheimniß bleibe, auf daß alle Menschen wissen, daß „weil sie Böses empfing und mit Unheil schwanger ging, sie auch nur Täuschung gebären konnte“;25 dieses göttliche Gesetz zu ihrer Vernichtung und zu unserem Heile verordnet, auf daß erkannt werde, daß ihr Wüthen nur ein Wüthen gegen sich selbst ist, daß ihr Vertilgungskrieg gegen das Gute nur sie selbst vertilgt: wahrlich der Glaube an dieses Gesetz kann uns nicht zum Vorwurfe gemacht werden. Nur wer recht hasset, kann auch recht lieben; nur wer ruft: ‫„ אֵ ין ׁשָ לֹום אָ מַ ר אֱֹלהַ י ל ְָרׁשָ עִ ים‬Mit dem Bösen, spricht mein

22 Jesaja 41, 11 und 16. 23 Jesaja 63, 3–4. 24 Vgl. für diese bis heute populäre Aussage zum Beispiel das Sefer Ha-Chinuch (Spanien, 13. Jhd.), Mitzwot 42, 44, und 498. 25 Psalm 7, 15.



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Gott, giebt es keinen Frieden“,26 nur der kann mit dem Guten den wahren, ewigen Frieden schließen. Ja, meine Brüder, laßt uns das Böse immerdar hassen; laßt uns festhalten an dem Glauben, daß der Herr ‫ׂשנֵא ָגזֵל ּבְ עֹולָה‬ ֹ „die Gewaltthat hasset, und noch mehr sie hasset, wenn sie sich in das Gewand der Religiosität hüllet;“27 laßt uns festhalten an dem Glauben, daß das Böse nicht immer im Verborgenen schleichen kann, sondern daß es seine Früchte an den Tag gebären muß und daß diese Früchte ihrer Mutter ähnlich sich und die Mutter verschlingen, sich und die Mutter immerdar vernichten; laßt uns festhalten an dem Glauben, daß das Böse am Tage des Herrn gerichtet werden wirb; daß es alsdann alle seine Kraft anstrengen und doch unkräftig bleiben, alle seine Macht aufbieten und doch als nichtig erscheinen wird; laßt uns festhalten an der Hoffnung auf die Freuden der messianischen Zeit, der Zeit, in welcher Gott allein und nichts als Göttliches zu erkennen sein wird; in welcher G ot t einz ig u nd s ein Na me einzig is t;28 in welcher Gott allein herrscht, nicht blos im Himmel oben, sondern auch auf der Erde unten, nicht blos in der Natur, sondern auch in unserm Herzen; in welcher man nicht nur Gott liebt, sondern auch nichts als Gott liebt; in welcher man nicht nur Gott dient, sondern nur Gott dient in den Werken der Hände sowohl als in den Lobgesängen des Mundes, in den Gedanken des Herzens sowohl als in den Bestrebungen des Leibes, in dem Erwerben sowohl als in dem Genießen, in dem Nehmen sowohl als in dem Geben. Dieser Glaube, meine Brüder, hat allein die Kraft, den Leidenden zu trösten, den Gebeugten zu erheben, den Verzagten zu ermuthigen, den Sinkenden aufrecht zu erhalten, „zu beruhigen die Trauernden Zion’s, ihnen zu geben Schmuck statt der Asche, Freudenöl statt Trauer, Prachtgewänder statt des verzagten Geistes, daß man sie nenne:‫ מַ ּטַ ע ה' לְ הִ ְתּפָאֵ ר‬,‫„ אֵ ילֵי הַ ּצֶ דֶ ק‬Terebinthen des Segens, Pflanzung Gottes“,29 ihm zur Verherrlichung. Amen.

26 Jesaja 57, 21. 27 Jesaja 61, 8. 28 Sacharja 14, 9. 29 Jesaja 61, 3.

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Zwanzigster Vortrag: Der persönliche Messias (gehalten am Schlußtage von Pesach 1842) ‫ ּבְ נֹ ב ַלעֲמֹ ד‬,‫„ עֹוד הַ ּיֹום‬Noch einen Tag, spricht der Feind, lesen wir in unserer heutigen Haphthara, meine andächtigen Zuhörer, „noch einen Tag will ich in Nob verweilen und dann meine Hand aufheben gegen den Berg der Tochter Zion, gegen den Hügel Jeruschalaim. Aber siehe, der Herr, Gott der Heerschaaren, entlaubt seine Krone mit Macht, die stolz dastehen sind abgehauen, die Hohen erniedrigt! Umgehauen ist der dichte Wald mit der Axt, der Libanon gesunken unter dem Mächtigen!“30 „Und nun entsprießt dem Stamme Jischai ein Sprößling, ein Sprosse keimt aus seinen Wurzeln. Auf ihm ruht der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist der Ueberlegung und der Stärke, der Geist der Erkenntniß und der Gottesfurcht. Sein Geruch ist Gottesfurcht; nicht nach dem Scheine der Augen richtet er, nicht nach dem Gerüchte des Ohres weist er zurecht. Er richtet fromm den Armen, weist redlich zurecht die Demüthigen der Erde, schlägt die Erde mit der Ruthe seines Mundes und von dem Hauche seiner Lippen stirbt schon der Frevler. Frömmigkeit ist der Gürtel seiner Hüften, Treue der seiner Lenden.“31 „Es hält sich auf der Wolf bei dem Lamm, der Tiger lagert bei dem Zieglein, das Kalb und der Löwe und der Mastochs gehen zusammen und ein kleiner Knabe leitet sie. Die Kuh und der Bär weiden, beisammen lassen sie ihre Jungen ruhen, der Löwe wie das Rind frißt Stroh. Es spielt der Säugling an der Otterhöhle und in das Loch der Natter steckt das Kindlein seine Hand. Kein Böses wird gethan und kein Unheil verübt auf meinem ganzen heiligen Berge, denn die Erde ist voll Gotteserkenntniß, wie Wasser den Meeresgrund bedeckt. Und an jenem Tage wenden sich zur Wurzel Jischais, welche stehet als Panier den Völkern, zu ihr wenden sich die Nationen und ihre Ruhe ist Herrlichkeit.“32 Das Böse, meine Freunde, wird demnach vernichtet sein; wird dann recht vernichtet sein, wenn es glaubt, daß der Sieg ihm nicht mehr entgehen kann, wenn es seiner Sache so sicher zu sein wähnt, daß es dem Guten in hohnerfülltem Mitleiden noch einen Tag des Daseins gönnen will. Und dann erst, wenn das Böse wunderbar vernichtet ist, wenn der Herr die Krone mit Macht abgehauen hat, wenn der Libanon gesunken ist unter den Gewaltigen, dann erst wird der Zweig aufschießen aus dem Stamme Jischai; dann erst wird der König kommen,

30 Jesaja 10, 32–34. 31 Jesaja 11, 1–5. 32 Jesaja 11, 6–10.



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auf dem der Geist Gottes ruht, der mit Wahrheit und nicht nach dem Augenschein und nicht getäuscht von dem, was man ihn hören läßt und ihm berichtet, Alles richtet, der die Erde schlägt mit der geistigen Ruthe, die in seinem Munde ist, vor dessen Hauch alles Frevelhafte schon im Beginnen erstirbt. O, welche glückliche Zeit wird alsdann sein! So wie die Stolzen abgehauen sind, so wie das Dickicht des Waldes vor dem mächtigen Streiche der Art, die der Herr führt, niedergefallen ist, so wird das Böse auch nicht mehr erstehen! Der Wolf wird bei dem Schaafe wohnen, der Tiger bei dem Ziegenböcklein ruhen, und auf daß ich euch mit e in e m Worte die Herrlichkeit jener Zeit andeute: Man wird kein Böses mehr thun und nichts Frevelhaftes mehr unternehmen auf dem ganzen heiligen Berg, denn die ganze Erde wird voll sein von Gotteserkenntniß, wie Wasser den Meeresgrund deckt! Und deswegen, weil die ganze Erde voller Gotteserkenntniß sein wird, werden alle Völker und alle Nationen sich der Wurzel zuwenden, die ein Panier allen Völkern zu werden vor Gott bereit stehet; und deswegen, weil sich ihr alle Völker zuwenden, ist ihre Ruhe Herrlichkeit, wird nichts mehr diese zu trüben vermögen, denn vor dem Hauche ihres Mundes erstirbt ja schon alles frevelhafte Beginnen. Wie könnten wir, meine Freunde, die uns noch bleibende Feststunde besser verwenden, als uns in diese Gedanken zu vertiefen; als nach Anleitung der vorgelesenen Textesworte zu erforschen, was uns der Spross ist aus der Wurzel Jischai, den wir erwarten? Wir beschließen heute das Fest unserer Befreiung aus Mizrajims Sklavenbanden; und dieses Fest war uns nicht blos eine Erinnerung unserer einstigen Befreiung, sondern die starke Hand, die uns aus Mizrajim geführt, ist heute noch über uns ausgebreitet; sie will heute noch sich uns wirksam erweisen, auf daß wir den Herrn als unsern alleinigen König anerkennen. Und nicht blos unseretwegen sollen wir ihn als den alleinigen König verehren, sondern aller Völker wegen. Alle Völker, alle Zungen sollen ja kommen und sich vor dem Herrn der Heerschaaren niederwerfen. Und das soll ja nicht blos geschehen, sondern das wird ganz gewiß geschehen, denn Gottes Wort ist wahr und ewig und trügt niemals. Wir beenden heute unser Befreiungsfest und das möge uns andeuten, daß unsere Befreiung wirklich zu Ende geführt wird, daß wir und alles Fleisch einst von Allem gereinigt, was uns vom Herrn trennte, vor Gott erscheinen werden; denn ‫„ כשם שעשיתי לכם עכשיו כך אני עתיד לעשות לכם לעתיד לבא‬So wie ich euch in Mizrajim befreite, so werde ich euch auch in der Zukunft, und das für immer, frei machen“, lesen wir im Midrasch33. Es wird kommen der Tag, wo wir sprechen ‫ּות ַנחֲמֵ נִ י‬ ְ ,‫ ּכִ י אָ נַפְ ּתָ ּבִ י; יָׁשֹ ב אַ ּפְ ָך‬,'‫אֹודָך ה‬ ְ Ich danke dir Gott, daß du mich hart gestraft, denn dadurch ist dein Zorn gewichen“, dadurch haben wir das Böse aufgegeben

33 Exodus Rabba 18, 7. (Wilna)

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und sind zu dir zurückgekehrt und du tröstest uns nunmehro! Siehe, der Herr ist mein Heil, auf den ich vertrauet und deshalb auch in den härtesten Leiden niemals zaghaft wurde! Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, mein Gott, er ward mir zum Heile! Es wird kommen der Tag, wo wir Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils und nicht mehr aus den selbstgemachten, gebrechlichen Cisternen, die das reine Wasser nicht zu fassen vermögen. Es wird kommen der Tag, wo wir ausrufen: Danket dem Herrn, rufet in seinem Namen, verkündet unter den Völkern seine Thaten, laßt sie gedenken, wie erhaben sein Name ist! Singet dem Herrn, denn Hohes hat er gethan; es sei dieses verkündet auf der ganzen Erde! Frohlocke und singe, Bewohnerin Zions, denn groß ist bei dir der Heilige Jisraels!“ Ja, dieser Tag wird kommen, meine Freunde, denn sonst wäre unser ganzes Erdendasein ein Räthsel, ein unaufgelöster Widerspruch, eine unheilbringende und verderbenschwangere Gabe. Wozu die ewige Mahnung und Aufforderung unseres Gewissens, wenn ihr Ende uns doch nur Qual bringen kann und wir niemals ihnen gemäß zu leben vermögen? Wozu der Ruf zur Freiheit, der so laut in allen Herzen widerklingt, dem alle edlere Kräfte unserer Seele so freudig zujauchzen, wenn hier auf Erden wir nur an den Ketten zu rütteln vermögen, doch das Sklavenzeichen uns immer eingegraben bleibt? Wozu unser Auszug aus Ägypten, unsere Wanderschaft durch die Weltwüste, unsere heilige Geschichte, unsere einzig dastehenden Erinnerungen, wenn das gelobte Land nur Milch und Honig hat, nur den Körper labt, den Geist aber nicht erquickt? Wozu die Kraftanstrengung der Völker, ihre Kriege und ihre Friedensschlüsse, ihr emsiges Arbeiten im Reiche des Wissens und der Kunst, wenn ewig das Ziel ihnen fern bleiben soll; wenn sie niemals zur Ruhe gelangen können; wenn immer traurige Zerwürfnisse noch traurigere ablösen sollen, statt daß sie endlich in Gott Lust, Freudigkeit zum Streben und einträchtiges Wirken finden könnten? Nein, meine Freunde, Gottes liebevolles Wort gehet in Erfüllung und daher wird Alles kommen, was er verheißen. Er, der uns erlöset hat aus Mizrajim, ruht nicht bei halbgethaner Arbeit, sondern wird sein Werk zu Ende führen. Er wird die Erlösung unter uns und wird sie bei allen Völkern zu einer Wahrheit machen. Wir und alle Völker werden voll sein von Gotteserkenntniß, wie Wasser den Meeresgrund bedeckt. Aber wozu dann noch ein Sprosse aus dem Stamme Jischai? Wenn Alles voll ist von Gotteserkenntniß, was kann dann noch ihm zu leisten bleiben? Wenn der Haß geschwunden ist aus den Herzen der Völker und innige Bruderliebe Alles umschlingt, und die Nationen uns hingebracht haben nach Zion und dort der Gottesdienst verrichtet wird auf die rechte Weise und dort es Allen lebendig vor Augen und zu Gemüthe geführt wird, was Gott an uns, aber für alle Völker, gethan hat: was kann dann der Zweig aus Jischai’s Wurzeln noch für ein Panier sein, bereit, die Völker vor dem Herrn zu versammeln? Das laßt uns, meine Freunde, heute noch betrachten und mit dieser Betrachtung, wie die Festtage, so auch eine



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oft besprochene Aufgabe beschließen, an deren Lösung wir seit Jahren vor dem Herrn arbeiten. Ja, nur das eine bleibt uns noch zu thun, zu erforschen, was denn der persönliche Messias uns ist, und wir haben mit der Gotteshülfe die Lehren unserer Religion über den Messias und seine Zeit, über das Verhältniß dieser unserer Hoffnung zu dem Gesammtgebiete unserer Religion, wie sie ein Eck- und Grundstein derselben ist, der nicht verrückt, geschweige aufgegeben werden darf, wollen wir nicht das Ganze unserer Religion verkehren und unverständlich machen, wir haben alsdann diese Aufgabe mit Gottes Hülfe nach dem Maße der uns verliehenen Kraft und Einsicht gelöst. Und so gieb du uns denn, Gott und Vater, unser Vater und Vater aller Menschen, unser Erzieher und der Völker Heiliger, gieb uns auch heute Kraft die Wahrheit zu finden und sie auszusprechen vor dir, rein und ungetrübt und unentstellt von falschen und irrthümlichen und doppelsinnigen Gedanken. Amen.

I. Der Sprosse aus dem Stamme Jischai, meine Freunde, soll nicht den Anfang, sondern das Ende der Erlösung bezeichnen. Er soll nicht kommen, uns einen neuen Geist einzupflanzen, sondern wenn wir den neuen Geist schon haben, den neuen und den heiligen, den reinen und ungetrübten, den Geist, der Gott liebt mit ganzem Herzen und ganzer Seele und allem Vermögen, dann erwarten wir erst jenen heiligen Zweig aus einer Gott geheiligten Wurzel. Nicht eine wunderbare und unbegreifliche Erscheinung soll uns jener Sprosse sein; nicht ein plötzlich vom Himmel herabgekommener Gott, den wir nicht erwartet und nicht erwarten gekonnt, sondern ein Mensch, unseres gleichen, ein nothwendiges Ergebniß der dann wirklich gewordenen Verhältnisse, eine Thatsache, die sein muß, eine Thatsache, von uns herbeigeführt. „Siehe, mein Knecht, den ich stütze“, heißt es von jenem Sprosse, „mein Auserwählter, an dem meine Seele Gefallen hat, ich habe meinen Geist auf ihn gegeben, das Recht verbreitet er unter den Völkern. Er schreit nicht und ruft nicht und läßt nicht auswärts seine Stimme hören. Das verletzte Rohr bricht er nicht, den verglimmenden Docht löscht er nicht, nach der Wahrheit verkündet er das Recht. Er läßt nicht nach und ermüdet nicht, bis er auf der Erde das Recht verbreitet hat und auf seine Lehre die fernsten Inseln horchen.“34 Aber, wo so das Recht verbreitet werden soll, meine Freunde, ohne irgend Jemanden zu verletzen, oder irgend Jemanden in irgend einem Wunsche zu nahe zu treten, da müssen Alle schon das Recht und nichts als das Recht

34 Jesaja 42, 1–4.

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wollen, da müssen Alle schon „Hunger und Durst empfinden, das Wort Gottes zu hören“,35 da muß die Liebe zu Gott in allen Herzen heiß brennen, und in Zion und bei dem Gesalbten, der dort herrscht, wird nur Belehrung gesucht, auf daß die Liebe sich nicht verirre, sondern immer auf dem gottgefälligen Wege bleibe. Was sollte uns auch ein anderer Messias? Was könnte uns auch der Sprosse aus dem Stamme Jischai nützen, so lange er allein fromm ist, alle Andern aber Gott entfremdet? Könnte er uns heilen? Nein! denn die Krankheit des Geistes kann nicht äußerlich geheilt werden; ein Anderer kann niemals meine Sündhaftigkeit aus meinem Herzen wegschaffen, sondern ich muß selbst zu Gott kommen und mich reinigen lassen wollen, und dann bedarf es keiner äußerlichen, menschlichen Hülfe, denn dann hilft Gott unmittelbar. ‫„ הבא לטחר מסייעין לו מן השמים‬Wer rein werden will“, heißt es im Talmud, „dem wird göttliche Hülfe, daß auch er rein werde.“36 Wer rein werden will, wer eingestehet, daß er hier auf Erden hätte rein leben können, wer herzlich bekennet, daß Gott ihn auf Erden gesetzt hat, daß er ein reines und heiliges Leben führe, und daß Gott Herr ist über Alles und daher Alles so geschaffen hat, daß nichts den Menschen zwingen kann, Gott zu widersprechen, und wer endlich zur Einsicht gelangt ist, daß das Böse nichtig ist überall und immerwährend und sich daher nunmehro den Quellen des wahren Heils zuwenden will, dem hilft Gott, daß er rein werde; dem vergiebt Gott alles Vergangene und macht es ungeschehen; für den verwandelt der Herr, wie es im Talmud heißt, selbst die Sünden in gute Werke.37 Oder sollte der Messias uns etwa eine neue Kunde bringen von den himmlischen Dingen, eine neue, die wir niemals geahnt, zu der wir ohne ihn niemals gelangt wären, die uns aber so überwältigt, daß unser Geist nun nicht mehr zu widerstehen vermag? Davon stehet nirgends Etwas in dem heiligen Worte unseres Gottes. Wohl heißt es, daß Gott das steinerne Herz aus unserm Leibe nehmen und uns dafür ein Herz von Fleisch geben wird;38 aber das wird G ott thun und das thut Gott und dieses Geschäft ist nicht seinem Gesalbten möglich, einem Menschen unseres Gleichen, und ist ihm auch nicht aufgetragen. Gottes Wort ist die Wahrheit und des Gesalbten Amt ist es,

35 Nach Amos 8, 11. 36 Hirschs Hinweis meint wohl einen Ausspruch des Resh Lakish aus bT Yoma (38b), der lautet: Wenn der Mensch sich selber verunreinigen will, dann stehen ihm alle Türen offen, aber wenn er sich selbst reinigen will, dann wird ihm geholfen. In seiner Religionsphilosophie, offenbar auch wegen seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Christentum in diesem Buch, nennt Hirsch dann „die Sündlosigkeit aller Menschen die Grundlage der ganzen Messiaslehre“ (854), und seine gesamte Diskussion des jüdischen Messianismus steht fast ausschließlich unter diesem Aspekt. 37 Möglicherweise bT Yoma 86b. 38 Ezechiel 36, 26.



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nach der Wahrheit das Recht zu verkünden, aber die Wahrheit ist weder neu noch alt, sondern ewig. Die Wahrheit war von Anfang an dem Menschengeschlechte mitgegeben; schon im Garten Eden sollte es sich dieselbe aneignen, denn der Baum des Lebens ist der Baum der Wahrheit. Und als das Menschengeschlecht sich von der Wahrheit ab und der Lüge zuwendete, da verwandelte es selbst sein bis dahin für alles Gute empfängliche Herz in ein Herz von Stein, auf dem nichts wächst, aus dem nichts Gedeihliches hervorsproßt, denn es ist Stein. Aber Gott begann von Anfang an dieses steinerne Herz wieder in ein Herz von Fleisch zu verwandeln und that dieses zuerst bei uns. Uns verkündete er schon im Anfange unserer Geschichte sein ewiges Wort und das, was ewig ist, kann nicht durch ein Anderes ersetzt werden. Uns züchtigte und strafte er, und wird uns so lange züchtigen und strafen, bis wir wissen und einsehen, daß das steinerne Herz uns unglücklich gemacht, „daß unsere Bosheit uns ins Verderben gestürzt, daß es bös und bitter war, daß wir den Herrn unsern Gott verlassen haben und ihn nicht fürchteten“,39 und durch dieses Wissen und Einsehen belehrt, zu ihm zurückkehren und ihn um ein Herz von Fleisch bitten und Alles zu ihm zurückführen. Und dann erst, wenn das steinerne Herz aus der ganzen Menschheit geschwunden ist, wenn die ganze Erde voller Gotteserkenntniß ist, wie Wasser den Meeresgrund bedeckt, wenn der Wolf bei dem Schafe friedlich wohnt und nicht mehr hartherzig ihm nach dem Leben trachtet, dann erst kann das Panier aus dem Stamme Jischai für alle Völker, auf daß alle sich bei ihm Raths erholen, vor Gott aufgestellt werden, nicht aber vermag es selbst ein steinernes Herz umzuwandeln, noch auf steinerne Herzen einzuwirken. Oder sollte das Leben dieses Sprossen uns zum Vorbilde dienen? Aber so lange wir Sünder sind, wissen wir ja ein heiliges Leben nicht zu würdigen, viel weniger ihm nachzuahmen. Und haben wir nicht Vorbilder genug in unserer heiligen Geschichte, daß wir noch eines neuen benöthigt wären? Haben wir nicht einen Abraham, der der Freund des Herrn genannt wird?40 Sehen wir nicht seine Liebe sich in einer That vollenden, die es bewährt, daß die Liebe zu Gott über Alles gehet? Sehen wir ihn nicht freiwillig, ohne Lohn zu erwarten, noch Strafe zu fürchten, mit ruhiger Ueberlegung, ohne Haß und ohne Uebereilung auf das Geheiß seines Gottes seinen einzigen, innigst geliebten, langersehnten Sohn dem Herrn willig zum Opfer bringen und nur dann erst seinem blutigen aber gottgefälligen Werk Einhalt thut, als eine Himmelsstimme, die ihm von Außen wird, ihn belehrt, daß Gott nur die vollendete, thatkräftige Liebe, nicht aber die That selbst will? Und wenn ein solches Leben nicht genügte,

39 Jeremia 2, 19. 40 Im Allgemeinen nach Jesaja 41, 8, wo aber eigentlich vom Samen Abrahams die Rede ist, der Gott liebt. (‫)ז ֶַרע אַ בְ ָרהָ ם אֹ הֲבִ י‬, vgl. auch 2. Chronik 20, 7. (Vgl. die Übersetzung von Tur-Sinai.)

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uns zu gleicher Gesinnung zu erheben, so ist das ein Beweis, daß niemals ein vereinzeltes Menschenleben genügen kann, die Halsstärrigkeit und Sündhaftigkeit der übrigen Menschen zu brechen, und darum kann auch der Messias, den wir erwarten, nicht ein Muster und Vorbild für die Sünder sein sollen. Vor dem Hauch e s e i n e s Mu ndes st irbt schon der Frevler, lesen wir in unserm Texte,41 das heißt, das Böse wird alsdann nicht mehr aufzukommen wagen, es wird kein Böses mehr geschehen, man wird nichts mehr verletzen; aber des Messias Werk ist nicht für die Frevler, sondern für die gottesfürchtig gewordene Menschheit. Sein Werk ist nach Frömmigkeit zu richten und seine Zeit ist die, wo das fromm Gerichtete auch fromm gehalten werden wird. Sein Werk gelingt, obgleich er nicht schreit und nicht ruft und nicht auf den Straßen seine Stimme hören läßt. Obgleich er Niemanden verletzt und Niemandem zu nahe tritt, verbreitet er doch das Recht unter den Völkern, denn die Völker suchen in seiner Zeit nichts als Recht und Wahrheit. Ja, der Messias, den wir erwarten, bezeichnet das Ende der Erlösung, bezeichnet die Zeit, wo vollendet ist das Werk unserer Befreiung aus Mizrajim, wo wir, wo alle Völker Eins sind in unserm Gotte, einmüthig vor dem Herrn wandeln, den rechten Willen haben, Alles zu thun, was der Herr befiehlt, und darum gern sein Wort hören und ihm lauschen und darnach leben. Nicht eher kann der Messias sein Amt antreten, als bis jene Zeit wirklich geworden ist, bis das Böse verschwunden ist und das Reich des Guten beginnt, das Reich, das der Herr von Anfang an für die Menschheit bestimmt hatte, das sie sich aber durch ihre Hartherzigkeit verscherzte, und das dennoch die göttliche Liebe ihr aufbewahrte; das Reich, für welches er sich unter uns offenbart, für das er uns erzog und zu welchem er Alle hinführt. Wie nahe oder wie fern jenes Reich noch sei, das hängt nicht von Gott, sondern von uns ab. „Gott harrt sehnsüchtig, jene Zeit herbeizuführen“,42 an uns liegt es, uns zu Gott zu wenden, denn nicht eher kann Messias kommen, als bis wir vollkommen gut geworden sind.

II. Ja, an uns liegt es, nicht bloß auf jene Zeit zu harren, sondern sie auch herbeizuführen; denn der Messias hat den Kampf mit dem Bösen nicht erst einzugehen, sondern alles Böse muß schon vernichtet sein; es muß entlaubt sein seine Krone mit Macht; die stolz dastehen, müssen abgehauen, die Hohen erniedrigt

41 Jesaja 11, 5. 42 Nach Jesaja 30,18 (‫)וְ ָלכֵן יְ חַ ּכֶה ה' ַל ֲחנַנְ כֶם‬.



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sein; umgehauen von der Axt muß der dichte Wald daliegen, der Libanon muß sinken unter den Mächtigen, ehe der Sprosse hervorschießen kann, dessen Ruhe Herrlichkeit ist.43 Der Kampf mit dem Bösen ist nur auf eine Weise siegreich zu führen; nur die Einsicht und das stete Bewußtsein, daß Alles, was der Verführer uns vorspiegelt, Lüge ist, daß die Güter, die er verheißt, nichtig sind und wie Rauch verfliegen, nur dieses giebt Macht gegen das Böse; nur dieses giebt Kraft dem Verführer immer und immer wieder zu widerstehen, ihn zu demüthigen und ihn zu zwingen, uns zu dienen und uns zu segnen, statt uns zu beherrschen und mit Fluch zu beladen. Gelobt ist Gott! Nicht von unserm Belieben hängt es ab, die Nichtigkeit des Bösen anzuerkennen, sondern wir müssen es anerkennen, gezwungen oder freiwillig. Auch der hochmüthige und hartherzige Pharao, der in seinem stolzen Uebermuthe die Wahrheit gar nicht gelten lassen wollte, der auszurufen wagte: Wer ist Gott? Ich kenne Gott nicht und will ihm daher nicht gehorchen! auch er mußte zuletzt das für ihn niederdrückende Bekenntniß ablegen: „Gott ist gerecht; ich und mein Volk sind Sünder!“44 Aber soll dieser Kampf mit dem Bösen zu unserm Heile und nicht zu unserm Verderben enden, so thun wir gut daran, Gott freiwillig anzuerkennen, freiwillig zu gestehen, daß der Weg zum Bösen nur auf gebrochene Cisternen führt, nur Eiteles, das zu nichts nütze ist, gewährt und daß nur der Weg zum Guten zur Quelle des Heils hinleitet. Darum kann dem zu erwartenden Sprosse aus dem Stamme Jischai nicht mehr der Kampf mit dem Bösen obliegen, er kann das Böse nicht für uns vernichten, sondern es muß schon vernichtet sein vor seinem Auftreten; sein Beruf ist, uns auf dem Pfade des Lebens zu erhalten, dazu aber müssen wir von der Herrlichkeit dieses Weges schon überzeugt und im Innersten unsers Gemüthes durchdrungen sein. Für wen sollte auch er, der Einzelne, diesen Kampf eingehen? Sollte er diesen Kampf etwa wiederum für den Einzelnen, etwa für dich und mich eingehen? Aber du und ich, mein Bruder, jeder Einzelne kann nur gerettet werden, wenn er in diesem Kampfe selbst bestehet, wenn er in den Prüfungen Gottes sich selbst bewährt zeigt, wenn er die Nichtigkeit des Bösen sich immer vorhält und im Vertrauen auf seinen Gott kommt und sich reinigen lassen will, denn nur dann hilft Gott. Oder sollte der Messias das Böse etwa im Großen vernichten? Sollte er dazu berufen sein, daß gegen ihn alles Böse anstürme, aber an seinem geduldigen und gottvertrauenden Muth zu Schanden wird; daß gegen ihn sich alle Völker versammeln und ihm doch nichts anhaben können; daß auf seinen Untergang die ganze Klugheit dieser Erde sinne aber doch nur auf Leeres sinnt? Wohl, meine Freunde, gehet das Böse auf diese Weise zu Grunde; wohl wird es, wenn es sich nicht freiwillig auf-

43 Nach Jesaja 10, 33f. 44 Nach Exodus 10, 16.

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giebt, auf die hier geschilderte Art gezwungen, seine Selbstverurtheilung auszusprechen: aber auf daß dieses mit Erfolg geschehe, dazu genügt das Leben keines Einzelnen; dazu ist eine Gemeinschaft erforderlich, der sich Alles entgegensetzt und an der Alle zu Schanden werden, die sie vernichten wollten. Gegen den Einzelnen kann sich niemals das Böse aller Zeiten und aller Orten erheben, aber wohl gegen eine Gemeinschaft und besonders gegen die Gemeinschaft, die wir im Sinne haben. Heil dir, Gemeinde Jakob! Dein Beruf war es und ist es an allen Orten und zu allen Zeiten das Böse gegen dich hervorzurufen, es gegen dich alle seine Kraft aufbieten zu lassen; gegen dich sollte das Laster alle Klugheit und alle List und alle Verschlagenheit, die die Welt besitzt, in Anwendung bringen und an deiner Treue zu deinem Gotte und zu seinem ewigen Worte, an deiner Geduld und Ausdauer an deiner Standhaftigkeit und an deinem muthvollen Leiden zu Grunde gehen! Ja, darum kann es der Beruf des Messias nicht sein, dem Bösen entgegenzukämpfen, weil er ein Sprosse ist aus der Wurzel Jischai, Jischai selbst aber in Jisrael wurzelt und Jisrael heute aus Mizrajim gegangen und in die Wüste gewandert ist, um den Pfad für den Herrn zu ebnen, um das Böse an allen Orten und zu allen Zeiten vor der Ankunft seines Gesalbten zu vernichten, um Jeden, der den Herrn nicht kennen will, zum Eingeständniß, nicht zum äußerlichen, sondern zum überzeugungsvollen Eingeständniß,zu zwingen, daß Gott die Herrschaft gehört und daß in seinem Reiche das Böse nicht wohnen kann. Wäre es ein Einzelner, der zu diesem Kampfe nicht bloß für sich, sondern auch für die Welt berufen wäre, wie Viele haben nicht schon siegreich diesen Kampf bestanden und doch bestehet das Böse heute noch? Blicket auf unsern Vater Jakob! Hat ihm nicht Gott selbst das Zeugniß gegeben, daß er diesen Kampf auf die rechte Weise geführt und daß er aus diesem Kampfe siegreich hervorgegangen ist? Und könntet ihr auch Niemanden in dem Gesammtgebiet der Weltgeschichte aufweisen, gegen den sich alles Böse versammelte, den es zu zertreten und zu zernichten suchte, und an dessen gottergebenen Leiden es selbst zernichtet wurde: wie käme es, daß ihr keinen solchen aufzeigen könnt? Warum beruft Gott seinen Gesalbten nicht, den Blinden, auch wider ihren Willen, die Augen zu öffnen, aus den Banden, worunter Frevelthaten sie fesseln, die Gefangenen zu befreien, Licht zu machen da, wo es noch dichte Finsterniß ist? Und hätte Gott hierzu seinen Gesalbten schon berufen, woher die Blindheit und die Finsterniß und die Frevelthaten, die wir doch nimmermehr wegzuleugnen vermögen? Nein, es ist nicht der Beruf des Messias, sondern der des ganzen Hauses des Vorkämpfers gegen das Böse, des ganzen Hauses Jakob, diesen Kampf für alle Bewohner der Welt einzugehen und nicht eher kann der Sprosse Jischais aus seiner Mitte hervortreten, als bis es diesem Berufe genüget, bis es seine Aufgabe gelöst; denn die Wohnung des Messias soll in seiner Mitte aufgeschlagen werden und diese Wohnung soll nicht mehr eine Wander schaft , sondern ‫„ מנוחה‬ein



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Ruh e o r t“ sein, und sie soll nicht mehr geschmähet und beschimpft werden, sondern sie soll Herrlichkeit heißen und Herrlichkeit genannt werden von allen Völkern, da zu ihm die Völker wallen in Lust und in Freude und in Ergebenheit, und das ist nicht möglich, wenn das Herz der Völker noch Stein wäre vor seiner Ankunft, wenn sie durch ihn erst genöthigt werden sollten, vom bösen Weg abzulassen und sich dem Guten zuzuwenden, wenn sie durch ihn erst zu dem Ausrufe gebracht werden sollten: Gott ist gerecht und was wir bisher trieben, war Frevelhaftes und Nichtiges! Wozu hätte Gott uns auch aus Mizrajim geführt? Wozu hätte er uns so Großes und Wunderbares bis auf den heutigen Tag gethan, wenn dieses nicht vor Allem unser Beruf, der Beruf eines jeden Jakobs-Sohnes an seinem Orte und der Beruf der gesammten Gemeinschaft Jisraels wäre? Hätte Gott uns etwa aus Mizrajim geführt, damit wir ein Volk werden wie andere Völker? Aber ein Volk zu bilden, desgleichen so viele bestehen, dazu thut Gott niemals Wunder, dazu genügen vollkommen die Kräfte und Anlagen, die einem jeden Volke schon bei seiner Geburt mitgegeben sind. Oder hätte Gott uns Wunder gethan und fortwährend Wohlthaten erwiesen, damit wir sein Sohn werden, aber in der Welt nichts thun, seinen Namen zu verherrlichen? Sind solche Worte auch denkbar? Jedes Volk leistet, was es zu leisten hat, nicht blos sich, sondern wesentlich auch der Menschheit; und wir sollten der Menschheit keinen Tribut zu bezahlen haben, deren Bestandtheil wir doch auch sind? Und wären solche Reden auch denkbar, sind sie nicht Gotteslästerung? Jedes Volk ist von Gott geschaffen, ist zum Licht und zum Leben bestimmt, und das wahre Leben der Völker, das Leben im Geiste des Herrn, sollte Gott allen Nationen vorenthalten und nur uns, mit arger Partheilichkeit, geschenkt haben? Warum hat Gott nicht allen Völkern Wunder erwiesen gleich uns? Warum hat er sie nicht alle erzogen, wie er uns erzogen hat? Warum gerade uns aus Mizrajim führen, in der Wüste begleiten, im Lande über uns wachen, uns in die Gefangenschaft fortschicken und uns dort erhalten und mit seiner Erkenntniß uns segnen? Nein, Jisrael ist für die Welt da! Alle Völker sollen durch Jisrael erbauet werden im Tempel des Herrn! Alle sollen sie durch uns aufgebauet werden zu einer Wohnung, in der die Herrlichkeit des Herrn sichtbar ruhen mag, und darum ist es unser Theil und nicht der des aus unserer Mitte hervorsprossenden Schößlings aus dem Stamme Jischai, das Böse überall zur Erkenntniß seiner Nichtigkeit und seiner Ohnmacht, seiner Eitelkeit und seines wahnsinnigen wie vergeblichen Anstürmens gegen die Wahrheit und das Licht und das Recht zu bringen.

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III. Dann erst, wenn das Böse vernichtet ist, wenn seine Krone entlaubt ist mit Macht, wenn sein Stolz abgehauen, sein Hochmuth erniedrigt dastehet, dann erst gehet der Sprosse hervor aus dem Stamme Jischai, auf welchem ruhet der Geist des Herrn; denn sein Geschäft ist nicht das Böse zu bekämpfen – vor dem Hauche seines Mundes stirbt schon alles Frevelhafte –sondern sein Geschäft ist, mit Gerechtigkeit die Armen zu richten, mit Redlichkeit die Gebeugten auf der Erde zurechtzuweisen; sein Geschäft ist, ein Panier zu sein allen Völkern, bei dem sie alle Wahrheit und Gerechtigkeit suchen und finden werden; sein Geschäft ist, nach der Wahrheit das Recht zu verkünden, auf der ganzen Erde Gerechtigkeit herrschend zu machen, und auch die fernsten Inseln werden seine Lehren begierig aufnehmen. Das Böse, meine Freunde, wird in jenen Tagen allerdings erkannt sein als das Nichtige und Nichtswürdige; „der Schleier, der über die Völker verbreitet war, die Decke, die den Geist aller Nationen verhüllte und verfinsterte, wird allerdings weggeschaffet sein; der geistige Tod, der das Erbtheil jedes Frevels ist, wird allerdings aufgehört haben; Gott wird getrocknet haben die Thränen von jedem Angesichte und die Schmach seines Volkes wird in Ehre verwandelt sein auf der ganzen Erde.“45 Aber auf daß das Böse vernichtet bleibe für immer; auf daß die Menschheit nicht wieder Gefahr laufe, das, von dessen Dasein sie nur wissen soll, sich anzueignen und zu schmecken; auf daß sie in dem Licht verharre, „das mehr ist als das Licht der Sonne bei Tag und mehr als der Glanz des Mondes bei der Nacht; auf daß der Herr ihr Licht sei für immer, Gott fortwährend ihr Ruhm; auf daß die ihnen nun leuchtende Sonne nicht wieder untergehe, der Glanz des ihnen nun scheinenden Mondes nicht wieder verschwinde; auf daß für immer vollendet bleiben die Tage der Trauer“46 und man nun nur noch den dankerfüllten Ruf höre: „Sieh, das ist unser Gott, auf den wir geharrt, er hat uns geholfen; siehe, das ist unser Gott, laßt uns lustig sein und frohlocken ob seiner Hülfe“47!– dazu werden die Völker und jeder Einzelne sich dem Panier zuwenden, das der Herr für alle bereit hält; dazu werden sie sich freiwillig einen irdischen König wählen, einen höchsten Richter; ihm werden sie mit Liebe folgen, auf seine Lehre mit Begierde horchen, denn sein Geruch ist Gottesfurcht und er lehrt sie nur

45 Nach Jesaja 25, 7f. Für Hermann Cohen und andere Rationalisten war dieser Vers vom Verschwinden des Todes in der messianischen Zeit allerdings immer problematisch. Cohen interpretiert ihn mehrfach als Gleichnis, einmal als Teil der „Naturpoesie“ Jesajas, einmal als Metapher für das Ende aller Kriege; vgl. Cohen, Religion der Vernunft, 323 und 340. 46 Jesaja 60, 19f. 47 Jesaja 25, 9.



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Gott fürchten und den Herrn lieb haben; er unterweist sie nur in der Wahrheit und darum wird er, der nur die Wahrheit verkündet, den nur die Wahrheit suchenden Völkern nicht zuzuschreien brauchen und nicht seine Stimme zu erheben haben, denn die Wahrheit wird von Allen begierig aufgenommen werden. Das Böse, meine Freunde, wird immer möglich bleiben, wird auch in den Tagen des Messias noch möglich sein, denn Gottes Absicht ist es, daß dem Menschen, so lange er auf Erden weilt, es möglich sei, von ihm abzufallen und daß er dennoch bei ihm bleibe. Auch in jenen Tagen ist die Menschheit nicht gesichert, daß sie nicht alles Wunderbare, das sie gesehen und erlebt, wieder vergessen könnte, wie sie es ja oft vergessen hat. „Auch dann kann wieder ein Geschlecht aufstehen, das nicht kennen will den Herrn und die Thaten, die er an Jisrael gethan und die Thaten, die er durch Jisrael an der Welt gethan.“48 Auch dann kann wieder der von allen Völkern ausgebaute Tempel entweihet, können die daselbst gefeierten Festtage und Neumonde dem Herrn zur Last, kann der Gottesdienst daselbst wieder zu einem Lippendienst werden, dem das Herz fremd ist, und daß man den Herrn verehrt, nur ein überkommener Brauch, nur auswendig gelerntes Menschengebot sein.49 Und auf daß diese Möglichkeit niemals zur Wirklichkeit werde, dazu werden sich die Völker einen Sprosse erwählen aus dem altehrwürdigen Stamme, einen Sprosse, vor dessen Hauch schon alles Frevelhafte im Beginnen erstirbt, einen Sprosse, der ihnen Gottes Wort verkündet, ihnen die Wahrheit immer erhält und sie der Gerechtigkeit immer zuführt. Jene Zeit, meine Freunde, wird allerdings der Anfang einer neuen Geschichte sein, einer neuen noch nicht dagewesenen Völkerentwickelung, eines Fortschreitens der Völker auf eine bis dahin noch nicht geahnte Weise; aber dieses Neue ist doch das Aelteste; es ist das von Anfang an für die Menschheit bestimmt gewesene Leben, von dem sie nicht hätte abweichen sollen, denn sie brauchte es nicht, und zu dem sie Gott auf wunderbare Weise zurückgeführt hat. Und auf daß sie nicht noch einmal von diesem ihr von Anfang an bestimmten Wege abirre, auf daß die Vergangenheit ihr immer eine Gegenwart bleibe, eine immer gegenwärtige Lehre und Ermahnung und Züchtigung, dazu erwählt sie sich den Sprosse aus dem Stamme Jischai. Ja, die Vergangenheit lehrt, daß nur ein solcher frei gewählter Sprosse, ein solcher höchster Richter auf Erden, ein solcher Verkünder der Wahrheit und des Rechts die Menschheit vor der Gefahr neuer Verirrungen sicher stellen kann. Blicket auf die Vergangenheit; blicket auf die Geschichte aller Zeiten und aller Länder, was sehet ihr dort? Alle Geschichte beginnt mit der Herrschaft eines Einzelnen, und darum wird sie auch mit der Herrschaft eines Einzelnen enden. Das,

48 Nach Richter 2, 10. 49 Nach Jesaja 29, 13.

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was die Völker im Gefühle ihrer Bedürftigkeit sich im Anfang gefallen ließen, werden sie am Ende mit freier Einsicht sich wieder erwählen; denn das ursprüngliche Gefühl, das Gott für jene Zeiten den Völkern als Leiter auf ihren Wegen gegeben, täuschte nicht; das ursprüngliche Gefühl war ein Gottes-Geschenk und ersetzte die noch nicht errungene Erkenntniß, und darum wird die Erkenntniß und Einsicht zum Gefühle zurückkehren und das mit Freiheit wieder herstellen, was dieses Völkergefühl geschaffen hatte. Wohl mußten die Schöpfungen des Gefühls zu Grunde gehen; wohl konnte nichts so bleiben, wie es im Anfange war; wohl wäre es Thorheit, wollten wir heute, statt die Erkenntniß und Vernunft walten zu lassen, einem dumpfen Gefühle die Herrschaft verleihen, denn die Menschheit sollte nicht beim Gefühle stehen bleiben. Das Gefühl ist nur der Anfang, aber es soll mit Erkenntniß und freier Einsicht enden und zu ihr fortschreiten. Sobald die Menschheit zur Erkenntniß fortgeschritten war, war jenes ursprüngliche Gefühl verschwunden und keine Macht vermag es wieder herzustellen, denn Gottes Wille war es, daß es verschwinde. Und ist es auch richtig, daß die blutigen Kämpfe, die Greuelthaten und Laster, von denen der Weg, den die Menschheit auf ihrer Entwickelungsreise wandelte, bezeichnet ist, ihr erspart worden wären, hätte sie sich nicht dem Bösen in die Arme geworfen, hätte sie nicht Gott verleugnet, und sich Götzen erwählt: da, wo sie im Anfang stand, hätte sie doch nicht stehen bleiben können, denn sie war auf Erden gesetzt, um sich zu entwickeln, um zu wachsen vor Gott, und an Erkenntniß und freier Liebe zum Herrn zuzunehmen. Aber das, was im Anfang als das Beste nur geahnt und gefühlt wurde, das wird am Ende als das Beste erkannt und gewürdigt werden, und darum sagen wir: So wie alle Geschichte mit der Herrschaft eines Einzelnen anfing, so wird sie auch mit der Herrschaft eines Einzelnen enden. Die Menschheit ist auf Erden gesetzt zu arbeiten, den von Gott gegebenen Geist zu gebrauchen, geistig fortzuschreiten. Jeder Einzelne hat vom Herrn einen Schatz empfangen, den er recht verwalten soll, der ihm reichliche Zinsen zu tragen bestimmt ist. Und auch in jener Zeit, wo alles Böse verschwunden ist, wird dieses nicht anders sein, denn so lange der Mensch auf Erden ist, hat er den Garten Eden zu behüten und zu bearbeiten, auf daß ihm Früchte werden, die Gott gefällig sind und das Herz aller Menschen erfreuen. Aber wo Fortschritt ist, da muß auch Wettstreit und Wettkampf sein, meine Freunde; wo ein Streben ist, da kann es nicht ausbleiben, daß Zwei nach einem Ziele streben, während es doch nur Einer erlangen kann. So war es unter den Einzelnen und unter den Völkern; aber nicht so wie es war, wird es wieder sein. Weil die Menschheit vom guten Weg abirrte, verwandelte sich der Wettkampf in Kampf, dieser in Haß, dieser in Bosheit, diese in Unterdrückung und alle Grausamkeit: so wird es nicht wieder sein. Sehet auf unser heutiges Leben. Alles arbeitet für freies Völkerleben, für freie Entwickelung unserer uns von Gott gegebenen Kräfte und Anlagen, für



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Denk- und Redefreiheit, und doch lieben wir Alle und verehren herzlich und mit tiefster und innigster Ueberzeugung unser angestammtes Herrscherhaus, denn wir wissen, daß nur unter einem Monarchen, der seine Herrlichkeit und sein Amt von Gott empfangen hat, die wahre Freiheit auf die Dauer blühen und für immer in ihrer ungehemmten Entwickelung gesichert sein kann. Alle andere Staatsformen, rühmen sie sich auch noch so sehr der Freiheit, gewähren und sichern nur den Schein derselben; denn nur unter dem Gesalbten des Herrn kann das Göttliche erstarken. Sehet auf jenen Staat, der sich sehr seiner Freiheit rühmt, sehet auf Nordamerika, nicht einmal die heiligsten Menschenrechte werden geachtet; so sehr auch die Bessergesinnten darnach streben, den armen Sklaven ihre angeborene Menschenachtung wieder zu verschaffen, es gelingt nicht; denn die, welche aus jenem unseligen, gottverhaßten Zustand Vortheil ziehen, sitzen auf den Bänken der Gewalt und wollen natürlich ihre Macht nicht aus den Händen geben.50 Nein, nur unter einem König kann die Freiheit blühen und stark werden, die wahre Freiheit, die Freiheit, die vor Gott gilt, denn nur ein König ist unbefangener Richter, partheiloser Beurtheiler alles dieses Strebens. Nur ein König kann das Recht geltend machen, denn er ist nicht dabei betheiligt, daß das Unrecht fortwuchere. Nur ein König kann die Wahrheit herrschend machen, denn warum sollte er die Lüge befördern? Was kann er dabei gewinnen? Was kann ihm Falschheit und Doppelsinnigkeit und Verstellung nützen? Nur ein König kann Alle hören und dann die Wage des Rechtes und der ewigen Wahrheit dahin neigen, wo das Recht und die Wahrheit und das aufrichtige und gottesfürchtige Streben ist. Und so wie es bei einem Volke ist, so wird es in jener Zeit bei allen Völkern sein, und darum werden alle Völker sich einen König wählen, dessen Geruch Gottesfurcht ist, der nicht nach dem Schein der Augen richtet, nicht nach dem Gehör des Ohres zurechtweist, sondern der mit Frömmigkeit Jedem, auch dem Aermsten und Letzten der Menschen, sein Recht werden läßt, denn die Frömmigkeit ist der Gürtel seiner Lenden, die Treue der Gurt seiner Hüften. Wohl sind die Könige heute gerecht und treu ihren Völkern, aber die Völker selbst stehen sich noch kampfgerüstet gegenüber. Noch ist die Zeit nicht da, wenn sie auch Gott

50 Offiziell wurde die Sklaverei in den USA erst 1865 (zwanzig Jahre nach dieser Predigt) mit der Niederlage der Südstaaten im Bürgerkrieg abgeschafft. Bis dahin arbeiteten auf Plantagen, besonders in Alabama, Mississippi und Louisiana, bis zu vier Millionen afroamerikanische Sklaven. Von den deutschen Reformrabbinerm, die wie Hirsch später nach Nordamerika über­­siedelten, war es vor allem David Einhorn, der entschieden gegen die Sklaverei auftrat. Er musste deshalb nach eigener Aussage 1861 seinen Posten in Baltimore verlassen und ging nach Philadelphia, wo Samuel Hirsch ihn 1866 als Rabbiner ablöste. Vgl. jedoch die Skepsis von Gershon Greenberg, Modern Jewish Thinkers: From Mendelssohn to Rosenzweig (Brighton: Academic Studies Press, 2011), 348, der dies für eine Legende hält.

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Lob schon geahnt wird, wo auch die Völker zur Einsicht gekommen sein werden, daß auch unter ihnen nur Wettstreit, aber nicht Streit, nur Wettkampf, aber nicht Kampf und Bosheit herrschen muß. In jener Zeit aber wird diese Einsicht vorhanden und in allen Herzen zu lebendigem Bewußtsein geworden sein; in jener Zeit, „da werden die Völker ihre Schwerter zu Pflugschaaren, ihre Lanzen in Winzermesser umschmieden; kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, man wird den Krieg nicht mehr lernen“,51 und darum werden sich die Völker den Richter wählen, der ihre Streitigkeiten gerecht schlichtet; der sie gerecht zu schlichten befähigt, gerecht zu schlichten berufen ist. Nicht für uns wird jener König sein, sondern für alle Menschen; sein Beruf ist nur, bei Allen Streit zu verhüten, die Bosheit im Entstehen überall zu erdrücken, den Völkern nicht nach Neigung und nicht nach Eigennutz, sondern nach Wahrheit Recht zu sprechen. Und aus welchem Volke, meine Freunde, könnten die Völker sich jenen Richter wählen wollen, wenn nicht aus dem Hause Jakob, das dann gesegnet sein wird von allen Völkern, „an dem sie sich segnen und mit ihm sich rühmen werden?“52 Alle andere Völker haben weltliche Interessen von Gott zu ihrem Erbtheil empfangen; sie sollten groß werden in Künsten und Wissenschaften; sie sollten die Erde umschiffen und ihre Schätze überallhin verbreiten; sie sollten sich Denkmäler setzen, Denkmäler ihrer Größe und ihres Ruhmes. Jisrael allein hat kein weltliches Interesse zu seinem Erbtheil empfangen; es hatte nur die Lehre der Wahrheit zu tragen und überall zu bewähren; es hatte nur Frieden zu stiften zwischen Gott und der von Gott entfremdeten und daher auch unter sich entzweiten Welt. Jisrael allein wird daher als befähigt erkannt werden, den Sprosse der Welt zu geben, unter dessen Scepter Alles sich friedlich entwickeln, Alles vor dem Herrn wachsen und gedeihen kann. Und wenn aus Jisrael jener König gewählt wird, wer kann anders berufen werden, als ein Sprosse aus jenem alten Königsgeschlecht, das von den Schafen weg von Gott berufen ward, Jisrael zu weiden, „dessen Haus treu befunden wurde, dessen Reich ewig dauern, dessen Thron fest stehen sollte für immer?“53 In jenem Geschlechte ist vereinigt und verkörpert die ganze Lehre, die Gott in jenen Tagen der Menschheit tief ins Herz graben will; es ist das sichtbare Denkmal, daß die Wahrheit allein bestehet, das Böse aber überall zu Grunde gehet, und darum tödtet der Hauch seines Mundes schon alles Böse; darum ist es bekleidet mit Herrlichkeit und Frömmigkeit für Alle; darum darf Jeder, auch der Aermste und Bescheidenste, zu ihm kommen und offen sich aussprechen und frei

51 Jesaja 2, 4. 52 Jeremia 4, 2. 53 2. Samuel 7, 16. „Von den Schafen weg …“ – vgl. 1. Samuel 16, 11.



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sein Recht fordern, denn es ist ein Richter der Völker, ein Richter, der nicht müde wird und nicht ermattet, bis das Recht in Wahrheit überall durchgedrungen ist. Ja, auf diesen Davididen hoffen wir und mögen alle Völker hoffen; er wird gewiß kommen und sein Geschlecht wird dann feststehen vor dem Herrn und sein Thron für immer bestehen. Amen.

Levi Herzfeld

Zwei Predigten über die Lehre vom Messias Braunschweig: Vieweg, 1844 Levi Herzfeld (1810–1884) studierte an der Würzburger Jeschiwa und später an der Berliner Universität, wo er eng mit Leopold Zunz (1794–1886) zusammenarbeitete. 1844 initiierte er zusammen mit Ludwig Philippson (1811–1889) die erste Rabbinerkonferenz in Braunschweig, nahm aber auch an den folgenden beiden Treffen aktiv teil. Herzfeld war zudem ein eifriger Historiker. 1847 veröffentlichte er sein Hauptwerk, eine dreibändige Geschichte Israels zur Zeit der Bibel. Ende 1844 übergaben Freunde des Braunschweiger Rabbiners zwei Festpredigten, die er am ersten und letzten Tag des Sukkot-Festes des selben Jahres gehalten hatte, dem Druck. Beide Predigten handelten von der Rehabilitierung der jüdischen Messiaslehre in der Neuzeit, die Herzfeld für dringend geboten hielt. Diese Predigten können in ihrer Klarheit und Originalität zu den klassischen Texten des transformierten liberalen Messianismus gezählt werden.

Andächtige Versammlung! Von der Bedeutung unseres Laubhüttenfestes habe ich schon oft vor Ihnen gesprochen, so daß ich das Vertrauen hege, daß Sie die Feier desselben würdig begehen werden, auch wenn ich diese Stunde dazu verwende, ein anderes religiöses Thema abzuhandeln. Gott, der Du die schirmende Hütte wölbtest über unsere Väter in der Wüste, und ‫ – סוכת שלום‬das Laubdach des Friedens ausgebreitet hast über uns, ihre späten Nachkommen, wir wollen jetzt einen Blick hinaussenden in die Tage, für welche Deine Diener verheißen haben den Wiederaufbau ‫ – סוכת דוד הנופלת‬der Hütte Davids, die eingefallen liegt: laß diese Stunde an uns gesegnet sein, Amen. Mein heutiges Thema ist die jüdische Lehre von dem M essias, ich wählte es auf Veranlassung unserer heutigen Haftora, welche das vierzehnte Kapitel des Secharja umfaßt. Dort heißt es: Siehe, es kommt ein Tag des Herrn! Ich lasse zusammentreten alle Völker zum Krieg gegen Jerusalem, und die Stadt wird erobert werden, und die Hälfte ihrer Bewohner in die Gefangenschaft gehen; das übrige Volk aber wird nicht ausgerottet werden aus der Stadt, denn der Herr ziehet aus und kämpft mit jenen Völkern wie an einem Tage der Schlacht … es kommt der Ewige, mein Gott, und alle Heiligen mit ihm. An jenem Tage des Kampfes wird nicht sein kostbares Sonnenlicht und nicht Finsterniß. Dann wird ein Tag sein, den Gott nur kennet, auch er nicht Tag und nicht Nacht, aber gegen Abend wird es helle werden …

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 Levi Herzfeld

da wird Gott König sein über die ganze Erde ‫והיה ה׳ למלך על כל הארץ‬, an jenem Tage wird Gott einzig sein und sein Name einzig ‫ביום ההוא יהיה ה' אחד ושמו אחד‬.1

Der Prophet fährt noch fort in Beschreibung des messianischen Reiches, wir müssen aber hier abbrechen, wir haben einen weiten Weg zu durchwandern. Als Einleitung zu unserem Thema lassen Sie uns zwei kurze Betrachtungen anstellen, nämlich erstens – im Gegensatze zu der häufig vernommenen Behauptung, daß die jüdische Religion jetzt in Verfall sei – gebe ich Ihnen zu bedenken, ob es nicht umgekehrt ein Zeichen ihrer neuen Blüthe ist, daß die Messias­ lehre jetzt wieder so zu sagen zu Ehren kommt. So war es nicht bis ganz vor Kurzem. Als vor einem Menschenalter die Aufklärung brach mit der alten religiösen Anschauung, da erging unter uns ein trauriges Loos über diese Lehre. Die, welche der neuen Bildung huldigten, verwarfen entweder den Messiasglauben ohne Prüfung, oder scheuten sich, von ihm zu reden, aus Furcht, daß ihre bürgerlichen Ansprüche darunter litten. Was soll ich sagen von einer Richtung, welche die Hälfte unserer prophetischen Bücher ausstreicht, um nur kein Wort übrig zu lassen denen, welche zu unserem Schaden diesen Glauben verdrehen? sie ist schon gerichtet, diese Richtung, von Secharja selbst, welcher schließt mit den Worten: ‫ה' צְ בָ אֹות ּבַ ּיֹום הַ הּוא‬-‫יִ הְ יֶה כְ ַנעֲנִ י עֹוד ּבְ בֵ ית‬-‫ וְ ל ֹא‬es wird an jenem Tage kein Handelsmann mehr sein im Hause Gottes2, ein solcher nämlich, der Handel treibt mit den Lehren seiner Religion. Fast eben so traurig aber wie durch jene Aufgeklärten erging es der Messiaslehre auch durch die Altgläubigen; sie wagten es nicht, laut eine Lehre zu verkündigen, der es so übel erging. Diese Zeit aber einer feilen Aufklärerei einerseits, und andererseits des schüchternen Verschweigens, um nicht zu sagen feigen Verläugnens von Bestandtheilen des Judenthums, diese Zeit ist Gottlob im Schwinden, davon zeugt gar Vieles und auch dies, daß jetzt die Messias­ lehre auf den Kanzeln, in den Schulen, in Schriften wieder vorgetragen werden kann und, was sie wirklich ist, als ein Grundpfeiler unserer Religion hingestellt wird. – Meine zweite einleitende Betrachtung betrifft die Auffassung der Bibelstellen, aus welchen diese Lehre geschöpft wird. Solcher Stellen nämlich, wie die vorgelesene, giebt es noch sehr viele in der heiligen Schrift, sie reden sämmtlich vom Messiasreiche in überschwenglichen Ausdrücken, die sehr oft buchstäblich genommen wurden, und dadurch dem Messiasreiche den Vorwurf des Abenteuer­ lichen zugezogen haben. Jene überschwenglichen Schilderungen enthalten aber offenbar Bilder, und Bilder sind niemals wörtlich zu nehmen. Einen Theil derselben werde ich noch im Laufe dieses Vortrages Ihnen deuten, einen anderen Theil

1 Sacharja 14, 1, 2, 5, 6, 9. 2 Sacharja 14, 21.



Zwei Predigten über die Lehre vom Messias 

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in meinem nächsten Vortrage, denn im Voraus erkläre ich, ich kann dieses reiche Thema nicht auf einmal erschöpfen. Vor allen Dingen nun müssen wir wissen, wovon wir reden, also was wir unter einem Reiche des Messias zu verstehen haben. Unser Secharja sagt: Dann wird Gott König sein über die ganze Erde, an jenem Tage wird Gott einzig sein und sein Name einzig. Vor ihm hatte Jeschaja von der Zeit des Messias verheißen, die Erde werde dann voll sein von Kenntniß des Herrn, wie Wasser den Meeresgrund bedecken.3 Joël hatte von ihr gesagt, dann werde der Herr seinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und auch über Knechte und Mägde ausgießen seinen Geist.4 Zefanja hatte gesagt: Dann wandele ich die Zungen der Völker in eine geläuterte Sprache um, daß sie alle anrufen den Namen Gottes und ihm dienen wie Ein Mann.5 Und alle übrigen Propheten sagten Aehnliches, alle kommen sie darin überein, daß das Messiasreich wesentlich bestehen werde er stens in der Anerkennung aller Nationen, daß nur Ein Gott ist oben im Himmel und unten aus der Erde, ‫ אין עוד‬und keiner mehr. Natürlich, wenn Propheten in Begeisterung und voll hohen dichterischen Schwunges jenes Reich des Herrn ausmalen, da werden sie nicht wie Schulknaben einzelne Glaubenssätze aussagen, die dann würden in allgemeiner Geltung sein, aber unter dem, was sie die über alle Menschheit verbreitete Anerkennung des alleinigen Gottes benennen, verstehen sie eine u m f a s s en d e richtige Ansicht der Menschen von Gott und ihrem Verhältniß zu ihm. ‫ ּכָלִ יל ַיחֲֹלף‬,‫ וְ הָ אֱלִ ילִ ים‬sagt Jeschaja, Die Götzen allesammt werden dahin sein, ‫ וְ נִ ְׂשּגַב ה' לְ בַ ּדֹו ּבַ ּיֹום הַ הּוא‬und Gott allein wird erhaben sein an jenem Tage.6 Aber nicht bloß über Götzen von Holz und Stein wird alsdann dieses Gericht ergehen, auch die keine Bildsäulen in ihren Tempeln haben, hangen oft an Götzen, alles das ist abgöttisch, was unser Herz mehr liebt oder mehr fürchtet als ihn, der es geschaffen hat; an jenem Tage des Herrn aber ‫ ְׁשלִ יְך הָ אָ דָ ם אֵ ת אֱלִ ילֵי כ ְַסּפֹו וְ אֵ ת אֱלִ ילֵי זְהָ בֹו‬wird der Mensch sein Silber und sein Gold herunterwerfen von dem Götzenaltar7, den wir ihnen aufgerichtet haben in unseren Herzen, herunterwerfen auch von ihrem Götzenaltar die Menschen, denen wir abgöttisch dienen, Menschenfurcht wird dann nicht mehr sein, Menschendienst, Schmeichelei, Kriechen im Staube vor Staubgeborenen, alles das wird dann nicht mehr sein. Jeschaja meint das, indem er fortfährt: ‫ אֲׁשֶ ר נְ ׁשָ מָ ה ּבְ אַ ּפֹו‬,‫הָ אָ דָ ם‬-‫ חִ ְדלּו ָלכֶם ִמן‬lasset ab von den Menschen, die nur ein Hauch im Leben zurückhält, ein Hauch aber auch aus dem Leben hinauswehen

3 Jesaja 11, 9. 4 Joel 3, 1–2. 5 Zefania 3, 9. 6 Jesaja 2, 17–18. 7 Jesaja 2, 20.

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kann.8 Es wird ferner mit der rechten Anerkennung Gottes nicht bloß die echte Gottesverehrung einziehen in die ganze Menschheit, sondern auch größere Frömmigkeit, größere Reinheit, größere Heiligkeit wohnen über die weite Erde. Wenn aber Gott richtiger erkannt sein wird, also erkannt sein wird als Allvater von allen seinen Kindern, dann werde von selbst zweitens das Reich des Friedens ausgebreitet sein über das ganze Erdenrund, und das Reich der Liebe von Einem Ende desselben bis zum anderen, wie immer wieder Jeschaja sagt, dieser erhabenste Gottesbote einer besseren Menschheit: ‫ּכֶבֶ ׂש‬-‫ וְ גָר זְאֵ ב עִ ם‬Dann wird der Wolf mit dem Lamme Frieden haben, und der Leopard ruhig lagern neben dem Böcklein, und ein kleiner Knabe sie leiten können, der Säugling wird spielen können vor dem Versteck der Schlange, und die Händchen halten unversehrt über die Höhle der Natter.9 Diese Bilder wollen sagen, daß im Reiche des Messias alle rohe Gewalt, aller Unfrieden, alle Bosheit keine Kraft mehr haben werden, die Menschen werden erkennen, daß sie nur zu lange getrennt waren von einander zu ihrem eigenen Verderben, sie werden erkennen, daß sie Brüder sind, und das Band der Bruderliebe um Alle schlingen. Dieses ist in gedrängten Worten der Hauptinhalt des Messiasreiches, meine Zuhörer; Sie sehen, das es wesentlich ein und dasselbe ist mit dem nothwendigen Ziel der ganzen Menschheit, wesentlich ein und dasselbe ist mit jenem Reiche, welches jeder bessere Mensch ersehnt, wenn auch als späteste Erdenzukunft. Denn die Messiaslehre ist kein ausschließlich jüdischer Glaubenssatz, sie ist Glaubensartikel der ganzen Menschheit, sie ist eingepflanzt in jede edlere Seele, aus welchem Volke, aus welchem Lande, aus welcher Zeit diese möge stammen. Man hat verwandte Schilderungen selbst in heidnischen Schriftstellern, die hierdurch nichts anderes beurkunden, als daß es schon in mancher heidnischen Brust anklopfte, jenes Verlangen nach einer veredelten Menschenwelt, und sich durchbrach jene Ueberzeugung von einer solchen Zukunft, die Menschheit kö n n e n i ch t geschaffen sein zu ewigem Irrthum und Verderb. Und wie viele herrliche messianische Schilderungen, fast würdig eines Jeschaja, eines Secharja, haben neuere Gottesmänner gegeben, Gottesmänner nenne ich sie, auch wenn sie auf i h re Weise den Herrn anbeteten. Wer kalt bleiben kann für diese Lehre, aus welchem Munde sie komme, der hat über sich den Stab gebrochen, oder richtiger, wer vornehm darein sehen kann, wenn bessere Menschen eine dereinstige Herrschaft der Tugend, des Friedens, der Liebe verkündigen, wer etwa wähnt, daß diese Erde immer und ewig bleiben müsse, was sie freilich jetzt noch ist, voll verblendeter, sündhafter, selbstsüchtiger Menschen, wer diese trübselige Ansicht

8 Jesaja 2, 22. 9 Jesaja 11, 6–8.



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von der Menschheit hat, ihn klagen wir nicht an, ihn bedauern wir aus allertiefstem Grunde unseres Herzens, er ist unzweifelhaft eins von beiden, entweder die Beute des Stumpfsinnes oder – wenn er fühlt, wie Menschen fühlen – ein Raub der Verzweiflung. Nicht so, meine Lieben, wir d. h. nicht wir Juden allein, denn, wie gesagt, die Messiaslehre ist auf keine einzelne Religion eingeschränkt, sie vielmehr ist es, welche über die Schranken der einzelnen Religionen hinübergreift und die Menschheit verbrüdert, wir d. h. alle Bewohner der Erde, die wir ein Herz schlagen fühlen für das Höhere, wir glauben auch an einen Sieg des Höheren, wir glauben auch an ein dereinstiges Messiasreich. Ich gehe zum zweiten Theile dieses Vortrages über, in ihm wollen wir sehen, auf welche Weise, durch welche Mittel Gott dieses Messiasreich einführen will in die Menschheit. Viele wollen aus der Bibel herausgelesen haben, daß dies geschehen solle vermittelst eines einzelnen von Gott wunderbar begabten Mannes, welcher König sein und mit soviel Gottesfurcht und Weisheit herrschen werde, daß unter seinem Zepter all das Herrliche eintreten würde, von dessen Schilderung die Propheten voll sind. Dieser Ansicht verdankt der Ausdruck Messias sein Entstehen, ‫ משיח‬nämlich heißt im Hebräischen ein Gesalbter, und war stehende Bezeichnung für einen König. Von einem solchen gottesfürchtigen und weisen Könige als Herrscher im messianischen Reiche ist nun allerdings in der heiligen Schrift die Rede, gleichwohl liegt in jener Auffassung eine große Unrichtigkeit, die ich aufdecken muß. Ich habe niemals in der Bibel gefunden, so aufmerksam ich danach suchte, daß das messianische Reich solle herbeigeführ t werden durch einen solchen einzelnen von Gott hochbegabten Menschen, was dann allerdings auf eine höchst wunderbare Weise geschehen müßte, wenn nämlich auf einmal so viele falsche Religionen Platz machen sollten der wahren Religion, oder wenn auf einmal die Weltherrschaft der Sünde sollte in die Weltherrschaft der Tugend, die Herrschaft des Hasses und der Zwietracht auf einmal sollte in die Herrschaft allgemeinen Friedens und Segens übergehen. Auch ist diese Vorstellung wohl schon deshalb falsch, weil eine solche Bekehrung, eben weil sie wunderbar sein müßte, keine echte Bekehrung wäre. Denn bin ich etwa wirklich ein besserer Mensch, wenn Gott das Wunder thäte, mir urplötzlich statt böser Neigungen gute einzupflanzen? Sicherlich nicht, sondern dann erst, wenn ich mit klarem Sinn einsehe, wie verabscheuungswürdig das Böse, und wie dagegen so hochherrlich das Gute ist, und wenn ich demzufolge mit Ueberzeugung und mit freiem Willen den Weg des Irrthums verlasse, um den Pfad des Lichtes und des Rechtes zu betreten. Manche einzelne Menschen mögen diesen Uebergang in kurzer Zeit vollenden, Völker aber brauchen Jahrhunderte dazu, und gar die ganze Menschheit braucht so viel Zeit hierzu, daß ein Einzelner, und sei es auch ein Gottesmann, dies ohne Wunder nicht bewerkstelligen wird. Allein, wie gesagt, ich finde auch gar nicht in der heiligen Schrift, daß ein einzelner Gottes-

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mann dies bewerkstelligen solle, sie sagt bloß, daß in dem schon vorhandenen und prangenden Messiasreiche ein solcher gottgeliebter König herrschen werde. Es wiederholt sich uns daher die Frage, auf welche Weise denn Gott dieses Messiasreich herbeiführen wolle. Ich antworte: Vermittelst eines anderen göttlichen Boten, vermittelst des Judenthums. Ich bitte Sie aber hier, meine Zuhörer, um desto größere Aufmerksamkeit, da ich weiß, daß allerdings erst Wenige sich zu der Ansicht bekennen, die ich Ihnen jetzt entwickele, doch bin ich überzeugt, daß diese Ansicht einst die herrschende wird.10 Unter Judenthum in diesem Zusammenhange umfasse ich vorläufig nicht eine einzige Ceremonie, über unsere Ceremonien rede ich das nächste Mal, unter Judenthum, wenn ich sage, daß vermittelst seiner das Messiasreich kommen werde, verstehe ich alle die Lehren und sittlichen Gebote, welche das Judenthum in die Welt eingeführt hat und noch künftig einzuführen berufen ist. ‫ ַוע ֲָרפֶל לְ א ִֻּמים‬,‫אֶ ֶרץ‬-‫הִ ּנֵה הַ חֹ ׁשֶ ְך יְ כַּסֶ ה‬-‫ ּכִ י‬Finsterniß bedeckte die Erde und Nebel die Nationen11,‫לְ אֹור ּגֹויִ ם‬--‫ ְאֶ ּתֶ נְ ָך לִ בְ ִרית עָם‬da gab ich dich, Israel, zum Bundesstifter der Völker und zum Licht der Nationen12. Was für ein Licht war das, mit welchem Israel in die Heidenwelt hineinglänzte und ihre Schatten verjagte? Ich will Ihr Auge lenken auf einige Strahlen dieses Lichtes: Du sollst zu Herzen führen, ‫הָ אָ ֶרץ ִמּתָ חַ ת אֵ ין עֹוד‬-‫ ּכִ י ה' הּוא הָ אֱֹלהִ ים ּבַ ּׁשָ מַ יִ ם ִמּמַ עַל וְ עַל‬daß Jehova allein Gott ist im Himmel oben und unten auf der Erde, und keiner mehr.13 Da schwanden viele Götter und ihre abscheulichen Feste. Bilderdienst narrte die Völker: Du, Israel, sollst dir kein Bild machen von Gott, denn du hast keine Gestalt gesehen, als er zu dir redete vom Horeb am Tage der Versammlung! Dies Wort hat viele Thorheiten gestürzt. Grauen und Furcht umnachtete die Geister, da tönt das Friedenswort: ‫ ּבָ נִ ים אַ ּתֶ ם לה' אֱֹלהֵ יכֶם‬Ihr seid Kinder des Ewigen eures Gottes14, und wer es vernommen hat, kennet nun seine Stelle am Herzen des Vaters. Der Tod war ein Gespenst, vor welchem das Leben zusammenschrumpfte: ‫אֱהִ י קָ טָ בְ ָך ְׁשאֹול‬ Wo sind deine Schrecken, Unterwelt?15 Der erste fromme Mensch, von welchem

10 Damit sollte Herzfeld Recht behalten. Zwanzig Jahre später rief Heinrich Graetz schon ohne Umschweife aus: „Israel ist das Messias-Volk“ – das sei der wichtigste Gedanke des Exil-Jesaja. Danach ist es wiederum Hermann Cohen, der diesen Gedanken schließlich ausführlich in seine systematische Religionsphilosophie einarbeitet; vgl. Graetz, „Die Verjüngung des jüdischen Stammes“, 11, und Cohen, Religion der Vernunft, 308–310. Zum theologisch-exegetischen Hintergrund dieser Theorie, vgl. Einleitung, S. 17. 11 Jesaja 60, 2 12 Jesaja 42, 6 13 Deuteronomium 4, 39 14 Deuteronomium 14, 1. 15 Hosea 13, 14.



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die Bibel berichtet, ‫הָ אֱֹלהִ ים‬-‫ וַּיִ ְתהַ ּלְֵך חֲנֹוְך אֶ ת‬Henoch wandelte mit Gott16, von dem erzählt sie zugleich, daß Gott ihn zu sich nahm dahin, ‫ ָּפנֶיָך‬-‫ ׂשֹבַ ע ְׂשמָ חֹות אֶ ת‬wo Fülle der Freuden ist vor seinem Angesichte17. Der Verbrecher triumphierte, und der Gemißhandelte glaubte sich verlassen in der Welt, da heißt es: ‫מַ עֲׂשֶ ה‬-‫ּכָל‬-‫ּכִ י אֶ ת‬ ‫ הָ אֱֹלהִ ים יָבִ א בְ ִמ ְׁשּפָט‬Jedes Werk führet Gott in das Gericht, ‫ על כל נעלם‬so verborgen es ist18. Der Sünder, der Gottes Gericht anerkannte, hielt sich für verloren, da heißt es: ‫ הֶ חָ פֹ ץ אֶ חְ ּפֹ ץ מֹות ָרׁשָ ע‬Ich verlange nicht den Tod des Sünders, sondern daß er umkehre von seinen Wegen und lebe19. Seines Weges ging Jedermann, unbekümmert um Freud’ und Leid des Nachbars, da heißt es: ‫ ואהבת לרעך כמוך‬Lieben sollst du deinen Nächsten wie dich selbst20, und unser Hillel fügt hinzu: Das ist der Mittelpunkt des Gesetzes!21 Die Mitglieder seines Volkes allein liebte jedes Volk, jeder König, jede Obrigkeit, jeder Einzelne, da heißt es: ‫ ואהבתם את הגר‬Lieben sollet ihr auch den Fremden22,ּ‫ ּבְ ִרית אֲבֹ תֵ ינו‬,‫לְ חַ ּלֵל‬--‫ מַ ּדּו ַע נִ בְ ּגַד ִאיׁש ּבְ אָ חִ יו‬hat nicht Ein Gott uns Alle geschaffen, warum soll treulos sein Bruder gegen Bruder?23 Religiöse Verfolgungen zerfleischten die Völker und hetzen sie noch, das Judenthum lehret: ‫חסידי‬ ‫ אומות העולם יש להם חלק לעולם הבא‬Die Frommen aller Völker haben Theil am ewigen Leben.24 Wollte ich fortfahren, die ganze lange Reihe nur unserer Hauptlehren vorzuführen, so müßte ich noch lange reden. Diese Lehren nun, die ich genannt und die ich nicht genannt habe, sie sollten durch das Judenthum in die Welt eindringen, und das ist geschehen schon zu einem großen Theile, -‫ לָאָ ֶרץ‬,‫כאֲׁשֶ ר ִמ ְׁשּפָטֶ יָך‬ ‫ יֹ ְׁשבֵ י תֵ בֵ ל‬,‫צֶ דֶ ק ל ְָמדּו‬- als seine Gebote zur Erde kamen, da lernten Frömmigkeit die Bewohner des Erdkreises25, viele dieser Gebote und Lehren hat Israel selbst, durch sein stilles Beispiel, den Völkern überbracht, viele andere derselben hat es durch seine beiden großen Tochterreligionen den Völkern zugeführt.26 Glauben Sie doch nicht, meine Zuhörer, wenn wir denn einmal wie jetzt von einem höheren Standpunkte aus die Weltreligionen betrachten, daß wir, um selbst hoch zu

16 Genesis 5, 22. 17 Psalm 16, 11. 18 Kohelet 12, 14 19 Ezechiel 18, 23 20 Levitikus 19, 18 21 bT Shabbat 31a 22 Deuteronomium 10, 19. 23 Maleachi 2, 10. 24 Maimonides, Gesetze von der Umkehr 3,5 25 Jesaja 26, 9. 26 Die Vorstellung, Islam und Christentum hätten die geschichtliche Aufgabe, den Völkern der Welt die Lehren des Judentums zu überbringen, ist unter den deutschen Reform-Theologen des 19. Jahrhunderts weit verbreitet.

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stehen, nöthig hätten, irgend einer fremden Religion die Ehre zu verkürzen, die ihr gebührt. Die Religion, unter deren Anhängern wir leben, hat ein Drittel der Erde belehrt und gesittigt, und sie fährt fort, und wir wünschen es, daß sie fortfahre, Lehren des Heils zu tragen zu den fernsten Küsten. In anderen Zonen hat eine andere Religion die Lehre von der Einheit Gottes, die Gerechtigkeit, die Mäßigkeit, den Glauben an ein Jenseits über ein Drittel der Erde verbreitet, sie sei gesegnet in diesen Erfolgen. Nur indem wir mit offenen Herzen Anderen geben, was ihnen gebührt, dürfen auch wir uns nehmen, was uns angehört. Wer war der Stifter der ersten dieser beiden Religionen? ein Jude; und woher hat er seine sämmtlichen Lehren genommen? aus dem Judenthum. Gehet in die Kirchen, welches Lehrbuch findet Ihr dort aufgeschlagen? unsere Bibel; und wer hat die Schriften geschrieben, welche Jene für sich haben? Juden haben sie geschrieben, jüdischer Geist durchwehet sie vom Anfange bis zu Ende, Israel ist auch ihr Losungswort. Oder jene zweite Weltreligion, verehrt sie nicht unseren Moscheh als einen der ersten Propheten? und wer war ihr Stifter? der Schüler eines Juden, und seine besten Lehren – sind Umschreibungen unserer heiligen Schrift. Jüdische Milch hat sie genährt, diese beiden Sprößlinge Israels, jüdisches Gut hat sie groß gemacht, diese beiden großen Erben, denn jüdische Lehren sind auf den Lippen ihrer Lehrer, sowie jüdische Sitte die Norm ihrer Sittlichkeit. Was geht es unsere Religion an, wenn jene dabei doch ihre Abkunft vergessen? Das Kind vergißt oft seine Mutter, und gehet allein seines Weges! So zählen wir denn aber auch billig diese Religionen mit, wo es gilt, Israels religiöse Wirksamkeit, Israels religiösen Einfluß auf die Welt einmal abzuschätzen. Zwei Drittel der Erde sind seine Schüler, und fürwahr! noch lebt es selbst und lehret; mit ihrer Hilfe und durch die Kraft, die ihm selbst noch inwohnet, hoffet es zu bewerkstelligen, daß wirklich die Anbetung des alleinigen Gottes noch einst einnehmen werde die ganze Erde, und wo dies bereits ist, auch diejenigen Lehren, welche jetzt nur erst geschrieben stehen, aber noch nicht leben, noch in Zukunft Eingang und Befolgung finden werden. Dieses Ziel ist weitaussehend, aber kein Wort des Herrn fällt leer zur Erde, ֹ‫לו‬-‫ חַ ּכֵה‬,‫יִ ְתמַ הְ מָ ּה‬-‫ ִאם‬auch wenn er säumet, harre auf ihn27, er wird kommen, der Tag des Herrn, da alle Söhne des Fleisches anrufen seinen Namen, und vor ihm sich beuget jedes Knie, und zu ihm schwöret jede Zunge28. Meine andächtigen Zuhörer! Was ich heute Ihnen sagte, ist nur ein Theil erst von unserem Thema, ich werde ‫ שמחת תורה‬es fortsetzen29. Zu Dir aber, unser Gott,

27 Habakuk 2, 3. 28 Jesaja 55, 23. Teil des Aleinu- Gebetes. (‫ ִתּשָ ּׁבַ ע ָכּל לָׁשֹון‬,‫בֶ ֶּרְך‬-‫)לָך ִתּכְ ַרע ָכּל‬. Vgl. auch pT Berachot 10b. 29 Simchat Torah, das Fest der Torahfreude am Tag nach dem Ende des Succotfestes; vgl. die folgende Predigt.



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rufe ich in Davids Worten: ‫ ו ִַּתקְ טַ ן עֹוד ז ֹאת ּבְ עֵינֶיָך‬Das war noch zu klein in Deinen Augen, daß Du Israel erwähltest zu Deinem Volk,‫עַבְ ְּדָך לְ מֵ ָרחֹוק‬-‫ּבֵ ית‬-‫ ו ְַּתדַ ּבֵ ר ּגַם אֶ ל‬Du redetest zu dem Hause Deiner Diener auch Fernes, ‫ּתֹורת הָ אָ דָ ם‬ ַ ‫ וְ ז ֹאת‬und das ist die Tora der Menschheit!30 Wer giebt uns Schwingen, unseren Geist zu erhalten in dieser Höhe! O, daß wir allesammt angehaucht würden von Deinem Geiste, um zu erkennen, welches Pfund in unseren Händen ist.

Andächtige Versammlung! Wir haben wieder einmal die Tora zu Ende gelesen und sogleich vom Neuen begonnen, dieser frommen Sitte entsprechend muß unsere heutige Betrachtung religiöse Einzelnheiten vermeiden und dafür die Tora im Ganzen zum Gegenstande haben; es stört daher nicht, daß ich die Fortsetzung meines neulichen Themas vom Messiasreiche auf heute zugesagt habe, indem ein großer Theil dieser Fortsetzung in einer solchen Ueberschau der ganzen Tora bestehen wird. Wir wollen indessen in unserer messianischen Untersuchung folgerecht weitergehen, und daher vor allen Dingen uns wieder die Punkte zurückrufen, die wir in dem ersten Vortrage betrachtet hatten. Ich hatte in demselben zuerst davon gesprochen, daß das Messiasreich bestehen werde in der über den ganzen Erdboden verbreiteten Anerkennung des alleinigen Gottes, verbunden mit größerer Frömmigkeit und Sittlichkeit, und mit der Herrschaft des Friedens und der Liebe unter den Menschen. Anhangsweise redete ich davon, daß dieser Messiasglauben nicht uns Juden eigenthümlich sei, sondern allen Menschen angehöre, indem er in jedem Edelen seinen Bekenner und Vertheidiger finde. Dann untersuchte ich, wer das geschilderte Messiasreich herbeiführen solle, und fand, daß nicht ein Mensch, sondern die Lehren des Judenthums bestimmt seien, zu diesem erhabenen Ziele zu führen, sobald sie von der ganzen Menschheit würden aufgenommen sein. Dieses sei auch schon zu einem großen Theile wirklich geschehen, theils durch unsere Religion unmittelbar, theils vermittelst der beiden Weltreligionen, die sie ausgesendet hat. Jetzt fahre ich fort, und frage zuerst: Wie werden die Völker das Messiasreich aufnehmen, das für sie bestimmt ist? Fürchten Sie nicht, meine Zuhörer, daß ich hier eine Frage aufgeworfen habe, welche Zeit hätte bis zum Eintritt des Messiasreiches. Mit nutzlosen Grübeleien werde ich Sie stets verschonen, diese Frage aber dringt an das Herz der Weltgeschichte, und betrifft Vergangenheit und Gegenwart eben so sehr wie die Zukunft. Ich will

30 2. Samuel, 7, 19.

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mich deutlicher erklären. Wie ich das Messiasreich Ihnen dargestellt habe auf Grund der Bibel, wird dieses Gottesreich nicht etwa an einem guten Tage einmal plötzlich wie durch einen Zauberschlag dastehen, sondern wenn auch in seiner ganzen Herrlichkeit erst hervortreten ‫ ביום ההוא יודע לה׳‬an jenem Tage, den nur Golt kennet31, allein in einem allmäligen Hervortreten gleichen Schritt halten mit der Verbreitung unserer Gotteslehren. Diese Ansicht von einem allmäligen Hervortreten des Gottesreiches ist von überaus großer Wichtigkeit für uns, Sie werden das noch im Laufe dieses Vortrages erkennen. Wie seltsam wäre das auch, einen anderen Eintritt des messianischen Reiches anzunehmen! Welche Wunder da geschehen müßten, und wie unzulässig Wunder seien, da wo es sich um echte Bekehrung handelt, davon habe ich schon das vorige Mal gesprochen, heute frage ich anders: Jetzt, da zwei Drittel der Erde an den Einen Gott glauben, jetzt wäre noch keine da von den Segnungen des Messiasreiches? Dann müßte dieser Glauben sehr unwirksam sein auf das Heil der Völker: wie hoffen wir denn, daß jene Segnungen kämen, wenn auch der Ueberrest der Völker diesen Glauben annimmt? Oder, jetzt, da doch schon viele unserer Lehren Gemeingut der Völker geworden sind, jetzt wären noch keine Anfänge des Messiasreiches da? Wiederum, dann müßten diese Lehren sehr unwirksam sein auf eine gottselige Gestaltung der menschlichen Gesellschaft: wie hoffen wir denn, daß das Messiasreich da sein werde, wenn unsere sämmtlichen Lehren in den Herzen der Menschheit leben? Nein, nein, auch würde eine Vergleichung der jetzigen Gesittung mit der der früheren Zeiten uns Lügen strafen (hiervon nachher), sondern die allmälige Verbreitung unserer Heilslehren ist gleich der Sonne, die Licht und Wärme und Leben ausstrahlt: gewiß ist der Mittag wärmer als die ersten Tagesstunden, aber auch die Frühstrahlen schon verjagen den Morgenfrost und rufen die Schöpfung in das Leben, und je höher steigt das Lichtgestirn des Tages, desto mehr Kraft gewinnet es, und desto fröhlicher glühet alle Frucht an den Bäumen. Wie dieses Licht des Tages, ebenso ‫ אור עמים‬jenes Licht der Völker, die Gotteslehre; wenn es einst die Mitte des Himmels wird inne haben und leuchten allen Nationen, dann wird das Messiasreich dastehen so wie es unsere Propheten malten, aber Stücke des Messiasreiches werden heraustreten aus der Finsterniß schon bei seinen ersten Strahlen, Land nach Land wird erleuchtet werden, und die schon gewonnenen Lande mehr und mehr durchwärmt werden – wozu fortfahren in schwerfälligen Bildern? Das Messiasreich wird allmälig kommen, das wollte ich Ihnen veranschaulichen. Das Messiasreich begann am Sinai, und hat seitdem in jedem Jahrhundert an Ausdehnung gewonnen und an Inhalt, und wird stetig zunehmen, bis es da ist in aller Pracht. Meine Lieben, jetzt sehen Sie, daß es

31 Sacharja 14, 7.



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keine Frage der Zukunft war, sondern der Gegenwart und auch schon der Vergangenheit, wenn ich fragte: Wie werden die Völker das Messiasreich aufnehmen? – Und auch das wollen wir erwägen, ehe wir an die Antwort gehen, ob eine geringfügige Frage hier vorliegt oder ob wir nicht durch sie herantreten, die Pulsschläge der Geschichte zu fühlen und zu zählen. Nicht wahr, wir glauben doch, daß Gott durch die Geschichte schreitet, um uns einem Ziele zuzuführen, das wir nun schon kennen. Wer nicht aus müßiger Neugierde die Weltbegebenheiten mustert, wer Zusammenhang in ihnen suchet, wer nach ihrer Nothwendigkeit forscht, der kann keinen großen Werth darauf legen, wie lange dieser oder jener König herrschte, wieviel Land diesem Könige oder jenem gehörte, und auf Alles nicht, was dahin einschlägt; und die unablässigen Kriege, welche die Erde mit Blut gedüngt haben, und die vielen kindischen Bestrebungen ganzer Völkerschaften, ganzer Jahrhunderte, welche die Blätter der Geschichte anfüllen, auf alles das wird kein zu großes Gewicht legen, wer sich nicht berücken läßt von Denen, die in der Geschichte die Großen heißen und oft so sehr klein waren, und nicht irre machen von jenen Blödsinnigen, welche den stets den Größten nennen, der die meisten Menschen abgeschlachtet hat. Sondern er wird wirklich einen Faden durch den wirren Knäuel der Geschichte hindurch verfolgen, nämlich er wird fragen: Da es mir wahr ist, daß Gott durch die Geschichte schreitet, wo stand dieser schreitende Gott in jedem Menschenalter? Wie wurde er empfangen, wo er sich zeigte? Erkannte man ihn, erkannte man ihn an, oder verläugnete man ihn? Sie sehen, worauf ich zusteuere mit allen diesen Fragen, ich betrachte es als eine der würdigsten Aufgaben des Menschen, grade Diesem nachzuforschen, welche Fortschritte jederzeit die Entwicklung des Messiasreiches gemacht habe, und wie die Menschheit jedesmal ihr entgegengekommen sei, ob freundlich oder feindlich. Leider ist die Ausführung dieses göttlichen Themas hier unmöglich, denn hundertfach überragt es die Grenzen, die mir auf der Kanzel gesteckt sind, ich kann Ihnen nur die allerdürftigsten Andeutungen geben. Zu diesem Ende lassen Sie mich aus dem Texte, den ich vor acht Tagen vorlas, einige Worte wiederholen. Dort hieß es: »Ich lasse zusammentreten alle Völker zum Krieg gegen Jerusalem … und der Herr gehet aus und kämpft mit diesen Völkern wie an einem Tage der Schlacht.«32

Die Propheten stimmen darin überein, daß das Messiasreich unter furchtbaren Kämpfen herankommen werde, und sie lassen diese Kämpfe immer gerichtet sein gegen Jerusalem. Was wollen so übereinstimmend die Propheten hierdurch sagen?

32 Sacharja 14, 2 und 3.

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Nichts anderes, meine Lieben, als was ich vor einiger Zeit einmal kurz andeutete bei den Worten ‫( ה' איש מלחמה‬der Herr ist ein Kriegsmann)33; ich sagte, als der Herr seine Lehre herniedergab an die Menschheit, und Israel aufstellte zum Ueberbringer dieser Lehre, da wußte er im Voraus, daß er die Fahne des Krieges entfalten müsse für dauernde Zeiten. Betrachten wir diese Lehre, warum gab sie der Herr herab? Um den Irrthum zu verscheuchen von der Erde, um die falschen Götter zu verjagen von ihren Altären, um die Sünde zu vertreiben aus den Herzen, um das Recht aufzupflanzen zum Panier der Völker, um die Menschen zu machen – zu guten und glücklichen Geschöpfen. Das Ziel wird nicht erreicht auf friedlichen Wegen. Greife ihn an, den Irrthum, wo er auch hausen möge, und du hast mächtige Feinde aufgestört gegen Dich! Aus allen Schlupfwinkeln brechen sie hervor über dich, die Diener des Irrthums, und befeinden dich, du Diener der Wahrheit; aus allen Ecken kommen sie hervor, die Freunde der Finsterniß, und kämpfen gegen dich an, du Verbreiter des Lichtes, wie die Eulen aufschrecken, wenn eine Fackel in ihren Winkel hineinleuchtet, und mit heiserem Krächzen sie umflattern, um sie auszulöschen. Oder kämpfe an gegen die Sünde, und du hast einen bitteren Feind in die Waffen gerufen, halte ihm vor sein Unrecht, dem Manne, der hoch sitzt oder der tief stehet, und du hast einen Gegner gewonnen, der es dir nicht wieder vergiebt. Was will nun die Lehre Israels, und was wollte sie von Anfang an? Ankämpfen gegen das, was die irrende Menschheit hoch und theuer hielt, ankämpfen gegen das, worin sie ihren Begierden am liebsten fröhnte. »Du sollst keine fremde Götter haben vor meinem Angesicht!«34 Mit wem hatte jetzt diese Lehre gebrochen? Wo sie gehört wurde, waren von ihr alle Götzendiener auf den Tod verletzt, und Götzendiener war damals die ganze Menschheit gegenüber einem Häufchen, das sich zählen ließ. Glaubet ihr, daß bloß jetzt die Priester Macht haben über die Gemüther, und nicht ehedem? Wo nur Israel hinkam mit dieser Lehre, umstrickten die Heidenpriester alle Gemüther zu ihrem Verderben, zu ihrem Untergang. »Du sollst heilig sein, denn ich, dein Gott, bin heilig!«35 »du sollst rein sein,« »du sollst gerecht sein«: was Wunder, daß alle menschlichen Leidenschaften in Haß entbrannten gegen eine solche Lehre? Die Lehren unserer Religion sind das Licht, und die menschlichen Leidenschaften und Irrthümer sind die Finsterniß, Licht aber und Finsterniß können nicht bestehen neben einander, Licht aber und Finsterniß sind im ewigen Kampfe gegen einander, hier habt ihr den Schlüssel zu sehr vielen Kämpfen, die Israel zu tragen hatte! Seine Lehre war von Anfang an im Kriegszustande mit den Schwächen und Irrthü-

33 Exodus 15, 3. 34 Exodus 20, 2. 35 Levitikus 19, 2.



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mern der Menschen, und dieser Kampf ist noch nicht ausgekämpft. Aber wir müssen gerecht sein, nicht Israel allein führte diesen Kampf, alle Völker, die von seinen Lehren aufnahmen, haben diesen Kampf mit durchgemacht, haben sehr oft gestritten für Licht gegen die Finsterniß, für Recht entgegen dem Unrecht. Und in Israel selbst war dieser Kampf auch nicht auf der Stelle entschieden. Die Lehre von der Einheit Gottes hat ein Jahrtausend gebraucht, sagte ich unlängst, ehe sie Israels Unglauben besiegte; und die übrigen Lehren des Heils, sie haben mit Israels Herzenshärtigkeit lange gerungen, und haben zum Theil noch nicht gesiegt. Dieses Widerstreben nun gegen die Lehre Gottes, das ist der Kampf gegen Jerusalem, der dem messianischen Reiche vorangehen werde, Jerusalem ist das Sinnbild der Gotteslehre, die sich durchkämpfen muß, und dieser Kampf wird lange schwanken, wie Secharja sagt: »an jenem Tage des Kampfes wird nicht sein Sonnenlicht und nicht Finsterniß, nicht Tag und nicht Nacht«36; die ‫חבלי משיח‬, von denen oft die Rede ist bei unseren alten Gottesgelehrten, die Leiden, die dem Messiasreiche vorausgehen würden37, sie haben ebenfalls am Sinai begonnen, und haben uns begleitet durch alle Lande, und haben Mitträger gefunden an Allen, die ein Gotteswort in sich aufnahmen. Aber Muth! ‫ והיה לעת ערב יהיה אור‬gegen Abend wird es helle werden!38 Alle, die ihr kämpfet für das Licht, für das Recht, für die Herrschaft des Guten in Israel, außerhalb Israels, wo es sein möge: wisset ihr, welchen Kampf ihr führet? Es ist der messianische Kampf, der sich ziehet durch alle Zeiten. Eine zweite Frage, die wir jetzt beantworten wollen, ist diese: Wie wird es im messianischen Reiche um das Judenthum stehen? Sie werden bald sehen, ob d i e s e Frage für die Gegenwart fruchtbar ist. Wie wird es im messianischen Reiche um das Judenthum stehen? Wollte ich wie in der vorigen Predigt unter Judenthum bloß die Lehren und sittlichen Gebote des Judenthums verstehen, so ist klar, daß dieses Judenthum im Messiasreiche die Religion der ganzen Menschheit sein müsse, denn das Messiasreich sollte ja grade dadurch herbeigeführt werden, daß diese Lehren und Gebote allgemeinen Eingang fänden. Das Judenthum umfaßt aber auch sehr viele Ceremonien: welches Schicksal werden diese im Messiasreiche haben? Ich antworte hierauf mit zwei Sprüchen des Talmuds, einmal sagt er ‫ מצוות בטלות לעתיד ליבוא‬die jüdischen Gebräuche würden einst aufhören39, und ein ander Mal ‫ כל המועדים יהיו בטלים‬alle jüdischen Feste würden einst auf-

36 Sacharja 14, 7. 37 Vgl. bT San 98b (‫ )חבלו של משיח‬und Sotah 49b, San 97a etc. 38 Sacharja 14, 7. 39 bT Nidah 65b.

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hören40. Ich will diese beiden Aussprüche mit einigen Worten begründen. Oberster Satz der ganzen jüdischen Religion ist die Einheit Gottes, diese Einheit Gottes war aber für die älteste Geistesstufe der Juden noch schwer zu fassen, und das verführerische Beispiel der Heidenvölker ringsum wirkte dem Glauben daran auch entgegen. Um dem unentwickelten Geiste zu Hilfe zu kommen, wurden mancherlei Ceremonien eingesetzt, welche auf die Einheit Gottes hinweisen; und um das Beispiel der Heidenvölker zu beseitigen, wurde durch eine Reihe von Ceremonialgesetzen der Umgang mit denselben unterdrückt. Im Messiasreiche können beide Klassen keine Geltung mehr haben: wozu noch durch Ceremonien die Einheit Gottes einprägen, wenn diese ein Glaubenssatz der ganzen Menschheit geworden sein wird? Oder wozu durch Ceremonialgesetze den Umgang mit anderen Völkern unterdrücken, wenn diese anderen Völker so gut wie wir werden Theilhaber des Messiasreiches geworden sein? Ferner, mehrere unserer Feste haben zur Aufgabe, denkwürdige Begebenheiten unseres Alterthums in Andenken zu erhalten. Aber Begebenheiten der grauesten Vorzeit verlieren allmälig an Interesse für die Nachwelt, große Begebenheiten jüngerer Zeiten treten zwischen sie und uns, und verdunkeln sie, schon Jirmija sagte, es werde eine Zeit kommen, da man nicht mehr sagen werde: So wahr der Herr lebt, der uns aus Mizrajim geführt hat!41 Denn neuere Erlösungen würden das Andenken der alten auslöschen: um wie viel mehr muß das im Messiasreiche der Fall sein! Und noch andere ganze Klassen jüdischer Gesetze werden aus ähnlichen Gründen im Messiasreiche aufhören müssen, und nur diejenigen von ihnen übrig bleiben, welche sich dazu eignen, auf die ganze Menschheit überzugehen. Der Talmud hat Recht.42 Hier aber, meine aufmerksamen Zuhörer, lassen Sie uns einen Augenblick halten, denn wir stehen hier an dem wichtigsten Punkte, den das neuere Judenthum durchzuarbeiten hat. Ich habe zuvor gesagt, daß das Messiasreich nicht auf einmal, sondern ganz allmälig hervortrete. Wann soll nun jener talmudische Satz in Kraft treten, daß einst die jüdischen Ceremonien aufhören müssen? Soll das geschehen, wenn der letzte Erdenbewohner zu dem Glauben an den einigen Gott bekehrt sein wird, und sollen bis dahin alle unsere Ceremonialgesetze in Kraft bleiben, oder dürfen diese allmälig schwinden und zwar in demselben Maaße, als das Messiasreich wächst? Meine Zuhörer, Sie fühlen das furchtbare Gewicht

40 Dieser Ausspruch findet sich so nicht wörtlich im Talmud, in einem rabbinischen Midrasch zu Mishlei (Sprüche) heißt es allerdings ähnlich: ‫לטבל םידיתע םידעומה לכ‬, worauf sich Herzfeld hier wahrscheinlich bezieht. 41 Jeremia 16, 14. 42 Vor allem an diesem Satz wird sich die Kritik von Samuel Holdheim an Herzfelds Predigten entzünden, vgl. in diesem Band S. 187.



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dieser Frage, zumal wenn sie wie jetzt auf der Kanzel selbst laut wird, aber sie ist leichter zu beantworten, als es scheint, unsere Geschichte hat sie schon beantwortet. Erinnern Sie sich dessen, was ich vor einiger Zeit von den Propheten und den ‫ אנשי כנסת הגדולה‬sagte43, jene haben den Opferdienst verworfen44, diese haben hierauf den Sabbat und alle Festtage so gut wie umgeschaffen: warum? Weil die Juden nach und nach Fortschritte gemacht hatten im Messiasreiche, ich gebrauche diesen Ausdruck der Kürze wegen, Sie verstehen ihn nun. Die ‫אכ״הג‬ schlossen nicht den alten Tempel, das durften sie nicht wagen, aber sie richteten neben ihm Synagogen ein, und wußten, welche Einrichtung am Ende den Sieg davontragen würde. Einige Jahrhunderte später, nach dem Verlust des jüdischen Landes, haben die Talmudisten nicht bloß die ‫ מצוות התלויות בארץ‬abgeschafft, das sind die auf Palästina berechneten Gesetze, sondern noch einen guten Theil der übrigen Gebote.45 Wer den Talmud kennt, ich meine nicht, wer alle seine verschlungenen Windungen ewig durchkriecht mit Maulwurfsaugen, sondern wer ihn kennet in seinem innersten Geiste, der weiß, daß dieses Riesenwerk nicht bloß die freisinnigsten Ansichten einschließt, – ich habe Ihnen erst soeben zwei Sätze daraus mitgetheilt, die dies bestätigen – sondern auch von der freiesten, ja freimüthigsten Handhabung des Bibelwortes Zeugniß ablegt. Der Talmud hat nach einer Seite hin das Gesetz stark umzäunt, damit es bestehen möge in den Gräuelzeiten, die er sah und voraussah‚ aber auch nach einer anderen Seite hin viele Gesetze abgeschafft, weil Israel weiter gekommen war. Auch die Talmudisten wagten nicht, hierin offen zu Werke zu gehen, sie deutelten daher Vieles hinein, Vieles hinweg. Während der nun folgenden zwölfhundert Jahre drückte auf uns lethargisch jene in jeglicher Beziehung für uns so unglückselige Zeit des Mittelalters; wir übergehen sie und sehen die neuere Zeit an. Das Messiasreich hat inzwischen große Fortschritte gemacht: dürfen wir diesen Fortschritten ent-

43  ‫ אכ״הג‬Die 120 Männer der Großen Versammlung, nach der Mishnah (Avot 1,1) das autoritative Entscheidungsgremium des Judentums zwischen der Zeit der Propheten und dem Beginn des Rabbinismus nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Das Gremium soll für wesentliche Ergänzungen des biblischen Kanons, die Einführung des Purimfestes und die des Achtzehngebetes verantwortlich gewesen sein. 44 Die prophetische Kritik am Opferdienst (vgl. etwa Beispiel Amos 5, 25 oder Jeremia 7, 22) ist eines der wesentlichen Argumente der Reform-Theologen für eine dynamische Entwicklung des mosaischen Rechts. Vgl. vor allem Cohen, Religion der Vernunft, 199–202. 45 Das bekannteste Beispiel ist der sogenannte Prosbul von Hillel d.Ä. (erstes Jhd v.d.Z.), der das biblische Shabbatjahr aus sozialen Gründen größtenteils aussetzte. Dieser drastische Eingriff wurde nach der Zerstörung des jüdischen Staates die Grundlage für viele rabbinische NeuRegelungen, die allerdings nicht mosaisches Recht abschafften, wie Herzfeld schreibt, sondern nur aussetzten.

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sprechend jüdische Gesetze fallen lassen? Ja! sagt das Beispiel der Propheten, ja! sagt das Beispiel der ‫ אכ״הג‬und des Talmuds, nur, glaube ich die Schatten der ‫ אכ״הג‬und der Talmudisten uns zurufen zu hören, thuet es freimüthiger, als wir es durften, wir waren gebunden, euere lichte Zeit sollte die Umwege verschmähen! Mendelssohn hat einmal gesagt, Gott habe durch Offenbarungen seine Gesetze gegeben, diese Gesetze seien unabänderlich, bis er durch eine neue Offenbarung sie zurücknehme.46 Das war ein unklares Wort von dem großen Manne! Die allgemeine Ueberzeugung eines Jahrhunderts ist auch eine Art Offenbarung, die Uebereinstimmung der Sachverständigen ist auch eine Offenbarung: ‫ניטלה נבואה מן הנביאים וניתנה לחכמים‬.47 Daß die Weisen unseres Volkes seit zwölfhundert Jahren keinen Gebrauch von diesem Rechte machten, das kann den Weisen Israels der heutigen Zeit dieses Recht nicht entziehen oder vielmehr ihnen die Verpflichtung nicht erlassen, innerhalb unserer Religion die Macht auszuüben, welche ihnen von der Bibel selbst zugewiesen ist. ‫י ִָמין‬--‫יַּגִ ידּו לְ ָך‬-‫הַ ּדָ בָ ר אֲׁשֶ ר‬-‫ל ֹא תָ סּור ִמן‬ ‫ּוׂשמ ֹאל‬ ְ – diesen Satz haben die Alten für ihre Anordnungen in Anspruch genommen48, weit entfernt, daß er eueren neueren Geistlichen nur Haares breit in den Weg treten könne, nehmen diese vielmehr dieses ‫לא תסור‬, und mit dem vollsten Rechte, f ü r s i ch in Anspruch. Wenn ich jüngst öffentlich gesagt habe, daß wir biblische Gebote nicht antasten sollten, so geschah das nur, weil ich unsere Richtung noch für zu jung halte und noch nicht für verbreitet genug, aber die Berechtigung dazu besitzen die neuen Gottesgelehrten eben so gut wie die alten. Was ich für Gesetze meine, die jetzt fallen könnten, nun, das erschöpfe ich nicht am Schlusse einer Predigt, aber ich verspreche Ihnen, es soll schon seine Besprechung finden. Nur lasset uns aber auch das besonnen festhalten, meine Lieben, d i e Tage d e s M essias sind noch nicht da , auch noch nicht einmal in diesen aufgeklärten Ländern. Es ist hier gewiß nicht der Ort, und ich trage nicht das Verlangen, über andere Religionen abzuurtheilen, aber die Unparteilichkeit, die wir gegen uns selbst üben, muß auch gegen jene geübt werden dürfen: so gut, wie ich sage, daß unsere Religion noch einen Läuterungsprozeß durchzumachen

46 Vgl. Mendelssohns Jerusalem „… solange wir keine authentische Befreyung vom Gesetze aufzuweisen haben, kann uns unsere Vernünfteley nicht von dem strengen Gehorsam befreyen, den wir dem Gesetze schuldig sind…“; vgl. Mendelssohn, Jerusalem, hrsg. von D. Martyn, 128. 47 bT Baba Batra 12a: „Die Prophetie wurde von den Propheten genommen und den Weisen [den Rabbinern] gegeben.“ 48 Deuteronomium 17, 11. „[Nach dem Gesetz, das sie dich lehren, und nach dem Recht, das sie dir sagen, sollst du dich halten], daß du davon nicht abweichest, weder zur Rechten noch zur Linken.“ Herzfeld beruft sich hier ironischerweise auf die vorausdeutende talmudische Auslegung des Verses, die den Rabbinern religiöse Weisungsbefugnis einräumt, die unbedingt befolgt werden muss.



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hat, eben so gut muß mir gestattet sein zu behaupten, daß auch jene Tochterreligionen noch nicht so dastehen, daß wir eine völlige Verschmelzung mit ihnen anstreben dürften; noch muß Israel für sich stehen, und noch müssen, auf daß es für sich stehe, mancherlei trennende Ceremonien in Uebung bleiben, nur das habe ich sagen wollen, daß manche wieder jener trennenden Ceremonien nicht m e h r nöthig sind.49 Um mit einem Gleichnisse zu schließen: Als Israel mit seiner Religion unter die Völker geworfen wurde, da war es wie die Arche Noach’s, herumgeschleudert zwischen den Fluthen, welche die ganze Erde bedeckten und selbst über den höchsten Bergen standen. Aber die Fluth verlor sich allmälig, eine Bergspitze nach der anderen kam zum Vorschein: so oft wir eine ähnliche neue Bergspitze herauftauchen sehen aus der Sündfluth, begrüßen wir sie als das eigentliche Land der Verheißung; jetzt ist die Zeit da, daß wir die Taube ausschicken, um uns zu erkundigen nach der noch übrigen Wasserhöhe, und wenn nicht Alles trügt, so bringt sie uns auch schon das Oelblatt des Friedens mit, Ausnahmen sollen uns nicht irre machen. Dann aber, wie Noach von der Arche die Decke abnahm ‫מכְ סֵ ה הַ ּתֵ בָ ה‬-‫ת‬ ִ ֶ‫ א‬, ַ‫ ַוּיָסַ ר נֹ ח‬,50 so müssen wir dann uns anschicken, die Hüllen fallen zu lassen. Meine andächtigen Zuhörer! Schon wieder ist die uns hier zugemessene Zeit verronnen, und noch bin ich nicht zu Ende mit diesem Thema, allein ich will keinen dritten Vortrag damit füllen, ich werde schon Gelegenheit finden zu nachträglichen Erörterungen. Nur das hebe ich noch in zwei Worten hervor, daß Niemand frage, wann nun werde jene Zeit ganz da sein, von der ich soviel zu sagen hatte? Denn hierauf ist schon geantwortet in den Textesworten: ‫ הּוא‬,‫אֶ חָ ד‬-‫יֹום‬ '‫ יִ ּוָדַ ע לה‬es werde sein an einem Tage, den nur Gott kennet!51 Soviel wissen wir, die Menschheit ist auf guten Wegen zu diesem Ziele, die Gotteserkenntniß ist verbreiteter, die Sünde – schämt sich zum Wenigsten schon, die Gewalt triumphirt nicht mehr so roh wie in den trotzigen Jahrhunderten, die vorüber sind, die Kriege nehmen ab, die Völker fangen an, sich betrachten zu lernen als Familienglieder im großen Vaterhause. Muth! rufen wir nochmals der Menschheit zu, vorwärts! rufen wir ihr zu; Muth und vorwärts! rufen wir auch dir zu, kleines Israel, du hast mehr als Alle gelitten für das Reich Gottes, halte nicht für verloren dein unendlich langes Ringen, deine Ehrenerklärung ist schon auf den Lippen der Weisesten und

49 Damit steht Herzfeld auf einer gedanklichen Linie, die von Mendelssohn zu Hermann Cohen führt. Beide Denker forderten die Beibehaltung spezifischer jüdischer Gesetze, solange die anderen Religionen noch nicht den Monotheismus des Judentums erreicht haben. Vgl. Mendelssohns berühmten Brief an Herz Homberg von 1783 in: Gesammelte Schriften (JubA), Bd. 13, 134 und Cohen, Religion der Vernunft, 425–430. 50 Genesis 8, 13. 51 Sacharja 14, 7.

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Besten, und wenn der Tag da sein wird, daß die Weisesten und Besten werden den Sieg haben, dann tönt deine Ehrenerklärung und der Dank für das überbrachte Gottesreich dir laut entgegen von den Lippen der verjüngten Menschheit. Jeschaja war der erhabenste Seher des Gottesreiches, seine Worte waren Hauptträger unserer Betrachtung, ich kann nicht schließen, ohne Sie aufzufordern, den ganzen Jeschaja zu lesen und wieder zu lesen. Du aber, o Gott, der Du ihn sandtest, Israel und das Menschengeschlecht zu trösten, o laß uns erglühen an seinem Feuer, daß zusammenschmelzen in uns alle Schlacken, und daß, wie er selbst so schön sagt, auflodern die Bande unseres Geistes, wie Fäden Flachses, wenn ein Funken auf sie fällt, ein Funken von oben, ein Strahl des Himmels, läuternd und hineinleuchtend in neue, reinere Welten.52 Gottes Segen über Euch Amen.

52 Jesaja 1, 25–31.

Samuel Holdheim

Das Ceremonialgesetz im Messiasreich Schwerin: Kürschner, 1845 Samuel Holdheim (1806–1860) war einer der radikalsten Reformrabbiner des neunzehnten Jahrhunderts und gleichzeitig einer der gelehrtesten Talmudisten seiner Zeit. Der in Polen geborene Holdheim war zuerst Rabbiner in Frankfurt (Oder), dann ab 1840 Landesrabbiner von Mecklenburg-Schwerin und schließlich 1847 Prediger bei der 1845 gegründeten Reformgenossenschaft in Berlin, als deren entschiedenster Theologe er bis zu seinem Tod wirkte. Seine Monographie zum Messiasreich kann als der radikalste Versuch im neunzehnten Jahrhundert gelten, den messianischen Gedankens im Judentum neu zu formulieren und damit den traditionellen jüdischen Messianismus in die Moderne zu übernehmen. Die ausführlichen religionsgesetzlichen Erörterungen sind hier wiedergegeben, um Holdheims Interpretation des jüdischen Messianismus im Sinne der Rechtfertigung radikaler Reformen deutlich zu machen – ein Ansatz, mit dem er im neunzehnten Jahrhundert nahezu alleine dasteht.

Der Gedanke, welcher die scheinbare Consequenz des rabbinischen Judenthums zum baaren Schein herabsetzt, woran es zur gründlichsten Inconsequenz, mithin zur Unwahrheit wird, ist der Gedanke von der geistigen Auffassung der jüdischen Messiaslehre. Wir haben an andern Orten das bündige System des Rabbinismus, die rabbinische Grundanschauung von der ewigen Fortdauer des ganzen Ceremonialgesetzes, ungeachtet der Lücken und Risse, welche dasselbe durch den Untergang des Reiches und des Tempels seit achtzehnhundert Jahren bekommen hat, mit den Worten formuliert: aufgeschoben, aber nicht aufgehoben, und setzten demselben unser System entgegen, das wir gleichfalls in die Formel faßten: aufgehoben und nicht aufgeschoben. Nach der Theorie der Rabbinen ist kein mosaisches Gesetz für immer aufgehoben worden, hat keines seine Existenz aufgegeben, dauert jedes seiner idealen Geltung nach noch heute fort und ist nur das und jenes Gesetz einstweilen suspendirt, die Ausübung desselben vorläufig citra consequentiam unterbrochen und außer Anwendung getreten, so lange ihm das Objekt fehlt, woran es sich erfüllen soll. Die Gesetze, welche sich auf das gelobte Land Palästina beziehen, die welche den Landbau, die Abgaben von den Früchten etc. betreffen, kurz die agrarischen Gesetze, können, da wir das Land nicht bewohnen, das heißt nach rabbinischer Erklärung, so lange nicht Theile aus allen Stämmen sich darauf befinden, nicht ausgeübt werden. Die Gesetze an sich sind nicht aufgehoben, sondern gelten noch immer und werden unmittelbar nach der Wiederbesitzergreifung des Landes buchstäblich zur Ausführung kommen. Opfer-, Tempel- und Priestergesetze können ohne Tempel und Altar nicht zur Ausführung kommen; sind aber deshalb nicht außer Verbindlichkeit

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 Samuel Holdheim

getreten und werden mit dem Wiederaufbau des Tempels und Wiederherstellung des Altars ganz nach früherer Weise ausgeübt werden. Reinigkeitgesetze sind an den heiligen Boden Palästinas, an Tempelriten geknüpft, hatten auf ungeweihter Erde niemals volle Geltung, werden auf dem heiligen Boden wieder zur Anwendung kommen. Leibes- und Lebensstrafen sind an das hohe Gericht, dieses an den Tempel gebunden und werden nach Wiederherstellung ihrer Voraussetzungen und Bedingungen wieder zur Anwendung gelangen. Auf dem Standpunkt der Rabbinen ist der ganze Zustand der ehemaligen Theokratie, insoweit er unmöglich geworden, nur einstweilen suspendirt, aber in seiner moralischen Geltung nicht angefochten. Man hat bis jetzt diese rabbinische Grundanschauung noch nicht mit voller Klarheit sich zum Bewußtsein gebracht, daher bei den modernen Reformbestrebungen einerseits den vollen Gegensatz in seiner ganzen Bestimmtheit nicht mit Entschiedenheit derselben entgegengehalten, andererseits die Consequenzen dieser Anschauung nicht kritisch untersucht. Die Consequenzen dieser rabbinischen Grundansicht sind aber nicht blos an sich schon vollwichtig genug, um auf dieselben gründlich einzugehen, sondern der wesentlichste Mittelpunkt, in welchem die streitigen Ansichten der Gegenwart sich sammeln. Ein einzelnes Gesetz, welches nicht aufgehoben, sondern, weil es unter gewissen Umständen nicht ausgeübt werden kann, wo, um eine rabbinische Redensart zu gebrauchen, blos ‫אריה הוא דרביע עליה‬,1 nur suspendirt worden ist, das ist nur in so weit suspendirt, als die Ausführung nach Zeit und Umständen rein unmöglich ist. Was aber von dem suspendirten Gesetze nur immer unter den gegebenen Umständen ausführbar ist, muß unbedingt zur Ausführung kommen. Mit manchem Haupt- oder Grundgesetz steht manches Mal ein ganzes System von Gesetzen in inniger, organischer Verbindung. Die einzelnen Gesetze verhalten sich zu dem Hauptgesetze wie Zweige zu ihrem Stamme; sie sind nothwendige Consequenzen des einen Grundgesetzes und durch dasselbe begründet. Wäre das Grundgesetz aufgehoben, so müssen alle aus demselben entspringenden Gesetze als Consequenzen mit aufgehoben sein, da die Folge ohne ihren Grund nicht für sich allein bestehen kann. Ist aber das Grundgesetz wegen eines momentanen Hindernisses blos suspendirt, so müssen alle die Gesetze, welche Consequenzen des suspendirten Gesetzes sind, wenn ihre Ausführung möglich ist, unbedingt erfüllt werden. So ist, um dies durch ein Beispiel anschaulicher zu machen, der Tempel- und Opferdienst die Grundursache der Heiligkeit dienstfähiger Priester; diese Heiligkeit ist wiederum Ursache vieler Priestergesetze, als zum Beispiel der Verunreinigung durch Leichen, der priesterlichen Ehegesetze, der Enthaltung

1 Vgl. bT Erubin 78b und Schewuot 22b, „ein Löwe liegt darauf“, d.h. es ist unantastbar.



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berauschender Getränke und gewisser Trauergebräuche u.s.w.2 Wäre auf rabbinischem Standpunkte der Opfer- und Tempeldienst ein für alle Mal für ewige Zeiten aufgehoben, so könnte unmöglich von einer fortdaurenden Heiligkeit der Priester, und eben so wenig von den aus solcher Heiligkeit fließenden Priestergesetzen für die Gegenwart die Rede sein. Weil aber nach den Rabbinen die Opfer- und Tempelgesetze nicht aufgehoben, sondern wegen der in den hindernden Umständen bedingten gegenwärtigen Unausführbarkeit nur augenblicklich suspendirt sind, so müssen alle die Gesetze, deren augenblickliche Erfüllung möglich ist, in ihrer Anwendung fortbestehen. Man sieht also schon hieraus, wie Diejenigen, welche nach den Aussprüchen ihres modernen religiösen Bewußtseins die Wiederherstellung des blutigen Opferdienstes geradezu in Abrede nehmen, mithin in einem so wesentlichen Stück des mosaischen Gesetzes den Rabbinen entgegentreten und mit aller Entschiedenheit ihnen zurufen: aufgehoben und nicht aufgeschoben, in lächerliche Inkonsequenzen verfallen müssen, wenn sie nicht alle die aus dem Opferdienst resultierenden Folgesätze, wie zum Beispiel die Reinigkeits- und Ehegesetze der Priester und manche Gattungen von Speiseverboten, die auf den Opferritus sich beziehen, als den Genuß von Unschlitt und Blut u.v.a. mit als aufgehoben erklären. – Wenn wir also der rabbinischen Grundansicht die unsrige entgegensetzen und ihnen gegenüber mit aller Entschiedenheit eines zur Klarheit gekommenen religiösen Bewußtseins behaupten: die Kulturgeschichte des menschlichen Geschlechts drehe sich nicht in einem ewigen Zirkel und es könne unmöglich in den Planen der Vorsehung liegen, die Entwicklungsgeschichte des Judenthums, nachdem es die Welt besiegt und erobert haben wird, wieder auf jene Stufe der nationalen Beschränktheit und der Isolirung zurückzuführen; daß nur der menschliche Leib nicht aber der Menschengeist altert und dieser nie, nachdem er an Weisheit und Erkenntniß zum Manne erstarkt ist, wieder zum Kinde werde, daß das Judenthum also nimmer mehr ein längst überschrittenes Stadium der Entwicklung als die Summe vieltausendjähriger Erfahrung und Reife sein ewiges Antheil und seinen bleibenden Gewinn nennen werde; daß wir an einen absoluten Fortschritt des menschlichen Geschlechtes glauben und nach den messianischen Verheißungen gottbegeisterter Seher das Judenthum als den Vorkämpfer und Herold desselben betrachten; daß es, einmal mit dem ganzen menschlichen Geschlechte zum Manne erkräftigt, nimmer mehr die vor Jahrtausenden weit hinweg geworfenen Krücken seiner Kindheit hervorsuchen, und, statt wie es ehedem mittelst dieser Krücken gehen lernend, der Menschheit voranging, jetzt derselben nachhinken werde: wenn wir also dies Alles in die wenigen Worte

2 Vgl. dazu Levitikus 10, 9; 21, 1–22 und Ezechiel 44, 4–31.

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zusammenfassen: der alte Zustand der Dinge ist aufgehoben und werde nie wiederkehren; so werden wir natürlich von dem ganzen Ceremonialgesetz im messianischen Reich nur Dasjenige in seiner ferneren Geltung bestehen lassen, was erweislich nicht an eine religiöse Vorstellung oder eine dieser Vorstellung entsprungene Institution gebunden ist, die durch den Untergang des Tempels und Reiches unwirksam und unnütz und deshalb für immer aus dem Reiche der Religion gewiesen worden ist. Wie nun aber der ganze talmudische Standpunkt eine nothwendige Thatsache des religiösen Bewußtseins seiner Zeit war, das wiederum in der einen Vorstellung wurzelte, daß die von Gott selbst einmal in die Geschichte eingeführte Gestaltung der äußern und innern Lebensverhältnisse des jüdischen Volkes, nämlich der Besitz Palästinas mit der theokratischen Verfassung für Israel, in Ewigkeit fortbestehen, und wenn dieselbe in Folge der Sündhaftigkeit des Volkes einstweilen unterbrochen, alsbald in strahlender Glorie wiederhergestellt werden müsse: so ist unser heutiger Standpunkt gleichfalls eine nothwendige Thatsache unseres religiösen Bewußtseins, welches ebenfalls in der Vorstellung wurzelt, daß jene durch Gott selbst wieder zerstörte äußere Lebens- und Religionsverfassung, die, verglichen mit den Fortschritten, welche der Geist im Gebiete des religiösen Denkens und Lebens gemacht, als beschränkt und die weitere und höhere Entwickelung hemmend erkannt werden müsse, unmöglich für alle Ewigkeit bestimmt sein kann; daß ein Zustand, der bereits achtzehn Jahrhunderte aus dem Leben und aus der Geschichte getreten ist, unmöglich nur ein einstweilen suspendirter sein und über Nacht wieder eintreten kann. In sofern diese Vorstellungen das Eigenthum unseres erwachten religiösen Bewußtseins geworden sind, sind sie eben so sehr in ihrem Rechte, als diejenigen es waren, in welchen das Bewußtsein des talmudischen Zeitalters seinen Grund und Boden hatte. Im Gebiete der Religion giebt es keine Gewohnheitsrechte und der Irrthum, wenn er noch so verjährt ist, wird sich vor dem Forum des Bewußtseins, welches ihn verwirft, vergebens zu behaupten suchen. Es hätte also unser Bewußtsein nicht nöthig, sich vor dem rabbinischen Standpunkt zu legitimiren, sondern auf sich selbst zu berufen und die Last des Gegenbeweises jenem zuzuschieben. Aber wir sagten im Eingang, daß die rabbinische Grundansicht aus ihrer eigenen Consequenz zur Incosequenz wird, und dieses soll hier angedeutet werden. Wir haben diesem Gegenstand eine ausführliche Erörterung gewidmet, und werden sie, so Gott will, in einer Schrift dem Publikum vorlegen. Hier wollen wir nur eine kurze Skizze und gleichsam nur den Kernpunkt dieser Gedanken andeuten. Die Consequenz der rabbinischen Ansicht von der ewigen unveränderten Fortdauer des mosaischen Gesetzes trotz dem, daß es seit achtzehn Jahrhunderten so sehr lückenhaft geworden und seinen wesentlichsten Bestandtheilen nach nicht ausgeübt werden kann, beruhet auf der Vorstellung oder dem Glauben einer



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politisch-nationalen Restauration, in welcher die ganze ehemalige theokratische Verfassung wieder in ihrer ursprünglichen Form hergestellt werden würde. Beide Vorstellungen, nämlich die Ewigkeit des Gesetzes und die Restauration der Theokratie im messianischen Reiche, müssen sich auf diesem Standpunkte gegenseitig ergänzen und unterstützen. Das Gesetz ist ewig, weil Gott, sein Urheber, ewig ist. Dagegen spricht eine achtzehnhundertjährige Geschichte, innerhalb welcher das Gesetz nicht mehr angewandt wird. Auf diesen Einwurf antworten die Rabbinen: Nein, das Gesetz ist keinen Augenblick außer Kraft und Gültigkeit getreten; es ka n n nur nicht ausgeführt werden: aber ehe man sich’s versieht ist der Messias da, der uns nach dem heiligen Lande zurückführt, in seiner Mitte Tempel und Altar errichtet, Opferdienst, Königreich, Sanhedrin etc. wieder herstellt. Welches ist aber die Stütze dieses Beweises oder dieses Glaubens – da die messianischen Prophezeihungen auch rein-geistig gefaßt werden können–? Die Ewigkeit, die absolute Ewigkeit des Gesetzes. Wir wollen von dem Einwurfe schweigen, daß diese Beweisführung am Ende sich doch nur in einem Zirkel drehe und doch nur in dem Glauben an eine Restauration der Theokratie – also wiederum nur in einem religiösen Bewußtsein – ihre Wurzel habe; auch davon, daß die Ewigkeit des Gesetzes im Grunde aufhört eine Ewigkeit zu sein, wenn es achtzehn Jahrhunderte– so lange hat es nie in Kraft bestanden – und wer weiß wie lange noch, außer Kraft und Anwendung ist. Aber sehen wollen wir, wie dieses rabbinische Bewußtsein auf seinem eigenen Standpunkt sich rettet. Alle mosaischen Gesetze, die der Jude unter den gegebenen hindernden Umständen nicht ausüben kann, weil das Objekt derselben fehlt, können ihm nicht als Mangel seiner Frömmigkeit und Hinderniß seiner Seligkeit oder Rechtfertigung vor Gott angerechnet werden, da ihm die Hände gebunden sind und er sie trotz seiner Sehnsucht nach vollständiger Gesetzeserfüllung nicht ausüben kann. Allein es kann doch nicht geläugnet werden, daß die Idee der Sühne durch Opfer der Mittelpunkt des ganzen mosaischen Kultus, und wie das ganze Leben unter der Sünde steht, so auch der ganze Kultus eine fortlaufende Expiation durch Opfer sei. Wie soll nun auf dem rabbinischen Standpunkt, wo die Opfer in ihrer fortdauernden religiösen Gültigkeit und Nothwendigkeit anerkannt sind, der Jude von seinen Sünden, die nur durch die für sie bestimmten Opfer gesühnt werden können, befreit werden? Alle andern Gesetze, die jetzt unmöglich sind, sind für den Juden suspendirt, er also von der Uebung dispensirt und hat in Bezug auf ihre Erfüllung nichts zu verantworten. Aber die Suspension der Opfer kann dem Juden ja nicht die Sünden, für welche er die Darbringung eines Opfers schuldig ist, erlassen; die Uebertretung eines fortdauernd bestehenden Gesetzes bleibt ja auch bei der Unmöglichkeit des Opfers immer eine Uebertretung; und wodurch soll diese ohne Opfer, das in seiner Nothwendigkeit zur Sühne der Sündhaftigkeit von Gott nicht aufgehoben worden ist, gesühnt werden? Die Rabbinen haben auf diese Frage eine Antwort,

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und diese Antwort beweist eben die Inconsequenz ihres religiösen Bewußtseins. Auf die Frage, wie die Juden ohne Tempel und Altar, ohne Priester und Opfer mit ihren Sünden fertig werden, führen die Rabbinen eine Antwort an, die Gott selbst dem Abraham schon, als er mit ihm den Bund ‫ בין הבתרים‬schloß, gegeben haben soll: ‫אמר אברהם לפני הקב"ה רבש"ע שמא ח"ו ישראל חוטאים לפניך ואתה עושה להם כדור המבול וכדור הפלגה אמר לו‬ ‫לאו אמר לפניו רבש"ע במה אדע אמר לו קחה לי עגלה משולשת וגו' אמר לפניו רבש"ע תינח בזמן שבית המקדש קיים‬ ‫בזמן שאין בית המקדש קיים מה תהא עליהם אמר לו כבר תקנתי להם סדר קרבנות כל זמן שקוראין בהן מעלה אני‬ 3‫עליהן כאילו מקריבין לפני קרבן ומוחל אני על כל עונותיהם‬

Die Rabbinen sprechen also im Namen Gottes die Ansicht aus, daß die Idee der Sühne nicht absolut an die Opfer geknüpft sei, daß Gott die Nothwendigkeit der Sühne durch Opfer nur an das Bestehen des Tempels mit dem Opferritus beschränke, daß zu allen Zeiten, wo dieser nicht existirt, Gott die Sünden durch etwas Anderes – sei es das Lesen der Opfercapitel in der Schrift oder was sonst, immer ist es ein Anderes – vergeben wolle. Was das Andere für ein Ding sei, kann uns gleichgültig sein; genug es ist ein Ding, welches sühnende Kraft hat, ohne ein Opfer zu sein. Für uns ist die Ansicht wichtig, daß nach den Rabbinen, Gottes eigenem Ausspruche zufolge, ein unkörperliches Ding, das weder Blut, noch Fleisch noch Fett, sondern eine geistige That des menschlichen Willens und Gemüths ist, welches ohne geheiligten Altar, ohne geweihten Priester aus dem Stamme Aaron, kurz ohne alle die Bedingungen, welche bei dem in der Bibel vorgeschriebenen Opfer nothwendig sind, so gut wie ein wirkliches Opfer von Fleisch und Blut, oder ein unblutiges Speiseopfer mit Weihrauch und Oel, so gut wie das heilige Räucherwerk sühnende Kraft habe und des Menschen Sünde vor Gott tilgen könne. Uns ist es lediglich um die eine wichtige Idee zu thun, daß auch in dem religiösen Bewußtsein der Rabbinen das Wesen der Sühne aus dem Kreise der äußerlichen Werke herausgetreten und eine innerliche That des Gemüths geworden ist. Auch ist es nach dem Talmud Menachoth 110 nicht das Lesen der Opfercapitel allein, welches dem Opferdienst an sühnender Kraft gleichkommt, sondern auch Gesetzesstudium, also wieder eine geistige That, dem Boden des Gemüthes und Willens entsprungen.4 Nach einer andern Ansicht daselbst, die aber der Kabbalah anzugehören und im Talmud und den Midraschim keinen Anklang gefun-

3 bT Megilla 31b; bT Taanit 27b.: Für die Zeit nach der Tempelzerstörung hat Gott bereits eine Ersatzlösung für die Opfer vorgesehen, eine Lesung von Texten über die Opfer, die gleichfalls Sündenvergebung bewirkt. 4  Vgl. bT Menachot 110a: ‫כל העוסק בתורה כאילו הקריב עולה מנחה חטאת ואשם‬. Wenn man die Torah studiert, so ist es als hätte man Opfer gebracht.



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den zu haben scheint, haben die Opfer blos auf Erden aufgehört und dauern im Himmel fort, wo der Erzengel Michael als Hoherpriester fungirt und dem Herrn entweder feurige Thiere – also doch etwas Himmlisches und Geistiges – oder die Seelen der Gerechten – also gewiß rein Geistiges – (siehe Tosafot daselbst) opfert. Die erstere Ansicht ist jedoch die im Talmud häufig wiederkehrende und ist um so weniger als eine etwa blos agadische abzuweisen, als sie ihren Einfluß auch auf die Halachah behauptet. In den rabbinischen Anschauungen, daß die Gebete, die täglichen sowohl, als die Sabbath- und Festgebete (Tefilloth) dem Opferritus nachgebildet seien 5‫ תפלה במקום קרבן‬oder ‫תפלות כנגד תמידין תקנום‬, ist die Ansicht vorherrschend, daß sie die Opfer vertreten, d. h. daß sie an innerem Wer th, der in nichts Anderem als lediglich in der sühnenden Kraft bestehen kann, den Opfern gleichstehen und sie vertreten, freilich auf rabbinischem Standpunkte nur so lange vertreten, als die Opfer entbehrt werden und mit der Wiederherstellung der Opfer ihre Bedeutung verlieren müssen. Auch hier erkennen die Rabbinen einem Innerlichen, einem aus dem Boden des innersten Seelenlebens entspringenden Gebete, gleiche sühnende Kraft mit dem äußerlichen Opferwerke zu; doch wollen sie dem Innerlichen nur so lange die Vertretung gönnen, bis das Aeußerliche in sein Recht eingesetzt und wieder zur Alleinherrschaft gelangt sein wird. Es ist klar und einleuchtend genug, daß nur die Noth die Rabbinen beten lehrte; daß nur die Nothwendigkeit, die Juden bei dem gänzlichen Mangel aller Mittel der Sühne nicht in Sünde verkommen zu lassen, sie auf die Gedanken führte, daß in Ermangelung des Opferdienstes etwas Anderes dessen Stelle, wenn auch nur ad interim, vertreten müsse. Wenn man die Rabbinen fragt: womit werden all die schweren Verbrechen gesühnt, worauf das Gesetz Todesstrafe verhängt? so sind sie sogleich mit der Antwort bei der Hand: ‫מיום שחרב בית המקדש אף על פי שבטלה סנהדרי‬ 6 ‫ ארבע מיתות לא בטלו לא בטלו והא בטלו אלא דין ארבע מיתות לא בטלו‬. Aber doch müssen sie, ohne es gerade zu wollen, den Werken der innerlichen Buße und Frömmigkeit eine größere sühnende Kraft zuschreiben, als dem äußerlichen Opferdienst. Denn womit, fragen wir, sollen all die vorsätzlichen Sünden gesühnt werden, da die Opfer bekanntlich nur die ‫שגגות‬, die irrthümlich und aus Versehen, nicht aber, […], die ‫זדונות‬, mit Vorsatz begangenen Sünden, worauf meistens ‫ מלקות‬oder ‫ׄב''ד‬ ‫ מיתת‬steht7, sühnen können? Daß aber auch solche durch die Kraft der Buße und des Gebetes gesühnt werden, beweisen ja die Gebete des Versöhnungstages, wo wir nach dem Bekenntniß solcher vorsätzlichen Vergehungen, welche gerichtli-

5 bT Berachot 26a und b: Die Gebete ersetzen die Opfer. 6 bT San 37b (vgl. auch Sota 8b und Ketubot 30a): Obwohl nach der Zerstörung des Tempels das Sanhedrin nicht mehr im Amt war, wurden die vier Arten der Todesstrafe nicht aufgehoben. 7 Stockschläge oder gerichtliche Todesstrafe.

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che Strafen zur Folge haben, ihre Vergebung von Gott erbitten. Ist also der Rabbinismus durch den Drang der Umstände auf den Gedanken geführt worden, daß während der ganzen Dauer, seitdem Tempel und Altar zerstört worden sind, die innerlichen Werke der Buße, der Reue, der Besserung, die im Gebete angelobt und im Leben gehalten wird, gleiche sühnende Kraft bei Gott haben, als der ehemalige Opferdienst, was spricht dann noch für die Voraussetzung, daß diese Kraft nur so lange dauern solle oder könne, bis der Opferdienst hergestellt ist? Was beweist die Nothwendigkeit einer solchen Wiederherstellung, da ihre Wirksamkeit durch etwas Anderes hinlänglich vertreten werden kann und nach achtzehnhundertjähriger Erfahrung die Sühne nicht absolut nothwendig an sie geknüpft ist? Entweder genügt Gott unsere Innerlichkeit und wird er deshalb jenen einmal zerstörten äußerlichen Kultus nicht wiederherstellen, weil er überflüssig ist; oder Gott genügt diese Innerlichkeit nicht und er wird, weil wir von unsern Sünden nicht versöhnt sind, jenen Dienst nicht wiederherstellen wollen. Oder erwarten wir diese Wiederherstellung trotz unserer unversöhnten Sündhaftigkeit als einen Act der göttlichen Gnade? so müßte ja in dem Wesen dieser Gnade, das trotz unserer Sündhaftigkeit sich unser erbarmen und Mittel der Sühne uns verschaffen will, die Sühne schon enthalten und die Wiederherstellung auch wieder überflüssig sein. Die Rabbinen sind offenbar auf halbem Wege stehen geblieben; sie haben einerseits die sühnende Kraft der Innerlichkeit anerkannt und wollen doch nicht die Entbehrlichkeit des äußerlichen Opferdienstes eingestehen; geben zu, daß sie für achtzehnhundert Jahre und wer weiß wie lange noch, aber nur nicht für alle Ewigkeit ausreiche; räumen ein, daß dem Juden in seiner gegenwärtigen Stellung zu Gott nichts zu seiner Seligkeit fehle und prägen ihm doch die Sehnsucht nach einem Zustande ein, der allein ihm zur Seligkeit verhelfen kann. Mit einem Worte, die Consequenz der Rabbinen läuft in eine große Inconsequenz aus. Sie sagen: Tempel- und Opferdienst müssen wiederhergestellt werden, damit die sie betreffenden Gesetze in aller Ewigkeit erfüllt werden, und sagen wiederum: der Zweck aller dieser Gesetze, die Sühne des Israeliten von der Sünde, werde auch jetzt eben so gut und noch besser erfüllt. Gilt dies von dem Opferdienst im Allgemeinen, so tritt die Inconsequenz der rabbinischen Ansicht von einer nothwendigen Wiederherstellung desselben in Bezug gewisser einzelner Opfer noch insbesondere hervor. Wie die Idee der Sühne durch Opfer den Mittelpunkt des ganzen mosaischen Kultus bildet, so culminirt diese Idee in dem Opferdienst am Versöhnungstage. Dieses hohe Fest der Buße und der Zerknirschung ist der einzige vom Gesetz vorgeschriebene Fasttag, in welchem, wie Kurtz sich ausdrückt, „alle andern Beziehungen der einen gewaltigen Idee der Sündhaftigkeit weichen, wo die Idee des Fluches der Sünde, der auf den Einzelnen und dem Ganzen liegt, einzig und allein das religiöse Gemüth in Anspruch nimmt. Dieser Steigerung des Sündenbewußtseins entspricht nun



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auch die Steigerung der Sühne, sie erlangt an diesem Feste ihre möglichst höchste Intension, sowie Extension. Dem angemessen fungirte denn auch bei diesem Acte nur der Hohepriester. Die Sühne selbst erhielt ihre weiteste Ausdehnung. Sie bezog sich nicht nur auf das ganze Volk, sondern auch auf das Heiligthum und seine Geräthe und auf den Hohenpriester und sein Haus.“8 Nach dem Zusammenhang sowohl, als nach den einzelnen Aussprüchen dieses ganzen Kapitels Levitikus 16 und besonders Vers 30 wird die Sühne an diesem Tage nicht etwa durch die Tage sb edeutung an und für sich ‫עצומו של יום‬, oder durch das Fasten, sondern lediglich durch die Opfer, durch den dreifachen Sühnact bewerkstelligt. Die Worte: ‫כי ביום הזה יכפר עליכם‬, haben nach ihrer natürlichen Auslegung keinen andern Sinn als den: „an diesem Tage wird euch vergeben“, nämlich durch die Opfer vergeben.9 Fragt man nun die Rabbinen: auf welche Weise und wodurch ist seit der Zerstörung des Tempels der heilige Versöhnungstag uns wirklich noch ein Versöhnungstag, da die vorgeschriebenen Opfer nicht dargebracht, der Sühnact also nicht vollzogen worden? so haben sie gleichfalls eine bestimmte Antwort. In Sifra ‫ אחרי מות‬Cap. 8 heißt es: „An diesem Tage werdet ihr versöhnt; wodurch? durch die Opfer. Woher ist aber erwiesen, daß auch, wenn die Opfer nicht dargebracht werden und der Sündenbock nicht da ist, der Tag selbst versöhne? es steht geschrieben: ‫ ביום‬durch diesen Tag werdet ihr versöhnt.“ Der Commentator ‫ קרבן אהרן‬erklärt dies wie folgt. Das ‫ ב‬des ‫ ביום‬sei nicht ein ‫ ב‬temporalis, sondern instrumentalis und bedeute „durch diesen Tag“, welcher Satz als Ursache auf den vorhergehenden Vers 29 sich beziehe, daß nämlich deshalb an diesem Tage Arbeit verboten und Kasteiung geboten sei, denn durch diesen Tag werdet ihr versöhnt. Würde die Sühne, meint er, durch den Opferact allein ohne Mitwirkung des Tages bewerkstelligt, so wäre kein Grund abzusehen, warum der Tag selbst als heiliger durch Ruhe und Fasten ausgezeichnet werden sollte.10 Ohne uns auf eine Kritik dieser Begründungsart, gegen welche manches einzuwenden (und namentlich wie die äußere Tagesheiligkeit durch Ruhe, wie Sabbath, noch nicht die Sühnkraft beweise) ist, weiter einzulassen, wollen wir den Kern des rabbinischen Gedankens ins Auge fassen, daß nämlich von vornherein nicht der so umständlich beschriebene Opferact ausschließlich die Sühne bewerkstellige, sondern auch die Heiligkeit des Tages, diese Tagesheiligkeit aber wiederum durch die innern Werke der Buße und der Zerknirschung, denen die äußerlichen

8 Holdheim zitiert hier aus Johann Heinrich Kurtz, Das Mosaische Opfer, ein Beitrag zur Symbolik des Mosaischen Cultus (Mitau: Lucas, 1842), 267. 9 Levitikus 16, 30. 10 Der Kommentar Korban Aharon zum Sifra (tanaitischer Midrasch zu Levitikus) stammt von Rabbi Aharon ben Avraham Chaim (Anfang des siebzehnten Jahrhunderts).

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Momente der Ruhe und des Fastens nur als anregende Mittel dienen, bedingt sei. So lange nämlich der Opferkultus im Allgemeinen als ein passendes Erweckungsmittel der innern Frömmigkeit durch den göttlichen Willen bestand, ward er für diesen Tag besonders reichhaltig angewendet und jenen zweien Anregungsmitteln als das vorzüglichste an die Spitze gestellt. Nachdem aber der Opferkultus im Allgemeinen durch Gottes Willen aufhörte, blieb die Kraft und Heiligkeit des Versöhnungstages auf die zu Hauptfactoren erhobenen oder gewordenen zwei Elemente der Ruhe und des Fastens beschränkt, und er steht in seiner Wichtigkeit und Heiligkeit in dem innerlichen Gottesdienste des heutigen Judenthums so hoch, als er je im äußerlichen Opferkultus gestanden hat und würde noch höher stehen – fügen wir hinzu – wenn der heutige Kultus ganz ein innerlicher wäre und nicht an so viele gebrochene Stützen des Tempeldienstes sich anlehnte. Die Heiligkeit des Tages, dem die Rabbinen auch in seiner Entbehrung des Opferkultus die Sühnkraft zuschreiben, kann aber kein neues, erst mit der Zerstörung des Tempels hinzugekommenes Moment sein; der Tag, wenn er ein heiliger ist, muß es von jeher gewesen sein, und weil er ein solcher war, oder von Gott wegen der ihm verliehenen erhabenen Bestimmung, zur Heiligung der Menschen wirksam zu sein, zum heiligen bestimmt wurde, sollte an ihm, so lange der Hauptkultus Opferdienst war, der wichtigste Sühnact durch Opfer vorgenommen werden und nachdem der Opferdienst seine Bedeutung verloren oder dieselbe ihm durch Gott entzogen ward, sollten die zwei übrigen Bestandtheile aus ihrer untergeordneten Stellung heraustreten und die ganze anregende Kraft für sich allein übernehmen. Haben wir aber auch heute einen Versöhnungstag, an dem sich ehemals die ganze Sühnkraft des Opferkultus sammelte und concentrirte, auch ohne Opfer in seiner vollen und ungeschmälerten Heiligkeit, wie kann man nur noch die Opfer vermissen? Wie kann man nach diesem Geständniß noch behaupten, daß die Wiederherstellung des Opferdienstes in irgend einer Beziehung nothwendig oder wünschenswerth sei? Ich glaube, daß es Jedermann vollkommen einleuchten muß, daß wenn die Rabbinen dem Versöhnungstage seine hohe Bedeutung auch ohne Opfer retten, und ihm, als einem so wichtigen Bestandtheil des Judenthums, dieselbe retten mußten, es nur als eine große Inconsequenz auf ihrem eigenen Standpunkte angesehen werden müsse, hinterher noch immer von der Restauration des Opferdienstes, als einer im Judenthum nothwendig begründeten Thatsache, zu sprechen. Dies auf dem Standpunkte der Rabbinen. Für unser heutiges religiöses Bewußtsein ist die Idee von der nothwendigen Sühne der Sünde durch Opfer eine schon von den Propheten bekämpfte und bedarf für dasselbe keiner weitern Widerlegung. Nur das stellen wir der rabbinischen Theorie entgegen, daß, da die Opfer gänzlich und für immer aus dem Gebiete des religiösen Lebens geschwunden sind, Alles, was im mosaischen Gesetz in Rücksicht der Opfer geboten und



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verboten ist, gleich ihnen ganz und entschieden weggeräumt werden müsse, da es thöricht und inconsequent wäre, die Consequenzen eines Gesetzes noch ferner bestehen zu lassen, nachdem das Grundgesetz aufgehoben und außer Kraft getreten ist. Der rabbinische Standpunkt ist auch in so fern mit dem Christenthum nah verwandt, da sie beide auf der gemeinsamen Anschauung beruhen, daß die durch das mosaische Gesetz aufgestellte Idee von der Sühne durch Opfer als eine ewig wahre festzuhalten sei. Das Christenthum begründet darauf das Factum, daß durch ein einziges großes Opfer das Werk der Sühne ein für alle Mal für alle, die daran glauben, vollbracht worden sei, während die Rabbinen die Restauration des Opferkultus durch dieselbe Idee zu begründen suchen. Daher sehen wir den Rabbinismus mit dem Christenthum in ewigem Conflict begriffen; bei gleichen Ausgangspunkten können sie sich einander nicht die Idee streitig machen, und müssen daher ein Factum durch das andere, d. h. die Nothwendigkeit des einen durch die Möglichkeit, oder wie sie es nennen, durch die Gewißheit des andern widerlegen. Mit dem neueren religiösen Bewußtsein des Judenthums kann das Christenthum in keinen Streit sich einlassen, da man sich gegenseitig die Principien leugnet und himmelweit auseinander ist und auf Seite des Judenthums die Idee der Sühne durch Opfer, wie sie im Gesetz noch vorherrschend ist, als eine von den Propheten schon längst bekämpfte, durch die achtzehnhundertjährige Geschichte vernichtete, rein abgewiesen wird.11 Ich kann diese Gedanken, denen ich eine ausführliche Besprechung anderswo bestimmt, wo sie im Zusammenhang mit vielen andern eigentlich erst in ihrer Bündigkeit hervortreten sollen, hier nur flüchtig andeuten und gehe zu der weit größeren Inconsequenz der rabbinischen Theorie durch die Messiasidee über. Im Judenthum giebt es dreierlei Hauptheiligkeiten, nämlich ein heiliges Volk, eine heilige Priesterschaft und ein heiliges Land. Von letzterem ist im mosaischen Gesetz als von einem heiligen nicht die Rede; in den Propheten wird oft von der „heiligen Stadt“ Jerusalem, auch von „heiligen Städten“ (Jesaja 64, 9), von dem „heiligen Ort“ in Bezug auf Palästina (Esra 9, 8) gesprochen, wo es aber noch

11 Anmerkung von Holdheim: Von christlicher Seite wird freilich eingewendet: wie kann eine durch das Gesetz als eine göttliche constatirte Idee von den Propheten bekämpft oder von der Geschichte vernichtet werden? Allein für das jüdische Bewußtsein sagt ja das Christenthum dasselbe: es soll von nun an nicht mehr äußerlich geopfert werden, sondern durch den Glauben an ein Opfer – welcher eine innerliche That ist – Gott versöhnt werden. Das Judenthum sagt dasselbe: die Sünde soll nach Gottes Willen nicht mehr durch äußere Opfer, sondern durch den Glauben an Gottes Barmherzigkeit nebst der innern Buße gesühnt werden. War der gesetzliche Zustand ein vorbildlicher, eine höhere Stufe der Religiosität vorbereitender, warum sollte er nicht eine noch höhere, ja die höchste vorbereitet haben?

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sehr zweifelhaft ist: ob sie es als ein unbedingt heiliges Land an und für sich sich dachten, oder nur, weil in dessen Mittelpunkt der heilige Centralkultus sich befindet, es ein bedingt heiliges nennen. Die Rabbinen dagegen betrachten das Land als ein schlechthin heiliges, nämlich durch die Eroberung geheiligtes, und sprechen von ‫ קדושת ארץ‬und von ‫ קדושה ראשונה‬und ‫ קדושה שניה‬als einem heiligen Objekte.12 Das Volk ist ein heiliges, d. h. ein von Gott zum Träger der Offenbarung auserwähltes und seiner Bestimmung geweihtes und wird deshalb häufig ‫עם קדוש‬ oder ‫ גוי קדוש‬genannt. Einen höhern Grad von Heiligkeit hat die Priesterschaft, der Stamm Levi, welcher wiederum in viele Unterabtheilungen und graduelle Heiligkeiten zerfällt. Wie das Volk Israel aus allen Völkern der Erde zu besonderem Dienste von Gott auserwählt und darum in Vergleich mit diesen ein heiliges, abgesondertes Volk ist, so ist der Stamm Levi aus allen Stämmen Israels besonders von Gott herausgehoben und auserwählt und für den Tempeldienst und Opferkultus geheiligt, und verhält sich daher in Bezug auf Heiligkeit zu dem übrigen Volk Israel, wie dieses zu allen andern Völkern sich verhält. Ich will nur beiläufig hier bemerken, wie der im Munde so vieler moderner jüdischer Theologen fast zur stehenden Redensart gewordene Satz, daß das Judenthum den Unterschied zwischen Priester und Laien nicht kennt, ein großer Irrthum sei. Gerade das Judenthum hat diesen Unterschied zu allererst besonders scharf hervorgehoben. Wenn auch das ‫ ממלכת כהנים‬nicht „priesterliches Reich“, „Hierarchie“ sondern „Reich von Priestern“ übersetzt wird und danach behauptet wird, daß jeder Jude Priester sei, so ist er es doch nur auf seinem Standpunkte nach Außen und im Verhältniß zu allen andern Völkern. Nach Innen und in Beziehung zu dem Priesterstamme hat er einen weit geringern Grad von Heiligkeit und verhält sich zu demselben wirklich wie ein Laie zum Priester, wie der gemeine Priester wiederum zu seinem Hohenpriester in einem solchen untergeordneten Verhältniß der Heiligkeit steht. Das Christentum, namentlich das katholische, hat diesen Unterschied zwischen Priester und Laien erst aus dem Judenthum genommen und auf seinem Gebiete angewandt, mit dem Unterschiede jedoch, daß statt im Judenthum die Geburt im Hause Aaron zum Priester mache, bei ihm dagegen dieselbe erst durch die Priesterweihe verliehen werde. Wie aber im Judenthum der Laie von priesterlichen Functionen ausgeschlossen ist, ‫הזר הקרב יומת‬,13 knüpft das Christenthum die Befugniß zu sacramentalischen Handlungen an die priesterliche Ordination. So

12 „Erste“ und „zweite“ Heiligkeit des Landes werden nach traditionellen Quellen als verschiedene Stufen verstanden, die erste Heiligkeit ergibt sich aus der israelitischen Eroberung des Landes und ist temporär, erst nach dem babylonischen Exil wurde die Heiligkeit dauerhaft und von jüdischer Besiedlung unabhängig; vgl. z.B. Maimonides, Mischneh Torah, Trumot 1, 5). 13 Wenn sich ein Fremder naht, so muss er sterben.(Numeri 1, 51; 3, 10 und 38; 18, 7).



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lange also diese Vorstellungen im Judenthum existiren, so lange der Priesterstand noch immer als ein vorzüglich heiliger angesehen und ihm die aus dieser Heiligkeit fließenden Gesetze trotz dem, daß er zeitweilig vom Dienste suspendirt ist, zur Pflicht gemacht werden, steht der Unterschied zwischen Priester und Laien im heutigen Judenthum so fest als jemals. Nur freilich ist der Rabbine, wenn er kein geborener Priester ist, durch sein Amt nicht wie der christliche Geistliche durch die empfangene Priesterweihe zum Priester geworden. Die drei Heiligkeiten sind Grund zu den vielen Gesetzen der Theokratie, welche aus ihnen fließen. Die Heiligkeit des Priesterstandes, nämlich seine Auserwählung zu den priesterlichen Functionen begründet auch viele Verhaltungsregeln, die ihm als levitische besonders zugehören, wie z. B. die strenge Enthaltung von verunreinigenden Dingen und Handlungen, die Enthaltsamkeit in Bezug auf den Genuß berauschender Getränke, die priesterlichen Ehegesetze u.s.w. Je höher der Grad der priesterlichen Heiligkeit ist, je strenger sind die aus derselben fließenden Gesetze, und der Hohepriester, auf dessen Haupt das heilige Salböl gegossen worden ist, darf daher nur eine Jungfrau, aber keine Wittwe heirathen und selbst mit der Leiche der nächsten Verwandten sich nicht verunreinigen. Die Heiligkeit des israelitischen Volkes bedingt einen großen Theil des dasselbe betreffenden Ceremonialgesetzes, welches, da die Volksheiligkeit ihrem Wesen nach in der Ab- und Aussonderung dieses Volkes von allen andern Völkern in Sitten und Gebräuchen, nur ein monotheistisches, gottesdienstliches Volk zu sein ruhet, auch großentheils – die ewig und allgemein gültigen Sittlichkeitsgesetze ausgenommen – nur in Absonderungsgesetzen besteht. Den Israeliten wird häufig gesagt: du sollst nicht thun und nicht sein, wie jene Völker thun und sind, denn du bist ein heiliges Volk dem Ewigen, deinem Gotte. Wenn man dem Grunde der meisten Ceremonialgesetze in der Bibel nachspürt, so wird man finden, daß sie nur in Rücksicht auf die Existenz heidnischer Völker gegeben sind und Absonderung von denselben zum Zwecke haben, und gestehen müssen, daß diese Gesetze entweder gar nicht oder ganz anders gegeben sein würden, wenn das israelitische Volk das einzige Volk der Welt wäre und andere Völker oder Menschen gar nicht existirten. Die Heiligkeit des israelitischen Volkes in Beziehung zu andern Völkern, d. h. die Auserwählung desselben von andern Völkern, ist der einzige Grund des ihm gebotenen Ceremonialgesetzes, sowie die Heiligkeit des Priesterstammes, d. h. seine Auserwählung aus allen Stämmen Israels zu besonders heiligem Dienste, der Grund der ihn betreffenden Priestergesetze ist. Wäre kein besonderer Stamm zu einem priesterlichen auserwählt worden, so gäbe es keine besondere Priestergesetze; wäre das israelitische Volk nicht aus allen andern Völkern erwählt, sondern die ganze Menschheit zu dem für Israel allein bestimmten Zwecke berufen worden, so gäbe es kein besonderes Ceremonialgesetz, sondern ein Gesetz für alle Menschen, d. h. ein reines einfaches Sittenge-

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setz. Nur weil so viele Völker, ja die ganze Menschheit, so tief stand und Israel nach der Verheißung an die Väter zum heiligen Volke allein berufen worden ist, genügte für dasselbe nicht ein aus reinem Glauben und wahren Vorstellungen von dem einigen wahren Gotte fließendes Sittengesetz, sondern es mußte, im steten Hinblick auf andere Völker und das Verhältniß zu denselben, das Ceremonialgesetz in seinem ganzen bündigen Zusammenhang ihm ertheilt werden. In dem Augenblick, als alle übrigen Völker durch eine Sündfluth vom Schauplatz der Erde vertilgt würden und Israel allein übrig bliebe; oder in dem Augenblick, als die übrige Menschenwelt den patriarchalischen Glauben Abrahams annähme und zu wahrhaften Monotheisten bekehrt würde, in demselben Augenblick müßte das Ceremonialgesetz in seiner Verbindlichkeit auch für Israel aufhören, da es dadurch, daß seine vorausgesetzten Beziehungen zu heidnischen Völkern aufhörten, zu gänzlicher Bedeutungslosigkeit herabgesunken sein müßte. Das ist auch der Grund, warum im Pentateuch die Gesetze sich nur an das israelitische Volk richten, und auch an den Einzelnen nur als Glied dieses Volkes, nicht aber an die Gesammtheit außer dem vorausgesetzten Volksverhältniß oder an den Einzelnen, als Angehörigen eines andern Volkes, weil, wenn dieser Fall einträte, der mit der Schöpfung des theokratischen Volkslebens beabsichtigte Zweck schon in Erfüllung gegangen sein, nämlich die der Menschheit gefährliche Macht des Heidenthums schon gebrochen sein müßte. Wenn Herr Rabbiner Hirsch uns dagegen bemerkt: „daß man nicht so ganz und gar vergessen dürfe, daß der zeitliche Untergang des ehemaligen Staates und die Zerstreuung der Juden von dem Allwissenden schon vorher verkündet worden, und daß die Zerstreueten in ihrer Zerstreuung nicht minder zur treuen Befolgung der göttlichen Gesetze aufgerufen werden, ja die Rückkehr zur Treue gegen die Gesetze in der Zerstreuung ganz ausdrücklich als Endziel dieser Zerstreuung gesetzt werde, daß man also nicht sagen könne: die Religion des Judenthums habe für ein anderes Staatsverhältniß keine Vorschrift gegeben“,14 so antworten wir ihm: er möge uns erstens beweisen, daß hier vom Ceremonialgesetz überhaupt die Rede sei. Dies müßte um so weniger der Fall sein, als bekanntlich nur Abfall vom einigen Gotte, und Götzendienst, nicht aber die Vernachläßigung des Ceremonialgesetzes, d. h. in unserer Sprache: nicht der Abfall vom Ceremonialgesetz, sondern der Abfall von dem, um deßwillen ein Ceremonialgesetz überhaupt nöthig war, die Ursache der Zerstreuung war.

14 Holdheim zitiert hier Samson Raphael Hirsch, den Wortführer der deutschen Neo-Orthodoxie, aus dessen Zweite Mittheilungen aus einem Briefwechsel über die neueste jüdische Literatur: ein Fragment, erschienen 1844 in Altona. Hirschs Schrift ist eine ausführliche Kritik von Holdheims Buch Über die Autonomie der Rabbinen und das Princip der jüdischen Ehe. Ein Beitrag zur Verständigung über einige das Judenthum betreffende Zeitfragen (Schwerin: Kürschner, 1843).



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Dann wolle uns Herr Hirsch zweitens aus dem Pentateuch beweisen, daß die ewige Existenz des jüdischen Volkswesens mit der theokratischen Verfassung irgendwo von Gott selbst ausgesprochen sei. Die Grundlage unseres Systems ist ja die Behauptung, daß Gott diese ganze Ordnung der Dinge nur für so lange ins Dasein gesetzt, als die im Familienschooße der Väter entwickelte monotheistische Weltanschauung von der Uebermacht der heidnischen Naturreligionen mit Untergang bedroht war und diese Ordnungen, als ihr Zweck erfüllt war, selbst zerstörte. Wenn also im Pentateuch von dem Götzendienste der Juden in der Zerstreuung die Rede ist, so kann gewiß nur eine solche Zeit gemeint sein, wo der Zweck der Theokratie noch nicht erfüllt, und selbst das Ceremonialgesetz noch nöthig war. Nach unserer Grundansicht ist ja das Ceremonialgesetz nur so lange nöthig, als eine gesonderte israelitische Volksthümlichkeit überhaupt nöthig ist und mit dieser für immer aufgehört hat. – Die Heiligkeit des Landes ist auf dem rabbinischen Standpunkt der Grund aller an das Land geknüpften Gesetze. Nur nachdem das Land erst durch Josua, später durch Esra geheiligt und nur in so weit es nach seiner geographischen Ausdehnung geheiligt worden ist, traten nach den Rabbinen die agrarischen Verpflichtungen hinsichtlich des Jobel- und Erlaßjahres, der Abgaben u.s.w. in Kraft. Wenn nun nach dem Talmud Kiduschin 37a alle die an das Land geknüpften Gebote mit ‫ חובת קרקע‬bezeichnet und dieselben für die Zeit, während welcher das Land nicht von dem größten Theil der Israeliten aus allen Stämmen bewohnt wird, für suspendirt erklärt werden, so hat der Correspondent in dem Israeliten des 19. Jahrhunderts gewiß vollkommen recht, wenn er den Ausdruck ‫ חובת קרקע‬Pflicht des Bodens, in dem Sinne auffaßt, daß die Heiligkeit des Landes als der Verpflichtungsgrund aller an dasselbe geknüpften Gebote angesehen werde, weßhalb man außerhalb dieses Landes alle die betreffenden Gesetze nicht anzuwenden hat, so wie ‫חובת הגוף‬, Pflicht der Person, nichts anderes bedeutet, als daß die Heiligkeit des Israeliten, als Glied des heiligen Volkes, für ihn der Verpflichtungsgrund des Ceremonialgesetzes sei.15 Nur darin hat der gedachte Correspondent unrecht, wenn er glaubt, daß durch diese richtige Auffassung unsere Kritik der talmudischen Eintheilung in der Autonomie der Rabbinnen überhaupt widerlegt werde. Mit Recht wandten wir ein, daß diese Eintheilung nicht erschöpfend und die Frage über das, was der Israelit außerhalb des Landes zu halten habe, die den Rabbinen doch nothwendig vorgeschwebt haben mußte, keinesweges erledige, da so viele mosaische Gebote, die nicht ‫חובות‬ ‫ קרקע‬sind und nach den Rabbinen als ‫ חובות חגוף‬ausgeübt werden müssen, dennoch, weil sie an Institutionen gebunden sind, die mit dem Untergange des

15 Holdheim bezieht sich auf einen Artikel in: Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts 15 (1844): 116f.

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Volkslebens verschwunden sind, nicht ausgeführt werden können. So sehr die Rabbinen geneigt sind, die Volksexistenz sich fortdauernd zu denken und alle die auf dieser basirten Vorstellungen in ihrer Geltung festzuhalten, so können sie ja doch nicht umhin, viele das Volksleben betreffende Gesetze, wie Leibes- und Lebensstrafen bis auf wenige Ausnahmefälle, als suspendirt zu erklären. Freilich ist es nur deshalb, weil das Objekt des Gesetzes, die richterliche Gewalt, fehlt; allein das ist ja eben bei ‫ חובות קרקע‬der Fall, die deshalb nicht ausgeübt werden können, weil das Objekt, das Land, wenn auch dieses als Subjekt der Verpflichtung gedacht wird, uns fehlt. Sie können daher nicht mehr sagen: alles, was nicht ‫ חובת קרקע‬ist, sei ‫חובת חגוף‬, und müsse ausgeübt werden, da die vollständige Volksheiligkeit an die Vollständigkeit der Volksexistenz, diese aber doch immer an einen gemeinsamen Aufenthalt in einem Lande nothwendig geknüpft ist. Wie die Heiligkeit des palästinensischen Bodens hinsichtlich ihrer Kraft, für den Israeliten die agrarischen Pflichten zu erzeugen, doch immer an den Aufenthalt Israels, als des heiligen Volkes, entweder seiner Gesammtheit oder seinen größern Bestandtheilen nach, auf demselben geknüpft ist und nur dann als ein heiliges Subjekt betrachtet wird, wenn sie mit der Volksheiligkeit in Verbindung tritt, so kann auch die israelitische Volksheiligkeit nicht in ihrer ursprünglichen Integrität gedacht werden, wenn sie ihrerseits der Verbindung mit dem heiligen Boden entbehrt und dadurch in so wesentlichen Stücken mangelhaft geworden ist, wenn die als Folge dieser Heiligkeit gebotenen Pflichten nicht ausgeübt werden können. Die Rabbinen sagen freilich: diese Gebote sind nicht aufgehoben, sind blos suspendirt; der Träger dieser Pflichten, der Verpflichtungsgrund, nämlich die Volksheiligkeit existirt noch jetzt und wird, wenn das Hinderniß beseitigt sein wird, alle die Erscheinungen, die an sie als Consequenzen gebunden sind, ins Leben treten lassen. Allein darin scheint uns das Fehlerhafte dieser Anschauung zu liegen. Die Heiligkeit des Bodens wird ja von den Rabbinen auch als eine selbstständige betrachtet, doch ist sie hinsichtlich der Erzeugung der an die Heiligkeit geknüpften Gebote an die Bedingung gebunden, daß Israel auf demselben sich befinde, und kann für den Einzelnen oder die Wenigen nicht die Verpflichtung erzeugen. Eben so müßte die Heiligkeit des israelitischen Volkes, wenn sie auch eine selbstständige ist, hinsichtlich dessen, was aus dieser Heiligkeit resultirt, an das Land geknüpft sein. Freilich wird der Boden nur durch das Volk, nicht aber das Volk durch den Boden geheiligt. Allein die Heiligkeit ist doch nur in so fern eine solche, als sie sich durch Thaten äußern kann und nicht, wenn ihre Aeußerungen an Bedingungen geknüpft sind, die sie nicht zur Erscheinung kommen lassen. Für die Erscheinungswelt ist eine Kraft nur dann vorhanden, wenn sie eine Wirksamkeit äußert. Die Heiligkeit des Bodens, da sie aus Mangel des ihre Wirksamkeit bedingenden Aufenthalts Israels auf demselben sich nicht äußern kann, ist auch – mag sie von den Rabbinen auch nur schlafend, nieder-



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gedrückt, gedacht werden – für uns im Grunde nicht vorhanden. Eben so ist die Volksheiligkeit, weil sie zur Erzeugung von so vielen Pflichten an gewisse Bedingungen, nämlich an den Aufenthalt im Lande, d. h. nicht blos an ein von den Rabbinen erträumtes, sondern an ein wirkliches Volksleben – mag dieses auch in politischer Beziehung ein unselbstständiges sein – geknüpft ist, nur theilweise für uns vorhanden. Da aber nur eine vollständige Volksheiligkeit, wie sie in der Bibel vorausgesetzt wird, zum Erzeugen der Pflichten von Gott als fähig hingestellt wird, so müssen die Rabbinen es erst beweisen, daß eine unvollständige Volksheiligkeit gleiche Fähigkeit besitze, daß eine unvollständige, in ihrem innersten Wesen erlahmte Heiligkeit eine Heiligkeit überhaupt genannt zu werden verdiene. Daß der Talmud den ganzen ehemaligen theokratischen Zustand noch jetzt, ohne Tempel und Altar, ohne Boden, ohne Gericht, ohne Staat und ohne Selbstständigkeit sich noch fortdauernd gedacht, die fehlenden Momente nur als einige leicht wieder zu beseitigende Hindernisse, übrigens die Volksheiligkeit, die Priesterheiligkeit, ja sogar in vielen Fällen, wenigstens als rabbinische Erschwerung, auch die Heiligkeit des Bodens, nach wie vor in ihrer Integrität darstellten und in Folge dessen alles, was nicht absolut ‫ חובת קרקע‬ist, noch als ‫ חובת חגוף‬überall für verbindlich erklärten, deshalb trifft sie die Kritik, welche die Heiligkeit des Israeliten als Glied des israelitischen Volkes prüft und findet, daß die Existenz desselben, wie auch die des Priesters, als dessen Folge, rein illusorisch, daß ein solches in seinem Bestande vorausgesetztes Volk in seinen innersten Bedingungen aufgelöst sei, daß der Israelit das Ceremonialgesetz nicht als Mensch und Angehöriger eines andern Volkes, so wenig wie einst die Patriarchen als solche eines hatten, sondern nur als Mitglied des heiligen Volkes übernommen, daß nur in diesem Volkscharakter der Urgrund, wie die Zeugungsfähigkeit solcher Verpflichtungen wohne und daß er außerhalb dieses Volkes nur den Monotheismus nebst dem zum Theil auch den Patriarchen schon offenbarten Sittengesetze als seine Religion bekenne. Sehen wir nun, wie diese drei Heiligkeiten im messianischen Reiche sich gestalten können. Die Priesterheiligkeit ist an den Priesterdienst gebunden und wenn sie die Rabbinen noch jetzt in den Fällen ihrer Anwendbarkeit als fortdaurend erklären, so hängt dies mit ihrer Grundansicht von der Wiederherstellung des Opferkultus zusammen. Diese Ansicht haben wir bereits oben kritisirt und nachgewiesen, wie die Rabbinen die Idee der Sühne durch Opfer auf ihrem eigenen Standpunkt aufgegeben, und wie eine dessen ungeachtet festgehaltene Glaubensansicht von der Wiederherstellung des solcher Idee zu Grunde liegenden Factums in eine Inconsequenz auslaufe. Wir haben es absichtlich vermieden, von Maimonides Accomodationstheorie, wiewohl sie in einem der ältesten rabbinischen Werke, im Sifra, ihre Vertretung findet, zu sprechen, weil dieselbe für das heutige Bewußtsein manches Anstößige hat, und in der Weise, wie sie

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Maimonides darlegt, ist sie in der That zu rationalistisch und einseitig.16 Wir finden, daß trotzdem die Propheten so gewaltig gegen die Aeußerlichkeit der Opferwerke ankämpften, die Idee der Sühne durch Opfer sich doch wie ein rother Faden durch die ganze Bibel zieht, und namentlich bei der Rückkehr aus dem Exil in ihrer vollen Stärke sich zu erhalten und zu behaupten wußte. Ja wir sehen sogar, daß sie nach der Entstehung des Christenthums von ihrer Stärke in dem Bewußtsein der jüdischen Zeitgenossen nichts verloren und dem Christenthum sein Lebensprincip zu verleihen Kraft genug hatte. Nur die Unmöglichkeit des Opferdienstes, die Zerstörung des Tempels, hat die Macht dieser Idee gebrochen und bei den Rabbinen, wie oben gezeigt worden, jene Idee von ausgleichenden und stellvertretenden Mitteln hervorgerufen. Da wir in Bezug der Bibel die in dem prophetischen Bewußtsein aufgegangenen Ideen höher als das vulgäre jüdische Volksbewußtsein stellen, überdies im Pentateuch nicht blos die Opferidee allein, sondern auch viele andere Vorstellungen als nur in der Theokratie gerechtfertigt, außerhalb derselben aber, zumal in einem über dieselbe weit hinausschreitenden höhern religiösen Bewußtsein, in welchem die Theokratie ihren Zweck schon erreicht hat, als von Gott selbst – dessen Willen er uns in der Geschichte offen­bart – aus ihrer theokratischen Beschränktheit erlöst, auffassen, so haben wir nicht das leiseste Bedenken, es als unserem Glaubensgeiste entsprechend zu erklären, daß im messianischen Reiche, in welchem die reinsten und freiesten religiösen Ideen praktisch werden sollen, von einem Opferritus nicht die Rede sein kann, da derselbe schon heute jedem ächten Glaubensbewußtsein im höchsten Grade widerstrebt. Mit dem Opferritus fällt aber der ganze priesterliche Stand zusammen, und es kann mithin von einer priesterlichen Heiligkeit und den durch diese Heiligkeit bedingten Priestergesetzen schon heute nicht mehr die Rede sein. Die jüdische Volksheiligkeit, wenn auch ein jüdisches Volk wieder erstehen sollte, beruhet auf seinem Verhältniß zu den übrigen heidnischen Völkern und der strengen Absonderung von denselben, zu dessen Zwecke ein absonderndes Ceremonialgesetz nothwendig war. Die Ceremonialgesetze sind die Aeußerungen, gleichsam die nach Außen hin sich manifestirenden Erscheinungen der theokratischen Volksheiligkeit. In dem messianischen Reiche aber, wo statt der beschränkten Theokratie der freieste Universalismus, eine alle Volksunterschiede aufhebende Weltregierung Gottes, statt des jüdischen Volkes die Menschenwelt treten wird, wo alle Menschen den einen wahrhaftigen Gott anerkennen und anbeten werden, wäre eine solche besondere Volksheiligkeit, welche ihrem Wesen nach nichts anderes, als der Gegensatz zum Heidenthum ist und, um diesen Gegensatz in stets lebendigem Bewußtsein zu erhalten, ein Ceremonial­

16 Vgl. Maimonides’ Führer der Verwirrten, III, 32.



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gesetz zur Folge hat, ein wahres Unding, leer, bedeutungslos, zwecklos, ziellos, der höchsten Weisheit Gottes unwürdig. Wozu und warum sollen sich die Juden noch dann von den übrigen Völkern absondern, nachdem die Einigung, der Jahrtausende mühseligen Kampfes kostende Verschmelzungsproceß aller Menschen zu einem wahrhaftigen Glauben glücklich vollbracht ist? In der reingeistigen Auffassung der messianischen Zeit ist die Fortdauer eines besondern Volkes und eines besondern Ceremonialgesetzes, d. h. die Fortdauer einer jüdischen Theokratie gegenüber einer monotheistischen Menschenwelt, eine wahre Absurdität und kann in einem seiner Sinne mächtigen Kopfe unmöglich Raum gewinnen. Ist aber der ewige Bestand des Ceremonialgesetzes nicht möglich und muß es in dem messianischen Reich bis auf jede Spur untergehen, so steht die gültige Existenz desselben für die Gegenwart schon auf sehr schwachen Füßen. Wie die Rabbinen auf ihrem Standpunkt dies und jenes Ceremonialgebot trotz seiner eigentlichen Unanwendbarkeit zu erhalten suchen aus dem Grunde, daß man urplötzlich vom Messias überrascht17 werden könnte, so möchte man hier umgekehrt das und jenes aus gleicher Rücksicht fahren lassen. Aber ohne solchen kindischen Ernst muß uns ein höherer Mannesernst auffordern, mit der Herbeiführung der messianischen Zeit ernste Anstalten zu machen und die trennenden Elemente immer mehr zu beseitigen und die Einigung im Geiste und in der Liebe mit der Menschenwelt immer größer zu machen; alle die schroffen Beziehungen unseres ehemaligen politisch und volksthümlich gesonderten Bewußtseins entschieden aufzugeben und uns mit den Völkern und den Menschen volksthümlich und menschlich durch die innigsten, volksthümlichen und reinmenschlichen Beziehungen zu verbinden. Von Absonderungsgesetzen heute noch und in religiösem Interesse zu reden und im Leben Notiz zu nehmen, würde heißen: das Messiasreich in immer größere Ferne hinausrücken. Die Theokratie ist untergegangen, und aus den letzten Flammen, die über Tempel und Altar zusammenschlugen, ist der Messias geboren.18 Aber nicht blos in unserer reingeistigen Auffassung der Messiasidee, sondern auch auf rabbinischem Standpunkt muß es als eine große Inconsequenz bezeichnet werden, da noch von der Ewigkeit des Ceremonialgesetzes zu reden. Wenn auch die Rabbinen einen persönlichen und politischen Messias aus dem Hause Davids erwarten, der mit der Wiederherstellung des alten Kultus eine politische

17 Holdheim verweist hier auf bT Berachoth 9b, wo Rabbi Jochanan dazu aufruft, auch nichtjüdischen Königen entgegenzueilen, damit man in der Messiaszeit zwischen dem (jüdischen) Messiaskönig und anderen Königen unterscheiden könne. 18 Nach jüdischer Tradition wird der Messias am 9. des Monats Av geboren, dem Tag der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (vgl. Eicha Rabba 1,51 und pT Ber 17b).

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Wiedergeburt des jüdischen Volkes als Beherrscher aller Völker herbeiführen wird, so räumen sie doch ein, daß dieser Messias die ganze Menschenwelt zur Annahme der sieben noachidischen Gebote zwingen und sie zu wahren Monotheisten, ‫בני נח‬, bekehren werde.19 Nur für die Juden allein soll das Ceremonialgesetz als Erbtheil der Gemeinde Jakobs verbleiben, während alle übrigen Völker, so weit sie sich nicht zum Judenthume bekehren – nach der vorausgesetzten Glückseligkeit des jüdischen Volkes dürfte man eigentlich dann, wie zu den Zeiten Davids und Salomos, keine Proselyten annehmen – als Noachiden existiren werden. Es entsteht also auch für die Rabbinen die Frage: wozu dann noch so viele Absonderungsgesetze, da keine Heiden mehr existiren können und dürfen? Worin beruhet dann noch dies und jenes nur auf Absonderung und Entfernung von heidnischen Sitten abzielendes Ceremonialgebot? Freilich würden die Rabbinen auch dann noch die Ehe mit nichtjüdischen Völkern nicht zugeben, weil sie auch dann noch den vorzüglich heiligen Volkscharakter der Juden nicht aufgeben wollen. Wir wollen, wo es sich um Blutsvermischung mit angeblich weniger heiligen Völkern handelt, diese Schwäche ihnen nachsehen, die auf ihrem Grunde, wo die Juden das Ceremonialgesetz noch immer als ausschließliches Privilegium beibehalten, mithin immer das heilige Volk par excellence bleiben, gerechtfertigt erscheint. Aber wozu so viele andere Gesetze, die nach den klaren Aussprüchen der Bibel lediglich als Schutzwehr gegen den Götzendienst ursprünglich gegeben sind? Die Rabbinen können freilich nie in Verlegenheit gebracht werden; sie würden, wenn sie im messianischen Reiche etwas zu sagen haben sollten – und da sie sich den Messias als den gelehrtesten Rabbinen denken, kann ihnen das Wort nicht genommen werden – einen ihnen geläufigen Satz aussprechen, daß Gottesgesetze, wenn sie auch nur zu ausdrücklich angegebenen gewissen Zwecken und für bestimmte Zeit erlassen, auch dann, wenn der Zweck erreicht und die Zeit vorüber ist, nicht von selbst außer Kraft treten, bis Gott selbst sie widerruft. Diese Rechtsregel, welche sie aus der Schrift Exodus 19, 15; Deut. 5, 27 herleiten,20 dehnen sie sogar auf rabbinische Verordnungen aus, die, wenn sie auch zweckund grundlos geworden, doch nur durch eine competente Behörde wieder in optima forma aufgehoben werden können und müssen. Das zeugt für ihre rein juristische Auffassung der Religion, und würden sie demnach auch nicht verfehlen, dieselbe Auffassungsweise auch auf die Absonderungsgesetze in der messi-

19 Benei Noach = Noachiden. Zu den sieben Noachidischen Geboten vgl. bT San 56a-b. Holdheim selbst verweist hier auf Maimonides Mischneh Torah, Gesetze über Könige und Kriege 11, 8 und 11, 11 – erst nachdem der Messias alle umliegenden Völker besiegt hat, werden alle Völker gemeinsam Gott dienen. 20 Vgl. bT Beizah 5b.



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anischen Zeit geltend zu machen. Allein den heutigen Rabbinen, welche schon jetzt und gewiß noch mehr in der messianischen Verfassung die Religion aus rein religiösen Gesichtspunkten auffassen, steht doch die Frage frei: müssen wir nicht nach Gottes Weisheit von ihm voraussetzen, daß er in der messianischen Erfüllung all die Absonderungsgesetze, da sie leer und bedeutungslos sein werden, aufheben werde, so wie er einst bei Gelegenheit der sinaitischen Offenbarung den Befehl ‫ אל תגשו אל אשה‬durch den Gegenbefehl ‫ שובו לכם לאהליכם‬aufhob?21 Allerdings. Wo bleibt aber dann die Consequenz von der Ewigkeit des Ceremonialgesetzes, da dessen Aufhebung in den Planen der Vorsehung zur Herbeiführung eines messianischen Reiches von vorn herein als in Gottes Weisheit und Liebe nothwendig begründet gelegen haben muß? Und gebietet nicht dieselbe Weisheit, welche das Ceremonialgesetz dereinst gänzlich abschaffen wird, schon jetzt eine den Fortschritten des Messiasreichs entsprechende, theilweise Abschaffung aller Absonderungsgesetze, welche der messianischen Erfüllung hinderlich sind? Und wird denn der Ausspruch durch den Mund des Messias deutlicher und vernehmlicher sein, als der Ausspruch durch die achtzehnhundertjährige Geschichte: geht unter alle Völker und werdet Teilnehmer ihres Volkslebens? Sagt das weniger: ihr sollt euch nicht mehr, wie ich es einst im Pentateuch befohlen, von den Völkern absondern, sondern euch mit ihnen verbinden? Mag der Rabbinismus mit seiner Ansicht von der Ewigkeit des ganzen Ceremonialgesetzes sich zu schützen und zu bergen suchen, in dem Messiasreich kann er vor dem Geiste der schrankenlosen, umfassenden Menschenliebe seine Consequenz nicht retten. Theokratie und Heidenthum sind relative Begriffe, die nur mit einander stehen können und mit einander fallen müssen, und die Ewigkeit einer jüdischen Theokratie ohne ihren Gegensatz, das Heidenthum, muß auch auf rabbinischem Standpunkt wenigstens zwecklos und unbegründet erscheinen. Diese hier nur flüchtig angedeuteten Gedanken haben wir in Verbindung mit vielen andern dahin einschlagenden wissenschaftlich durchzuführen gesucht, die wir in einer Schrift nächstdem zu veröffentlichen gedenken. Wie freudig fühlten wir uns daher überrascht, in den so eben erschienenen zwei Predigten des Herrn Dr. Herzfeld dieselben Schlußgedanken fast naiv, ohne wissenschaftliche Motivirung, aber durch ihre innere Wahrheit gehalten, ausgesprochen zu sehen!22 Wir können uns nicht versagen, einige obige Gedanken betreffenden Aeußerungen des Herrn Dr. Herzfeld wegen ihrer entschiedenen Freisinnigkeit

21 Ex 19, 15 und Deuteronomium 5, 27: „Keiner nähere sich einer Frau“ und „Kehret heim in eure Zelte“ (nach bT Beizah 5b). 22 Holdheim bezieht sich hier auf Levi Herzfeld, Zwei Predigten über die Lehre vom Messias. Vgl. die Einleitung und S. 147–164 in diesem Band.

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und populären Ausdrucksweise hieherzusetzen, die Art und Weise aber, wie Herr Dr. Herzfeld diese Gedanken sogar im Namen des Talmuds ausspricht, als einen großen Irrthum zu berichtigen. Nachdem der Redner die Messiaslehre in ihrer höhern Auffassungsweise seinen gebildeten Zuhörern dargelegt, fährt er mit der Frage fort: „wie wird es im messianischen Reich um das Judenthum stehn? Das Judenthum aber umfaßt auch viele Ceremonien: welches Schicksal werden diese im Messiasreiche haben? Ich antworte hierauf mit zwei Sprüchen des Talmuds, einmal sagt er ‫מצוות בטלות לעתיד לבוא‬, die jüdischen Gebräuche werden einst aufhören, und ein ander Mal ‫ כל המועדים יהיו בטלים‬alle jüdischen Feste würden einst aufhören. Ich will diese beiden Aussprüche mit einigen Worten begründen.“ Nachdem der Verfasser das Ceremonialgesetz auf seinen Gegensatz zu den heidnischen Gebräuchen und seine absondernden Tendenzen zurückgeführt, sagt er: „Im Messiasreich können beide Klassen keine Geltung mehr haben: wozu noch durch Ceremonien die Einheit Gottes einprägen, wenn diese ein Glaubenssatz der ganzen Menschheit geworden sein wird: oder wozu durch Ceremonialgesetze den Umgang mit andern Völkern unterdrücken, wenn diese andern Völker so gut wie wir werden Theilhaber des Messiasreiches geworden sein? Und noch andere ganze Klassen jüdischer Gesetze werden aus ähnlichen Gründen aufhören müssen, und nur diejenigen von ihnen übrig bleiben, welche sich dazu eignen, auf die ganze Menschheit überzugehen. Der Talmud hat Recht.“ Herr Dr. Herzfeld‚ behaupten wir, hat in der Hauptsache Recht; aber darin, daß der Talmud Recht hat, hat er entschiedenes, großes Unrecht. Wie mochte nur Herr Dr. Herzfeld, der bei so lobenswerther, entschiedener Gesinnung sich nicht scheuet, der Wahrheit öffentlich die Ehre zu geben, es über sich gewinnen, in demselben Augenblick, wo er eine der höchsten und fruchtbarsten Wahrheiten des Judenthums als Geistlicher an heiliger Stätte ausspricht, diese ehrenwerthe Gesinnung, diese würdige That durch eine so handgreifliche Unwahrheit zu verdunkeln! Kann er im Ernste glauben, daß der Talmud zu dieser liberalen Ansicht sich bekenne? Sollte es ihm verborgen sein, wenn er auch – als Rabbiner gewiß mit Unrecht – kleinlich auf diejenige Kenntniß des Talmuds herabsieht, „die alle seine verschlungenen Windungen mit Maulwurfsaugen durchkriecht“, daß der ganze Talmud diese Ansicht lügen strafe, daß auf jedem seiner Blätter das Gegentheil dessen ausgesprochen werde, was Herr Dr. Herzfeld mit diesen zweien seinem Gedächtnisse vorschwebenden agadischen Floskeln zu begründen sucht? Der ganze Talmud – und das muß gerade der, wer den Talmud „seinem innersten Geiste nach“ kennt, wohl erkennen – ist auf die Ansicht von der Ewigkeit des Ceremonialgesetzes und dessen vollständiger Erfüllung im Messiasreiche gebauet. Wenn der Talmud so ausführlich und umständlich von der Vergangenheit handelt, so hat diese Vergangenheit nur deshalb und nur insofern Interesse in seinen Augen, weil und als sie wieder zur Gegenwart werden



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wird. Bei absolut und für immer vergangenen Dingen mag er sich nur insofern aufhalten, als das Verständniß der Schrift an sich ein Interesse darbietet; die erschöpfendsten Discussionen dagegen betreffen solche Gegenstände, die praktischen Werth für die Zukunft haben. Als Joma 5b die Frage aufgeworfen wird, wie Mose dem Aaron und dessen Söhnen die Priestergewänder anlegte ‫ כיצד הלבישן‬wird die Frage, als ausschließlich die Vergangenheit betreffend, für müßig und leer erklärt und dahin verbessert: wie werden sie in Zukunft‚ d. h. im Messiasreiche, angelegt werden? ‫כיצד הלבישן מאי דהוה הוה אלא כיצד מלבישן לעתיד לבוא‬ Herr Dr. Herzfeld ist daher bei aller Anerkennung eines lobenswerthen Weiterstrebens von der Schwäche, die er übrigens mit vielen ehrenwerthen Rabbinen der Gegenwart theilt, nicht freizusprechen, die liberalen Reformideen, als im Talmud begründet, zu proklamiren. Außerdem, daß dies als Unwahrheit unter allen Umständen verwerflich ist, giebt man hierdurch den Feinden Waffen in die Hände, die ein fürchterliches Zetergeschrei erheben, daß man den Leuten Sand in die Augen streuen und sie bereden wolle, der heilige, unschuldige Talmud rede den gottlosen Ideen des Fortschrittes das Wort. Es ist eine unverzeihliche Schwäche, die man endlich von sich fern halten soll, den steifgewordenen Händen des Talmuds die Fahne des Fortschritts aufzudrängen. Es ist endlich Zeit, daß man sich dem Talmud gegenüber stark genug fühle und mit dem über ihn längst hinausgegangenen Bewußtsein ihm entgegentrete, nicht bei jedem Schritte vorwärts mit den schweren Folianten sich fortzuschleppen, und ohne sie aufzuschlagen, ihnen eine unschuldige Aeußerung abzulauern, um darauf das Fundament des Fortschrittes zu begründen. Den Talmud hat übrigens die Nemesis ereilt; wie er es einst mit der Bibel gemacht, machen es die heutigen Rabbinen jetzt mit ihm. Auch er war zag und ängstlich, weil ihn kein eigentliches, in einem starken Selbstbewußtsein erkräftigtes Reformprincip beseelte; daher sah er sich bei jeglichem Schritt nach der Bibel um, und ohne es erkannt zu haben, daß die Bibel nur aus dem theokratischen Bewußtsein heraus spreche, trug er alle seine von den veränderten Zeitverhältnissen ihm abgerungenen Reformen in die Bibel hinein. Ganz ebenso macht es Herr Dr. Herzfeld und viele Andere. Ganz aus ihrem heutigen Bewußtsein sprechend, haben sie zu demselben doch immer nicht das rechte Vertrauen, und möchten, sich selbst täuschend, sich einbilden, sie stehen mit ihrem Bewußtsein im Talmud. Aber wie die Bibel, richtig erkannt, die talmudischen Umdeutungen ernstlich abweist, ebenso muß eine genauere Kenntniß des Talmuds das moderne Verfahren der Reformatoren in Bezug desselben ernst und entschieden zurückweisen. Herr Dr. Herzfeld muß nicht den Satz so absolut und allgemein hinstellen: der Talmud hat Recht, sondern: der Talmud spricht aus seinem Zeitbewußtsein, und für dasselbe hatte er Recht; ich spreche aus einem höheren Bewußtsein meiner Zeit und für dasselbe habe ich Recht.

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„Das Messiasreich“, sagt Herr Dr. Herzfeld weiter, „hat inzwischen große Fortschritte gemacht: dürfen wir, diesen Fortschritten entsprechend, jüdische Gesetze fallen lassen? Ja, sagt das Beispiel der Propheten, ja! sagt das Beispiel der ‫ אכֹ ׄתג‬und des Talmuds.“23 Was das Beispiel der Propheten betrifft, so zeugt dies weder für, noch wider, da ihr Verhältniß zum Ceremonialgesetz wenigstens für uns unergründlich geworden ist. So viel ist gewiß, daß in der Theokratie stehend, welches bei den Propheten der Fall war, die Nothwendigkeit des Ceremonialgesetzes, wenn auch nicht als Selbstzweck, wie in der rabbinischen Anschauung, doch als Mittel auch von uns – wie Herr Dr. Herzfeld auch selbst gesteht – erkannt wird. Das Beispiel der ‫ אכֹ ׄתג‬und des Talmuds für die Abschaffung des Ceremonialgesetzes anzuführen, scheint uns sehr gewagt, da dieses allenfalls für eine zeitgemäße Umbildung, aber nicht für eine Abschaffung desselben Zeugniß giebt. Nur muß man, wenn man auch nur die Ahnung eines kritischen Bewußtseins in sich verspürt – von dem die Predigt, die einmal auf solchem Gebiete sich bewegt, wenn auch nicht geradezu in wissenschaftlichem Tone sprechend, doch durchdrungen sein muß –vorerst untersuchen, ob wir mit den ‫ אכֹ ׄתג‬und dem Talmud auf einem gemeinsamen Grund und Boden der religiösen Anschauung stehen, und ob unsere religiöse Anschauung Formen überhaupt und welche nothwendig mache. So lange die Grundanschauung getrennter Zeitepochen ihrem innersten Kern und Wesen nach dieselbe bleibt, werden, da der Mensch sich doch immer äußerlich und innerlich verändert, die Formen in verschiedenen Zeiten verschiedene anregende Kraft äußern und deshalb jedesmal zeitgemäß verändert werden müssen. Ist aber die Grundanschauung völlig eine andere geworden, so werden all die Formen, welche aus dem innersten Kern und Wesen der ehemaligen Anschauung sich entwickelten und ihr vollkommen angemessen waren, jetzt gänzlich wegfallen müssen. Da nun dies in Bezug auf das Verhältniß unserer religiösen Anschauung zu der des Talmuds wirklich der Fall ist, so können wir die talmudisch zeitgemäße Umbildung des Ceremonialgesetzes, selbst dann, wenn wir diese Umbildung der Kritik unserer Zeitgemäßheit wiederum unterwerfen, dennoch nicht für unsere Zwecke gebrauchen, da wir nach unserer Anschauung ein Ceremonialgesetz überhaupt für überflüssig halten. Das Beispiel der ‫ אכֹ ׄתג‬und des Talmuds spricht also nicht Ja! Sondern Nein; es müßte denn sein, daß die ‫אכֹ ׄתג‬ und der Talmud ihren Standpunkt wirklich gänzlich verlassen und auf den unserigen sich stellen, was Herr Dr. Herzfeld in der That die Schatten der Talmudisten uns zurufen zu hören glaubt, „daß wir es freimüthiger thun, daß wir die Umwege

23 ‫ – אכֹ ׄתג‬Die Männer der Großen Versammlung, das autoritative Entscheidungsgremium des Judentums zwischen der Zeit der Propheten und dem Beginn des Rabbinismus nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels.



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verschmähen sollen, was sie nicht durften.“ Was sie nicht durften, werden sie gewiß uns nicht gestatten; sollten sie aber, wie Herr Dr. Herzfeld meint, unsere Zeit als eine lichte, ihre als eine finstere anerkennen, so würden sie gewiß nicht wie Herr Dr. Herzfeld ausrufen: der Talmud hat Recht, sondern: wir wandelten im Finstern und hatten Unrecht. Herr Dr. Herzfeld scheint uns aber nur im Schatten der lichten Ideen des Fortschrittes zu wandeln und ist bei anzuerkennendem Streben doch immer noch nicht mit sich selbst ins Klare gekommen. Aber noch mehr als die Schatten der Talmudisten machen die Schatten Mendelssohns Herrn Dr. Herzfeld bange, weil sie mehr als jene in unsere Zeit hereinreichen. „Mendelssohn“ sagt Herr Dr. Herzfeld, „hat einmal gesagt, Gott habe durch Offenbarungen seine Gesetze gegeben, diese Gesetze seien unabänderlich, bis er durch eine neue Offenbarung sie zurücknehme.“ Auch aus dieser Verlegenheit wollen wir Herrn Dr. Herzfeld leicht helfen, doch zuerst zusehen, wie er sich selbst zu helfen sucht. „Das war“, meint Hr. Herzfeld, „ein unklares Wort von dem großen Manne!“ Jadeß hat sich Mendelssohn über wenige Punkte mit so großer Klarheit, als über diesen, ausgesprochen, und wenn Herr Dr. Herzfeld weiter einwendet, daß die allgemeine Ueberzeugung eines Jahrhunderts auch eine Offenbarung, daß die Uebereinstimmung der Sachverständigen auch eine Offenbarung sei, so hat Mendelssohn für seine Zeit mit großer Klarheit gesprochen, in der die Ueberzeugung vom Gegentheil nicht nur nicht allgemein, sondern auch nicht partikulär vorhanden war und in keines Sachverständigen Bewußtsein sich regte. Und ist denn die Ueberzeugung heute schon so allgemein, um als eine Offenbarung zu gelten? Was wird Herr Raphael Hirsch, was Herr Frankel, was Herr Goldmann, Rabbiner zu Eschwege, zu dieser Allgemeinheit sagen?24 Und wie steht es wieder mit dem Beweise aus dem Talmud: ‫ניטלה נבואה מן הנביאים וניתנה‬ ‫?לחכמים‬25 Herr Dr. Herzfeld, auf der Höhe der Zeit und der gebildeten Anschauung stehend, wird doch den talmudischen Satz von dem Uebergang der Prophetie auf die Weisen dahin nothwendig beschränken müssen, daß nur jüdische Weisen in Besitz derselben gelangt seien, weil, wenn dies im Allgemeinen gälte, wir dem Offenbarungsgeiste der christlichen Weisen weichen müßten. Kann er nun bei so bewandten Umständen den talmudischen Satz im Interesse des Fortschrittes für unsere Zeit gebrauchen? Und wie hat denn jener talmudische Homilet diesen

24 Samson Raphael Hirsch (1808–1888), Zacharias Frankel (1801–1875), zur Zeit dieser Schrift Oberrabbiner von Sachsen, und Philipp Goldmann (1808–1894), Kreisrabbiner in Eschwege, galten Holdheim als konservative Theologen. Goldmann findet hier offenbar Erwähnung wegen seiner auf der Rabbinerkonferenz 1844 in Braunschweig geäußerten reformkritischen Ansichten. 25 bT Baba Batra 12a: Die Fähigkeit der Weissagung wurde von den Propheten genommen und den Weisen (den Rabbinen) gegeben.

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Spruch gemeint? ‫משחרב בית המקדש‬, sagt er,26 ist diese Transferirung des Offenbarungsgeistes vor sich gegangen, und wird im Messiasreich zur ursprünglichen Quelle zurückkehren. Und sind denn die ‫ חכמים‬allein so glücklich gewesen, prophetischen Geist zu erhalten? Auch die ‫ שוטים‬waren es, welches beweist, was für ein Bewandtniß es mit solchen talmudischen Sprüchlein habe.27 Und darauf soll unsere Berechtigung zur Abschaffung des Ceremonialgesetzes fußen? Doch Mendelssohn hat jenen der Reform so sehr im Wege stehenden Ausspruch gethan! Mendelssohn ist für unsere Zeit eine größere Autorität als der Talmud. Männer, wie Reggio, Zunz, Luzzatto, die sich – wenigstens die zwei ersten – mit dem Schilde des Talmuds nicht sicher gedeckt glauben, berufen sich auf diesen Ausspruch Mendelssohns28; er muß also widerlegt werden. Das fühlt Herr Dr. Herzfeld und darin hat er Recht. Man kann heutiges Tages keinen Schritt vorwärts thun, so lange diese Festung hinter dem Rücken nicht eingenommen ist. Allein warum beruft sich Herr Dr. Herzfeld, da er so viele Offenbarungen wie die Pallas aus dem Haupte Jupiters geboren werden läßt, nicht auch auf die Offenbarung durch die achtzehnhundertjährige Geschichte, welche die Abstellung des Ceremonialgesetzes, wenigstens seinem größten Theile nach, so laut und vernehmlich, so öffentlich und feierlich, proklamirt? Den Rabbinen gegenüber hält diese Offenbarung der Geschichte deshalb nicht Stich, weil auf ihrem Standpunkt dies keine Abstellung, sondern nur eine Aufschiebung sei. Mendelssohn gegenüber, der hinsichtlich einer absoluten Wiederherstellung des ganzen ehemaligen theokratischen Zustandes im Messiasreiche mit den Rabbinen schwerlich sympathisirt, der diesen Satz nicht dogmatisch wie die Rabbinen, sondern philosophisch zu begründen sucht: Gott habe seine Gesetze feierlich offenbart; sie müssen so lange als verbindlich gelten, bis Gott selbst sie eben so feierlich wieder abstellt, Mendelssohn kann man wohl die Frage entgegenstellen: Durch welche Feierlichkeit hat Gott den Opferkultus mit allen daran hängenden Gesetzen abgestellt, wenn nicht durch die feierliche That der Geschichte? Gott stellt Gesetze ab, wenn er den Boden ihrer Anwendung ihnen entrückt, wenn er Zeiten und Lebensverhältnisse dergestalt verändert, daß jene Gesetze ihrem ursprünglichen Geiste nach entweder gar nicht ausgeübt, oder nur geistlos ausgeübt werden können. Für die agrarischen Gesetze ist das Land der B oden ihrer

26 Nach der Zerstörung des Tempels. 27 Nicht nur den Weisen, auch den Narren. (bT Baba Batra 12b). 28 Isaak Samuel Reggio (1784–1855), italienischer Religionsphilosoph und Gründer des ersten europäischen Rabbinerseminars in Padua (1829); Leopold Zunz (1794–1886), der eigentliche Begründer der Wissenschaft des Judentums, Samuel David Luzzatto (1800–1865), italienischer Exeget und Hebraist.



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Anwendbarkeit, für den weit größeren Theil des Ceremonialgesetzes sind die Zeitumstände und die Lebensverhältnisse der geistige Boden seiner Erfüllung. Wie Gott jene an das Land geknüpften Gesetze dadurch feierlich und zweifellos abstellte, daß er uns das Land entzogen, so hat er die übrigen mit gleich großer Feierlichkeit abgeschafft, daß er alle jene Lebensverhältnisse, welche Voraussetzungen der Theokratie waren, selbst zerstört und für uns ganz andere geschaffen hat. Oder müßte man im Messiasreich wieder mit Ochsen dreschen, um das unter solcher Voraussetzung gewiß von großem Zartsinne zeugende Gesetz: „Du sollst dem Ochsen nicht das Maul verschließen, wenn er drischt“, buchstäblich erfüllen, keine andere als platte Dächer haben, um das Polizeigesetz: mache eine Lehne an deinem Dache, wörtlich ausüben zu können?29 Den Rabbinen wird es freilich nicht schwer werden, hierauf zu entgegnen: ein Gesetz, welches nicht aufgehoben ist und nur deshalb nicht ausgeübt werden kann, weil die Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit fehlen, ist darum nicht minder ein ewiges zu nennen; das Gesetz besteht, und muß, wenn seine Anwendung an sich, oder herbeizuführen möglich wird, ausgeübt werden. So erklärt Maimonides in seinem Sepher ha-Mizwoth, das Gesetz, die sieben kanaanitischen Völker auszurotten, als ein e w ige s ‫נוהגת לדורות‬, in aller Zukunft fortdaurendes, obgleich keine solche kanaanitische Seele schon jetzt mehr existirt.30 Allein zu solchen haarspaltenden Unterschieden muß die rabbinische Sophistik ihre Zuflucht nehmen, um einerseits die bestimmte Anzahl von 248 Geboten und 365 Verboten herauszubringen und andererseits diesen ihre, wenn auch nur nominelle Ewigkeit zu sichern. Mit dieser haben wir es aber jetzt nicht zu thun, sondern mit dem ehrlichen, geradsinnigen Mendelssohn, der die Ewigkeit des Ceremonialgesetzes aus einem allgemeinen Satz abzuleiten sucht, ohne auf die specielle Natur der Sache einzugehen, für welche jener allgemeine Satz Anwendung haben soll. Mendelssohns allgemeinem Satz: was Gott geboten, kann nur Gott wieder aufheben, dürfen wir wohl das Beispiel jener Gesetze, welche Gott für das Leben Israels in der Wüste angeordnet, die mit diesem Leben, als dem Lebensboden ihrer Erfüllung, wieder von selbst aufhörten, was selbst die Rabbinen zugeben und wovon Maimonides in der erwähnten Stelle ein Beispiel anführt: ‫כמו לוי זקן שהיה פסול במדבר והוא כאשר‬ ‫ אצלנו היום‬entgegenhalten und auf die theokratischen Gesetze anwenden.31 Der

29 Vgl. Deuteronomium 25, 4 und 22, 8. 30 Maimonides, Sefer haMitzwot, Gebot Nr. 187. Maimonides ist sich des Problems allerdings bewusst und erklärt sich nach eingehender Abwägung der Gegenmeinung trotzdem für eine (theoretische) Fortdauer der Gültigkeit des Gebotes. 31 „Und das ist für uns heute so wie ein alter Levite, der in der Wüste untauglich [für den Opferdienst] war …“

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Geist solcher Gesetze, in so fern er wie in den zwei oben angeführten Beispielen ein rein religiöser ist, wird in aller Ewigkeit fortdauren und in andern, jeder Zeit passenden, Formen nach Außen hin in den Lebensverhältnissen sich offenbaren. Mag der Ochs nie wieder zum Dreschen gebraucht werden, das schonende Zartgefühl gegen Thiere wird immer als reinmenschliches und darum religiöses geehrt werden. Mögen die Dächer geformt sein, wie sie wollen, der Gedanke, daß in meinem Hause kein Menschenleben gefährdet werde, bleibt darum nicht minder ein ewig wahrer und die darauf bezüglichen Gesetze müssen unaufhörlich in einer den Umständen angemessenen Weise zur Anwendung kommen. In so fern den mosaischen Gesetzen aber eine nationale und volksthümliche Vorstellung zu Grunde liegt, welche nur in der Theokratie eine ephemere Existenz hatte und außerhalb derselben längst aus dem Bereiche der mosaischen Religion von Gott ausgesondert worden ist, können sie schon jetzt auf keine Art von Geltung Anspruch machen. Der kindische Ernst der Rabbinen besteht darin, daß sie das Interesse der Religion an das numerische Verhältniß der Gebote und Verbote knüpften, daher sie die Gebote zählten und von ihnen Register anfertigten, die höchsten Fundamentalgesetze, den gediegensten Kern der Religion wie Gottesliebe, Nächstenliebe, mit der Spreu wesenloser Ceremonialhandlungen, die Ingredienzien der Salben und des Räucherwerkes betreffend, in eine Rubrik einregistrirten, so daß nach ihnen die Intensität des religiösen Lebens nach der Extension und dem Zahlenverhältniß der ausgeübten Gebote bemessen wird. Derjenige, der mit dem Ochsen drischt und ihm den Mund nicht verschließt, ein plattes Dach bauet und daran ein Geländer macht, hat für die Erfüllung des Gesetzes Lohn zu erwarten, während derjenige, welcher aus demselben Grunde lieber mit dem Ochsen gar nicht drischt und ein schiefes Dach bauet, das Gesetz, wenn auch nicht übertreten, doch nicht erfüllt hat. Daß dieser Ausspruch Mendelssohns einseitig und falsch ist, haben wir in unsern bisherigen Schriften klar genug nachgewiesen. Diese hätte Herr Dr. Herzfeld zur Beseitigung des auch ihm anstößigen Ausspruches Mendelssohns gebrauchen und nicht durch unhaltbare und nichtssagende Talmudsprüche neue Offenbarungen schaffen sollen. Da jedoch gerade dieser Ausspruch Mendelssohns in neuerer Zeit so vielfach von den Vertheidigern des Ceremonialgesetzes ausgebeutet worden ist, welcher Recurs vom Talmud an Mendelssohn übrigens ein lautes Zeugniß von der Schwäche und Mattherzigkeit des talmudgläubigen Bewußtseins ablegt, so wollen wir sehen, welches Gewicht Mendelssohn selbst auf diesen seinen Ausspruch legte. Mendelssohn erklärt bekanntlich in seinem Jerusalem das Ceremonialgesetz als eine Schriftart und Zeichensprache. „Die große Maxime dieser Verfassung“, sagt er dasselbst, „scheint gewesen zu sein: Die Menschen müssen zu Handlungen



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getrieben und zum Nachdenken nur veranlaßt werden.“32 Wenn nun diese Erklärung des Ceremonialgesetzes als Schriftart, die seine Bedeutung nicht bloß auf die Grenzen der Theokratie einzuschränken, sondern auch außerhalb derselben als allgemein gültige hinzustellen scheint, sich nur auf jene Maxime stützt, so wird es sich zuvörderst fragen, ob denn der Grundsatz: die Menschen müssen zu Handlungen getrieben und zum Nachdenken nur veranlaßt werden, welcher in seiner speciellen Anwendung und Beweiskraft für Religionshandlungen hier nicht Anderes sagen will, als daß die Menschen, um sie zum Nachdenken zu veranlassen, zu Handlungen getrieben werden müssen, in seiner Allgemeingültigkeit ein so ewig wahrer Satz sei? Es kann zugegeben werden, daß in Bezug auf die ehemaligen Verhältnisse der Israeliten es allerdings wahr gewesen sein konnte, daß, um diese zum Nachdenken zu veranlassen, sie erst dazu durch Handlungen, nämlich Ceremonialgesetze, „mit deren alltäglichem Thun und Lassen religiöse und sittliche Erkenntnisse verbunden seien“, getrieben werden mußten. Ist dies aber immer und ewig und auch heute noch der Fall? Müssen auch die heutigen Menschen oder Juden, um zum Nachdenken veranlaßt zu werden, um sittliche und religiöse Erkenntnisse in ihrem Gemüthe zu entwickeln, zu Handlungen überhaupt und zu diesen bestimmten Ceremonialhandlungen getrieben werden? Kann nicht auch eine symbolische Schriftart oder Zeichensprache, welche die Mängel anderer Schriftarten nicht theilt und, so lange sie ihrem Zwecke nach zur Hervorbringung sittlicher und religiöser Erkenntnisse nöthig ist, lebenskräftiger wie jede andere Art Belehrung wirkt, doch am Ende überflüssig und bedeutungslos werden, wenn der Menschengeist größere und selbstständigere Kraft erlangt hat und auch ohne diese äußerlichen Anregungsmittel sich zum Nachdenken von selbst angetrieben fühlt? Hat das Ceremonialgesetz einst eine solche anregende Kraft besessen, warum sollte es den Menschen nicht auch so weit haben bringen können, auf eigenen Füßen zu stehen und das Ceremonialgesetz gänzlich zu entbehren? War es die Kraft des Ceremonialgesetzes, welches Mendelssohn zum Nachdenken veranlaßte? Ich glaube, wenn Mendelssohn nicht durch seine christlichen Zeitgenossen zum Kampfe gereizt und zum tiefern Nachdenken über die Wahrheiten des Judenthums angeregt worden wäre, er hätte wahrscheinlich durch die bloße Anregung des Ceremonialgesetzes allein, sein vortreffliches Jerusalem zu schreiben, keine Veranlassung gefunden. Aber diese Erklärung des Ceremonialgesetzes als Schriftart gehörte zu den Lieblingstheorieen Mendelssohns, und sie steht auch bei dem gelehrten Zunz noch heute in so hohem Ansehen, daß wir von diesem eine Ausführung der von Mendelssohn lückenhaft gelassenen Ritualgesetze der Juden mit Sicher-

32 Vgl. Mendelssohn, Jerusalem, 114.

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heit erwarten dürfen. In seiner Vorliebe für diese Theorie, die er in einem Briefe an Herz Homberg nicht erschöpfender behandelt zu haben bedauert, erklärt er am Schlusse, daß die Ceremonialgesetze nicht aufgehoben werden dürfen, bis es „dem allerhöchsten Gesetzgeber gefallen wird, uns seinen Willen darüber zu erkennen zu geben; so laut, so öffentlich, so über alle Zweifel und Bedenklichkeiten hinweg zu erkennen zu geben, als er das Gesetz selbst gegeben hat.“33 Diejenigen, welche sich hierauf berufen, übersehen zuvörderst, daß diese Argumentation allenfalls nur für das Gesetz, wie es in der Bibel geschrieben steht, angewandt werden kann; für das Ceremonialgesetz nach rabbinischer Auffassung und im Sinne talmudischer Schrifterklärung ist sie dagegen völlig unbrauchbar, da diese angebliche Tradition, worauf das rabbinische Judenthum basirt ist, keinesweges so laut, so öffentlich, so über alle Zweifel und Bedenklichkeiten hinweg von Gott selbst offenbart worden ist, daß wir bei deren Abschaffung so ängstlich erst eine neue Offenbarung erwarten müßten. Welchen Querstrich dieses durch die Rechnung der Apologeten mache, wie sie mit ihrer Berufung auf Mendelssohn, der das Judenthum nur den Christen gegenüber, mithin nur die Bibel zu vertheidigen hatte, das rabbinische Judenthum blosstellen und preisgeben, scheinen sie bei aller Stärke im Felde literar-historischer Kritik nicht geahnt zu haben. Wie die rabbinischen Zeitgenossen Mendelssohns, wenn ihnen sein Jerusalem zugänglich gewesen wäre, diese Ansicht aufgenommen hätten, können wir uns leicht vorstellen. In ihren Augen wäre es schon ein nicht geringer Frevel gewesen, die fortdaurende Gültigkeit des Ceremonialgesetzes mit philosophisch-rationalistischen Gründen stützen zu wollen, und hätten sie ihm eher seine Beweise für’s Dasein Gottes, über welches nachzudenken an sich und in so fern eine Vernachläßigung des Talmudstudiums damit nicht verbunden ist, nicht als Sünde galt, als den Beweis für das Ceremonialgesetz verziehen. Bei seinen denkend e n Zeitgenossen scheint aber diese Ansicht Mendelssohns keineswegs solchen Beifall gefunden zu haben, wie es heute bei vielen der Fall ist. Auch scheint Mendelssohn selbst der Kraft seiner Beweise für die absolute Ewigkeit des Ceremonialgesetzes, weil es Gott gegeben und nur von Gott zurückgenommen werden kann, nicht so unbedingt zu vertrauen. In einem Briefe an Herz Homberg, der ihm dagegen, da Mendelssohn sie nicht zu behaupten sucht, triftige Einwendungen gemacht haben muß – leider sind diese in dem Briefe nicht angeführt – ist folgende Stelle für das Einlenken Mendelsohns charakteristisch: „Ueber die Nothwendigkeit der Ritualgesetze“, schreibt er an Herz Homberg „sind wir nicht einerlei Meinung. Wenn auch ihre Bedeutung als Schriftart oder Zeichensprache ihren Nutzen verloren hätte (wahrscheinlich soll dies den dieses Verloren-

33  Ebenda, 128.



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gegangensein betreffenden Entgegnungen Hombergs gelten), so hört doch ihre Notwendigkeit als Band der Vereinigung nicht auf, und diese Vereinigung selbst wird in dem Plane der Vorsehung, nach meiner Meinung (am Ende läuft alles auf eine subjektive Meinung von den Planen der Vorsehung hinaus; statt solcher ist es aber besser, die objektiven Thatsachen der Geschichte reden zu lassen), so lange erhalten werden müssen, so lange noch Polytheismus, Anthropomorphismus und religiöse Usurpation den Erdball beherrschen. So lange diese Plagegeister der Vernunft vereinigt sind, müssen auch die ächten Theisten eine Art von Verbindung unter sich stattfinden lassen, wenn jene nicht alles unter den Fuß bringen sollen. Und worin soll diese Verbindung bestehen? In Grundsätzen und Meinungen? Die haben wie Glaubensartikel, Symbole, Formeln, die Vernunft in Fesseln. Also Handlungen, d. i. Ceremonien. Unsere Bemühung sollte eigentlich nur dahin gehen, den eingerissenen Mißbrauch abzuschaffen und den Ceremonien ächte, gediegene Bedeutung unterzulegen, die Schrift wieder leserlich und verständlich zu machen, die durch Heuchelei und Pfaffenlist unverständlich geworden.“34 Hier haben wir es deutlich, wie Mendelssohn selbst jene mit so vielem Nachdruck ausgesprochene Ansicht von der absoluten Ewigkeit des Ceremonialgesetzes, weil Gott es so feierlich, so öffentlich und selbst offenbart, als unhaltbar wieder aufgiebt und dessen Bestand nur für so lange als Polytheismus, Anthropomorphismus und religiöse Usurpation den Erdball beherrschen, als eine Art von Verbindung, gleichsam als Parole der ächten Theisten für nöthig erklärt. In dem Augenblick, als der ächte Theismus oder Monotheismus zur Herrschaft auf Erden gelangt, nämlich im Messiasreiche, müsse jene Art der Verbindung der ächten Theisten unter sich, da eine solche ohnehin nicht mehr besteht, als überflüssig und mit ihr das Ceremonialgesetz, ohne daß eine besondere Offenbarung hierzu noch nöthig ist, gänzlich wegfallen. Da ein solcher Umschwung nicht wie ein deus ex machina mit einem Schlage, sondern nur allmählig geschehen kann, so muß dieser Ansicht zufolge in dem Maße als der Kreis ächter Theisten größer, d. h. in dem Verhältnisse, als das Messiasreich immer größere Fortschritte macht, auch die besondere Verbindung der ältern, ächten Theisten unter sich lockerer und ihre Parole, das Ceremonialgesetz, immer bedeutungsloser werden. In einem andern Briefe, ebenfalls an Herz Homberg gerichtet, kommt Mendelssohn wieder auf das Thema von der Nothwendigkeit des Ceremonialgesetzes zu sprechen, und zwar in einer Weise, welche deutlich genug zeigt, daß die letztgenannte Erklärungsweise bei ihm vorherrschend geworden war. Er spricht nämlich davon, wie dem Aushängschilde der Toleranz wenig zu trauen sei und die Bekehrungssucht immer dahinter stecke. „Desto nöthiger“, sagt er am Schlusse, „wäre es

34  Mendelssohn, Gesammelte Schriften (JubA), Bd. 13, 134.

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doch in diesem Falle, daß das kleine Häuflein derer, die nicht bekehren, auch nicht bekehrt sein wollen, sich zusammendränge und fest aneinanderschließe, und wodurch? – Ich werde wieder auf die Nothwendigkeit des Ceremonialgesetzes geführt, wenn nicht Lehrmeinungen in Gesetze verwandelt, und symbolische Bücher gemacht werden sollen.“35 Man sieht hieraus, wie ehrlich und ernst Mendelssohn es mit dem Ceremonialgesetz meinte. In seiner absondernden Kraft sah er eine Schutzwehr gegen die übergreifende Gewalt des Christenthums. „Es ist das Vereinigungssystem“, sagt er an einem andern Orte „der Wölfe, die sich mit den Schafen so sehr zu vereinigen wünschen, daß sie aus Schaf- und Lammfleisch gern Wolfsfleisch machen möchten.“36 In seiner Zeit sah es im Innern des Judenthums noch dumpf und düster aus; das Ehrgefühl, Jude, Monotheist zu sein, war in seiner reinen und höheren Bedeutung noch nicht erwacht; das reine und höhere Glaubensbewußtsein, welches in den erhabenen Ideen der jüdischen Religion und ihrer großartigen Geschichte wurzelt, lag im Allgemeinen noch hinter der Eisdecke des Ceremonialgesetzes in seinen absondernden Tendenzen erstarrt. Von der andern Seite war Mendelssohn gegen die ersten, schwachen Aeußerungen der Toleranz gegen die Juden noch sehr mißtrauisch, sah in denselben nur die verdeckte Lust, sie ins Christenthum hinüber zu locken. An einen ernsten Willen der bürgerlichen Befreiung der Juden von ihrem mittelalterlichen Druck konnte Mendelssohn zu seiner Zeit nicht glauben und war ein solcher in der That noch nicht vorhanden. Dohm war der erste deutsche Mann, der ihr das Wort geredet und trotzdem, daß man seinen Humanitätseifer und heldenmüthigen Edelsinn, für die Geächteten Freiheit zu fordern, allgemein bewunderte, fand er nichts desto weniger allgemeinen Widerspruch. Die großartigen Ideen der Gewissens- und Glaubensfreiheit, wie sie in Nordamerika, Frankreich, Holland später auch in Bezug der Juden ins Leben traten und sich verwirklichten, waren Mendelssohn noch unbekannt. Er kannte sie nur als Geburten seines Geistes und seiner philosophischen Weltanschauung. Die Idee einer Abschaffung des Ceremonialgesetzes im Interesse des religiösen Lebens und Denkens der Juden war für Mendelssohn noch nicht vorhanden; eben so wenig der Conflikt zwischen dem jüdisch nationalen Bewußtsein mit einem innigen und ernst gemeinten Anschluß an das politische und volksthümliche Leben der Gegenwart. In der Aufgebung des Ceremonialgesetzes für den Einzelnen konnte Mendelssohn nur die rein materialistische Gesinnung, das Verlangen nach Ungebundenheit des Lebensgenusses – das ihm in der That

35 Mendelssohn, Gesammelte Schriften (JubA), Bd. 13, 179. (Brief an Herz Homberg vom 1. 3. 1884.) 36 Mendelssohn, Gesammelte Schriften (JubA), Bd. 13, 134.



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als ein sehr verwerfliches Motiv erscheinen mußte – gewahren, für die Gesammtheit aber die Gefahr erblicken, derselben den positiven Boden entrückt und sie um so leichter für einen andern Glauben gewonnen zu sehen. Daher sah er in dem Ceremonialgesetz das Band der Einigung, die Parole, woran die Gleichgesinnten sich wieder erkennen und zum Widerstand sich ermuntern, den Talisman des ihm mit Recht über Alles heiligen Monotheismus. Mendelssohn fühlte und sprach aus dem Bewußtsein seiner Zeit, und so hoch er auf ihr stand, konnte er sich doch nicht über sie in ein damals wesenloses Gebiet erheben, und würde, wenn er heute lebte und den ganzen Umschwung der Ideen inner- und außerhalb des Judenthums mit erlebte, sicherlich ganz anders sprechen. Man hat immer Unrecht, wenn man in Dingen, die auf inneren Anschauungen beruhend, aus dem Zusammenhang und dem ganzen Complex der Zeitvorstellungen nicht herausgerissen werden können, Aussprüche von Männern, die in einer andern Zeit lebten, in welcher das jetzt zur Gestaltung und Reife Gekommene noch in den ersten embryonischen Entwickelungsphasen gährend schlummerte, als Autorität anführt. So groß und weise Mendelssohn war, mußte er nach der eigenthümlichen Stellung, die er zu seinen jüdischen Zeitgenossen einnahm, über das Ceremonialgesetz so denken und sprechen, wie er gedacht und gesprochen, nämlich die Aufgebung desselben für seine Zeit für unmöglich, wie im Jerusalem, oder für unthunlich, wie in den Briefen, erklären und für dasselbe nur eine zeitgemäße Umgestaltung und Umbildung wünschen. Mendelssohn verarbeitete den letzten Rest einer untergehenden Philosophie und sah nicht ohne Grauen die alles zermalmende kritische Schule ihren Thron auf die alten Trümmer aufrichten. Wäre er in der Kritik geboren, er würde nicht gerathen haben die Schriftart oder die Zeichensprache des Cermonialgesetzes wieder aufzuputzen und leserlich und verständlich zu machen, oder, wie er sich noch weiter ausdrückt, den Ceremonien ächte und gediegene Bedeutung unterzulegen, sondern vielmehr ihre Unterlage, die ihnen zu Grunde liegende religiöse Anschauung kritisch zu prüfen und für den aus solchem Feuer der Kritik geretteten gediegenen Gehalt neue Formen, wenn solche überall als nöthig befunden würden, zu schaffen. Es muß – um wieder auf die Predigten des Herrn Dr. Herzfeld zu kommen – als eine eigenthümliche Schwäche dieses wackern Gelehrten gerügt werden, die ihn nicht zu einem sichern und festen Standpunkt gelangen läßt, und immer, wo er eine entschieden liberale Ansicht ausgesprochen, die ihm die herzlichsten Sympathien aller Vernünftigen und Einsichtigen gewonnen, hat er nichts Eiligeres zu thun, als sein eigenes Gebäude zu zerstören und zum innigsten Leidwesen seiner Verehrer, durch eine hinzugefügte Wendung ihn wieder von sich selbst abfallen zu sehen. So macht er es auch in dieser sonst vortrefflichen Predigt. Nachdem er über Mendelssohn so weit hinausgegangen ist, dessen Ausspruch als einen unklaren bezeichnet, den Einbruch des Messiasreichs verkündigt, als Vor-

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läufer desselben den Menschen das: thut Buße, das Messiasreich beginnt, das Gottesreich naht, d. h. werfet weg das absondernde und trennende Ceremonialgesetz, welches eine Scheidewand zwischen euch und eurem himmlischen Vater bildet, zugerufen hat, sehen wir ihn wieder urplötzlich zu dem alten Standpunkt Mendelssohns zurückkehren und hören ihn seine wenigstens schon in den Vorhof des Messiasreiches erhobenen Zuhörer wieder von den Pforten desselben zurückweisen und ihnen zurufen: „Noch muß Israel für sich stehen, und noch müssen, auf daß es für sich stehe, mancherlei trennende Ceremonien in Uebung bleiben, nur das habe ich sagen wollen, daß manche wieder jener trennenden Ceremonien nicht mehr nöthig sind.“ Ist noch je etwas Schwankenderes von einem erleuchteten Lehrer seiner Gemeinde zugerufen worden! Warum sollen noch jetzt trennende Ceremonien bestehen müssen? Und warum, wenn solche überhaupt nöthig sind, wieder manche bestehen und manche fallen müssen? Auf die erste Frage antwortet Herr Dr. Herzfeld: „weil die Töchterreligionen noch einen Läuterungsproceß durchzumachen haben, weil diese noch nicht so dastehen, daß wir eine völlige Verschmelzung mit ihnen anstreben dürften.“ Aber das eine wie das andere ist falsch. Wenn die Tochterreligionen noch einen Läuterungsproceß durchzumachen haben, um den Monotheismus so rein und hehr, wie wir, zu bekennen und im Leben durch umfassende Bruderliebe anzuwenden, so müssen wir ihnen ja um so eher durch unser Beispiel von der Wirksamkeit unserer reinen religiösen Vorstellung auf liebevolle und brüderliche Vereinigung behülflich, wenigstens nicht durch das Beispiel gleicher engherziger Trennung hinderlich sein, um zur rechten Erkenntniß zu gelangen. Wenn sie noch nicht so dastehen, wie sie stehen sollen, so müssen wir um so mehr eine innige Verschmelzung mit ihnen anstreben, um durch unsere schrankenlose Menschenliebe, durch die ächte Duldung ihnen zu jenem Standpunkt zu verhelfen. Die Geschichte lehrt, wie Absonderungsgesetze die Kluft zwischen Menschen und Menschen immer größer und unübersteiglicher machen; eben deshalb, weil die Töchterreligionen über jene Glaubensschranken sich nicht erheben können, müssen wir, die wir größere Fortschritte im Messiasreiche machten, durch das lebendige Beispiel sie über dieselben hinweg zu heben suchen. Haben wir, so lange diese Vereinigung mit ihnen unmöglich war, d. h., so lange der Polytheismus, eine verderbliche Macht über den Menschen ausübend, uns selbst zu verschlingen drohte, uns enger aneinander schließen und um desto kräftiger Widerstand zu leisten, uns zusammenpressen müssen, um als ächte Monotheisten zusammen zu halten und eine bessere Zukunft abzuwarten; haben wir ferner, so lange die Verwandlung des Polytheismus in die partikularistische und absondernde christliche Anschauung uns feindlich von sich stieß, im Bewußtsein unserer eigenen Würde gleichfalls jeden Schein von Aufdringlichkeit vermeiden und mit unserer universalen Menschenliebe, da man sie zurückstieß, zurückste-



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hen müssen: warum sollen wir nicht jetzt, wo von der einen Seite die Gefahr gewichen und die Pflicht der Selbsterhaltung keine solche Rücksichten mehr gebietet, von der andern Seite unser Entgegenkommen nicht mehr so allgemein wie ehemals feindlich zurückgewiesen wird, wo auch bei unsern christlichen Brüdern die engherzige partikularistische Anschauungsweise von der ausschließenden Würdigkeit und Berechtigung der christlich religiösen Ueberzeugung dem Gedanken allgemeiner Menschenliebe und allgemeinen Menschenrechtes zu weichen beginnt, mit der Idee der universalen Liebe und brüderlicher Vereinigung der Menschenwelt ihnen entgegenkommen? Warum sollen wir warten, bis diese Idee auch außerhalb unserer Kreise zur vollen Geltung und Anwendung gekommen sein wird? Wer eine Wahrheit zuer st gefunden, der lege sie zuer st auf den Altar der Menschheit nieder und zögere nicht, bis diese Wahrheit auch ohne ihn auf schwierigen Umwegen gefunden sein wird; sein Verdienst, sie gefunden zu haben, geht verloren, wenn er, statt sie zu verbreiten, in seiner Brust sie tief verschlossen hält. Ist die Wahrheit eine Lebenswahrheit, die praktisch werden soll, so muß man um so mehr eilen, sie im Leben zu verwirklichen und durch das lebendige Beispiel ihre Kraft darzuthun. Warum sollen wir mit dem Anstreben einer innigen Verschmelzung harren, bis auch Andere ihren Werth einsehen werden, wenn in unserem religiösen Denken und Fühlen kein Hinderniß mehr enthalten ist? Freilich sich aufzudringen, wird jeden das Ehrgefühl von selbst abhalten; aber die Erklärung dieser religiösen Thunlichkeit, daß von Seiten der Religion solchem Streben nichts im Wege stehe, dürfen wir niemand vorenthalten, wenn sie bei uns als Wahrheit feststeht. Wir Juden haben um so mehr eine höhere Pflicht, mit dem Gedanken des Universalismus, mit den Ideen, die im Messiasreich ihre allgemeine Geltung erhalten sollen, allen andern Konfessionen voranzugehen, als wir uns ja von Urbeginn dazu berufen glauben, durch unsere Erwählung das Messiasreich dereinst möglich zu machen und es durch unsere Geschichte vorzubereiten. Wir dürfen also jetzt, da wir aus dem gesetzlichen Partikularismus in den messianischen Universalismus übergegangen sind, um so weniger anstehen, dies allen Andern zu verkündigen, und namentlich denen, bei welchen jener gesetzliche Partikularismus nur in einen andern sich verwandelte, und dürfen wir es nicht bei bloßer Verkündigung bewenden lassen, sondern müssen dies durch die That beweisen. Unsere messianische Idee ist ja nicht die, daß alle Menschen Juden, sondern daß die Juden Menschen werden würden, nachdem alle Uebrigen es geworden sind. Der christliche Partikularismus, weil er seine Auserwählung nicht an ein bestimmtes Volk, sondern an einen bestimmten Glauben bindet, steht höher – wir wollen das einräumen – als der gesetzliche, aber der messianische, der an den Menschen anknüpft, steht noch höher als der christliche. Wir sind dies Vorangehen ganz besonders den Bekennern des Christenthums schuldig, die ihren Partikularismus im Grunde doch nur dem Juden-

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thum zu verdanken haben. – Ist auch dieser mit uns nicht viel milder, als wir mit den Bewohnern Kanaans verfahren; muß auch das Christenthum, weil es im Judenthum nur den hinter ihm zurückgebliebenen gesetzlichen, nicht aber den ihm voraneilenden messianischen Standpunkt erblickt, dieses feindlich von sich als ein Verlebtes zurückstoßen, so wollen wir ihm doch dies mit Liebe vergelten und ihm durch diese Liebe beweisen, daß der Gedanke des Universalismus noch immer größer, als jeder noch so sehr verbesserte Partikularismus sei, wenn dieser auch über den gesetzlichen einen Vorzug behaupten mag. – Dann dürfen wir nicht vergessen, daß wenn auch alle christlichen Völker und Staaten uns von der Theilnahme an ihrem Völker und Staatsleben, weil sie uns als Fremde ansehen, zurückdrängen, wir doch deshalb noch immer kein besonderes, am allerwenigsten das ehemalige jüdische Volk bilden und daher jene Vorstellungen eines auserwählten Volkes mit allen daran hängenden partikularistischen Gesetzen schon im Interesse der Reinheit unserer mosaischen Religion aufgeben müssen, wenn wir eben in dem Untergang unserer einstmaligen Volksthümlichkeit den Anfang des messianischen Reiches, in der Zerstörung des gesetzlichen Partikularismus den Grundstein zum Aufbau des auf reines Menschenthum gegründeten Universalismus erblicken wollen. Mögen daher die Töchterreligionen den Läuterungsproceß durchzumachen suchen, wie es ihnen beliebt, mögen sie auf dem Standpunkt ihres anders modificirten Partikularismus verharren und uns, da uns jenes christlich partikularistische Moment fehlet, von ihrem Volks- und Staatsleben immerhin ausschließen, so lange sie wollen, wir dürfen auf unserem Standpunkt, wenn wir diesen recht begreifen, von keiner trennenden Ceremonie reden, wir dürfen als Verkündiger und Vorläufer der messianischen Epoche unser eigenes Werk nicht zerstören. In uns muß jeder Mensch seinen Bruder finden; wir dürfen der Kraft der Wahrheit trauen, daß sie sich den Sieg über Vorurtheile schon selbst verschaffen werde, aber nicht durch unser eigenes engherziges Beispiel von einem Ueberrest des von Gott für immer vernichteten gesetzlichen Partikularismus der Wahrheit und der Liebe den Sieg erschweren und dem Aufbau des messianischen Reiches hinderlich in den Weg treten.

Sigismund Stern

Die Messiasidee des Judenthums Die Religion des Judentums in acht Vorlesungen, Berlin: Bernstein, 1846. 157-199 [Auszug] Sigismund Stern (1812–1867) hatte an der Berliner Universität bei Hegel und Schleiermacher studiert und wurde danach Direktor der Berliner jüdischen Knabenschule, später des Frankfurter Philantropins. 1845 war er Mitbegründer und einer der ideologischen Wortführer der Berliner Reformgenossenschaft. Aus einer Gruppe von jüdischen Intellektuellen hervorgegangen, die sich regelmäßig zu Sterns öffentlichen Vorlesungen über das Judentum zusammengefunden hatte, wurde die Genossenschaft zu einer der radikalsten Reformgemeinden Deutschlands. Die hier wiedergegebene Vorlesung Sterns zum Messianismus beschreibt die Idee der Sittlichkeit als Wesen der messianischen Hoffnungen im Judentum und deutet den Messiasgedanken zudem als das aus der religiösen Erkenntnis hervorgegangene Bewusstsein von der Aufgabe des Menschen.

Fünfte Vorlesung. Die Messiasidee des Judenthums. Nachdem mir längere Zeit nicht die Ehre zu Theil geworden, vor Ihnen zu sprechen, gestatten Sie mir wohl einen Augenblick zurückzuschauen auf den Weg, den wir bereits gemeinsam durchmessen haben, damit wir desto sicherer unsrem Ziele entgegenzuschreiten vermögen. Wir hatten es vor Allem als unsre Aufgabe erkannt, die Religion nicht als eine zufällige Erfindung des Menschengeistes, sondern als ein nothwendiges Element des menschlichen Daseins darzustellen, und sahen das Religionsbedürfnis, als ein Allen gemeinsames, aus dem innersten Wesen des Menschen, aus dem unabweisbaren Zwiespalt hervorgehen, dem er Preis gegeben ist, und aus dem er sich nur durch die Vorstellung eines vollkommensten, göttlichen Wesens emporzuringen vermag, in welchem er die Aufgabe gelöst findet, der er selbst als einem unerreichbaren Ziele unablässig nachzustreben hat. – Wir lernten diesen Zwiespalt in seiner dreifachen Gestaltung, in seiner dreifachen Stufenfolge kennen, und sahen aus dem Widerspruch der Nothwendigkeit gegen die menschliche Freiheit, die Vorstellung von der Allmacht Gottes hervorgehen, aus dem Kampf der Selbstsucht gegen die Sittlichkeit, die Vorstellung von der vollkommenen Tugend Gottes, und endlich aus dem Widerstande der Sinnlichkeit gegen die Macht des Gedankens, die Erkenntnis von der Unendlichkeit, von der Einheit und Unkör-

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perlichkeit des göttlichen Wesens sich entwickeln. Die ersten beiden Stufen des religiösen Bewußtseins stellten sich uns in den Naturreligionen des Orients und in der Götterlehre der griechischen und germanischen Vorzeit dar, die dritte und höchste Stufe der religiösen Entwickelung erkannten wir als die Gotteserkenntnis des Judenthums, und versuchten dieselbe in den Lehren des alten Testaments und besonders der mosaischen Offenbarung nachzuweisen. Aber in dem Judenthum selbst zeigten sich uns wiederum verschiedene Phasen der Entwicklung dieser höchsten Idee, indem dasselbe in seiner abgeschlossenen Selbstständigkeit, neben dem Heidenthum, nur die Errungenschaft seiner eigenen Erkenntnis auszubilden und zu befestigen hatte, nach der Auflösung des Gottesstaats aber die Aufgabe fand, einerseits die beiden früheren Stufen des religiösen Bewußtseins, durch die Vermittlung des Christenthums und des Islams zu seiner eigenen Höhe emporzuheben, und andererseits in seinem selbstständigen Fortbestehen neben diesen beiden, die Errungenschaft aller Religionen sich selbst anzueignen. Vollkommen den verschiedenen Stufen der Gotteserkenntnis entsprechend, stellte sich uns die Entwicklung der Sittlichkeitsidee in der Geschichte der Religionen dar, indem die Naturreligionen die Verwirklichung der menschlichen Freiheit durch die Ueberwindung der Natur und ihres Widerstandes auf der einen, und die Unterwerfung unter den höheren Willen der Gottheit, auf der andern Seite von dem Menschen forderten, während die Religionen der zweiten Stufe die Tugend in den Pflichten des Menschen gegen den Menschen, und in der Unterordnung des Einzelnen unter die höhere Gesammtheit des Staats erkannten, den Göttern gegenüber aber ehrfurchtsvolle Nacheiferung in Anspruch nahmen. Auf der höchsten und letzten Stufe der sittlichreligiösen Entwicklung gab sich uns endlich das Selbstbewußtsein, als die wahrhafte Grundlage der menschlichen Sittlichkeit kund, durch welche die Freiheit und die Tugend erst ihre wahrhafte Bedeutung gewinnen, und zu ihrer ungetrübten Verwirklichung gelangen können. In dem Sittengesetz des Judenthums also, wie es uns zunächst in den Vorschriften der mosaischen Lehre entgegentritt, stellt sich uns die Aufgabe dar, die Gotteserkenntnis, wie sie aus dem Bewußtsein des Menschen über sich selbst und über seine Bestimmung hervorgeht, zum Quell der Sittlichkeit zu erheben, und sich im Bewußtsein der Gottähnlichkeit zur Nacheiferung gegen die göttliche Vollkommenheit emporzuringen. Das Judenthum lehrt uns, unsre eigne Freiheit als einen Ausfluß der göttlichen Allmacht erkennen und würdigen, und sie sowohl in der Herrschaft über die Außenwelt, als über uns selbst zu wahren und zu verwirklichen. Das Judenthum gebietet uns, die Tugend zu lieben und zu üben, weil Gott der Urquell aller Tugend ist, und wie er selbst der dreimal Heilige genannt wird, so sollen auch wir nach Heiligung streben, daß die Verlockungen



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der Sünde uns nicht zu nahen vermögen. Das Judenthum erhebt und läutert unser Gemüth durch die Lehre, daß wir Kinder Gottes sind, wie er der liebende und allwaltende Vater aller seiner Geschöpfe und ins Besondere des Menschen ist, der ihn zu erkennen und anzubeten vermag; es lehrt uns unsern göttlichen Vater lieben und ehrfürchten, ihm vertrauen und seinem Willen gehorchen, um unsres eignen Heiles willen. Vor Allem aber gebietet es uns, unsre Nächsten zu lieben, als unsre Brüder und gleich uns selbst, und der Selbstsucht Herr zu werden, die, ein Feind der Nächstenliebe, immer wieder mächtig zu werden strebt in unserm Gemüthe; Haß und Rache zu verbannen aus unserm Herzen, dem Dürftigen und dem Leidenden wohlzuthun, den Fremdling zu lieben und der Witwen und Waisen uns zu erbarmen. Das Judenthum der mosaischen Gesetzgebung stellt endlich für seine Bekenner in dem Gottesstaat die höhere Gesammtheit dar, der sich der Einzelne, als ein Glied derselben, mit seinem Wirken und Streben anzuschließen und unterzuordnen hat, und in deren Aufgabe er die seinige nicht nur wiedererkennen, sondern zu einer höhern Stufe der Verwirklichung erhoben sehen soll. Aber der jüdische Gottesstaat selbst, in seiner Abgeschlossenheit und in seiner, ihm von der geschichtlichen Nothwendigkeit gebotenen Absonderung, mußte sich uns wieder nur als ein Moment in der Gesammtentwicklung des Judenthums zu erkennen geben, und seine höhere, weltgeschichtliche, der ganzen Menschheit zugewendete Aufgabe beginnt mit der Auflösung und Zerstörung des Gottesstaats, und gibt sich zunächst in der Messiasidee zu erkennen, welche in den prophetischen Schriften des Judenthums zur Erscheinung kommt. Diese Messiasidee nun in ihrer sittlich religiösen Bedeutung und in ihrer geschichtlichen Entwickelung darzustellen, wird die Aufgabe unserer heutigen Betrachtung sein, für welche ich Ihre geneigte Aufmerksamkeit in Anspruch nehme. Die Messiasidee ist eine unbestreitbare Errungenschaft des Judenthums, und aus dem innersten Wesen desselben hervorgegangen; denn nicht allein hat es dieselbe keiner heidnischen Religion entlehnt, sondern es steht gradezu im Gegensatz zur Vorstellung des Heidenthums, welches das goldene Zeitalter an den Anfang der Menschengeschichte setzt, und dasselbe auch als den natürlichen, von Gott dem Menschen bestimmten Zustand bezeichnet, von dem er sich nur durch seine zunehmende Verderbtheit immer mehr entfernt habe, während dem Judenthum dieser Zustand der vollendeten Sittlichkeit und Glückseligkeit am Ende der Zeiten, als ein Produkt der höchsten Vollkommenheit des Menschen, verheißen wird, zu der er durch seine eigne That mehr und mehr fortschreiten

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soll.1 Versuchen wir es also nun, das Wesen dieser Idee aus der heiligen Schrift selbst kennen zu lernen. In den Büchern der mosaischen Ueberlieferung finden wir keine entschiedene Hindeutung auf eine messianische Zukunft des Judenthums. Denn wenn auch das Verderben voraus verkündigt wird, von welchem Israel und der jüdische Staat heimgesucht werden soll, sobald die Juden der göttlichen Lehre vergessen und von seinem Gesetz abfallen würden, wenn auch nach dieser Vernichtung der Selbstständigkeit Israels, auf eine Wiederherstellung derselben, auf eine Rückkehr der zerstreuten Bekenner des Judenthums nach dem Lande der Verheißung hingedeutet wird, sobald sie sich wieder zur Anbetung des wahrhaften Gottes und zur Erfüllung seiner Gebote zurückwenden würden, so geht doch diese ganze Vorstellung nicht über die Idee des Gottesstaates hinaus, denn seine Macht und seine Erhaltung ist es, für welche sich die Bewahrung der göttlichen Lehre und die Beobachtung des göttlichen Gesetzes als Bedingung darstellt, seine Auflösung, sein Untergang, welche als das nothwendige Produkt des Abfalls und der Abtrünnigkeit erscheinen, seine Wiederherstellung, die als Folge der bußfertigen Rückkehr zu Gottes Wort verkündigt wird; und die Erhaltung und Befestigung des nationalen Judenthums erscheint demnach in der mosaischen Gesetzgebung als die letzte und höchste Aufgabe seiner Bekenner. Als aber der Gottesstaat dem Ende seiner geschichtlichen Existenz entgegenzugehen schien; als es sich sichtbar kund gab, daß die Aufgabe des Judenthums in demselben nicht zur Vollendung gebracht werden könne, da er nicht einmal vermocht hatte, die Lehre und das Gesetz in denen zu befestigen, die ihm angehörten; da erwachte in dem Propheten jener Zeit die Ueberzeugung, daß der Gottesstaat nicht die letzte Aufgabe des Judenthums sein könne, eine Ueberzeugung, die auf der einen Seite aus der Gewißheit hervorging, daß der jüdische Staat dem Untergange preisgegeben sei, und auf der andern Seite aus dem unerschütterlichen Vertrauen, daß die ewigen Wahrheiten der jüdischen Religion nimmermehr der Vernichtung anheimfallen könnten. Auf der einen Seite also stand die Thatsache des Bewußtseins, daß die Gotteserkenntnis und das Sittengesetz des Judenthums eine unverlierbare, allen Zeiten angehörige Errungenschaft sei, auf der andern Seite die Thatsache der Geschichte, daß die selbstständige und abgeschlossene Existenz desselben ihrer unvermeidlichen Auflösung entgegengehe; auf der einen Seite die untrügliche Ueberzeugung, daß das Judenthum mit seinen erhabenen Lehren nimmermehr bestimmt sein könne, dem Heidenthum zu erliegen, und auf der andern Seite die immer mächtiger sich aufdrängende

1 Vgl. hier Cohen, Religion der Vernunft, 290f. zur Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft hinsichtlich eines „goldenen Zeitalters“.



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Gewißheit, daß das jüdische Volk der Uebermacht der heidnischen Völker nicht länger Widerstand leisten könne. Und aus diesen beiden Thatsachen, deren Wahrheit die eine in dem innern Bewußtsein, die andre in der äußern Wirklichkeit bekundete, mußte zunächst die Ueberzeugung hervorgehen, daß die Existenz des Judenthums auch außerhalb des Gottesstaats möglich, ja nothwendig sei, und somit konnte und mußte sich das Judenthum über die Beschränkung erheben, durch die es bisher an eine besondere, politisch nationale Vereinigung seiner Bekenner gebunden zu sein schien. Das tatsächliche Fortbestehen des Judenthums außerhalb des jüdischen Staats bekundete seine Befreiung von den Schranken desselben, und legte Zeugnis ab von einer Selbstständigkeit, welche der nationalen Sonderung nicht bedurfte. Dies ist der Grundgedanke, von welchem die Vorstellung des Prophetenthums über die Bedeutung getragen wird, welche der Untergang des jüdischen Reichs und die Zerstreuung der Juden unter die heidnischen Völker für das Judenthum und seine Bekenner gewinnen sollte. – Alle Propheten rufen es in ihren Straf- und Bußreden dem Volke zu, daß der Fall des jüdischen Staats die Folge der Gottlosigkeit sei, die in demselben mächtig geworden, die Folge der Abtrünnigkeit von der göttlichen Lehre, und somit des Abfalls vom Judenthum selbst; keiner aber gibt auch nur entfernt die Meinung zu erkennen, daß der Untergang des Judenthums selbst auch die Folge von der Zerstörung des Gottesstaats sein könne. Welche andre Anschauung spricht sich hierin aus, als, daß der Staat sich nur hätte erhalten können durch das Judenthum, daß aber das Judenthum nicht des Staats nothwendig bedürfe, um sich selbst zu erhalten? Der Gottesstaat gehet unter, weil diejenigen, die ihm angehören, ihre Aufgabe in demselben nicht erfüllen, und weil er dem sittlich religiösen Anspruch nicht mehr zu genügen vermochte, den das Judenthum von nun an seinen Bekennern auferlegte. Das Judenthum aber wird bestehen, obwohl es der Vermittlung durch den Staat entbehrt, in dem es bisher zur Erscheinung kam, und wird eben dadurch bekunden, daß es dieser Vermittlung nicht mehr bedarf. Was also fordert der Prophet von dem Genossen seines Glaubens, wenn er mitten unter den unzähligen Götzendienern leben wird? Soll er sich der Nothwendigkeit fügen, und mit den Siegern, denen er unterthan ist, die Götter anbeten, denen diese huldigen? Soll er die Religion aufgeben, die ihre irdische Macht verloren hat, die ihres Tempels mit seinen Opfern, mit seinen Priestern und Leviten beraubt ist? „Nein“ ruft ihnen der Prophet Hesekiel zu „was ihr im Sinne habt, soll niemals geschehen, daß ihr sprechet: wir wollen werden, wie die Heiden, wie die Geschlechter der Länder, und dem Holze, oder dem Steine dienen. Nein, bei meinem Leben, spricht der Herr, mit starker Hand und mit ausgestrecktem

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Arm will ich über euch wachen.“2 – Auch unter den Heiden also soll der Jude mit unveränderter Liebe dem wahrhaften Gott anhangen, der sich seinen Vätern verkündigt hat, er soll vielmehr zu ihm und zu seinem Gesetz zurückkehren, von dem er sich allzulange abgewendet hat, und hier ertönt ihm sowohl aus den Worten Mosis, als der Propheten die freudige Zusicherung entgegen: „Von wo ihr mich anrufen werdet, werde ich euch nahe sein, und wenn ihr euch unter den Heiden zu mir wendet, und nach meiner Erkenntnis strebet mit ganzem Herzen, werde ich euch erhören und eurer Sünden vergessen.“3 Aber welche Hoffnungen knüpfen sich für die Zukunft des Judenthums an diese Forderung, welche für die Zeiten des Exils an den Bekenner desselben gestellt werden? Die Beantwortung dieser Frage ist der eigentliche Inhalt der Messiasidee, wie sie sich in allen Propheten darstellt. Lassen Sie uns also diese Ideen in ihrer nothwendigen Reihefolge aus den Schriften der Propheten selbst nachzuweisen versuchen. Die erste Verkündigung also verheißt die Er haltung des Judenthums unter der Herrschaft des Heidenthums, indem es seinen Bekennern nimmer werde versagt sein, dem wahrhaften Gott treu zu bleiben, und seiner Lehre und seinen Gesetzen nachzugehen; „Denn wenn ich sie auch unter die Völker entfernet“, heißt es im Propheten Hesekiel, „wenn ich sie, auch zerstreut habe in alle Länder, so will ich ihnen doch sofort eine heilige Freistätte bleiben in den Ländern, wohin sie gekommen.“4 Aber noch eine höhere Hoffnung ist es, die sich an den Aufenthalt unter Andersglaubenden knüpft, eine Hoffnung, an der wir noch heut unser Gemüth aufzurichten vermögen, wenn wir mit Schmerz erkennen, daß uns nicht vergönnt ist, für das Wohl der Gesammtheit zu wirken, ein Jeder nach seinen Kräften, die Hoffnung nämlich, daß die unterjochten Bekenner des Judenthums dennoch obsiegen werden über den Geist ihrer Machthaber, und ihn empfänglich machen für die Aufnahme der göttlichen Erkenntnis, die ihnen geworden; daß sie zum Wohlthäter ihrer feindlichen Bedrücker werden, durch das Vorbild der erhabenen Erkenntnis, der reinen Sittlichkeit, die ihnen gelehrt und geboten ist. So heißt es im Propheten Jeremias: „Darum spricht der Herr also: Wo du dich zu mir hältst, will ich mich zu dir halten, und du sollst vor mir bestehen, und wo du die Frommen fern hältst von den Frevlern, sollst du mein Wort verkündigen, und jene werden sich zu dir wenden, nicht aber du zu ihnen.“5 Und ferner im Propheten Micha: „Und es wird der Ueberrest Jakobs unter den zahlreichen Völkern sein, wie der Thau vom Herrn und wie der Regentropfen auf der Saat, der nicht

2 Ezechiel 20, 32–33. 3 U.a. Deuteronomium 30, 1–3, Jeremia 29, 14. 4 Ezechiel 11, 16. 5 Jeremia 15, 19.



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auf des Mannes Hilfe rechnet, und nicht auf Menschen hofft.“6 So still, so sicher, so ohne Eigennutz und Selbstsucht wird das Werk des Herrn durch seine Bekenner zum Heil der Heiden vollbracht werden, unter die er sie gesendet hat. Aber nicht das konnte die letzte Aufgabe des Judenthums und seiner Bekenner sein, hier und da unter den Völkern des Heidenthums ein Samenkorn der Gotteserkenntnis auszustreuen, das nur sparsam aufgehen konnte, und gar bald wieder verschlungen werden mußte von dem unersättlichen Boden, dem es entsproßt war. Das Judenthum sollte sich unter der Oberhoheit heidnischer Völker nicht nur erhalten, sondern die Geißel der Unterdrückung und der Knechtschaft sollte zu einer Läuterung für dasselbe werden, daß es in höherer Vollkommenheit daraus hervorgehe. Ein neuer Bund sollte durch die göttliche Gnade mit dem Hause Jakob geschlossen werden, wenn die Zeit der Trauer und der Buße vorüber sein würde, eine vollere und innigere Gotteserkenntnis, höhere und reinere Sittlichkeit sollte aus dem neuen Bündnis hervorgehen, und wahrhafte Frömmigkeit und Tugend von nun an in Israel walten. Diese Hoffnung aber schien sich nur erfüllen zu können, wenn Israel seine Selbstständigkeit wieder gewann, wenn die zerstreuten Bekenner des wahrhaftigen Gottes von allen Enden der Erde wieder versammelt würden, und auf ihrem eigenen Boden die Aufgabe zu verwirklichen vermochten, die ihnen von ihrer heiligen Religion gestellt war. Die Rückkehr nach Palästina, die Wiederherstellung des jüdischen Reiches und die Erhebung desselben zu einem höheren Glanz, als es jemals genossen hatte, der Wiederaufbau eines prächtigen Tempels zur Verherrlichung Gottes und zur Vereinigung aller seiner Bekenner, sind Hoffnungen, welche alle Propheten an diese Erneuerung des Bundes knüpfen. – Es würde überflüssig sein, hier durch einzelne Stellen der heiligen Schrift diese Behauptung zu unterstützen; denn alle Verkündigungen der Propheten sind voll von jener Hoffnung. Wohl aber ist darauf zu achten, daß diese Befreiung und Wiedervereinigung der zerstreuten Bekenner des Judenthums nicht durch Kampf und Krieg gegen ihre Unterdrücker vollbracht werden soll, sondern daß die Wiederherstellung des Reiches und der Herrlichkeit Israels überall als eine unmittelbare, durch Gottes Allmacht selbst herbeigeführte Folge seiner Rückkehr zur Tugend und zur Gotteserkenntnis erscheint, so daß sich das Herz der Völker in Liebe und Verehrung ihnen zuwenden wird, und sie freudig werden entlassen werden in das Land ihrer Heimat und ihrer Verheißung. So heißt es im 49. Capitel des Jesaias: „So spricht Gott, der Herr: Siehe, ich will meine Hand zu den Heiden aufheben und zu den Völkern mein Panier aufwerfen, so werden sie deine Söhne auf den Armen herzubringen, und deine Töchter auf den Schultern hertragen,

6 Micha 5, 5-6.

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und ihre Könige werden deine Pfleger und ihre Fürstinnen deine Ernährerinnen sein“. 7– Wie aber wird sich die neue und höhere Entwicklung des Judenthums nach der Rückkehr seiner Bekenner aus der Verbannung bekunden? Hören wir darüber den Propheten selbst. Nicht wie der Bund gewesen ist, heißt es im 31. Capitel des Jeremias, den ich mit ihren Vätern machte, da ich sie bei der Hand nahm, und sie aus Aegypten führte, der Bund, den sie nicht erfüllt haben, und ich mußte sie dazu zwingen, spricht der Herr; sondern das ist der Bund, den ich nach jener Zeit mit dem Hause Israel schliessen werde: „Ich will meine Lehre in ihr Gemüth einzeichnen, und in ihr Herz will ich sie einschreiben, und ich will ihnen zum Gott sein, auf daß sie mir zum Volke seien. Und es wird keiner mehr seinen Bruder oder seinen Nächsten lehren, und sprechen: Erkennet den Ewigen; denn alle werden sie mich erkennen, von Klein bis Groß, spricht der Herr.“8 Die volle, nicht durch äußere Lehren gewonnene, sondern im innersten Gemüthe wurzelnde Erkenntnis Gottes also wird das Eigenthum Aller geworden sein, und es werden sich jene Worte erfüllen, mit denen Moses seine Gesetzgebung schließt, daß man nicht mehr im fernen Himmel, oder jenseits des Meeres, sondern im eigenen Herzen den Quell der göttlichen Lehre suchen und finden wird. Durch diese wahrhafte Gotteserkenntnis aber, die sich in Juda aufrichten soll, werden auch die Heiden, die rings umher wohnen, und die fremden Völker alle es erkennen, daß der Ewige allein Gott ist, und daß seine Lehre allein die Wahrheit und die Tugend verkündet, die den Menschen zum Glück und Segen führt. So heißt es im Jesaia: „Siehe, dein Ruf wird Heiden herbeiführen, die du nicht kennst, und Völker, die du nicht kennst, werden zu dir kommen, um Gottes des Ewigen willen, um des Heiligen in Israel; denn er ist deine Herrlichkeit“,9 und eben so spricht der Prophet Jeremias im 16. Capitel: „Die Heiden werden zu dir kommen von der Welt Ende und sagen: Unsre Väter haben falsche und nichtige Götter gehabt, die Nichts nützen können.“10 Der Prophet Sacharja verkündet ferner: „So spricht der Herr Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Nationen der Heiden einen jüdischen Mann bei seinem Kleide ergreifen und spre-

7 Jesaja 49, 22f. 8 Jeremia 31, 32–34. Interessant ist die Übersetzung von Torah mit „Lehre“ und nicht „Gesetz“ wie bei Luther und den allermeisten christlichen Übertragungen nach ihm. Vgl. dazu die jüdischen Bibelübersetzungen des neunzehnten Jahrhunderts (Zunz, Philippson, Herxheimer, Salomon), die durchgängig „Lehre“ schreiben. Zum Verständnis von Torah als Lehre anstatt als Gesetz, vgl. dann Cohen, Religion der Vernunft, 393f. 9 Jesaja 55, 5. 10 Jeremia 16, 19.



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chen: Laßt uns mit euch gehen; denn wir haben Gott vernommen, der mit euch ist.“11 – Wenn sie aber kommen, die Fremdlinge alle, die Männer aus den Völkern des Heidenthums, und zu Israel sprechen: Wir wollen Antheil haben an eurem Besitzthum, an der Erkenntnis des einigen und wahrhaftigen Gottes, der sich euren Vorfahren verkündigt hat, an der sittlichen Welt, die sich auf dieser Erkenntnis in eurer Mitte auferbaut – soll sie Israel zurückstoßen aus seiner Mitte? Soll sie Jerusalem abweisen von seinen Thoren? Sollen sie ihnen zurufen: Ihr könnt nicht Theil haben an unsrer Erkenntnis, ihr könnt nicht genießen unsres Heiles; denn die Söhne Jakobs allein sind von Gott erwählt, um ihn zu erkennen und ihn zu verehren, und nur für sie hat er das Gesetz gegeben, das zur Tugend führt? Sollen sie noch gedenken jener Gebote, die ihnen Moses vorgeschrieben, daß sie keine Gemeinschaft haben mit den Völkern, die nicht ihre Sprache reden, und daß sie sich abschließen in die Grenzen des Landes, das ihnen verheißen ist? – Nein, sie werden sie freudig empfangen, und die Ihrigen nennen, sie werden ihnen vertrauend die Thore der Stadt und des Tempels öffnen, daß sie zum Vater aller Menschen und aller Völker beten, dessen Erkenntnis auch in ihr Herz eingezogen ist; und sie werden ihre eigene Erwählung darin allein erkennen, daß sie ihr göttliches Besitzthum allen Völkern darbringen, damit sie es sehen und danach verlangen, um es mit ihnen zu theilen. So heißt es im Jeremias: „Und es soll geschehen, wo sie von meinem Volke lernen werden, daß sie sich bekennen zu meinem Namen, wie sie mein Volk gelehrt haben, sich zum Baal bekennen, so sollen sie unter meinem Volk erbaut werden.“12 Und ebenso im Jesaia: „Und der Fremde, der zum Ewigen sich gewendet hat, soll nicht sagen: der Herr wird mich scheiden von seinem Volke; denn ich will ihnen in meinem Hause einen Ort geben und einen bessern Namen, als den Söhnen und Töchtern, einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.“13 Und ferner in demselben Propheten: „Denn es ist ein Geringes, spricht der Herr, daß du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten, und das Verwahrloste in Israel wieder zubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seist mein Heil bis an der Welt Ende.“14 – „Hebe deine Augen auf und siehe, alle diese kommen versammelt zu dir. So wahr ich lebe, spricht der Herr, du sollst mit diesen Allen wie mit einem Schmuck angethan werden, und wirst sie um dich legen, wie eine Braut; denn dein wüstes,

11 Sacharja 8, 23. 12 Jeremia 12, 16. 13 Jesaja 56, 3-5. 14 Jesaja 49, 6.

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verstörtes und zerrissenes Land wird dir alsdann zu enge sein, wenn deine Verderber zu dir kommen von weiter Ferne.“15 Und mit diesem Bewußtsein von der neuen Aufgabe des Judenthums und der Juden, in ihrem Verhältnis zu den Völkern des Heidenthums; mit dieser freiwilligen Entsagung des ausschließlichen Anrechts auf die Gotteserkenntnis, welche ihm geworden ist; mit diesem selbstbewußten Aufgeben der Abschliessung, in welcher das mosaische Gesetz das israelitische Volk erhalten zu müssen glaubte; mit dieser Selbstbefreiung von der Schranke, von welcher das sittliche Streben des Juden in den nationalen Verband eingeschlossen war, dem er angehörte, treten die messianischen Hoffnungen des Judenthums in das Gebiet der eigentlichen Messiasidee, d. h. in das Gebiet der höchsten und vollendeten Sittlichkeit ein, die ihre unbeschränkte Verwirklichung, in der Mitwirkung jedes Einzelnen für das Wohl der ganzen Menschheit zu suchen hat. Und so haben wir als die Träger der Messiasidee vornehmlich drei Momente zu bezeichnen, die auch in den Darstellungen der Propheten als solche hervortreten, nämlich die Erhebung der von Zion ausgegangenen Erkenntnis und Anbetung des wahrhaften Gottes zum Besitzthum der ganzen Menschheit; die Herrschaft vollkommener Tugend und Sittlichkeit unter allen Bekennern des einigen und unendlichen Gottes, also die Vernichtung des Unrechts und der Sünde von dem ganzen Erdball, und endlich die höchste Glückseligkeit der Menschheit, welche das Produkt der vollkommenen Sittlichkeit sein wird. – Die Gotteserkenntnis des Judenthums wird Gemeingut der ganzen Menschheit sein: Am Ende der Zeit, spricht der Prophet Jesaia, und mit ihm der Prophet Micha, wird der Berg, da des Ewigen Haus steht, höher sein, denn alle Berge und Hügel, und es werden ihm alle Völker zuströmen, und große Nationen werden kommen und sprechen: Kommt, laßt uns gehen zum Berg des Ewigen und zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege, und wir wandeln seine Bahnen; denn von Zion soll die Lehre ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem; und die Götzenbilder alle werden verschwinden von dem Erdball. – Die Fremdlinge aber will ich zu meinem heiligen Berge bringen und will sie erfreuen in meinem Bethaus; denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker.“16 Und in ähnlicher Weise verkündet Jeremias, daß die Heiden kommen werden von der Welt Ende, und ihre Götzenbilder von sich werfen, um zum wahrhaften Gott zu beten, der sich ihnen kund gegeben hat;17 und der Prophet Sacharja weissagt, daß alle Völker, von denen Israel einst bedrängt wurde, hinaufströmen

15 Jesaja 49, 18. 16 Jesaja 2, 2–3; 56, 7; Micha 4, 1–3. 17 Jeremia 3, 17.



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werden zum Tempel des Herrn, um ihn zu bekennen und ihn anzubeten.18 „Vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang, verkündigt Maleachi, soll mein Name verherrlicht werden unter den Heiden“,19 und Hesekiel schließt sein Bild der Messiaszeit mit den Worten: „Ja ihr Menschen alle sollt die Heerde meiner Weide sein, und ich will euer Gott sein, spricht der Ewige.“20 – Die wahrhafte Erkenntnis Gottes, nicht diejenige, die sich an Worte hält, welche uns gelehrt worden sind, sondern die im innersten Bewußtsein wurzelt und dasselbe ganz erfüllt, die Erkenntnis Gottes, die aus dem Bedürfnis des menschlichen Gemüthes selbst hervorgeht, ist, nach der vielfach ausgesprochenen Lehre des Judenthums, der Quell der Sittlichkeit. Vollkommene Gotteserkenntnis, das war die Aufgabe unsrer letzten Vorlesung, nachzuweisen, ist vollkommene Sittlichkeit und daher wird in der messianischen Zeit die Tugend einen vollständigen und ewigen Sieg über die Sünde errungen haben, und Laster und Verbrechen, Haß und Zwiespalt werden nicht mehr gesehen werden unter den Menschen. „Und sie werden nichts Böses thun und nichts Verderbliches ausüben auf meinem ganzen heiligen Berge, heißt es im Jesaia; denn voll sein wird die ganze Erde von Erkenntnis Gottes, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken; da werden die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln umwandeln; denn nicht mehr wird ein Volk das Schwert erheben gegen das andere, und sie werden das Kriegshandwerk nicht mehr erlernen. – Und eure Vorsteher werden Frieden lehren und eure Lehrer Gerechtigkeit predigen, und man soll keinen Frevel mehr vernehmen im ganzen Lande, sondern deine Mauern sollen Heil und deine Thore Lob heißen, und dein Volk sollen eitel Gerechte sein.“21 An Tugend und Sittlichkeit knüpft sich, nach der Lehre des Judenthums, auch für jeden Einzelnen seine Glückseligkeit, um wie viel mehr also wird die allgemeine Herrschaft derselben unter dem Menschen auch dauerndes Glück und die höchsten Freuden für Alle hervorrufen. Denn wo nur Recht und Frieden waltet, wo Liebe und Wohlwollen in dem Herzen Aller thront, wo Haß und Zwietracht für immer verbannt ist, da muß die Quelle des reinsten und wahrhaften Glückes ungetrübt und unerschöpflich fließen. Diese Vorstellung von dem innern und äußern Frieden, der in jener Zeit herrschen und die Menschheit beglücken soll, ward von den Propheten unter dem

18 Sacharja 8, 22. 19 Maleachi 1, 11. 20 Ezechiel 34, 31. 21 Jesaja 11, 9; 2, 2–4; 60, 17–18.

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Bilde eines goldenen Zeitalters dargestellt, und mit dem Reichthum ihrer Phantasie auf die mannigfachste und überschwenglichste Weise ausgeschmückt; eine Vorstellung, die wir zwar in ihrer Allgemeinheit anerkennen müssen, da sie im Wesen der Sittlichkeit selbst begründet ist, die wir aber in ihrer Besonderheit nicht zum Gegenstande unsres Glaubens und noch viel weniger unsres sittlichen Strebens machen können. Denn es ward verkündigt, daß Fruchtbarkeit nicht mehr weichen werde von der Erde, und Hunger und Noth nicht mehr einkehre bei ihren Bewohnern; daß Sturm und Hagel nicht mehr Verderben bringe, und der Blitz sich nicht mehr kehren werde gegen die Wohnungen des Menschen; daß der Tod Niemanden vor seiner Zeit abrufe, und Schmerz und Krankheit ihre Gewalt verlieren sollen; daß Fülle und Reichthum überall herrschen, und Silber in Gold, Erz in Silber und wüstes Land in fruchtbare Acker verwandelt werde; daß die reißenden Thiere des Waldes und die giftigen Schlangen verschwinden, oder ihrer Raubgier entsagen; denn der Löwe wird Stroh fressen und der Wolf wird mit den Lämmern, der Tiger mit den jungen Rindern auf die Weide gehen, und ein schwacher Knabe wird sie gemeinsam austreiben; die Schlange wird kein Gift mehr führen und die Hand des Kindes wird mit der Natter spielen.22 – Endlich wird in vielen, obwohl keineswegs in den meisten messianischen Verkündigungen der Eintritt der Messiaszeit an das Erscheinen eines Sprossen aus dem Stamme Davids geknüpft, der ein mächtiger König in Juda, ein geehrter Herrscher über alle Völker der Erde sein wird. Einen Zweig vom Stamm Isai nennt ihn Jesaia, auf dem der Geist des Herrn: der Geist der Weisheit, der Geist der Stärke und der Einsicht, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht ruhen wird. „Er wird mit Gerechtigkeit die Armen richten und mit Strenge die Elenden strafen, mit dem Stabe seines Mundes wird er die Erde schlagen und mit dem Odem seiner Lippen die Gottlosen tödten23. – „Einen Sproß der Gerechtigkeit will ich dem David aufrichten“, verkündet Jeremias; „und er soll ein König sein, der mit Weisheit regiert und Recht und Gerechtigkeit übet auf Erden.“24 Es kann dem denkenden Geiste Nichts näher liegen, als daß mit der Idee eines großen, weltgeschichtlichen Ereignisses, dem wir entgegensehen, sich die Vorstellung einer hervorragenden und erhabenen Persönlichkeit verbindet, von welcher dasselbe herbeigeführt werde. Daher würden wir weder auf diese Verkündigung eines persönlichen Messias, noch auf die Bezeichnung desselben als einen Sproß des hochberühmten Königshauses irgend einen Werth legen,

22 Zur Ablehnung des prophetischen Eudemonismus vgl. auch Cohen, „Das Gottesreich“, in: Werke, Bd. 16, 48. 23 Jesaja 11, 1–4. 24 Jeremia 23, 5.



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wenn nicht in späterer Zeit gerade diese Verkündigung zu einem so bedeutenden Moment für die Entscheidung der großen Streitfrage über den schon erschienenen oder noch zu erwartenden Messias geworden wäre, auf die wir alsbald Gelegenheit haben werden, näher einzugehen. Ich gestehe gern, daß die Person des Messias mir als ein sehr untergeordnetes Moment in der Idee und in der Verwirklichung der messianischen Hoffnungen erscheint, und daß wohl der schwächste Beweis für die bereits erfolgte Erfüllung jener Verheißungen aus der Uebereinstimmung geschöpft werden könnte, welche zwischen den prophetischen Verkündigungen über den Messias und den Erlebnissen irgend einer geschichtlichen Persönlichkeit Statt findet. – Ueberhaupt hat eine spätere Zeit die wahrhaft sittlich religiöse Bedeutung der messianischen Verkündigungen mehr und mehr aus den Augen verloren, und sich mit um so größerer Beharrlichkeit an den äußeren Momenten desselben festgehalten. So hat das Christentum die Identität Christi mit der Person des Messias durch ausführliche Geschlechtstafeln und durch Anführung der kleinsten Ereignisse aus seinem Leben zu erweisen versucht, während das Judenthum die Person des zu erwartenden Messias mit aller Herrlichkeit und mit allen Wundern zu umgeben sich bemühte, wie sie nur das mythologische Alterthum zu erfinden vermochte. Und eben so starr hielt dasselbe an der verheißenen Rückkehr nach Palästina, an der Wiederherstellung des Tempels mit seinem Cultus und seinen Opfern fest, und endlich bildete sich auch die Vorstellung eines jüngsten Gerichtes aus, welches dem Eintritt der Messiaszeit vorangehen sollte, und zu diesem kam der Glaube an eine Wiederbelebung der Todten hinzu, der aus einer Vision des Hesekiel geschöpft ward, in welcher ganz unzweifelhaft die einstige Wiedererstehung Israels aus dem Grabe seiner Versunkenheit geschildert wird, ohne auch nur entfernt auf eine leibliche Auferstehung der Einzelnen vom Tode hinzudeuten.25 Doch eben so entschieden, wie die Vergangenheit jene äußeren Momente der Ausschmückung aufgefaßt und festgehalten hat, eben so entschieden hat sich das Bewußtsein der neueren Zeit von derselben ab, und dem Kern der Messiasidee zugewandt, der sich auch in den Schriften der Propheten als solcher kundgibt, und in dem sich die sittliche Aufgabe des Judenthums zu ihrer höchsten Vollendung erhebt. Wenn ich diese Sittlichkeitsidee als das Wesen der messianischen Hoffnungen bezeichne, und darin das Bewußtsein des Judenthums unserer Zeit ausgesprochen zu haben glaube, so dürfte mir leicht der Einwurf gemacht werden, daß ich diese Ueberzeugung nur aus den Schriften und Reden derer schöpfe, denen-

25 Vgl. Ezechiel 37, 1–14.

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gleich mir nicht jede Ueberlieferung der Vorzeit heilig ist, ohne die Ansichten derer zu berücksichtigen, denen alle Momente jener Verheißungen ein Gegenstand ihres Glaubens und ihrer Hoffnungen sind. Ich gestehe es, wenn ich von dem religiösen Bewußtsein des heutigen Judenthums über diese Fragen spreche, daß ich nur die Schriften und ausgesprochenen Ueberzeugungen sogenannter freisinniger Männer unter jüdischen Gelehrten und Rabbinern im Auge habe. Aber leider haben die Männer, welche einer andern Ueberzeugung zu huldigen scheinen, es bisher so wenig für angemessen gehalten, ihre Ansichten über diese Lebensfragen des Judenthums offen auszusprechen, daß wir diese eben nicht in die Wagschale legen können, wenn wir das Urtheil der Gegenwart über dieselben abwägen wollen, und ebenso wird die Nachwelt keinen andern Maßstab haben, um das religiöse Bewußtsein des Judenthums unsrer Zeit zu beurtheilen, als die Ansichten der Männer, von denen man gern behaupten möchte, daß die Lehren und Ueberzeugungen derselben nicht mehr dem Judenthum angehören.26 Ich bezeichne also mit Recht als das Wesen der messianischen Hoffnungen, wie sich dieselben im Verständnis des gegenwärtigen Judenthums gestaltet haben, die Erhebung der wahrhaften Gotteserkenntnis, welche dem Judenthum geworden ist, zum innersten Besitz aller seiner Bekenner, und dadurch zum Gemeingut der gesammten Menschheit; die Aufhebung der Schranke, durch welche die sittliche Aufgabe der Juden in das Gebiet des Gottesstaats eingeschlossen wurde, und somit die Erhebung des Menschenwohls in seiner höchsten und allgemeinsten Bedeutung zum Ziel des sittlichen Strebens, und endlich die innere und wahrhafte Glückseligkeit, sowie den äußeren Frieden, welche das nothwendige Produkt einer vollkommenen und allgemeinen Sittlichkeit sein müssen. Die Messiasidee, diese höchste Blüthe der Sittenlehre, welche dem Boden des Judenthums entsprossen, stellt die vollendetste Uebereinstimmung zwischen der sittlichen Aufgabe und der Gotteserkenntnis dar, welche in der jüdischen Religion zur Erscheinung kam. Denn wenn die Lehre von der einigen Unendlichkeit Gottes der Kern und der Mittelpunkt des Judenthums überhaupt ist, so hebt auch die Idee der Messiaszeit jede Beschränkung und Begrenzung des sittlichen Strebens auf, dem sich der Mensch in der Erfüllung seiner Aufgabe hinzugeben hat. Und wie die Schranke der persönlichen Abgeschlossenheit, in welcher uns die Regungen der Selbstsucht festzuhalten suchen, vor dem Gebot gefallen ist: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst – so sollen die Schranken der

26 Eine ausführliche neo-orthodoxe Positionierung zum Messianismus erfolgte erst zwanzig Jahre später in Folge des Kompert-Prozesses (vgl. Einleitung, S. 73–79) durch eine Artikelserie in „Der Israelit“. Vgl. Markus Lehmann, „Die Messislehre des Judentums“ in: Der Israelit 6 (1864): 69–71 und 7 (1864): 83–86 und 98–100.



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nationalen Sonderung, der religiösen Abschließung, vor der Aufnahme aller Natio­ nen in der Gemeinsamkeit der Gotteserkenntnis schwinden, die zu einem unzerreißbaren Bande der Liebe für die ganze Menschheit werden muß. Die wahrhafte Erkenntnis von der Unendlichkeit des göttlichen Wesens wird zum Quell für die Unendlichkeit unsres sittlichen Strebens, welches keine Schranke anerkennt, die uns zu gebieten vermöchte: Bis hierher und nicht weiter reicht die Grenze deines Wirkens, bis hierher und nicht weiter reichen die Pflichten, durch deren Erfüllung du deine Aufgabe zu lösen vermagst. Denn die ganze Menschheit ist der Boden unsers Wirkens, und selbst diese darf nicht zur Schranke werden, in welcher unsre sittliche Aufgabe abgeschlossen ist. Auch die Natur um uns her, ja das ganze weite Weltall, das wir zu erfassen und zu ahnen vermögen, hat einen Anspruch, einen Antheil an uns, wie wir einen Antheil an ihr in Anspruch nehmen; und das ist die hohe Bedeutung von den prophetischen Verkündigungen über die Umwandlung der Natur in der messianischen Zeit, daß die wahrhafte und vollkommene Vollendung der Sittlichkeit die Harmonie des Friedens und der Liebe nicht nur zwischen Menschen und Menschen, sondern auch zwischen der Menschheit und der Natur herbeiführen werde. Denn die beiden großen Schöpfungen der göttlichen Allmacht und Liebe, der Mensch und die Natur, können nicht bestimmt sein, sich gegenseitig zu bekämpfen und zu zerstören, sondern zu dem unbegreiflichen und einigen Zweck der göttlichen Schöpfung gemeinsam mitzuwirken. Wenn wir aber in dieser Weise in der Messiasidee die höchste Vollendung der sittlichen Aufgabe erkennen, welche dem Menschen geworden, und die Erfüllung der messianischen Verheißung freudig als die Verwirklichung der höchsten Sittlichkeitsidee begrüßen würden, so fordert nun die wichtige Frage unsre Aufmerksamkeit: Wie kann eine Verheißung, wie kann die Verkündigung eines Ereignisses, das vielleicht einer fernen Zukunft angehört, zu einem Moment für die Entwicklung der Sittlichkeit in der Gegenwart, zu einem Sittengesetz für diejenigen werden, welche an jene Verheißung glauben, und auf die Verwirklichung derselben hoffen? In welcher Weise konnte die Messiasidee des Judenthums auf die sittliche Aufgabe seiner Bekenner bisher von wohlthätigem und entscheidendem Einfluß sein? Die befriedigende Beantwortung dieser Frage kann uns nicht schwer werden, und wird uns, wenn wir sie gefunden, zu einer wahrhaften Würdigung der messianischen Verheißungen führen müssen. Die Messias­ idee des Judenthums ist keineswegs nur der Glaube seiner Bekenner an die Verkündigung einer vollkommenen Sittlichkeit, welche durch wunderbare Ereignisse einer fernen Zukunft herbeigeführt werden soll, sie besteht nicht nur in der Hoffnung auf eine schönere und glücklichere Zeit, welche durch die göttliche Bestimmung für die Menschheit und für das Weltall aufgehen soll, sondern sie ist ein aus der religiösen Erkenntnis und aus dem sittlichen Streben des Juden-

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thums hervorgegangenes Bewußtsein von der Aufgabe des Menschen, diesem höchsten Ziel der Sittlichkeit entgegenzustreben, und von der Nothwendigkeit, dasselbe im Lauf der Zeiten zu erreichen. Die Verkündigung der Zukunft, die sich in der messianischen Verheißung darstellt; ist nichts anderes, als der Ausdruck des Verlangens nach dieser Zukunft; und dieses Verlangen selbst ist wiederum nichts anderes, als das Produkt des Bewußtseins, welches in dem Streben nach der Verwirklichung jener Hoffnungen die sittliche Pflicht des Menschen erkennt. Frage den Menschen worauf er hofft, und du wirst wissen wonach er strebt. Die messianische Hoffnung des Judenthums ist die beginnende Verwirklichung der messianischen Verheißung durch das Judenthum. Der Glaube an die Vereinigung der ganzen Menschheit in den Tagen des Messias schließt die Ueberzeugung in sich, daß in dieser Vereinigung der Boden für eine vollendete Sittlichkeit gegeben sei, und aus dieser Ueberzeugung muß nothwendig das Streben hervorgehen, diesen Boden allmählich zu gewinnen. Die That aber, welche diesem Streben entspricht, ist schon eine That der Sittlichkeit, welche für jene Zeit als die allgemeine bezeichnet ist. Ich wiederhole es, die Verkündigung der Messiasidee ist der Beginn der Messiaszeit, wie die Morgenröthe die Verkünderin und zugleich die Bringerin des Lichtes ist, das mit der Sonne über den ganzen Erdball aufgehen will; die Hoffnung auf die messianische Zukunft ist das erste Erscheinen derselben in der Gegenwart; wie die Blüte die Frucht bereits in sich trägt, die sie uns verspricht. Denn die Messiaszeit wird nicht urplötzlich, als eine gewordene, durch den Willen der göttlichen Allmacht und durch die Wunderthaten seines Gesalbten inmitten der staunenden Menschheit hervortreten, sondern sie ist eine werdende, eine ununterbrochen sich gestaltende, durch das Thun und Streben des Menschen und der Menschheit sich mehr und mehr verwirklichende Zeit.27 Sie wird und kann nichts anderes sein, als die That der Menschheit, als die fortwährende Selbsterhebung derselben zur wahrhaften Sittlichkeit, vermöge der Gottes­ erkenntnis, die in ihrem Bewußtsein immer tiefer und fester Wurzel faßt. Und wer die Messiasidee mit seinem sittlichen Bewußtsein vollkommen zu erfassen, und mit seinem sittlichen Thun in dem Kreise seines Wirkens zu verwirklichen vermag, für den ist die Messiaszeit bereits gekommen. Lassen Sie uns von diesem Gesichtspunkte aus einen Blick auf die Geschichte des Judenthums seit jener Zeit werfen, um zu erkennen, ob in Wahrheit jene Ver-

27 Auch hier zeigen sich große Ähnlichkeiten mit der Messiaslehre bei Samuel Hirsch, der den religiösen Fortschritt der Menscheit seit der Offenbarung am Sinai mit dem Fortschritt des Messiasreiches identifiziert hatte.



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heißungen bereits angefangen haben, sich durch die That des Judenthums zu verwirklichen? So wie mit der Auflösung des jüdischen Staats die Absonderung von den Völkern und Genossen des Heidenthums für die Bekenner des Judenthums thatsächlich aufgehört hat, so ist durch die Verkündigung der Messiasidee für das Judenthum selbst das Gebot der Abschließung von dem Heidenthum unzweifelhaft aufgehoben worden; denn wie es seit jener Zeit seine Bestimmung war, inmitten heidnischer Völker zu leben, so mußte es auch durch jene Verheißung seine Aufgabe werden, für dieselben zu wirken. Und so ruft schon Jeremias denen zu, die ins Exil geführt werden: „Bauet Häuser, darinnen ihr wohnen möget, bauet Gärten, daraus ihr Früchte esset, suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Ewigen; denn wenn es ihr wohlgehet, so wird es auch euch wohlgehen.“28 Das Judenthum bekundete den Beginn der messianischen Zeit, d. h. das Eintreten der höchsten Sittlichkeitsidee in das Bewußtsein seiner Bekenner, durch die Anerkennung des Anrechts, welches der Mensch, als solcher, er möge dem Judenthum oder dem Heidenthum angehören, an die Liebe des Juden und an die Mitwirkung desselben für sein Wohl und für das Wohl der Gesammtheit hat, der er angehört; eine Anerkennung, die nicht ohne Erwiderung von Seiten des Heidenthums blieb, welche sich vornehmlich in der freiwilligen Wiederherstellung des jüdischen Reiches durch Cyrus kundgegeben hat. In gleicher Weise, wie das Exil selbst, bildet die Zeit des zweiten Tempels ein wesentliches Moment in der Erfüllung der messianischen Verheißungen; denn so wie für diejenigen, die nach Palästina zurückkehrten, der Aufenthalt unter den Heiden sich als eine Läuterung bewährt hatte, so können wir die Wiedervereinigung innerhalb des zweiten Tempelreichs als diejenige Befestigung der Gotteserkenntnis im Innern des Bewußtseins bezeichnen, von welcher der Prophet spricht, daß sie nicht mehr der äußern Belehrung bedürfen, sondern in den Tiefen des eignen Gemüths wurzeln werde. Und wenn wir also an den Worten des Propheten festhalten wollen, und die Wiederherstellung des jüdischen Reichs als ein wesentliches Moment der messianischen Hoffnungen anerkennen, warum wollen wir nicht zugeben, daß dieselbe bereits durch die Zeit des zweiten Tempels in Erfüllung gegangen sei? Warum sollen wir nicht offen und entschieden den Glauben an eine Verheißung aufgeben, die nicht einmal mit unsern Wünschen, um wie viel weniger also mit unsern Hoffnungen übereinstimmt? Ich wenigstens will mich unverhohlen zu der Ueberzeugung bekennen, daß die Hoffnung auf eine Rückkehr der Juden nach Paläs-

28 Jeremia 29, 5 und 7.

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tina im Bewußtsein des Judenthums der Gegenwart erloschen und aufgegeben ist, und ich fürchte nicht, daß sich Einer aus Ihrer Mitte erhebe, um mich für diese Behauptung Lügen zu strafen. Das Exil und der zweite Tempel hatten diejenige Sicherheit und Reinheit der Gotteserkenntnis im Bewußtsein seiner eignen Bekenner begründet, daß das Judenthum es wagen konnte, diese Erkenntnis über sein eignes Gebiet hinauszutragen, und wie es die prophetische Verheißung verkündete, sich zum Licht des Heidenthums zu machen. – Es konnte seine beiden großen Missionen an dasselbe aussenden, um es zur Höhe seines eignen Religionsbewußtseins emporzuheben. Die Entstehung des Christenthums und des Islam aus dem Boden des Judenthums sind wesentliche Momente in der fortschreitenden Verwirklichung der messianischen Verheißungen; denn jemehr diese ihre Aufgabe lösen, die heidnischen Völker des Westens und des Ostens zur Gotteserkenntnis des Judenthums zu erheben, oder doch für die Aufnahme derselben vorzubereiten, um so mehr wird die Verkündigung ihrer Erfüllung entgegengehen: daß die Lehre, die von Zion ausgeht, den ganzen Erdball erfüllen werde, wie das Wasser den Meeresgrund bedeckt.29 Von diesem Standpunkte aus wird die uralte und ewig sich erneuende Streitfrage zwischen dem Judenthum und dem Christenthum ihre Erledigung finden, ob der Messias in Christo schon erschienen, oder ob er noch zu erwarten sei. „Er ist erschienen“, rufen unsre christlichen Brüder, und wir können es zugestehen, daß Christus gekommen sei, um das Werden der Messiaszeit zu verkünden, und in der Erhebung des westlichen Heidenthums zum Christenthum einen Grundstein zu derselben zu legen. Wir wollen und müssen das Zeugnis der Geschichte anerkennen, daß der Eintritt des Christenthums in das griechische und germanische Heidenthum, daß die Verbreitung desselben unter die fernen Völker Asiens, Amerikas und Afrikas, zu einem bedeutsamen Moment in der begonnenen und ununterbrochen fortschreitenden Verwirklichung der messianischen Verheißungen geworden sei, indem es dazu beigetragen hat, viele Millionen von den Völkern des Heidenthums der Gotteserkenntnis des Judenthums mehr und mehr anzunähern, damit sie endlich ganz derselben zugeführt werden. Wir erkennen, sage ich, das Christenthum in seinem Wirken und in seiner Entwickelung als ein Moment des werdenden Messiasthums, wie wir es ja oft genug als ein wesentliches Moment in der Gesammtentwickelung des Judenthums bezeichnet haben; aber wir erkennen es keinesweges in seinem Erscheinen als die vollendete Erfüllung der messianischen Verheißung an.

29 Jesaja 11, 9. Auch hier findet sich der Maimonidische Gedanke der Heidenmission als Vorbereiterrolle der beiden Tochterreligionen des Judentums für das Erscheinen des Messias.



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Und darum rufen wir mit allen, die sich zum Judenthum bekennen: Laßt uns freudig und zuversichtlich hoffen, daß die Messiaszeit erscheinen, und das volle Maß ihrer Verheißungen sich erfüllen werde. Denn noch ist die Gotteserkenntnis unsrer heiligen Religion nicht zum gemeinsamen und einigen Besitz der ganzen Menschheit geworden; noch können wir in der Lehre, welche die Bekenner des Christenthums und des Islam die ihrige nennen, nicht die reine und ungetrübte Gottesidee wiedererkennen, die uns das Judenthum lehrt; noch sehen wir die erhabene sittliche Aufgabe nirgends in ihrer vollkommenen Verwirklichung, in der sich uns die Erfüllung der Messiaszeit darstellen soll. Daher wollen und müssen wir hoffen auf das Eintreten einer schönern Zeit, in der wahrhafter Friede den ganzen Erdball erfüllen, und eine reine, Allen gemeinsame Gotteserkenntnis zum Besitzthum der gesammten Menschheit geworden sein wird. Möge also das Christenthum nicht seine eigne Aufgabe verkennen, und seine eigne Entwicklung vergessen, in dem Wahne, daß mit seinem Erscheinen die Zeit schon gekommen, die es selbst nur durch sein Wachsen und Wirken mit Andern soll herbeiführen helfen. Lassen Sie uns aber auch den Genossen unseres eigenen Glaubens zurufen, daß sie nicht in trägem Hoffen jener schönen Zeit entgegensehn, sondern ihr durch ihr unabläßiges Streben nach wahrhafter Fortbildung des Judenthums entgegengehen mögen; daß sie nicht Erscheinungen und Wunder erwarten, nicht einer äußern Befreiung entgegenharren, sondern ihre innere, sittliche Entwicklung im Geiste des Judenthums, und dadurch ihre Erhebung zur wahrhaften Freiheit durch ihre eigne That erstreben und bekunden mögen; daß sie diese Freiheit nicht nur nicht in der Gründung eines selbstständigen Reiches suchen, sondern sie auch nicht einmal von der Gewährung von Freiheiten abhängig machen, die ihnen von Außen ertheilt werden sollen, wie sehr sie auch diese für sich in Anspruch nehmen, sondern daß sie diese Freiheit vor Allem in sich selbst begründen, und mit Zuversicht erwarten mögen, daß ihnen die Rechte und Freiheiten werden, um die sie auf diesem Wege geworben haben. – Das Judenthum und das Christenthum also wirken und schaffen, wenn auch nicht gemeinsam, doch gleichzeitig und nebeneinander an dem werdenden Messiasthum. Das Judenthum erfüllt seine Aufgabe für die Herbeiführung desselben vor Allem durch den unbesiegbaren Muth der Ausdauer und des Beharrens in der reinen Gotteserkenntnis, die ihm, und ihm allein geworden ist, und die es für die ganze Menschheit ungetrübt zu wahren und zu erhalten berufen ist.30 Es hat seiner Aufgabe für die messianische Zukunft entsprochen durch das unerschütterliche

30 Vgl. denselben Gedanken der Bewahrung eines reinen Monotheismus durch das Judentum später in Cohen, Religion der Vernunft, 417f.

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Vertrauen zu seiner eignen Bestimmung, mit dem es dem Haß und der Verfolgung eines finstern Jahrhunderts, mit dem es den Verlockungen einer spätern Zeit Widerstand leistete, und mit dem es an seiner Erkenntnis und an seinem Glauben festhalten wird, was auch die Zukunft bringen möge. Dann aber auch erfüllt es diese seine Aufgabe, indem es den Antheil anerkennt, der auch dem Christenthum und dem Islam an dieser allgemeinen Aufgabe des Judenthums für die Menschheit geworden ist; indem es die That derselben innerhalb der Menschheit als eine sittliche anerkennt, welche dazu beitragen muß, die vollkommene Sittlichkeit der Messiaszeit mehr und mehr herbeizuführen, und indem es seinen Bekennern gebietet, mit den Bekennern andrer Religionen gemeinsam für diese sittlichen Zwecke der Gegenwart zu streben und zu wirken. Das Christenthum erfüllt seine Aufgabe für die Messiasidee durch seine fortgesetzte Mission an die Völker des Heidenthums, durch das unabläßige Streben nach seiner eignen Entwicklung zur reinen und ungetrübten Gotteserkenntnis, und endlich ebenfalls durch die Anerkennung des Judenthums als eines gleichberechtigten Moments für die Lösung der gesammten Aufgabe der Vergangenheit und der Zukunft, durch die freudige Aufnahme seiner Bekenner zur Mitwirkung an der Erfüllung jener gemeinsamen Aufgabe. Wer aber das Judenthum für unfähig hält, an dem sittlichen Schaffen unsrer Zeit im Staat und im Leben Antheil zu nehmen, wer das Christenthum gefährdet glaubt, wenn es dem Judenthum diesen Antheil gewähre, der scheint mir eben so sehr das Wesen des Christenthums wie des Judenthums zu verkennen. – Nur wenn das Judenthum seiner Abschließung vom Christenthum entsagt, nur wenn dieses seine Ausschließung des Judenthums aufgibt, können beide ihre eigne Aufgabe, können sie die Messiasidee wahrhaft begreifen, und ihre That zu einer Verwirklichung derselben erheben. Nur dann wird sich die Verheißung erfüllen, daß die Vereinigung der ganzen Menschheit zur wahrhaften Gotteserkenntnis, durch das Judenthum und durch seine beiden Missionen vollendet werde, und daß aus dieser Gotteserkenntnis jene erhabene Sittlichkeit hervorgehe, welche zur wahrhaften Glückseligkeit des Einzelnen und der ganzen Menschheit führen muß. – Denn dies allein ist die Hoffnung des Judenthums, dies ist die Messiasidee, die ihm verkündigt worden ist, und die sich im Bewußtsein und im Streben unsrer Zeit zu erkennen gibt. –

Salomon Ludwig Steinheim

Die Messiasidee nach der Bestimmung der Offenbarungslehre in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 1 (1845): 21–23 und 41–491 Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866) arbeitete bis 1845 als Arzt in Altona und lebte danach in Rom. Er veröffentlichte sowohl medizinische Schriften als auch Gedichte, sein Hauptinteresse galt jedoch der Religionsphilosophie. Sein theologisches Hauptwerk, Die Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge, erschien in 4 Bänden von 1835 bis 1865. Steinheim war dem Denken des talmudischen Judentums weniger verpflichtet als der Philosophie Immanuel Kants, wollte aber nachweisen, dass mit der Idee der Offenbarung die jüdische Religion von einer Glaubenslehre zu einer philosophischen Wahrheit aufsteigt. Ihm ist daher der Gedanke eines davidischen Erbadels grundsätzlich fremd, er versteht die Messiaslehre vielmehr im weltlichen Sinne als natürlichen, organischen Prozess der Menschheitsentwicklung vom Sinnlichen zum Sittlichen. Dieser kurze Aufsatz wird dadurch geradezu zu einem programmatischen Text für ein neues Messias-Verständnis, das die absolute Gleichheit der Menschen in einer sozial gerechten und von Erkenntnis und Aufklärung geprägten Welt in den Vordergrund stellt.

In einem neueren französischen Schriftsteller – war es Marnier? ich weiß es nicht mehr – erinnere ich mich, einen überraschenden Ausspruch gelesen zu haben. Dort wird nämlich behauptet, daß in der alttestamentalischen Schöpfungsgeschichte ein Tag vermißt werde, und daß dieser zum Abschlusse der Schöpfung noch zu erwarten stehe. Ich habe diesen fast wunderlichen Satz niemals ganz aus meinem Gedächtnisse verloren; er gehörte, wie manche auffallende Physiognomie, zu denjenigen isolirten charakteristischen Wesen, die einen so plötzlichen und so tiefen Eindruck hinterlassen, daß ihre Gestalt höchstens zurücktreten, niemals aber ganz schwinden kann. So lag denn dieser Gedanke neben einigen seines Gleichen in dem Raritätencabinette meines Gedächtnisses, und hätte da wohl noch lange liegen und ruhen können, hätte ihn nicht der erhabene Anblick der einsamen, gigantesten Alpenwelt wie mit einem Zauberschlage in seiner ganzen Gewalt und Lebendigkeit erweckt und vor der Seele aufgerichtet. Die Erde ist noch lange nicht fertig! Der Sabbathabend der vollbrachten Schöpfung steht

1 Der Herausgeber der Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums, Rabbi Zacharias Frankel, fügte die folgende Anmerkung zu Steinheims Titel hinzu: Wenn auch die hier vorgetragene Messiasidee die Aufschrift „nach der Bestimmung der Offenbarungslehre“ schwer­ lich rechtfertigt, so enthält sie doch so viel Treffliches, daß wohl die meisten Leser dem Herrn Verfasser Dank wissen werden.

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 Salomon Ludwig Steinheim

noch zu erwarten! Dort, wo die jugendliche Erde ihre Riesenkinder nackt und bloß in die Wolken emporhebt, damit sie sich mit zerschmetternden Gewittern und verzehrenden Lüften vertraut machen; wo meilenbreite Ströme, mitten im wildesten Wogengetümmel erstarrt, von den Firnen aus der Schneeregion allmälig herab in die blühenden Thäler steigen; wo ein fast ununterbrochenes Krachen und Donnern den Sturz der Lavinen bezeichnet; wo gewaltige Wasserfälle von allen Felswänden herunterbrausen – hier wird es der Mensch, wenn er es auch sonst als eine Fabel belächelte, durch den Augenschein gewahr, daß seine Erde noch lange nicht fertig ist, und daß noch fortwährend an ihr gearbeitet wird. An jenen nackten Felsen, so starr und regungslos sie auch dem oberflächlichen Anblicke erscheinen, nagt und nagt der Zahn der Zeit, und gestaltet aus ihren Trümmern ein lebendiges Neues. Kälte und Wärme lösen sich im Dienste der Natur ab; Lüfte und Wolken dringen in die feinsten Poren, und treiben die zusammengekitteten Massen mit unwiderstehlicher Gewalt auseinander; tiefer unten leimt sich das Schorfmoos und anderes Gewächs an, und verwandelt den Felsen in eine zerreibliche Gartenerde; jetzt wäscht der Gletscherstrom Rinnen aus, und führt das allmälig zerriebene Gestein ins Thal hinab, während der unaufhaltsam herabsteigende Gletscher mächtige Blöcke losbricht, und sie an seinem Fuße auswirft. Man sieht die ruhelosen Naturmächte arbeiten; hört, wie sie brechen, bohren und stampfen, jene gewaltigen öden Massen zu verwandeln. Und in Was zu verwandeln? Was ist denn der Schluß all dieses Gehämmers, dieses Stoßens und Bohrens? Wir sehen auch diesen Abschluß vor uns; wir befinden uns auf diesem Resultate aller Arbeit der Naturkräfte; es ist der grünende, sonnige Weideplatz, die Alp mit ihren Sennhütten, ihren Viehheerden und frohen Menschenkindern! Die Erde ist noch lange nicht fertig! Jährlich, täglich, stündlich wird am Neuen gebaut; die Naturkräfte ruhen und rasten nicht, können nicht ruhen und rasten, bis das Werk vollbracht ist; bis sie das rohe Unlebendige überwunden, und dem Menschen neues fruchtbares Erdreich erarbeitet haben. So waren sie seit dem Anbeginn in Höhen und Tiefen thätig, so sind sie es bis auf diese Stunde. Die Erde hat noch eine Zukunft; ihre Bestimmung ist noch nicht vollbracht. Es liegt ihre endliche Mission vor uns in undenklichen Zeiten; so ferne in der Zukunft liegt sie, als noch jene Schreckhörner Zeit bedürfen, um sich in blühendes Alpengelände zu verwandeln. Aber darüber werden noch Jahrtausende hingehen. Die Erde ist noch sehr jung; doch erwartet sie mit Sicherheit die Vollbringung des siebenten Schöpfungstages und seinen heiligen Sabbathabend. Wie wir nun vor unseren Augen die leblose Natur – wie man sie nennt – aus dem Stande der Rohheit in den der Bildungsfähigkeit, aus der Unfruchtbarkeit in Fruchtbarkeit durch die physischen und chemisch-elektrischen Agentien verwandelt werden sehen; wie wir in den Regionen der Erstarrung Auflösung, Uebergang von Leblosigkeit zum Leben wahrnehmen: könnten wir uns denn



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wohl einreden, daß es mit der sittlichen Welt schlechter stehe, sich vielleicht gar umgekehrt verhalte? Sollte in der geistigen Region der Menschheitsentwickelung, in der Bildung des geistigen Antheils der Natur im Menschengeschlechte ein umgekehrter Gang, ein Gang aus dem Guten ins Schlechtere, aus dem Vollkommenen ins Unvollkommene vorwalten? Die Sagen alter Völkerschaften, ihre Vorstellungen von der Entstehung der Welt deuten zwar insgesammt dahin. Sie bezeichnen ein, weit in der Vorzeit und jenseits aller Geschichte liegendes, goldenes Zeitalter; meinen dann und lehren, daß durch mancherlei trübe Ereignisse dieß Zeitalter des Friedens und des unschuldigen Genusses nach Tausenden von Jahren sich nach und nach verschlechtert habe, und in ein solches übergegangen sei, das nur ein silbernes im Vergleich mit jenem ersten genannt werden könnte; daß endlich auch dieß in das gegenwärtige eiserne versunken wäre, in welchem nunmehr statt eines edlen, friedfertigen Geschlechtes, ein wildes, feindseliges, mordsüchtiges Volk, und statt jener halcyonischen Tage, Tage der Völkerschlachten und des Mordbrandes eingetreten sind. So lehrt der heidnische Mythus, insbesondere der des hochgepriesenen Griechenthumes. Nach ihm würden wir, in Widerspruch mit den sichtbaren Thatsachen der Geognosie, einen nicht tief genug zu beklagenden Rückschritt in der Geistesregion auf Erden anzunehmen, und mit der antiken Welt in die Resignation einzustimmen haben, welche einer ihrer größten Dichter so wehmüthig darstellt: Aetas parentum, pejor avis, tulit Nos nequiores, mox daturos Progeniem vitiosiorem! (Horat.)2 Schon in ganz isolirten Ereignissen ist nun ein solcher allmäliger Verfall ein unseren inneren Gefühlen Widerstrebendes, eine Bewegung, gegen die unsere ganze Gedankenrichtung sich sträubt, und die als eine anomale, naturwidrige empfunden wird. Der Rückschritt liegt nicht in Einer Richtung mit dem Streben unseres Geistes, und dennoch sollte dieser Geist im Großen und Ganzen in dieser Richtung, in einer ihm widerstrebenden Richtung, sich bewegt haben und noch bewegen? Die Vorstellung des Heidenthumes von seinen vier Zeitaltern widerspricht der vernünftigen Naturgeschichte, dem Bildungsgange unseres Planeten, der noch heute seinen ruhigen Fortschritt verfolgt, und widerspricht zugleich der innern menschlichen Stimme, und ist, seiner wahren Bedeutung nach, eine tief schwermüthige Anschauung einer an sich selbst verzweifelnden Geschichtsepoche. Glücklicherweise ist durch eine aufgeklärte Wissenschaft die alte Fabel Lügen gestraft. Die gebildete Welt glaubt längst nicht mehr an jene trostlosen Ueberlieferungen aus der Vorwelt. Es hat sich jener Glaube, Gottlob, in den glücklichern

2 Horaz in der Ode an die Römer: „Die Generation der Eltern, schon schlechter als die der Vorfahren, hat uns geboren, die wir noch schlechter sind und eine noch lasterhaftere Nachkommenschaft hervorbringen werden.“

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entgegengesetzten, in den an eine bessere Zukunft, an ein allmälig, zwar nur sehr langsam, allein eben so sicher, heranrückendes Zeitalter höherer Gesittung und, in deren Gefolge, glücklicherer, reinerer Lebensverhältnisse umgewandelt.3 Wir fragen aber: war es nur der Fortschritt in Natur- und Geschichtskunde, dem wir diese erwünschte Umwandlung der menschlichen Denkweise zu danken haben, oder findet sich irgendwo diese Anschauung bereits mit Innigkeit und Klarheit ausgesprochen, bevor die nachfolgende reifere Forschung und Erfahrung sie aufstellen und bestätigen konnte? So weit ich davon entfernt bin, der menschlichen Geistesarbeit ihre Erwerbungen schmälern und ihre Siege verringern zu wollen, so muß ich doch auf jene Frage bejahend antworten. Lange vor aller eigentlichen Forschung im Gebiete der Natur, als noch dicke Finsterniß und eine schwermüthige Fabelwelt unser Geschlecht beherrschte, und eben in Mitten dieser allgemeinen trostlosen Anschauung eines stätigen Rückschrittes hat sich eine entgegengesetzte Weltanschauung gebildet, und ist eine Lehre gelehrt worden, die ebensowohl mit unserer Gemüthssehnsucht, als wie mit den letzten Resultaten einer besonnenern Wissenschaft in Beziehung auf die Zukunft der Erde und ihrer vernünftigen Bewohner auf eine merkwürdige Weise übereinstimmt, ich meine die Messiaslehre im alten Bunde nach der Schilderung der Propheten. Wenn nun zwar einerseits zugegeben werden muß, daß auch den Religionsideen des Judenthumes die Vorstellung einer herrlichen Vorzeit nicht fremd ist: so muß dagegen auch sorgfältig die innere Verschiedenheit dieser Vorstellung von der Völkersage eines goldenen Zeitalters hervorgehoben und zur Erkenntniß gebracht werden. Es muß schon im Voraus erwartet werden, daß eine innere Verschiedenheit zwischen Sage und Sage vorherrschen werde, von denen die eine auf einem ganz andern Grunde ruht, und aus einer durchaus anderen Grundanschauung hervorgegangen ist, als die andere. Jede der Sagen muß an sich das Zeichen ihres Ursprunges tragen, und, bei aller äußerlichen Aehnlichkeit, in der Wahrheit eben so weit von einander abweichen, als die beiden Grundsätze, aus welchen jede ihren Ursprung ableitet. Im Mythus vom goldenen Zeitalter, wie ihn der Grieche gebildet hatte, liegt gleichzeitig das Heroenthum, der unmittelbare physische Uebergang der Götterin eine Heldenwelt. Unbestimmt, ob aus einem göttlichen Saamen gemacht, oder von der Erde, die noch himmlische Saat in sich geborgen hatte, freiwillig entsprungen, lebte das jugendliche Geschlecht ohne Arbeit, ohne Furcht, ohne Gesetz, ohne Wissen in den Tag hinein von dem, was der stets gedeckte Tisch

3 Zum selben Zusammenhang zwischen dem paganen „goldenen Zeitalter“ und dem jüdischen Messianismus vgl. später Cohen, Religion der Vernunft, 290–292.



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ihm bot, zufrieden mit den Beeren, die der Strauch, und den Eicheln, die der Eichbaum ihm spendete. So war das Leben der Menschen unter dem Walten des Saturnus. Der ewige Frühling verwandelte sich unter Jupiters Herrschaft in die vier Jahreszeiten, und die Menschen mußten sich, so gut es gehen wollte, vor den Stürmen des Winters schützen, und anfangen, den Acker zu bestellen. Von nun an versank das geplagte Menschengeschlecht in immer schlechtere Zustände, und blieb bis auf diesen Tag im eisernen, dem vierten schlechtesten Zeitalter, ohne Rettung und ohne Hoffnung einer jemaligen Wiedererhebung in bessere, glücklichere Zeiten. Das Paradies der Heidenwelt lag in einer längst vergangenen Zeit, und ist unwiederbringlich von der Erde verschwunden. Wenn wir nun mit dieser Vorstellung die ihr etwa entsprechende im Alten Testament vergleichen, so stellen sich folgende bemerkenswerthe Unterschiede heraus: 1) die heidnische Sage spricht von einem gleich fertigen Menschenvolke: das Alte Testament kennt nur Ein Menschenpaar. 2) Jene räumt eine lange Reihe von Jahrhunderten, ein langes Walten des Saturn, zu einer solchen Epoche ein: Dieses nicht ganz die flüchtigen Stunden eines einzigen Menschenlebens; oder, wie einige Ausleger es deutend angeben, nicht einen einzigen ganzen Tag. 3) Jene schildert besonders das Glück eines physisch unverdorbenen Zustandes, und hebt diesen hervor: Dieses richtet das Augenmerk besonders auf den sittlichen. 4) Jene läßt deßhalb die Menschenstämme ohne Mühe und Arbeit ein rein animales Leben führen: wogegen Dieses schon ursprünglich auf ein Arbeiten, auf ein Herrschen über die Thiere, ein Bearbeiten und Hüten des glückseligen Gartens hinweist. 5) Jene läßt das Menschengeschlecht, man weiß nicht recht weshalb, in allmälig traurige Verhältnisse hinabsinken: Dieses giebt einen plötzlich erfolgten Fall aus einem sittlichen Grunde an. So abweichend nun beiderlei Vorstellungsarten von der Vergangenheit des Menschengeschlechtes und dem Zeitabschnitte, in welchem die Geschichte der Urzeit verlief, sein mögen, so weichen beide noch auffallender in Beziehung auf die Vorstellungen von der Zukunft von einander ab. War die Vergangenheit im Heidenthume eine Epoche des Glückes und des Friedens: so war seine Zukunft eben so dürftig als trostlos. Alle Seligkeit, alle Höhen des Menschengeschlechts lagen ihm rückwärts; vorwärts nichts, als Versunkenheit und Elend. Selbst nach dem Tode erwartete es nur ein ödes Vergessen und einen Zustand zwischen Sein und Nichtsein, einen Zustand der Ohnmacht, in seinem Hades. Von einer dereinstigen Erhebung, Veredlung, von einem Fortschritte der Menschheit findet sich kaum eine Ahnung. Selbst die hochgepriesene Lichtlehre Zoroasters kannte keine Zukunft des Menschengeschlechts, als nur ein Schwinden der Gegensätze, und eine Wiederkehr des vom Lichte Abgefallenen, und seine Auflösung im allgemeinen Lichte, dem so genannten guten Principe. Bei allen diesen Vorstellungen ist noch das erheblich, daß ihre Zukunft immer in ein Jenseits verlegt wird: eine

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veredelte Zukunft fürs Erdenleben, eine geistigere, sittlichere Aera der Menschheit im Ganzen noch hienieden, kennt und lehrt einzig das Alte Testament. Diese frohe Botschaft an die Menschheit, diese Verheißung und Ankündigung einer lichtern Zukunft der Geschichte, hebt an mit dem Bunde und dem Segen Abrahams, setzt sich durch die Patriarchenzeit fort, und erreicht ihren höchsten Glanz mit dem traurigen Verfalle des politischen Reiches in den Verkündigungen der Propheten. Wenn wir nunmehr diese Gegensätze in kurze Ausdrücke fassen wollen, so können wir sie also bestimmen: das Heidenthum ist eine Religion der Vergangenheit: das Judenthum der Zukunft. Jenes die Vorstellung eines stätig sinkenden: Dieses eines stätig steigenden Menschenthumes. Jenes ohne Schluß und Ziel: Dieses mit der Zuversicht einer endlichen Verwirklichung der menschlichen Bestimmung in der Idee des messianischen Reiches auf Erden. Zu diesen bezeichnenden Gegensätzen des heidnischen zum jüdischen Bewußtsein fügt sich dann der bedeutsamste noch hinzu, der darin liegt, daß der Mythus in allen seinen Herrlichkeiten einer Urzeit, in der menschlichen Unschuldsepoche nur die Bestimmung eines Sinnlichen, eines Lebens voll Behaglichkeit und Ruhe im ewig ungestörten Genusse der Kraft und Gesundheit als Ideal menschlicher Zustände aufzustellen vermochte: die Offenbarung aber in ihrem Paradiese der Zukunft, in der messianischen Zeit, statt des sinnlichen, ein sittliches Moment als Ausgangspunkt aufstellt, und sie als die Epoche höheren, allgemein verbreiteten Lebens in Gott, in tieferer Erkenntniß seines Heiles, und im Genusse seines wunderbaren geistigen Anschauens und in Ausübung seines heiligen Willens auf Erden schildert und verkündet. Hat nun aber das Heidenthum nur eine Vergangenheit voller Glanz und Freuden, dagegen aber eine Zukunft voller Nacht und Erniedrigung; und hat dagegen das Judenthum eine Vergangenheit (selbst im Gan-Eden) ohne solchen Glanz und ohne jene Herrlichkeit, dafür aber eine Zukunft voller Friedens und höherer, seliger Freuden: so begreift jeder, daß für die Geschichte der Menschheit mit dem Auftreten der Religion der Zukunft, die der Vergangenheit ihre Endschaft erreicht, und ihre Mission als eine vorübergegangene angesehen werden müsse. Die heidnische Religion hat ihre Sendung vollbracht und der jüdischen ihre Zukunft abgetreten. Nur diese hat noch immer ihre hochheilige Mission in sich, und die Aufgabe der Zeit ist, diese in ihrer klarsten Reinheit zum Bewußtsein zu bringen, und mit derselben klaren Reinheit in Wort und That, im bürgerlichen und kirchlichen Leben, im Wandel und Gottesdienste zu ihrer Wahrheit zu erhöhen vor den Augen der ganzen Menschheit. Das Heidenthum ist theils neben dem Judenthume abgestorben, und wird in diesem Processe des Absterbens neben ihm immer fortfahren, wo es immer in seiner Geistesnähe, in der Nähe dieses feurigen Schmelzofens der Wahrheit, verweilt; auch muß, was vom alten



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Götzendienste sich in die lauteren Vorstellungen des Judenthums hineingestohlen hat, was sich ihm in seinem Ringen mit dem Heidenthume von diesem angehängt, oder sich gar mit ihm vermengt hat, durch seine eigene innere Lebenskraft sich wieder von ihm ausscheiden, wie das reine Gletschereis alle Trümmer und Schlacken auf die Oberfläche aus seinem Inneren heraufbringt, und dann von sich wirft. Diesen organischen Proceß sehen wir in unseren Tagen sichtbarer, wie je, vor sich gehen, theils innerhalb des Judenthumes selbst, theils in manchen seiner Ausläufer, in welchen jene Legirung mit dem unedlen Korne heidnischer Irrthümer noch stärker und deutlicher geschehen ist. Zur endlichen vollkommenen Ausscheidung des Fremdartigen im Gemische religiöser Anschauungen kann aber nur die vollkommene Aufklärung führen, nämlich die wahre und klare Vorstellung des Inhalts einer echten Offenbarung und somit ihres Unterschiedes von dem, durch was sie eben durch Vermischung verunreinigt ist. Es ist des Verfassers Absicht, demgemäß jene oben angegebenen Gegensätze in den Anschauungen vom Paradiese und der Eschatologie (der Zukunft der menschlichen Zustände) auf die Grundanschauungen, aus denen sie hervorgegangen sind, und in denen ihre Gegensätzlichkeit begründet ist, zurückzuführen. Die Vorstellung von den vier Zeitaltern und dem Herabsteigen aus vollkommeneren in unvollkommenere Zustände wurzelt in der allgemeinern des entsprechenden Zustandes der ganzen Natur in einer unvordenklichen Zeit, und vom allmäligen Abfalle des Unvollkommenen von sich selbst, seiner Verkörperung und Vertrübung in der Natur. Die ganze sichtbare Welt war nichts als eine immer tiefere Verschlechterung der ursprünglichen Gottheit und ihre Entäußerung aus dem reinen Urlichte zur schweren, dunkeln, trüben Materie. Jenem Zustande ursprünglicher Einheit und Reinheit entspricht eben ganz und gar der Mythus vom goldenen Zeitalter; und jener fortschreitenden Verderbniß zur trüben Materie und zur Entzweiung, zum Abfalle von Gott, die folgenden, immer trüberen Zeitalter unseres Geschlechts. Man hat zwar in der Alttestamentarischen Erzählung von dem Paradiese und der Versündigung des ersten Menschenpaares durch Ungehorsam gegen Gott einen gleichen Mythus entdecken wollen, hat sich indeß offenbar durch eine oberflächliche Aehnlichkeit dazu verleiten lassen, und besonders dadurch, daß man auf die Uebereinstimmung einer jedweden Vorstellungsweise mit der Grundansicht, aus der sie abzuleiten ist, nicht gehörig Acht gab. Der Zustand Adams deutet nicht auf den eines vollkommenen Wesens, sondern nur auf die Abhängigkeit eines Kindes von seinem Vater; der adamitische Sündenfall ist nicht die Idee eines Abfalls vom Göttlichen und einer stätig fortschreitenden Verfinsterung in der Sinnlichkeit, sondern nur die eines ungehorsamen Sohnes, der das warnende Gebot des Vaters überschreitet. Eine sinnliche Genußsucht, eine Lüsternheit, die zur Uebertretung eines göttlichen Gebotes

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ausschlug, hat doch gar keine Aehnlichkeit mit der Vorstellung einer natürlichen, einer physisch-organischen, allmäligen Verschlechterung, wie sie uns Ovid im ersten Buche der Metamorphosen schilderte. Man sieht vielmehr hier klar ein, wie das Heidenthum seinen Gedanken eines Sündenfalls, seine kosmogonische Lehre von dem Weltursprunge aus der göttlichen Idee, auch auf den Ursprung und die Geschichte unseres Geschlechtes ausdehnen und anwenden wollte. Wie die ganze sichtbare Welt ein Product des Abfalls von Gott ist, so ist auch die Menschheit eine kosmologische Verfinsterung aus einem Urlichte. Und nicht nur das Menschengeschick ist in diesem Ausdrucke auf die heidnische Grunddenkweise zurückzuführen, sondern auch ihre Theorie von einem Abfalle der Geister überhaupt, und ihre mannichfachen Vorstellungen von einem Zwischenreiche von Geistern, gefallenen und im Lichte verbliebenen. Wir finden abermals hier einen Mythenkreis, ein System von Vorstellungen, die in naher Verwandtschaft zu einander stehen, und mit einander einen organischen Cyklus darstellen, weil sie sich insgesammt aus einem Hauptgedanken herleiten, nämlich dem, daß die Welt nicht ein Werk, sondern eine Offenbarung, eine Manifestation des Verborgenen, eine Entäußerung der Herrlichkeit Gottes sei. Zum Grunde liegt mithin dem Cyklus von Anschauungen das Princip einer physisch-organischen Weltentwickelung nach innerer, ewiger, unveränderlicher Gesetzmäßigkeit. Wir wissen aber, daß diese Anschauungen des Heidenthums einen schroffen Gegensatz zu denen der Offenbarungslehre bilden, die in ihrem ersten Grundsatze von der Weltschöpfung sowohl, als auch in allen consecutiven Vorstellungen und bildlichen Auffassungen genau das Gegentheil von dem lehrt, was das Heidenthum behauptet. Wie diesem die Welt die Einkerkerung und Verschlackung der Gottheit ist, so der leibliche Mensch die Einkerkerung und Verschlackung des Menschengeistes. – Aus dieser Prämisse folgt dann naturgemäß auch die adäquate heidnische Ausgleichungs-, oder Versöhnungs-, die Opferlehre, welche im Alten Testament nur als ein heterogenes Element (der Halsstarrigkeit des Volkes halber – daß sie nicht den Waldteufeln opfern), eingeschoben ist.4 Das consequente Judenthum in den Propheten verwirft die Opfer, die auf eine heidnische Cardinallehre von der Weltschöpfung zurückführen, die mit der Offenbarungslehre in Opposition tritt, und dem Offenbarungsglauben widerstreitet. Wer demnach die Messiasidee mit einer Opfer- oder Aussöhnungslehre in Verbindung setzen wollte, der würde nicht im Offenbarungsbegriffe, sondern im Heidenthume stehen; denn nur die Voraussetzung eines Abfalls nach der

4 Maimonides’ Akkommodations-Lehre vom biblischen Opferkultus (vgl. Führer der Verwirrten III, 32) ist hier offenbar schon vollständig in die Gedanken der liberalen Theologen eingegangen, ohne dass ihr eigentlicher Autor noch erwähnt wird.



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heidnischen Vorstellung giebt als integrirende Consequenz die Opfer- und Versöhnungslehre. Nur ein totales Verkennen des wahren Wesens der Offenbarung kann beide Anschauungen mit einander vermischen. Die ganze Opferlehre weist auf einen heidnischen Begriff hin, der im Worte διϰαιοσύνη ausgedrückt wird; es ist eine antike Compensationstheorie, nach welcher die Ueberzeugung waltete, daß die weise Natur das Mangelhafte auf eine andere Art und an einem anderen Orte compensire, und daraus folgt die ganze Lehre von der stellvertretenden Genugthuung dieser Gerechtigkeit Gottes, oder der genau wägenden Natur.5 Diese physisch-heidnische Aequivalententheorie steht nun in schroffem Gegensatze zur Lehre von der freien That und der Gnade Gottes, wie sie im Alten Testament vorgestellt wird. Der Nachsatz entspricht so seinem respectiven Vordersatze: die Genugthuungslehre der vom Abfalle; die Lehre von der Zukunft der von der Vergangenheit. Die Zukunftslehre der Offenbarung stellt sich uns dar, als die reine Messias­ idee, ohne politisch-legitimistischen Zusatz einer Davidischen Descendenz, die eben so nach dem fremdartigen Gelüste „eines Königes, wie die Völker um uns her“,6 schmeckt, als die Opferordnung dieses ganzen fremdartigen, sinnlichen Heidenvolkes. Die Offenbarung lehrt uns eine immer heller und heller aufsteigende Zukunft; eine immerdar wachsende Erkenntniß, eine stätige Veredlung des humanen Lebens, das seinen Scheitelpunkt im Gottesreiche oder der Messias­ zeit erreicht. Das Wesenhafte dieser Epoche ist der Sieg der Freiheit über das Gesetz der Natürlichkeit; die Herrschaft der Sittlichkeit über die Sinnlichkeit; die allgemeine Ueberzeugung von der Kraft und der Wahrhaftigkeit des Reichs des Geistes und seines Sieges über das Reich der Materie, der physisch-organischen oder heidnischen Theorie von Gott, Menschen und Welt. Alle die altheidnischen Vorstellungen von der Descendenz gewisser Menschen und Familien von Gottheiten und alle auf ihnen begründeten Ansprüche auf Privilegien, und alle eingebildeten Prärogative der Geburt und des Erbadels müssen schwinden vor dem feierlichen Proteste der Offenbarungslehre, vor dem Siege des Gottesreiches, des Reiches des Geistes und seiner Freiheit, über die organische Legitimität und das ihr entsprechende Sklaventhum der Unedlen. Vor Gott und dem Rechte sind Alle gleich; Ein Adelsdiplom bleibt nur noch unter den tausend vermoderten falschen unverweslich zurück, das: im Ebenbilde Gottes ward er erschaffen!

5 Διϰαιοσύνη – Gerechtigkeit, Recht, oft auch: Handeln im Einklang mit Gottes Willen. Wie diese ganze Passage kritische Anklänge gegenüber dem Christentum aufweist, so wird auch dieser Begriff, den Steinheim hier als vollkommen heidnisch definiert, oft in den Evangelien gebraucht. Vgl. zum Beispiel Matthäus 5, 20 in direkter Auseinandersetzung mit den Pharisäern. 6 Nach 1. Samuel 8, 5.

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Mit derselben zuversichtlichen Ruhe, mit welcher der edle Naturforscher in den großartigen Scenen unseres Planeten die ununterbrochene Arbeit wahrnimmt, die aus den wilden Gebilden fruchtbare Ebenen, Hügel und Thale schafft, und in allen diesen leisen oder gewaltsamen Umwandlungen nichts anderes, als die Vorbereitung zu einer Herrschaft des Vernunftlebens und zur Erringung eines geistigeren Zustandes aus einem materiellen erkennt: mit derselben Zuversicht und Gewißheit sieht der Offenbarungsgläubige in allen Kämpfen ringender Kräfte der Menschheit, in allen Stürmen der geistigen Natur, in jedem Zerstörungsgange der Geschichte und insbesondere in dem langen, schmerzlichen und leidenvollen Weltgange seines eigenen Stammes, als Trägers der reinen Gottes- und Messiaslehre, einzig und allein die Arbeit des großen und heiligen Weltgeistes zur endlichen Verwirklichung der Messiasidee und zur Darstellung des Gottesreiches auf Erden. Die gesetzmäßige Arbeit der Natur, die ihre Felsen in fruchtbares Erdreich umwandelt, setzt sich fort, indem sie zugleich einen höheren und geistigeren Charakter annimmt, in dem Kampfe und dem Ringen der Menschheit, und dieß ist das lichte Ziel, das unser Glaube uns seit Jahrtausenden vor die Seele gestellt, das er, und nur er allein in still erhabener geistiger Einsamkeit unserem inneren sehenden Auge eröffnet hat. Glücklich ist ein Volk zu nennen, das zum Hüter dieses Schatzes und zum Priester dieses Heiligthumes von der Vorsehung erkohren worden ist; selbst dann ist es noch glücklich zu preisen, wenn es auch nur auf dem Dornenpfade eines langen Märtyrthumes in armseliger Knechtesgestalt im Inneren das Erhabenste zu offenbaren berufen ist; selbst dann noch ist der Priester selig zu preisen, wenn er zugleich auch als Opfer auf dem Altare der Menschheit bluten muß. – Aus seinen Leiden, aus seinem Blute sproßt das Heil, und der leiblich überwundene Dulder wird gleichwohl zum siegreichen Helden, der das Panier des göttlichen Königthumes aller Völker der Erde voran zu tragen gewürdigt worden ist. Ist es wahr, was einer unserer tiefsinnigen Weltweisen von der Menschheit sagt, daß man ihr Alles rauben könne, nur die Entwickelungsfähigkeit nicht; denn mit ihr vernichtete man sein eigenstes Wesen: so bewährt sich abermals die Tiefe der Messiasidee in ihrer ursprünglichen Reinheit. Ihre Analogie und Vorspiel findet sie in jener noch andauernden Fortbildung unseres Erdkörpers, wie ihre Bestätigung in dem Berufe Israels, in seinen Leiden und in seinem ganzen Erdenwallen, das sich in seinen hervorragendsten Personen, in den Lehren und Verkündigungen der Propheten offenbart. Diese kleine Schaar darf sich der Knechtschaft Gottes wohl rühmen, denn aus ihr sind die Wächter – die Hüter eines erhabenen Gedankenreiches hervorgegangen, wenn auch die Masse, aus welcher diese hohen Gestalten hervorragen, noch immer wie taub und blind nicht erkennt, welch eine Strahlenkrone über ihrem Haupte schwebt, welch ein Ehrenposten ihr anvertraut ist. Noch immer hallt die klagende Stimme Jesaiah’s:



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Ihr Tauben hört, und ihr Blinden öffnet die Augen! Wer ist denn so blind, wie mein Knecht; wer so taub, wie der Bote, den ich sende?7 … Noch ist die Messiasidee nicht zum vollen Bewußtsein durchgedrungen; noch hängt an ihr die Schlacke des Heidenthumes.

7 Jesaja 42, 18.

Salomon Ludwig Steinheim

Die politische Legitimität und die Lehre der Offenbarung in: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 4 (1845): 130–39 Nur drei Monate nach dem Erscheinen seines Artikels über die Messiasidee veröffentlichte Steinheim in derselben Zeitschrift einen neuen Aufsatz, den er ausdrücklich als Ergänzung seiner Gedanken über den jüdischen Messianismus verstanden haben wollte. Dieser neue Text konzentriert sich auf den politischen Aspekt der Messiaslehre – wenn auch in einem umfassenden theologischen Rahmen. Hier diskutiert Steinheim vor allem die Entstehung des traditionellen, „zu einem politisch-religiösen Dogma ausgebildeten Messiasglauben“ der jüdischen Quellen und lehnt am Ende wiederum jede politische Legitimität eines menschlichen Königs im Gottesreich ab. Interessant wird der Aufsatz aber vor allem durch die in langen Fußnoten eingefügten Erwiderungen und Anmerkungen des Herausgebers der Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums, Zacharias Frankel (1801–1875). Rabbiner Frankel, der offenbar Steinheims früheren Artikel nicht gelesen hatte, oder wenigstens nun nicht mehr beachtete, versucht ein aufgeklärtliberales Messiasbild im Judentum gegen Steinheims Thesen zu behaupten. So ergibt sich die etwas ironische Konstellation, dass der konservative Rabbiner Frankel eine unorthodoxe Messiasauffassung gegen den liberalen Denker Steinheim verteidigt, der im Grunde nur orthodoxe Theologie referiert, während er seine eigene, teilweise für das Judentum der Moderne bahnbrechende Theorie des Messianismus schon früher dargelegt hatte. Zacharias Frankel gilt heute als der eigentliche Begründer der konservativen Strömung des Judentums und war einer der einflussreichsten jüdischen Theologen des neunzehnten Jahrhunderts. Ab 1836 Oberrabbiner von Sachsen, machte er sich als moderater Reformer einen Namen und erwarb sich große Verdienste um die offizielle Abschaffung des „Judeneides“. 1851 gründete er die für Jahrzehnte in der Wissenschaft des Judentums maßgebliche Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. 1854 schließlich wurde er zum Direktor der ersten modernen Rabbinerausbildungsstätte in Deutschland ernannt, dem Jüdisch-Theologischen Semi nar in Breslau, das unter seiner Leitung über zwanzig Jahre hinweg Generationen von „Doktorrabbinern“ hervorbrachte.

Der gewaltige Gegensatz zwischen Offenbarung und Heidenthum, der im Laufe der Zeiten durch so manche Beimischung von unedlem Zusatze heidnischer Denkweise verdunkelt und verderbt, abgeschliffen und verflacht worden, hat ein gleiches Geschick in seiner nächsten Beziehung aufs Leben erfahren müssen. Es ist nicht an dem, wie es einige Neuere behaupten wollen, daß unser Zeitalter besonders dadurch charakterisirt werden könne, daß die Theorie unmittelbarer in die Praxis übergehe und sie gestalte: zu allen Zeiten, unter allen Völkern ist es nicht anders gewesen, konnte es nicht anders sein. Wie sollte denn auch die Theorie so isolirt in den Lüften, wie ein fliegender Sommer, hangen können,

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da sie es doch einzig und allein ist, die als das Moment, die Vernunft, den Instinct im Menschen vertritt, d. h. ihm sein Thun vorschreibt. Theorie war es seit dem Anbeginne, was unmittelbar die Praxis des Lebens in allen Richtungen beherrschte und bestimmte; nur waren die Theorien verschieden, es gab rechte und schlechte, höhere und niedrigere, freiere und knechtischere, reinere und vermischtere, offenbare und verheimlichte. Wenn wir uns nach den Ursachen umsehen, durch welche ein unbegreiflicher Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, Lehre und Leben erzeugt wird, so müssen wir also immer auf eine vorangegangene Vermischung zweier heterogener Theorien zurückgehen, von welchem die eine jene Praxis ins Leben ruft, die mit der zweiten im Widerspruch steht. Denn das Leben ist der zuverlässigste Probierstein der Theorie und gewissermaßen ihre Probe. Wo im Leben der Zwiespalt hervortritt, da ist er ganz gewiß vorher in der Theorie vorhanden gewesen. Sehen wir uns aber nach den Bedingungen um, unter welchen solche Ursachen – unreine Theorien, Denkwidersprüche – die Praxis verderben, so stellen sich besonders zwei heraus: erstlich – und zwar als allgemeine vorwaltend – ein unvollkommenes Denken, ein unreines, verworrnes Gefühlsleben, das sich an die Stelle einer folgerichtigen Denkweise setzt; und zweitens der Nachahmungstrieb, der insbesondere den Schwachen in der Nähe des Starken, den Armen im Bezirke des Reichen, den Unbegünstigten dem Glücklichen gegenüber beherrscht. Nicht alle Tugenden, vielleicht die wenigsten, oder vielmehr gar keine, beruhen in diesem allgemeinen Triebe des menschlichen Gemüthes: dafür aber alle Untugenden, alles Schlechte, alles Unzusammenhängende, Lächerliche und alle Zerrissenheit. Dieser Trieb beherrscht nicht allein einzelne Menschen, Familien oder Gemeinschaften: er übt vielmehr seine Gewalt über ganze Völkerschaften, und ist nicht selten Ursache eines Abfalls von ihrer eignen Idee, von ihrem Wesen, einer Untreue gegen ihren innern Charakter und ihres endlichen Verfalls geworden. Denn wie im organischen Leben ein einziger Zentralpunkt die Bedingung des kräftig-gesunden Lebensprozesses ist, und wie sich alsbald mit dem Eintreten eines neuen Punktes neben dem ursprünglichen Zentrum eine Verzerrung des vollendeten Kreises herausstellt: also geschieht es auch im Leben ganzer Völker, wenn sie sich selbst untreu dadurch werden, daß sie ein fremdes Lebensprinzip in sich aufnehmen und ihm Gewalt neben dem ursprünglichen einräumen. Wenn solcher Zwiespalt und solch ein Keim der Zerstörung schon dann sich bemerklich machen muß, wenn dies neue, fremdartige, affectirte Prinzip nur fremdartig, nur ein neues ist: wie muß der Erfolg erst da sein, wo das neue Prinzip gegen das alte in einem feindseligen Verhältnisse, wo es im Gegensatze, in einem contradictorischen Gegensatze mit ihm steht! In einem solchen Verhältnisse aber steht das heidnisch politische Prinzip, diese Ordnung des Staatslebens zum israelitischen, weil eben das höhere Prinzip des Heidenthums mit dem der Offenba-



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rung in einem schroffen Gegensatze sich befindet. Das Prinzip der Offenbarung sprechen wir aus in dem Worte Theokratie, das des Heidenthumes in dem Doppelbegriffe von Hierarchie und Legitimität, die sich gegenseitig ergänzen, wie sich das später herausstellen wird. Diese Gedanken stellten sich in all ihrer Macht bei mir ein, als ich abermals das achte Kapitel im ersten Buche Samuel vor mir liegen und den großartigen Charakter dieses Meisters in Israel, so wie die Tiefe des edlen Geistes, der ihn belebte, in aller Klarheit vor mir aufgerichtet sah. Als nämlich Samuel alt geworden war, und seine Söhne nicht in seinen Wegen gingen, versammelten sich alle Aeltesten und forderten einen König, wie alle Völker ringsumher. Ach, die Aeltesten in Israel sind gar zu häufig solche Thoren gewesen! – Genug! die Aeltesten vertraten abermals die Stimme des Volkes, wie sie es in der Wüste gethan, und es geschah der zweite größere Abfall, als der in der Wüste mit dem goldenen Kalbe. Das Volk Israel fiel von seiner eignen Idee ab, wurde in sich krank, indem es zu seinem eigentlichen Lebensprinzipe, dem theokratischen, ein heidnisch-politisches fügte, dessen Folgen noch bis auf den heutigen Tag sein und aller Völker, die im Laufe der Zeiten seine Gottesidee in sich aufnahmen, Unheil und Verderben werden sollte. Um aber die Weite der Distanz zwischen Heidenthum und Offenbarung genau auszumessen, und aus ihr die Größe des Abfalls und die Wahrheit des einen folgenden Ausspruches im ersten Buche Samuel ganz zu erkennen, wollen wir einmal beiderlei Ideen mit einander vergleichen, indem wir sie auf ihren einfachen Ausdruck und wirklichen Werth zurückführen. In diesem Kapitel heißt es nämlich weiter: „das gefiel Samuel übel, daß sie sagten, gib uns einen König, der uns richte. Und Samuel betete vor dem Herrn. Der Herr aber sprach zu Samuel: gehorche der Stimme des Volkes in Allem, das sie zu dir gesagt haben; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, daß ich nicht soll König über sie sein. Sie thun dir, wie sie immer gethan haben von dem Tage an, da ich sie aus Aegypten geführt, bis auf diesen Tag, und haben mich verlassen und anderen Göttern gedienet.“1 Offenbar wird an diesem Orte das Königsthum in Israel als ein Verwerfen Gottes und als Abfall bezeichnet, zugleich auch auf jenen großen Götzendienst in der Wüste hingewiesen, und dieser mit jenem verglichen und auf einerlei Bedeutsamkeit geschätzt. Königsthum in Israel gilt, oder galt demnach vor Gott gleich dem entsetzlichen Abfall und Verfall im Götzendienst. Das ist klar und kann keinem Zweifel, keiner Widerrede unterworfen sein.

1 1. Samuel 8, 6–8.

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Allein ist dieses Urtheil vielleicht auch zu hart, und wäre es doch wohl der sichtlichen Verstimmung Samuels beizumessen, daß er diesem Thun in Israel eine so schwere, eine so schmähliche Bedeutung gab? Diese Ansicht ließe sich allerdings aus dem unbeugsamen Charakter des Propheten wahrscheinlich machen, und der Text selbst gibt nur zu sehr Veranlassung dazu. Denn da wird uns erzählt, Samuel habe vor Gott gebetet, als die Aeltesten ihm solche Vorschläge gemacht, und da habe ihm Gott zur Antwort gegeben, nicht er (Samuel) habe sich zu beschweren, sondern Gott selbst. Der Riß gehe tiefer, als daß er für einen bloßen Undank gegen die Verdienste Samuels angesehen werden dürfe. Es sei nichts Geringeres als ein Abfall von Gott, und nur dem zu vergleichen, der vor Zeiten in der Wüste vorgefallen war. Wir Alle aber wissen, welche Bedeutung jenem Götzendienste Aegyptens, dem wilden ruchlosen Tanze um den Stiergott, den Aaron gegossen, beigelegt wird, denn noch heute wird in allen Bethäusern Israels dieser Abtrünnigkeit halber um Gnade und Vergebung gebeten, und noch heute erfüllt des Frommen Herz ein Abscheu, ein tiefer Schauder, wenn an jenem Tage der Versöhnung dieses Gräuels gedacht wird.2 Warum aber, da doch dieser Abfall in der Wüste bald überwunden ward, und da bald nach dem Abthun jenes Götzendienstes Alles wieder in seine vorige Ordnung zurückkehrte, wird dieser so tief gefühlt und noch diesen Tag mit wahrem Ernste beklagt: da doch der zweite, der Abfall von Gott zum Königthum, nicht sowohl mit Gleichgültigkeit betrachtet, als vielmehr, in seinem Uebergange auf das Haus Israel, als ein gedeihliches Ereigniß, selbst als ein Glaubensartikel in die Dogmatik des Judenthums übergehen und sanctionirt werden konnte? War das Begehren des Volkes kein Verwerfen Gottes: warum erklärte es Gott selbst dafür? War es hingegen ein Verbrechen, jenem in der Wüste zu vergleichen, wie konnte dann dieser Götzendienst jemals zu solchen Ehren gelangen? Wenn wir, um diesem Dilemma zu entrinnen, irgend Einen der Orthodoxen fragen, so wüßte ich kaum, wie er anders sich aus der Verlegenheit retten könnte, als indem er den Ausspruch Gottes durch den Mund eines seiner größten Diener und Propheten, Samuels, für übertrieben ausgäbe. Denn also wills der späterhin zu einem politisch-religiösen Dogma ausgebildete Messiasglaube.

2 Der Jom Kippur, der große Versöhnungstag der jüdischen Liturgie, ist nach der jüdischen Tradition der Tag, an dem Moses das zweite Mal die Tafeln mit den Geboten erhielt, die er angesichts des goldenen Kalbes zerbrochen hatte. Moses kehrt nach 40 Tagen auf dem Berg Sinai zum Volk zurück und bringt Versöhnung für die Sünde des Götzendienstes. Der Hohepriester trug an diesem Tage keine goldgeschmückten Kleider, um nicht an das goldene Kalb zu erinnern (vgl. LevR 22, 10).



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[Anmerkung von Zacharias Frankel]: Im Messias wird nicht der König und gewaltige Herrscher, sondern der Lehrer und Verbreiter des Glaubens und der Wahrheit erhofft und erbeten, unter dem in Erfüllung gehe: „an diesem Tage wird sein der Ewige einzig und sein Name einzig.“3 Es ist eigentlich die durch den Messias herbeizuführende Zeit, „wo die Erde voll sein wird von Gotterkenntniß“4, die erhofft und erbeten wird: die materielle Macht, die Herrschaft, der Sieg des monarchischen Princips, im Hause David repräsentirt, ist wahrlich nie das Ziel der Wünsche gewesen: „zwischen jetzt und der Zeit des Messias waltet materiell nur der Unterschied, daß der äußere Druck aufhören werde“, sagt schon ein talmudischer Autor,5 und ist hierüber ausführlich zu vergleichen Maimonides de Reg. cap. ultim.6 – Wenn die Propheten auf den Messias hinweisend ihn einen König aus dem Hause David nennen, so wollen auch sie nicht einen absoluten Herrscher bezeichnen und war ihr Ideal, wie es sich bei ihnen vielfach abspiegelt, zu hoch, als daß in ihm die vertretene Legitimität wahrzunehmen wäre. Denn sprachen sie auch zum Volke nach dessen Begriffen, von einem Könige, so supplire man dafür einen Richter, einen Präsidenten an der Spitze der Republik. Man vergleiche übrigens, welche Rechte Samuel, obschon etwas zu grell, dem König vindicirt, und ob der Messias der Propheten in mindester Berührung mit einem solchen Autokraten stehet.

Wir wollen indessen uns nicht an die verknöcherte Orthodoxie wenden, sondern die Urim und Thumim, den Geist der Offenbarung und der Geschichte unseres Volkes befragen,7 um uns über diesen großen Fragepunkt, mit welchem noch andere bedeutsame Fragen der Gegenwart, und die Beurtheilung unserer Bestimmung, wie unserer heranrückenden Zukunft zusammenhängen, mit Klarheit und Sicherheit zu entscheiden. Thun wir deßhalb, unserem Motto getreu, einige Schritte zurück, um desto rascher und sicherer vorwärts zu kommen: recede ut procedas! – Der Anknüpfungspunkt werde abermals die treffliche Hermeneutik Kants von der biblischen Erzählung des ersten Brudermordes und seinen Ursachen.8

3 Sacharja 14, 9. 4 Jesaja 11, 9. 5 Mar Samuel – an verschiedenen Stellen, vgl. bT Ber 34b und San 99a. 6 Das letzte (12.) Kapitel von Maimonides’ Kodex Mischneh Torah, Gesetze über Könige und Kriege: hier allerdings lässt sich Frankels Messias-Idee nur insofern wiederfinden, als auch Maimonides nur das Ende äußerer, politischer Bedrückung Israels als ein Merkmal der Messiaszeit sieht – im Gegensatz zu einer übernatürlichen, apokalyptischen Eschatologie, wie sie der Talmud kennt. Diese staatliche Befreiung Israels, die bei Maimonides als Voraussetzung für die Verbreitung der Gotteserkenntnis gilt, wird jedoch durchaus von einem „König und gewaltigem Herrscher“ herbeigeführt, wie das vorangehende elfte Kapitel des Kodex deutlich macht. 7 Urim und Thumim – nach Exodus 28, 30 die Orakelsteine des Hohepriesters. 8 Kants Deutung der Kain-und-Abel-Geschichte findet sich in seinem Aufsatz „Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte“ von 1786. Steinheim, zeitlebens Kantianer, verweist hier auf die erste, noch mit Kants Erlaubnis von Johann Heinrich Tieftrunk besorgte Ausgabe seiner Vermischten Schriften von 1799.

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Was ist das Wesen und der wahre Sinn einer Theokratie, einer Staatsverfassung nach dem Grundbegriffe der Offenbarung? Begreiflich dieses, daß als erstes und einziges Staatsoberhaupt die Gottheit selbst anerkannt werde. Jede anderweitige Dienstbarkeit, jede Huldigung, die nicht Gott allein zum Gegenstande hat, ist Abweichung von der theokratischen Idee. Die Urvorstellung des theokratischen Prinzips soll nun nach Kant’s Deutung in der Person Abels repräsentirt worden sein. Abel ist der Hirt und seine Arbeit ist eine nomadische freie, die ganze Gotteserde, jeden grünen Weideplatz dem ersten besten Nachfolger abermals zum einstweiligen Nießbrauche überlassend. Das Wesen des Nomadenstandes ist Besitzlosigkeit des Grundes und Bodens. Im Gegensatze zum Nomaden tritt Kain, der Erwerber, auf den Schauplatz der Erde. Seine Arbeit richtet sich auf den Boden, den er zu seinem Nutzen bebaut, und aus dem rohen Naturzustande in einen vernünftigen cultivirten umwandelt. Diese Arbeit ist an ein Bestehendes, Unwandelbares gebunden, und erträgt daher kein solches unstätes Leben wie das Nomadenwesen. Der Raum, den der Erwerber mit seinem Pfluge umgearbeitet hat, wird durch diese Bearbeitung Eigenthum, Besitz, und die letzten Furchenzüge bilden die Grenze. Diese Grenze wird in Sicherheit gesetzt entweder durch Abscheidungen von dem noch nicht Erworbenen, oder gegen die Erwerbnisse der Grenznachbarn. Die Grenze wird durch Gesetze, Uebereinkünfte, Verträge geheiligt: es entsteht die Legislatur. Damit nun dem Gesetze der gehörige Nachdruck nicht fehle, wird es unter die Obhut eines geistigen Wächters gestellt, der die Verletzung des Eigentumes nicht duldet, sie bestrafen läßt, und auch da noch bestraft, wo die Handhabung des Vertrages durch menschliches Richteramt nicht möglich ist, wo die Uebertretung diesen sterblichen Richtern geheim blieb. Es tritt nunmehr zwischen dem unsichtbaren Gott, dem Schöpfer von Himmel und Erde, der seine Erde dem Menschen zur Wohnung in ganz allgemeiner Weise angewiesen, und dem Ackerbauer eine göttliche Mittelsperson ein, ein Gott, der nicht Schöpfer, nicht allmächtig, nicht von Ewigkeit her ist, sondern der Sohn der unendlichen, ihre eignen Kinder verschlingenden Zeit, der Sohn des Kronos, Zeus, Jupiter, der Rächer und Schützer der Grenze und des Besitzes (Ζεὺς ἕρϰιος) und der durch Eidschwur bekräftigten Verträge (ὅρϰιος). Daraus erklärt nun Kant, wie es in der Bibel heißen könne, daß Gott Abel’s Opfer mit Wohlgefallen aufgenommen, aber Kain’s verworfen habe. Denn der Ackerbauer hat zwischen sich und dem ewigen Gotte noch andere Gottheiten, gewissermaßen Mittelsgötter, verehrt. Der Hirt aber erkennt nichts über sich, als den Höchsten. Die Person Abel’s, des Nomaden, stellt nun das Wesen und den Ursprung des israelitischen Stammes dar, und in dieser symbolischen Darstellung liegt gleichzeitig der Ausdruck, daß diesem Stamme ursprünglich der einfache naive Monotheismus eigenthümlich angestammt sei. Abraham und seine Nachkommen bis auf die Eroberung des gelobten Landes waren nomadisirende Zeltenbewohner,



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und wie Abraham sich von seinem Vaterhause entfernte, und von Steppe zu Steppe, ohne Besitz, durch Canaan wanderte, wurde er ein Feind des Polytheismus, und, nachdem er seines Vaters Götzenbilder zerschlagen hatte, lehrte er im Namen des Einzigen, des Schöpfers von Himmel und Erde; während die Ackerbauer, die Besitzer des Landes ringsumher, dem Polytheismus, dem Prinzipe des Brudermörders Kain, ergeben waren und Feldgöttern dienten.9 Aber es lag in dem tiefen Plane des Geistes der Geister, dem unstäten Nomadenleben ein Ende zu machen, da nur im ruhigen Besitze Künste und Wissenschaften zu einem gedeihlichen Ziele zu bringen sind; und doch sollte nicht damit dem Wesen einer wahrhaften Erkenntniß Gottes – denn nur durch diese ist die wahrhafte menschliche Sittlichkeit zur endlichen Vollendung hinauszuführen – irgend ein Abbruch geschehen. Es ward daher ein Nomadenvolk, mit seinem monotheistischen Nomadenprinzipe, der Theokr atie, in ein Ackerbauvolk verwandelt, das mithin gewissermaßen in einen Widerspruch mit sich selbst gesetzt wurde, einen Widerspruch, der dennoch durchgesetzt werden sollte, und es auch ward. Der dem Ackerbauprinzipe naturgemäße Polytheismus wurde mit der höchsten Consequenz als ein Abfall von dem Lebensprinzipe des israelitischem Hirtenstammes verbannt, selbst dann noch, als sich sein Beruf in den eines Ackerbautreibenden umgewandelt hatte. Aus diesem innerlichen Widerspruche – so nothwendig auch dieß Mustervolk und Paradigma für alle Völker der Erde zu werden berufen war – fließt nun ganz natürlich die wahre Bedeutung des von den damaligen Aeltesten in Israel dem Propheten Samuel abgetrotzten Königthumes, mit seiner bürgerlichen Gesetzmäßigkeit, dem Legitimitätsprinzip. Das Königthum Israels war die natürliche Consequenz des Ackerbauprinzips, aber zugleich auch der tiefste und unheilbarste Abfall von seiner eigentlichen Lebensidee des Monotheismus und der Theokratie, der unabweichbaren Wage in den prinzipiellen Polytheismus mit allen seinen entsetzlichen Consequenzen.10 Hätte nun Samuel seinen bornirten derzeitigen Aeltesten die Sache in ihrer tiefen Wahrheit vorgestellt, indem er ihnen das Wort Gottes, „sie haben nicht dich, mich haben sie verworfen“, wiederholt hätte: so würde kein einziger von ihnen seine Rede verstanden haben. Sie würden höchstwahrscheinlich geglaubt haben, Samuel sei alterschwach und unklug geworden. Denn die Aeltesten hatten

9 Hinweis auf die bekannte Midrascherzählung, in der Abraham die Götzenbilder seines Vaters zerstört (GenR 38, 13). Nach Maimonides’ historischer Darstellung der Entstehung der Vielgötterei war es Abraham, der den Monotheismus nicht nur als erster wiederentdeckte, sondern auch seiner Umgebung lehrte (Mischneh Torah, Gesetze vom Götzendienst 1, 3). 10 Damit ist natürlich für Steinheim auch der davidische Königs-Messias der jüdischen Tradition mit der „Lebensidee des Monotheismus“ unvereinbar.

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es schon damals so an sich; sich allein für weise zu halten, und das, was sie nicht verstanden, für Thorheit. Deßhalb hat der einsichtsvolle Prophet einen passenden Weg eingeschlagen, indem er ihnen das bisher noch uncensirte berühmte Königsgesetz vorlegte.11 Wundern muß man sich aber nicht, daß sich schon im Unternehmen, einem agrarischen Volke eine Theokratie zu verleihen, eine G ewalt herausstellte, daß ein Wi d e r spruch zwischen der innern Bestimmung Israels und seinem unsterblichen Berufe zum Landbauer enthalten ist. Denn sagen wir es nur gerade heraus – dieser Widerspruch ist nur ein, von einem höhern entfernter liegenden abgeleiteter. Der Widerspruch eines agrarischen Volkes mit nomadischer Theokratie ist tiefer begründet in dem allerersten Widerspruche zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, Gnade und Gesetz, Sittlichkeit und Natürlichkeit, Geist und Materie. Die Offenbarungslehre hat eben so sehr, und noch früher, bevor sie zur Beherrschung einer größeren Gemeinschaft gelangte, eine Gewalt zu üben über das natürliche Denken und Thun des Menschen. Sie hält sich auf der Seite des geistig-sittlichen Wesens, während das Naturgemäße, das dem Gesetz Gemäße, sich auf der physisch-legitimen Seite hält. Das Wesenhafte des Letzten besteht in der Vorstellung, daß auch das geistig Bevorzugte ein Product des physischen Actes, eine Folge der natürlichen Fortpflanzung, eine Erbschaft von den Urahnen her sei. Hier steht in seiner ganzen Blöße der Begriff der Legitimität, wie er von einem hochgefeierten französischen Staatsmanne zur Befestigung des Bestehenden, des Besitzes, des Ackerbau- oder Kain-Prinzips in neuester Zeit sanctionirt worden ist.12 Hiernach aber ist auch die Beurtheilung der politischen Messiasidee gegeben, die, wie sie sich im nach-davidischen Zeitalter aus- und fortgebildet hat, eine Vermischung darbietet von einem wesentlichen Theile der Offenbarung–der einstigen sittlichen Vollendung des Menschengeschlechts in einem einzigen gottähnlichen hohen Menschenexemplar; und anderseits von dem unsittlich-heidnischen legalen Erbrechte, mit der verwerflichen Vorstellung einer Unterwerfung des Geistigen im Menschen unter das Gesetz der Fructification, das nur bis zum Menschen in dem Pflanzen- und Thierreiche herrscht. [Anmerkung von Zacharias Frankel zu „einem einzigen gottähnlichen hohen Menschenexemplar“] Dem aber Jedermann nachstreben und es erreichen kann; denn die Persönlichkeit des Messias hat nichts Uebernatürliches, ist nicht von Gott gezeugt und als Vermittlerin hingestellt, sondern es hat der Messias diese Vollkommenheiten durch eigenes Streben unter dem Beistande Gottes erlangt und auf diesem Wege soll ihm Jedermann nachwandeln. Und er soll geebnet werden dadurch, daß äußerer Druck und Religionshaß und störende Einwirkung der Verhält-

11 1. Samuel 8, 4–18. 12 Vermutlich ein Hinweis auf Emmanuel Joseph Sieyès (l‘abbé Sieyès, 1748–1836).



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nisse aufhören: dieses ist die Zeit des Messias,13 das Individuum selbst muß aber auch dann noch weiter an seiner Vervollkommnung arbeiten. – So wie nun Gott Gefallen hatte an Israel wegen seiner Urahnen14 (und der Herr Verfasser erblickt doch hier nicht das unsittlich-heidnische legale Erbrecht, sonst hätte er zu der vordavidischen Zeit schon hinaufsteigen müssen) und dasselbe [Israel] zum Träger seines Namens machte, von dem die Erkenntniß sich weiter verbreiten soll, so soll auch ein Mann aus dem Hause Davids, da der Herr an diesem Wohlgefallen gefunden, als ein nicht unerreichbares Vorbild eine bessere Zeit (und auf diese ist doch, wie erwähnt, die eigentliche Verheißung und die Sehnsucht gerichtet, und verschwindet vor ihr die Individualität des Messias) herbeiführen.15 Wenn übrigens der Herr Verfasser hier eine Grenze zwischen dem vor- und nachdavidischen Zeitalter ziehet, so dürfte er uns den Beweis schuldig bleiben, wo denn in der vordavidischen Zeit die Messiasidee ausgedrückt ist.16 Der Herr Verfasser ist einerseits zu selbstständig, um sie, wie mancher christlichen Theologen Nachbetende, Deuteron. 18, 18 finden zu wollen,17 und anderseits würde dieses auch seinem Prinzipe geradezu widersprechen. Es erscheint uns daher etwas befremdend, daß, da die vordavidische Offenbarung des Messias nicht in der Weise des Herrn Verfasser Erwähnung thut, die Propheten aber etwas ganz Anderes aussagen, hier eine „Messiasidee nach der Offenbarungslehre“ zu finden, die, wie trefflich sie auch vom Verfasser dargestellt ist, doch nicht mit der Offenbarung in realer Beziehung stehet.

Der große Protest gegen die angestammte Knechtschaft, das feierliche Manifest und die frohe göttliche Botschaft an das arme geknechtete Menschengeschlecht, daß wir alle in seinem Ebenbilde, d.h. frei geschaffene Geister und von physischer Gesetzmäßigkeit entbunden sind: dieser erhabene Protest gegen die Knechtschaft und geistige Unwürdigkeit nach der orientalisch-heidnischen Kas-

13 Frankel verweist hier auf Maimonides – (vermutlich) Mischneh Torah, Könige und Kriege 12, 2, wo die oben von Steinheim erwähnte talmudische Äußerung von Mar Samuel (bT Ber 34b) kodifiziert wird. 14 Die talmudische Lehre vom „Verdienst der Patriarchen“, die oft als Legitimierung für das Auserwähltsein Israels angegeben wird. Basierend auf Exodus 20, 5 wird hier das „Bedenken“ (‫ )ּפֹ קֵ ד‬der Schuld oder der Liebe der Väter an den Kindern, etwa im Gegensatz zur „Erbsünde“, als ethisches Erbe interpretiert (vgl. Psalm 103, 17f.), das nach dem Talmud allerdings nur eintritt, wenn die Kinder an den jeweiligen Taten der Väter festhalten (bT San 27b). Grundsätzlich gilt für den Talmud (nach Deuteronomium 24, 16 und Ezechiel 18, 20) die individuelle Verantwortlichkeit der Schuld. 15 Für Frankel verschwindet also die Individualität des Messias nicht wie für Steinheim durch die Illegitimität seiner Königswürde in einem zukünftigen Gottesreich, sondern durch die Betonung seiner Mission, seines Zieles (des Gottesreichs), im Gegensatz zu seiner konkreten Person. Beide jedoch bestehen 1845 schon nicht mehr auf einem persönlichen Messias. 16 Frankel gehört offenbar zur Minderheit derjenigen jüdischen Theologen im neunzehnten Jahrhundert, die die Messiasidee nicht schon im Pentateuch angelegt finden – während sie Steinheim wenigstens dem Geiste nach, und von der Idee des Erbadels befreit, in „dem reinen Worte der Offenbarung“ vorbereitet sieht. 17 Vgl. Apostelgeschichte 3, 22 wo Deuteronomium 18, 18 auf Jesus gedeutet wird.

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teneintheilung ist begreiflich zugleich eine eben so triftige Verneinung der angeborenen Suprematie, mithin ein Absagebrief gegen die Legitimität, also der Ehre in aufsteigender, wie die der Unehre in absteigender Linie. Na ch t r ägl iches. Was in der großen, weiten Gottes-Natur die Harmonie, das ist in dem tiefen und heiligen Gottesworte seine durchherrschende Consequenz. Vom Α bis zum Ω findet sich kein Gedanke, keine Anordnung, kein Gebot und kein Wort, das nicht auf die endliche Erfüllung des verheißenen Tages höherer geistiger Vollendung des Menschengeschlechts abzweckte. In dieser durchherrschenden Tendenz einen Widerspruch, eine Anordnung statuiren, die diesem großen Endzwecke widerspräche, hieße das leitende Prinzip der Vorsehung mißkennen und verleugnen. Ist nun aber in der Idee eines endlichen Gottesreiches‚ einer allwaltenden Vernunft und Gerechtigkeit auf Erden, der endliche Sieg des Geistes über die Materie, als die Messianische Zukunft, enthalten, so müßte nothwendig die Vorstellung, daß dieser Geist dennoch an die gesetzmäßig-natürlichen Hergänge, welchen die Thierwelt untergeben ist, immerfort gebunden sei, das so genannte legitime Prinzip, also eine Messiaswürde deßhalb, weil man irgendwoher seinen Stammbaum ableitet, einen Widerspruch gegen die genannte Grundidee enthalten. Somit hätte man nur zwischen zwei Fallen zu wählen: entweder man setzt die Messiasidee nach der Verheißung eines endlichen Gottesstaates, dann ist der Stammbaum eine gleichgültige Sache und die Vorstellung seiner Nothwendigkeit geradezu eine Verleugnung der Verheißung; oder man will das legitime Prinzip im Messias als Hauptmoment geltend machen, so ist nicht abzusehen, weßhalb dieses Prinzip nicht eben sowohl in anderen Sphären gelten sollte, und dann haben wir das alte Vorurtheil der Race und der Präponderanz des animalischen Gesetzes, das altasiatisch-heidnische Kastenwesen, und die heilige Prophetie ist zu Grunde gerichtet. Diese in der Natur der Begriffe begründete strenge Consequenz dürfte mit einem Schlage alle jenen nachdavidischen Vorstellungen gemischter Art eines Gottesreiches (einer unbedingten Theokratie) mit einem Königreiche (einer Monokratie und also eines Abfalles von Gott), in ihrer eigentümlichen Nichtigkeit darstellen und damit aufheben. Denn hier finden sich contradictorische Gegensätze in Eins verknüpft, und man kann es nur als eine Folge mangelhafter Erkenntniß der Offenbarungsidee ansehen, daß Mehrere auch diesen Widerspruch dem reinen Worte der Offenbarung unterschieben wollten, da man sie doch durch diese vermeintliche neue Vollkommenheit um ihre ganze innere Wahrheit zu bringen, Gefahr läuft. Mir will es scheinen, als wenn eben dieß Prinzip, das als ein Hauptmoment im Neuen Testament Geltung gefunden, diesem unendlichen Nachtheil gebracht und seinem „Reiche von jener Welt“ von vorn herein ein mächtiges Dementi mitgetheilt habe. Doch wollten wir dieß lieber denen, die es angeht, überlassen, und vor der eigenen Thüre kehren, damit Vorhof und Tempel rein erhalten werden.

David Einhorn

Der Geburtstag des Messias Predigt gehalten am Erinnerungstag der Zerstörung Jerusalems 5619 (1859) im Tempel der HarSinai-Gemeinde zu Baltimore“, in: David Einhorn Memorial Volume. Selected Sermons and Addresses (New York: Bloch, 1911), 324–331 David Einhorn (1809–1879), promovierte an der Universität Erlangen mit einer Arbeit über die Metaphysik des Maimonides. Er nahm aktiv an allen drei Rabbinerkonferenzen der 1840er Jahre teil und löste 1847 Samuel Holdheim als Landesrabbiner in Mecklenburg ab. 1851 ging er nach Budapest, 1855 emigrierte er in die USA und wurde Rabbiner der ältesten amerikanischen Reformgemeinde in Baltimore. 1861 zur Flucht gezwungen, war er bis 1866 Rabbiner in Philadelphia, danach in New York. In seinem theologischen Hauptwerk Das Princip des Mosaismus, von dem nur der erste Band erschien, beschäftigt sich Einhorn nur ganz am Rande mit dem Messianismus. Seine Perspektive auf dieses Thema kommt vor allem in seinen Redebeiträgen auf der Frankfurter Rabbinerkonferenz von 1845 zum Ausdruck, deren Essenz sich in dieser Predigt von 1859 in Baltimore findet.

„Wozu feiert ihr“ – so höre ich Viele fragen – „wozu feiert ihr den Tag der Zerstörung Jerusalems, das Ereigniß des ‫חרבן בהמ״ק‬1 –ihr, die ihr nicht zurückwollt nach Jerusalem, nicht wünscht die Wiederherstellung des alten jüdischen Staates und Opfercultus? Für euch sind ja an diesem Tage nur Schatten zerflossen! Wozu ruft ihr diese Schatten aus ihren Gräbern?“ Und ich verarge es denen nicht, die also fragen; denn ihre Frage erwächst aus gänzlichem Mangel am Verständnisse unseres Wollens und Strebens; sie verwechseln uns mit jenen gesinnungslosen Neumodischen, die sich über die herkömmliche Anschauungsweise bloß thatsächlich hinwegsetzen, ohne sie im Geiste überwunden zu haben, die unter Reform-Judenthum nichts Anderes, als ein nach Mode und Bequemlichkeit zugestutztes Judenthum verstehen und daher, wenn sie diesen Tag überhaupt noch feiern, heute die Synagoge mit Trauerflören behängen, ohne das herkömmliche Fasten zu beobachten, Kinoth singen, ohne die alte fromme Thräne fließen zu lassen. Ihnen wird mit vollem Rechte zugerufen: „Wozu euer Trauergottesdienst? Geht euch denn wirklich das Schicksal der verwittweten Gottesstadt so tief zu Herzen? Sehnet ihr euch in der That nach jenem Gottesstaate zurück, der euer Thun und Lassen mit Geißel- und Todesstrafe belegen würde?“ Für uns dagegen, Geliebte, ist das heute gefeierte Ereigniß neben dem der Sinaioffenbarung das

1 Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels.

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 David Einhorn

wichtigste unserer wechselvollen Geschichte. In unserer Auffassung des gegenwärtigen Festes erscheint das alte Judenthum nicht leichtsinnig abgethan und weggeworfen, sondern in jugendlicher Schöne verklärt, in voller Löwenkraft entfesselt. Jenes im prophetischen Fernblick auf die Gegenwart gesprochene rabbinische Wort: ‫„ ביום שנחרב ביהמ״ק נולד משיח‬Am Tage der Tempelzerstörung wurde der Messias geboren“2 – es hat sich für uns zur höchsten und vollsten Klarheit emporgerungen. Wir feiern heute nichts Geringeres, als den Geburtstag des Messias, d.h. Israels im Beginne seiner messianischen, welterlösenden Thätigkeit! Schon einmal wurde euch von dieser heiligen Stätte aus an einem andern Feste, am Pesachfeste, mit den Worten unseres Textes zugerufen: „Ein Kind ward uns geboren, ein Sohn ward uns gegeben, die Obmacht ruht auf seiner Schulter; sein Name ist: Wunder, Rath des mächtigen Gottes, des ewigen Vaters, Friedensfürst!“3 Damals handelte es sich um die Geburt Israels als eines Gottesvolkes, welche mit der Erlösung aus Mizraim und der Offenbarung auf Sinai stattgefunden; damals feierten wir die Wahl unseres Stammes zu Gottes erstgeborenem Sohne. Heute trat der Erstgeborene aus dem flammenden Tempel im messianischen Schmucke hervor; heute wurde das Gottesvolk wiedergeboren als Erlöser der Menschheit; denn von nun an begann jene große Wanderung durch alle Theile der Erde, wodurch Gottes Name überall verkündet, Gottes Leuchte überall hin getragen werden sollte. Schon während des zweiten Tempels blieb die Sehnsucht nach dem Messias in der alten Vorstellungsweise herrschend; denn die Selbstständigkeit des jüdischen Staates war selbst unter der Makkabäerherrschaft nur eine scheinbare, und auch in Bezug auf die religiösen Symbole fehlte gar Vieles, dessen der erste Tempel sich erfreute. Als nun das Heiligthum in Rauch aufging, da sahen unsere Vorfahren den letzten Rest der messianischen Ordnung geschwunden und sich um ihrer Sünden willen in’s Exil, in die lieblose Fremde hinausgestoßen. Und diese Art zu denken und zu empfinden hat sich durch die Jahrtausende fortgesponnen. Nur hie und da blitzte im vergeblichen Hoffen und Harren die Wahrheit durch einzelne auserwählte Geister, aber doch nur wie eine dunkle Ahnung, die sich nicht zum hellen Tageslichte verklären konnte. Erst der Gegenwart blieb es vorbehalten, den erhabenen Gedanken klar auszusprechen: daß gerade damals, als der alte jüdische Staat mit seinen Institutionen in Trümmer ging, der Grund- und Eckstein zum Riesenbau des messianischen Reiches gelegt worden, und wir, die wir diesen Gedanken in seiner ganzen

2 Midrash Eicha Rabba 1, 51 und pT Berachot 17b (2, 4/12–14). Vgl. dazu auch Samuel Holdheim, in diesem Band S. 183, der sich auf dieselbe rabbinische Tradition beruft. 3 Jesaja 9, 5.



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Tiefe und Höhe zu erfassen trachten und zuerst ein Gebetbuch adoptirt,4 das ihm den vollsten Ausdruck verleiht, wir setzen den Thränen unserer frommen Alten nichts weniger als Gleichgültigkeit und Frivolität entgegen – nein! Wir feiern diesen Tag mit der innigsten Theilnahme am leidensvollen Schicksale des messianischen Israels, mit jubelndem Danke für seine heilvolle Sendung und mit glühender Begeisterung für den Vollzug seiner Botschaft. Kein wahrhafter Israelite kann ohne tiefe Wehmuth den Leidensgang des Messias verfolgen, und namentlich heute, an seinem Geburtstage, können wir nicht umhin, den klippenreichen Pfad zu betrachten, den er durch Jahrtausende hat schreiten müssen. O, es ist eine Leidensgeschichte, die jeden Fühlenden mit Scham und Grauen erfüllt über die Entartung unseres Geschlechtes, die ein himmelschreiendes Zeugniß liefert von der Verblendungskraft des religiösen Irrwahnes, von der kannibalischen Wuth, wozu die Menschen von ihren gemachten Göttern sich treiben lassen. In Europa, in Asien, in Afrika – überall sehen wir viele, viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Gluth des Hasses am Mark und Bein des welterlösenden Stammes zehren, überall – denselben Spott und Hohn, dieselbe Qual und Marter, dieselben Hetzereien und Schlächtereien! Erstaunt fragt man sich: woher diese Uebereinstimmung in der – Verthierung, woher dieser Grimm gegen den harmlosen Wanderer, woher diese Empfindungslosigkeit gegen die Thränen von Menschen, die keine anderen Ansprüche erhoben, als in irgend einem Winkel den Einig-Einzigen anbeten zu dürfen, woher dieses Sinnen und Brüten aller, aller Völker, den Gesalbten Gottes zu verderben? Warum suchten sie Alle Heil in seinen Wunden, warum wähnten sie ihn von Gott geschlagen, während s i e die fluchbeladenen Hände nach ihm ausstreckten? Erstaunt fragt man sich, wie namentlich diejenigen, die einen Sprößling unseres Stammes zum Messias, ja zum Gotte erhoben, gegen dessen Familie mit solcher Berserkerwuth losstürmen konnten, daß zahllose jüdische Gemeinden unter ihrem Henkerschwerte fielen und nicht geschont wurde der Greis am Stabe, der Säugling an der Mutterbrust? Nein! Wir, die glücklicheren Kinder, haben nicht vergessen, um welchen theuren Preis die Eltern den kostbaren Schatz uns erhalten; wir gedenken in tiefster Wehmuth ihres Schmerzensrufes:--‫עֹ בְ ֵרי דֶ ֶרְך‬-‫ ּכָל‬,‫לֹוא ֲאלֵיכֶם‬ ‫יֵׁש מַ כְ אֹוב ּכְ מַ כְ אֹ בִ י‬-‫ ִאם‬,‫„הַ ּבִ יטּו ְּוראּו‬Schauet und sehet, ihr Wanderer alle, ob ein Weh dem meinen gleicht!“5 Die Trauer um den eingeäscherten Tempel von Holz und

4 Einhorn hatte im Jahr zuvor sein einflussreiches Gebetbuch Olat Tamid veröffentlicht (Baltimore 1858, 2. Auflage 1862). Zur Erwähnung des Messias in diesem vorranging deutschen Siddur vgl. die Einleitung, S. 72. 5 Klagelieder 1, 12 (die Klagelieder werden als Teil des Morgengottesdienstes am 9. Av, dem Tag der Predigt, gelesen).

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Stein ist geschwunden, nicht aber die Trauer um die eingeäscherten Gottestempel von Fleisch und Blut, worin ein lebendiger Altar dem Einig-Einzigen ohne Unterlaß erglühte! Mit Liebe und Bewunderung weilt unser Geist bei euch, ihr frommen Märtyrer, deren unschuldig vergossenes Blut eine Aussaat der göttlichen Wahrheit geworden; mit Liebe und Bewunderung versenkt sich unser Herz in den Schicksalsgang des Messias, der, aus verheerendem Feuer geboren, ganze Flammenmeere hat durchschreiten müssen, ohne zu ermüden! Diese trauernde Theilnahme kann jedoch unsern jubelnden Dank nicht zurückhalten für die heilvolle Sendung des Gottesvolkes an die Völker. Der unsägliche Schmerz, worunter das messianische Kind geboren und großgezogen worden, darf uns nimmer verblenden gegen die unermeßlich reichen Segnungen, die ihm und der Welt während seines verhängnißvollen Ganges geworden. Berufen zum ‫ שר שלום‬zum Friedensfürsten, zur Schließung eines, alle Nationen umschlingenden Gottesbundes, zog Israel vom Berge Zion hernieder, wie Adam aus dem Eden: zitternd und bebend vor der endlos ausgebreiteten Wüste, noch unvertraut mit seiner hohen Erlöserwürde und mit aller Gluth der Seele hangend an der eingeäscherten Wiege, am niedergesunkenen Heiligthum. Es hatte gar keine Ahnung davon, daß es mit dem Pilgerstabe Riesen erlegen und eine Welt erobern solle seinem Gotte; es ergriff ihn, wie ein Sohn, dem der Vater zürnend zuruft: „Weiche aus meinem Antlitze!“ Es wähnte die Krone von seinem Haupte gefallen – und doch fing sie gerade jetzt erst an, in voller Herrlichkeit zu strahlen! Vor Allem im e igenen Religionsleben – welche glorreiche Umwandlung! „Der Messias“ – so lehren die Rabbinen – ‫„ נראה ונכסה וחוזר ונראה‬er wird sich offenbaren, dann verhüllen, dann wieder in vollem Glanze erheben.“6 Dies bewährte sich an Israel in vollem Maße. Schon damals, als es in der Eigenschaft eines Gottesvolkes zu Tage kam, trat in mancherlei Offenbarungen die hohe Mission seiner Zukunft in unverkennbarer Weise hervor; aber dieser weltumschließende Trieb wurde wieder zurückgedrängt vom Bedürfnisse des eigenen Nationallebens, von der Nothwendigkeit, zuvor die eigenen Kräfte zu sammeln und gegen die feindlichen Einflüsse von Außen abzuschließen, damit sie für die hohe Aufgabe heranreifen können. Wie die zarte Knospe der schützenden Hülle bedarf, die erst der volle Blüthenschmuck durchbricht, so mußte auch der Geist unseres Volkes in seiner Kindheit mit einem dichten nationalen und zeremoniellen Netze sich umspinnen, um zunächst in sich selbst ein abgeschlossenes Ganze zu werden, das dann auflösend und erlösend durch ungemessene Räume zu dringen vermag. Jenes erhabene Gottesgesetz, das lebenskürzende Eisen solle dem göttlichen Altare ferne bleiben, es konnte erst mit dem Dahinschwinden des Opfercultus

6 Midrasch Rabba zu Hohelied 2, 3.



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eine volle Wahrheit werden. Von nun an sollte kein Leben mehr verkürzt werden, nicht einmal ein thierisches, zur Erlangung der Sühne; von nun an sollte die Thatsache bestätigen, was alle Propheten verkündet: daß Gott nicht Brand- und Schlachtopfer fordere, sondern ihn zu ehrfürchten, zu lieben und in seinem Wege zu wandeln, kurz eine sittliche Heiligung nach seinem hocherhabenen Vorbilde, dem Urbilde aller Heiligkeit. Von nun an sollte nicht mehr Geißel und Richterschwert zum Gehorsam gegen Gottes Gesetz bewegen, sondern jene freie Liebe, die trotz aller Geißelungen und Todesmartern nimmer abläßt vom göttlichen Worte. Auch jene göttliche Verkündigung vor der Sinaioffenbarung ‫לִ י‬-‫וְ אַ ּתֶ ם ִּתהְ יּו‬ ‫מַ ְמ ֶלכֶת ּכֹ הֲנִ ים‬: „Ihr sollt mir ein Priesterreich sein“7 – sie konnte erst jetzt in ihrer hohen Bedeutung hervortreten. Von nun an schwand das aharonidische Priesterthum, um der Priesterlichkeit der Gesammtgemeinde Raum zu verschaffen, die in der Losgerissenheit von der alten Heimath überall den höheren Priesterdienst eines reinen Wandels vor dem Herrn üben und sich und die Welt sühnen und segnen sollte, wie einst Ahron sich und sein Haus und seinen Stamm. Und wer kann ferner die wunderbaren Erfolge dieses Priesterdienstes nach Außen hin in Abrede stellen? Wer leugnen, daß die göttliche Verheißung an Abraham auf Morijah: ‫ ּכֹ ל ּגֹויֵי הָ אָ ֶרץ‬,‫ „ וְ הִ ְתּבָ ְרכּו בְ ז ְַרעֲָך‬Es sollen sich segnen durch deine Nachkommen alle Völker der Erde“8 mit unserer Wanderung immer mehr und mehr sich zu erfüllen begann? Von nun an sehen wir das jüdisch-religiöse Denken und Fühlen wenigstens theilweise in riesige Völker eindringen, das jüdische Schriftthum ein Gemeingut von Millionen außerhalb Jakobs werden. Die Bibel tritt jetzt heraus aus dem engen Kreise des israelitischen Stammes und erhebt sich allmählig zum Buche der Welt. Schon während des zweiten Tempels von ägyptischen Juden in die lieblichste und gebildetste Sprache Jephets, in die griechische Sprache übertragen, erscheint sie, ein befruchtender Strom für alle Geschlechter, bereits wenige Jahrhunderte nach unserer Zersplitterung in verschiedenen neuen Uebersetzungen theils von jüdischer, theils von christlicher Hand und zwar hauptsächlich theils abermals in griechischer, theils in römischer Zunge, in der Sprache desselben Volkes, das unsern Tempel in Staub und Asche legte und Israel mit seinen Heiligthümern vernichten zu können meinte. Ist es nicht ein wundelbarer Fingerzeig der göttlichen Vorsehung, daß gerade die zwei berühmtesten Völker der alten Welt, Griechenland und Rom, wovon das Eine durch geistige, das Andere durch äußere Gewalt Israel als der mächtigste Gegner erschien, wovon das Eine die Welt mit dem Ruhme seiner Weisheit erfüllte, das Andere die Welt mit dem Schwerte bezwungen, daß, sag’ ich, diese ihre Sprache zuerst dazu

7 Exodus 19, 6. 8 Genesis 22, 18.

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hergaben, Israels Geistesschätze auch in fremden Kreisen in Umlauf zu setzen? Und wo wäre erst heute noch eine gebildete Sprache vorhanden, die nicht zur Verkündigung des göttlichen Wortes diente, ein gebildetes Volk, das nicht in unserer Lehre den Fels aller Gesittung erkennen wollte? Nicht also, wie ehedem, von dichten Mauern und Bollwerken umschlossen blieb das göttliche Brünnlein ‫ ֲחפָרּוהָ ׂשָ ִרים‬,9 das die Fürsten unseres Volkes nach dem Auszuge aus Mizraim mit ihren Stäben gegraben – nein! der wandernde Gottes- und Friedensfürst grub nach dem Auszuge aus Canaan mit seinem Pilgerstabe Kanäle für das Brünnlein, um seine lebendigen Wasser überallhin strömen zu lassen. Freilich mischte sich in die lebendigen Gewässer, indem sie das heidnische Gebirge umspülten und unterhöhlten, auch Staub und Gerölle; allein was die Völker auch immer entstellend von dem Ihren hinzuthaten – genug, sie erkannten den göttlichen Ursprung der Moseslehre; sie sahen in der jüdischen Gottesoffenbarung den Grundstein aller weiteren Offenbarungen, und damit war die Bahn geöffnet für das hohe Ziel der Verewigung aller Menschen zu Einer Gottesgemeinde. Wie schmerzlich wir daher auch die theuern Opfer fühlen, welche die Verfolgung unserer hohen Mission gekostet – dieser Schmerz kann und darf den jubelnden Dank darüber nicht zurückhalten, daß mit dem heute gefeierten Ereignisse der Messias geboren worden und daß all’ seine Leiden nur dazu dienen konnten, ihn großzuziehen und zu verherrlichen. Aus den Flammen Sinais offenbarte sich Gott durch Moses an Israel, aus den Flammen des Tempelberges durch Israel – der ganzen Menschheit! Dort ertönte der göttliche Ruf: ‫הָ ע ִַּמים‬-‫„ וִ הְ יִ יתֶ ם לִ י ְס ֻגּלָה ִמּכָל‬Ihr sollt mir geschieden, auserwählt sein von allen Völkern!“10 Hier ertönte der göttliche Ruf ‫הַ ְרחִ יבִ י‬ ‫ וִ ִיריעֹות ִמ ְׁשּכְ נֹותַ יִ ְך יַּטּו‬,‫„ ְמקֹום אָ ֳהלְֵך‬Erweitere den Raum deines Zeltes und die Teppiche deiner Wohnung laß sich dehnen, wehr’ es nicht! Verlängere deine Seile und befestige deine Pflöcke; denn rechts und links sollst du dich ausbreiten und dein Same wird Nationen erobern!“11 Indeß würden wir, meine Andächtigen, den Geburtstag des messianischen Israels sehr unvollkommen feiern, wenn wir uns auf bloße Gefühle und Empfindungen dabei beschränken wollten; er muß uns auch zu frommen Handlungen erwecken, zur glühenden thatkräftigen Begeisterung für den Vollzug seiner hohen Sendung. Das Kind, das uns heute geboren worden, ist durch die Jahrtausende zum Riesen herangewachsen; aber verhehlen wir’s uns nicht, daß der Riese in Banden liegt, die ihn immer noch hindern, mit seinen Armen die Welt liebend zu umschlingen, ja daß ihm theils diese erdrückende Fessel, theils die

9 Numeri 21, 18. 10 Exodus 19, 5. 11 Jesaja 54, 2–3.



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gewaltsame Entfesselung viele, viele Glieder förmlich verkrüppelt. Betrachten wir doch unsere religiösen Zustände, das religiöse Leben und Empfinden von Tausenden unserer Glaubensgenossen! Die Einen sind und bleiben taub gegen den gewaltigen Donnerruf der Geschichte und Klagen und jammern immer noch um die Sammlung der Zerstreuten in Palästina und hoffen immer noch, daß eines schönen Tages urplötzlich der flammende Elias erscheinen werde als Vorläufer des Messias,12 worunter sie sich eine von überirdischem Glanze verklärte königliche Persönlichkeit vorstellen, vor welcher alle Nationen in den Staub sinken werden, eine Persönlichkeit, welche nach christlich-kabbalistischer Färbung von ewig her, dem Menschenauge tief verborgen, zur Rechten Gottes sitzt, aber mit einem Male aus der Himmelshöhe zur Erde herniedersteigen und die Welt mit ihrer Glorie füllen wird; sie wollen und können sich nicht zu der Ueberzeugung erheben, daß der Messias nicht vom Himmel zur Erde herabkömmt, sondern als ein Kind, das uns heute geboren worden, allmählig von der Erde zum Himmel emporwächst und daß der wahre, ihm vorausgehende flammende Elias – der flammende Tempel gewesen; sie hemmen aber gerade den Eintritt des Messiasreiches; sie wollen das Kind, das uns geboren worden, nicht großziehen helfen, sondern auf seiner glorreichen Entwickelungsbahn aufhalten und zurückdrängen; sie wollen unsere ewige Vereinsamung und somit auch die Verewigung des tiefen Risses im Herzen der Menschheit. Die Anderen haben den alten Messias verloren, ohne den unsern gewonnen zu haben; sie hoffen und wünschen gar Nichts für die Zukunft des Judenthums und bringen ihm, wenn sie sich nicht überhaupt zu weise dünken, um Juden zu sein, zur Huldigung höchstens Todtenopfer dar, gedankenloses Zeremonienwerk und hohles Wortgepränge. Und so ist eine namenlose Entsittlichung in unsern religiösen Zuständen eingetreten. Die alten Formen haben alle Wurzel in den Gemüthern verloren, und dennoch legen sie die Leichenarme erdrückend auf die Schulter des Messias, ihm Wachsthum, Kraft und Blüthe zu rauben! Um so höher und heiliger ist aber unsere Verpflichtung, eine Oase in der Wüste zu sein, das edle Beispiel eines nimmer erkaltenden Eifers für die Verherrlichung der Gotteslehre, für die Veredlung unseres Cultus, für die Umgestaltung unseres Religionslebens zu geben, uns zu rüsten vor Allem mit einem strengsittlichen Lebenswandel im Verkehre mit Gott und Menschen, worauf unsere alten Propheten immer und überall als auf den innersten Kern der jüdischen Gottesverehrung dringen; uns ferner zu rüsten mit jener fromm-begeisterten reformatorischen Entschiedenheit, welche die Leichname todter Formen nicht bloß von der eigenen Schulter, sondern mit aller Kraft auch und vorzüglich

12 Vgl. Maleachi 3, 23 – Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe denn da komme der große und schreckliche Tag des Herrn.

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von der Schulter des Messias, des zur Welterlösung berufenen Israels abzuwälzen trachtet, uns endlich aber auch zu rüsten mit jenem nimmerwankenden Opfermuthe, der Alles aufbietet für die Erhaltung unserer lebenskräftigen Institutionen und bereit ist, den entfesselten Messias mit dem Herzblute zu nähren und zu pflegen, daß der Sohn, der uns heute gegeben worden, mit dem Haupte zum Himmel emporragt und die Hände segnend, schützend und liebend über alle Gotteskinder ausbreitet, daß das Kleine wird zu Tausenden, das Winzige zum mächtigen Volke, ein Friedensfürst mit der Geistesherrschaft auf der Schulter! Amen.

Samuel Schwarz

Die Messias-Zeit Die Messias-Zeit: Erläuterungen der Talmudstellen, die Bezug aus Israels Zukunft haben, mit Rücksicht auf unsere Zeit, Lemberg: Piller, 1865 [Auszüge] Samuel Schwarz, ein ungarischer Lehrer und Talmudgelehrter, über den fast keine biographischen Angaben existieren, veröffentlichte 1860 in Wien einen kleinen Band, der sich der Diskussion von talmudischen Hinweisen auf den Messias widmete. Schwarz, der wie viele Theologen aus dem Habsburger Reich eher eine konservative und vermittelnde Position zwischen den Reformern und dem traditionellen Judentum einnahm, wertet hier die von ihm herangezogenen talmudischen Passagen nach eigenen Angaben bewusst in Hinblick auf seine Gegenwart aus. In seiner Deutung birgt die lange messianische Textsammlung aus bT San 97-99 keine eschatologische, sondern eine durchaus gegenwärtige Aussage, die auf Verbesserung von Erziehung, Bildung, Gerichtswesen und auf soziale Gerechtigkeit zielt. Damit liegt in Schwarz’s Werk eine weitere interessante, wenn auch eigentümliche Stimme vor, diesmal aus der geographischen Peripherie des theologischen Transformationsprozesses im Judentum des neunzehnten Jahrhunderts. Das Buch stieß offenbar auf reges Interesse, aber auch auf Kritik aus traditionellen Kreisen. Bis 1865 waren schon drei vermehrte Auflagen erschienen – die hier wiedergegebenen Ausschnitte stammen aus der dritten Auflage, Lemberg 1865. Die deutschen Talmudübersetzungen von Schwarz sind trotz ihrer Eigenwilligkeiten absichtlich im Original belassen.

[Aus dem Vorwort zur dritten Auflage] Es gibt Viele, die das Judenthum für vernichtet halten, wenn man dem Messias­ glaube eine wissenschaftliche Unterlage beilegt, und es als Verstoß gegen die Religion betrachten, wahrhaft mosaisch zu leben als Einheimischer außer Palästina. Zu dieser Klasse gehören solche, denen es an Erhebung mangelt, das Judenthum mit seinem allörtlichen Heilesausfluße gehörig aufzufassen, oder solche, die zu sehr besorgt sind um ihre schwarze Kutte, deren Farbe bei heller Beleuchtung abschießt. Letztere würden sich unstreitig dem Messias widersetzen, wenn er auch in jenen Formen erscheinen möchte, worin sie ihn entstellen. Ich verwahre mich gegen das Ansinnen, als hätte ich der möglichen Ankunft eines Messias und dem glanzvollen Aufbau Jerusalems widersprochen, nein; vielmehr ist es ein zu verzeihender Wunsch, daß durch diese Möglichkeit der Zukunft, der gegenwärtige Fortschritt des Judenthums nicht gehemmt werde. Oder deutlicher gesagt, ich wünsche, daß in unserer hellklaren Religion deren Reinheit sich bis auf heute erhielt, auch der Messiasglaube nicht dunkel und

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trübe bleibe. Hoffentlich wird jeder denkende und fühlende Jude in diesem Wunsche mit mir Eines Sinnes sein. Lemberg den 29. März 1865. Der Verfasser.

Die Zukunft Israels, durch das Erscheinen des verheißenen Messias, muß wohl unterschieden werden von jener des seligen Lebens jenseits. Das jenseitige und ewige Leben ‫עולם הבא‬, die Unsterblichkeit und Fortdauer der Seele nach dem Tode und das Auflösen des sterblichen Körpers, gehört der himmlischen Seligkeit in der Anschauung Gottes an, und kann deshalb mit den Sinnen nicht wahrgenommen, mit dem Verstande nicht beurtheilt, daher weder mit Worten ausgedrückt, noch mit Gedanken gefaßt werden. Die Messiaszeit ‫ ימות המשיח‬hingegen stellt eine dem diesseitigen Leben voller Glückseligkeit ohne Gebrechen und Mängel angehörige Zeit dar, die wir hienieden zu erwarten haben, und ist daher dem veredelten verfeinerten und gebildeten Menschen faßlich, begreiflich und anschaulich, also auch mit Worten und Bezeichnungen mittheilbar. Wenn nun die Profeten von einer mit allen Schönheiten geschmückten und mit allen Erhabenheiten gezierten Zukunft Israels, gottbegeistert gesprochen und geweissagt, und im Namen Gottes eine solche ihrem Volke mit Bestimmtheit und Gewißheit verheißen, kann dieses keineswegs auf ‫ עולם הבא‬Bezug haben, da dieses unmöglich zu schildern ist, selbst nicht in der feurigsten und schwungreichsten Redeweise. Es müssen also alle Zukunftsverheißungen und Profezeiungen einzig und allein auf ‫ משיח‬hindeuten, den Gott der einst senden wird, uns von den jetztzeitigen Uebeln zu befreien, und von den zeitweiligen Bedrückungen zu erlösen. Mit seinem Erscheinen nehmen Israels Leiden ein Ende, und das verlassene, verstoßene und verschmähte Volk beginnt zu den glänzenden, mit allem Glück ausgestatteten Völkern zu zählen. Dieses ist die Ansicht des Rabbi Jochanan woran Maimoni in Mischna-Erklärung ‫ הלק‬in dem Entwurf der dreizehn Glaubensartikel festhält, indem er die Ankunft des Messias von ‫ תחית המתים‬nach seiner Meinung „Unsterblichkeit“, ganz deutlich unterscheidet.1 Gänzlich widersprochen wird dieser Ansicht nicht, wenn dies auch zum Theil geschieht durch die Ansicht des Samuel. Dieser stellt zum Grundsatz auf, der Unterschied zwischen der Jetztzeit und der Messias besteht bloß in dem Aufhören der Tirannei. Darin wären keineswegs alle jene erhabenen Verheißungen enthal-

1 Vgl. Maimonides’ Kommentar zur Mischnah San 10.



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ten und damit noch nicht alle erfüllt. Daher sind nach dieser Ansicht viele der Profezeiungen wohl auf ‫ משיח‬aber auch viele auf ‫ עולם הבא‬zu verstehen und zu beziehen. Darin stimmt aber Alles überein, dass die Messiaszeit kein Himmelsleben jenseits im Himmel, sondern ein himmlisches Leben diesseits auf der Erde bedeutet. bT San 99a: Rabbi Chia lehrte im Namen des Rabbi Jochanan: Alle Zukunftsverheißungen der Profeten haben blos auf die Messiastage Bezug, aber die jenseitige Seligkeit hat noch kein Auge gesehen außer dir o Gott2, der thätig ist für Alle, die auf ihn hoffen. Hierin liegt ein Widerspruch der Ansicht Samuels; dieser lehrte: zwischen der Jetztzeit und der Messiaszeit ist blos die Tirannei der einzige Unterschied. Die unfehlbare Zuversicht auf eine völkerrechtliche Gleichstellung Israels, nach Rabbi Jochanan als eine vollkommen gelungene und bestausgebildete durch die Ankunft des Messias ist von Maimoni zum zwölften Glaubensartikel erhoben den wir täglich in dem Glaubensbekenntnis ‫ אני מאמין‬zu bekennen verpflichtet sind. Ihrer Begründung aus den Profeten einzig und allein können wir diese ihre unbestrittene und unverletzliche Heiligkeit durchaus nicht zuschreiben. Alle Bibelstellen, woraus sie hergeleitet und abgeholt, sind nichts anderes, als bloße Andeutungen, die erst der Auslegung benöthigen, um den Messias heraus zu finden. Nirgend finden wir einen Vers, der klar und offen, ohne Nebenbedeutung, von ihm mit ausdrücklichen Worten spricht. Je dunkler aber die Abstammung aus der Bibel, desto Heller strahlt diese angehoffte und ersehnte Zukunft aus dem jüdischen Geiste hervor, und beleuchtet die Schattenblätter der Geschichte Israels. Der menschliche Geist fühlt jede Lage, wo er sich befindet zu enge, und jede Gegenwart, die er vor sich hat, zu beschränkt im Allgemeinen, und überhaupt wenn ihm Lage und Gegenwart durch Widerwärtigkeit und Unzukömmlichkeit verleidet und verkümmert werden. Daher das fortwährende Ringen des Menschen, aus der Gegenwart hinaus, entweder rückwärts in wohlthuende Erinnerung der Vergangenheit oder vorwärts in angenehme Ahnungen der Zukunft. Gibt sich dieser Drang bei Jedermann kund, um wie viel mehr bei Israel, seit dem es mit unsäglichen Geschichtsleiden zu ringen, und mit allen erdenklichen Lebensqualen zu kämpfen hat. Diese von Gott dem jüdischen Volk auferlegten Leiden, die ihm Jahrtausende durch, Stand und Lage verbittert und unbehaglich gemacht, drängten den strebsamen Geist des Juden ununterbrochen, sich allfort in Vergangenheit und Zukunft zu bewegen. Rückwärts trat ihm ‫ בן דוד‬als Träger einer glücklichen Vergangenheit auf, vorwärts begegnete ihm ‫ משיח‬als Repräsentant einer besseren

2 Jesaja 64, 3.

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Zukunft. Dieses Ideal mit dem Doppelgesicht der Erinnerung und Hoffnung, war sein stetes Trachten und Dichten, und bildete einen wesentlichen Theil seines Karakters. Die unerschöpfliche Fundgrube seines unentwendbaren und eingeerbten Vätervermächtnisses, die an ihm von Gott überkommene Bibel, lieferte für die Personifikazion ‫ משיח‬und ‫ בן דוד‬unzählige Belege und Anhaltspunkte. Diese wurden emsig und fleißig herausgesucht, und um so heiliger und unverletzlicher befunden, weil sie ihn mit der Allgerechtigkeit und Allgüte Gottes aussöhnten. Je drückender die Leiden der Gegenwart und unleidlicher die Bedrückungen der Lage waren, desto kräftiger die Hoffnung und hoffnungsvoller die Kraft sich erhoben zur Göttlichen Gnade, die uns in der Mitte der Schmerzensfluten und Leidensströme das Rettungsschiff, die Erlösung, senden wird durch Messias. bT 98a: Rabbi Jochanan lehrte: Wenn du ein Geschlecht siehst, daß immer mehr zu Grunde gerichtet wird, dann erst kannst du auf die Erlösung hoffen, denn die heilige Schrift sagt: „Gott wird dem armen Volk helfen.“3 Wenn du ein Geschlecht siehst, das stromweise von den Leiden überflutet wird, dann erst hast du Grund zur Hoffnung, denn die Schrift sagt: Wenn Leiden wie Ströme einherbrechen, erblicke darin die göttliche Hilfe als Segel (eines rettenden Schiffes), welches gleich bezeichnet ist in dem nebenstehenden Vers: „Und der Erlöser erscheint zu Zion!“4 Der unerforschliche Wille Gottes war es, den Menschen zu erschaffen mit Anlagen zum Guten wie zum Bösen, und diesen Anlagen den freien Willen beizugesellen, um sie nach Wunsch in beiden Richtungen gebrauchen zu können. Das Schädliche des Bösen und das Nützliche des Guten ist aber nicht nur in Beziehung des Menschen zu Gott, sondern auch in Bezug jedes Einzelnen zur Gesellschaft, klar und deutlich überall ausgesprochen. Es unterliegt daher keinem Zweifel, dass es die Aufgabe und der Endzweck hienieden ist, die schädliche Neigung zum Bösen mit allen nur möglichen Mitteln zu tilgen, und eben so die nützliche Neigung zum Guten auf jede erdenkliche Weise zu fördern. So lange dieses nicht bewirkt und bewerkstelligt, können wir die Gesellschaft nicht vollkommen nennen. Diesen vorgezeichneten und ausgesprochenen Zweck zu erreichen, ist es der Gesellschaft anheimgegeben alle ihr zu Gebote stehenden Mittel in Anwendung zu bringen. Aus dieser Folgerung entstanden die Gerichtsanstalten, wo dem Gesetze gemäß alles Böse mit Strafe belegt, und Auszeichnungsmale, womit alles Gute belohnt wird. Förmliche Lohnanstalten gab es auch zu Zeiten, aber das Bewußtsein einer guten Handlung galt stets als der beste Lohn; sonach könne

3 2. Samuel 22, 28. 4 Jesaja 59, 19f.



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äußerer Lohn entbehrt werden, und es blieben blos Auszeichnungen für ansehnliche Leistungen durch Orden und Titel. Die Gerichte als Strafanstalten aber wurden immer mehr und besser eingerichtet, und wenn sie auch der Gesellschaft unentbehrlich, weil sie viele schädliche und gefährliche Menschen wegräumen, und jeder schädlichen Neigung, so weit sie tilgbar, durch Furcht und Schrecken vor Strafe beseitigen, so sind es doch nur Nachmittel. In letzterer Zeit und überhaupt in der neuesten hat man jenen Mitteln noch andere beigesellt, die um so mehr nützlich sein dürften, weil sie als Vormittel gegen alles Böse und für alles Gute zu betrachten sind: Es ist dieses die Erziehung und die Schule; diese haben es zur Aufgabe, den schädlichen Neigungen in ihrem Keime entgegen zu treten und den nützlichen entgegen zu kommen. Mit diesen beiden Vorkehrungen, mit Schulen und Strafgerichten gehet die Gesellschaft zur Tilgung des Bösen und Förderung des Guten, ihrer Vervollkommnung entgegen, welche darin besteht, die sämmtliche Menschheit ausschließlich in der Tugend zu einen. Wann diese Vollkommenheit erreicht und zur Reise gebracht wird, läßt sich schon darum nicht bestimmen, weil sie von den Richtern und Lehrern, als Gärtner im Weinberge Gottes, abhängig ist. Sind sich diese klar und deutlich ihrer Aufgabe und ihres heiligen Berufes bewußt, wird Gesetz und Unterricht mit ervorderlicher Einsicht gehandhabt und Beförderung des Veredelns, so wie Vertilgung der Verderbtheit angestrebt, dann kann der zum Ziel gesteckte Grad der gesellschaftlichen Vollkommenheit viel früher erreicht werden. Sind aber die Pfleger des Gesetzes und Unterrichtes im Unklaren und Unreinen, handeln sie in ihren anvertrauten Veredelungsanstalten, durch eigenes Benehmen ihrem Stande zuwider, dann geht es mit dem Endzwecke auch langsamer her. Mit der Länge der Zeit muß es einst doch so weit kommen, daß die Gesammtheit vom Bösen total gereinigt, aber wann dieses einst sein wird, ist unberechenbar. Dank sei es dem Bestreben sämmtlicher Zivilisazion, daß die Anstallten gut bewacht werden. Die Regirungen richten alle mögliche Aufmerksamkeit auf diese Veredlungsmittel, und wir sind zur besten Hoffnung berechtigt. Wenn nun Messias die Zeit der gesellschaftlichen Veredlung repräsentiren soll, dann ist seine Ankunft von der Leitung dieser Stätte der Vervollkommnung abhängig. Wird darin mit Klarheit vorgegangen, so erscheint ‫ משיח‬in Eilschritten, und kommt wie aus den Wolken gefallen. Im entgegengesetzten Falle, kann er zum Anlangen an sein Ziel, langsam, wie auf einem Esel reitend, schleppenden Schrittes einhergehen. bT San 98a: Rabbi Josua frug, die Schrift sagt: Ich werde ihn zur Zeit senden, und gleich darauf heißt es: Ich werde ihn eilend herbeischaffen? Antwort: Befördern sie Veredlung mit Klarheit, so erscheint er eilend, wo aber nicht, kommt er erst in der Länge der Zeit. Rabbi Josua frug: In einer Stelle heißt es: Er kommt wie auf den

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Wolken hergefahren, und in einer andern heißt es: Er reitet wie ein Armer auf einem Esel.5 – Antwort: Wird die Bildung mit Klarheit betrieben, erscheint er wie aus den Wolken gefallen, wo nicht, kommt er langsam, wie auf einem Esel reitend. – Schwur Malko belustigte sich über Samuel, indem er sagte: Ich will dem Messias ein wohldressirtes Pferd schicken, damit er nicht so langsam komme. Worauf Samuel sehr witzig erwiederte: Ein edles Pferd solcher klaren und vieldeutigen Farbe vermagst du gar nicht. Das gewiegte und gemessene Handhaben der Gesetze ist unstreitig ein wichtiges Mittel zur Abwehr der Verbrechen und Abstellung der Missethaten, in wie fern den Richter kein Ansehen der Person und des Standes blendet. Das Gesetz, nicht die Person, die Schuld oder Unschuld, nicht der Angeschuldigte darf es sein, wodurch das Schuldig oder Unschuldig bestimmt wird. Mit Einem Worte, Gleichberechtigung vor dem Gesetze. Wenn irgend Einer höher als das Gesetz, und der Andere außer diesem steht, dann bleiben die Verbrechen der Ersten und die welche an den Zweiten verübt, ohne Abwähr. Nicht aber blos die Person des Verurtheilten, auch jene des Verurtheilers darf nicht in Betracht kommen, denn dieser als Freund oder Feind wäre von Vorurtheil befangen und daher zum Urtheil nicht befähigt. Öffentlichkeit im Gerichtsverfahren, oder Geschwornengericht sind die besten Wächter der Gesetzübung, wo stets die Doppelwage der Strenge und der Humanität balancirt werden muß, um die Schuld zu bestrafen und die Unschuld zu schützen. Sind die Gerichte sich selbst überlassen und keiner kontrolirenden Gewalt verantwortlich, pflegt sich aus der Natur der Selbstbewegung des Richters, Eigensinn, Eigendünkel oder sogar Eigensucht anstatt des gesuchten Rechtes zu entwickeln, wie schon oft im Namen des Gesetzes die Schuld freigesprochen und die Unschuld verdammt wurde. Die Erfahrung lehrt, daß solche unverdienterweise im Namen des Gesetzes Leidende, die gefährlichsten Feinde jeder Ordnung wurden. Die ausgestandene Pein einerseits und andererseits die Überzeugung, dass im Namen des Rechtes Ungerechtigkeiten verübt werden, die kränkende Erfahrung, daß der Richter ungerecht einen Gerechten zum Sträflinge machen kann, erfüllten Letzteren mit gerechter Verachtung gegen Alles was heilig ist. Das Gesetz kann nur dann die Veredlung der Menschheit herbeiführen, wenn selbst des Gesetzes Uebung streng dem Gesetze unterworfen und dem allgemeinen Urtheile untergeben, so daß Alles gleich behandelt, Niemand außerhalb des Gesetzes, so Legislative wie Exekutive darin eingeschlossen sind. Dieses gleiche Maß und Gewicht bei den Gerichtshöfen, ist mit dem Worte ‫ שער‬genau angegeben,

5 Daniel 7, 13 bzw. Sacharja 9, 9.



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denn dieses bedeutet nicht blos „Hof“, sondern auch „Beurtheilung, Maßgabe und Gleichstellung“. Derselbe Lehrer, welcher zum Grundsatze aufstellte: „Zwischen der Jetzt und der Messiaszeit sei der bloße Unterschied, daß dann jeder despotische Druck aufhören werde“, konnte diesen Grundsatz nur dadurch garantirt wissen, wenn alle Gerichte den höchsten Grad des Gleichgewichtes erlangt haben, und Keiner oberhalb noch unterhalb des Gesetzes steht. bT San 98a: Samuel lehrte: Eher kommt Bendavid nicht, bis alle Gerichtshöfe gleichgestellt und Alles vor dem Gesetze gleichberechtigt ist.6 Dem gut organisirten und überwachten Gerichte, dem die Gesellschaft in unabstattbarer Fülle Dank schuldet, ist es nur so weit gelungen, daß es den Verbrechern und den Missethätern vorbeugte. Der Erziehung aber ist ein weit höherer und größerer Raum gewährt, sie hat nicht den Verbrechern, sondern dem Verbrechen entgegen zu arbeiten. Es kann ihr also nicht genug Aufmerksamkeit zugewendet und mit allen ihren Erfordernissen an die Hand gegangen werden. Sie ist die eigentliche Pflanzstätte, die den urlosen Boden des jugendlichen Herzens, für alles Schöne und Erhabene urbar macht und dem Aufkeime des Häßlichen und Verworfenen jeden Grund entzieht. Durch anhaltende Beispiele zur Religion und Moral im zartesten Alter gewöhnt, von Sittenlosigkeit und Untugend mit aller Schonung fern gehalten, durch gemeinnützigen Unterricht zur Geselligkeit und Freundlichkeit angewiesen, erhält das Kind in der Schule schon im Vorhinein einen natürlichen Geschmack für alles was nützlich ist. Diesem zur Natur gewordenen Geschmack, muß beim Heranwachsen alles Schädliche und Verderbliche zu Eckel und Abscheu werden. Der gesunde und verständige Mensch meidet gewöhnlich alles was ihn aneckelt und ihm abscheulich ist, warum sollte dieses nicht auch bei Lastern und Verbrechen geschehen? Gewiß werden auch diese bei vorbemerkter Erziehung gemieden, und nehmen immer mehr ab. Mit der Abnahme der Verbrechen nehmen auch die Strafgerichte immer mehr ab, und bei gänzlicher Ausrottung der Laster können auch die Gerichte, als unnöthig, aufgehoben und abgeschafft werden. Wenn wir nun dann Messias zu erwarten haben, bis allen Verbrechen und Lastern abgeholfen sein wird, und die Erziehung so weit gediehen, daß sie im Stande, dieses zu erwirken, so sind Viktor Hugo’s goldene Worte: „die Staaten

6 Diese Übersetzung beruht darauf, das Wort ‫ שער‬mit Gericht zu übersetzen; vgl. dazu mehr weiter unten.

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mögen statt Nachrichter lieber Schulmeister besser honoriren“,7 noch viel kräftiger ausgedrückt im Talmud. bT San 98a Rabbi Simloi lehrte: Eher kommt Bendavid nicht, bis alle Richter und Gerichtsvollzieher aufgehoben sind, denn die Schrift sagt: Ich will so wiederholentlich meine leitende Hand auf dich legen, bis alle deine Schlacken und unedlen Theile geläutert und gereinigt sind, und deine Richter absetzen.8 Wir finden in der Geschichte noch keinen Staat, der es in seiner Veredlung so weit gebracht, daß er ohne Gerichte bestehen konnte, und auch alle Gerichtsanstalten abgeschafft hätte. Wenn es vielleicht in irgend einem Bezirke oder einer Stadt gelungen, den Verbrechen und Lastern zu steuern, und die unbeschäftigten Gerichte zu schließen, so mußte auf’s Neue zu ihrer Eröffnung und Herstellung geschritten werden, sobald der gute Geist des Ortes gestört, und Verbrechen wieder im Aufkommen waren. Die Strafen mußten dann um viel strenger und blutiger ausfallen, weil die Furcht vor ihnen eingeschlummert und nicht gekannt wurde. Stellte ein Lehrer also die Theorie auf, das Messias nicht eher erscheint bis die Gerichtshöfe aufgehoben, und es ward gerade an der Zeit, wo wirklich dieses der Fall war, und trotz der unbesuchten und unnöthigen Gerichte, Messias doch nicht erschien, und dem Orte dennoch kein Vorzug eingeräumt wurde, blieb ihm kein anderer Weg als der, daß er sich auf Beispiele berief, wie die Gesellschaft wieder in Verfall gerieth, und die Gerichte wieder aufgenommen werden mußten. Mit Bestimmtheit sprach sich wolhweislich Niemand aus, und ließ allen angegebenen Beiläufigkeiten für alle Eventualitäten den Rückzug offen, um nicht widersprochen zu werden. War daher der gute Zweck erreicht, die Gesellschaft den ausgesprochenen Messiasbedingungen wirklich nachgekommen, und der Meister dann wegen der Vollführung seines Versprechens angegangen, so mußte er mit der Bestimmtheit den Beweis führen, daß die Gesellschaft noch immer nicht vollständig zur Reife gelangt sei. bT San 98a-b: Die Schüler frugen den Rabbi Josa Sohn Kismas: Wann wird Bendavid kommen? Dieser erwiederte: Ich führchte daß ihr etwas Bestimmtes von mir verlangt. Als sie versicherten, sie begnügen sich mit unbestimmten Angaben zu Messiaserlangung, sagte er ihnen: Wenn dieser Gerichtshof als unnöthiges Institut zusammenfällt, wieder errichtet und nochmalls aufgehoben, dann ist die Gesell-

7 Victor Hugo schreibt am Ende seines sozialkritischen, romantischen Prosastückes „Claude Gueux“ (1834), das auf einer realen Begebenheit beruht: „Mit dem Gelde für diese 80 Scharfrichter könnten Sie 600 neue Schulmeister besolden.“ 8 Nach Jesaja 1, 22–27.



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schaft in der Lage, ihn nicht nochmals aufzurichten, denn es wird daß jene Zeit sein, wo Bendavid erscheint. In dieser Angabe lag nicht nur Unbestimmtheit, sondern Widerspruch da sie die ausgesprochene Gerichtsabstellung als unzureichend erklärte, und den Schülern blieb daher das Recht, eine Bestimmung zu verlangen, daß dieses zeitweilige Gerichtsaufheben noch nicht hinreichend sei, und Messias auf ein Endgültiges warten müsse. Als sie nun von dieser Bestimmung nicht abstehen wollten, sagte er ihnen: Wenn ihr euch überzeugen wollet, daß der jetzige Stand ohne Gericht noch nicht der wahre sei, so mögen die Gewässer der Stadt Pmais von Menschenblut gefärbt werden. Die Verbrechen nahmen wirklich so überhand daß jener Fluß, der nahe dem Richtplatze, von Menschenblut gefärbt wurde. Verwirrung und Gewalt nahmen so überhand, daß er bei seinem Tode anbefahl, man möchte seinen Sarg sehr tief versenken, denn es wird in Babel kein Baum sein, wo nicht eines Räubers Pferd angehängt, und nicht ein Sarg verschont bleiben, woraus keines Gewaltthätigen Roß gefüttert wird.9 Die gesammte Gesellschaft von allen Makeln und Fehlern zu befreien scheint uns unmöglich, wenn Bildung und Belehrung noch so viel leisten. Diese Unmöglichkeit gewinnt an Raum, wenn wir durch weitläufige Auseinandersetzungen jener universellen Vollkommenheit, die uns dazu vorgezeichneten Unordnungen im Einzeln verwahrlosen. Wird die Zeit vergeudet mit Erörterungen für und gegen jene utopische Zukunft, ob und wie sie erreichbar sei, dann erreichen wir sie um so weniger, weil sich uns Meinungen und Einwendungen entgegenstellen, die uns hinderlich sind. Thaten sind es, die, wenn sie einmal geschehen, von Entgegnungen und Einwenden nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Wir haben einmal aus dem Völkerleben die Ueberzeugung gewonnen, daß gebildete Völker weniger dem Laster und Verbrechen unterliegen als die Ungebildeten. Aus dieser Ueberzeugung können wir schließen, daß Bildung ein sicheres aprobates Mittel gegen Verderbtheit der Menschen sei, und müssen daher an ihre Verbreitung und Erweiterung ohne weiteres Hand anlegen. Ob wir es je erlangen durch Unterricht, allen und sämmtlichen Uebeln und Gebrechen abzuhelfen? Dieses Bedenken darf uns durchaus nicht beirren in unserm Vorhaben, der Bildung ihren Raum zu vergrößern. Nicht einmal als nächstliegenden Zweck dürfen wir es betrachten, sonst ist es uns zeitraubend und hinderlich in der Anwendungen der Mittel dazu.

9 Hier beruht die stark interpretierende Paraphrase von Schwarz darauf, dass er das Wort ‫שער‬. wie oben angekündigt, nicht wie üblich mit Tor, sondern mit Gerichtshof übersetzt – vermutlich, weil antike Gerichte oft in Stadttoren tagten.

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Die Aufgabe jedes Unterrichtsinstitutes ist, durch Belehrung und Unterweisungen für seinen Wirkungskreis thätig zu sein in der Absicht, den vorhandenen Gebrechen ab- und der möglichen Veredlung aufzuhelfen. Wenn dann mit der Zeit aus den gebildeten und fehlerfreien Einzelheiten der Gesellschaft, die ganze gebildet und fehlerfrei hervorgeht, so muß dieses uns so überraschend kommen, wie ein zufälliges Glück oder Unglück. Es wäre nichts anderes als unnütziges Zeitvergeuden, wenn Jemand darauf ausginge, einen Schatz zu finden. Es hat sich wol schon ereignet, daß Jemandem vom Zufall mit einem Funde zum Reichthum verholfen wurde, aber thöricht ist es alle Unternehmungen fahren zu lassen, und sich ausschließlich mit Schätzefinden zu befassen. Nicht minder hieße es alle Vorsicht in’s Lächerliche hinüberspielen wenn man in einem schlangenlosen und wildgesäuberten Lande stets Vorkehrungen träfe, sich vor Skorpionen zu sichern, weil sich vielleicht ein derartig giftiges Thier zu uns verirren kann. Durch solch eitle Bestrebungen wird am meisten jene nothwendige Thätigkeit und Maßnahme gehindert, die uns zum gewöhnlichen Glück verhelfen, und vor gewöhnlichen Unglücksfällen sichern. So ist es auch in Angelegenheit des Messias, wenn wir fort und fort über ihn, als die vollkommene Gesellschaft und ihre Möglichkeit verhandeln, dann vernachläßigen wir dadurch die gegenwärtigen Mittel dazu, und die Messiaszeit wird dadurch nur noch auf weiter verschoben. Solchen ausgeholten und weitläufigen Uebertreibungen zu begegnen, wurde es zum Sprichworte: Drei müssen unversehens kommen: der Messias, ein Fund und ein Skorpion. Die Anwendung dieses bekannten Sprichwortes finden wir sehr trefflich, wenn Lehrer, anstatt des Unterrichtes sich mit Messias und der Möglichkeit einer vollendeten Vollkommenheit der Gesellschaft befaßten, und dadurch dieselben nur noch ferner stellten. bT San 97a: Als Rabbi Sera Lehrer traf, die über Messias verhandelten, bat er sie davon abzulassen, und ihn dadurch nicht länger aufzuhalten: denn es wird gelehrt: Drei müssen überraschend kommen: der Messias, ein Fund und ein Skorpion. Mit vollem Rechte kann der Schule und dem Gerichte in dem ausgedehntesten Sinne, die Ermöglichung der gesellschaftlichen Veredlung zugestanden und zuerkannt werden. In dem Umfange und Inhalte aber, wie sie von der Messias­ zeit erfordert und erheischt werden, dürften Unterricht und Gesetz als die einzigen Erzeugungsmittel, dennoch zu solid und zu enge, nicht hinreichend sein. Rabbinen, die größtentheils Lehrer oder Richter waren, und trotz aller Pflichtentreue auf Unverbesserlichkeit ihrer Lehrlinge und Sträflinge fortwährend stießen, hatten am meisten Ursache, an der Unfehlbarkeit ihrer Aufgabe zu zweifeln. Die unumstößliche Annahme, daß Messias erscheinen, und reine, durch und durch gebildete, und veredelte Menschen treffen muß, von der einen Seite, und



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von der andern Seite, ihr wohlgründeter Zweifel an dem Zustandebringen einer solchen Gesellschaft durch Gesetz und Unterricht, drang ihnen die Idee auf, es müße nebst diesen ordentlichen und zu schwachen Mitteln, noch eine außerordentliche Exekuzion vorgenommen werden, die Unverbesserlichen und Halsstarrigen früher aus der Welt zu schaffen, um die Gesellschaft zu reinigen und zu säubern, wenn sie total eines Messias würdig dastehen soll. Sie verfielen auf die Idee „‫ – חבלי של משיח‬der Entbindungswehen und Geburtsschmerzen des Messias.“ Diese Schmerzen und Wehen, welche die Zeit zum Messias und seiner Ankunft fähig machen, seien nichts anderes, als: Pest, Hungersnoth, Schlachten und Verheerungen, die dem Messias vorangehen müssen, um dadurch alle diejenigen aus dem Wege zu räumen, die roh, ungebildet, vernachlässigt, nicht hinein passen in jenen durchaus veredelten Messiasstaat. Sie ergingen sich in die schauerlichsten Schilderungen jener dem Messias vorangehenden Verheerungsperiode, wovon alle bedroht sind, die durch Ungehorsam oder Nachläßigkeit, keinen Antheil nehmen an dem Fortschritt der Bildung. Als die Schüler von Angst ob dieser herzzerreißenden und gemüthzerfleischenden Schilderung tief ergriffen, den Rabbi Eleasar frugen, was die Menschheit zu thun habe, sich vor jenen schrecklichen Verheerungen zu schützen, war seine kurze und bündige Antwort: sie habe sich mit Wissenschaft und gesellschaftlichen Tugenden zu befassen. Als diese Idee von den nothwendigen Verheerungen vor dem Messias, zu Säuberung der Gesellschaft und Wegschaffen der Ungebildeten und Unverbesserlichen, in das Volk übergegangen war, konnte sie wohlweislich zur Drohung verwendet werden, wenn der Gang des Unterrichtes und Gesetzes in Stocken gerieth. Die Nähe des Messias wurde angekündigt und es blieb kein anderes Mittel, als entweder sich zu bessern, oder unverbessert zu Grunde zu gehen. Einige Rabbinen begnügten sich damit, wenn auch die Veredlung der Menschen langsam vor sich ging, und waren mit ihren Leistungen, wenn sie auch wenig beitrugen, zufrieden gestellt, daß es ihnen gegönnt sei, wenigstens im Schatten langsamen und schleppendgehenden Messiasträgers zu sitzen. Andere aber streng und bei dem besten Gange immer einen Rückfall befürchtend, benützten sehr oft die Drohung. Um Affekt zu machen, war ihr Mahnungswort: O! daß er komme und wir es nicht erleben! Worunter verstanden wurde, daß der Ungehorsam und die Nachläßigkeit der Messiaszeit jene Verheerungsperiode ernöthigen, die jedem Fühlenden schmerzlich und schauererregend wird. bT San 98b Ula pflegte zu sagen: daß er komme und ich ihn nicht sehe! Auch Raba pflegte so zu sagen. Rabbi Josef aber sagte: Ich begnüge mich im Schatten seines langsamen Trägers zu sitzen. Abaja frug den Raba: Dir braucht ja vor Messias und dessen vorangehenden Verwüstungen nicht zu bangen, da du der Wissenschaftspflege und Veredlung fleißig obliegst? worauf der strenge Raba

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antwortete: Und dennoch fürchte ich einen Rückfall oder eine Vernachläßigung, wodurch sie verursacht werden kann.10 Jedes Ideal, woran wir mit Lust und Freude hängen, umschwebt uns mit einer solchen Eingenommenheit, daß wir alles Erhabene und Schöne, wo und bei wem immer wir ihnen begegnen, sie alsbald dem Ideale zuzueignen bestrebt, und wo und bei wem immer wir einen Zusammenfluß von Erhabenheiten und Schönheiten vorfinden, dort die Realisirung unseres Ideals getroffen zu haben überzeugt sind. Messias als Israels Ideal der materiellen und geistigen Vollkommenheit, erhielt demnach jegliche Zueignung der vorfindlichen Erhabenheiten, und ward auch nach ihnen, je nachdem benannt, daher die verschiedenen Benennungen, ‫ משיח‬,‫ בן דוד‬,‫ בר נפלי‬und noch mehrere.11 Ebenso aber geschah es, wenn irgend eine Persönlichkeit mit großen Tugenden und erhabenen Vorzügen auftrat, daß man sie, wenn nicht für Messias selbst, doch mit ihm vergleichsweise karakterisirte, und in ihr die Erlösung Israels erblickte. Darin möge wohl die Masse von Irrthümern liegen, wodurch den vielen Pseudomessiasen so oft Glauben geschenkt wurde, und sie ihr Unwesen so lange trieben, bis ihre Maske fiel, worunter sie die personifizirte Tugend geschickterweise spielten. Allenfalls waren dieses kluge, feindurchdachte und wissende Männer, die aber vom Eigennutz geleitet, den wahren, bibelverheißenen und dem jüdischen Geiste innewohnenden Messias, durch Mistifikazion und falsche Deutung zum Betruge ausbeuteten. Der Erfolg und das Ende solcher Episoden, sollte Israel weiser gemacht haben, und wenn wir in einem begriffsentfaltenden Zeitalter leben, so wäre es im Interesse unseres heiligen Glaubens, auch hinsichtlich des Messias nicht nachläßig zu Werke zu gehen. Diese ernste und beachtenswerthe Mahnung dürfte, sowohl von der alten als von der neuen Partei beherzigt werden. […]

Seitdem Israel aufhörte ein Staat zu sein, hat es in seiner Verwaltung kein Oberhaupt mittelst Erbrechtes, und im Ritus keinen Prister mittelst Weihe anerkannt; Kenntniß und Brauchbarkeit befähigten zu Aemtern und Würden, wer sich ihrer befleißigte, galt ohne Geburtsunterschied für adelig und geweihet:

10 Hier ist die Paraphrase besonders frei, selbst der oben erwähnte Rabbi Eleasar kommt darin nicht mehr vor. 11 Ben David und „Sohn des Verfallenen“, zum letzteren vgl. bT 96b (Ende).



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‫ ממזר קודם‬,‫ ת''ח ממזר וכהן ע''ה‬dem gelehrten Bastard gebührt Vorzug vor dem unwissenden Priester.12 Einige Generazionen nach der Zerstörung des Tempels machten wohl hievon eine Ausnahme, wo die Rassewürde sich auf einige Geschlechte derselben Familie vererbte. Dieses aber geschah nur für kurze Zeit und in einer Landschaft, doch im Allgemeinen galt bei den Juden weder Geburtsrang noch Erbweihe. Die noch bestehende Auszeichnung des ‫ כהן‬ist bloß eine Form ohne alle Wesentlichkeit.13 Dem Gelehrten und mehr Verwendbaren, vertraute man die Leitung an und nannte ihn ohne weiters Rabbi, wenn er auch der Sohn eines Hirten oder früher selbst Hirte war. Nicht minder huldigte man dem Reichen, wenn er zum Heile der Nazion seinen Reichthum verwendete, ohne darauf zu achten, ob er der Sohn eines Bettlers oder früher selbst Bettler gewesen. Sonach verschwand durch die Länge der Zeit, Rangordnung und Schichtenabtheilung, denn es gab keine Familie, ohne einen gefeierten Mann geliefert zu haben. Diese Ebenbürtigkeit veranlaßte Verschwägerungen ohne Standesunterschied, und man wird daher das Niveau der Gesellschaft bei keinem Volke so vollständig finden als bei Israeliten. Daraus entstand das Bewußtsein, aus sich durch Selbstverdienst einen tüchtigen und angesehenen Mann machen zu können, und aus dem Bewußtsein entwickelte sich die Selbstwürde, keinem Andern nach- und unterstehen zu müssen. Es fiel darum auch sehr schwer, die Gemeinschaft durch die Autorität der Einzelnen zu leiten, und der Vorschrift eines Renomirten, ohne Kritik und Untersuchung das ganze Volk verfügbar zu machen. Darin liegt auch die Ursache, warum Reformen und Neuerungen, auch von den gefeiertesten und anerkanntesten Männern sankzionirt, bei den Juden nicht so leicht gedeihen, und erst dann zur Reife gelangen, wenn sie Wurzel in der Masse schlagen. Maimoni, dessen Schriften nach seinem Tode für gefährlich erklärt, und deren Leser mit dem Bann belegt wurden, und noch andere Reformatoren bis auf unsere Zeit, liefern hiezu Beweise in der Fülle.14

12 Vgl. Mischnah Hor 3, 8: ‫ממזר תלמיד חכמים קודם לכוהן‬--‫ וכוהן גדול עם הארץ‬,‫אבל אם היה ממזר תלמיד חכמים‬ ‫גדול עם הארץ‬ 13 Der orthodoxe Synagogengottesdienst kennt noch bis heute einen speziellen Segen der Kohanim, der Männer, die ihre Abstammung vom biblischen Aaron herleiten. Zudem gibt es andere liturgische Privilegien wie den ersten Aufruf zur Torah-Lesung für die Priester. Gleichzeitig existieren bis heute im Religionsgesetz für sie auch Einschränkungen, sie dürfen keine geschiedenen oder konvertierten Frauen heiraten und keine Friedhöfe betreten. 14 Sowohl Maimonides’ gesetzliches Hauptwerk Mishneh Torah (wegen seiner philosophischen Einleitung) als auch sein Führer der Verwirrten lösten schon kurz nach dem Erscheinen heftige innerjüdische Debatten aus.

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Scheint dieser Nachtheil, entsprungen der selbstbewußten und urtheilsfähigen Gleichstellung, im ersten Anblicke groß, so schwindet er zur winzigen und unbedeutenden Kleinigkeit, betrachtet im Verhältniße des Vortheils, der aus selber Quelle entstanden. Wenn Israel keine Autorität zur Aenderung der Bräuche und Sitten blindlings anerkannte, und ohne Selbstprüfung den Ansichten des wie immer geartenen Rabbi’s, oder der wie immer gestalteten Rabbinergesellschaft, strenge den Gehorsam versagte, so blieb es auch vor List, Eigensucht, Betrug und Eigendünkel geschützt, und bis zu Tage der göttlichen Lehre und dem menschlichen Verstande unentrückt. Während viele Nazionen durch Misterien, heilig gehaltene Kasten und gesonderte Orden gegängelt, verführt und dem Ruine nahe gebracht wurden, während dem Stand Israel mit der Bibel in der Hand, festen Blickes hineinschauend, gesunden Denkens wohlvergleichend, ob auch die Bestrebungen seiner Lehrer mit dem unverwüstlichen Worte Gottes vereinbar seien oder nicht. Einsiedler, Mönche und Derwische blieben ihm fremd, magische und wunderthuende Kreise hatten bei ihm keinen besondern Werth, unterkuttete Zirkel der Silbenentsteller und Buchstabenverrenker beachtete es nicht, und Geheimthuer der Zitterer und Aszetiker blieben bei ihm ohne Erfolg. Wenn im Schafpelz diese verkappten Wölfe mit allen Künsteleien lammfromm einherschlichen, in der gierigen Absicht, stückweise zu zerfleischen jene aus ‫ תרי״ג מצות‬bestehende Wahrheit15, die den weidenden Heerden gleich, sich frei zwischen Himmel und Erde weidend, an Nützlichkeit und Werth immer mehr gewinnt, da stand der Volksgeist mit zinisch-hündischer Gleichmüthigkeit und Treue, sein vertrautes Gut zu bewachen und zu beschützen. Eigenmächtige und gewaltthätig eingreifende Reformen und Neuerungen wurden zurückgewiesen, wenn sie den genialsten und blitzschnellen Geistern beigekommen, weil Vieles, was dem Genie und dem hohen Geiste nützlich und gewinnbringend, der Gemeinschaft, die großentheils aus gewöhnlichen Menschen besteht, von größtem Schaden und Verlust sein könne. Nicht minder aber wurden Unformen von Geheimkrämern und Schwarzkünstlern verworfen und verpönt, weil sie der Gemeinschaft, die größtentheils nicht aus Dümmlingen besteht, uneinleuchtend und unerklärbar waren. „‫ בית הועד‬abgeschlossene und nicht jedem zugängliche Bildungskreise“ standen im Berufe der geistigen Unzucht. „‫ הגליל‬,‫ הגליל ואנשי והגבלן‬die von der Allgemeinheit aus gegrenzten Lehrzirkel“ fanden keinen Beifall, „‫ חכמת סופרים‬die Superklugheit der gelehrten und gnostischen Schriftdeutler“ stand im Uebelgeruch, „‫ יראי חטא‬Uebertreibungen

15 Die Wahrheit besteht aus den 613 Mitzwot (Geboten), die die Rabbinen traditionell aus den fünf Büchern Mose herauslesen.



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der Fehlerfürchtigen“ wurden verworfen.16 Der Gemeinsinn wachte, während die Wahrheit, die reine Wahrheit, frei ihren nützlichen Verlauf nahm, wie die Heerden, groß und klein zum Thore getrieben. Leider war und ist dieses nur zum großen Theile wahr, aber, wie dieses nicht anders möglich, trafen sich viele und oft wiederholte Fälle, wo es jenen Verführer gelang, dem gesunden Volksinn Breschen zu schlagen. Afteraufklärung und kabalistische Schwindeleien brachten unsere geheiligte ‫ תורה‬und den jüdischen Instituzionen manche Verletzungen bei.17 Ueberhaupt war dieses die Mistifikazion in der Messiasbedeutung. Diese göttliche Verheißung und unausbleibliche Zukunft Israels wurde so hergerichtet, daß es Vielen gelang, sich als Messias zu geriren, durch Vorschützung vernunftverwirrender und verstandwidriger Wortkrämerei und Werkheiligkeit, die der unverletzlichen heiligen Schrift nicht nur nicht entsprechen, sondern gar widersprechen. Die Idee von Messias ist umsomehr ein Tummelplatz für Fälscher, Betrüger und Lügner, weil sie wegen ihrer Undeutlichkeit jenen Schatten bildet, worunter Betrug, Fälschung und Lug in der Fülle wuchern. Ende des Traktates Sotah wo viele hier zitirten Stellen summarisch aufgezählt werden, heißt es daher sehr trefflich „‫ “בעקבות משיחא חוצפא יסגא‬in den Betrugsmöglichkeiten der Messiaslehre ist der Keckheit ein Boden gewährt zum Anwachsen.“18 Hinweg also mit allen sinn- und geistverwirrenden Gaukeleien, mit allen dem Glauben und der Wissenschaft widrigen Spitzfinten! ‫אלמלי משמרין ישראל שתי שבתות‬ 19‫ כהלכתן מיד נגאלים‬Israel hat seine Erlösung zu erwarten, wenn es der Doppelweihe seines geistigen und fisischen Sabbats obliegt und in beiden Richtungen Vollkommenheit und Veredlung anstrebt. Der ungefälschte und gottverheißene Messias erscheint uns gewiß, wenn wir fern jeder Sonderung und Uebertreibung, nach der Vorschrift unserer Religion, zum Heile unserer Nazion und zum Wohle der Menschheit, ausgebildet und vorbreitet sind. bT 97a: Rabbi Jehuba lehrte: Die Generazion wo Bendavid kommt, muß so beschaffen sein: Jeder abgeschlossene Kreis muß im Verruf stehen, jeder magi-

16 Vgl. die von Samuel Schwarz unten angeführte Paraphrase der Voraussage von R. Jehuda für die messianische Zeit in bT San 97a, (vgl. auch pT Sota 47a): ‫בית וועד יהיה לזנות והגליל יחרב והגבלן‬ ‫ישוט ואנשי הגבול יסובבו מעיר לעיר ולא יחוננו וחכמות סופרים תסרח ויראי חטא ימאסו והאמת תהא נעדרת נערים פני‬ ‫( זקנים‬genauer: das Haus, in dem sich die Weisen versammeln wird zum Hurenhaus, Galiläa wird zerstört und Gabla verwüstet […] die Weisheit der Gelehrten wird ausarten und die, die Sünden fürchten, werden verachtet werden …). 17 ‫ – תורה‬Torah – Pentateuch. 18 bT Sotah 49b. 19 U.a. bT Shabbat 118a Israel wird (durch den Messias) erlöst, wenn es (das ganze Volk) zwei Schabbate (hintereinander) hält.

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sche Zirkel muß nidergerissen werden, der Sonderling zu Grunde gehen, und die Glieder einer Kaste nirgend aufgenommen; die Ueberklugheit der Buchstabendeutler allenthalben in Uebelgeruch, die zitternden Fehlerfürchtigen überall verabscheut, und das ganze Volk mit zinisch gefaßtem Wächterblick dastehen, während die ungefälschte Wahrheit, den Heerden gleich, frei ihren Verlauf nimmt, denn die Schrift sagt: Die Wahrheit muß heerdeweise und schlicht in ihrem Gange erhalten, und der Sonderling aus boshafter und verführerischer Absicht vor Jedermann lächerlich erscheinen.20 […]

Körperliche Gebrechen und materielle Uebel, wie Krankheiten, Armuth und Ohnmacht, wenn ihnen durch kluge und weise Staatseinrichtungen vieles von ihrer Schärfe und Härte benommen, so ist es doch nicht so weit gelungen, daß ihnen der Eingang in die Gesellschaft gänzlich versperrt wurde. So lange dieses nicht geschieht, sind das die wunden Stellen der Gesellschaft, wo sich das Geschmeiß des Truges und Luges ansetzt und häuft, und nicht nur am Wohl unseres diesseitigen Daseins nagt, sondern auch unsere Bestimmungen jenseitiger Seligkeit gefährdet. Nicht nur Jus und Medizin, weil ihr Bestand in den sozialen Fehlern fußt, sind trotz allen ihren Bemühungen unzureichend unsere Wohlfart zu garantiren; auch die Theologie ist lückenhaft, inwiefern sie falschweise dorthin gespielt wird, wo man sie auf Kosten der vernachläßigten Bildung als Hilfsmittel verwendet. Meistens sind es Arme, Gedrückte und Kranke, bei denen die Irrlehrer, Geheimkünstler und Religionsschänder in ihrem gefährlichen Treiben Anklang und Anhang gefunden haben und noch finden. Der Leidende und Gedrückte, wenn er im Aufsuchen seiner Hilfe auf geradem und natürlichem Wege ermüdet, wendet er sich dem Un- und Uebernatürlichen zu, und wirft sich jenen in die Hand, die ihrer ungeheuren Heiligkeit wegen als intime Vertraute Gottes gehalten, und daher von der Geheimkammer Hilfe ermitteln werden. Die materielle und geistige Verwahrlosung des Klienten oder Patienten nützend, verfertigt der Mächtiggehaltene aus Gebetformeln Rezepte, aus Heiligenzitaten Anklageschriften, die er mittelst Engeln und Geister, als seine Subjekte und Aktuars direkt in den Himmel schickt, wo er seine Apotheken und Gerichtshöfe hat. Zwischen

20 Beachtenswert ist in dieser Deutung vor allem die völlige Umkehrung der Stelle ins Positive; vgl. Anm. 15 oben mit der üblichen Übertragung, hier von Lazarus Goldschmidt. Auch Schwarz denkt sich im Sinne der deutschen Reformer den Beginn der Messiaszeit nicht als Periode größten Niederganges, sondern einer spirituellen Reinigung. Bei Schwarz scheint z.B. die ständige Furcht vor der Sünde tatsächlich verachtenswert und der Erlösung hinderlich.



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tausend Fällen geschieht es Einmal, daß der Zufall diesen Betrug begünstigt; dann ist es um alle Raison geschehen. Der Religion und ihren heiligen Hebungen wird jene Kraft zugeschrieben, die uns zu Hilfe beispringt bei jenen Uebeln, welche wir durch eigenes Verschulden uns an den Hals geschafft. Wir vernachlässigen uns dabei doppelt: erstens wird dem Verschulden andermals nicht aus dem Wege gegangen, und zweitens wird der Begriff von Gott und Gotteslehre entstellt. Die Gebrechen bleiben bei solchem Heilverfahren nicht nur ungeheilt, sondern sie nehmen noch zu, und machen sogar das angewandte Heilmittel zum Gebrechen des Geistes. Die Menschheit sinkt immer tiefer in Verfall und hält den Messias gefesselt in den Bandagen ihrer Wunden, welche auf und zugebunden durch einen und denselben Verstoß, nämlich durch Vernachläßigung des Geistes und Körpers. Messias, dessen Ankunft eine im Geist und Körper vollkommene Gesellschaft erheischt, muß im Auf- und Zubinden der Wunden vorsichtig zu Werke gehen, und beiden Uebeln, sowohl den geistigen als den materiellen, durch Abstellung und Vernachläßigung in jeder Richtung beizukommen Sorge tragen. In diesem Sinne wird er im Talmud derart bezeichnet: ‫יתיב ביני עניי סובלי חלאים‬ ‫ וכולן שרו ואסירי בחד זימנא‬Messias sitzt gefesselt unter jenen Armen und Gebrechlichen, die ihre Wunden auf- und zubinden, durch einen und denselben Verstoß, durch wissenschaftliche und religiöse Unbildung. ‫איהו שרי חד ואסיר חד אמר דילמא‬ ‫ מבעינא דלא איעכב‬Er aber erfordert zu seiner Ankunft ein behutsames Behandeln, sowohl im Fache der Verwundung, als auch in der Heilung, wodurch erste verhütet, und zweite nicht mißbraucht wird.21 Hegel spricht von einer Religion der Erhabenheit, und erklärt darunter, sie muß den Menschen so erhaben machen, daß Gott und Gotteslehre nur das enthalten, was im Geiste des Menschen Platz hat, und was außerhalb dieses Gebietes liegt, ist schon darum überflüssig, weil wir es nicht zu fassen vermögen.22 Leider ist dem nicht so in der Lehre der Religion, vielmehr bemühet man sich, in diesem Gebiete von lauter solchen Dingen zu sprechen, die dem Menschen unverständlich, und darin liegt der Grund, daß es den Fälschern möglich ist, verderblichen Gebrauch von Glauben und Seligkeit zu machen, und sie herüber zu spielen in jene ungebildeten Theile der Gesellschaft, die damit den Mangel an Bildung und Wissen ersetzen wollen. Wenn es nun Einzelne gibt, die gebildet und wahrhaft religiös, fisisch und moralisch gesund, die Frage aufstellen, ob sie des jenseitigen Lebens würdig? die

21 bT San 98a, vgl. ausführlich unten. 22 Vgl. G.W.F. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion von 1827. Hegel unterscheidet die (jüdische) Religion der Erhabenheit von der (griechischen) Religion der Schönheit.

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bündige Antwort erhalten: wenn es dem Herrn gefällig ist! und der Fragesteller diesen Herrn an sich selbst erkennt: so liegt in dieser Frage und Antwort mehr als in allen theologischen Weitläufigkeiten. Der Talmud faßt dieses derart: ‫אתינא‬ ‫ ?לעלמא דאתי‬bin ich der ewigen Seligkeit würdig? ‫ אמר ליה אם ירצה אדון הזה‬ja, wenn es dem Herrn gefällig ist! ‫ שנים ראיתי וקול ג' שמעתי‬Da wir nur zu Zweien waren, so mußte ich die Antwort in der dritten Person auf mich selbst beziehen.23 – Nach diesem Zwiegespräch ist die Sache beendet und der Frager wußte, woran er ist; es handelte sich ja nur um seine Person, und für sich konnte er mit seinem Willen einstehen. Die Religion der Erhabenheit macht ja jeden Menschen zum Herrn, wenn in ihm Gott der Herr ausgesprochen ist. Ganz anders aber ist es, wenn es sich darum handelt, wann eigentlich die Zeit da sein wird, wo Messias erscheint. Dann genügt es mit der Einzelnheit nicht, es mögen ihrer noch so Viele sein, die veredelt und gebildet genug sind; das alles nützt noch nicht, denn die ganze Menschheit muß fehlerfrei dastehen. Nach diesen Voraussetzungen gelangen wir zur Erläuterung einer Stelle, die von Vielen als eine unterschobene oder entstellte gehalten wird.24 Es ist dieses ein Gespräch zwischen Elia und Rabbi Jehosua ben Lewi, abgehalten am Grabe des Barjochui,25 wohin sehr fleißig zur Erbauung gewallfahret wurde. bT San 98a: Rabbi Josua ben Lewi begegnete Elia beim Grabe des Rabbi Simon Barjochui, und frug ihn, ob er des seligen Lebens würdig sei? Elia gab ihm zur Antwort: Wenn es dem Herrn gefällig ist! Worauf Rabbi Josua sagte: Da wir nur zu Zweien waren, so verstand ich die Ansprache in der dritten Person auf mich, woraus folgt daß ich darnach handeln muß. Er frug ferner: Wann kommt der Messias? Elia gab ihm zur Antwort: Da mußt du dich mit der Idee von Messias und mit ihm selbst vertraut machen. Siehe, er sitzt fort und fort am Eingange des Thores, um nur zu kommen, und ist dadurch bezeichnet, daß er gefesselt ist zwischen den Armen

23 bT San 98a, vgl. ausführlich unten. 24 Vermutlich wegen des theologischen Widerstandes, den jüdische Autoren gegen einen leidenden Messias aufbieten mussten. Christliche Theologen im neunzehnten Jahrhunderts beriefen sich eher ausdrücklich auf diese Stelle, um zu beweisen, dass auch der Talmud einen leidenden Messias kenne. Vgl. dazu noch das zehn Jahre nach unserem Text verfasste Vorwort zu: August Wünsche, Die Leiden des Messias in ihrer Uebereinstimmung mit der Lehre des Alten Testaments und den Aussprüchen der Rabbinen in den Talmuden, Midraschim und andern alten rabbinischen Schriften (Leipzig, Fues, 1870). 25 Wörtlich: an der Höhle des Rabbi Schimon bar Jochai, dem traditionell die Autorenschaft des Buches Sohar zugeschrieben wird und der damit als Begründer der jüdischen Mystik gilt; Samuel Schwarz geht hier gegen die Annahme seiner Verfasserschaft an. Rabbi Schimon und sein Sohn sollen sich für lange Zeit vor den Römern in einer Höhle versteckt gehalten haben (vgl. bT Shab 33b), in der sie mystische Visionen hatten.



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und Gebrechlichen, die ihre Wunden auf- und zubinden in Verwirrung, wodurch sie immer mehr verwundet, und selbst die angewandten Heilmittel in erneuerte Wunden umschlagen. Er aber nur dann frei werden kann, um die Menschheit zu erlösen, wenn die gesellschaftlichen Gebrechen abgestellt und die Heilmittel nicht mißbraucht werden. Diese Bezeichnung merkte Rabbi Josua, war auch mit dem messianischen Verfahren einverstanden, und begrüßte Ihn als Meister. Da er gesund an Körper und Geist, sich selbst nach diesem heilsamen Verfahren behandelte, so stand er bereit, den Messias zu bewillkommen und frug ihn: Wenn ich deiner würdig, so sage mir, wann du kommst? Die Antwort lag schon in der Frage begriffen, und sie lautete: Heute! Als er nach diesem Nachdenken wieder zu Elia kam, stellte dieser die Frage an ihn, was er nun herausgefunden? Rabbi Josua gab nun zur Antwort: Ich fand mich gegrüßt und der messianischen Bewillkommung würdig. „Dieses“ erwiederte jener „beweist nur von deiner und deiner Eltern Tüchtigkeit, daß ihr des seligen Lebens fähig, aber noch immer nicht, daß Messias schon erscheinen kann.“ „Nun“, replizirte dieser „hat Messias gelogen? da ich doch wähnte von ihm zu hören, daß er noch heute komme.“ „Das Heute“ versetzte Elia „hat Bezug auf die Bibelstelle: heute, wenn ihr alle der göttlichen Stimme gehorcht.“26 Staaten, welcher Verfassung immer, können nur dann ordentlich, einig und aufrecht erhalten werden, wenn die Leiter ihrer Angelegenheiten und Führer ihrer Geschäfte in voller Achtung und ungetheilter Wertschätzung bei der Einwohnerschaft und Bevölkerung stehen. Bei monarchischen Verfassungen wo das geheiligte Haupt des gotteingesetzten Regenten als Vater seiner Unterthanen gilt, muß dieser Achtung und Werthschätzung auch kindliche Neigung und Liebe zugesellt werden. Achtung, Werthschätzung, Neigung und Liebe lassen sich aber eben so wenig einreden, wie Mißachtung, Geringschätzung, Gleichgiltigkeit und Haß sich ausreden lassen. Sie entkeimen dem Gefühle, jenem Boden, der treu zu Frucht bringt den hineingestreuten Samen des Angenehmen und Widerlichen, des Schmerzlichen und Freudigen, des Wohlthuenden und Beleidigenden. Haß und Liebe sind nur blind, wenn sie schon Wurzel gefaßt, aber sie wurzeln niemals ohne Grund und Ursache; Verehrung und Verachtung sind die Ergebnisse des Eindruckes, den ein Gegenstand oder eine Person auf uns machen in der ersten Bekanntschaft

26 Psalm 95, 7 (d.h. an dem Tag, an dem ihr alle der göttlichen Stimme gehorcht). Im talmudischen Original der Stelle sitzt der Messias an den „Toren Roms“ zwischen den Leidenden. Allerdings ist es möglich, dass Schwarz hier nur eine der zensierten Versionen des Textes vorlag, die oft Rom nicht direkt erwähnten. Raschi jedoch (ad loc) kennt Rom, deutet es aber allegorisch.

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und dem ersten Anblicke. Entdecken wir Blößen, dann bleibt uns die erhabenste Größe gleichgiltig, und die unbedeutendste Kleinlichkeit erwirbt sich unsere Werthschätzung, wenn wir ihr im Vorhinein eine Bedeutung abgelauscht. Die Regierungen können daher bei strängster Härte und härtester Strenge, wenn sie nur keine Blöße des ausgesprochenen und unwiderlegbaren Unrechtes kundgeben, auf die volle Liebe und Achtung der Bevölkerung rechnen. Hingegen können sie bei sanftmüthigster Huld und huldvollster Sanftmuth keinen Anspruch darauf machen, wenn offenkundige Partheilichkeit und entschiedene Rechtsverletzung ihrem Verfahren unterlaufen. Gegenüber der in aller Welt zerstreuten jüdischen Bevölkerung wurde dieses nicht beachtet, und so manche Regenten haben durch das selbstsprechende Unrecht, welches an Israel verübt, den göttlichen Glanz ihrer Kronen getrübt. Das ohnmächtige, gedrückte und seines Rechtes entäußerte Volk konnte nicht anders, und mußte seine Huldigung und Ergebenheit an den Tag legen; aber im Bewußtsein des erlittenen Unrechtes war es unmöglich, volle Achtung und innere Liebe zu fühlen für jene Größen, die mittelst des schmerzlichen Eindruckes eine Blöße des Unrechts zur Schau legten. Gottlob hat sich das geändert, und so weit die Zivilisazion reicht, sind alle Regierungen beflissen, sich von dieser Blöße zu schützen, gleiches Recht und gleiche Stellung allen Konfessionen, also auch den Israeliten einzuräumen. Es geht das wohl langsam her, wie dieses aber bei jeder Geburt geschieht, die wenn sie nicht verfrüht werden soll, einen Ausstand haben muß. Israel wird sonach in der Ausübung seiner Bürgerpflichten mit einer Tugend bereichert, und kann der Ankunft seines Messias mit Zuversicht entgegensehen: ‫אמר רב אין בן דוד בא עד‬ ‫ שתתשוט מלכות על ישראל ט' חודשים‬heißt es im Traktat Joma und in Sanhedrin: ‫בכל‬ ‫;העולם עד שתתשוט מלכות‬27 Eher kommt Bendavid nicht bis alle Regierungen, soweit Israel zerstreut, das heißt in der ganzen Welt ‫ פשוט‬gleich werden, und Gleichheit allen Menschen, in ausgetragener und wohlgeborner Weise angedeihen lassen.28 Wenn Israel bis jetzt von der heiligen Pflicht der Hochachtung und tiefen Verehrung der gotteingesetzten Regenten gewaltthätig ausgeschlossen wurde, indem es durch gefühlten Schmerz seiner bedrückten Stellung sie eines Unrech-

27 bT Joma 10a und bT San 98b – Schwarz scheint hier wiederum stark zensierte Ausgaben zu benutzen. An beiden Stellen ist ursprünglich vom „verruchten römischen Reich“ die Rede, das sich neun Monate lang über Israel bzw. die ganze Welt ausbreiten muss, bis der Messias kommt. 28 Hier legt Schwarz wiederum entgegen dem eigentlichen Wortsinn aus, und es ist nicht sicher, ob absichtlich oder wegen der zensierten Talmudausgabe, die er benutzt. Für sein messianisches Denken ist das jedoch nicht von Bedeutung. Grundsätzlich nimmt er eine moralisch und sozial verbesserte, nicht eine apokalyptische Welt als Voraussetzung für den Beginn der Messiaszeit an.



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tes zeihen konnte, so verschafft es sich jetzt Genugthuung, jenes aufgedrungene Vergehen gut zu machen. Mit dem Abstellen des Druckes und der Berücksichtigung des Rechtes, von der Regierung beherzigt, steigt die wahre, echte und reine Liebe des Israeliten zum Regenten und Vaterlande. Man besuche die unter dem Schutze unseres tiefgeliebten Kaisers in Pracht und Zier hergestellten Gebethäuser, und man wird erhoben und erbaut von den Gebeten und inbrünstigen Gesängen, welche für Kaiser und Land zu Gott gesendet werden.29 Die Summe der Tugenden wächst, und wird auch durch die der Liebe und Treue zum Monarchen vermehrt, und Israel kann auf dieser Bahn seinen Messias baldigst erwarten. bT San 98a: Rabbi Chama Sohn Rabbi Chaninas lehrte: Eher kommt Bendavid nicht bis alle jene Regierungen aufhören, die durch ihr eigenes Verfahren mißachtet wurden von dem bedrückten Israel, denn die Schrift sagt: „Es werden alle Geringschätzungen abgehauen durch Gebete und Inbrunstgesänge, zu jener Zeit, wo in voller Herrlichkeit sie zum Herr der Herrschaaren gesendet werden von dem früher gequälten und verstossenen Volke.“30 Die zweckmäßige Bildung ist nichts anders, als die Befähigung zur bürgerlichen Taugbarkeit. Wenn nun viele die unsinnige Behauptung aufstellen, der Jude kann unmöglich zum Bürger befähigt werden, so haben sie nichts anders gesagt, als daß er bildungsunfähig sei, und dieses ist eine Lüge, der überall und allenthalben durch lebendige Gegenbeweise widersprochen wird. Der grimmigste Judenfeind muß es eingestehen, daß der Jude in keinem Fache der Bildung und des Wissens irgend einer Nazion nachsteht. Wie wäre dieses auch möglich, da er sich von andern Nazionen nur durch seine Religion unterscheidet, und diese ist nichts anderes als der Zusammenfluß und Inbegriff aller Kenntnisse. Man hat sich’s neuerer Zeit zwar sehr bequem gemacht, und statt ‫תורת משה‬ trägt man in den Schulen zusammengestulpte Katechismen vor. Nicht nur die Lehrer, auch die Verfasser jener Surrogate, haben eine schwere Verantwortung auf sich, denn von ‫ בראשית ברא‬bis ‫ לעיני כל ישראל‬kann keine Stelle weggelassen werden, die dem Kinde beigebracht werden muß, um es als religiösen Juden zu erziehen.31 Auch dieser Umstand dürfte mehr Beachtung verdienen, als andere

29 Franz Joseph I. regierte von 1848 bis 1916. Am 21. Dezember 1867 erließ der Kaiser das Staatsgrundgesetz, das erstmals Juden anderen Staatsbürgern rechtlich gleichstellte und ihnen Religionsfreiheit gewährte. 30 Vgl. Jesaja 18, 5 ‫ וְ כ ַָרת הַ ּזַלְ זַּלִ ים ּבַ ּמַ זְמֵ רֹות‬in freier (aber möglicher) Übersetzung von Schwarz. Hier stimmt seine Deutung durchaus mit dem Wortsinn der Talmudstelle überein. 31 Die ersten und die letzten Worte von Torat Mosche, der Lehre Mose, dem Pentateuch.

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zahllose Kleinigkeiten, worüber so viel gestritten und geeifert wird. Hoffen wir auf Besserung und gehen in unsern Erläuterungen weiter. Werden pflichtgemäß dem Kinde die fünf Bücher Moses beigebracht, so dürfte dann schwerlich ein Fach der Kunst und Wissenschaft sein, womit es nicht berührungsweise bekannt gemacht wäre, und wie sollte dann der erwachsene Jude dieser Religion halber, die ihm zu Wissen und zur Bildung als Leitfaden dient, gerade zu diesen nicht fähig sein? Der Jude hatte zu allen Zeiten anerkannte Leistungen in jenen Wissenschaftsgebieten, die ihm nicht versperrt und versagt waren. Viele haben aus Drang zum Nützen die Schranken sogar durch den Austritt aus dem Judenverbande gebrochen, um ihren Fähigkeiten Raum zu verschaffen. Es liegt in ihren Leistungen auch deutlich die Wehmuth ausgesprochen, daß sie mittelst Gewaltschrittes sich Bahn brechen mußten. Es gibt sich, was wahr ist, in den Leistungen der Juden eine gewisse Anmaßung und Arroganz kund, worauf ihre Feinde gerechterweise so sehr lospochen. Dieser Fehler rührt aber keineswegs von Uebermuth und Ueberschätzung her, vielmehr ist es eine edle und gerechtfertigte Rache, die darin geübt, da ihnen viele Räume verschlossen sind, womit gleichsam gesagt ist, sie haben kein Recht, der Welt nützlich zu sein. Sie verschaffen sich darum in jenem Raume, der ihnen offen steht, einen Platz frei aufzuathmen, und ihre Uebergelegenheit – die jedem begabten Menschen eigen, – eindringlich und scharf kundzugeben. Mit dem Erlangen der Rechte und Gleichstellung gewinnt Israel seine ihm innewohnende Bescheidenheit; der Begabte und Befugte findet in seinem Wirken und Leisten nichts anderes als Schuldigkeit und Pflicht, die er der Gesellschaft abzutragen bemüssigt, weil er ein ihr gleichberechtigtes Mitglied ist. Fern von Arroganz und Anmaßung stehen dann auch Israeliten als ausgezeichnete und anerkannte Männer da, wenn sie Begabung und Befähigung besitzen, und so kann Israel seiner baldigen Messiaszeit gewärtig sein. bT San 98a: Seira lehrte im Namen des Rabbi Chanina: Eher kommt Bendavid nicht, bis arrogante und anmassende Männer in Israel aufhören; denn die Schrift sagt: Ich werde von dir fernen alle, die sich deiner Leistungswürde übermüthig brüsten, und du bleibst ein anspruchloses und bescheidenes Volk, das unter dem allgemeinen Schutze Gottes steht.32 Ob Palestina das Land und Jerusalem die Residenzstadt des Messiasreiches sein werden, läßt sich weder mit aller der unumstößlichen Beweise behaupten, noch aus dem Bereiche der selbst im natürlichen Wege zuzuführenden Möglichkeit streichen.

32 Nach Zefania 3, 11f.



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Der Talmud spricht zwar zwischen den angegebenen Zeichen der messianischen Erlösung ausdrücklich von der uns wieder zueingebende Stadt Jerusalem: ‫ אמר עולא אין ירושלים נפדית אלא בצדקה‬Jerusalem wird nur durch Wohlthätigkeit erlöst.33 Aber Maimoni und Tur lassen „Jerusalem“ gänzlich weg, und setzen dafür „‫“ישראל‬.34 Nach dieser Reduktion des Rambam und Tur ist natürlicher Weise die Ansicht wohl geltend zu machen, daß die beiden benannten Ortschaften bei jeder Gelegenheit überhaupt nur darum figuriren, weil Israel überall als fremd behandelt seine Heimat dorthin verlegte, wo es einst bürgerlich zu Hause war. In dem vierzehnten Absatz des Achtzehn-Gebetes, und dem dritten Segensspruche des Nachtischgebetes heißt es zwar: Gelobt seiest du, der einst Jerusalem wieder erbaut; aber diese Gebete stammen bekanntlich aus jener Zeit her, wo Jerusalem wohl schon im Verfalle, doch noch immer die Metropolis der Juden war, und darum auch die Ankunft des Messias jede Minute erwartend, mit der Aufrichtung Jerusalems identisch gewesen. Maimoni, in dem Entwurf der dreizehn Glaubensartikel, erwähnt mit keiner Silbe eines Ortes, wo Messias seinen Thron aufschlagen, ob Jerusalem mit Opfertempel und anderen Anstalten uralterthümlicher Zeremonien versehen, seine Hauptstadt sein wird.– Zu beklagen ist der übertriebene Eifer, womit man die Ansicht eines Hochgelehrten, und bedeutenden Manne des „Taschbaz“ nämlich,35 selbst in der neueren Zeit verübelte, daß er die Blut- und Thieropfer in der Messias Zeit in Zweifel stellte. Wäre es nicht rathsamer, auf die Geistesopfer zu sehen, welche wir der religiösen und Weltlichen Ausbildung schulden, um der Messiaszeit würdig zu werden? Unsere heilige Bibel und Gebetsprache verhaucht sich aus Vernachläßigung, der Urquell unserer geheiligten Bräuche, der Talmud, verblutet sich aus Verwahrlosung; was liegt den Herren Auguren daran, sie richten ihren tiefen Blick lieber auf Opferthiere. Wohlerwogen, sagt Maimoni daselbst: Ein gebildetes Judenreich mit eigener Verfassung darf keinen andern Regenten an der Spitze haben, als einen, der mit-

33 bT San 98a 34 Israel. Schwarz verweist auf Maimonides Mishneh Torah, Gesetze über Armenhilfe 10,1 und Tur, Joreh Deah 257. Tur, auch Arba‘ah Turim (die vier Säulen) ist ein von R. Jakob ben Ascher im vierzehnten Jahrhundert verfasster Gesetzeskodex. 35 Taschbaz – Rabbi Shimon ben Zemach Duran (1361–1444). Ich war nicht in der Lage, die entsprechende Stelle in seinen Werken zu finden. (Mein Dank gilt hier Admiel Kosman.) Die Debatte um die Wiedereinführung der Opfer in der messianischen Zeit wurde während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts zwischen Liberalen und Orthodoxen mit großer Heftigkeit geführt. Die Argumente beider Seiten stützten sich dabei allerdings hauptsächlich auf verschiedene Schriften des Maimonides. Vgl. dazu ausführlich Kohler, Reading Maimonides Philosophy.

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telst Erbrechtes aus der Familie Davids und Salamons dazu berufen ist.36 Es liegt nicht im Gebiete der Unmöglichkeit, daß sich einst auch ein jüdischer Staat mit eigener Verfassung bilde, und vielleicht sogar im gewesenen Israel-Lande, wo Jerusalem die Haupstadt sein kann. Neugriechenland liefert Beweise für diese Möglichkeit. Daß ein solcher Staat, völkerrechtlich anerkannt, und von den Regierungen garantirt, keinem ‫בעל שם‬ oder sonstigem Geistergeneralen und Himmeldiplomaten, sondern einem berufenen und befugten David oder Salomon, zur Leitung der Regierung anvertraut werden müßte, dieses muß wohl jeder gesunde Mensch eingestehen.37 Wer nun die Bethätigung dieser Möglichkeit mit Zuversicht erwartet, und auf einen einstigen geordneten Judenstaat als unausbleiblich hofft, den können wir keineswegs übertrieben oder schwärmerisch schelten, aber es ist darin noch immer der Glaube an einen Messias nicht gänzlich enthalten. Das Zustandekommen eines jüdischen, wenn noch so gelungenen Staates, wäre noch immer zu eng für die große und erhabene Idee des Messias, von dem es heißt: ‫לא אברא עלמא אלא‬ ‫ למשיח‬die ganze Welt ist nur des Messias wegen erschaffen.38 Gehen wir das Wörterbuch der Ereignisse, die Weltgeschichte durch, so finden wir eine große Summe von Nazionen und Staaten, denen auf der Schaubühne des Weltgeschickes auf eine gewisse Zeit, auf Jahrhunderte, Jahrtausende, bedeutende oder unbedeutende Rollen zu Theil wurden. Sie sind aufgetreten, haben ihre Rollen ausgespielt und sind wieder spurlos verschwunden. Geschichtsforscher geben sich alle Mühe, sowohl das Auf- als das Abtreten der Nazionen, mittelst moralischer Vorzüge oder Nachtheile erklärlich zu machen, um daraus Beispiele für Politik zu gewinnen. Sie folgern den Untergang Grichenlands, Roms u. s. w. aus dem sittlichen Verfall und der gesunkenen Moral jener mächtigen Staaten, und beweisen uns, durch welche Fehler ein Staat unhaltbar gemacht wird. Das sind aber lauter negative Beweise, doch einen affirmativen Beweis wie einer ja haltbar und dauerhaft sei, wird man um so weniger aus der Geschichte herausfinden, weil sich nicht eine einzige Nazion vorzeigen läßt, die seit Geschichtdenken dasteht und ohne Aufhör fortdauert. Wir müssen, um richtig zu schließen, aus diesem fortwährenden Nazionenwechsel und dieser allfortigen Staatenänderung Beweise ziehen, auf die wirkliche Unzuläßigkeit jeder Nazionalität und Bestandlossigkeit jedes Sonderstaates.

36 Vgl. Maimonides, Mischneh Torah, Könige und Kriege 11, 1. 37  ‫ – בעל שם‬Baal Shem kann einfach nur ein bedeutender Mann sein, hier wahrscheinlich aber eine Anspielung auf die jüdischen Mystiker und praktischen Kabbalisten Osteuropas, die sich diese Bezeichnung zulegten. 38 bT San 98b, vollständig: ‫אמר רב לא אברי עלמא אלא לדוד ושמואל אמר למשה ורבי יוחנן אמר למשיח‬



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Nazionen, Staaten und Reiche sind nur dann unfehlbar und der Dauer möglich, wenn sie alle und jene Vorzüge inne haben, wodurch sie scharfausgeprägte Merkmale des allgemeinen Begriffes „die Menschheit“ werden. Gott der Weltenschöpfer und einzige Leiter der Weltgeschichte, hat wie in der Schöpfung auch in der Geschichte, eine unübersehbare Menge Verschiedenheiten für verschiedene Zeiten und Räume, zum Zwecke einer einzigen Vollkommenheit ins Dasein berufen. Eine Nazion war da, die Veredlung der Künste und Wissenschaften bis zu einer solchen Höhe zu betreiben, daß sie die Grenze der menschlichen Wohlfahrt überschritt, und der auf ihr begründete Staat mußte zu Grunde gehen. Eine andere wieder hatte diese Aufgabe hinsichtlich menschlicher Stärke und Kräfte, Ausdehnung und Erweiterung der Gewalt, zu erfüllen. Eine dritte wieder hinsichtlich der Ausdauer, Gefügigkeit und Nachgiebigkeit. Sonach wurde jeder ein gewisser Raum und eine gewisse Zeit zu ihrer Mission angewiesen, wo sie als organisirter Staat nach dem Willen Gottes wirken konnte und wirklich wirkte. Israel, dessen Aufgabe es war, für die Einheit Gottes einzustehen und dem Heidenglauben entgegenzuarbeiten, bekam das Land Kanaan angewiesen, wo es bis zur Regierung des Chiskia seine Aufgabe als eigener Staat bis zur Reife gebracht zu haben scheint.39 Die rituelle und religiöse Bildung war damals weit vor, und hatte fast eine überschwengliche Höhe erreicht, daß der Talmud erzählt: ‫בדקו מדן ועד באר שבע ולא מצאו עם הארץ מגבת ועד אנטיפרס ולא מצאו תינוק ותינוקת איש ואשה‬ .‫שלא היו בקיאין בהלכות טומאה וטהרה‬ „Man hatte von Dan bis Beerscheba untersucht, und fand keinen Unwissenden; von Gebas bis Antiparus gab es kein Kind, sowohl männlichen als weiblichen Geschlechtes, das nicht von den Regeln des Reinen und Unreinen genau unterrichtet gewesen wäre.“40 Diese ungeheure Höhe der religiösen Bildung konnte sicher nicht anders erreicht werden, als durch Vernachläßigung aller andern Fächer, und wahrscheinlich lag alles andere Wissen darnieder. Poesie und Musik war am wenigsten beachtet. Wenn dieser strengreligiöse König auch vermöge dieser religiösen Höhe verdient hätte Messias zu sein, so war das Maß jener Vorzüge unerfüllt, die auch in andern Beziehungen zum menschlichen Wohle unerläßlich sind: ‫ביקש הקב"ה לעשות חזקיהו משיח אמרה מדת הדין לפני הקב"ה מה דוד מלך ישראל שאמר כמה‬ ‫שירות ותשבחות לפניך לא עשיתו משיח חזקיה שעשית לו כל הנסים הללו ולא אמר שירה לפניך תעשהו‬ .‫משיח לכך נסתתם‬

39 Chiskia – (hebräisch ‫חזקיהו‬, Chiskijahu) war von 727 bis 698 König von Juda. 40 bT San 94b (etwas verkürzt wiedergegeben).

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„Gott gedachte den Chiskia zum Messias zu machen, da trat das unerfüllte Maß der Vorzüge entgegen, weil er die Wunder Gottes weder mit Lied noch Gesang zu würdigen verstand.“41 Von Chiskias Regierung abwärts, ging es in den jüdischen Staatsangelegenheiten immer ärger und schlimmer, und der jüdische Staat kränkelte fort bis zum gänzlichen Untergange. Die Zeit des zweiten Tempels bot auch keinen Glanzpunkt dar von einer gänzlichen Unabhängigkeit. Israels Mission zur Erkenntniß des wahren Gottes, als eine Nazion mit staatlicher Verfassung, war daher mit der Regierung Chiskias ebenso, wie der Römer Mission zur Zivilisazion mit der Regierung Augustus Romulus zu Ende. Es traten andere Nazionen an ihre Stelle, wieder zu andern Missionen, und so fort, und fort bis alle jene Vorzüge anerkannt und ausgeübt, die zum Wohle der ganzen Menschheit nothwendig, um jene Vollendung erreichen zu können, bis alle Welt, eines Messias würdig, dasteht. Es ist dieses die ausgesprochene kosmopolitische Ausbildung, wo sämmtliche Regierungen in Frieden miteinander, blos daß Glück ihrer Völker vor Augen haben. Nicht Land, noch Verfassung, noch Nazion, sondern Tugend, Wohlfahrt und Menschheit, die Grenzen und Marken bilden von aller Welt, die unter dem Schutze des oben im Himmel Thronenden steht: ‫והיתה לה׳ המלוכה‬, und die oberste Gewalt Gott dem Herrn zuerkannt wird.42 Wenn Rabbi Hillel sagt: ‫אין משיח לישראל שכבר אכלוהו בימי חזקיה‬, für Israel allein gibt es mehr keinen Messias, denn die gesonderte und israelitisch-staatliche Stellung ging mit der Regierung Chiskias zu Ende:43 so wollte er damit sagen, daß Messias für alle Welt und sämmtliche Menschheit erscheinen muß. R. Albo in der Einleitung zu ‫ עקרים‬stellt den Glauben an Messias als Glaubensartikel in Abrede, und sagt, daß wenn dieses ein Glaubensartikel wäre, so würde der Talmud dem Rabbi Hillel mit der Verdammung eines ‫ אפיקורוס‬entgegengetreten sein44, und nicht mit den schonenden Worten ‫שרא ליה מריה‬, Gott mag ihm diese Ansicht verzeihen.45 Nach unserer Erläuterung aber hat Rabbi Hillel dem Glauben an Messias nicht nur nicht widersprochen, sondern ihm seine Ausdehnung im ganzen Sinne zugestanden. Rabbi Josef, der ihn eines Fehlers zeihet, meint nur, er habe

41 bT San 94a (etwas verkürzt wiedergegeben). 42 Psalm 22, 29. 43 bT San 98b. 44 Vgl. Joseph Albo, Sefer HaIkarim (I, Anfang). Rabbi Joseph Albo (1380–1444) reduzierte die Liste der 13 religiösen Dogmen des Maimonides auf drei, unter denen der Messias nicht vorkommt. 45 bT San 99a. Rabbi Josef argumentiert, Hillel könne nicht Recht haben, weil auch der Prophet Sacharja, der nach Chiskija gelebt hat, noch den Messias ankündigte.



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einen Sinkronismus versehen, indem mit Chiskias Regierung der jüdische Staat noch nicht aufhörte, weil auch zu Zeiten des zweiten Tempels, Israel einen Staat bildete. Hierin aber stimmt er auch ein, daß die ersehnte Messiaszukunft nicht für e i n e n wieder zu entstehenden Sonderstaat Israel, sondern für die Veredlung und Vollkommenheit des ganzen Menschengeschlechtes gedeutet, erwartet, gehofft und geglaubt werden muß. bT San 99a: Rabbi Hillel lehrte: Für Israel und dessen Verfassung a llein ist der Messias nicht zu erwarten, denn Israels Mission als Staat war vollendet mit der Regierung Chiskias; worauf Rabbi Josef sagte: Gott mag dieses dem Rabbi Hillel verzeihen, denn Chiskia war doch Regent zur Zeit des ersten Tempels, und Sacharia profezeihte auf den zweiten Tempel, und deutete auf diesen als einen vorzüglichen Staat hin, indem er sagt: „Freue dich Tochter Zion, jauchze Tochter Jerusalem, denn stehe, dir entsteht ein König, der gerecht und hilfreich.“46 Das Ersehnen und Hoffen einer glückseligen und gottgefälligen Zukunft, ausschließlich für das jüdische Volk, beschränkt auf dem gelobten Lande und Jerusalem, wäre für den Glauben an einen Messias eben so einseitig, wie die Ansicht Mancher von einer allein seligmachenden Kirche, angewiesen nur auf Rom. Eine wahrhafte, von den Profeten vorausgesagte, und von den großen Weltmännern angestrebte Erlösung, ist als solche nicht anders auffaßbar, als daß die sämmtliche Menschheit durch gehörige Entfaltung des menschlichen Geistes, zu einer Nazion: „‫ ישראל‬göttlich waltend, und die ganze Welt durch vorausgegangene Entwickelung der sozialen Verbesserungen zu einem Staate: „‫ “ירושלים‬friedlich vollständig, sich nach dem göttlichen Willen gestalten werden.47 Die Ankunft eines Messias in diesem wahren und hohen Sinne setzt unstreitbar solche umfassenden und großartigen Fortschritte voraus, die selbst dem Gläubigsten der Optimisten als unerreichbar erscheinen, wenn er den geschichtlichen Verlauf blos in kleinen Raten und in winzigen Scheidemünzen betrachtet. Nicht destoweniger aber muß sich der Ungläubigste der Messianisten überzeugen, daß solche Fortschritte denn doch gemacht werden, wenn er in großen Summen von Jahrhunderten und Jahrtausenden seine Forderungen aus der Wechselbank der Geschichte holt.

46 Sacharja 9, 9. 47 So lassen sich die hebräischen Worte Israel und Jeruschalaim im übertragenen Sinne übersetzen.

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Schlußwort Wo sind der Stürme Kämpfe mehr vorhanden, Als jene, die Israel ausgestanden, Doch gegen Alle setzte sich zur Wehr Des Krieges waffenlose Glaubensheer. Es stumpfte sich des Fanatismus Degen An seinem geistgestählten Vätersegen, Festhaltend an der Thora Siegesfahn’, Es glücklich dem Vernichtungskrieg entrann. Mit Stahl und Eisen hat es nicht gestritten, Und wenn zu sehr an Wunden es gelitten, Entströmte Balsam, jener Treu und Lieb’, Worin von Gott es unentrissen blieb. Das jüdische Herz als Best’, bewahrt von Wächtern Nicht blos von Männern, auch von frommen Töchtern, Ein heilig unverletztes Stiftgezelt Erhalten gegen Bresch der Außenwelt. Vom Vortheil der Gesellschaft ausgeschlossen, Verbannt, verkannt von allen Zeitgenossen, Erhielt sich Israel durch Hoffnung blos, Die es aus den Verheißungen genoß. Vermög der Zukunft kommenden Aussichten Vermochte es auf Alles zu verzichten, Nur nicht auf Lehr und Bildung in dem Maß Wie sie bedingt die Zeit des Messias. Vorüber sind die dunkeln, trüben Zeiten, Mit ihnen schwanden die Gehässigkeiten, Und Israel, nach Druck und Schmach und Hohn’ Erlöst, und anerkannt als Nazion.



Zum eig’nen Wohl und für gesammtes Frommen Im Band der ganzen Menschheit aufgenommen, Soweit geführt der gottbeseelte Chor, Von „Glaube, Liebe, Hoffnung“ Trikolor.

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Klementine von Rothschild

Brief an eine christliche Freundin Briefe an eine christliche Freundin über die Grundwahrheiten des Judenthums, Frankfurt: Baist, 1867, 51–63 [Auszug] Clementine Henriette von Rothschild (1845–1865) war die dritte von sieben Töchtern von Louise Freifrau von Rothschild und des Bankier und späteren Abgeordneten Mayer Carl von Rothschild aus Frankfurt am Main. Hochbegabt und philosophisch interessiert, ließ sie sich von ihrem Mentor, dem liberalen Frankfurter Rabbiner Leopold Stein, überreden, ihre theologischen Gedanken zum Judentum in zehn fiktiven Briefen an eine christliche Freundin niederzuschreiben. Es entstand eine gebildete Apologetik des Judentums, die den Geist des neunzehnten Jahrhunderts deutlich widerspiegelt: eine interessante Mischung aus Anhänglichkeit an die Religion der Väter und Interesse an deren Erweiterung zu einer universellen humanitären Mission an die Menschheit. Stein veröffentlichte die unvollendete Sammlung 1867 postum, nachdem Clementine zwei Jahre zuvor, kaum zwanzigjährig, gestorben war. In ihrem Bemühen, die jüdische Messiaslehre vom Christentum abzugrenzen, zeigt die Autorin vor allem, wie tief die neuen Gedanken eines transformierten Messianismus – mit dem Akzent auf Israel als dem stellvertretend leidenden Messiasvolk – schon in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in das jüdische Denken eingedrungen waren.

Messiaslehre. Fr a n k f ur t a. M., 30. Januar 1862. Theuere Ellen! Der Gegenstand, welchen Du zur Darlegung meiner Gedanken über die Grundlehren des Judenthums mir neuerdings vorgeschlagen hast, liebe Ellen, ist ein höchst wichtiger und anziehender; entschuldige die späte Antwort, meine beste Freundin! Allein ich wollte erst reiflich nachdenken, um Deinen werthen Brief desto besser, desto klarer beantworten zu können. – Möchte mir Dieses zu Deiner Befriedigung gelingen! – Du bist begierig, liebe Ellen, zu wissen, wie das Judenthum, wenn es den Messias n icht als Erlöser aus der Erbsünde betrachte, die Messiaslehre überhaupt auffasse. Hier allerdings, geliebte Freundin, gerade in diesem Puncte liegt ein bedeutender, vielleicht der bedeutendste Unterschied unserer beiden Religio­nen. – Im Christenthume, wie Du ja gewiß weißt – denn sein Name schon bedeutet: „Messiasreligion“ und „Christus“ heißt im Hebräischen Messias (Mas chiach, Gesalbter) – im Christenthum ist, in Betreff jener Lehre, die Per son des Messias

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 Klementine von Rothschild

– der Erlöser, Retter, Mittler – die Hauptsache, der Mittelpunkt, ja ich darf sagen der Träger, der Erhalter der ganzen Religion. Ohne diese Per son des Messias würde das Christenthum seinen eigentlichen Charakter verlieren, und das ganze Gebäude zusammen fallen. – Der Anfang des Christenthums ist die Erscheinung des Messias, das Ende die Hoffnung seines Wiederkommens; alles Streben eines Christen, alle seine Gedanken, mit Einem Worte, sein ganzes Leben ist weniger mehr auf Gott selbst, als auf den „Messias“, welcher im engeren Sinne „der Herr“ heißt, hoffend und vertrauend gerichtet. – Nicht so im Judenthum. Bei uns ist G ott , der einzige, untheilbare, zwischen dem und uns wir einen Mittler gar nicht annehmen dürfen, Alles in Allem.– Daher tritt bei uns die Per son des Messias bedeutend, fast ganz in den Hintergrund. – Wir betrachten als den Mittelpunct der Messiaslehre die Zeit , die kommen wird, nicht den M enschen, der sie bringen wird. – Der Messias ist bei uns der Schlußstein, nicht der Grundstein des Gebäudes. – Die Welt wird nicht durch ihn vervollkommnet, sondern wenn sie vervollkommnet ist, wird Gott ihn senden, um das Werk der Einigung zu stiften. – Dazu müssen alle Völker sich vorbereiten, und darauf ist auch der Beruf Israels gerichtet. – Es ist wahr, der Allmächtige hat unsere Väter wegen ihrer Sünden bestraft, indem sie auf der Erde gar lange, einsam und zerstreut, gehaßt und verfolgt, umherirren mußten; aber Gott in seiner Güte und Gerechtigkeit hatte bei dieser Bestrafung noch eine andere, weise, liebevolle Absicht; wir sollten im Unglück uns läutern, durch unsere Festigkeit und Glaubenstreue vor der Menschheit als ein gutes Beispiel erscheinen. – So sollten wir die Lehre des einzigen Gottes die Welt kennen lehren, und dann, wenn wir uns von unseren Fehlern gereinigt, wenn wir unsere hohe Aufgabe erfüllt haben, wenn durch unsere reine Lehre die Menschheit in der Einheit Gottes ihre Einigung gefunden haben wird, dann, ja dann erst, wird das Reich Gottes, der Messias kommen, welcher kein Erlöser von der Sünde sein wird – denn das ist und bleibt Gott allein! – sondern ein Bereiniger des Menschengeschlechts, welcher das große Wort aussprechen wird, das im Herzen Aller lebt: „Einig in G ott!“ – Dieser, unser Messias, oder vielmehr jene große allbeglückende Zeit , wird kommen, sicher kommen, sobald der Allmächtige es für geeignet hält; wann die Religionen alle sich geläutert haben, und alle Völker, die ganze, ganze Menschheit, zur reinen Einzigen Lehre des Ewigen, Allmächtigen bekehrt ist! – We n aber dann Gott wählen wird, um dieses „Reich G ottes“ auf Erden zu stiften, das können wir nicht wissen und ist für uns auch von keiner großen Bedeutung. – Denn unser Hoffen und Streben gilt der Zeit, nicht der Person. – Du aber, theuere Freundin, bemerkst ferner in Deinem schätzbaren Briefe, eine solche Pe r sönlichkeit , und zwar die auf Erden für die Sünden Anderer viel dulden müßte, könnten auch wir nicht umhin anzuerkennen, da der lei-



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dende Messias biblisch verkündigt sei. – Du meinst nämlich, viele Stellen in der Bibel deuteten auf den persönlichen Messias hin, und zwar hätten diese Stellen auf die Leiden Christi Beziehung, welcher als Heilsbringer zu uns redete und unserer Wunde – nämlich der Erbsünde – Genesung brächte. – Du zeigst dabei insbesondere auf das 53. Capitel im Jesaias hin. Verzeihe mir aber, liebe Freundin, wenn ich Dir sage, daß Du hier in einem Irrthume befangen bist. – Wohl redet die heilige Schrift oft von einem Leidensmanne, der Schweres zum Heile der Welt zu erdulden habe, aber dieser ist Niemand anders als das gesammte Volk Israel. – Das ganze Buch des großen Propheten Jesaia, und namentlich der letztere Theil desselben, von dem 40. Capitel an, redet von dem „Knechte Gottes“, von dem „Knechte Israel“, und von den Leiden desselben in sehr eindringlichen, merkwürdigen, bald traurigen, bald erhebenden Worten. – Erlaube mir die wichtigste Stelle, eben aus dem 53. Capitel jenes Propheten, hier zu wiederholen und zu erklären. – Sie lautet: „Fürwahr, unsere Kränkung hat er ertragen, und unsere Schmerzen hat er erduldet; und wir hielten ihn für einen Gestraften, von Gott Geschlagenen und Gequälten. – Er aber wurde verwundet durch unsere Fehler, verstoßen durch unsere Sünden; um unseres Heiles willen traf ihn die Heimsuchung, und durch seine Verletzung wurden wir geheilt.“1 Da nun der Prophet kurz vorher, im 52. Capitel, deutlich von der Erlösung Is r a e l s spricht und verheißt: „Gott werde vor den Augen aller Völker offenbaren seinen heiligen Arm“2, so spricht er auch hier von Isr ael und führt die anderen Völker redend ein. – Nachdem nämlich Israel gethan, wie Gott befohlen hatte, verkündigend die Lehre des ewigen, einzigen Gottes, welche das Heil und der Segen aller Menschen ist – wie wurde es dafür behandelt? wie wurde es dafür belohnt? – Schmach und Kränkung warfen die Völker auf uns; verspottet und verhöhnt wurden wir – das war unser Lohn; das unser Dank! Sie hielten uns für „Gestrafte“, für „Geschlagene“; und so glaubten sie, sei es ein gutes Werk, auf uns zu schlagen und zu treten und uns auf immer zu verwerfen. – Aber Gott hat uns nicht verworfen! – Im Gegentheil! – Er zeigte uns, wie sehr Er uns liebte; denn gab Er uns nicht gerade in der Zerstreuung und durch dieselbe die höchste Sendung? Verlieh Er uns nicht eine große, herrliche Aufgabe, indem wir unsere heilige Gotteslehre rein erhalten sollten, unter den Völkern, für die Völker, zum Heile Aller und zur einstigen Versöhnung der Menschheit in Gott? Die Völker aber, sie fehlten und sündigten, indem sie uns verwarfen, verfolgten; denn sie wollten nicht glauben, daß wir den früher empfangenen Beruf, Priester Gottes, von Ihm an die Menschheit gesendete Boten zu sein, noch immer

1 Jesaja 53, 4f.. 2 Jesaja 52, 10.

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 Klementine von Rothschild

besäßen. – So wurden wir verwundet durch ihre Fehler, verstoßen durch ihre grausame Behandlung. – Wir bewahrten rein das Heil der Welt, die versöhnende Lehre des Einen Vaters droben, und darum mußten wir leiden, dafür büßen, so daß nur durch unsere Wunden, nur durch unsere „Verletzung“ den Völkern das Heil bewahrt wurde; denn gerade die Leiden haben beigetragen, Israel im Glauben zu stärken und in seinem welterleuchtenden Berufe zu befestigen. – Das werden die Völker einst einsehen; sie werden zur Erkenntniß kommen, daß wir, von dem Allmächtigen gesendet, stets von Ihm geliebt waren, und auch der Haß der Menschen wird sich in Liebe, ihre Verkennung in Anerkennung, ihr Fluch in Segen umwandeln – „Dann wird der Knecht Gottes groß und erhaben dastehen, und wie man sich früher über seine entwürdigte Gestalt verwundert hat, so wird man dann über seine Hoheit und Herrlichkeit erstaunen.“3 – Wir werden dann als ein Segen der ganzen Menschheit dastehen, indem wir sie ja zu Gott, dem Vater Aller geführt haben! – Dann, theuere Freundin, dann, wenn dieses große Werk der Einigung vollbracht ist, dann wird ein seliger Zustand alle Menschen beglücken. Ein herrlicher Garten wird die Erde sein, wo von dem thränenbenetzten Baume des Leidens und der Schmerzen Früchte der Freude und des Glückes in aller Pracht erblühen werden. Dann wird Heil, Freude und Wonne jedes Menschenherz erfüllen; die ganze Erde wird ein Haus, die ganze Menschheit eine Familie bilden, und das frühere Paradies auf Erden wird wieder hergestellt sein! – Dann, meine vielgeliebte Freundin, dann wird ein allgemeiner Frieden herrschen, und kein Streit und kein Haß wegen der Religion mehr stattfinden; der Ewige, der unveränderliche, liebevolle, barmherzige Gott, er wird alle seine Kinder segnen auf gleiche Weise. – Die Thränen der Unterdrückten werden aufhören zu fließen; Seufzer von Verfolgten werden nicht mehr gehört werden; die Armen werden sich gehoben fühlen, die Reichen vor Gott sich beugen; die kranken Gemüther werden geheilt, die Unglücklichen getröstet, die Traurigen erheitert, die Bösen bekehrt werden; Haß Frevel und Uebermuth werden verschwinden – denn das Reich Gottes wird gegründet sein auf Recht, Wahrheit und ewigem Frieden. – Dann wird auch Israel ausrufen können: „unser Gebet ist erhört, Gott hat uns gerettet!“– Die ganze Menschheit wird hinan steigen zum Berge Zion, und von da aus wird Gott alle Völker der Erde segnen! – Ach! diese himmlische, heilvolle Zeit – daß sie doch schon da wäre; daß schon die ganze Menschheit geheiligt und durchdrungen wäre von der Erkenntniß Gottes, beseelt und durchglüht von der Liebe unseres himmlischen Vaters! – Oh! wie innig flehe ich zu Gott, daß Er den Menschen einen demüthigen und

3 Jesaja 52, 13f.



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reinen Geist gebe, damit sie Ihn alle in Wahrheit kennen lernen; wie eifrig bete ich zu Ihm, Sein herrliches Reich bald und auf ewig unter uns zu stiften! – Allein, meine liebe, theuere Freundin, um diese große Zeit zu erwirken, müssen wir, alle, Klein und Groß, Arm und Reich, zusammen arbeiten, und alle können wir dazu beitragen. – Denn jeder gottesfürchtige Mensch ist schon ein Einwohner, ein Bürger und Theilhaber des göttlichen Reiches. – Wie aber sollten wir je daran Theil nehmen können, wenn wir nicht eifrig gearbeitet haben an der Veredlung unserer Seele sowohl, wie an derjenigen unserer Glaubensgenossen und Mitmenschen? – Wie einst Adam und Eva aus dem Paradiese ziehen mußten, weil sie nicht gethan hatten, was der Ewige ihnen befohlen, eben so werden auch wir nicht das Reich Gottes besitzen und fördern können, wenn wir nicht unsere Pflichten erfüllt, unsere eigene Aufgabe treu und ausdauernd befolgt haben. Also wollen auch wir, theuere Freundin, wirken nach Kräften und mitbauen am messianischen Reiche, indem wir in unserer Umgebung ein Reich Gottes im Kleinen, ein schönes Reich der Liebe und der Treue, der wahren und ächten Religion stiften wollen. – In jeder Familie soll sich die Menschheit veredelt sehen, bis einst die ganze Menschheit wie eine einzige edle Familie erscheint. – Das ist der Messias, auf den wir hoffen; möchten wir seine Ankunft bald erleben und durch unseren Wandel seine Erscheinung beschleunigen helfen! – Und so bete ich von Herzen, daß der Allmächtige Dich, geliebte Ellen, in Deinen so edlen und guten Vorsätzen ferner bestärken und Dein ganzes Leben heiligen möge, sowie ich Dich bitte, in ein solches, auf die wahre Veredlung der Seelen gerichtetes Gebet auch mich Deinerseits einzuschließen. – Deine Dich ewig und innig liebende Freundin Esther Izates.

Hermann Cohen

Die Messiasidee Öffentlicher Vortrag, gehalten um 1898, in: Jüdische Schriften, Berlin: Schwetsch­ke, 1924, Bd. I, 105–124 Hermann Cohen (1842–1918) war der vielleicht bedeutendste jüdische Religionsphilosoph des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Nach einem abgebrochenen Studium am Breslauer Rabbinerseminar wandte er sich in Berlin der Philosophie zu und wurde später der erste jüdische Ordinarius in den Geisteswissenschaften an einer preußischen Universität. Für Jahrzehnte das Oberhaupt der Marburger Schule des Neukantianismus, entdeckte Cohen erst in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die rationalistische jüdische Theologie wieder und beschäftigte sich seither mit der Frage, welchen Anteil die Religion an der systematischen Philosophie nehmen könne. In diesem Sinne findet auch der transformierte Messianismus der liberalen jüdischen Theologie bei Cohen seinen Höhepunkt. Auf den Ergebnissen seiner Vorgänger aufbauend, beschreibt auch er eine universalistische Idealisierung des persönlichen Messias zum messianischen Zeitalter, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft als eine Forderung, ja als „die wundersamste Blüte“ des Gottesglaubens. Schon in dem hier wiedergegebenen frühen Aufsatz nennt Cohen die jüdische Messiasidee „die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit“, den Höhepunkt und gleichzeitig den Prüfstein der Religion – ein Gedanke, der zwanzig Jahre später in seinem letzten Werk, der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, systematisch ausgearbeitet wird.

Unter den Gemütsbewegungen ist es vornehmlich eine, denen die strengsten modernen Moralisten nicht alles Recht und allen Wert absprechen: die Hoffnung. Diese Schätzung der Hoffnung ist keineswegs allen Zeiten und allen Völkern gemeinsam. Vielmehr scheint die Hoffnung derjenige Affekt zu sein, an welchem mehr als eine psychologische Differenz, an welchem der Unterschied von Götterglauben und Gottesglauben kenntlich wird. In den ältesten Zeiten der Griechen hat ihnen die Hoffnung nur die Bedeutung des eiteln Trachtens. Erst nach den Perserkriegen bildet sie nicht mehr nur den Gegensatz zur Furcht, gehört nicht mehr nur unter die Übel der Pandora, sondern taucht hie und da im Sinne des Gottvertrauens auf. Indessen bleibt doch selbst in der Blütezeit die Hoffnung beschränkt auf die persönliche Erleichterung, die sie der Phantasie des einzelnen Armen und Unglücklichen leistet; als eine Richtung des menschlichen Bewußtseins auf eine allgemeine Erhöhung des irdischen Niveaus erscheint die Hoffnung nirgends im Heidentum. Diese Erweiterung ins unpersönlich Sittliche, diese Vergeistigung eines in seinem Grundzuge sinnlich-selbstischen Affektes ist das Werk und vielleicht nicht das unsicherste Wahrzeichen des Gedankens von der Einheit Gottes, oder, was dasselbe ist, von Gott als Geist. Hoffnung deckt sich im Sprach-

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gebrauche des Alten Testaments mit Glauben. Das letzte Wort, mit dem der Patriarch stirbt, „Auf deine Zeit hoffe ich“, macht das Heil zum Inhalt des Hoffens, dadurch aber auch das Hoffen zur Gewähr des Heils. Und so gilt die Hoffnung als der höchste Lohn, den der Prophet verheißt: „Hoffnung und Zukunft“,1 und dem Psalmensänger als die Grundstimmung des Gottesglaubens: „Ich hoffe auf den Ewigen, es hoffet meine Seele mehr als Wächter auf den Morgen.“2 Wodurch ist diese Vergeistigung bei den Israeliten möglich geworden? Eine Klärung, die dem idealen Griechenvolke bei aller ihrer Kunst und nicht minder ihrer Vaterlandsliebe dennoch versagt blieb? Freilich paßt sie nicht zu ihrem Drama. Für die Tragödie braucht man Furcht und Mitleid. Und für die Komödie das gerade Gegenteil der Hoffnung: nämlich die Ironie. Aber dieser dankbare Hinweis auf ihre ästhetischen Großtaten erklärt doch nicht positiv die Frage: warum es ihrer Phantasie an der Hoffnung gebrach. Die positive Antwort lautet: Hoffnung ist das Erzeugnis und der Ausdruck des Glaubens an eine göttliche Vorsehung. Göttlich aber ist die Vorsehung, wenn sie nicht zunächst und nicht zumeist auf das Individuum sich bezieht, und ebenso auch nicht allein auf das eigne Volk, sondern auf die ganze Menschheit, als die Kinder Gottes. Die Hoffnung auf das eigne Wohl macht eitel. Die Hoffnung auf die Wohlfahrt und Dauer des eignen Volkes und Staates macht zwar tapfer und opfermutig, aber auch stolz, und wenn das Vaterland in längerem Elend schmachtet, so macht das Hoffen empfindsam und schwermütig. Gläubig wird der Hoffende dadurch, daß er gar nicht an sich denkt, weder an sein irdisches noch auch – daß ich es ausspreche – mit berechnender Feierlichkeit an sein ewiges Heil; sondern wenn er die Zukunft verknüpft mit einer Gemeinschaft, die in der Gegenwart und der Wirklichkeit schlechterdings nicht aufgeht, die mehr ist als das Ich, mehr als die Familie, mehr als die Freunde, mehr vor allem als die Genossen des eigenen teuersten Glaubens, mehr als das Vaterland selbst: das ist die Menschheit. Dieser Glaube an die Menschheit ist der Glaube Israels, darum ist der Glaube Israels die Hoffnung. Dieser Höhepunkt der israelitischen Prophetie, die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit, das ist der Inhalt der Messiasidee, – deren geschichtliche Entwicklung innerhalb der jüdischen Religionsquellen sowie deren kultur- und sittengeschichtliche Bedeutung wir hier betrachten wollen. Alle Ideen, selbst die tiefsten und allgemeinsten, die die Welt erobern, erwachsen doch aus nationalen Engen, aus zeitlichen Bedingungen, ja sogar aus persönlichen Zufälligkeiten. Wie allmählich und scheinbar unbewußt entsteht die Faustidee im jungen Goethe. Und doch hängt er in ihr mit Hiob, mit Pro-

1 Jeremia 29, 11. 2 Psalm 130, 6.



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metheus und Hamlet zusammen; und wenn er auch einen dritten Teil zustande gebracht hätte, fertig wird diese Idee niemals gedichtet, solange es eine dichtende Menschheit gibt. So hat auch die Weltidee des Messias, in ihren Anfängen, deutlich erkennbare nationale Nähte und mancherlei Assoziationen, die keineswegs immer zu ihrer providentiellen Tendenz passen. Die geschichtliche Würdigung der ldee darf nun zwar die Schwächen und Abirrungen auf den einzelnen Stufen ihrer Erscheinung nicht verdecken, ebensowenig aber auch das Ziel verrücken, nach welchem in verschiedenem Grade der Annäherung jene Spuren hinweisen; andernfalls verliert die Idee den Wert einer Idee, als eines Muster- und Leitbegriffs der Weltgeschichte. Unter den geschichtlichen Bedingungen der Messiasidee scheinen drei Stufen unterscheidbar: die Zeit vor dem Untergange des Reiches, ferner die im Exil sowie die nach der Rückkehr aus dem Exil, und endlich die talmudische Ausbildung der jüdischen Religion seit der Makkabäerzeit. Der Name Messias weist auf eine politische Urbedeutung hin, zugleich aber demgemäß auf eine Verwandlung und Überwindung dieser Grundbedeutung. Messias heißt der Gesalbte. Dies ist zunächst der Titel und die Amtsbedingung des Priesters. Von ihm geht die Auszeichnung über auf den, an dem er sie vollzieht: das ist der König. Da es nun aber auch schlechte Könige gab, so wird dies zum Anlaß, die Ehrennamen nicht mehr vorzugsweise politisch, noch überhaupt auf die nationalen Traditionen zu beschränken, sondern in einem neuen Sinne religiös zu fassen, und auf das Volk, das Volk von Priestern zu übertragen. Diese Übertragung vollzieht und verantwortet der Prophet, daher heißt auch er Messias. Die patriotische Pietät, die Erinnerung an die Glanzzeit der Nation blieb darum doch rege: die guten Könige, Hisikia und vor allen David, der als Dichter wie ein Prophet gilt, werden in poetischer Reminiszenz noch mit der Idee verwoben, als diese bereits aufgehört hatte, ein politischer Begriff zu sein: in dieser Entwicklung vom Priester und König zum Propheten und Volke wurde aus der Amtsperson des Messias, des Sohnes Davids, der Träger einer geschichtlichen Idee. Geschichtlich nennen wir diese Idee in dem Sinne: daß sie zum Leitbegriffe der Geschichte wird, und zwar keineswegs ausschließlich in der Tendenz nationaler Geschichte. Denn obzwar die politische Voraussetzung in dem patriotischen Gefühle nachwirkt, daß der Messias der Befreier Israels sei, so lernt der Prophet ja unter dem jüdischen Staate; unter dem Reiche Davids und der Stadt Jerusalem allmählich das Reich Gottes auf Erden verstehen: so wird der Messias, der dieses Gottesreich zu gründen berufen ist, aus einem politischen Gesandten zu einem Bürgen des Glaubens an die Verwirklichung der göttlichen Forderungen auf Erden. Das ist die eminente geschichtliche Bedeutung des Messiasbegriffs. Der Messias wird nicht nur aus einem konventionellen Priester und König zu einem

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freien Individuum mit subjektiver Befugnis und Verantwortung: er wird auch von den Zweideutigkeiten des persönlichen Heroismus abgelöst. Person muß er freilich bleiben; aber die Person wird zum Symbol eines Zeitalters, in welchem sie selbst, sofern sie dieses darstellt, verschwindet. Der Messias wird, schroff ausgedrückt, zu einem Kalenderbegriff. Anstatt der Person des Messias heißt es später: „die Tage des Messias“. Der Gesalbte wird zur Idee einer geschichtlichen Periode des Menschengeschlechts idealisiert. Die Disposition zu dieser humanitären, echt religiösen Auflösung eines politisch-nationalen Ordnungselements enthält der Messias schon in dieser seiner politischen Veranlassung. Denn erste Voraussetzung desselben ist nicht etwa die Blüte des Staates, sondern der Untergang, und zwar die Herbeiführung des Untergangs, die Verkündigung der Strafe des göttlichen Gerichts für ein nationales Dasein und eine politische Führung des auserwählten Volkes, welche der prophetischen Predigt Hohn sprachen. Diese hochverräterische Vorbedingung ist die erste unerlässliche Leistung des Messias. Darnach erst wird die Tröstung möglich, die man gemeinhin für das eigentliche Amt des Messias ansieht. Nach verbüßter Trauer bereitet er in der Wiederaufrichtung des Volkes dem göttlichen Namen neue Verherrlichung. Diese restituierende Aufgabe selbst ist daher keine lediglich politische und nationale, sondern ihrem Ziele nach stets eine apostolische. Die politische Erhebung erscheint deutlich genug als sehnlichst erstrebtes und mit Selbstgefühl gepriesenes, dennoch aber untergeordnetes Mittel für den höchsten Zweck: die Einheit Gottes auf Erden zur einheitlichen Anerkennung zu bringen. Es war daher eine schlichte, unausweichliche Konsequenz des monotheistischen Ordnungsgedankens, dem das Exil nur zum Durchbruch verhalf: daß der Messias aus dem nationalen Heros und Befreier zum Symbol des Zeitalters der Einen den Einen Gott erkennenden Menschheit wurde. Die Auflösung des persönlichen Messias in ein geschichtliches Zeitalter bahnt sich schon bei den ältesten Propheten an. Sie wird dadurch erleichtert, daß die Zeit der Strafe als der „Tag des Herrn“ bezeichnet wird. „Wehe denen“, ruft Amos (5, 18), „die den Tag des Herrn begehren… Ist nicht der Tag des Herrn Finsternis und nicht Licht?“ Und keine Gunst soll das auserwählte Volk verschonen: „Seid ihr nicht gleich den Aethiopiern, Söhne Israels? Siehe, die Augen des Herrn Jahwes sind auf dies sündige Reich gerichtet, und ich tilge es hinweg von der Erde; nur daß ich nicht ganz vertilge Jakobs Haus … Zu selbiger Zeit richte ich auf die verfallene Hütte Davids.“ (9, 7) Und obwohl hier noch nicht die Einigung der Menschheit geweissagt wird, so tritt doch schon das Gleichnis vom Frieden in der Natur hervor, allerdings nur in der Pflanzenwelt. „Siehe, es kommen Tage, da reichet der Pflüger an den Schnitter, und der Traubenkelterer an den Säemann.“ (9, 13)



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Hosea führt das Gleichnis weiter: „Und für sie schließe ich einen Bund zu selbiger Zeit mit den Tieren des Feldes und mit den Vögeln des Himmels und mit dem Gewürm der Erde. Und Bogen und Krieg und Schwert zerbreche ich aus dem Lande. Und ich verlobe dich mir auf ewig, verlobe dich mir mit Recht und Gerechtigkeit, und mit Huld und Barmherzigkeit. Ich verlobe dich mir mit Treue, und du wirst den Ewigen erkennen.“ (2, 20) Im Spiegel solches Bundes straft Hosea nun auch ihre Missetat. „Eure Liebe ist wie die Morgenwolke, wie der Tau, der früh vergeht. Liebe verlange ich, nicht Opfer, Gotteserkenntnis mehr denn Brandopfer.“ (6, 6) Aber, wenn sie sich endlich bekehren, so werden sie „den Herrn ihren Gott suchen, und David ihren König“ (3, 5). Auch Joël weissagt den Untergang im ausdrücklichen Gegensatz gegen die Beschwichtigung der nationalen Priester: „Zerreißet eure Herzen und nicht eure Kleider und kehret zu dem Herrn, eurem Gott … Die Priester mögen sprechen: Schone, Jehova, deines Volkes, und gib dein Eigentum nicht hin zum Hohne, daß ihrer die Völker spotten; warum soll man sprechen unter den Heiden: wo ist ihr Gott?“ (2, 13) „Und es geschieht hernachmals, ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch … Und auch über die Knechte und Mägde gieße ich aus am selbigen Tage meinen Geist … Dann geschieht es, wer Jehovas Namen anruft, wird gerettet.“ (3, 1) Aber Joël sagt nicht ausdrücklich, ob es Fremden helfen könne, wenn sie Jehovas Namen anrufen. Diese Hauptfrage stellt sich Micha und beantwortet sie. „Und es wird sein am Ende der Tage, da stehet der Berg des Hauses des Herrn gegründet auf dem Gipfel der Berge und es strömen zu ihm die Völker. Und es gehen viele Nationen und sprechen: Auf, lasset uns hinziehen zum Berge Jehovas… er soll uns lehren seine Wege… Und er richtet viele Völker und bescheidet zahlreiche Nationen in der Ferne und sie schmieden ihre Schwerter zu Hacken und ihre Speere zu Winzermessern; nicht heben Volk gegen Volk das Schwert und nicht lernen sie fürder den Krieg. Und sie wohnen ein jeglicher unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum und niemand schreckt sie auf.“ (4, 1 ff.) Diese Richtung auf die Gesamtheit der Völker hat zur Voraussetzung den Grundgedanken, welchen Micha auf die Frage darlegt (6, 6): „Womit soll ich treten vor den Herrn? Wird der Herr Gefallen haben an Tausenden von Widdern, an Myriaden strömenden Öls?“ – „Er hat dir kundgetan, o Mensch, was gut ist und was Jehova von dir fordert: nur Recht zu üben und Wohltat zu lieben und demütig zu wandeln mit deinem Gotte.“ Die Anrede „o Mensch“ erscheint in diesem menschlichen Katechismus wahrlich nicht zufällig. Denn die humanitäre Tendenz des Messias wird durch Micha deutlicher. Und sie wird typisch und entscheidend. Denn Jesaia, der kurz nach Micha auftritt, entlehnt von ihm das Bild von dem Berge des Gotteshauses, zu dem die Völker strömen werden und von dem aus Gott sie dermaßen schiedrichten wird, daß sie ihre Schwerter zu Winzermessern

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umschmieden. Zwar beschwört auch Jesaia das Reis aus der Wurzel Isais und verbindet seinen ewigen Frieden mit dem Thron Davids und seinem Reiche. Indessen kompliziert er diese nationale Reminiszenz mit so allgemeinen Interessen, daß die Anlehnung dadurch als Allegorie durchsichtig wird. Unter den rätselhaften Namen, die er dem Messiaskinde gibt, lautet der eine: „Berater“ und der andere: „Friedensfürst“. Ratschluß Gottes ist aber der stehende Ausdruck für den Willen Gottes. Als Berater wird somit der Mensch zu einem Vollstrecker der göttlichen Vorsehung. So erklärt sich auch der dritte Name: „Vater der Ewigkeit“, das ist des Weltalters, welches er heraufführt. Jetzt richtet daher der Messias, nicht mehr Gott selbst, wie in den Versen, die er Micha entlehnte: „Es ruhet auf ihm der Geist des Herrn… Er richtet mit Gerechtigkeit die Armen und bescheidet mit Billigkeit die Elenden im Volke, er schlägt das Land mit der Geißel seines Mundes, und mit dem Hauch seiner Lippen tötet er den Bösen… Dann weilet der Wolf beim Lamme und der Panther lagert sich beim Böckchen, Kalb und junger Löwe… Ein kleiner Knabe führt sie… Und es spielt der Säugling an der Natter Kluft, und nach der Otter Höhle streckt der Entwöhnte seine Hand aus. Nichts Böses und nichts Verderbliches hören sie auf meinem ganzen heiligen Berge, denn voll ist das Land der Erkenntnis des Herrn, wie die Wasser das Meer bilden. Und es geschieht zu selbiger Zeit, der Sprössling Isais, der dastehet als Panier für die Völker, zu ihm wenden sich die Nationen und seine Ruhestätte wird Herrlichkeit.“ (11, 2ff.) Auch bleibt es nicht bei dem poetischen Kollektivum „alle Völker“, sondern mit politischer Bestimmtheit werden Ägypten und Assyrien genannt, der alte Erbfeind und der Urheber des ersten Exils: „An jenem Tage wird Israel sein das Dritteil zu Ägypten und Assyrien, ein Segen inmitten der Erde, welche der Herr Zebaoth segnet und preist: Gesegnet sei mein Volk Ägypten und meiner Hände Werk Assyrien und mein Erbteil Israel.“ (19, 24) Ein Menschenalter vor dem Exil bringt Zephanja einen Ausdruck für diese Verheißung der Völkervereinigung. Mitten in seiner Strafrede erfindet dieser Moralist das Gleichnis: „Dann verwandle ich an den Völkern eine reine Sprache, daß sie mit dieser alle anrufen den Namen des Herrn.“ (3, 9) Die Völker haben nunmehr Eine Sprache zur Verehrung des Einen Gottes. Der gewaltigste Messiasprophet ist der große Patriot, der Dichter der Klagelieder Jeremia. Bei ihm dürfte daher eine lebhafte Beziehung auf den nationalen Thron Davids zu erwarten sein. „Siehe, es kommen Tage, da werde ich aufrichten dem David einen gerechten Sproß, der mit Weisheit regiert und Recht und Gerechtigkeit übt im Lande.“ (23, 5) Also ist dieser Sproß Davids definiert als der „gerechte Sproß“, oder wie es ebenfalls bei ihm heißt: „der Sproß der Gerechtigkeit“. Jeremia hängt nicht blind an den Einrichtungen des nationalen Kultus: „Kehret zurück, abtrünnige Söhne, denn ich bin euer Herrscher… ich will euch Hirten geben nach meinem Sinne…so wird man nicht mehr sprechen von der



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Bundeslade Jehovas, sie wird keinem in den Sinn kommen, man wird ihrer nicht gedenken, noch sie vermissen, noch wird eine andere gemacht werden. Zu selbiger Zeit wird man Jerusalem nennen einen Thron Gottes, und es werden sich zu ihr alle Völker versammeln um Jehovas Namen willen.“ (3, 14 ff.) Aber mit welchem Rechte könnte Jerusalem berufen sein, die Bundeslade zu verdrängen, wenn nicht Jerusalem zum Symbol des Gottesreiches würde. Zu diesem Universalismus erhebt sich der Patriot und politische Märtyrer Jeremia, und es war ihm beschieden, einen Ausdruck zu erfinden der Jahrhunderte nach ihm die Welt erobern sollte. „Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da ich mit dem Hause Israels und dem Hause Judas einen neuen Bund schließe, nicht wie der Bund, den ich geschaffen mit ihren Vätern, an dem Tage, da ich ihre Hand ergriff, sie auszuführen aus dem Lande Ägypten, … sondern dies ist der Bund, den ich schließen will mit dem Hause Israels nach selbigen Tagen: ich lege meine Lehre in ihr Inneres, und in ihr Herz schreibe ich sie, und so will ich ihnen zum Gotte werden und sie mir zum Volke. Und sie werden nicht mehr einer seinen Nächsten und einer seinen Bruder lehren, sprechend: Lernet den Herrn kennen; denn alle werden mich kennen, so klein als groß.“ (31, 31 ff.) Wir haben einen sicheren Maßstab dafür, daß Jeremia nicht etwa nur theoretisch die feindlichen Völker als einstmals zum wahren Gottesdienste berufen ansah; seine dichterische Sprache läßt das unmittelbar menschliche Gefühl für sie erkennen: „Wir haben vernommen den Hochmut Moabs… ich kenne seinen Übermut… Darum wehklage ich über Moab, über ganz Moab klage ich.“ (48, 31) Auch Jesaia (16, 9) „weinet über Jaser“, und wie dieser bezüglich Ägyptens, weissagt Jeremia die Wiederherstellung von Ägypten, Moab, Ammon und Elam. Bis zu dieser Bestimmtheit der politischen Ansicht und zu dieser Energie des Menschengefühls hatte sich der messianische Gedanke bereits vor dem Exil präzisiert: im Exil mußte daher wohl der Mythus von der Auserwähltheit des Gottesvolkes seine Zweischneidigkeit für das Nationalbewußtsein deutlicher noch kenntlich machen. Lernten die Verbannten doch nicht nur eine theoretische Kultur kennen, sondern auch eine ethische, die bei schwerem Gegensatz zugleich auch Sympathie und Achtung abgewann. Der reinere Polytheismus der Magier entwickelte vom Schicksal der Menschen Vorstellungen, denen die Propheten sich nicht verschlossen. Schon Ezechiel nimmt nicht nur den Glauben an die Auferstehung auf, sondern bearbeitet ihn monotheistisch. Aber schon die bloße Berührung mit Menschen anderer Sitten mußte den menschlichen Horizont erweitern. Und als ein mächtiger Eroberer ihnen Achtung schenkt, wie sie dann religiösen Patriotismus standhafter als im eigenen Lande im Elend bewähren, da lockern sich die letzten Schranken des partikularen Messianismus und wie ein Davids Sproß erscheint nunmehr Cyrus. Schon Ezechiel spricht nur Einmal von einem David. Kein exilischer Prophet erwähnt ihn. So erklärt sich

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die große Veränderung, die in dem 42. Kapitel des Jesaia erfolgt und das ganze letzte Drittel dieser Reden sich durchführt, so daß sie einem besonderen Verfasser von der Bibelkritik zugeschrieben werden: an die Stelle des Messias tritt jetzt der Prophet. Die Zukunft des Gottesreiches ist jetzt nicht mehr vorzugsweise durch die politische Wiederherstellung Israels, sondern durch die Bekehrung der Heiden bedingt. Diese aber wird nicht als das Werk eines wunderbaren Eingriffs einer messianischen Theophanie gedacht, sondern als der natürliche Erfolg prophetischer Belehrung und Verkündigung. Bei dieser Ersetzung des Messias durch den Propheten vollzieht sich in dem Charakterbilde des Messias eine providentielle Wandlung. Der Prophet geht aus dem Volke hervor, in seinen überschwänglichsten Leistungen bildet er daher keinen Gegensatz zum Volke, dessen Tribun er ebenso ist, wie sein Gesetzeslehrer. Dagegen betont er den Gegensatz zu den Naturgewalten, den Königen und den Priestern. Wenn nun gar der Nimbus vom Throne Davids schwindet, so darf dieser Gegensatz in aller Schärfe ausgeführt werden. Der frühere Messias war der gesalbte Dynast oder Hierarch. Der neue Messias soll kein Gewalthaber sein brauchen; der ganze Heroenkultus soll niedergeschlagen werden. So entsteht das ergreifende Bild vom Knechte Gottes, der als ein Elender, Kranker, Verachteter, ein Mann der Schmerzen und der Leiden, ohne Gestalt und ohne Schönheit, wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird und wie ein Schaf verstummt vor seinen Scherern. Man gab ihm bei Frevlern sein Grab. Aber dieser „gerechte Knecht wird durch seine Weisheit viele gerecht machen.“ Dieser Knecht Gottes setzte den Gesalbten Gottes ab. Aber da er aus dem Volke hervorgeht, so heißt jetzt auch das Volk, wie insbesondere im Deuteronomium mit erkennbarer Pointe „Knecht Gottes.“ Der Gegenstand der religiös-patriotischen Sehnsucht ist nunmehr zu dem streng religiösen Begriffe des Knechtes Gottes an Stelle des gesalbten Königs gereinigt. Damit wird eine andere, ohnehin vorbereitete Konsequenz unumgänglich. Der Knecht Gottes war der Gegensatz zum legitimen Fürsten: warum sollte er mit dem legitimen, dem auserwählten Volke identisch bleiben müssen? Knechte Gottes sind auch im Volke wahrlich nur die Auserwählten. Wie Cyrus haben sich aber auch unter den Heiden manche als religiös befähigt erwiesen. Der neue Titel der neuen Einsicht von dem rechten Gottesdienste konnte daher nicht auf das eigene Volk beschränkt bleiben. So bricht sich der Hauptgedanke des Monotheismus Bahn: daß es der Idee des Einen Gottes widerspricht, daß es dieselbe schwerer als der unkeuscheste Götzendienst verlästert, wenn man die Vorsehung vorzüglich für das Eigene in Bewegung setzt, sei es nun das liebe Vaterland oder der teure Glaube in den überlieferten Formen samt der ehrwürdigen Stammesgeschichte. Das Gebot selbst, wie das Opfer, erscheint als Selbstsucht, wenn es nicht ausnahmslos der Menschheit gilt.



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Der Stil des zweiten Jesaia läßt deutlich erkennen, daß er sich bewußt ist, aggressive Konsequenzen des monotheistischen Grundgedankens in seiner Predigt darzulegen. „Siehe, mein Knecht, mein Auserwählter, ich lege meinen Geist auf ihn, das Recht wird er für die Völker ausführen … Er ermattet nicht, bis er auf Erden gepflanzet das Recht und auf seine Lehre die Inseln harren … Ich mache dich zum Bunde der Völker, zum Lichte der Nationen … das Frühere, es ist gewesen, neues kündige ich … Singet dem Herrn ein neues Lied.“ (42, 1 ff.) Wer ist nun aber der auserwählte Knecht? Zuvörderst der Prophet selbst und durch ihn und kraft seiner das Volk. „Höret, Inseln, auf mich … der Herr machte meinen Mund gleich scharfem Schwert. Und er sprach zu mir: Mein Knecht bist du. Israel ist es, an dem durch dich ich mich verherrliche. Ich aber sprach: Vergebens habe ich mich bemüht … Und nun spricht der Herr, der mich bildete zu seinem Knechte, um Jakob zu ihm zu bekehren: zu gering ist es, daß du mein Knecht seiest, aufzurichten die Stämme Jakobs und die Geretteten Israels zurückzuführen: und so mache ich dich zum Lichte der Nationen, daß mein Heil reiche bis ans Ende der Erde.“ (49, 1 ff.) Mit solcher Kraft der Ironie führt sich der neue Prophet, der Knecht Gottes, für die Völker der Erde ein. Aber er läßt es auch anderweit nicht an politischer Deutlichkeit fehlen: „Es spreche nicht der Sohn der Fremde, der sich dem Herrn anschließt: absondern wird mich Jehova von seinem Volke . . . ich will ihnen in meinem Hause Denkmal und Namen geben … einen ewigen Namen. Und die Fremdlinge, die sich dem Herrn verschließen, ihm zu dienen und den Namen des Herrn zu lieben … die bring ich zu meinem heiligen Berge und lasse sie fröhlich sein in meinem Bethause, denn mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Völker.“ (56, 3 ff.) Das ist der neue Beruf des Knechtes Gottes: er beruft alle Völker zum neuen Gottesdienst. Und der Prophet fühlt sich dabei ausdrücklich als Messias. „Der Geist des Herrn Jehova ruht auf mir, weil mich der Herr gesalbt hat, frohe Botschaft zu künden den Elenden, mich gesandt hat, zu heilen, die gebrochenen Herzens sind.“ (61, 1) Gesalbt bezeichnet sich der Prophet, eine neue Zeit zu verkündigen. „Siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, und nicht wird des Vergangenen gedacht und nicht kommt es mehr in den Sinn.“ (65, 17) Und dabei wiederholt er wörtlich das Gleichnis, mit dem der Erste Jesaia u. a. den Naturfrieden besang: „Wolf und Lamm weiden zusammen.“ Indessen die Bedingungen des neuen Paradieses sind andere geworden. Also ist auch der Begriff des Paradieses, der Begriff der neuen Zeit ein anderer. Die Idee des Messias wurde schlechthin zur Idee der Weltgeschichte. Die Geschichte ist, im Unterschiede von Naturgeschichte, die Entwicklung von sittlichen Wesen. Sittlich werden Wesen dadurch, daß ihre Handlungen einen Zweck verfolgen, der stets über alle Fernsicht des Selbstgefühls hinausliegt. In jeder Nußschale eines sittlichen Gedankens liegt das ganze Himmelreich. Der Thron Davids ist kein sittlicher Zweck, höchstens ein Mittel dazu. Die Person eines

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Abkömmlings aus diesem königlichen Stamme kann allenfalls ein Sagenelement von geschichtlicher Bedeutsamkeit werden. Die Messiasidee bedeutet den Trost, die Zuversicht, die Gewähr, daß nicht nur das auserwählte Volk, sondern alle Völker insgesamt und einmütig einstmals leben werden, wie die Natur lebt. Das wäre ein Widerspruch, wenn es nicht ein Bild wäre. Der Gedanke, den das Bild treffen soll, liegt in der Anpassung des Begriffs der Zeit an den Begriff der Sittlichkeit. Jetzt wechselt mit Recht alles. Wohl uns, daß es wechselt! Aber soll es immer so bleiben? Soll es kein Einst, keine Zukunft geben, die es verdient, zu beharren? Gibt es keine Zeit des sittlichen Geistes, von Dauer und Bestand, dem Ewigkeit beigemessen werden darf und soll? So wird der Gedanke des „Einstmals, vom Ende der Tage“ zu einem eigenen Inhalte des Messiasbegriffs. Die Tugend ist der Inhalt der Gotteserkenntnis. Die Wohlfahrt und der Friede sind die unschuldigen Beigaben des Inhalts der göttlichen Gebote. Aber darin ist noch nicht das Einst gesichert; die Realität jener Zukunft ist ein Begriff von eigenem Inhalt. Und dieser Inhalt besagt: Es ist keineswegs notwendig, daß die Menschen ewig einen Kampf ums Dasein führen. Weil es heute so geht, wie gestern, darum braucht es morgen nicht zu sein wie heute. Die Zukunft braucht auch nicht gedacht zu werden als eine Wiederholung des Uranfangs, sie liegt nicht in der Dämmerung der Sage: sie ist eine Forderung des Gottesglaubens, und die wundersamste Blüte desselben. Bei diesem Glauben an die Zukunft scheiden sich die Gläubigen. Die Messiasidee ist die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit. Auch vor dem Exil predigen die Propheten von „jenem Tage“, aber sie halten ihn noch für sehr nahe. Denn er bedeutet ja zunächst den Tag der Strafe und des Untergangs. Nachdem die Strafe eingetroffen und auch zum Teil schon die Strafvollstrecker erreicht hat, die Assyrer wie die Babylonier, da bedeutet jener Tag „das Ende der Tage“ buchstäblich. Ende (Acharith) wird gleichbedeutend mit Hoffnung und Lohn. Das Ende der Tage, die Zukunft der Menschheit, das ist der Ertrag des Völkerlebens, das ist das Zeitalter des Messias. Das Ende liegt weder in der Nähe, noch in blauer Ferne; es ist das Ziel der Weltgeschichte. Es ist die Idee der Geschichte oder die Idee der sittlichen Weltordnung. Diese Idealisierung des persönlichen Messias zum messianischen Zeitalter bedurfte, das muß man erwarten, noch anderer Vermittelungen; eine so zentrale Idee ist mit den geheimsten Ahnungen des menschlichen Gemütes verwachsen. Eine solche ist der Gedanke der Auferstehung, ein Element der allgemeinen Mythologie, das die Israeliten in Persien vernahmen und einerseits zur Idee der Unsterblichkeit der Seele ausbildeten, anderseits aber mit ihren messianischen Hoffnungen in Verbindung setzten. Schon in den jüngeren Schriften unseres Kanons findet sich diese Mischung, die sich übrigens auch in den Gebeten der späteren Zeiten vielfach erhalten hat. Bei Jesaia, Ezechiel, Maleachi sind Spuren davon erkennbar. Maleachi setzt den Gedanken zu der Elia-Sage in Beziehung



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und macht den Elias zum Vorboten des Messias. Diesen Elias sehen im Buche Sirach die Seligen, die „in Liebe Entschlafenen“.3 Bei Daniel endlich und hauptsächlich ist die Hoffnung, daß „die Schläfer im Erdenstaube erwachen“,4 verbunden mit der Hoffnung auf das Gottesreich, das der „Menschensohn“5 bringt. Auch dieser Menschensohn ist der aus dem Knecht Gottes verallgemeinerte Messias. Indem sich nun aber das „ewige Leben“, zu dem die Frommen erwachen, mit dem Gottesreiche des Messias verbindet, so entsteht die neue große Frage: ob diese Verbindung aufrecht erhalten werden darf. Es entsteht die für das Grenzverhältnis von Religion und reiner unabhängiger Sittlichkeit entscheidende Frage nach dem Verhältnis zwischen dem ewigen Leben nach dem Tode und dem ewigen Frieden auf Erden. In gewissem Sinne ist die eine Idee eine Korrektur der andern. Denn des ewigen Lebens werden doch nur die Guten froh. Im ewigen Frieden aber soll es keine Bösen im geschichtlichen Sinne mehr geben. Und daß dieser fromme Wunsch kein irreligiöser phantastischer, der überfliegenden menschlichen Moral entsprungener ist, dessen machen uns die Propheten sicher, die gerade diesen Glauben fordern. Sollte nun die Idee des Messias zur Idee des Weltfriedens geläutert werden, so kam es darauf an, den Unterschied herzustellen zwischen der Auferstehung der Toten und dem künftigen Zeitalter. Diese schwierige Aufgabe fiel der talmudischen Epoche des messianischen Judentums zu: die Unterscheidung zwischen der „künftigen Welt“ und der „künftigen Zeit“.6 Die talmudische Entwicklung umfaßt nahezu ein Jahrtausend. Dieser große Zeitraum erzeugt vorzugsweise eine religiöse Literatur. Schon diese Tatsache weist auf einen engen Horizont hin. Aber gänzlich abgeschlossen von aller Weltkultur hielten sich die Autoren des Talmud doch nicht. Seit Alexander dem Großen beginnen die Berührungen mit der hellenischen Bildung. Und seit den Makkabäerkämpfen wird die Verständigung ernster. Den Höhepunkt dieses alexandrinisch-jüdischen Hellenismus bildet nun Philo, der ältere Zeitgenosse Jesu. Dieser monotheistische Platoniker bildet

3 Sirach, 48, 10f. 4 Daniel, 12, 2. 5 Daniel, 7, 13. Vgl. Raschi zu Daniel 7, 13, „Das ist der Messiaskönig“. Schon Abraham Ibn Esra (1092–1167) interpretiert diesen Vers allerdings auf das ganze jüdische Volk; vgl. auch Formstecher, Religion des Geistes, 190. 6 Im Aufsatz „Charakteristik der Ethik Maimunis“ (1908) wird Cohen die wirklich konsequente Unterscheidung der beiden Welten dann erst dem Maimonides zuschreiben, was sicherlich berechtigt ist; vgl. Cohen, Werke, Bd. 15, 161–269, hier 260. In der Religion der Vernunft versucht Cohen später, die inhaltliche Trennung doch schon auf den Talmud zurückzuführen, „nach welchem Maimonides sich gerichtet hat“ (Cohen, Religion der Vernunft, 363f.). Zu dem gesamten Thema, vgl. Kohler, Idealisierung des Diesseits, 252.

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negativ einen wichtigen Markstein in der Geschichte der Messiasidee. Er verfolgt nämlich nicht die prophetische, die geschichtliche Tendenz der Messiasidee, sondern hält nur im allgemeinen die Hoffnung auf die einstige Verbrüderung der Menschen fest, lenkt aber die Bedeutung des Messias vornehmlich in die Richtung der Platonischen Idee. Aber er ist prophetischer Monotheist. Er muß daher vornehmlich eine Idee konstruieren, die bei Platon selbst ausdrücklich nicht genannt ist: die Idee des Menschen. Die Idee des Menschen ist nur eine unter den unzähligen Ideen, die zusammen die Wahrheit enthalten. Sie ist ein Teil der allgemeinen Vernunft, jenes Logos, der am Anfang war, der der „zweite Gott“ oder der „Sohn Gottes“ von Philo genannt wird.7 So liegen hier die Fäden, die in der Christologie weitergesponnen werden, in welcher der Messias in der griechischen Übersetzung als Christus wiederum zur Person wird. Verfolgen wir nun die Weiterführung der Messiasidee in ihrer rein geschichtlichen Bedeutung auf dem eigenen palästinensischen Boden des Judentums. Neben der alexandrinischen Versöhnung mit dem Hellenismus geht eine minder glänzende Arbeit einher, die die inneren Kräfte des Alten Bundes gerade jenen Griechlingen unter ihnen entgegen mit trotziger Einseitigkeit zur Entfaltung lockte. Trieben schon die Alexandriner mit solchem Erfolge deutende Exegese an den heidnischen Dichtern, wieviel mehr mußte es die Gläubigen reizen, aus jedem Worte und jedem Häkchen der heiligen Bücher einen tieferen Sinn zu erraten. So mochte man hoffen, das Eigene zu hüten und zu mehren gegen alle Schätze der Fremde. War es doch die Zeit der Göttermischung, welche das untergehende Heldentum kennzeichnet. Die jüdischen Aufklärer in Alexandrien konnten den reinen, strengen jüdischen Monotheismus nicht retten. Darin besteht vielleicht die einfachste und entscheidende Rechtfertigung für die Periode des Talmud. Hat er doch selbst unzweideutig Schale und Kern oder Zaun und Lehre unterschieden. Freilich ist der Zaun sehr dicht geworden, und Paulus konnte gegen den Zaun eifern, als wäre er das Gesetz, welches nach dem andern Worte nur erfüllt werden sollte.8 Wenn nun selbst in dieser von innen und außen schwer bedrängten

7 Philo nennt den Logos oder die Weisheit „den erstgeborenen Sohn Gottes“ (in: Über die Verwirrung der Sprachen), die Welt aber den „jüngeren Sohn“ Gottes. Vgl. Philo von Alexandria – Die Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Isaak Heinemann et al, Bd. 7 (New York: de Gruyter, 1964), 72. (Für das Zitat selbst vgl. Bd. 5, 1962, 119). 8 Hermann Cohen benutzte für die Beschreibung des rabbinischen Rechts häufig die der Mischna entstammende Formulierung vom „Zaun um das Gesetz“ (Traktat Avot „Sprüche der Väter“ 1, 1); vgl. etwa die 1899 veröffentlichte ausführlicher Rezension von Moritz Lazarus’ Die Ethik des Judentums (zuerst in Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 9



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Zeit, bei aller peinlichsten Spannung auf die eigensten religiösen Interessen der Glaube an die Zukunft der Menschheit, und zwar unter der Einen Bedingung der Anerkennung des Einen Gottes, ohne jeglichen weiteren Glaubensanspruch, zu nicht nur schüchternem, verstohlenem, abgedrungenem, sondern zu kühnem, ja spöttischem und hinwiederum zu glaubensfreudigem und praktisch innigem Ausdruck gelangt – dann beweist sich in solchen Jahrhunderten der Dürre die unerschöpfliche und unverwüstliche Fruchtbarkeit des messianischen Leitgedankens. Die wenigen Stellen, auf deren Anführung wir uns beschränken müssen, mögen eingeleitet werden durch eine solche, welche den Skeptizismus in der auch heute noch hauptsächlich durchschlagenden Einrede von der göttlichen Langeweile im Staate der Zukunft geltend macht. „R. Chija ben Abba sagt im Namen des R. Jochanan: Alle Propheten insgesamt haben nur für diejenigen geweissagt, welche Buße tun; denn vollkommen Gerechte gibt es nicht; von denen heißt es vielmehr: Kein Auge sah es, Gott, außer dir.“9 Die Buße also soll für die moralische Kurzweil sorgen. Derselbe Autor läßt uns auch den Vollzug der Unterscheidung zwischen der „künftigen Welt“ und der „künftigen Zeit“ erkennen. Er sagt in demselben Zusammenhang: „Alle Propheten insgesamt haben nur für die Tage des Messias geweissagt; aber von der künftigen Welt heißt es: Kein Auge bat es gesehen, Gott, außer dir. Gott bewirke es dem auf ihn Hoffenden.“10 Wird aber das Vorurteil der hoffnungslosen Nüchternheit mit solcher ernsten Sittlichkeit beseitigt, so kann es nicht wundernehmen, daß auch der politische Egoismus zurückgewiesen wird. „R. Hillel sagt: Israel hat keinen Messias, den haben sie verspeist in den Tagen des Hiskia. Darauf sagte R. Josef: das möge der Herr dem R. Hillel verzeihen: Hiskia

(1899): 385–400, hier 388). Die paulinische Kritik am jüdischen Religionsgesetz findet sich vor allem im Römerbrief, Kapitel 7 – neben vielen anderen Stellen. 9  bT San 99a mit Bezug auf Jesaja 64, 3. Welche Übersetzung Cohen hier und im Folgenden für den Talmud benutzt, oder ob es sich um eine eigene handelt, muss die Forschung noch vollständig klären. Zu Cohens Kenntnis der rabbinischen Literatur vgl. Michael Zank, „Hermann Cohen und die rabbinische Literatur“, in: Hermann Cohen’s Philosophy of Religion. International Conference in Jerusalem, hrsg. von. Stéphane Moses und Hartwig Wiedebach (Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1997), 263–291, und Matthias Morgenstern, „Hermann Cohen und seine Quellen des Judentums“, in: Religion aus den Quellen der Vernunft. Hermann Cohen und das evangelische Christentum, hrsg. von Hans Martin Dober und Matthias Morgenstern (Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 1–18. 10 Ebenda: bT San99a.

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lebt unter dem ersten Tempel und Zacharia weissagt unter dem zweiten.“11 Der Talmud aber spinnt in seinem Sprechsaal seine Diskussion ruhig weiter. Eine echt prophetische Agada noch sei angeführt: „R. Josua ben Levi fragte den Elias: Wann kommt der Messias? Er antwortete: Gehe, frage ihn selbst. Wo sitzt er denn? Am Thor der Stadt. Und sein Kennzeichen? Er sitzt zwischen den Armen und den Kranken … Da ging er hin und sagte: Friede mit dir, mein Rabbi und Herr. Er antwortete: Friede mit dir, Er fragte: Wann kommt der Herr? Er antwortete: Heute. Da ging er zu Elias zurück: Was hat er dir gesagt? Er hat mich belogen, denn er hat gesagt: Heute wolle er kommen, und ist nicht gekommen. Da sagte Elias: Heute hat er nach dem Psalm verstanden: Heute, wenn ihr auf seine Stimme höret.“12 Die Tugend also macht den Unterschied zwischen Einst und Heute. Und es ist wirklich die Tugend, die reine Sittlichkeit, die in solchen Stellen des Talmud als Inhalt der messianischen Religiosität gedacht wird. Denn mehrmals und als entscheidend wird die über alles merkwürdige Ansicht ausgesprochen: „Die Gebote, das heißt das Zeremonialgesetz, werden erledigt in der zukünftigen Zeit.“13 Daher sagt der Midrasch: „Zwei Glaubensnormen hat der Heilige gelobt sei Er auf dem Berge Sinai Israel aufbewahrt: die eine für Israel, die andere für den Messias.“14 Oder unverblümter: „In der künftigen Zeit wird der Herr alles gestatten, was jetzt verboten ist.“15 Oder: „Jedes Gesetz, das du lernst in dieser Welt, ist eitel vor dem Gesetz in der künftigen Zeit.“16 Nur Eine gesetzliche Ein-

11 Ebenda: bT San99a. „Verspeist“ – aufgebraucht. Rabbi Josef argumentiert, dass Hillel nicht Recht haben kann, weil auch der Prophet Sacharja, der nach Chiskija gelebt hat, noch den Messias ankündigte. Vgl. auch die Diskussion bei Formstecher (110) und Samuel Schwarz (276– 277) in diesem Band. 12 bT San98a mit Bezug auf Ps. 95, 7. Cohen benutzt hier offenbar auch eine zensierte Ausgabe, die anstatt Rom noch „‫( “דקרתא‬Stadt) hat. 13 bT Nida, 65b. Der Kontext dieser Stelle schränkt die Aussage allerdings beträchtlich ein – gegen die Auslegung Cohens. Vgl. die Einleitung zum vorliegenden Band, Anm. 148. 14 Ich konnte die Quelle dafür nicht finden. Der Übersetzer von Cohens Schriften zum Judentum ins Hebräische, Zwi Woyslawski, gibt als Quelle den kabbalistischen Midrasch Otiot deRabbi Akiba an (Hermann Cohen, Ketuvim al haJahadut, Jerusalem 1935, 54). Tatsächlich findet sich dort der ähnliche Ausspruch, dass Gott Israel durch den Messias eine neue Torah geben wird (Ausgabe von S.A. Wertheimer, Jerusalem 1914, ot sain, S. 27). Der Midrasch konnte Cohen bekannt sein, denn schon im neunzehnten Jahrhundert diskutierten Adolph Jellinek (1820–1893) und Philipp Bloch (1841–1923) über die ältere Version des Textes. Derselbe Ausspruch findet sich auch in Jalkut Shimoni zu Jesaja 26 (Midrasch-Sammlung aus dem 13. Jahrhundert) und in anderen Quellen. 15 Cohens eigener Verweis: Midrash Kohelet Raba zu 2, 1. (Ich konnte das Zitat dort nicht finden). 16 Cohens eigener Verweis: Midrash Kohelet Raba zu 11, 8. Der Midrash hat dieses zweite Zitat an der Stelle des erstgenannten (KohR 2,1), während hier (KohR 11,8) steht: Das Gesetz, das du in dieser Welt lernst, ist eitel gegenüber dem Gesetz des Messias.



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richtung wird von dieser Abrogation ausgenommen: der Versöhnungstag.17 Denn es soll keine andere Art der Versöhnung des Menschen mit Gott verstattet werden. Diese Anwendung der Messiasidee ist das Lebensrecht der jüdischen Gemeinde. So hat uns denn der Talmud an die ethische Würdigung der Messiasidee herangeführt, die mit der kulturgeschichtlichen nahe zusammenhängt. Denn es handelt sich dabei mehr um eine Konsequenz, als um eine Grundlage der ethischen Wissenschaft. Die Sittlichkeit läßt sich in zwei Hauptgedanken beschreiben. Beide zusammen erst erfüllen den Begriff der sittlichen Welt als einer Aufgabe des sittlichen Bewusstseins. Der eine Gedanke lautet: Das Sittliche erscheint schier unmöglich. Daher muß der Mensch niedrig von sich denken, sein Selbstbewußtsein sogar, die eigentliche Wurzel aller menschlichen Werte, als Selbstsucht verleumden, um die Eitelkeit, die sein Ich beschleicht, niederzukämpfen. Diese Selbsterniedrigung des Menschen, das ist das Geständnis der Sünde. Die Sündhaftigkeit des Menschen ist ein Moment in dem sittlichen Begriffe vom Menschen. Sie fehlt wahrlich auch im Judentum nicht. Mit dem Sündenbekenntnis verläßt der Israelit nicht nur die irdische Welt, sondern es bildet dasselbe einen erschütternden Grundzug unserer Gebete. Aber die Erlösung erfolgt ohne Mittler. „Heil euch, Israel“, heißt es in der Mischna, „wer ist es, der euch reinigt, und vor wem reinigt ihr selbst euch? Euer Vater im Himmel.“18 Daher konnte die Erbsünde nicht ein Bestandteil des Glaubens werden. Die Forderung der Sittlichkeit konnte daher nicht als unvollziehbar und als menschlicher Kraft unmöglich erscheinen. „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich; euer Gott.“19 Das ist das zweite Moment: das Gute ist möglich. Gott fordert die Heiligkeit von seinem Ebenbilde. Dieses zweite Moment charakterisiert positiv die sittliche Aufgabe; das Moment der Sünde ordnet nur die nötige Vorbereitung an. Aber wenn dieses realisierende Moment nicht doch die Sittlichkeit verderben und vereiteln soll, so muß der Begriff der Aufgabe scharf gefaßt werden. Sonst tritt selbstgefälliger Optimismus und Opportunismus an die Stelle des Ideals.

17 Vgl. hier den Midrasch zu Mishlei (9. Kap.) wo es allerdings heißt, dass das Purimfest niemals aufgehoben wird, woraufhin Rabbi Eleasar hinzufügt: auch der Versöhnungstag. Vgl. Einleitung, Anm. 150. Der folgende Satz ist schon die eigene Interpretation Cohens. 18 Mischnah Joma 8, 7. Matthias Morgenstern hat (Franz Rosenzweig folgend) darauf hingewiesen, dass Cohen hier die Reihenfolge vertauscht; das Original lautet: „Heil euch, Israel, vor wem reinigt ihr selbst euch und wer reinigt euch: es ist euer Vater im Himmel.“ Die Frage einer etwa dahinter stehenden Absicht Cohens führt an dieser Stelle allerdings zu weit. Vgl. Morgenstern, „Hermann Cohen“, 5. 19 Levitikus 19, 2.

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Man könnte meinen, und wir Deutsche sind zumal seit Schiller auf diesen Trost hingewiesen: die echte Kunst und insbesondere die Poesie lehre uns an eine würdige Darstellung der Menschheit glauben. Und auch die Messiasidee in ihren beiden Richtungen, in der Strafpredigt wider die Sünde, wie in dem Auferstehungsglauben zum Frühling der Menschheit, überall tritt sie im Bunde mit der Poesie auf. Die beiden Jesaia waren Dichter von Dantes Doppelgeiste: sie malen die höllische Sittenverderbnis ihrer Zeitalter und sie besingen das Paradies der Zukunft. In diesem Bunde mit der höchsten Kunst hat sich übrigens die Messias­ idee bei einem der allergrößten deutschen Künstler erhalten: sie ergreift das messianisch gestimmte Gemüt in Mozarts Zauberflöte. Indessen bringt die Analogie der Kunst diese Idee in eine andere, höchst gefährliche Zweideutigkeit: daß sie nur nicht zu einem ästhetischen Schattenbilde ätherisiert werde, und an die Stelle der politischen Aufgabe die schmeichlerische Vorstellung trete: wir haben ja die Kunst, um unsere unersättliche Schaulust am menschlichen Frieden und Glücke zu befriedigen. „Das Unzulängliche, hier wirds Ereignis.“20 Diese Ansicht tut ebenso der Kunst unrecht, wie dem Messiasglauben. Die echte Kunst stellt menschliche Helden in bürgerlich-menschlichen Kämpfen dar. Sie kämpfen für die ungeschriebenen Gesetze. Sie sind also Vorboten des Messias. Sie kämpfen für die ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft gegen die geschriebenen des Staates. Die moderne Idee der Gesellschaft ist eine Form der Messiasidee und somit innigster Glaube und lebendigste Religion. Die Messiasidee erkennen wir sonach wie als Höhepunkt, so als Prüfstein der Religion. Religiöse Gesinnung bedeutet uns messianische Religiosität. In der sozialen Frage steht in letzter Instanz das Anrecht der Menschen an der wirklichen geistig-sittlichen Kultur der Menschheit zur Verhandlung. Als die Franzosen in Berlin standen, durfte Fichte in freien Reden an die deutsche Nation es aussprechen: daß es keine Volksschule geben dürfe, sondern allein eine gemeinsame Nationalerziehung. Das ist die Religion, die wir für die Volksschule brauchen. „Es wird voll sein die Erde der Erkenntnis Gottes, wie die Wasser das Meer bedecken.“21 Daß die Religion in der Messiasidee diesen höchsten Inhalt der Sittlichkeit hervorgebracht hat, das ist ein wichtiger Fingerzeig für die Bestimmung des geschichtlichen Verhältnisses, welches zwischen Religion und Sittlichkeit besteht. Aber das ist es nicht, was die herrschende Vorstellung der Gläubigen unter Religion versteht. Die Frommen der eleganten Welt begünstigen andächtiger das Jenseits, als die geschichtliche Zukunft der Menschheit. Ob der Abgrund

20 „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wirds Ereignis; / Das Unbeschreibliche, / Hier ist es getan …“ – Johann Wolfgang von Goethe, Faust II, Vers 12104 ff. 21 Jesaja 11, 9.



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der Selbstsucht für den sündigen Menschen jemals abgegraben werden könne? so fragen die seelen- und weltklugen Staatsmänner heute noch, in der Weise des Talmud, der sich vor der Langeweile fürchtet. „Wehe“, so bescheidet an zahlreichen anderen Stellen der Talmud solchen Unglauben, „wehe denen, die das Ende berechnen, Heil denen, welche hoffen.“22 Ziehen wir nun am Schlusse unsern Blick von der Weltbühne zurück auf das Geschick unserer Glaubensgemeinde, so hat sich auch in ihr der politische Saft der Messiasidee kräftig erhalten. Das Schmerzgefühl hat in nur zu verständlicher Weise den Blick und den Gedanken oftmals verengt und verkrümmt. Aber gänzlich verdunkelt konnte der universelle Charakter der Idee auch in den trübsten Zeiten nicht werden. Er ist der Grundgedanke unserer religionsphilosophischen Literatur. Er ist der Polarstern unserer Gebete, deren im täglichen Gottesdienste das erste, Jigdal, und das letzte, Alenu, ihn vornehmlich enthalten. Er bildet die Grundstimmung, die den Neujahrs- und Versöhnungstag als die vorzugsweisen Tage der Andacht und der Erhebung bei der großen Mehrzahl derer auszeichnet, die in ihrer Jugend eine Ahnung von diesen Tagen der Ehrfurcht empfangen haben. Endlich darf es ausgesprochen werden, daß kraft seiner unsere christlichen Mitbürger in Gemeinschaft mit uns das messianische Gebet beten: „Geheiliget werde dein Name. Zu uns komme dein Reich.“ Das ist das Gebet, wie es der Talmud in dem Satze findet: „Jedes Gebet, in dem das Reich nicht genannt wird, ist kein Gebet.“23 Trotz dieser innerlichsten Gemeinschaft, die das Vaterunser enthält, und deren urkundliche Richtigkeit wahrlich in jeder Volksschule gelehrt werden sollte, wenn die vielberufene Nächstenliebe der wahrhaftige Inhalt einer konfessionellen Religionslehre wäre, wollte und will man unsere Gleichberechtigung hintertreiben mit dem hinterlistigen Verdachte: daß wir uns nach Jerusalem sehnen. Ja freilich sehnen wir uns nach Jerusalem und tragen Schimpf und Herzeleid darum, daß alle Welt sich nach jenem Jerusalem sehne, nicht aber nach dem himmlischen allein und vorzugsweise, sondern nach dem, in welchem, wiederum nach den Worten des Talmud, „der Heilige, gelobt sei er, einstmals seine Welt erneuern wird.“24 Diese erneute Welt ist unser Jerusalem, nicht ein beschränktes Territorium, auf das uns eine moderne Bewegung wieder einschränken möchte, deren Fehler mit einem Worte darin besteht: daß sie unsere religiöse Mission in der Weltgeschichte preisgibt für eine politische Misere oder Opportunität. Israels Beruf aber ist die religiöse Diaspora unter dem Glauben an das Jerusalem der Menschheit.

22 Die zentrale Stelle ist bT San 97a-b. Vgl. außerdem bT Ket 111a, bT Meg 3a. 23 bT Ber 21a. 24 bT San 92b.

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Diese Sehnsucht hat uns lebendig erhalten, und sobald nur ein Strahl der Frühlingssonne dämmerte, so hat sie uns verjüngt und für die mannigfachen Aufgaben der vaterländischen Kultur befähigt. Denn der Messiasglaube ist ein wahrer Glaube. Und es gibt ein Kennzeichen für denselben, vielleicht ist es das einzige. Jedes wahre Gefühl, mit welchem der Mensch hinauf und höher strebt, erprobt seine Gesundheit hienieden, indem es überschwängliche Gefühle bändigt, natürliche Gefühle aber fördert und erweckt. Die Liebe zum Vaterland ist ein Naturgefühl. Der Helot liebt seine Heimat. Und die Muttersprache ist sein Heimatrecht. Dem Leibzolljuden hat der Messiasglaube die Liebe zur Heimat gedeutet und zur Vaterlandsliebe geweiht. So ist der Messias der Befreier Israels auch im politischen Sinne geworden. Wahrlich, es möchte kaum ein krasseres Beispiel von geschichtlichem Un­recht und Undank geben als das doppelte Vorurteil: das Judentum habe den Dünkel des auserwählten Volkes erfunden, und die Juden hielten sich für ein solches, weil sie auf den Messias warten. Erwählung bedeutet in religiösem Sinne nichts anderes als geschichtlicher Beruf. Von nationalem Dünkel dagegen hat sich selten ein Volk frei erhalten. Mit dieser Mythologie scheint alle Politik behaftet. Es gab, und gibt nur ein Mittel dagegen, das haben die Propheten, die Stifter unserer Religion, erfunden, und sie sind für diese Erfindung in Kerker und Verbannung gegangen. Aber sie entdeckten dabei den Gott Jsraels. Diese Erfindung, mit der sie den nationalen Egoismus bekämpften und in der sie, und sie allein, die Idee der Menschheit entdeckten, das ist die Idee des Messias.

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Personenregister Personenregister Adler, Abraham 28, 29 Albo, Josef 8, 10, 276 Aub, Joseph 11 Auerbach, Bertold 29 Auerbach, Jacob 29, 30 Bendavid, Lazarus 4 Benjamin, Walter 40 Bernays, Isaak 7, 8, 9, 15, 18, 19, 20 Bloch, Philipp 300 Brunner, Sebastian 74 Cohen, Hermann IX, 1, 2, 6, 18, 29, 30, 33, 41, 63, 69, 70, 71, 74, 90, 116, 140, 152, 161, 163, 204, 208, 212, 219, 224, 287, 297, 298, 299, 300, 301, 305 Dohm, Christian Konrad Wilhelm von 95, 196 Einhorn, David 27, 72, 81, 143, 243, 245, 305 Fassel, Hirsch B. 72, 73, 305 Formstecher, Salomon 31, 32, 34, 37, 38, 47, 58, 99, 101, 105, 107, 108, 109, 111, 297, 300, 305 Frankel, Zacharias 9, 10, 16, 22, 50, 54, 90, 122, 189, 221, 233, 237, 240, 241, 305 Frankfurter, Naftali 19 Freystadt, Moritz Samuel 93, 305 Friedländer, David 4, 305 Fürst, Julius 8 Geiger, Abraham 9, 16, 22, 23, 49, 66, 69, 85, 305 Goethe, Johann Wolfgang von 288 Goldmann, Philipp 189 Graetz, Heinrich 73, 74, 75, 76, 78, 79, 80, 81, 152, 305 Grünebaum, Elias 25, 97, 305, 306 Gutmann, Michael 12 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42, 55, 201, 267

Herzfeld, Levi 63, 64, 66, 67, 147, 152, 160, 161, 162, 163, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 192, 197, 198, 306 Hess, Moses 6, 35, 77, 306 Hildesheimer, Esriel 11, 76 Hirsch, Samson Raphael 15, 178, 189 Hirsch, Samuel 26, 27, 28, 29, 31, 47, 49, 52, 53, 72, 73, 78, 82, 87, 88, 121, 122, 124, 134, 143, 179, 216, 305, 306, 307 Hoëné-Wronski, Josef 5 Holdheim, Samuel 1, 15, 16, 18, 19, 27, 55, 56, 57, 60, 61, 63, 65, 69, 71, 84, 86, 160, 165, 173, 175, 178, 179, 183, 184, 185, 189, 243, 244, 306 Horowitz, Lazarus 75, 78 Hugo, Victor 257 Ibn Esra, Abraham 17, 76, 297 Jellinek, Adolph 78, 300 Jost, Isaak Markus 24, 26, 306 Kämpf, Saul Isaac 43 Kant, Immanuel 10, 36, 89, 221, 237, 238 Kimchi, David 88 Kohn, Abraham 14 Kompert, Leopold 73, 74, 75, 76 Krug, Wilhelm Traugott 95 Lehmann, Marcus 76, 78 Lessing, Gotthold Ephraim 3, 89 Löw, Leopold 77, 78, 306 Luzzatto, Samuel David 190 Maier, Joseph 11, 12, 28 Maimonides, Moses 2, 3, 6, 8, 11, 19, 21, 26, 28, 33, 35, 36, 45, 49, 52, 53, 57, 61, 79, 83, 87, 90, 108, 116, 153, 176, 181, 182, 184, 191, 228, 237, 239, 241, 243, 252, 263, 273, 274, 276, 297 Mannheimer, Isaak Noah 75, 77, 78

314 

 Personenregister

Mendelssohn, Moses 3, 4, 14, 41, 60, 62, 65, 143, 162, 163, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 306 Mozart, Wolfgang Amadeus 302 Philippson, Ludwig 35, 55, 62, 75, 81, 82, 88, 147, 208, 306 Raschi (Rabbi Schlomo ben Isaak) 17, 80, 87, 88, 269, 297 Reggio, Isaak Samuel 190 Riesser, Gabriel 9 Rothschild, David 30, 72, 306 Rothschild, Klementine von 281 Salomon, Gotthold 7, 8, 18, 20, 22, 28 Schiller, Friedrich von 302 Scholem, Gershom 1, 2, 40, 71 Schwarz, Samuel 40, 72, 251, 259, 265, 266, 268, 269, 270, 271, 273, 300, 307

Schwarzschild, Steven S. 86 Sofer, Moses 72 Steinheim, Salomon Ludwig 31, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 80, 221, 229, 233, 237, 239, 241, 307 Stein, Leopold 14, 15, 25, 82, 83, 84, 135, 139, 149, 246, 281, 305, 307 Stern, Sigismund 68, 69, 71, 201, 307 Taubes, Jacob 40 Venetianer, Ludwig (Lajos) 90 Weiss, Eisik Hirsch 78 Wessely, Hartwig 97 Wiener, Max 66, 90 Zunz, Leopold 55, 66, 97, 147, 190, 193, 208