Der konservative Impuls. Wandel als Verlusterfahrung [1. ed.] 9783868549096, 9783868543070

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Der konservative Impuls. Wandel als Verlusterfahrung [1. ed.]
 9783868549096, 9783868543070

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Peter Waldmann

Der konservative Impuls Wandel als Verlusterfahrung

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-909-6 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-307-0 Umschlaggestaltung und Grafik: Wilfried Gandras

Petra zum Gedächtnis

Inhalt Einleitung I

II

9

Individuelle Verlusterfahrungen Tod und Trauer Exil und Diaspora Die Infragestellung der Geldwertillusion: Hyperinflation

33 35 48 65

Zwischenbilanz 1

80

Verlust politischer Stabilität: Revolution und Reaktion Die Französische Revolution von 1789 und ihre Folgen Spaniens gewundener Weg zur Demokratie Eine konservative Revolution: Iran 1979

85 87 108 134

Zwischenbilanz 2

162

III Alles gerät in Bewegung:

Prozesse nachholender Entwicklung Südkoreas Sprung zur industriellen Exportnation Auf der Schwelle stehen geblieben: Argentinien Widerwillig, gleichwohl erfolgreich: Modernisierung im Baskenland

223

Zwischenbilanz 3

244

169 171 190

IV Verluste und Gegenreaktionen:

V

der konservative Impuls im Kontext

255

Theoretische Verortung

297

Literatur Schaubilder Dank Zum Autor

329 342 343 345

The past is never dead. It is not even past. William Faulkner: Requiem for a Nun, Erster Akt, Szene III

Einleitung Über Jahrzehnte hinweg beschäftigte ich mich in Forschung und Lehre mit nachholender Entwicklung, vorzugsweise (aber nicht nur) am Beispiel Spaniens und Lateinamerikas. Das war einerseits anregend und spannend, doch zugleich auch anstrengend und wenig befriedigend. Denn die vorherrschenden Entwicklungstheorien, insbesondere die über eine lange Zeit hinweg dominierende Modernisierungstheorie, wurde den Problemen sogenannter Nachzüglergesellschaften, die unter dem Druck einer beschleunigten Entwicklung und Anpassung an die Standards der Moderne standen, keineswegs gerecht. Nun ist das Scheitern der Modernisierungstheorie in Bezug auf die meisten »Dritte-Welt-Regionen« inzwischen so offenkundig und die Kritik an ihrer Einseitigkeit und Schwäche bereits so oft vorgebracht worden, dass es sich an dieser Stelle erübrigt, sie nochmals ausführlich wiederzugeben. Nur auf zwei Mankos sei besonders hingewiesen. Das war zum einen ihr Operieren in großzügig bemessenen, sich über Jahrhunderte oder noch länger erstreckenden Zeiträumen, aus denen kein Kriterium darüber abzuleiten war, wie mit Schwierigkeiten mittelfristiger Natur, etwa einer Militärdiktatur oder der Entscheidung zwischen autozentrierter oder außenorientierter Entwicklung, umzugehen sei. Zum anderen war es, ähnlich wie bei der Theorie der Diffusion von Neuerungen, das einseitige Interesse, das der Geschwindigkeit und Sequenz, in denen Elemente der Moderne in den als einheitlich traditionell unterstellten Gesellschaften Fuß fassen und Verbreitung finden, entgegengebracht wurde. Dabei lag es für einen aufmerksamen Beobachter peripherer und semiperipherer Regionen auf der Hand, dass Entwicklungen »nach 9

vorne« oft von »rückwärts« gerichteten Bewegungen begleitet werden. Beispielsweise konnte Spanienkennern nicht entgehen, dass gleichzeitig mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsschub, der nach Francos Tod 1975 einsetzte und bis in die frühen 1990er Jahre anhielt, Heiligenkulte und religiöse Wallfahrten sich ebenfalls wachsender Beliebtheit erfreuten. Dies geschah zur selben Zeit, da im Iran, als Reaktion auf die Herrschaft von Schah Reza Pahlavi, der eine Entwicklungsdiktatur unter dem Vorzeichen forcierter Säkularisierung errichtet hatte, Ayatollah Khomeini ein nicht minder despotisches, jedoch unter dem Diktat der Erneuerung des schiitischen Glaubens stehendes Regime etablierte. Und ging nicht ausgerechnet von den türkischen Einwanderern nach Deutschland, die ihre Heimat um einer besseren sozioökonomischen Zukunft willen verlassen hatten, die Gründung der stark vergangenheitsorientierten Kaplan-Sekte aus, deren charismatischer Führer nichts Geringeres als die Einrichtung eines den gesamten Vorderen und Mittleren Orient umfassenden Großkalifats im Sinn hatte? Um Missverständnissen vorzubeugen: Es wird keineswegs bestritten, dass die meisten Gesellschaften, ausgehend von der Entwicklung Europas und den USA , in eine umfassende, von spektakulären wirtschaftlichen und technischen Fortschritten begleitete Bewegung geraten sind, der sich derzeit kein Staat und keine substaatliche gesellschaftliche Gemeinschaft entziehen kann und für die sich mangels eines überzeugenderen Konzeptes der Begriff »Modernisierung« durchgesetzt hat. Zudem ist einzugestehen, dass die Modernisierungstheorie, die diesen Prozess zu modulieren unternimmt, ihre ursprünglichen Schwächen teilweise korrigiert hat: etwa durch die von Shmuel Eisenstadt angestoßene Debatte über »Multiple Modernities«, die einräumt, dass es nicht nur einen Entwicklungsweg gibt, desgleichen durch die stärkere Berücksichtigung von Außeneinflüssen auf den jeweiligen nationalen Entwicklungsweg bzw. die Entwicklung von Zivilisationen oder die Ermahnung zu vermehrter Kontingenzsensibilität bei der Analyse konkreter Entwicklungsprozesse.1

1

Knöbl, Die Kontingenz der Moderne.

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Allerdings erweist sich gerade der Kontingenzbegriff bei näherem Hinsehen als eine Art Catch-all-Formel, deren Funktion weniger in der Heilung als in der Vertuschung signifikanter Mängel der Modernisierungstheorie besteht. Will man diese substanziell verbessern, das heißt brauchbar für die Interpretation und Erklärung spezifischer Fälle sozialen Wandels machen, so reicht es nicht aus, diesen bestimmte Entwicklungsschemata überzustülpen und darüber zu spekulieren, warum sie ihnen mehr oder weniger entsprechen. Vielmehr wird man den jeweiligen Prozess des sozialen Wandels selbst genauer analysieren müssen. Dieser erschöpft sich ja nicht in mehr oder weniger radikalen Brüchen und der darauf folgenden Emergenz neuer Strukturen, sondern dahinter steht meist ein Ringen zwischen am Status quo festhaltenden und diesen in einer bestimmten Richtung verändernden Kräften. Sozialer Wandel, vor allem beschleunigter sozialer Wandel, verläuft so gut wie nie reibungslos. Durch ihn können sich nicht nur neue soziale Gruppen profilieren, sondern zugleich werden die in der Tradition verhafteten sozialen Akteure alarmiert und mobilisiert. Sie werden die sich abzeichnenden Veränderungen nach Möglichkeit abbremsen oder sogar (wenn sie genug Macht haben) blockieren. Möglicherweise lenken sie den Wandel aber auch in eine neue Richtung, versuchen ihn zu steuern oder anzuführen. Genau hier setzt die Untersuchung an. Das sich fortschrittlich gebende Neue, das auf sämtliche Nachzüglergesellschaften einstürmt, sind stets dieselben »Errungenschaften« der Moderne: die jüngsten Produkte des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, die eine Steigerung der Lebensqualität versprechen, weniger soziale Ungleichheit und mehr soziale Gerechtigkeit als Normen im gesellschaftlichen Bereich sowie demokratische Partizipation und Beachtung der Menschenrechte als Norm im politischen. Wie weit und in welcher Form diese Zielvorstellungen umgesetzt werden, welche Chance sie haben, zu allgemein akzeptierten Orientierungswerten und Verhaltensmustern zu werden, hängt neben äußeren Gegebenheiten, vor allem den jeweiligen wirtschaftlichen Ressourcen, in starkem Maße von den gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen und dem Selbstverständnis der etablierten Gruppen ab. In der kooperativen oder konfliktiven Interaktion zwischen den Protagonisten von Neuerungen und den Ver11

tretern traditioneller Werte und Machtpositionen entscheidet sich, welche Funktion dem konservativen Impuls in Bezug auf die Prozesse des Wandels jeweils zukommt.

Was heißt konservativer Impuls? Die Wortkombination »konservativer Impuls« ist nicht meine Erfindung, sondern stammt von dem britischen Soziologen Peter Marris, auf den ich noch zurückkommen werde.2 Ich habe sie von ihm übernommen, weil sie am besten die Problematik beschreibt, die mich bereits seit längerer Zeit beschäftigt. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, dass es sich bei »konservativ« und »Konservatismus« um ideologisch vorbelastete Begriffe handelt, deren Aufkommen und Konjunktur untrennbar mit der politischen Geschichte der jüngeren Neuzeit verbunden sind. Historiker haben mich belehrt, dass es bis ungefähr 1750 politische Neuerungen praktisch nicht gab, sondern jede Forderung nach einer Korrektur der als untragbar empfundenen Verhältnisse als Anmahnung vorgebracht werden musste, zu einer als verbindlich und perfekt unterstellten ursprünglichen politischen Ordnung zurückzukehren. Erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, vor allem nach der Französischen Revolution, seien Vergangenheitserfahrung und Zukunftserwartung auseinandergetreten,3 habe sich mit der Idee des Fortschritts und einer besseren Zukunft auch die Gegenvorstellung, es gelte unbeirrt am Bewährten und Vertrauten festzuhalten, zu einer eigenständigen Strömung und Ideologie, eben dem Konservatismus, verdichtet.4 Mit dieser mächtigen politischen und intellektuellen Strömung, die sich über rund 200 Jahre erstreckte, hat meine Untersuchung so gut wie nichts gemeinsam. Nichts liegt mir ferner, als der bereits weitgehend aufgearbeiteten politischen Geschichte und Ideengeschichte des Konservatismus eine weitere Studie hinzuzufügen. Gleichwohl 2 3 4

Marris, Loss and Change, S. 54 ff. Koselleck, »Fortschritt« und »Niedergang«, S. 224. Schumann, Konservatismus.

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wollte ich auf den Begriff »konservativ« nicht verzichten. Die Untersuchung bezieht sich auf die jüngste Neuzeit und handelt von Fällen rapiden sozioökonomischen Wandels und politischer Umbrüche an der europäischen Peripherie sowie in Lateinamerika, im Mittleren Osten und in Ostasien. Derartige entscheidende Veränderungen, welche die überkommenen Strukturen prinzipiell infrage stellen, finden bei breiten Bevölkerungskreisen Beifall und wecken Hoffnungen auf eine verheißungsvolle Zukunft, sie stoßen aber regelmäßig auf den Widerstand jener Gruppen, die sich als künftige Modernisierungsverlierer sehen. Die Gesellschaft spaltet sich in gegensätzliche Lager; es mag auch vermittelnde Kräfte geben, doch für eine Position des reinen Traditionalismus, wie sie Mannheim in den 1920er Jahren vom Konservatismus abgegrenzt hat, bleibt wenig Raum. Wer sich nicht dem progressiven Lager anschließt, sondern am Hergebrachten festhält, ergreift damit automatisch Partei für die Gegenseite und wird auch entsprechend eingestuft.5 »Konservativ« im Sinn dieser Studie beschränkt sich folglich nicht mehr auf eine bestimmte politische Haltung. Der Begriff erfährt vielmehr eine Ausweitung zu einer quasianthropologischen Grunddisposition: der teils bewussten, teils mehr intuitiven Verankerung des Denkens, Fühlens und Handelns in traditionellen Bahnen und Mustern. Die gegen Veränderungsdruck sich abschirmenden Denkweisen und Praktiken haben nicht zwangsläufig weit in die Geschichte der betreffenden Gesellschaft zurückreichende Wurzeln, möglicherweise sind sie das Resultat von Überlagerungsprozessen relativ aktuellen Ursprungs.6 Es genügt, dass sie sich als Bestandteil des allgemeinen Verhaltens- und Strukturrepertoires eingebürgert und bewährt haben, der nur widerwillig preisgegeben wird. Mit »Impuls« soll die Absetzung von politischen Bewegungen und deren Rechtfertigungskonstruktionen noch zusätzlich unterstrichen werden. Impuls birgt ein antirationales Moment und bezieht sich auf spontane, eher kurzfristige Reaktionen und Motivationen, was aber nicht ausschließt, dass durch Impulse ausgelöste Handlungsketten in 5 6

Mannheim, Das konservative Denken. Reimann, Die Vitalität »autochthoner« Kulturmuster, S. 364.

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eine kohärente Strategie münden. Der Ausdruck »konservativer Impuls« wird hier als eine Art Carte blanche, das heißt als sozialpsychologische Sammelkategorie benutzt, um ein möglichst breites Feld konservativ motivierter und inspirierter Einstellungen, Mentalitäten und Praktiken zu erfassen. Diese können individueller oder kollektiver Natur sein, als Reaktion auf beschleunigten disruptiven Wandel auftreten oder im Rahmen seiner Dynamik selbst zum Tragen kommen, mehr eine emotionale Äußerung erfahren oder als ideologische Option in Erscheinung treten. Ein solch weit aufgefächertes Vorgehen ist durch den Umstand gerechtfertigt, dass der Untersuchungsgegenstand einen weitgehend weißen Fleck auf der Forschungslandkarte darstellt. So intensiv der Konservatismus als politische Bewegung und Machtstrategie in der Literatur behandelt worden ist, so wenig wissen wir darüber, welche Bedeutung konservative Gefühle, Denk- und Verhaltensweisen bei jenen entfalten, die unmittelbar von Prozessen einschneidenden akzelerierten Wandels betroffen sind.

Anknüpfungspunkte und Vorläufer Gewiss fehlt es nicht an Hinweisen in der Literatur auf Tendenzen und Chancen, inmitten eines überstürzt sich vollziehenden Wandels Traditionsbestände zu retten oder ihnen sogar zu einer gewissen Aufwertung zu verhelfen. Das klassische Paradebeispiel hat Alexis de Tocqueville mit dem Nachweis geliefert, dass der während der Französischen Revolution erfolgte politische und administrative Zentralisierungsschub bereits lange zuvor in den auf das gleiche Ziel zusteuernden Maßnahmen der Monarchie angelegt war.7 Frühe Kritiker der Modernisierungstheorie wie C. S. Whitacker und J. Gusfield machten ebenfalls darauf aufmerksam, dass die strikte Gegenüberstellung von Tradition und Moderne eine Fiktion sei, da im realen Entwicklungsverlauf traditionelle und moderne Elemente eng ineinandergriffen, vor allem die alten Eliten es oft fertigbrächten, einen Teil ihres Wertekanons und ihrer Machtstrukturen in die neue Ordnung hinüber7

de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution.

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zuretten.8 In etlichen Theorieansätzen wird dem Gewicht von Herkommen und bewährten Praktiken bei sozialem Wandel ebenfalls Rechnung getragen, etwa in Theorien des kulturellen Gedächtnisses, Stiftungs- und Institutionstheorien oder, in neuerer Zeit, den Theorien zur Pfadabhängigkeit von Entwicklung.9 Doch hielt sich der Nutzen, den ich aus diesen Vorarbeiten (mit Ausnahme der bahnbrechenden Erkenntnisse de Tocquevilles) für mein eigenes Vorhaben ziehen konnte, in Grenzen. Für dessen Anlage und Durchführung erwiesen sich dagegen drei vorausgegangene Studien – wenngleich, wie sich zeigen wird, in unterschiedlicher Weise – als fruchtbar. Der wichtigste, schon viele Jahre zurückliegende Motivationsschub ging von Peter Marris’ in den 1970er Jahren verfassten Werk Loss and Change aus.10 Hier stieß ich zum ersten Mal auf einen Autor, der in Bezug auf Nachzüglergesellschaften explizit und in kohärenter Form jene Bedenken zum vorherrschenden Entwicklungsparadigma vortrug, die sich in mir aufgrund meiner Beschäftigung mit Lateinamerika bereits seit geraumer Zeit angesammelt hatten. Marris hatte über Jahre hinweg in und über Afrika gearbeitet und übernahm später eine Professur für Städteplanung in den USA . Seine Pionierstudie hat meine eigene Untersuchung in dreierlei Hinsicht beeinflusst. Erstens konzentrierte sich Marris, wie ich, auf Prozesse beschleunigten, einschneidenden Wandels (disruptive change), wo am ehesten mit konservativen Reaktionen zu rechnen ist. Seine Beispiele entnahm er, auch hier folge ich ihm, überwiegend der eigenen Forschungserfahrung. Konservative Traktate, die bereits die intellektuelle Verarbeitung des Traditionsbruchs widerspiegeln, ließ er beiseite. Vielmehr interessierte ihn primär die unmittelbare, teils auch die mittelbare Reaktion der vom Wandel Betroffenen, die nur bedingt einer rationalen Steuerung unterliegt (»Impuls«). Das entspricht auch dem Fokus dieser Untersuchung. 8 9 10

Whitacker, A Dysrhythmic Process; Gusfield, Tradition and Modernity. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis; Gehlen, Urmensch und Spätkultur; Mahoney, Beyond Correlational Analysis. Marris, Loss and Change.

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Zweitens arbeitete Marris zutreffend heraus, dass ein Ansatz, der beim sozialen Umgang mit dem Wandel nur auf die Anpassung an das Neue abstellt, zu kurz greift. Eher sei vom gegenteiligen Bestreben, nach Möglichkeit am Herkömmlichen festzuhalten, auszugehen. Wie er idealtypisch am Beispiel des Verlustes eines nahen Angehörigen aufzeigte, wird die Einbuße von etwas Vertrautem, sei es eine Person oder eine Institution, zunächst als bedrohlicher, Schmerz und Leid verursachender Angriff auf das eigene Selbstgefühl empfunden. Disruptiver Wandel löst folglich, so sein Fazit, regelmäßig gegensätzliche Reaktionen aus: einerseits das verzweifelte, letztlich vergebliche Festhalten an der Vergangenheit, andererseits, angesichts der Notwendigkeit, sich auf die neue Situation einzustellen, das Bemühen, dieser gerecht zu werden. Das Abarbeiten der Spannung zwischen diesen beiden Polen (working out ist ein Lieblingsausdruck von Marris) ist eine Voraussetzung dafür, dass die Betroffenen in ihrer Entwicklung nicht stehen bleiben.11 Drittens teile ich den hinter diesen Überlegungen stehenden sozialpsychologischen Theorieansatz von Marris. Ihm liegt die implizite Annahme zugrunde, wichtiger als reine Machtkalküle oder die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen sei in Fällen einschneidenden Wandels die Sinnebene, als Möglichkeit verstanden, das auf Einzelne und soziale Kollektive einstürmende Neue in den bestehenden Kosmos vertrauter Bedeutungen und Wertprämissen einzugliedern, um damit zurechtzukommen. Insoweit sind Individuen und soziale Gruppen oder größere gesellschaftliche Einheiten vor ganz ähnliche Probleme gestellt, weshalb hier, wie auch bei Marris, kein prinzipieller Unterschied zwischen ihnen gemacht wird. Es ließen sich noch weitere Einsichten nennen, in denen meine Untersuchung an die Arbeit von Marris anknüpft. Gleichwohl soll nicht unerwähnt bleiben, dass ich nicht mit all seinen Schlussfolgerungen einverstanden bin. So überstrapaziert er aus meiner Sicht seine These, wenn er jede Neuerung, auch die überraschendste und kühnste, aus dem konservativen Impuls ableiten oder mit ihm in Zusammenhang bringen will. Es gibt durchaus Menschen, mag es auch 11

Ebd., S. 38, 158.

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nur eine kleine Minderheit sein, die vor Neuerungen nicht nur nicht zurückschrecken, sondern sich begierig auf sie stürzen und sich auf Abenteuer einlassen, deren Ausgang völlig ungewiss ist.12 Die zweite Studie, die mich inspiriert hat, wurde von Doug McAdam, Sidney Tarrow und Charles Tilly verfasst und erschien 2001 unter dem Titel Dynamics of Contention.13 Es handelt sich um eine komplex angelegte Untersuchung von insgesamt 15 Fällen, die in Form von Paarvergleichen die Hintergründe von Revolution und Bürgerkriegen, Prozessen der Nationsbildung und Demokratisierungsprozessen zu analysieren unternimmt. Ich stieß auf das Buch, als ich in der eigenen Untersuchung bereits relativ weit fortgeschritten war, und fühlte mich unmittelbar durch die unorthodoxe Vorgehensweise der drei Autoren angesprochen. Besonders beeindruckend fand ich, dass Charles Tilly, welcher der Forschung über soziale Bewegungen entscheidende konzeptuelle und methodische Anstöße gegeben hatte, nunmehr, im vorgerückten Alter, dafür plädierte, von einem Denken in abgeschlossenen Phasen und allgemeinen Modellen Abschied zu nehmen, auch nicht bei der Analyse der Eliten und ihrer Ressourcen sowie der jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen stehen zu bleiben, sondern in einer Kombination von rationalistischer, kulturalistischer und strukturalistischer Vorgehensweise gewissermaßen hinter die Kulissen zu schauen, um das Streitgeschehen steuernde »robuste Mechanismen und Prozesse« ausfindig zu machen. Als solche Mechanismen, deren Relevanz sich quer durch das bunte Fallmaterial bestätigte, stellte das Autorenteam Makler- und Vermittlerdienste (brokerage), Identitätswechsel (identity-shift), Radikalisierung (radicalisation) und als Reaktion darauf das Zusammenrücken der gemäßigten Kräfte (convergence) heraus. Was unabhängig von diesen konkreten Ergebnissen eine starke Affinität dieser Studie über Streitdynamik zu meiner eigenen Untersuchung begründet, sind folgende Akzentsetzungen: – die Präferenz, die auf der Verfolgung dynamischer Prozesse gegenüber einer statischen Betrachtungsweise liegt; 12 13

Nerlich, Abenteuer. McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention.

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die Option für qualitative Vergleiche, bei denen die jeweiligen historischen und transnationalen Rahmenbedingungen Berücksichtigung finden; – das theoretical sampling, das heißt die Auswahl der Fälle im Hinblick auf eine bestimmte Theorie oder These; – schließlich das Eingeständnis, dass ein und derselbe Mechanismus bzw. Prozess je nach Zeitpunkt und Begleitumständen unterschiedliche, gegebenenfalls auch konträre Wirkungen entfalten kann. Diese von mir geschätzten methodischen und theoretischen Prämissen der Untersuchung McAdams und seiner Kollegen stehen in deutlichem Gegensatz zu einem dritten Buch, das mich in der Absicht bestärkt hat, den konservativen Impuls in Nachzüglergesellschaften genauer zu erforschen. Es handelt sich um eine unter dem Titel Beschleunigung erschienene, ebenso materialreiche wie scharfsinnige Analyse des Soziologen Hartmut Rosa über eines der alarmierendsten Merkmale zeitgenössischer Gesellschaften.14 Da Rosa auf eine räumliche und kulturelle Eingrenzung der Studie verzichtet, würde ich diese, quasi als ein Spätprodukt, der Kategorie der Modernisierungs- bzw. Postmodernisierungstheorie zuordnen. Wird doch, als eine Art allgemeiner Gesetzmäßigkeit, das Ineinandergreifen und die daraus resultierende Eskalation technologischer Beschleunigung, der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Akzeleration des Lebenstempos behauptet, die schließlich zum »rasenden Stillstand«, der Gleichzeitigkeit von Hyperakzeleration und Erstarrung führen würden. Diese Prognose dürfte in Bezug auf Nachzüglerregionen – der größte Teil der Welt besteht aus Nachzüglergesellschaften – unhaltbar sein; das Beschleunigungsproblem stellt sich dort meist in anderer Form als in den kapitalistischen Zentren, aus denen Rosa vorzugsweise seine Beispiele nimmt, und erfährt überwiegend eine differenziertere Lösung. Zunächst muss erstaunen, warum Rosa sich nicht die Frage gestellt hat, wie unter den von ihm herausgearbeiteten Bedingungen nachholende Entwicklung (wie z.B. in Taiwan, in Südkorea etc.) überhaupt möglich sein kann. Vorausgesetzt, seine Beschleunigungsthese 14

Rosa, Beschleunigung.

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trifft auf die klassische Moderne und den Übergang in die Postmoderne zu, bedeutet dann die erfolgreiche Aufholjagd später in die Moderne eintretender Nationen, dass sich Beschleunigung nochmals potenziert, und was soll man sich konkret darunter vorstellen? Jenseits solcher Sprachspiele, an denen die Grenzen des Beschleunigungsparadigmas deutlich werden, gibt es wenigstens drei Gründe, warum die Beschleunigungskurve in den meisten Nachzüglergesellschaften (nicht in allen!) anders als im Westen verläuft. 1. Der Druck, der ständig auf den Führungsgruppen dieser Gesellschaft lastet, mit den entwickelten Nationen gleichzuziehen, löst einerseits periodische Anstrengungen aus, den Rückstand zu verringern, erzeugt aber gleichzeitig einen Gewöhnungseffekt an das Modernisierungsdefizit. 2. Als Resultat periodischer Entwicklungsschübe bilden sich partiell modernisierte Gesellschaften heraus, in denen häufig die Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche (Recht, Politik, Religion usw.) weniger ausgeprägt ist, der Staat und das Institutionsgefüge schwächer sind als im Westen. Es entsteht eine »strukturelle Heterogenität« als Dauerzustand, der den von Rosa herausgearbeiteten, einander verstärkenden Beschleunigungszyklen im Wege steht. 3. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Nachhinken in der Entwicklung neben etlichen Nachteilen immerhin den Vorteil hat, dass die wacheren Geister unter den Nachzüglern, den Westen vor Augen, abwägen können, was ihnen als Fortschritt übernehmenswert erscheint und was nicht. Eine typische Option in diesem Sinn ist, dass die Erzeugnisse des technischen Fortschritts nach Kräften in das eigene System integriert werden, während man hinsichtlich der Alltagsgestaltung am herkömmlichen gemächlicheren Lebensrhythmus festhält.

Die Hauptthese: Ambivalenz des konservativen Impulses Nach dem klassischen Modernisierungsmodell bildeten Traditionselemente einer Gesellschaft schlicht einen Hemmschuh, der die als positiv und begrüßenswert apostrophierte »Entwicklung« bremste. Die Wahrscheinlichkeit, dass das »Neue« sich durchsetzen würde, er19

gab sich durch die Subtraktion der hemmenden, von den den »Fortschritt« vorantreibenden Kräften. Abgesehen von der Fortschrittsgläubigkeit dieser Sichtweise lag einer ihrer Hauptmängel in der rein negativen Einstufung aller Traditionsbestände, welche, indem sie an vergangene Mentalitäten, Praktiken und Strukturen anknüpfen, der Modernisierungsdynamik im Wege zu stehen schienen. Tatsächlich erscheint es weit fruchtbarer und realitätsgerechter, der jeweiligen Tradition und dem aus ihr entspringenden konservativen Impuls eine schöpferische Potenz eigenen Rechts und Rangs zuzugestehen, die sich nicht im Verlangsamen, Blockieren und Verhindern des Fortschritts erschöpft. Bewahrende und progressive Gruppen und Kräfte treten, folgt man dieser Annahme, im Zuge beschleunigten sozialen Wandels in eine Auseinandersetzung ein, deren Ausgang offen und nicht ohne Weiteres prognostizierbar ist. Denn je nach Zeitpunkt, Kontext und Kräfteverhältnis können Äußerungen und Triebkräfte des konservativen Impulses nicht nur die Entwicklungsdynamik bremsen, sondern dieser auch förderlich sein oder sogar zu einer ihrer wesentlichen Voraussetzungen werden. Dies ist meine These von der ambivalenten Wirkung des konservativen Impulses, um die ein Großteil der Untersuchung kreist. Dass soziale Prozesse oder Mechanismen polyvalent sein können, das heißt je nach den Begleitumständen die eine oder auch die entgegengesetzte Wirkung entfalten können, ist bis heute ein Tabu in den Sozialwissenschaften, da sich diese Einsicht schwer mit deren Bestreben, deterministische Aussagen zu formulieren, vereinbaren lässt. Man zieht es vor, in diesen Fällen mit der Kontingenzformel zu operieren, die besagt, dass »unvorhersehbare Ereignisse« dem an sich vorhersehbaren Verlauf einer Entwicklung eine unerwartete Wende geben können. Wiederkehrende Prozesse und Mechanismen, selbst wenn sie unterschiedliche Effekte zeitigen, müssen aber nicht notwendig als »kontingent« im Sinne von zufällig und unberechenbar eingestuft werden, sofern sich mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmen lässt, wann mit der einen oder anderen Wirkung zu rechnen ist. Albert Hirschman, lange Zeit das enfant terrible der wirtschaftswissenschaftlichen Entwicklungstheorie, inzwischen ein Klassiker, hat schon in den 1960er Jahren am Beispiel bestimmter Institutionen in Latein20

amerika nachgewiesen, dass sogenannte Entwicklungshindernisse unter Umständen zu Antriebskräften der Entwicklung werden können.15 Auch McAdam, Tarrow und Tilly halten es nicht prinzipiell für problematisch, dass den von ihnen herausgearbeiteten »robusten Mechanismen und Prozessen« keine eindeutige Wirkung zukommt, man müsse auf den jeweiligen Kontext, die zeitliche Sequenz und die Kombination mit anderen Mechanismen achten, um Genaueres sagen zu können.16 In Bezug auf den konservativen Impuls, so lässt sich aus diesen beiden Präzedenzfällen folgern, ist also weniger seine Ambivalenz als solche das Problem, sondern es stellt sich die Frage, ob sich Näheres über die Bedingungen ausmachen lässt, unter denen er einer durch disruptiven Wandel hervorgerufenen Entwicklung förderlich oder abträglich ist.

Fragen und Hypothesen Die nunmehr kurz zu umreißenden Fragen und Hypothesen, die den inneren Leitfaden der Untersuchung bilden, zerfallen in zwei Gruppen, die sich allerdings nicht scharf voneinander trennen lassen. Zum einen handelt es sich um begriffliche und kategoriale Vorentscheidungen, die der Untersuchung zugrunde liegen, zum anderen um Hypothesen, die deren mutmaßliche Ergebnisse betreffen. Die Grenze zwischen beiden ist nicht leicht zu ziehen, da auch die Prämissen auf einer vorläufigen Sichtung des empirischen Materials beruhen, folglich ihre definitive Bewährung, ähnlich wie bei den offener formulierten Hypothesen, letztlich vom Ergebnis der empirischen Untersuchung abhängt.

a) Wie äußert sich der konservative Impuls? Im Prinzip sind insoweit drei Betrachtungsebenen möglich. Die erste, aus meiner Perspektive wichtigste, ist die Einstellung zum sozialen Wandel und der Umgang mit ihm durch die unmittelbar und 15 16

Hirschman, Entwicklung, Markt und Moral, S. 13 f. McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention, S. 223 f., 306 f.

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bewusst von ihm Betroffenen. Wie reagieren sie spontan und längerfristig auf die ihnen zugemuteten Prozesse des Umdenkens und der Anpassung? Neben rationalen Erwägungen hängt dies in beträchtlichem Maße von tieferen Emotionen und das jeweilige Selbstverständnis berührenden Bewusstseinsschichten ab. Dagegen ist für die hier zur Diskussion stehende Fragestellung eine zweite Ebene der gedanklichen Verarbeitung der Umwälzung, die bereits eine gewisse räumliche, zeitliche oder »innere« Distanz zum eigentlichen Geschehensablauf voraussetzt,17 weniger relevant. Wohl aber erscheint eine dritte Betrachtungsebene interessant, die sich auf mentale und in der Praxis sich manifestierende Kontinuitäten in der Phase des Umbruchs bezieht, die dessen Protagonisten nicht unbedingt bewusst sein müssen. Die jüngere Geschichte von Nachzüglerstaaten im politischen Modernisierungsprozess ist reich an Beispielen für das Festhalten an eingespielten, in der politischen Kultur des Landes verankerten Mentalitäts- und Verhaltensmustern hinter einer Fassade äußerlicher Zugeständnisse an das Modell des liberal-demokratischen Rechtsstaats.

b) Wovon hängt die Stärke des konservativen Impulses ab? Wie im ersten Kapitel »Individuelle Verlusterfahrungen« herausgearbeitet werden wird, im Wesentlichen von drei Variablen: erstens von der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit des beschleunigten Wandels, ob darin also ein Fortschritt oder eine Einbuße gesehen wird; zweitens von dessen Reversibilität bzw. Irreversibilität – neue Entwicklungen, die als definitiv, also unumkehrbar erscheinen, zwingen zur Anpassung und schieben damit allen Bestrebungen, frühere Verhältnisse wiederherstellen zu wollen, einen Riegel vor; drittens ist der Zeitfaktor von eminenter Bedeutung.18 Einzelne wie auch soziale Kollektive brauchen einen zeitlichen Spielraum, um sich auf neue Entwicklungen einzustellen; hier liegt eines der Hauptprobleme raschen disruptiven Wandels. Oft sorgt die sich länger hinziehende Auseinandersetzung zwischen progressiven 17 18

Vgl. dazu Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. Abbott, Time Matters.

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und retardierenden Kräften dafür, dass alle Beteiligten die notwendige Zeit gewinnen, um sich an die veränderte Lage zu gewöhnen. Wo der Veränderungsprozess hingegen sehr rasch und reibungslos verläuft, sei es, dass die konservativen Kräfte unterdrückt werden, sei es, dass sie sich überrumpeln oder freiwillig in den Sog der Fortschrittsbewegung hineinziehen lassen, kommt es nicht selten zu einem längeren Nachspiel, bis sich ein neues Gleichgewicht zwischen Progressiven und Reaktionären einpendelt. Hierfür liefert die Französische Revolution den klassischen Präzedenzfall.19

c) Wie stark und ausgeprägt ist der konservative Impuls in den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen? Insoweit eine für alle Zeiten und Gesellschaften gültige Aussage formulieren zu wollen, wäre vermessen. Was indes jene umfassende Bewegung betrifft, die eingangs als Modernisierungsprozess bezeichnet wurde, so sind doch deutliche Differenzen hinsichtlich der Aufgeschlossenheit oder ablehnenden Grundhaltung zwischen den genannten Bereichen erkennbar. Vereinfacht sei hier die Behauptung aufgestellt, dass der konservative Impuls im wirtschaftlich-technischen Bereich am schwächsten ausgeprägt ist, dagegen im kulturellen Bereich am stärksten zum Tragen kommt, während der politische Machtbereich eine Zwischenstellung einnimmt. Es ist schwerlich ein Zufall, dass die Pfadabhängigkeitstheorie, in welcher eine gewisse Verwunderung ihren Ausdruck findet, dass Gesellschaften nicht unbegrenzt innovationsfreudig sind, auf die Wirtschaftswissenschaft zurückgeht.20 Wirtschaftliche und technische Neuerungen werden in weniger entwickelten Ländern fast durchweg als Fortschritt begrüßt, sodass es insoweit auf das zweite Kriterium für die Abschwächung des konservativen Impulses, die Irreversibilität des damit eingeleiteten Wandels, gar nicht mehr ankommt. Dass der konservative Impuls im kulturellen Bereich, der unsere Sozialisation, unsere Alltagsgewohnheiten, unseren Wertehorizont und damit unser ganzes Selbstverständnis einschließt, gewissermaßen seinen Ursprung 19 20

Furet, 1789. Castaldi/Dosi, The Grip of History.

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hat, ist die Hauptthese von Marris, der ich mich weitgehend anschließe. Auch kultureller Wandel ist, jedenfalls kurzfristig, kaum umkehrbar. Da es aber von den Individuen und gesellschaftlichen Kollektiven selbst abhängt, inwieweit sie ihn mittragen, ist es nur allzu verständlich, dass sie oft intensiv bemüht sind, ihn hinauszuzögern. Der politische Machtbereich schließlich stellt das Forum dar, auf dem die Auseinandersetzung zwischen progressiven Kräften und jenen, die zum Status quo zurückkehren wollen, öffentlich ausgetragen wird. Da er, von Diktaturen abgesehen, zugleich jener Bereich ist, wo alles revidierbar erscheint, schwingt das Pendel, je nach Machtkonstellation, oft mehrmals hin und her, bis eine gewisse Balance gefunden ist.

d) Wie beeinflusst der konservative Impuls den sozialen Wandel, welche Wirkung zeitigt er? Prinzipiell sehe ich vier Hauptformen, in denen sich der konservative Impuls in einer in Fluss geratenen Situation manifestieren kann. Die erste ist das Fortbestehen von Inseln der Tradition inmitten der sich rapide verändernden Gesellschaft. Die Familie oder religiöse Glaubensgemeinschaften stellen oft solche institutionellen Inseln dar, die sich der allgemeinen Aufbruchsstimmung entziehen. Auch die oben erwähnten, den Akteuren selbst oft nicht bewussten mentalen und praxisbezogenen Kontinuitäten fallen in diese Kategorie. Zweitens kann es, gleichsam zur Abfederung des Wandels, zu einer Aufwertung und besonderen Betonung traditioneller Überzeugungen und Praktiken kommen, womit eine Kreativität eigener Art verbunden ist. Die Bekräftigung des Eigenwerts produktiver Arbeit und des Prinzips, keine Schulden zu machen, während der Phase der Hochinflation in der Weimarer Republik21 bietet sich hierfür ebenso als Beispiel an wie die Hinwendung zum religiösen Fundamentalismus unter jungen, mit der säkularisierten Gesellschaft des Westens konfrontierten Muslimen. Die Flucht in überlieferte Werte und Glaubenshaltungen erklärt sich aus der Suche nach einem Halt angesichts eines in Bewegung geratenen, unübersichtlich gewordenen sozialen Umfelds. 21

Heisterhagen/Hoffmann, Lehrmeister Währungskrise?, S. 50 f, 148 ff.

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Drittens kann auch eine Synthese zwischen traditionellen Werthaltungen und Zielen sowie Bestrebungen der Neuerer zustande kommen. Die zitierten Aufsätze von Whitacker und Gusfield enthalten zahlreiche Belege für die Komplementarität alter und neuer Eliten. Auch eine Studie von Adrian Waldmann über die Fortgeltung alter Einstellungen und Grundhaltungen im Gewand neuer Institutionen in der bolivianischen Provinz Santa Cruz, die von 1950 bis 2000 einen spektakulären wirtschaftlichen Aufschwung nahm (»Feuderne«), bietet sich als Beispiel an.22 Eine vierte Möglichkeit besteht darin, dass konservative Gruppen mächtig genug sind, um unwillkommene Entwicklungen zu blockieren oder zu sabotieren. Ein Beispiel für die erste Variante lieferte die südkoreanische Yangban-Herrschaftsklasse, die sich während des ganzen 19. Jahrhunderts erfolgreich gegen die Öffnung des Landes gegenüber westlichen Einflüssen zur Wehr setzte.23 Da dies ein auf die Dauer vergebliches Unterfangen ist, kommt längerfristig der zweiten Alternative weit größere Bedeutung zu, dass traditionelle Machtgruppen zwar deklaratorisch, eventuell auch im institutionellen Bereich, beträchtliche Zugeständnisse an das Paradigma der Moderne machen, jedoch gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass die informellen Verhaltenscodes der betreffenden Gesellschaft weitgehend unverändert bleiben. Lateinamerika bietet eine breite Palette von Beispielen für diese Strategie.

e) Lässt sich etwas darüber sagen, wann eher mit einer konstruktiven oder einer obstruktiven Auswirkung des konservativen Impulses auf den Wandel zu rechnen ist? Das ist eine schwierige Frage, auf die allenfalls vorläufige tentative Antworten möglich sind. Wie etwa lässt sich bestimmen, ab wann eine konservative Reaktion, die oben als Schutzhaltung gegenüber einer unübersichtlich gewordenen Umwelt gekennzeichnet wurde, in eine prinzipielle Verweigerungshaltung gegenüber der Moderne umschlägt? 22 23

Waldmann, El hábitus camba. Eckert/Robinson/Lee, Korea Old and New, Kap. 9–13.

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Immerhin drängen sich einige allgemeine Schlussfolgerungen auf. So ist nicht zu übersehen, dass die Mitglieder einer herrschenden Klasse, solange sie einen geschlossenen Block bilden, ihren Machtinteressen schädliche Entwicklungen oft mit allen Mitteln zu unterbinden suchen, während die versprengten Reste derselben, nachdem der Block zerschlagen wurde oder sich aufgelöst hat, nicht selten zu eifrigen Verfechtern des neuen Kurses werden. Bei religiösen Lehren und ideologischen Konstrukten hängt viel von der Bandbreite ihrer Interpretationsmöglichkeiten ab. Beispielsweise ist man sich beim Konfuzianismus, dem Max Weber in seiner vergleichenden Analyse der Weltreligionen eine die wirtschaftlich-gesellschaftliche Dynamik eher drosselnde Funktion zuschrieb, inzwischen einig, dass er ein unverzichtbarer Bestandteil jener mentalen Gesamtdisposition war, die Südkorea innerhalb von 30 Jahren den Sprung von einer der ärmsten Gesellschaften in den Kreis der industriellen Exportnationen ermöglichte.24 Erneut ist auf die Bedeutung des Zeitfaktors hinzuweisen, der mit dem konservativen Impuls insgesamt den ambivalenten Charakter teilt. Gesellschaften wie Individuen können durch allzu brüsk über sie hereinbrechende Neuerungen nicht nur überfordert sein, es kommt auch vor, dass sie unterfordert sind und sich mit Scheinlösungen zufrieden geben, wenn ihnen zur Anpassung an die neuen Verhältnisse zu viel Zeit zur Verfügung steht. Aus einer übergeordneten Warte lässt sich die Auseinandersetzung zwischen den Wandel vorantreibenden und ihm hinderlichen Kräften nicht zuletzt als Problem des Identitätsmanagements eines Einzelnen oder eines gesellschaftlichen Kollektivs begreifen. Dabei gehe ich mit Uwe Schimank davon aus, dass sich Identität aus drei Komponenten zusammensetzt: einer kognitiven, einer normativen und einer evaluativen.25 Die kognitive Komponente (»Wer bin ich?« oder »Wer sind wir?«) knüpft an das gewachsene Selbstverständnis einer Gruppe oder eines Individuums an. In der normativen Dimension kommt der Zwang zur Anpassung an die Anforderungen der Umwelt zum Tragen, die sich in Phasen raschen 24 25

Vogel, The Four Little Dragons, S. 92 ff. Schimank, Handeln und Strukturen, S. 444 ff.

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Wandels stark verändern können. Mit der dritten Komponente, dem eigenen Wollen und Entscheiden, ist das Management-Problem angesprochen, wie sich unter Berücksichtigung der beiden anderen, eventuell stark divergierenden Komponenten eine leidlich stimmige individuelle oder soziale Identität formen lässt.26

Aufbau der Untersuchung, Fallauswahl und Vorgehensweise Die empirische Recherche setzt bei individuellen Verhaltensreaktionen ein, um einen Maßstab für die Stärke des konservativen Impulses zu gewinnen (Kap. I). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass beim Einzelnen in idealtypischer Schärfe jene Motivationskräfte auszumachen sind, die bei sozialen Kollektiven oft durch zusätzliche Einflussfaktoren verwischt werden. Wie bereits erwähnt, hängt die Stärke des konservativen Impuls, so die tentative Annahme, von drei Variablen ab: der Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit, mit der sich Individuen und soziale Kollektive dem sozialen Wandel aussetzen; dessen Umkehrbarkeit oder Irreversibilität; schließlich vom Zeitraum, der den Betroffenen zur Verfügung steht, um sich an die neuen Verhältnisse anzupassen. Je nach Kombination der drei Kriterien hat der konservative Impuls unterschiedliche Entfaltungschancen: Er kann die Anpassung an die neue Situation verzögern und damit zugleich erleichtern (Tod und Trauer); durch die Übertragung vertrauter Gebräuche in das neue soziale Umfeld oder die verstärkte Rückbesinnung auf die eigene Religion den Bruch mit der Vergangenheit erträglicher machen (Exil und Diaspora); oder eine Anpassung als überflüssig erscheinen lassen, da davon ausgegangen wird, dass der als Katastrophe empfundene neue Zustand nur vorübergehender Natur sein wird (Hyperinflation). In den beiden folgenden Kapiteln wird der Einfluss konservativer Einstellungs- und Verhaltensmuster in den Bereichen Politik und Wirtschaft verfolgt. Kapitel II befasst sich mit politischen Umbrüchen und ihren Folgen, Kapitel III mit Fällen nachholender beschleu26

Reckwitz, Der Identitätsdiskurs, S. 26 f.

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nigter Entwicklung. Scheinbar handelt es sich dabei um kaum vergleichbare Funktionsbereiche und Prozesse. Politische Machtwechsel vollziehen sich meist kurzfristig, lassen sich jedoch im Prinzip wieder rückgängig machen; dagegen sind Prozesse nachholender Entwicklung eher mittelfristiger Natur und leiten, falls sie erfolgreich sind, den definitiven Abschied von der traditionellen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ein. Gegen politische Umbrüche legen die konservativen Kräfte meist erst nach vollzogenem Herrschaftswechsel ihr Veto ein; demgegenüber stellt sich beim Versuch der Bündelung aller Kräfte für einen »Entwicklungssprung« bereits sehr früh die Frage, ob dieser auch von konservativen Kreisen unterstützt oder bereits in seinen Anfängen abgewürgt wird. Diese Unterschiede relativieren sich jedoch bei einer näheren Betrachtung. Zunächst fällt auf, dass es nicht wenige Fälle gibt, in denen ein enger Zusammenhang zwischen brüskem politischem Machtwechsel und auf längere Zeit angelegten Strategien nachholender Entwicklung besteht. Man denke etwa an die konservative Revolution von 1979 im Iran, welche das Experiment einer jahrzehntelang ausgeübten säkularisierten Entwicklungsdiktatur beendete, oder an das Franco-Regime in Spanien, ebenfalls eine letztlich auf die Modernisierung des Landes abzielende Diktatur, die in diesem Fall jedoch als Reaktion auf einen missglückten Übergang von der Monarchie zur Republik und einen anschließenden Bürgerkrieg an die Macht kam. Zweitens relativiert sich auch der Zeitunterschied, wenn man bedenkt, dass mit dem politischen Machtwechsel als solchem die Auseinandersetzung zwischen den progressiven und den konservativen Kräften nicht abgeschlossen, sondern meist erst eröffnet wird und sich dann unter Umständen über Dekaden hinziehen kann. Drittens sei daran erinnert, dass der konservative Impuls nicht nur reaktiv, sondern, wie bereits Marris feststellte, auch präventiv zum Zug kommen kann. Er äußert sich dann als Bemühung, durch einen gezielten Schritt »nach vorn« einen ansonsten drohenden größeren Schaden für die eigenen Interessen oder die Allgemeinheit abzuwenden. Bei der Auswahl der Fallbeispiele wurde prinzipiell der »Tiefenkenntnis« einer begrenzten Zahl gegenüber einem großflächigen Überblick über möglichst viele Fälle der Vorzug gegeben. Für die Aus28

wahl waren drei Kriterien wichtig: Zum Ersten sollten im Fokus der Untersuchung Fälle beschleunigten und einschneidenden sozialen Wandels stehen, weil davon ausgegangen wurde, dass sie eine besondere Herausforderung für konservatives Fühlen und Denken darstellen. Zweitens wurden vornehmlich Fälle aus weniger entwickelten Regionen ausgewählt (Ausnahme: die Französische Revolution), wobei darauf geachtet wurde, dass unterschiedliche Großregionen (Lateinamerika, Mittlerer Orient, Ostasien) im Sample vertreten sind. Drittens sollte es sich um Situationen und Fälle handeln, über die der Verfasser schon früher gearbeitet hatte, sodass er einigermaßen mit ihnen vertraut war. Eine gewisse Vertrautheit mit dem Untersuchungsmaterial bedeutete freilich nicht, wie der Verfasser bald feststellen musste, dass seine Explorationen über den konservativen Impuls dadurch wesentlich erleichtert worden wären. Sie bewahrte ihn – hoffentlich – vor allzu eklatanten Irrtümern und Fehlschlüssen, wie sie bei oberflächlicher Kenntnis fremder Gesellschaften nur allzu naheliegen, ersparte ihm aber nicht, sich aufs Neue sehr intensiv mit dem jeweiligen Fall auseinanderzusetzen. Hierzu zählte auch das Fahnden nach einschlägiger, für die Themenstellung relevanter Literatur, da die üblichen Standardwerke dem konservativen Impuls in Umbruchssituationen kaum Aufmerksamkeit schenken. Konservative Einstellungs- und Verhaltensmuster in peripheren oder semiperipheren Regionen zu untersuchen erschien sinnvoll, da in ihnen der Druck zu beschleunigter Modernisierung besonders stark ist, weshalb dort oft progressive Kräfte und in alten Strukturen verhaftete Gruppen besonders unvermittelt aufeinanderprallen. Dies wiederum hängt damit zusammen, dass sie, sieht man von gewissen Praxen im sozialen Mikrobereich ab, im Unterschied zu den bereits auf eine längere Modernisierungserfahrung zurückblickenden »Zentren« nicht die Gelegenheit hatten, Institutionen hervorzubringen, die diesen Aufprall abmildern, den Übergang von traditionellen zu modernen Strukturen kanalisieren und mediatisieren. Nicht selten nimmt in diesen Regionen, wie sich zeigen wird, staatliche Repression die Rolle eines Zwangsschlichters zwischen auseinanderstrebenden Erwartungen und Kräften ein. 29

Von ihrer Methodik und Vorgehensweise her nähert sich die Untersuchung stark dem von B. G. Glaser und A. L. Strauss vor rund 50 Jahren entworfenen Forschungsmodell der »Grounded Theory« an.27 Sie teilt mit diesem insbesondere die folgenden Prämissen: – Nicht die Verifizierung einer bestimmten Hypothese steht im Mittelpunkt der Explorationen, sondern die Generierung einer These mittels komparativer Analysen.28 Dies geschieht in einem induktiven Prozess, das heißt die Konzepte und Hypothesen werden schrittweise aus den Daten gewonnen.29 – Die Betonung liegt auf der Erhebung und Verwertung qualitativer Daten, weil qualitative Forschung als die angemessenste und effektivste Methode erscheint, um die für das Forschungsziel benötigten Informationen zu beschaffen.30 – Die Vorgehensweise entspricht dem von Glaser und Strauss vorgeschlagenen »Theoretischen Sampling«, das heißt, die Auswahl der untersuchten Fälle und Situationen wurde primär durch die Suche nach dem Forschungsgegenstand angemessenen Konzepten und Theorien bzw. Theoriefragmenten gesteuert.31 Dabei wurde im Sinne des »most different systems design«32 darauf geachtet, ein möglichst breites Feld unterschiedlicher Fälle und Situationen abzudecken.33 – Insgesamt handelt es sich um einen dynamischen Forschungsprozess, der im Prinzip nie abgeschlossen ist.34 Für diese Untersuchung wurde das Material der einschlägigen Fälle und Situationen zunächst einmal durchgearbeitet, um die erforderlichen konzeptuellen Vorentscheidungen zu treffen und erste theoretische Einsichten zu gewinnen; und dann ein zweites Mal, um bei-

27 28 29 30 31 32 33 34

Glaser/Strauss, Grounded Theory. Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. Ebd., S. 32 ff. Ebd., S. 61 ff. Przeworski/Teune, The Logic of Comparative Social Inquiry. Ebd., S. 75. Ebd., S. 49–50.

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des, Konzepte und Einsichten, zu überprüfen und auf eine solidere Grundlage zu stellen. Die Ergebnisse der Untersuchung werden zusammenfassend in einem eigenen Kapitel präsentiert (Kap. IV ) und durch weitere Literatur und Forschungserfahrungen des Verfassers ergänzt. Als Leitfaden dienen dabei die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen und Hypothesen. Ein letztes Kapitel versucht sich an der theoretischen Verortung des konservativen Impulses. Möglicherweise könnte insoweit das neuerdings in die Debatte eingeführte Konzept des »sozialen Mechanismus« von Nutzen sein und die Chance bieten, der Multifunktionalität bzw. -kausalität des konservativen Impulses gerecht zu werden.35 Dazu müsste das Konzept jedoch aus dem herkömmlichen, deterministisch orientierten Theoriekontext herausgelöst und offener, ambivalenztoleranter gestaltet werden.

35

Hedström/Swedberg, Social Mechanisms.

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I Individuelle Verlusterfahrungen

Tod und Trauer Der Verlust eines nahestehenden Menschen durch seinen Tod gilt als härteste Veränderung der Lebensverhältnisse im sozialen Nahbereich. Eine Veränderung, die, so einschneidend und schmerzhaft sie auch ist, doch zu den allgemeinen Lebenserfahrungen gehört. Als besonders schwerwiegend gilt der Tod des langjährigen Ehe- bzw. Lebenspartners. Trennungen nach langer Partnerschaft, also das Zerbrechen einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft, lösen häufig vergleichbare Reaktionen tiefen Kummers wie des Verlusts des seelischen Gleichgewichts aus. Unter dem Gesichtspunkt eines beschleunigten disruptiven Wandels im sozialen Mikrobereich sind die charakteristischen Merkmale eines Todesfalls und anschließenden Trauerprozesses die folgenden: – Selbst wenn sich der Verfall der Kräfte aufgrund von Siechtum, psychischer oder physischer Krankheit länger hinzieht, stellt der Tod ein punktuelles abruptes Ereignis dar. – Es ist davon auszugehen, dass zumindest die nahen Angehörigen und Freunde den Tod eines Menschen, an dem sie hängen, als unfreiwillige Einbuße empfinden. Der Verlust wider Willen einerseits, die Unumstößlichkeit dieses Verlustes andererseits, sind die beiden Hauptmerkmale, die den Trauerprozess prägen. – Trauer ist jedoch keine automatische Reaktion auf Todesfälle. Sie setzt eine innere Bindung an den Verstorbenen voraus. Wo diese fehlt, mag jemand zwar an einer Bestattungszeremonie oder einem Trauerritual teilnehmen, ohne jedoch innerlich davon berührt zu werden. Zum Geflecht enger sozialer Beziehungen, bei denen Bindung und Anteilnahme unterstellt werden, zählt heute vor allem die Kleinfamilie, zählen Freundschaften und Partner35

schaften. Je nach der emotionalen Nähe des Einzelnen zum Verstorbenen wird zwischen verschiedenen Intensitätsgraden des Kummers und des Leidens differenziert.1 Trauer ist in hohem Maße kulturabhängig, je nach Gesellschaft, kultureller Tradition und Epoche variiert das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten wie auch die Vorstellung darüber, wie sich der Übergang vom Diesseits ins Jenseits vollzieht und was vonseiten der Zurückgebliebenen getan werden muss, um den Verstorbenen ihr Los zu erleichtern. In vormodernen Kulturen wurde nicht nur dem um den Verlust eines nahen Angehörigen Trauernden für einen variablen Zeitraum ein Sonderstatus zuerkannt, bevor man ihn erneut in die Gemeinschaft der Lebenden aufnahm, sondern man ging analog davon aus, dass auch die Verstorbenen sich auf eine längere Wanderschaft begeben und dafür entsprechend versorgt werden müssten, bis sie im Reich der Toten anlangten.2 Heute lässt man es überwiegend bei der Fürsorge für die Überlebenden bewenden. Zu ihrer Entlastung angesichts der Konfrontation mit einer veränderten Lebenssituation kam früher in Europa Trauerbräuchen und -ritualen eine wichtige Funktion zu. Wie die meisten Autoren mit Bedauern feststellen, werden diese Konventionen im Zuge der Säkularisierung und der Individualisierung des Lebensstils teils immer lockerer gehandhabt, teils gänzlich vernachlässigt.3 An ihre Stelle sei eine Privatisierung der Trauerzeremonie getreten; ihre Ausgestaltung erfolge nach den Jenseitsvorstellungen und dem Geschmack der Betroffenen.4 Von der gesellschaftlichen Unterstützung seien nur die psychologischen Beratungsdienste übrig geblieben, die der Einzelne in Anspruch nehmen kann, wenn er sich durch den Bruch in seinem Leben seelisch überfordert fühlt. Diese Einschränkung mag im Großen und Ganzen zutreffend sein, bezieht sich aber nur auf den weitge1 2 3

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Ehegatte, Eltern-Kind-Beziehung, Geschwister usf.; Schmied, Sterben und Trauern, S. 135 ff. Gennep, Übergangsriten, S. 143 ff. Michaels, Trauer und rituelle Trauer, S. 12 f.; Assmann, Die Lebenden und die Toten, S. 28; Marris, Loss and Change, S. 29 f.; Schmied, Sterben und Trauern, S. 139 ff. Roth, Das letzte Hemd ist bunt.

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hend säkularisierten europäischen Raum. Manches spricht dafür, dass sich in anderen Großregionen, ungeachtet der Modernisierung, am jeweiligen Umgang mit jüngst Verstorbenen und generell den Toten nicht allzu viel geändert hat.

Der Trauerprozess Über den seelischen Zustand von Menschen, die von einem Todesfall in ihrem engsten sozialen Umfeld betroffen sind, berichten u.a. Peter Marris und Gerhard Schmied. Marris, der mit Witwen, die kurz zuvor ihren Gatten verloren hatten, sprach,5 stellte fest, dass sie sich in ihrem Kummer zunächst oft weigerten, den Verlust zu akzeptieren. Unter einem Schock stehend, verfielen sie teils in einen Zustand der Starre und Apathie, teils konnten sie keine Ruhe, auch keinen Schlaf finden, sondern bewegten sich pausenlos. Sie klagten über fehlenden Appetit, ständiges Kopfweh und andere körperliche Schmerzen. Außerstande, sich auf die neue Situation einzustellen, verhielten sie sich so, als ob ihr Mann noch lebte, warteten abends auf seine Heimkehr, bereiteten ihm eine Mahlzeit und so fort.6 Auch nachdem der erste Schock vorüber sei, halte ihre instabile, mit widersprüchlichen Empfindungen und Assoziationen verbundene Gemütsverfassung an. Das Bestehen darauf, der Verstorbene sei noch präsent und fiktive Dialoge mit ihm würden jäh durch die schmerzhafte Erkenntnis abgelöst, ihn für immer verloren zu haben. Diese Erkenntnis und die zunehmende Einsicht, sich der neuen Realität stellen zu müssen, werden als Verrat an dem Toten empfunden, der rückblickend idealisiert wird. Die Überlebende schwelgt in Erinnerungen, zelebriert einen Kult um Dinge, die dem Toten gehörten, klammert sich an die Vergangenheit, während ihr die Zukunft und das Leben überhaupt ohne den verlorenen Partner sinnlos erscheint. Selbstmordgedanken sowie der Rückzug aus

5 6

Marris, Widows and their Families. Ebd., S. 13 ff.

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allen sozialen Beziehungen seien nicht seltene Folgen des Trauerzustandes.7 Nach Schmied liegt in der Tat nicht nur die Krankheitshäufigkeit, sondern auch die Mortalitätsrate, einschließlich der Selbstmorde, bei vor Kurzem Verwitweten um ein Mehrfaches höher als bei der Kontrollgruppe Gleichaltriger.8 Schmied bestätigt damit eine Erkenntnis, zu der Emile Durkheim aufgrund statistischer Berechnungen schon im 19. Jahrhundert gelangt war.9 Unter den typischen, an den Kummer über den Tod eines nahen Angehörigen geknüpften seelischen Reaktionen hebt Schmied die folgenden hervor: – Depression, Gefühle der Leere und Hoffnungslosigkeit; – Angst (nach Realisierung des Verlustes) vor allem Möglichen, u.a. vor neuer Verantwortlichkeit, auch vor dem eigenen als anormal empfundenen Zustand; – Aggression, die sich gegen alle, die am Tod schuld sein könnten, Verwandte, Ärzte, Schwestern, Gott, unter Umständen auch den Toten selbst, von dem man verlassen wurde, richtet; – Einsamkeit, das Gefühl allein gelassen zu sein; – Schuldgefühle, etwa darüber, nicht alles getan zu haben, um den Tod zu verhindern, oder dem Verstorbenen, während er noch lebte, genug Liebe entgegengebracht zu haben.10 Man ist sich in der Literatur einig, dass Kummer und Trauer keine Konstanten sind, sondern dynamische Größen, die sich in sukzessiven Phasen verändern und entwickeln.11 Diese Phasen sind auch kulturell determiniert, wie lange sie dauern, hängt von der jeweiligen Gesellschaft, aber auch vom Einzelnen ab. Es können Wochen, Monate, eventuell auch Jahre vergehen, bevor die seelischen Wunden, die der Tod eines Menschen, mit dem man eng verbunden war, geschlagen hat, heilen. Traditionelle Gesellschaften setzten zeitliche Zäsuren, etwa die Sechswochenfrist oder das »Trauerjahr«, welche den Betrof7 8 9 10 11

Ebd., S. 17 ff. Schmied, Sterben und Trauern, S. 149. Durkheim, Der Selbstmord, S. 186 f., 211. Schmied, Sterben und Trauern, S. 150; s.a. Marris, Widows and their Families, S. 22. Assmann, Die Lebenden und die Toten, S. 30.

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fenen bei der Orientierung helfen sollten, ihnen einerseits einen Trauerkodex auferlegten, jedoch andererseits nach Ablauf bestimmter Fristen die Möglichkeit einräumten, stufenweise in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Hinsichtlich der psychischen Verfassung des Trauernden wird häufig eine Einteilung in drei Hauptphasen vorgeschlagen:12 – Am Anfang steht eine relativ kurze Phase des Schocks und der Apathie; der Überlebende weigert sich, das Faktum des Todes anzuerkennen, fährt fort, sich so zu verhalten, als ob der Verschiedene noch lebte. – Ihr folgt eine längere Phase innerer Auflösung und Desorganisation, in welcher die Mehrzahl der bereits erwähnten, teils widersprüchlichen Stimmungen und Verhaltensweisen zum Tragen kommen: die intensive Beschäftigung mit dem Toten und seinem Nachlass, häufige Tränen und Verweigerungshaltung, Wortkargheit und soziales Rückzugsverhalten einerseits, die ständige Wiederholung bestimmter Vorkommnisse und Vorstellungen andererseits, Gewichtsabnahme, Gesundheitsprobleme, Fixierung auf die Vergangenheit, Nichtwahrhabenwollen der neuen Situation. – Die dritte Phase wird als Reorganisationsphase bezeichnet. Der Überlebende löst sich allmählich von der Person des Verstorbenen, zu der nunmehr die Beziehungen auf einer imaginären Ebene neu geknüpft werden. Die Trauersymptome lassen nach, das soziale Beziehungsnetzwerk wird reaktiviert, der mit dem Schicksal Hadernde kehrt wieder in die Welt der Lebenden zurück. Die Abfolge der Phasen suggeriert die Vorstellung, es gäbe gleichsam einen normalen Verlauf des Trauerprozesses, der mit ihm eng verbundene Schmerz und Kummer könne (und sollte), einer Krankheit gleich, geheilt und überwunden werden, um dem Trauernden ein Weiterleben zu ermöglichen. Tatsächlich unterscheidet die Mehrzahl der Autoren, angefangen bei Sigmund Freud,13 eine normale und eine von Freud Melancholie genannte pathologische Form der Trauer. Bei 12 13

Schmied, Sterben und Trauern, S. 148 ff.; Marris, Loss and Change, S. 29. Freud, Trauer und Melancholie, S. 429.

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beiden spielt der konservative Impuls eine zentrale Rolle. Bevor ich der Frage nachgehe, was es heißt, den Trauerzustand zu bewältigen, bedarf dessen Ambivalenz noch einer eingehenderen Betrachtung.

Die Ambivalenz des Trauerzustandes und seine Bewältigung Die widersprüchlichen Gefühle und Äußerungen, welche für die im Zentrum des Trauerzustandes stehende »Desorganisationsphase« bezeichnend sind, kommen nicht von ungefähr. Sie sind Ausdruck eines strukturellen Dilemmas, mit dem der oder die Trauernde konfrontiert ist. Auf diesen Strukturkonflikt ist immer wieder hingewiesen worden. Bereits Arnold von Gennep sprach von einem Grenz- und Zwischenzustand, bei dem sich Trennungs- und soziale Reintegrationsrituale miteinander vermengen.14 Freud stellte dem Sichsträuben gegen das Abziehen der Libido vom geliebten Objekt, dem Toten, den Realitätssinn gegenüber, der auf Dauer meist die Oberhand behielte.15 Und Jan Assmann wies auf den Gegensatz zwischen dem kollektiven Gedächtnis, bei dem die Vergangenheit im Griff der erinnernden Gegenwart stehe, einerseits und dem Tod als Bruch und Störung andererseits hin, der jedes einfache »Weitermachen« unmöglich mache, da nunmehr die Gegenwart im Griff der Vergangenheit stehe.16 Aus einer sozialpsychologischen Perspektive hat Marris das Dilemma von Tod und Trauer besonders deutlich herausgearbeitet. Er bringt es auf den Nenner, dass bei Trauernden zwei gegensätzliche Anforderungen miteinander in Konflikt lägen, eine, die sich auf die Vergangenheit, und die andere, die sich auf die Zukunft bezieht.17 Ihre Gleichzeitigkeit, ihr Nebeneinander, mache die Gegenwart unerträglich und sei die Quelle von Verwirrung und eines Schmerzgefühls eigener Art. Der konservative Impuls, der dem Festhalten an der Ver14 15 16 17

Gennep, Übergangsriten, S. 143 ff. Freud, Trauer und Melancholie, S. 430. Assmann, Die Lebenden und die Toten, S. 17. Marris, Loss and Change, S. 29.

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gangenheit entspricht, laufe letztlich auf die Weigerung hinaus, die neue Situation zu akzeptieren und den Toten gehen zu lassen. Man spricht mit ihm, fährt im Geiste fort, das Leben mit ihm zu teilen, hütet und pflegt seine Hinterlassenschaften. Andererseits entwickelt der Hinterbliebene eine Scheu, ständig mit dem Trennungsschmerz konfrontiert zu werden, wird dessen müde, stets aufs Neue Kondolenzen entgegenzunehmen, ist der allzu lange sich hinziehenden Abwicklung der Erbschaftsangelegenheiten überdrüssig und versucht der eigenen Lähmung Herr zu werden, um wieder beruflich einsatzfähig zu sein. Das auf die Zukunft gerichtete Realitätsprinzip fordert seinen Tribut, legt eine Sublimierung der Leiden und die allmähliche Rückkehr zu einem aktiven Leben nahe. Der Kummer über den Verlust eines nahen Angehörigen ist die Kehrseite der innigen Zuneigung zu dem Toten. Doch Marris lässt keinen Zweifel daran, dass die tiefe Betroffenheit des Trauernden nicht zuletzt daher rührt, dass er sich aufgrund des Todes der geliebten Person in seinem Selbstverständnis, letztlich in seiner Identität bedroht fühlt.18 Er stützt sich dabei auf seine Witwenuntersuchung. Den Ausschlag für das Ausmaß der Trauer und Verwirrung habe weniger die affektive Verbundenheit mit dem Verstorbenen als der Grad der Abhängigkeit von ihm gegeben. Je größer nicht nur die seelische, sondern auch die äußerliche materielle Abhängigkeit, das Angewiesensein auf den anderen gewesen seien, desto grundsätzlicher hätten sich die Witwen durch sein Hinscheiden in ihrer Existenz infrage gestellt gesehen. An dieser Stelle sei zur Bestätigung der Marris’schen These ein Beispiel aus meiner eigenen Forschungserfahrung eingefügt. Es bezieht sich auf die letzte argentinische Militärregierung (1976–1983), die zur »Reinigung« des Landes von kommunistischen Umtrieben einen Vernichtungsfeldzug gegen die eigenen Bürger anstrengte, dem rund 20 000 Jugendliche und junge Erwachsene zum Opfer fielen. Um die Weltmeinung nicht durch spektakuläre Hinrichtungen gegen sich aufzubringen, bediente sich das Regime der Methode des Verschwindenlassens. Sonderkommandos drangen, überwiegend in Nacht- und 18

Ebd., S. 32 ff.

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Nebelaktionen, gewaltsam in Privatwohnungen ein, nahmen »Verdächtige« fest und entführten sie. Sie wurden eingesperrt und schließlich erschossen oder auf andere Weise umgebracht und in Massengräbern verscharrt. Die eingeschüchterte argentinische Öffentlichkeit ahnte, dass diese Verbrechen inmitten der Gesellschaft stattfanden, doch Genaueres wussten nur dem Regime nahestehende Eingeweihte. Bezeichnenderweise gingen in dieser Atmosphäre allgemeiner Lähmung, Angst und Verunsicherung die ersten Widerstands- und Protestaktionen weder von den verbliebenen Resten der Parteien noch von Berufsverbänden (etwa denen der Rechtsanwälte und Richter) oder Institutionen wie der Kirche oder von Menschenrechtsgruppen aus, die alle sahen, wie das Recht mit Füßen getreten wurde. Vielmehr waren es die Mütter oder Ehefrauen der Verschwundenen, überwiegend katholische Hausfrauen aus dem unteren Mittelschichtmilieu, die begannen, sich regelmäßig auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast zu versammeln, um nach dem Verbleib ihrer Kinder und Männer zu fragen.19 Versuche der Wachen, sie auseinanderzutreiben und zu verscheuchen, fruchteten nichts, ihre Zahl nahm im Gegenteil ständig weiter zu. Auf die Drohungen der Polizisten, sie niederzuknüppeln, erwiderten sie gleichmütig, Gewalt und Tod könnten sie nicht mehr schrecken, das Leben ohne ihre Kinder bzw. Ehemänner habe für sie seinen Sinn verloren. Wie lässt sich der mentale Konflikt zwischen der Fixierung auf die Vergangenheit und dem Zwang, sich der Zukunft zuzuwenden, bei den Hinterbliebenen eines kürzlich Verstorbenen lösen? Eine Patentlösung gibt es offenbar nicht, »the conflict must be worked out«, wie Marris mehrfach betont.20 Gleichwohl gibt er einige Hinweise, wie der Trauerprozess aus seiner Sicht am besten zu bewältigen ist. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Zeiteinteilung, den widersprüchlichen Anforderungen sollte in einer bestimmten zeitlichen Reihenfolge entsprochen werden. Da unmittelbar nach dem Tod das Verlusterlebnis alles überschattet, sei es nur natürlich, dass es das Seelenleben bestimme und alles andere zurückdränge. Erst allmählich 19 20

Duhalde, El estado terrorista argentino, S. 256 ff. Marris, Loss and Change, S. 27, 31, 32.

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sollte es durch das Realitätsprinzip, das Sicheinstellen auf die neue Situation, abgelöst werden. Die Missachtung dieser Reihenfolge oder die dauerhafte einseitige Fixierung auf eine der beiden Trauerkomponenten könnten bleibende psychische Schäden anrichten. Auf die verhängnisvollen Folgen eines Verharrens und Sichverbohrens in einen trauerbedingten Leidenszustand hat bereits Freud in seinem Aufsatz über Melancholie aufmerksam gemacht.21 Eine noch größere Gefahr dürfte in unserer hektischen Zeit von der gegenteiligen Reaktion einer größtmöglichen Verkürzung der Trauerspanne ausgehen, um sich möglichst rasch wieder ins soziale und berufliche Leben eingliedern zu können. Was diesen Punkt betrifft, so ist sich Marris mit den meisten anderen Autoren einig: Das Hinausschieben oder die Unterdrückung bzw. Verdrängung des Trauerimpulses sind wenig sinnvolle Reaktionen, da dieser ein integraler Bestandteil der Verarbeitung des Verlustes sei. Der Bruch, so hart er den Einzelnen auch treffe, müsse ohne Wenn und Aber aufgenommen, der damit verbundene Schmerz akzeptiert werden, um dem Betroffenen die Chance zu eröffnen, später wieder in ein normales Leben zurückzukehren. »Der Tod muss anerkannt werden, damit das Leben weitergehen kann.«22 Hier lag im Übrigen aus einer psychologischen Perspektive der Hauptfehler und -irrtum der argentinischen Militärregierung bei ihrer Vernichtungskampagne gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung. Das »Verschwindenlassen« der als subversiv eingestuften Feinde bedeutete keineswegs, dass die Erinnerung an diese aus dem öffentlichen und privaten Gedächtnis gelöscht wurde. Im Gegenteil: Da ihr Tod nie offiziell registriert wurde, es keine sichtbare und besuchbare Grabstätte gab, klammerten sich die hinterbliebenen Mütter und Ehefrauen an die verzweifelte Hoffnung, mittels ihrer Protestdemonstrationen die Verschwundenen wieder aufspüren, zumindest etwas über ihren Verbleib in Erfahrung bringen zu können.

21 22

Freud, Trauer und Melancholie. Marris, Loss and Change, S. 31.

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Die Anerkennung des mit dem Hinscheiden vollzogenen Bruchs bedeutet nicht, dass die Verbindung zu dem Toten nunmehr abreißt, sie wird nur auf eine andere Ebene transponiert. Alles, was an ihm als wertvoll und erinnerungswürdig erachtet wird, wird bewahrt und weitergegeben. Dies geschieht teils konkret, in Form seiner materiellen Hinterlassenschaft, teils mehr in einer symbolisch abstrakten Form. Gedächtnisfragmente werden unter Umständen umgemodelt und mit neuen Inhalten gefüllt, was zum einen die Überwindung des Kummers erleichtern und zum anderen dazu beitragen kann, den Verlust für das Weiterleben der Hinterbliebenen nutzbar zu machen. Im Schöpfen neuer Kräfte für die Bewältigung der Zukunft und der Stiftung zusätzlicher sozialer Bindungen sehen nicht wenige Autoren den eigentlichen Sinn von Trauer und Totengedenken. So merkt Assmann zu den Toten- und Trauerriten in früheren Kulturen an, ihre Hauptfunktion habe darin bestanden, kraft ihrer humanisierenden und distanzschaffenden Potenz potenziell gefährliche Totengeister in hilfreiche und versöhnliche Ahnengeister umzuwandeln.23 Besonders eloquent vertritt diesen Standpunkt Erich Roth in einer seiner Schriften über die neue Sterbekultur.24 Dort wird von der Trauer als Schutz und Kraft eigener Art gesprochen, die das Leben bereichere, Lebensweisheit, Geduld und die Fähigkeit, aus Erinnerungen zu lernen, vermittle.25 An anderer Stelle ist von ihr als einer wertvollen Veränderungsphase die Rede.26 Roths Buch ist im Grunde ein einziges Plädoyer für die Transformation eines vergangenheitsorientierten Trauerimpulses in eine positive, für die Meisterung der Zukunft unentbehrliche Kraft: »Der Trauerprozess lehrt uns, dass der Tod zum Leben gehört, dass wir uns erinnern müssen, um vergessen zu können, und dass wir ohne Vergangenheit keine Zukunft haben.«27

23 24 25 26 27

Assmann, Die Lebenden und die Toten, S. 22. Roth, Das letzte Hemd ist bunt. Ebd., S. 56 ff. Ebd., S. 59, 145. Ebd., S. 88.

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Trauer und konservativer Impuls Trauer als das Wissen um Tod und Sterblichkeit, als »Preis« der Doppelbeziehung von Abhängigkeit und Anhänglichkeit, die uns an andere bindet, gibt es nur beim Menschen. Toten- und Trauerrituale sind vermutlich erstmals während des mittleren Paläolithikums entstanden. Ihr Ursprung liegt in der beginnenden Sesshaftigkeit, der Herausbildung von Besitz und Besitzansprüchen sowie, eng damit verbunden, von Erbschaftsregeln. Möglicherweise markieren sie den Beginn der Entstehung von Kultur überhaupt.28 Die Intensität des durch Todesfälle erzeugten Kummers und Trennungsschmerzes zum einen, deren Alltäglichkeit zum anderen, machen aus ihnen einen guten Testfall für die Funktionsweise des konservativen Impulses. Bezeichnend ist, dass sie widerstreitende Gefühle und Verhaltensweisen auslösen, was wiederum damit zusammenhängt, dass sie als Einbuße empfunden werden, jedoch zugleich irreversibel sind. Während andere Fälle beschleunigten, einschneidenden sozialen Wandels denkbar sind, die eindeutig abgelehnt oder befürwortet werden, findet im Todesfall bei Individuen wie auch bei sozialen Kollektiven eine Aufspaltung des Energie- und Kräftepotenzials statt: Ein Teil weigert sich, den Verlust zu akzeptieren, und klammert sich an die Vergangenheit, der andere Teil findet sich mit der nicht mehr rückgängig zu machenden Veränderung ab und stellt sich auf sie ein. Das Ringen der gegensätzlichen Antriebskräfte liefert aufschlussreiche Einblicke in das Gewicht und die Wirkung des konservativen Impulses. Außerdem kommt dadurch die Bedeutung einer dritten wichtigen, im Widerstreit der Gefühle vermittelnden Variable, nämlich des Zeitfaktors, in den Blick. Eine erste Schlussfolgerung, die sich aufdrängt, ist die Bestätigung der Annahme, dass es im Hinblick auf die Wirkweise des konservativen Impulses keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Individuen und größeren sozialen Einheiten gibt. Etliche Autoren beziehen sich in ihren Beispielen wechselweise auf Einzelpersonen und soziale 28

Michaels, Trauer und rituelle Trauer, S. 8; Assmann, Die Lebenden und die Toten.

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Gruppen oder sogar ganze Gesellschaften.29 Auf Naturkatastrophen, etwa Vulkanausbrüche und Tsunamis, Genozide oder sonstige Massenverbrechen reagierten viele Betroffene ganz ähnlich wie Einzelpersonen.30 Anfangs überwiegen Schock und Lähmung, dann stellen sich intensiver Schmerz, vermischt mit Wutgefühlen, ein, es folgen Schuldgefühle (warum habe ich überlebt?), teils auch Verdrängungsreaktionen, längerfristig bleibt eine gesteigerte seelische Verwundbarkeit und Selbstmordgefahr. Insgesamt kann sich die Tatsache, dass viele von demselben unseligen Schicksalsschlag betroffen sind, steigernd oder eher abschwächend auf die jeweilige emotionale Befindlichkeit auswirken, gibt dieser jedoch, verglichen mit dem Gemütszustand Einzelner, nicht eine grundsätzlich andere Färbung. Ein weiterer bemerkenswerter Befund ist, wie entschieden die meisten Autoren zwischen einem normalen, »gesunden«, und einem »pathologischen« Trauerimpuls differenzieren. Eine solche Unterscheidung wird auf dem weit komplexeren Terrain gesellschaftlichen disruptiven Wandels, wie wir noch sehen werden, viel schwerer fallen. Bezogen auf Tod und Trauer kann man mit dem konservativen Impuls nicht beliebig umspringen. Er entfaltet mögliche positive Wirkungen nur innerhalb bestimmter Grenzen. Zwei Reaktionen liegen deutlich außerhalb dieser Grenzen und gelten deshalb als »Fehlanpassung«. Die eine besteht in der Unfähigkeit, sich von der Vergangenheit, einem Zustand, der nicht mehr der aktuellen Realität entspricht, zu lösen; der andere in der gegenteiligen Tendenz, den Trauerzustand zu verkürzen oder zu überspringen, um möglichst rasch der durch den Todesfall geschaffenen neuen Situation gewachsen zu sein. Während die Fixierung auf eine vermeintlich erfülltere Vergangenheit mit einem wachsenden Realitätsverlust bezahlt werden muss, rächt sich der allzu eilfertige Übergang nach einem Trauerfall zur Tagesordnung dadurch, dass der nicht aufgearbeitete konservative Impuls die Betreffenden zu einem späteren Zeitpunkt einholt. Auf solche Spätfolgen eines rasch beiseitegeschobenen konservativen Bremsmechanismus werden wir noch häufiger stoßen. 29 30

Mitscherlich/Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Schmied, Sterben und Trauern, S. 158 f.

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Die einschlägigen Studien zeigen die im Umgang mit Tod und Trauer zu beachtenden Fehlreaktionen und Fallen mehrfach auf, gilt es jedoch, genauer zu erklären, was eine gelungene Bewältigung der durch den Todesfall hervorgerufenen Persönlichkeitskrise ausmacht, lassen sie einen weitgehend im Stich. Meistens läuft es auf die paradoxe Einsicht hinaus, Voraussetzung der Gesundung von dem krankheitsähnlichen Trauerzustand sei das Ausleben von Leid und Kummer, das Eingeständnis der durch das Hinscheiden der geliebten Person entstandenen Lücke, das Sichbekennen zum daraus resultierenden Schmerz. Doch was heißt »Gesundung«? Dahinter steht offenbar die Vorstellung, ein gewisses Sichgehenlassen, ein Gewährenlassen hinsichtlich der durch den Verlust aufgewühlten Emotionen sei für den Einzelnen notwendig, um wieder zu seinem inneren Gleichgewicht zurückzufinden. Denn nur auf diese Weise lasse sich eine Kontinuität zwischen dem endgültig der Vergangenheit angehörenden Leben mit dem Verstorbenen und den neu sich stellenden Aufgaben herstellen. Auf einer abstrakteren Ebene könnte man in diesem Zusammenhang von Identitätswahrung und Identitätsmanagement sprechen. Identität ist ein janusköpfiger Begriff, der sowohl eine Seite des auf die Vergangenheit gerichteten historisch gewachsenen Selbstverständnisses als auch eine Komponente des Bewährungszwangs angesichts einer offenen Zukunft aufweist. Aufgabe des Identitätsmanagements im hier intendierten Sinn wäre es, die beiden miteinander zu versöhnen und zu einer Synthese dergestalt zusammenzuführen, dass in die Zukunftsgestaltung sowohl des Einzelnen als auch sozialer Kollektive wichtige, in der Vergangenheit gesammelte Erfahrungen eingehen und die Zukunft dadurch bereichern.

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Exil und Diaspora Migration, freiwillig oder unfreiwillig, in Gruppen oder als Einzelner, ist ein uraltes Phänomen. Die Geschichte ist voll von der Vertreibung ganzer Völker, der Juden, der Indianerstämme in Nord- und Südamerika, der Armenier, der Palästinenser und vieler anderer. Die politische Verbannung unliebsamer Staatsmänner, auch kritischer Dichter, war während der ganzen Antike üblich und wurde in Lateinamerika noch während des 19. Jahrhunderts praktiziert. In neuerer Zeit wurde die Emigration aus politischen, teils auch religiösen Gründen zunehmend durch Wanderungsbewegungen abgelöst, hinter denen sozioökonomische Motive stehen. Während vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert Europa einen Großteil seines Bevölkerungsüberschusses an dünn besiedelte Regionen in Übersee (Nord- und Südamerika, Australien) abgab, hat sich der Trend inzwischen umgekehrt. Seit einigen Jahrzehnten drängen politische Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge aus den ehemaligen Kolonien, enttäuscht über die dort herrschende anhaltende Armut und die oft chaotischen politischen Verhältnisse, in das immer noch als wohlhabend geltende Europa. Auch ist bereits seit Längerem bekannt, dass die »Vorwärtsbewegung« der Wanderung regelmäßig, wenngleich unterschiedlich stark, von einer »Rückwärtswendung« hin zur verlassenen Heimat begleitet ist, die sich in der Rückschau vermehrter Wertschätzung und Anhänglichkeit erfreut. Besonders deutlich wurde der Zusammenhang von einer durch den Wanderungsprozess ausgelösten Verunsicherung und der Entstehung eines heimatbezogenen Nationalismus von Benedict Anderson herausgearbeitet: »Man könnte dazu neigen, die Zunahme von nationalistischen Bewegungen und ihre unterschiedliche Kulmi48

nation in erfolgreiche Nationalstaaten als ein Projekt der Rückkehr aus dem Exil zu begreifen«, oder noch schärfer: »Exil ist die Wiege des Nationalismus.« Die nationalistischen Strömungen, welche die europäische Landkarte seit 1919 verändert hätten, seien meist von Zweisprachlern angeführt worden, »Deutschen«, die nicht wirklich deutsch, »Italienern«, die nicht wirklich italienisch, »Spaniern«, die nicht wirklich spanisch waren. Demselben Muster begegne man heute bei den jungen Nationen Afrikas und Asiens.1 Um diese eigentümlich gesteigerte Besinnung auf die eigene Herkunft zu verstehen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass das freiwillige oder unfreiwillige Verlassen der Heimat, um in einem anderen Land sein Los zu verbessern, für Einzelne wie soziale Kollektive eine besondere Art der Herausforderung darstellt. Auf diese gibt es wie bei jeder Herausforderung mehrere mögliche Antworten.2 Vereinfacht lassen sich drei Hauptreaktionen unterscheiden: Die Migranten passen sich entweder möglichst reibungslos der Empfängergesellschaft an, was erhebliche mentale Reserven dieser gegenüber nicht ausschließt (»Assimilation«).3 Sie machen wesentliche Zugeständnisse an sie, bestehen jedoch darauf, zentrale Elemente des eigenen Glaubens- und Normensystems beizubehalten und gegebenenfalls deren explizite Anerkennung durch das Aufnahmeland zu fordern (Integration unter Vorbehalt). Oder aber sie lehnen die Aufnahmegesellschaft und ihren Lebensstil im Namen der eigenen Tradition und/oder Glaubensüberzeugung in Bausch und Bogen ab (traditionalistische bzw. ultraorthodoxe Position). Nicht selten wechseln Migranten, die zunächst alles daran gesetzt hatten, sich der Aufnahmegesellschaft anzugleichen, später ins Lager der Fundamentalisten über und werden zu erbitterten Gegnern des anfangs von ihnen bewunderten Gastlandes, während Einstellungswechsel im entgegengesetzten Sinn eher die Ausnahme sind.

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Anderson, Exodus, S. 316, 319. Waldmann, Radikalisierung in der Diaspora, S. 29 ff.; Cesari, L’Islam à l’épreuve de l’Occident, S. 69 f. Rumbaut, Paradoxes (and Orthodoxies) of Assimilation.

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Welche Option bevorzugt wird, hängt in starkem Maße von der jeweiligen Gesamtkonstellation ab: Die klassischen Einwanderungsländer, etwa die USA , Kanada, Argentinien und Australien, waren prinzipiell offen für Zuwanderung, was die Eingliederung der Migranten in die neue Gesellschaft erheblich erleichterte. Europa, selbst ursprünglich Auswanderungskontinent, bleibt trotz äußerlich zunehmender Akzeptanzbereitschaft der aus ärmeren Regionen zuströmenden, Sicherheit und ein besseres Auskommen suchenden Menschen eine Art Festung, die dem Bevölkerungsandrang von außen reserviert gegenübersteht. Aufseiten der Migranten ist von Bedeutung, ob sie demselben Kulturkreis wie die Aufnahmegesellschaft angehören oder sich in ihrer Hautfarbe oder in religiöser Hinsicht von ihr unterscheiden. Wenn religiöse Differenzen ins Spiel kommen, wächst ihnen regelmäßig im Spannungsverhältnis zwischen Einheimischen und Zugewanderten eine Schlüsselbedeutung zu. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung steht die ab den späten 1960er, frühen 1970er Jahren einsetzende Migration von Türken in die Bundesrepublik Deutschland. Es handelt sich um eine in die Millionen gehende Bevölkerungsgruppe, die ziemlich gründlich untersucht worden ist. Im Hinblick auf den konservativen Impuls erscheint es zweckmäßig, eine Unterteilung zwischen den Einwanderern selbst und den Folgegenerationen der bereits in Deutschland Geborenen oder Aufgewachsenen vorzunehmen. Ihre Situation unterscheidet sich nicht unerheblich voneinander: Die Migranten selbst kamen mehr oder weniger freiwillig, ihre Kinder und Kindeskinder sehen sich dagegen mit dem Schicksal einer doppelten nationalen Zugehörigkeit konfrontiert, das sie sich nicht ausgesucht haben. Die Eltern können eine funktionale Trennung ihrer Lebenssphären in einen primär am Gastland ausgerichteten Sektor der Arbeitswelt und ihrer restlichen Existenz, die stark von der türkischen Tradition bestimmt ist, durchführen; für die in Deutschland aufgewachsenen und dort zur Schule gegangenen nächsten Migrantengenerationen ist dies nicht mehr möglich, da ihre Verwurzelung im Gastland bereits weit tiefer geht. Schließlich trägt sich die erste Migrantengeneration regelmäßig mit dem Gedanken, eines Tages in die Türkei zurückzukehren – eine Vorstellung, die bei den Folgegenerationen auf weit größere Vorbehalte stößt. 50

Werner Schiffauer, dem ich hier folge, hat vorgeschlagen, die Situation der Zuwanderer selbst als Exil zu bezeichnen, während für die weiteren Migrantengenerationen, soweit sie die Bindung an die verlassene Heimat aufrechterhalten, das Konzept Diaspora angemessener sei.4 Exil beziehe sich in erster Linie auf das Problem, in der Fremde zu leben und den fehlenden unmittelbaren Kontakt mit der zurückgelassenen Heimat zu verarbeiten. Dagegen rücke bei Diasporamitgliedern die Auseinandersetzung mit zwei Nationalitäten und Lebensweisen in den Vordergrund, der sie nicht mehr ausweichen könnten.

Exil Den Schmerz und die Überwindung, die es die Türken der ersten Migrantengeneration kostete, ihr Heimatland zu verlassen, lässt sich nur erahnen. Denn größtenteils waren es wenig lese- und schreibfreudige Männer aus der Unterschicht, die sich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre auf den Weg nach Deutschland machten, um dort zu arbeiten. Der Reise von Istanbul zum deutschen Zielort war nicht selten ein nicht minder einschneidender Wohnsitzwechsel aus einem Dorf in Anatolien in die Großstadt am Bosporus vorausgegangen. Oft reiste ein Elternteil nach Deutschland voran, der Rest der Familie folgte nach einiger Zeit. Für Kinder und Heranwachsende ist es regelmäßig ein besonders einschneidendes Erlebnis, aus ihrem vertrauten sozialen Umfeld herausgerissen und mit gänzlich veränderten Lebensbedingungen konfrontiert zu werden. Das lässt sich beispielsweise der Autobiografie von Eva Hoffman entnehmen, deren jüdische Eltern in den späten 1950er Jahren Polen verließen, um nach Kanada auszuwandern. Mochte für die Eltern der Trennungsschmerz durch die Aussicht auf eine bessere Zukunft teilweise aufgewogen werden, so kam für das 13-jährige Mädchen das Abgeschnittenwerden von den Stätten ihrer Kindheit und den eingespielten sozialen Beziehungen einer Katastrophe gleich. Jahrelang sträubte sie sich dagegen, die veränderte Situa4

Schiffauer, Vom Exil- zum Diaspora-Islam, S. 348 f.

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tion zu akzeptieren, und fuhr fort, in den Bildern und Erinnerungen ihrer Heimatstadt Krakau zu leben. »Ich bin steckengeblieben und mit mir die Zeit […], ich halte die Vergangenheit fest und sperre mich gegen die Zukunft. Zur Strafe lebe ich im Stau einer andauernden Gegenwart.«5 Ähnliches berichtete die als Kind nach Deutschland ausgewanderte Türkin Necla Kelek. Sie wurde vor Heimweh regelrecht krank, hasste ihre Eltern, die sie von Istanbul nach Deutschland »verschleppt« hatten, und sperrte sich monatelang in ihrem Zimmer ein. Über Jahre hinweg wurde sie von einem Gefühl des Ausgeliefertseins und der Trauer über den Verlust ihrer Heimat verfolgt.6 Nicht alle jugendlichen türkischen Migrantinnen und Migranten mögen das Abschiednehmen von der Welt ihrer Kindheit ähnlich hart empfunden haben. Doch denkt man etwa an die »gekauften Bräute«,7 jene 15-jährigen Mädchen, die ohne Vorwarnung und Vorbereitung von ihren in einem ländlichen anatolischen Milieu lebenden Eltern an einen in einer deutschen Großstadt lebenden türkischen »Bräutigam« veräußert wurden, so mag der Bruch und damit verbundene Persönlichkeitsschock kaum minder groß gewesen sein. Bei Türken, die als Erwachsene auswanderten, wurde der Trennungsschmerz über das Verlassen der Heimat regelmäßig durch die feste Absicht gedämpft, eines Tages wieder dorthin zurückzukehren. Nur die wenigsten waren ernsthaft gewillt, im Gastland Fuß zu fassen; die meisten betrachteten ihren Aufenthalt in Deutschland als eine zeitlich begrenzte Phase, in der es galt, möglichst große Ersparnisse zu machen, um in der Türkei einen Laden zu kaufen, ein Haus zu bauen oder die wirtschaftliche Lage in sonstiger Weise zu verbessern. Ob dieser Plan aufging, vor allem nachdem die meisten Türken, 1973 vor die Alternative gestellt, in ihr Mutterland zurückzukehren oder die ganze Familie nachkommen zu lassen, sich für Letzteres entschieden, steht auf einem anderen Blatt. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass allein die Vorstellung, die Türkei nicht für immer verlassen, sondern sich nur auf ein Provisorium eingelassen zu haben, den Aufenthalt in 5 6 7

Hoffman, Lost in Translation, S. 149. Kelek, Die fremde Braut, S. 84 ff. Ebd., S. 182 f.

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der Fremde erträglich machte. Zugleich verlieh sie allen Anpassungsbemühungen an das ungeliebte Gastland etwas Transitorisches, Vorläufiges. Im Wesentlichen beschränkten sich diese Bemühungen auf den Arbeitssektor und die Integration in das Wirtschaftsgeschehen, der Rest blieb ausgeklammert. Es ist bezeichnend für die meisten Migrantenfamilien, dass sie ihre Kinder anhielten, möglichst früh Geld zu verdienen, anstatt sie auf weiterführende Schulen zu schicken. Sie sollten das Ihre dazu beitragen, den Verbleib in Deutschland nach Möglichkeit zu verkürzen, und im Übrigen daran gehindert werden, sich allzu sehr mit der deutschen Lebensweise anzufreunden und zu »Deutschländern« zu werden. Deutschland und generell Europa waren für die Migranten der ersten Generation das Andere, eine Gegenwelt zu ihrer eigenen, und sollten es auch bleiben. Zentraler Bezugspunkt ihres Denkens und Trachtens war weiterhin die Türkei.8 Daraus ergaben sich Konsequenzen sowohl für ihre Beziehungen »nach außen«, zur deutschen Umwelt, als auch »nach innen«, in der Gestaltung der Binnenstruktur von Familien und Gemeinschaftsverbänden. Nach außen hin schotteten sich türkische Migrantenkolonien oft weitgehend von deutschen Nachbarschaftsvierteln ab und bauten eine eigene Infrastruktur mit auf muslimische Bedürfnisse abgestellten Läden, Cafés, Gebetshäusern und sonstigen Einrichtungen auf. Viele türkische Frauen, die fast nur mit ihresgleichen verkehrten, waren noch nach Jahren des Aufenthalts in Deutschland außerstande, sich leidlich in der Sprache des Gastlandes auszudrücken. Der Kontakt mit Deutschen blieb auf das Notwendigste beschränkt, Höhepunkt des Jahres war die sommerliche Ferienzeit, wenn man Deutschland den Rücken kehren und für einige Wochen in die türkische Heimat aufbrechen konnte.9 Was die Binnenstruktur türkischer Familien und Gemeinschaftsverbände angeht, so setzte man alles daran, die eng mit dem Islam verwobenen traditionellen Gebräuche und Normen der türkischen Gesellschaft, wie sie weiterhin im ländlichen Milieu gepflegt wurden, zu 8 9

Schiffauer, Vom Exil- zum Diaspora-Islam, S. 348. Kelek, Die fremde Braut, S. 224 ff.

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bewahren.10 Dazu zählten u.a. die unangefochtene Autorität des männlichen Familienoberhauptes, die strenge räumliche und symbolische Trennung der Geschlechter im Alltag, die prinzipielle Unterordnung der Frauen unter die Männer, eine strikte Gehorsamspflicht der Kinder gegenüber den Eltern, das Arrangement der Heirat durch die Eltern der künftigen Brautleute, die enge Verknüpfung der Jungfräulichkeit einer Tochter bis zu ihrer Eheschließung mit dem Ansehen und der Ehre der ganzen Familie und vieles mehr. Wenngleich partiell durchbrochen und geschwächt, erfuhren etliche dieser Regeln im Exil eine zusätzliche Verstärkung, vor allem mit der ab 1980 einsetzenden Re-Islamisierung der türkischen Migrantenkolonien. In der Tradition des einer aufgeklärten Moderne verpflichteten Kemalismus stehend, waren die türkischen Arbeitsmigranten zunächst meistens nicht sonderlich religiös. Auch türkische Frauen in Deutschland sah man nur selten ein Kopftuch tragen. Doch dann setzte, noch ehe eine vergleichbare Entwicklung in der Türkei in Gang kam, in den Migrantenkolonien eine islamische Renaissance ein. Die Annahme ist vermutlich nicht verfehlt, dass in der Rückbesinnung auf die eigenen religiösen Wurzeln eine Art Identitätsvergewisserung angesichts der Herausforderungen und Versuchungen lag, mit denen die Zuwanderer in der weitgehend säkularisierten Aufnahmegesellschaft konfrontiert waren. Wie eingangs erwähnt, kommt religiösen Differenzen in der Abgrenzung einer Migrantenpopulation von der einheimischen Bevölkerung häufig eine Schlüsselfunktion zu. Zusammen mit den hartnäckigen Bemühungen, an den eigenen Sitten und Gebräuchen festzuhalten, stellte die religiöse Wende einen teils unbewussten, teils bewussten Versuch dar, durch den Aufbau einer muslimischen Ersatzkultur in der Fremde all das zu kompensieren, was man in der Heimat zurücklassen musste.11 Manche gehen weiter und sehen in der Wiederbelebung durch Modernisierungsprozesse scheinbar überholter Mentalitäts- und Denkmuster eine Regression breiter Teile der in der Bundesrepublik

10 11

Schiffauer, Religion und Identität. Marquard, Kompensation, S. 339; Lübbe, Der Fortschritt und das Museum.

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ansässigen Türken.12 Doch das scheint mir eine übertriebene, am Kern des Problems vorbeigehende Interpretation der religiösen Renaissance zu sein. Gewiss gab es Migranten, etwa die Anhänger der Kaplan-Sekte, die, im Ausland lebend, gewissermaßen »von außen« den säkularisierten türkischen Staat in ein Kalifat zurückverwandeln wollten. Wie es auch Migrantinnen gab, die, durch den Ehemann von allen Außenkontakten abgeschnitten, in der Wiederentdeckung des traditionellen Glaubens eine Rechtfertigung ihrer trostlosen Existenz fanden und darüber entsprechend erleichtert waren. Doch verallgemeinern lassen sich diese Reaktionen nicht. Aufs Ganze gesehen erscheint es überzeugender, mit Schiffauer die Re-Islamisierung der türkischen Gemeinden in der Bundesrepublik nicht als einen Rückfall in vormoderne Einstellungen, sondern als eine Wende im religiösen Denken zu betrachten.13 Diese lässt sich stichwortartig als Abkehr von einer primär an einer äußerlichen Werkgerechtigkeit orientierten hin zu einer mehr gesinnungsethische Elemente in den Vordergrund stellenden Religiosität charakterisieren. Da bei dieser Akzentverschiebung Frauen oft eine Vorreiterrolle zukam, hatte sie innerfamiliär nicht selten eine subtile Umschichtung der Machtverhältnisse zur Folge. Für das allmähliche Eindringen gesinnungsethischer Argumente in den traditionell an äußerlichen Verhaltensweisen festgemachten türkischen Islam gab es zwei Gründe, die beide mit der Exilsituation zusammenhingen. Der eine war die Schwierigkeit, in einem neuen, weitgehend fremdbestimmten Kontext die religiösen Verpflichtungen, etwa die Einhaltung der Gebetszeiten während der Arbeit, immer buchstabengetreu zu erfüllen. Der gläubige Muslim sah sich gezwungen, über den Sinn bestimmter Regeln sowie darüber nachzudenken, ob man ihm auch in einer anderen Form gerecht werden könnte. Ein ähnlicher Zwang ging von der Auseinandersetzung mit säkularisierten Türken oder Deutschen, die bestimmte islamische Gebote, etwa das Tragen von Kopftüchern, kritisch infrage stellten, aus. Auch hier galt es, argumentativ sich selbst und den anderen 12 13

Kelek, Die fremde Braut, S. 253 f. Schiffauer, Religion und Identität.

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deutlich zu machen, welche übergeordneten Prinzipien und tieferen Überzeugungen hinter den rein äußerlich wirkenden Verhaltensvorschriften standen. Nicht von ungefähr setzte der Re-Islamisierungsschub erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ein, als durch den Nachzug der Angehörigen aus den zunächst als Einzelne nach Deutschland gekommenen Arbeitsmigranten in der Fremde lebende türkische Familien geworden waren. Denn damit stellte sich das Problem, nach welchen Grundsätzen das Familienleben zu gestalten sei, und vor allem, in welchem Geist die Kinder zu erziehen seien – beides Angelegenheiten, deren Regelung großenteils in weiblicher Hand lag. Den im türkischen Hinterland in totaler Abhängigkeit gehaltenen Frauen eröffnete die Emigration nach Deutschland eine doppelte Chance, sich der Vormundschaft durch den Ehemann wenigstens teilweise zu entziehen. Zum einen indem sie, wenn sie gleichzeitig mit dem Mann oder sogar allein arbeiteten, entscheidend zum Unterhalt der Familie beitrugen; zum anderen weil sie, indem sie mit größerer Konsequenz die Umstellung des Islam von einer die Werkgerechtigkeit betonenden zur gesinnungsethisch orientierten Religion betrieben, zur informellen Autoritätsperson in Glaubensfragen innerhalb der Familie aufstiegen. Beide Wege wurden von Migrantinnen genutzt, um ihren innerfamiliären Status aufzubessern.14 Eine echte Emanzipationschance bot sich allerdings erst den Türkinnen der zweiten und der folgenden Generationen.

Diaspora Insgesamt trug der Exilaufenthalt der ersten Generation von Türken in der Bundesrepublik die Züge eines großangelegten Experiments. Er stellte den Versuch der Arbeitsmigranten dar, mittels der Ansammlung von Kapital während eines zeitlich begrenzt gedachten Auslandsaufenthaltes die Grundlage für die Verbesserung der eigenen materiellen Lage im Heimatland zu schaffen. Ein Versuch, der, falls die Erwartungen nicht eingelöst wurden, zumindest theoretisch je14

Schiffauer, Religion und Identität.

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derzeit abgebrochen werden konnte und dessen psychische Kosten in Form des anhaltenden Trennungsschmerzes zumindest teilweise durch den Zusammenschluss mit in derselben Situation Befindlichen und den Aufbau einer Ersatzheimat in der Fremde ausgeglichen wurden. Für die folgenden Generationen der in Deutschland heranwachsenden Kinder und Kindeskinder der Migranten stellte und stellt sich die Situation wesentlich komplexer dar. Da sie in Deutschland ihre Kindheit verbringen, zur Schule gehen und Freundschaft mit deutschen Klassenkameraden schließen, ist es für sie nicht mehr »die Fremde«. Zugleich werden sie durch die ablehnende Haltung der Eltern gegenüber der Aufnahmegesellschaft, die darauf bestehen, dass türkisch die Familiensprache bleibt und türkische Traditionen weiter gepflegt werden, daran gehindert, sich reibungslos und kontinuierlich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Sie müssen, mit anderen Worten, mit zwei höchst unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaftssystemen zurechtkommen, sind sowohl Deutsche als auch Türken, und zugleich weder richtig das eine noch das andere. Eben diese Dualität und Ambivalenz geht in den Diasporabegriff ein. Früher relativ selten und selektiv gebraucht, hat die Diasporaliteratur im Zuge der Intensivierung transnationaler Wanderungsströme in jüngerer Zeit einen großen Aufschwung genommen.15 Eine der bekanntesten Definitionen stammt von Robin Cohen, der folgende Merkmale als typisch für Diasporagemeinschaften heraushebt:16 – Zerstreuung einer Ethnie aus einem Heimatland in zwei oder mehrere Regionen; – alternativ dazu die Emigration aus dem Heimatland, um Arbeit zu suchen oder zu einem anderen Zweck (etwa um Handel zu treiben); – die kollektive Erinnerung an das Heimatland, dessen Idealisierung; – Sorge um das Heimatland, Beitrag zu dessen Erhaltung und Entwicklung, eventuelle Rückkehrbewegung; 15 16

Waldmann, Radikalisierung in der Diaspora, S. 21 f. Cohen, Diaspora and the Nation-State.

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ethnisches Gruppenbewusstsein, das auf dem Bewusstsein der Andersartigkeit und einer gemeinsamen Vergangenheit beruht; – schwierige Beziehung zur Gesellschaft des Gastlandes; – Empathie und Solidarität mit Mitgliedern der gleichen Ethnie, die ebenfalls außerhalb des Gastlandes wohnen. Mitglieder von Diasporagemeinschaften sind, wie aus dieser Definition zu ersehen ist, regelmäßig mit einem doppelten Problem konfrontiert. Zum Ersten stellt sich ihnen die Identitätsfrage. Fühlen sie sich der alten, in geografische Ferne gerückten und gerade deshalb nostalgisch verklärten Heimat zugehörig oder der Aufnahmegesellschaft, in die sie auf vielerlei Weise hineinsozialisiert wurden und in der sie den größten Teil ihres bisherigen Lebens verbracht haben? Daneben gibt es noch weitere Optionen, etwa die Identifizierung mit das gleiche Schicksal teilenden Mitgliedern der Ethnie in anderen Ländern. Zweitens gibt es für Diasporaangehörige häufig ein Anerkennungsproblem, sie müssen die Erfahrung machen, dass sie in der Gastnation keineswegs als gleichberechtigte Bürger akzeptiert werden, sondern darum ringen müssen, dass sie respektiert, nicht als unterlegen und minderwertig behandelt werden.17 Zur Illustration des Identitätsproblems, das aus meiner Sicht das schwerwiegendere ist, sei die Aussage eines Türken der zweiten Generation wiedergegeben, der Mitglied der Organisation Milli Görüs¸ ist. Sie macht die zutiefst ambivalente Haltung vieler jüngerer Diasporamitglieder deutlich: »Ich habe sowohl hier [gemeint ist die Bundesrepublik, P. W.] wie in der Türkei Heimatgefühle. Mir stellt sich in erster Linie die Frage: aus welcher Welt trete ich aus und in welche Welt trete ich ein. Ich könnte zum Beispiel nicht sagen, dass ich aus der türkischen Welt von Milli Görüs¸ austrete, wenn ich mich in der deutschen Gesellschaft bewege, oder umgekehrt. Das ist für mich ein Hin und Her. Es gibt keine Grenzen. Auch die Konturen verschwimmen immer mehr. Wenn hier irgendjemand sagt: wir leben in einer christlichabendländischen Gesellschaft, und das Kopftuch passt nicht zu unserer Tradition, fühle ich mich automatisch fremd. Und wenn ich in der Türkei sehe, wie die Menschenrechtsproblematik, der Umgang mit 17

Waldmann, Radikalisierung in der Diaspora, S. 26 f.

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Minderheiten, die Kurdenproblematik angegangen werden oder wie die Tragödie mit der Vertreibung der Armenier nach wie vor tabuisiert wird, dann fühle ich mich dort fremd.«18 Eingangs wurden drei Hauptformen der Reaktion auf aus Exilund Diasporasituationen resultierende Probleme unterschieden: die weitgehende Anpassung an die Aufnahmegesellschaft, ein Kompromiss zwischen den Wertvorstellungen und Normprinzipien der alten und der neuen Gesellschaft und schließlich das dogmatische Festhalten an den mitgebrachten Traditionen und Überzeugungen, die in der Fremde noch eine zusätzliche Steigerung erfahren. Dieses Dreierschema lässt sich mit leichten Modifikationen auch auf die Haltung der türkischen Diaspora gegenüber dem Aufnahmeland Deutschland anwenden, wobei bezeichnenderweise die religiöse Einstellung als Schlüsselkriterium fungiert. Die Bereitschaft, sich weitgehend an die Aufnahmegesellschaft anzupassen, dürfte bei den Nachfolgegenerationen der türkischen Migranten die am häufigsten anzutreffende Einstellung sein. Sie bedeutet nicht, dass auf das Bekenntnis zum Islam verzichtet wird – der Religiosität wird bei allen türkischen Gruppen, auch unter Jugendlichen, ein höherer Stellenwert beigemessen als bei anderen Migranten oder in der deutschen Bevölkerung.19 Religion gilt aus der Sicht eines Großteils dieser Generation der Muslime jedoch als auf den engeren Familienkreis begrenzte Privatsache, die Dritte nichts angeht. Nach außen steht bei ihnen das Pochen auf Gleichberechtigung mit Christen und Juden im Zentrum ihrer Forderungen. Sie wollen wie diese das Recht haben, ihrem Glauben gemäß zu leben und zu wichtigen Fragen wie Scheidung, Abtreibung und Kindererziehung gehört zu werden. Damit schließen sie sich weitgehend dem wertepluralen Standpunkt des Grundgesetzes an, das von allen Konfessionsgruppen ein hohes Maß an gegenseitiger Toleranz verlangt. Dahinter steht die Überzeugung, diese Haltung sei am besten geeignet, den Islam so weiterzuentwickeln, dass er mit der Moderne kompatibel wird.

18 19

Zitiert nach Schiffauer, Nach dem Islamismus, S. 189. Worbs/Heckmann, Islam in Deutschland, S. 161.

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Schiffauer, dessen Klassifizierungsvorschlag ich mich anschließe, sieht die zweite Option, den Islam mit westlichen Grundprinzipien von Staat und Politik zu versöhnen, vor allem durch die Diaspora-Organisation Milli Görüs¸ repräsentiert.20 Nach Ansicht der Führungskräfte dieses Verbandes erscheint es illusorisch, die Gleichstellung des Islam mit dem Christentum und dem Judentum in Deutschland allein unter Berufung auf das jedem Einzelnen zustehende Grundrecht der Religionsfreiheit durchsetzen zu wollen. Dazu bedürfte es vielmehr des gemeinschaftlichen solidarischen Handelns einer organisierten Gruppe, die das Glaubensanliegen der Muslime in den öffentlichen Raum hineinträgt und das »Recht auf Differenz« erstreitet. Die Auseinandersetzung mit westlichen Normvorstellungen und Wertprämissen wird in diesem Fall nicht vermieden, sondern geradezu gesucht. Einerseits werden Koran und Sunna als Säulen des Islam uneingeschränkt bejaht, andererseits sind die Wortführer von Milli Görüs¸ jedoch bereit, in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vom Westen zu lernen und sich auf einen Dialog mit ihm einzulassen. Den Hintergrund für diese von Schiffauer als »Post-Islamismus« bezeichneten Zugeständnisse an das Gastland bilden eine gewisse Ernüchterung über islamische Theokratien wie der des Iran, die Infragestellung des bei den Islamisten verbreiteten Denkens in Schwarz-Weiß-Kategorien und die durch die eigene Situation bedingte Einsicht, es müsse auch möglich sein, außerhalb des islamischen Machtbereiches ein Allah wohlgefälliges Leben zu führen. Schiffauer betont jedoch, dass es einer kleinen Elite vorbehalten sei, eine solche Synthese von Elementen der beiden in Deutschland aufeinanderstoßenden Glaubens- und Ordnungssysteme zu wagen.21 Die dritte Position innerhalb der Diaspora ist die fundamentalistische. Nur von einer kleinen Minderheit vertreten, läuft sie auf die Zurückweisung der Aufnahmegesellschaft in jeder Hinsicht hinaus. Deren Kontroll- und Definitionsmacht über die Migranten wird schlicht geleugnet. Maßgebliche Richtschnur für das Verhalten eines 20 21

Schiffauer, Vom Exil- zum Diaspora-Islam, S. 356 f., 358; Schiffauer, Nach dem Islamismus. Schiffauer, Nach dem Islamismus, S. 224.

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wahrhaft Gläubigen könnten allein die Lehren des Islam in ihrer ursprünglichen, von Mohammed und den ersten Kalifen überlieferten Form sein, alles andere sei Abweichung und Ketzerei. Ein Muslim, der zu seinem Glauben stehe, dürfe nicht ruhen, bis ein Kalifat errichtet sei, das sämtliche religiösen Postulate des Islam einlöse. Die Anhänger dieser puristischen Doktrin streben danach, den Islam von allem kontextuellen Beiwerk zu säubern und auf einen Satz hochabstrakter, universell gültiger Normen zu reduzieren.22 Dadurch soll er zu einem allen Veränderungen trotzenden Glaubensbollwerk gemacht werden. Aus sozialpsychologischer Perspektive bildet die fundamentalistische Position eine Überreaktion auf den aus der Diasporasituation sich ergebenden Identitätskonflikt. Der damit verbundenen Unsicherheit, dem ständigen Einerseits und Andererseits begegnet der Ultraorthodoxe, indem er auf eine einfache, unverrückbare »Wahrheit« setzt, in deren Dienst er sein weiteres Leben stellt.23

Migration und konservativer Impuls Aus der Migrationsanalyse lassen sich etliche Erkenntnisse über den konservativen Impuls, etwa was die Rolle der Frauen oder von Organisationen bei seiner Artikulierung und Durchsetzung betrifft, gewinnen. Ich beschränke mich aber auf zwei thematische Komplexe, die besonders hervorgetreten sind: den Kontrast zwischen Exil und Diaspora, der Migranten im engeren Sinn und der Folgegenerationen; sowie auf die Bedeutung, die dem religiösen Erwachen, der Re-Islamisierung für die Migrantenkolonien zukam. Um den Unterschied zwischen der ersten Migrantengeneration und den Folgegenerationen zu verdeutlichen, komme ich auf die Kriterien zur Einschätzung der Stärke des konservativen Impulses (freiwillig/unfreiwillig; reversibel/irreversibel; Zeitmanagement) zurück. Die eigentlichen Migranten verließen (sieht man von ihren Kindern ab) die türkische Heimat durchweg freiwillig, um in Deutschland ein 22 23

Roy, Der islamische Weg nach Westen. Waldmann, Radikalisierung in der Diaspora, S. 38 f., 58 ff.

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besseres Auskommen zu finden, ein Entschluss, der im Prinzip jederzeit rückgängig gemacht werden konnte. Dagegen sahen sich die nächsten Generationen nolens/volens mit einer doppelten Nationalität und Identität konfrontiert, die sie weder annullieren noch kündigen konnten, sondern mit der sie den Rest ihres Lebens zurechtkommen mussten. Das wurde manchmal als Chance wahrgenommen, viele sahen darin jedoch eine Belastung. Die Zuwanderer selbst konnten durch den Aufbau einer Ersatzheimat in der Fremde den Verlust der wirklichen Heimat teilweise kompensieren und erträglich machen. Diese Möglichkeit war ihren Kindern und Enkeln verwehrt, ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich mit zwei Welten auseinanderzusetzen, der durch ihre Eltern und Großeltern repräsentierten, in die Ferne gerückten alten Heimat, und der Aufnahmegesellschaft, die ihren Alltag bestimmte und in der sie sich bewähren mussten. Die Pointe an dieser Gegenüberstellung liegt darin, dass sie sich nicht auf voneinander unabhängige Generationen bezieht, sondern diese unmittelbar aufeinander folgten und aufs engste miteinander verbunden waren. Dies wirft die Frage auf, welcher strukturelle Zusammenhang zwischen ihnen bestand, ob der bei den Migranten selbst angesichts des Heimatverlustes zu erwartende aufgeschobene »Rückwärtsimpuls« mit zeitlicher Verzögerung nicht umso nachdrücklicher bei ihren Kindern und Enkeln zum Ausdruck kam. Auf derartige verzögerte konservative Reaktionen nach einem äußerlich rasch und reibungslos vollzogenen Wandel werden wir noch in anderen Fällen stoßen. Was die Migranten selbst betrifft, so waren es vor allem zwei Umstände, die den Aufschub einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Heimatverlust bewirkten. Der eine wurde bereits genannt, nämlich der kompensatorische Transfer türkischer Sitten und Gewohnheiten in das Gastland, die dort den trügerischen Eindruck erweckten, mitten in Deutschland in einer türkischen Enklave zu leben. Der andere Umstand war eine Zeitvorstellung, die vielen den Aufenthalt in Deutschland als Provisorium und Ausnahmesituation erscheinen ließ. Lebenslagen als »Ausnahmesituation« einzustufen, erspart den davon Betroffenen, sich auf sie einzustellen und Lehren daraus zu ziehen. Geht man davon aus, dass die erste Migrantengeneration ihren Deutschlandaufenthalt als zeitlich begrenzte Sondersituation 62

betrachtete, dann wird verständlich, warum sie keine ernsthaften Anpassungsanstrengungen an die Aufnahmegesellschaft unternahm. Erst die Folgegenerationen mussten sich der Frage stellen, wie ernst es ihnen mit der Integration war. Die Hauptgarantie gegen eine allzu rasche Absorption durch die Aufnahmegesellschaft boten nicht die aus der Türkei importierten Traditionssurrogate, sondern bot der in der Diaspora selbst einsetzende Re-Islamisierungsprozess. Als unmittelbare Reaktion auf den vom Aufnahmeland ausgehenden Säkularisierungs- und Assimilationsdruck entstanden, ist er in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Erstens bringt er idealtypisch den generell für die Moderne kennzeichnenden Gegensatz zwischen auf Fortschritt und Wachstum hin programmierten wirtschaftlichen Prozessen und tendenziell eher bremsenden kulturellen Traditionsbeständen zum Ausdruck, mit dem ich mich in späteren Kapiteln noch beschäftigen werde. Aus ihrer Heimat aufgebrochen, um am wirtschaftlichen Boom Deutschlands zu partizipieren, wurden die türkischen Migranten unversehens von der eigenen religiösen Tradition eingeholt. Zweitens erscheint bemerkenswert, dass das zu neuem Leben erwachte islamische Erbe sich nicht nur hemmend auf die Annäherung der Migranten sämtlicher Generationen an die Einrichtungen und den Lebensstil des Gastlandes auswirkte, sondern unter dessen kulturellem Einfluss seinerseits eine Uminterpretation und »Veredelung« von einer Religion der Werkgerechtigkeit zu einer primär gesinnungsethischen Glaubensüberzeugung erfuhr. Drittens schließlich wird man dem neu erwachenden religiösen Impuls auf der individuellen Ebene (die kollektive Bilanz sieht anders aus) eine beträchtliche Elastizität und insgesamt positive Funktion zuerkennen müssen. Jenen, die religiösen Fragen nur eine untergeordnete Rolle beimaßen, erlaubte das private Bekenntnis zum Islam bei aller Anpassungsbereitschaft an das Aufnahmeland, durch das Pochen auf Gleichbehandlung aller Religionen ihre persönliche Würde zu wahren. Den Vertretern von Milli Görüs¸, die sich zu einer Vorwärtsverteidigung des Islam entschlossen hatten, gestattete ihre Initiative als Verband, die Opferrolle abzustreifen und einen positiven Beitrag nicht nur zur Fortentwicklung der Diaspora, sondern auch der Aufnahmegesellschaft zu leisten. Freilich sei nochmals daran erinnert, 63

dass nur eine kleine Elite unter den Migranten dazu imstande ist, wie Milli Görüs¸ auf eine Synthese von eigener Glaubenstradition und westlichem Rechtsstaats- und Demokratiedenken hinzuarbeiten. Selbst was die Ultraorthodoxen angeht, spricht viel dafür, dass ihre fundamentalistische Wende, so unerfreulich sie für ihr näheres und weiteres soziales Umfeld sein mochte, insoweit einen rationalen Kern hatte, als sie durch die Hingabe an den einen, allmächtigen Gott (Allah) das Problem ihrer Doppelidentität lösten.

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Die Infragestellung der Geldwertillusion: Hyperinflation Der Tod eines Menschen, an den eine enge Bindung bestand, ist der Inbegriff eines einschneidenden, unfreiwilligen, nicht rückgängig zu machenden Verlustes. Wanderungsbewegungen sind, zumindest oberflächlich betrachtet, häufig freiwilliger Natur; außerdem steht den Migranten theoretisch meist die Möglichkeit offen, über kurz oder lang wieder in ihr Heimatland zurückzukehren. Erst die nachfolgenden Generationen bekommen voll zu spüren, was es heißt, die ursprüngliche Heimat eingebüßt zu haben und sich dauerhaft in eine neue Gesellschaft einzugliedern. Eine galoppierende Inflation, das rasche Dahinschmelzen des Geldwertes, ist eine dritte Variante radikaler Verlusterfahrung. Was sie mit dem Hinscheiden eines nahestehenden Dritten teilt, ist, dass man ihr nicht ausweichen kann, sie vielmehr – dies gilt zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung –, ohne nennenswerte Möglichkeiten, sich zu wehren, über sich ergehen lassen muss. Doch im Unterschied zum Tod, insoweit eher mit der Auswanderung vergleichbar, ist die Hyperinflation ein prinzipiell korrigierbares Geschehen. Das gibt all jenen Hoffnung, die in ihr eine Ausnahmesituation sehen und auf die baldige Wiederherstellung »normaler« monetärer Verhältnisse setzen. Vorab sei ein Irrtum ausgeräumt, der bei all denjenigen naheliegt, die nie Zeuge einer Mega- oder Hyperinflation gewesen sind, nämlich die Vorstellung, hier handele es sich nur um eine bedenkliche Entwicklung im engeren, das Geld und die Geldwirtschaft betreffenden Bereich. Der rasante Verfall einer Währung lässt im öffentlichen wie im privaten Bereich nichts unberührt, er tangiert in der sozialen Makrosphäre neben der Wirtschaft auch das Recht und die Politik, während im sozialen Mikrobereich praktisch kein Handlungsfeld 65

existiert, das nicht unmittelbar davon betroffen wäre: von Gehaltszahlungen über die Ausgaben für Wohnung, Nahrung, den Schulbesuch der Kinder und die Transportmittel bis hin zur Freizeitgestaltung, zu Urlaubsplänen und Geschenkgewohnheiten. Über die wirtschaftlichen Ursachen und Auswirkungen von Inflationskrisen gibt es eine reichhaltige Literatur. Dagegen ist der hier interessierende Gesichtspunkt, wie die betroffenen Menschen mit der rapiden Entwertung des Zahlungsmittels Geld umgehen, lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt worden. Im Folgenden werden zwei Fälle einer in einer Hyperinflation mündenden Inflationskrise näher betrachtet und analysiert: zum Ersten die Weimarer Hyperinflation, die als epochales Ereignis in den frühen 1920er Jahren den Inflationsreigen gewissermaßen eröffnete (bis dahin waren sowohl das Phänomen als auch der Begriff Inflation praktisch unbekannt); und zweitens die argentinische Hochinflation der 1980er Jahre, die sich 1989 zur Hyperinflation steigerte. Neben eigenen Untersuchungen zu beiden Inflationen stütze ich mich hinsichtlich der Weimarer Inflation zusätzlich vor allem auf die exzellente Studie von Tilmann Heisterhagen und Reiner W. Hoffmann, in der auf der empirischen Basis von 150 qualitativen, mit unterschiedlichen Generationen geführten Interviews alle deutschen Währungskrisen im 20. Jahrhundert eingehend analysiert werden.1

Die Hyperinflation während der Weimarer Republik Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit setzten die deutsche Gesellschaft schweren Belastungen aus. Neben der Hyperinflation stellten der Übergang von einem monarchischen Regime zum Parlamentarismus sowie die Tilgung der nach der Kriegsniederlage Deutschland aufgebürdeten Schulden gewaltige Herausforderungen für Staat und Gesellschaft dar. Gleichwohl nimmt im Gedächtnis der Generation, 1

Heisterhagen/Hoffmann, Lehrmeister Währungskrise?; Waldmann, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien; Waldmann, Von der Mega- zur Hyperinflation.

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welche diese einschneidenden Veränderungen miterlebte, die Hyperinflation einen besonderen Platz ein. Nichts anderes hat sich mit vergleichbarer Schärfe und Präzision der kollektiven Erinnerung eingeprägt. Von den rund 50 Personen in dem Sample von Heisterhagen und Hoffmann, die zu jener Zeit noch Kinder oder Jugendliche waren, blieb keine aufgrund von Erinnerungslücken die Antwort auf die gestellten Fragen schuldig.2 Tatsächlich setzte die Inflation bereits mit Kriegsbeginn 1914 ein. Sie steigerte sich über mehrere Teilphasen bis zu ihrem Höhepunkt 1923, dem 1924 die Währungsstabilisierung folgte, sodass man von einem sich über eine Dekade erstreckenden Inflationszyklus sprechen kann. Die Entwicklung verlief nicht linear, auf Phasen beschleunigter Geldentwertung folgten Phasen, in denen sich der Wert der Mark zu stabilisieren schien (etwa vom Frühjahr 1920 bis zum Frühjahr 1921), was Hoffnungen auf eine Normalisierung der Situation aufkeimen ließ. Der Gesamttrend war freilich eindeutig: Während des Krieges hatte die vom Goldstandard auf Papiergeld umgestellte Mark bereits die Hälfte ihres Wertes verloren; 1922 von 4 Prozent auf 1 Prozent des Vorkriegswertes reduziert, sank sie rasch weiter auf 0,1 Prozent ab, um schließlich Ende 1923 bei einem Trillionstel ihres Ursprungswertes zu landen. Das heißt 1 000 000 000 000 Papiermark bildeten schließlich den Gegenwert für eine ursprüngliche Goldmark.3 Bevor ich näher darauf eingehe, wie die Menschen mit dieser ungeheuren Geldwertschrumpfung zurechtkamen, scheinen zwei Vorbemerkungen angebracht. Es liegt auf der Hand, dass in der Schlussphase der Hyperinflation, als die Ereignisse sich überstürzten, nicht mehr von einer rationalen Gegenstrategie gegen den Währungsverfall – weder bei Einzelnen noch bei Gruppen – die Rede sein konnte. Auch jene, die der Inflation über längere Zeit bewusst Vorschub geleistet hatten, weil sie von ihr profitierten, wurden nun zu von der eigendynamischen Geldentwertung Getriebenen. Wenn wir nach konkreten Reaktionen der Betroffenen auf die beschleunigte Geldent2 3

Heisterhagen/Hoffmann, Lehrmeister Währungskrise?, S. 88, 152. Waldmann, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien, S. 370 f.; Berg-Schlosser, Consecuencias macrosociales y políticas, S. 54, 68 ff.

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wertung fragen, haben wir weniger die letzte Steigerungsphase als den inflationären Prozess insgesamt im Auge. Zweitens muss man berücksichtigen, dass der Einzelne dem Währungsverfall nicht gänzlich hilflos ausgeliefert war. Ein Großteil der Bevölkerung war in Interessensverbänden organisiert, die sich nach besten Kräften für die Belange ihrer Mitglieder einsetzten. Das gilt nicht nur für die Unternehmen, vor allem die mächtige, äußerst geschickt operierende Stahl- und Schwerindustrie, die zweifellos zu den Inflationsgewinnern zählte. Auch die Arbeitnehmerseite verstand es, ihre Interessen zu verteidigen und zu verhindern, dass die Löhne allzu stark hinter den hochschnellenden Preisen herhinkten. Die Gewerkschaften zählten in den frühen 1920er Jahren ein Vierfaches der Mitgliederzahl der Vorkriegszeit. Andere Berufs- und Interessengruppen, etwa die Angestellten und Beamten, auch die Gläubiger, schlossen sich ebenfalls in Organisationen zusammen, um kollektiv besser dem Verteilungskampf zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren und sozialen Schichten gewachsen zu sein, der durch den Währungsverfall ausgelöst wurde.4 Daneben gab es freilich beträchtliche Bevölkerungsgruppen, etwa die Rentner und die Freiberuflichen, denen nicht die Möglichkeit offenstand, sich hinter einen kollektiven Schutzschild zurückzuziehen, oder deren vermischte Interessenlage keine eindeutige Parteinahme zuließ. Bei ihnen gaben individuelle Einstellungen und Fähigkeiten für die angesichts der Inflation eingenommene Haltung den Ausschlag. Dabei waren die Chancen, mit der neuen Situation zurechtzukommen, die alle herkömmlichen Maßstäbe vernünftigen Wirtschaftens (sparen, keine unnötigen Schulden machen etc.) auf den Kopf stellte, in der Bevölkerung ungleich verteilt: Junge Menschen brachten aufgrund ihrer Unvoreingenommenheit bessere Voraussetzungen für das notwendige Umdenken mit als ältere; das Gleiche gilt für die Akademiker und alle Gebildeten im Vergleich zum Gros der Bevölkerung, das nur über Grundschulkenntnisse verfügte. Wer aus beruflichen Gründen, etwa als Bankangestellter oder im Finanzsektor einer großen Firma Beschäftigter, ständig mit Geld zu tun hatte, war sowohl 4

Waldmann, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien, S. 377 ff.

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wegen seines fachlichen Wissens als auch aufgrund seiner Teilhabe am die inflationäre Entwicklung betreffenden Informationsfluss dem Rest der Bevölkerung überlegen. Ähnliche Vorteile konnten all jene für sich verbuchen, die, in welcher Form auch immer (Abwicklung von Exportgeschäften, Zimmervermietung an Ausländer usw.), Zugang zu Devisen hatten. Denn der Währungsvergleich öffnete ihnen die Augen über den akzelerierten Verfall des Kurses der Mark.5 Indes wäre es verfehlt anzunehmen, beim Umgang mit der Währungskrise hätten überwiegend rationale Kriterien im Vordergrund gestanden. Wie aus der Befragung des Samples Überlebender aus jener Zeit hervorgeht, war für die Mehrheit vielmehr eine passiv-resignative Einstellung bezeichnend.6 Die Inflation wurde wie eine aus heiterem Himmel hereingebrochene schicksalhafte Katastrophe wahrgenommen, der man sich beugen musste. Ein Großteil der Betroffenen »wurstelte sich so gut es ging« durch den Alltag, etwa über Zusatzjobs, durch Sparen »an allen Ecken und Enden« oder Notverkäufe von Vermögensgegenständen. Nur eine Minderheit brachte es fertig, »normal« weiterzuleben. Und noch wenigeren gelang es, strategisch aktiv die aus der Inflation sich ergebenden Chancen der Vermögenserhaltung oder Bereicherung wahrzunehmen oder gar einen gewissen Spaß an den neu sich eröffnenden Handlungsfeldern zu finden (Letzterem begegnet man ausschließlich bei Jüngeren, etwa Studenten). Das Gros der Bevölkerung verbrauchte alle seine Energien im »Kampf an der Einkaufsfront«: »rasch rennen und zugreifen«.7 Der Fatalismus der überwiegenden Mehrheit erklärte sich nicht zuletzt daraus, dass das Gros der deutschen Gesellschaft, einschließlich vieler Akademiker, rein kognitiv mit dem Inflationsgeschehen überfordert war, es nicht als einen neuen Typus finanzieller Fehlentwicklung erkannte. Zum einen fehlte es national wie auch international an jeglicher Vorerfahrung, die man hätte nutzen können. Zum anderen war der zur Verfügung stehende Zeitraum für substanzielle Lernprozesse zu kurz, was sich z.B. darin zeigt, dass der Wertverlust 5 6 7

Ebd., S. 380 ff. Heisterhagen/Hoffmann, Lehrmeister Währungskrise?, S. 152. Ebd., S. 183.

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des Geldes während des Krieges, der sich in höheren Preisen für Grundnahrungsmittel niederschlug, durchweg als »Teuerung« perzipiert wurde, entsprechend der Devise »Kriege sind eben teuer«. Auch nach 1919 begriff nur eine kleine Minderheit, dass etwas mit der Mark »nicht mehr stimmte«. Die weit überwiegende Mehrheit hielt bis zum Beginn der Hyperinflation an der sogenannten Geldwertillusion, das heißt an der Fiktion fest, Mark = Mark, der Geldwert bleibe konstant. Selbst die Gerichte rückten zum Schaden der Gläubiger nicht vor 1923 von diesem Standpunkt ab. Erst dann wurde die Mark allgemein nicht mehr als Zahlungsmittel akzeptiert, und im Handelsverkehr wurde es üblich, mit Index- und Devisenbindungen, Wertsicherungsund Gleitklauseln zu arbeiten.8 Die Geschwindigkeit, mit der die galoppierende Geldentwertung über die Deutschen hereinbrach, und die damit eng verbundene kognitive Überforderung waren der eine Grund für die überwiegend passiv-fatalistische Haltung, mit der die Mehrzahl das Inflationsgeschehen hinnahm. Aber es gab noch einen zweiten Grund: Der Widerspruch, in dem das durch die Inflation gebotene Anpassungsverhalten (rasch sein Geld ausgeben, riskante zukunftsorientierte Entscheidungen treffen, Schulden machen, weil der bloße Zeitverlauf für ihre zunehmende Tilgung sorgt) zum tradierten Moralcode des Durchschnittsbürgers stand, den Heisterhagen/Hoffmann als »puritanischen« Sozialcharakter kennzeichnen. Die beiden Autoren werden nicht müde zu betonen, dass die damit umrissene, in tieferen Persönlichkeitsschichten verankerte Werthaltung der eigentliche Sieger im durch die Inflationskrise ausgelösten Ringen verschiedener mentaler Strömungen und Anpassungsoptionen gewesen sei. Die Mehrheit der Deutschen hätte, unabhängig von ihrer »geistig-kognitiven« Elastizität, zäh an den traditionellen, eng an die Goldmark angelehnten Leitwerten von vorsorgender Sparsamkeit, der Hemmung, sich zu verschulden, sowie Sekundärtugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnungsliebe festgehalten, eng gepaart mit dem Hang zur Einschränkung des Konsums und unaufwändiger Lebensführung.9 Impli8 9

Waldmann, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien, S. 379 f. Heisterhagen/Hoffmann, Lehrmeister Währungskrise?, S. 50, 66, 69, 120 u.s.f.

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zit oder explizit lief das zugleich auf eine Zurückweisung durch die Inflation geförderter Charakterzüge wie Ungeduld, Leichtsinn, Inden-Tag-hinein-Leben hinaus. Der Typus des allzu risikofreudigen Unternehmers, des vor Verschuldung nicht zurückschreckenden Spekulanten, auch des sich ganz dem Hier und Jetzt verschreibenden hedonistischen Lebenskünstlers galt als Ausnahmeerscheinung. Man war davon überzeugt, dass sie nur dank der außergewöhnlichen, die normalen Regeln des Wirtschaftsgebarens sprengenden Situation zu Wohlstand und Ansehen gelangen konnten.10 Hier mag jenseits aller von Heisterhagen und Hoffmann kritisch kommentierten mangelnden Lernfähigkeit und Lernfreudigkeit der Deutschen ein weiterer Erklärungsansatz für die fehlende Bereitschaft der Mehrheit liegen, sich vom tradierten Modell korrekten Verhaltens in Geldangelegenheiten loszusagen – nämlich in der Überzeugung, man lebe in einer zeitlich begrenzten Ausnahmesituation, der mit der Währungskatastrophe über die Gesellschaft hereingebrochene Hexensabbat könne nicht ewig andauern. Also, so die logische Folgerung, lohne es sich nicht, überlieferte, bewährte, letztlich moralisch verankerte Formen des Zahlungsverkehrs um einer kurzfristig aus den Fugen geratenen makrowirtschaftlichen Situation willen preiszugeben.11 Diese Deutung findet eine Bestätigung in der allgemeinen Erleichterung und Freude, mit der die Währungsreform Ende 1923/1924 begrüßt wurde. Endlich, so hieß es, sei man wieder zur Normalität zurückgekehrt. Auch in der Weitergabe der Erinnerung an die Hyperinflation an die nächsten Generationen erscheint diese regelmäßig als pathologische, die normalen Regeln des Wirtschaftslebens außer Kraft setzende Phase, durch die man sich in seinen Grundüberzeugungen, was das Wirtschaftsgebaren betrifft, nicht beirren lassen durfte.12

10 11 12

Ebd., S. 55. Waldmann, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien, S. 389 ff. Heisterhagen/Hoffmann, Lehrmeister Währungskrise?, S. 191 ff.

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Megainflation und Hyperinflation in Argentinien Unter Megainflation werden hier, in Anlehnung an den argentinischen Sprachgebrauch, jährliche Inflationsraten von 100 Prozent und mehr verstanden, die jedoch unterhalb des Niveaus einer alle Regeln sprengenden Hyperinflation liegen. Rund 40 Jahre lang war Argentiniens wirtschaftliche und gesellschaftlich-politische Entwicklung durch eine anhaltende, sich allmählich steigernde Geldentwertung geprägt. Von 1950 bis Anfang der 1970er Jahre betrug die durchschnittliche jährliche Inflationsrate 25 Prozent, von 1975 bis 1985 erhöhte sie sich auf einen Jahresdurchschnitt von 100 Prozent. Nach 1985 gab es weitere Steigerungen, ab Mitte des Jahres 1989 und erneut zum Jahresende erreichte die Inflation schließlich monatliche Spitzenwerte von 75 Prozent und mehr. Anschließend wurde sie dank des Stabilisierungsprogramms der neu gewählten Regierung Menem, vor allem auch durch die Einführung der Dollarparität, auf 5 Prozent gedrosselt. 2015 lag sie bei 30 Prozent. Im Folgenden ist vor allem die Währungskrise der 1980er Jahre von Interesse, die in die Regierungszeit der Radikalen Partei unter Raul Alfonsín fiel, welche ein Militärregime ablöste, das durch die berühmt-berüchtigte Taktik des »Verschwindenlassens« seiner Gegner weltweites Aufsehen erregt hatte. Wie aus den eben genannten Zahlen zu ersehen ist, war den Argentiniern eine beschleunigte Inflation zu Beginn des Demokratisierungsprozesses Anfang der 1980er Jahre bereits ein vertrautes Phänomen. Sie hatten seit Langem die in Deutschland noch Anfang der 1920er Jahre verbreitete Geldwertillusion, also die Vorstellung vom Geld als einer festen, unverrückbaren Werteinheit, hinter sich gelassen. Angesichts der Vielzahl von Reformen, welche die Regierung Alfonsín einleiten musste, waren die meisten nicht sonderlich erstaunt darüber, dass ihre Maßnahmen gegen die Geldentwertung in den ersten Jahren keinen sonderlichen Erfolg erzielten. Nicht die Inflation an sich, sondern die scheinbar unaufhaltsame Steigerung der Inflationsraten, vor allem nach dem misslungenen Versuch einer Währungsreform 1985, versetzte die Bürger zunehmend in Unruhe. Geldentwertungen von deutlich mehr als 100 Prozent pro Jahr, wie sie ab 1983 zur Regel wurden, sprengten den Rahmen des bis dahin 72

üblichen, eher spielerischen Umgangs mit dem Inflationsproblem und entwickelten sich zu einer Herausforderung eigener Art für jedermann. Die permanente Beschäftigung mit Preisen, der ständige Kampf gegen den Geldwertschwund mit dem Ziel, den eigenen Lebensstandard einigermaßen zu halten, wurden zu einer Dauerbelastung für die allermeisten Argentinier und zu einer ernsthaften Legitimitätshypothek für die Regierung. In dieser Situation bildete sich eine Reihe von Anpassungsmechanismen heraus, durch welche der Einzelne, mehr oder weniger gezielt und bewusst, die »Kosten« der Inflation für sich und die Seinen zu begrenzen suchte.13 Die wichtigsten waren: – Eine erhebliche Verkürzung des Zeithorizontes. Da langfristige Pläne unsicher oder sogar riskant erschienen, beschränkten sich die meisten Entscheidungen auf die Gegenwart und die nahe Zukunft. Die Schrumpfung der Zeitvorstellung betraf nicht nur den rein ökonomischen Bereich. Ob es um einen Stellungs- oder Wohnsitzwechsel ging, um Reisen ins Ausland, künstlerische Pläne oder das Studium der Kinder, über allem schwebte das große Fragezeichen, ob es der künftige finanzielle Spielraum dem Einzelnen und seiner Familie erlauben würde, derartige Aktivitäten zu entfalten. – Die Schulung der Fähigkeit, verschiedene Geldgrößen rechnerisch zueinander in Beziehung zu setzen und rasch herauszufinden, welches die jeweils günstigste Option ist. Diese Fähigkeit setzte Ausländer, die das Land besuchten, stets in Erstaunen. In der Regel waren sie, wenn das Gespräch sich um Geldangelegenheiten drehte, binnen Kurzem nur mit Mühe imstande, ihren argentinischen Gesprächspartnern zu folgen. Die Schlüsselvariable derartiger Gespräche war die Zeit, zu der die Geldwerte jeweils in Beziehung gesetzt werden mussten. Inzwischen hatte sich der Dollar zur informellen Leitwährung des Landes entwickelt, sodass alle wichtigeren Geschäfte auf Dollarbasis abgewickelt wurden 13

Waldmann, Von der Mega- zur Hyperinflation, S. 278 ff.; Spitta, La »cultura de la Inflación« en la Argentina; Sigal/Kessler, Comportements et représentations.

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und viele Argentinier Dollarkonten im Ausland unterhielten.14 Da aber Löhne, Gehälter und Honorare der öffentlichen Hand in der Landeswährung ausbezahlt wurden, galt es an jedem Monatsanfang und generell bei Geldüberweisungen knifflige Fragen zu beantworten, die einiges kalkulatorisches Geschick voraussetzten: Wie begegnet man am besten dem drohenden Währungsverfall in den nächsten 30 Tagen, welchen Teil des Gehalts wechselt man zwecks Werterhaltung in Dollar ein, mit welchem Teil kauft man welche Vorräte, zahlt man bar oder kauft man auf Kredit? Und so fort. In der Kunst, die Begleichung von Schulden mit allen möglichen Tricks hinauszuzögern, entwickelten viele eine große Professionalität. – Neben der Fähigkeit, unter Zeitdruck rasch komplizierte Rentabilitätskalküle durchzuführen, förderte und belohnte die Megainflation noch eine Reihe weiterer Eigenschaften, wie geistige Wendigkeit, Flexibilität und Mobilitätsbereitschaft, Risikofreude und Fantasie. Der Idealtypus einer der Inflation optimal angepassten Person war jemand, der entsprechend der sich ständig verändernden Währungslage seine finanziellen Entscheidungen unaufhörlich überprüfte und korrigierte. Es mag offenbleiben, inwieweit der Hang zum Spieler und Hasardeur, der dabei zum Vorschein kam, bereits in der traditionellen Wertschätzung von Schläue (viveza) und der Fähigkeit, die gute Gelegenheit zu ergreifen, in der argentinischen Gesellschaft angelegt war. Sicher ist, dass es nicht wenigen Argentiniern, die Inflationsdynamik geschickt ausnützend, gelang, in dieser Zeit ein kleines Vermögen anzuhäufen. Nicht nur die Individuen, auch die argentinische Gesellschaft insgesamt brachte Abwehrmechanismen hervor, in denen sich die Anpassung an die diffizile Währungssituation spiegelte. Ich erwähne nur drei (es mag noch andere gegeben haben). Ein erster war die durchgehende Indexierung der Preise.15 Die Verwendung von Indexzahlen anstelle von Preisschildern, die in Deutschland erst zu Beginn der Hyperinflation üblich wurde, brachte sinnfällig zum Ausdruck, dass der 14 15

Spitta, La »cultura de la Inflación« en la Argentina, S. 141. Sigal/Kessler, Comportements et représentations.

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Parameter Zeit das Wettrennen gegen fixe Preisvorstellungen endgültig gewonnen hatte. Der jeweilige Wert eines Gutes oder einer Dienstleistung änderte sich so schnell und so regelmäßig, dass es weniger Mühe machte, ihn auf der Basis eines Ausgangswertes in Funktion der verflossenen Zeit zu berechnen, als stets aufs Neue festzulegen. Als Zweites ist die Berufssparte der Inflationsexperten zu erwähnen, die in dieser Zeit ins Zentrum der allgemeinen Öffentlichkeit rückte.16 Da eine möglichst präzise und aktuelle Information über Geldbewegungen und zu erwartende Währungsschwankungen für die Überlebensstrategie aller von zentraler Bedeutung war, wuchs jenen, welche die entsprechenden Daten systematisch sammelten und überzeugend zu interpretieren verstanden, eine öffentliche Schlüsselfunktion zu. Jeden Abend, wenn sie zu genau festgelegten Zeiten im Fernsehen zu Wort kamen, lauschte ihnen, wie die hohen Einschaltquoten belegten, praktisch die ganze Nation. Das Gegenstück zu den Inflationsexperten auf der Praxisseite bildeten drittens die zahlreichen Wechselstuben, die in jener Zeit vor allem im Raum von Buenos Aires aus dem Boden schossen. In ihnen konnte man rasch und ohne beschwerliche Formalitäten die getroffenen Währungsentscheidungen in die Tat umsetzen, also Dollars kaufen oder verkaufen, Geld verleihen oder – freilich zu horrenden Zinsen – kurzfriste Kredite aufnehmen. Die sozialen Auffangmechanismen brachten, zusammen mit den individuellen Anpassungsstrategien, die verzweifelte Anstrengung der Argentinier zum Ausdruck, der überbordenden Inflation Herr zu werden, sich den gewohnten Lebensstil und -rhythmus nicht gänzlich zunichtemachen zu lassen. Sie spiegelten eine inflationsbedingte Rationalität wider, die, wie Sigal und Kessler schreiben, auf der doppelten Grundlage von Sicherheit und Unsicherheit beruhte: der Sicherheit, dass die Inflation weiter anhalten würde, und der Unsicherheit darüber, wie hoch sie sein würde.17

16 17

Waldmann, Von der Mega- zur Hyperinflation, S. 280. Sigal/Kessler, Comportements et représentations.

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Eben diese Doppelannahme brach mit der Mitte 1989 einsetzenden Hyperinflation in sich zusammen. Rationalität bedarf bestimmter Kriterien, die sowohl das eigene als auch das fremde Verhalten steuern. Diese Kriterien bezüglich der weiteren Währungsentwicklung gingen jedoch verloren, nachdem die Schwelle zur Hyperinflation überschritten war. Die Preisentwicklung vollzog sich nun in exponentiellen Sprüngen, sie war nicht mehr vorhersehbar und kontrollierbar. Auch die Kohärenz der Preise für unterschiedliche Güter geriet aus den Fugen. Beispielsweise konnte ein Kilo Butter an einem Tag mehr als ein Kilo Zucker kosten, während es tags darauf gerade umgekehrt war. Das Geld, das heißt die nationale Währung, büßte definitiv ihre Funktion als Zahlungsmittel ein, sodass auf Ersatzwährungen ausgewichen oder auf den Tauschhandel zurückgegriffen wurde. Die Märkte lösten sich auf oder brachen zusammen, der Handelsverkehr kam zum Erliegen, viele Geschäfte schlossen, teils griffen chaotische Verhältnisse Platz. Wie empfand der Einzelne seine Lage, wie ging er damit um? Ein durchgehend zu beobachtender Zug war die weitere Schrumpfung des Zeithorizonts. Sie erklärte sich u.a. daraus, dass wegen der fehlenden Preisnormen die Abwicklung selbst der einfachsten Alltagsgeschäfte unendlich mühsam und aufwendig wurde. Jene Eigenschaften und Fähigkeiten, die sich in der Phase der Megainflation als nützlich erwiesen hatten, waren nun nur noch von bedingtem Wert. Es lohnte sich nicht mehr, zu spekulieren oder künftige Entwicklungen geschickt vorwegzunehmen, da mangels jeder Vorhersehbarkeit des weiteren Geschehens der Zeitfaktor auf null reduziert war und sämtliche Energien in den Dienst des Überlebens hic et nunc gestellt werden mussten. Andererseits entstand aufgrund der von allen geteilten Problemlagen auch ein neues Gefühl des sozialen Gegen- und Miteinanders. Die Konkurrenz um knappe Güter führte einerseits zu vermehrter Aggression, es verstärkten sich andererseits aber auch alte Bande oder neue wurden geknüpft, etwa in Form des arbeitsteiligen Auskundschaftens der jeweils günstigsten Preise durch die Frauen eines Nachbarschaftsviertels oder durch Käufe auf reiner Kredit- und Vertrauensbasis. Jedenfalls wäre es verfehlt, wie dies zuweilen geschieht, eine 76

hyperinflationäre Situation als den Kampf eines jeden gegen jeden à la Hobbes zu begreifen. Bezeichnender scheint ein allgemeines Gefühl der Hilflosigkeit, Ohnmacht und des Ausgeliefertseins zu sein, das die Menschen angesichts des über sie hereinbrechenden Chaos ergriff.18

Hyperinflation und konservativer Impuls Die Reaktion auf die Hyperinflation während der Weimarer Republik ist ein gutes Beispiel für die Mobilisierung konservativer Emotionen und Grundüberzeugungen, um mit dem zunächst langsam sich steigernden und dann jäh außer Kontrolle geratenen Währungsverfall zurechtzukommen. Man könnte geradezu von einer Gratisstabilisierung des alten, sich am stärksten im puritanischen Sozialcharakter manifestierenden Wertekanons durch die Überforderung, die die galoppierende Geldentwertung für die allermeisten darstellte, sprechen. Nur eine kleine Minderheit war in der Lage, sich den dadurch geschaffenen neuen Bedingungen erfolgreichen Wirtschaftens anzupassen. Die Mehrzahl lehnte dies prinzipiell ab und betrachtete die instabilen Währungsverhältnisse als einen Ausnahmezustand, der alsbald behoben sein würde. Am Rekurs auf den traditionellen Wertekanon fällt zweierlei besonders auf. Zum einen, dass er keine finanztechnische Abwehrstrategie darstellte, sondern das Währungsproblem als ein eminent moralisches auffasste, zum anderen dass, wenn man aus der mehrheitlich eingenommenen moralischen Position praktische Schlüsse ziehen wollte, diese genau auf das Gegenteil der durch die Geldentwertung gebotenen Verhaltensmaxime hinausliefen. Dass die konservative Reaktion primär auf die Ablehnung der hinter den inflationsbedingten Finanzpraktiken sichtbar werdenden neuen Wirtschaftsgesinnung abzielte, lässt sich an mehreren Indikatoren ablesen. Dazu zählten Durchhalteparolen wie »Ehrlichkeit und Anständigkeit währt am längsten« ebenso wie die Unmenge von Ausdrücken, in denen sich die Gering18

Waldmann, Von der Mega- zur Hyperinflation, S. 282.

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schätzung der durch fragwürdige Geldgeschäfte zu Wohlstand Gelangten spiegelte, wie »Raffke« und »Schieber«, »Glücks- bzw. Raubritter«, »Freibeuter«, »Wucherer«. Viele beklagten die Entwertung erworbenen Vermögen als Ungerechtigkeit und reagierten darauf mit moralischer Empörung. Die Finanzkrise brachte, mit anderen Worten, die im herkömmlichen Wirtschaftssystem implizit enthaltenen moralischen Grundsätze (im Sinne der moral economy) zum Vorschein, welche benutzt wurden, um eine solide Abwehrfront gegen den neuen Geist des Wirtschaftens aufzubauen. Die Situation Argentiniens in der Phase der Megainflation war eine andere. Der Hauptunterschied bestand darin, dass es sich nicht um eine Ausnahmesituation, sondern um ein bereits vertrautes Phänomen handelte. Das bedeutete, dass man sich in gewissem Maße kognitiv und emotional auf sie eingestellt hatte, sie (vor den dramatischen Steigerungsraten der 1980er Jahre) nicht strikt ablehnte, sondern gelernt hatte, sie gelegentlich zum eigenen Vorteil zu nutzen. Es bedeutete auch, dass man mit ihrer Fortdauer rechnete. Somit waren zwei Hauptmotive des konservativen Impulses wenn auch nicht außer Kraft gesetzt, so doch relativiert, nämlich die Unfreiwilligkeit der Aufgabe der Geldwertstabilität und die Chance, zum Status quo ante einer soliden, stabilen Währung zurückzukehren. Worauf konnte der konservative Impuls in diesem Fall rekurrieren? Eine solide Wirtschaftsethik, die sich auf Fleiß, Redlichkeit, intakte Arbeitsmoral, Schuldentabuisierung und dergleichen stützte, gab es in der argentinischen Einwanderungsgesellschaft allenfalls in Ansätzen. Es überwog das Ideal des Glückritters, der, ohne sich zu überanstrengen, rasch zu Wohlstand gelangt. Den besonders Begabten und Risikobereiten bot die Megainflation in der Tat die Chance, ihren Traum zu verwirklichen. Bei der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Argentinier äußerte sich ihr »Konservatismus« dagegen in dem verzweifelten Bemühen, sich und die eigene Familie – der in Lateinamerika generell eine Schlüsselbedeutung zukommt – vor Armut und drohendem sozialen Abstieg zu bewahren. Dieses Bemühen stieß allerdings, ähnlich wie in Deutschland während der Weimarer Republik, in der eigentlichen Phase der Hyperinflation an Grenzen, als die Preise willkürlich in die Höhe schossen und die Märkte nicht mehr 78

funktionierten. Das Spiel, Geld mit Zeit zu verrechnen, endete jäh, da nur noch das Hier und Jetzt des unmittelbaren Überlebens zählte. Der Staat als übergeordnete Bezugsgröße verschwand in beiden Ländern aus dem Blickfeld der Bürger. Die Initiative ging auf kleine, teils neu gebildete, teils ältere Solidarverbände wie Familienclans und Nachbarschaftsgruppen über – möglicherweise auch dies Ausdruck eines konservativen Impulses, der durch extreme Krisen und Notsituationen aktiviert wird.

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Zwischenbilanz 1 In allen drei hier untersuchten Fällen lösten die Verluste bei den Betroffenen starke Gegenreaktionen aus, mobilisierten in ihnen Kräfte, welche sich gegen die veränderte Situation sperrten. Diese Gegenkräfte, sei es die Weigerung, das Hinscheiden eines nahen Angehörigen zu akzeptieren, die Idealisierung und das Festhalten an einer Heimat, die man mehr oder weniger freiwillig verlassen hat, oder das Hochhalten von Prinzipien des Finanzgebarens, die durch die galoppierende Inflation ad absurdum geführt wurden, erschwerten die Anpassung an die neuen Verhältnisse. Ihr Ursprung lag in Emotionen und in tieferen Persönlichkeitsschichten verankerten Werthaltungen, die wir hier summarisch als konservativen Impuls bezeichnen. Eines der Hauptziele des Kapitels bestand darin, eine präzisere Vorstellung von den Determinanten des konservativen Impulses zu gewinnen, die seine Stärke bestimmen. Generell wird man davon ausgehen können, dass der Drang, zum Status quo ante zurückzukehren, proportional zur Größe des erlittenen Verlustes ansteigt. Im Übrigen wurden in der Einleitung drei Kriterien für die Stärke des Impulses genannt, die zu überprüfen waren: die Umkehrbarkeit oder Unumstößlichkeit des Wandels, dessen Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit und der Zeitfaktor. Wobei davon ausgegangen wurde, dass ein nicht zu kurz bemessener Zeitraum die Gewöhnung an die neue Lage erleichtert. Das härteste, weil an unverrückbaren Tatsachen festgemachte Kriterium von diesen dreien dürfte die Möglichkeit oder Unmöglichkeit sein, das Geschehene rückgängig zu machen. Die Barriere, die mit einer definitiv eingetretenen Veränderung errichtet wird, setzt dem konservativen Impuls unüberwindbare Grenzen. Schlechthin irreversibel 80

ist der Tod, doch auch die Auswanderung ist für die zweite und die folgenden Generationen ein fait accompli, das die Rückkehr zu früheren Verhältnissen weitgehend ausschließt. Umgestaltungen und der Eintritt in neue Situationen, die revidierbar sind, lassen dagegen die Möglichkeit offen, den Status quo ante wieder herzustellen. Das zweite Kriterium, ob der Wandel freiwillig ist oder nicht, ist wesentlich »weicher« als das erste, da es von der Einstellung der Betroffenen abhängt. Es ist denkbar, dass anfangs auf Ablehnung stoßende Entwicklungen, denken wir etwa an die 1975 einsetzende Megainflation in Argentinien, nach einiger Zeit von Gruppen, die daraus einen Vorteil zu ziehen gelernt haben, befürwortet werden. Umgekehrt können zunächst sehnsüchtig herbeigewünschte Veränderungen, beispielsweise der Traum von einer besseren Zukunft in einem anderen Land, aufgrund ursprünglich unterschätzter Schwierigkeiten nachträglich in einem wesentlich negativeren Licht erscheinen. Die jeweilige anfängliche Einstellung darf, mit anderen Worten, in ihrer Tragweite nicht überschätzt werden.1 Für beide genannten Determinanten kommt dem Zeitfaktor große Bedeutung zu. Dieser enthält sowohl eine objektive als auch eine subjektive Komponente im Sinne von »Zeitmanagement«. Dass Zeit »Wunden heilt« ist allgemein bekannt, doch wie viel Zeit der Einzelne dafür jeweils braucht und ihm von der Gesellschaft zugestanden wird, kann stark variieren. An sich wäre es sinnvoll, die Prozesse einschneidenden beschleunigten Wandels von der Vorphase, in der diese sich anbahnen, und der Folgephase ihrer Abarbeitung zu unterscheiden. Doch der Trennstrich lässt sich nicht immer sauber ziehen, beispielsweise fielen bei der Weimarer Inflation deren ins öffentliche Bewusstsein dringende plötzliche Steigerung und der Zeitraum, der zur Verfügung stand, um mit ihr umgehen zu lernen, weitgehend zusammen. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über die Kombinationsmöglichkeiten der drei Kriterien, angefangen von einer relativ schwachen bis hin zur denkbar stärksten Ausprägung des konservativen Impulses. Der Unumkehrbarkeit einer einschneidenden Entwick1

Wippler, Erklärung unbeabsichtigter Handlungsfolgen.

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lung wird mehr Gewicht für die Neutralisierung des konservativen Impulses beigemessen als der Frage, ob diese freiwillig war oder nicht. Zu kurz bemessene Gewöhnungs- und Lernphasen, so die Annahme, bestärken eine konservative Einstellung, reichlich zur Verfügung stehende Anpassungszeiten schwächen sie tendenziell ab. Schaubild 1: Determinanten des konservativen Impulses Verlustdimension

Akzeptanz des Wandels

Anpassungszeit

irreversibel

freiwillig

lang

irreversibel

freiwillig

kurz

irreversibel

unfreiwillig

lang

irreversibel

unfreiwillig

kurz

reversibel

freiwillig

lang

reversibel

freiwillig

kurz

reversibel

unfreiwillig

lang

reversibel

unfreiwillig

kurz

Stärke des Impuls schwacher Impuls

Zwischenimpuls

starker Impuls

Aus der Tabelle ist zu ersehen, dass irreversibler, freiwillig herbeigeführter Wandel, gleichviel ob die Anpassungszeit kurz oder lang ist, meist keinen großen konservativen Impuls hervorruft. Im unteren Teil der Tabelle liegen die Verhältnisse umgekehrt, hier sind die auf eine Rückkehr zu früheren Verhältnissen drängenden Kräfte so stark, dass wenig Bereitschaft besteht, sich auf die veränderte Situation einzulassen. Die von einem Großteil der Deutschen als Hexensabbat empfundene Hyperinflation in der Weimarer Republik war ein solcher Fall. Die interessantesten Fälle sind in den Zwischenlagen des »Einerseits-andererseits« angesiedelt, wo die das Wagnis eines Sprungs nach vorne unterstützenden mit den traditionsverhafteten Antriebskräften in Konflikt liegen. Ihr Ringen gestattet es, sich ein Urteil über ihre jeweilige Stärke, auch über mögliche Arrangements und Kompromisse zwischen ihnen zu bilden. Tod und Trauer sowie der Diasporastatus der Migranten zweiter und dritter Generation fallen in diese Zwischenkategorie. Im Falle irreversibler Verlusterfahrung behält nor82

malerweise das Realitätsprinzip die Oberhand, das die Anpassung an die neue, nicht mehr veränderbare Lage begünstigt. Der in ein Rückzugsgefecht verwickelte konservative Impuls muss sich schließlich geschlagen geben. Was nicht bedeutet, dass er nicht in modifizierter Form fortlebt. Der anfängliche Widerstand gegen eine Veränderung und der Impuls, das altbekannte zu bewahren, bilden vielmehr im Regelfall eine Bedingung für das Gelingen des Anpassungsprozesses. Anpassung woran und wofür? Bereits in der Literatur zur Trauer über den Tod naher Angehöriger wurde auf die Unterscheidung zwischen gesunden und pathologischen Formen der Trauer hingewiesen. Die damit aufgeworfene Frage nach dem zugrunde liegenden Unterscheidungskriterium wurde mit der Einführung des Konzeptes eines gelungenen oder misslungenen Identitätsmanagements im Rahmen des Trauerprozesses beantwortet. Dieses Konzept ist zum einen so dynamisch angelegt, dass es erlaubt, eine Brücke zwischen den in der Vergangenheit liegenden Erfahrungen und den in der Zukunft sich stellenden Aufgaben zu schlagen; und es ist zugleich so allgemein, dass sich eine Vielfalt individueller und kollektiver Reaktionen darunter subsumieren und auf ihre Angemessenheit hin überprüfen lässt. Seine erste Bewährungsprobe bestand das Konzept bei der Analyse der beiden anderen Fälle von individueller Verlusterfahrung: Das allen zweckrationalen Argumenten widersprechende Finanzgebaren der meisten Deutschen während der Hyperinflation in der Weimarer Republik dürfte vor allem damit zu erklären sein, dass ihnen die Wahrung eines an bestimmte Grundüberzeugungen und herkömmliche Praktiken gebundenen seelischen Gleichgewichts in der Krisensituation wichtiger war als die Anpassung an eine als vorübergehend eingeschätzte, die traditionellen Regeln des Geldverkehrs auf den Kopf stellende Entwicklung des Finanzsektors. Ähnlich lässt sich die Tatsache deuten, dass ausgerechnet im weitgehend säkularisierten Deutschland innerhalb der ebenfalls großenteils säkularisierten türkischen Migranten ein Re-Islamisierungsprozess einsetzte. Viel spricht dafür, dass der Verlust der Heimat, verbunden mit dem Anpassungsdruck in der Fremde, eine tiefe Erschütterung des Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins vieler Migranten nach sich zog, die nach einer 83

Identitätsvergewisserung in Form einer Aufwertung ihres traditionellen Glaubens verlangte. »Identitätsmanagement« klingt etwas schwammig und allgemein, lässt aber eher Zwischenlösungen und Kompromisse zu als die rigide Unterscheidung zwischen gesunden und pathologischen Reaktionen auf Verluste. Ich bin auf drei solche sozialpsychologischen Kompromissformen gestoßen, die jeweils mit den Variablen freiwillige/unfreiwillige Veränderungen, reversibler bzw. irreversibler Verlust und dem Zeitparameter zusammenhängen. Der erste dieser Mechanismen ist die Abwehr oder das Hinauszögern eines drohenden Verlusts, solange es geht. Wenn etwa ein todkranker Patient durch medizinische Maßnahmen über die normale Sterblichkeitsgrenze hinaus »künstlich« am Leben erhalten wird, steht dahinter ein solcher Abwehrmechanismus. Ist der Verlust tatsächlich eingetreten, so löst er nicht selten die Suche nach Kompensationsmöglichkeiten für die erlittene Einbuße aus. »Kompensation«, das Streben danach, Ersatz für etwas Verlorengegangenes zu finden, ist ein uraltes, in vielerlei Wissenschaften, von der Philosophie bis zur Psychologie, benütztes Konzept.2 Wir sind auf diese Reaktionsform bei den Migranten aufmerksam geworden, die in der Fremde eine Ersatzheimat für die zurückgelassene Heimat zu errichten trachten. Um, je nach Perspektive, der Unbarmherzigkeit oder Gnade des Zeitablaufs zu trotzen, bietet sich schließlich die Figur der »Ausnahmesituation« an. Sie erspart es Einzelnen und sozialen Kollektiven, Zugeständnisse an unerfreuliche Entwicklungen zu machen, da diese als außergewöhnliche, den üblichen Zeitrahmen sprengende Ereignisse und Prozesse keine dauerhafte Gültigkeit beanspruchen können, sondern, wie man annimmt, über kurz oder lang von normalen Verhältnissen abgelöst werden. Die Weimarer Hyperinflation wurde vielfach als ein solcher Ausnahmezustand betrachtet.

2

Marquard, Kompensation.

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II Verlust politischer Stabilität: Revolution und Reaktion

Die Französische Revolution von 1789 und ihre Folgen Bei der Französischen Revolution von 1789 handelt es sich um ein ebenso komplexes wie gründlich erforschtes Phänomen; es gibt einen eigenen Lehrstuhl in Paris, der ausschließlich diesem Thema gewidmet ist.1 Die Untersuchungsschwerpunkte wechselten im Laufe der Zeit ebenso wie die Beurteilungsmaßstäbe und die Grundeinstellung zur Revolution. Die Kontroversen drehten sich u.a. um die Fragen, ob der Zeitraum von 1789 bis 1799 (Machtergreifung Napoleons) als ein einheitlicher Block zu behandeln sei oder in mehrere sehr unterschiedliche Phasen zerfalle, ob die Revolution ein primär politisches Phänomen war oder der eigentliche Umwälzungsprozess im sozioökonomischen Bereich stattfand, inwieweit die Revolutionäre ungeachtet ihres Anspruchs, ein gänzlich neues Frankreich zu schaffen, stärker an bereits in der Monarchie angelegte Entwicklungen anknüpften, als ihnen selbst bewusst war, und schließlich die Gretchenfrage, ob man sich mit der Revolution identifiziere, also einen prorevolutionären Standpunkt einnehme oder ihr eher kritisch gegenüberstehe. Erst in jüngerer Zeit hat eine dritte, diese »Entweder-oder« vermeidende strukturgeschichtliche Betrachtungsweise an Einfluss gewonnen, als deren Hauptvertreter François Furet gilt.2 Ich schließe mich weitgehend dem strukturgeschichtlichen Ansatz Furets an, der auch die ausgezeichnete Übersichtsdarstellung über das Revolutionsgeschehen des deutschen Historikers Ernst Schulin maßgeblich beeinflusst hat.3 Wie bei Schulin liegt der Schwerpunkt 1 2 3

Schulin, Die Französische Revolution, S. 25–58. Ebd., S. 25 ff.; Furet/Richet, Die Französische Revolution. Furet, 1789; Schulin, Die Französische Revolution.

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meiner Analyse auf der Transformation des politischen Systems, das wegen seiner Zentralität sämtliche anderen gesellschaftlichen Bereiche, von der Wirtschaft bis hin zur Kultur, tangierte und mittransformierte. Ein Kapitel über die Französische Revolution in diese Arbeit einzufügen, erschien unverzichtbar, da erst durch das im revolutionären Geschehen jäh konkrete Gestalt annehmende utopische Fortschrittsdenken konservative Gegenströmungen ausgelöst wurden, die den »konservativen Impuls« zu einem eigenen Thema machten.4

Historischer Überblick Versuche, die Revolution mehr oder weniger zwingend aus sozioökonomischen, geistig-kulturellen oder politischen Vorbedingungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abzuleiten, sind durchweg an Grenzen gestoßen. Offenbar war es eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, die insgesamt zu einer Staatskrise, einer Art Machtvakuum im politischen Zentrum führte, aus dem die Revolution entsprang, die anschließend eine unvorhersehbare Eigendynamik entfaltete.5 Wirtschaftlich befand sich Frankreich seit dem frühen 18. Jahrhundert auf einem Wachstumskurs mit steigenden Exporterfolgen, die jenen Englands durchaus vergleichbar waren. Die Analyse der sozialen Schichtung erbringt keine eindeutigen Resultate. Der Adel stellte keine geschlossene Kaste mehr dar, sondern war gespalten; nicht wenige Adlige bestanden nicht weiter auf ihren ständischen Privilegien, sondern vertraten liberale Ideen. Das Bürgertum war noch uneinheitlicher in seiner Zusammensetzung und Haltung, von einer geschlossenen Front gegen das herkömmliche Feudalsystem konnte keine Rede sein. Teilweise überschnitten sich seine Wirtschaftsinteressen mit jenen der Aristokratie, teils arbeitete es eng mit der Staatsverwaltung zusammen. Schließlich vermisst man auch in den ländlichen und städtischen Unterschichten ein durchgängiges Interessenprofil. 4 5

Koselleck, »Fortschritt« und »Niedergang«. Schulin, Die Französische Revolution, S. 132 ff.; Mayntz/Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse.

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In allen Ständen und Schichten gab es Untergruppen, die sich mit der Monarchie identifizierten, andere, die mit ihr unzufrieden waren. Auch wäre es verfehlt, der geistigen Strömung der Aufklärung und ihren Hauptvertretern (Montesquieu, Voltaire, Diderot, die Enzyklopädisten) einen entscheidenden Einfluss auf den Ausbruch der Revolution zuschreiben zu wollen. Sie setzten sich für das Naturrecht ein und appellierten an die Vernunft, doch nach klaren Direktiven, welche politischen Maßnahmen geboten seien, sucht man in ihren Schriften vergebens.6 Wo die deutlichsten Schwächesymptome zutage traten, war in der Staatsverwaltung. Mit dem absolutistischen Regime Ludwigs XIV. im 17. Jahrhundert hatte die Regierung Ludwig XVI . nur noch das Etikett eines monarchischen Herrschaftssystems gemeinsam. Um den Hof und die Exekutive herum war eine Zwischenschicht von Amtsträgern, Institutionen und Körperschaften (Parlamente, Provinzialstände, noblesse de robe) entstanden, welche die monarchischen Entscheidungsträger in ihrer Handlungsfreiheit einschnürten. Daran war nicht zuletzt die Käuflichkeit der Ämter als Mittel, um die defizitäre Staatskasse zu füllen, schuld. Sie führte dazu, dass die Zahl der Beamten ein Vielfaches der erforderlichen Verwaltungsposten betrug. Wiederholte Versuche weitsichtiger Minister, die Staatsfinanzen durch eine Steuerreform zu sanieren, scheiterten regelmäßig am Widerstand der zwischen Krone und dem Gros der Bevölkerung platzierten Zwischenschichten. Je schwächer der Staat, je brüchiger die monarchische Legitimität wurde, umso ungenierter und rücksichtsloser verfolgten die mit einer Vorzugsposition ausgestatteten Gruppen ihre gemeinwohlschädigenden Partikularinteressen: Die privilegierten Stände versicherten sich teilweise erneut ihrer Sonderrechte (»Rearistokratisierung«) oder gingen über die Parlamente auf Distanz zur Krone, der Klerus verfolgte seine eigenen Ziele und rivalisierte in seiner Macht- und Prachtentfaltung mit den weltlichen Würdenträgern, das Bürgertum engagierte sich, soweit ihm nicht die Nobilitierung durch Ämterkauf gelungen war, in politischen Zirkeln und Klubs, die eine monarchiekritische 6

Baczko, Artikel »Aufklärung«.

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Stimmung in der Öffentlichkeit erzeugten. Auch in der Unterschicht wuchs die Unzufriedenheit mit dem Regime. Die städtischen Arbeiter, Handwerker und Kleinhändler litten unter der Krise der Textilindustrie und empörten sich über den durch Missernten ausgelösten Anstieg der Brotpreise, während die Kleinbauern auf dem Land durch die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Ausbreitung des Agrarkapitalismus in Bedrängnis gerieten.7 In einem letzten verzweifelten Versuch, der Finanzkrise Herr zu werden und den Staatsbankrott abzuwenden, berief die Regierung im August 1788 die Generalstände ein, die seit über 150 Jahren (seit 1614) nicht mehr getagt hatten. Die Generalstände schlossen in Form des dritten Standes auch das »Bürgertum« mit ein, zu dem nicht nur Bürger im engeren Sinn, sondern auch Arbeiter, Handwerker und Bauern zählten. Der dritte Stand erklärte sich bald nach Beginn der Sitzungsperiode, im Mai 1789, zur Assemblée nationale, zur Nationalversammlung, und setzte sich damit, in einer Art von unblutigem Staatsstreich, an die Stelle sämtlicher in der Generalversammlung vertretenen Stände. Dieser Usurpationsakt, der einem öffentlichen Paukenschlag gleichkam, markierte den Beginn der Revolution. Unter Revolutionshistorikern ist man sich einig, dass das Revolutionsgeschehen durch große Brüche, Verwerfungen und Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet war. Aus diesem Grund erscheint eine chronologische Darstellung der wichtigen Ereignisse und Entwicklungen von 1789 bis 1799 wenig sinnvoll. Ebenso wenig ratsam ist es, sich an der Sukzession formaler Entscheidungsträger (Nationalversammlung, Legislative, Konvent) zu orientieren, da die tatsächliche Macht durch Untergruppen innerhalb dieser Versammlungen, teils auch durch außerhalb des formalen Willensbildungsprozesses stehende Sektionen und Zirkel, ausgeübt wurde. Eine Schlüsselvariable für den Verlauf des Revolutionsprozesses bildete das Kriegsgeschehen, da es den Zwang mit sich brachte, die revolutionären »Errungenschaften« sowohl nach außen, gegen externe Mächte, als auch »nach innen« gegen Gruppen, Städte und Regionen, die sich dem von Paris ausgehenden politischen Konformitätsdruck nicht unterwerfen wollten, zu ver7

Schulin, Die Französische Revolution, S. 143 ff., 192 f.

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teidigen. Von daher liegt es nahe, das Revolutionsgeschehen in zwei Hauptphasen einzuteilen: 1789 –1792, die Zeit vor dem Kriegseintritt Frankreichs, und 1793 – 1799, die Zeit danach.8 Die ersten drei Jahre trugen den Stempel einer bürgerlichen Revolution, die jedoch nicht allein vom erstarkten Bürgertum, sondern auch von Teilen der bis dahin privilegierten Stände, des Adels und des Klerus (vor allem des niederen Klerus), getragen wurde. Durch eine Reihe gesetzlicher Maßnahmen wurde Frankreich in wenigen Monaten von einer Monarchie und Ständegesellschaft in eine Nation verwandelt, die sich zwar noch konstitutionelle Monarchie nannte, in der aber faktisch die Souveränität auf das Volk übergegangen war. Zu diesen Maßnahmen, die im Zuge der Vorbereitung einer schriftlichen Verfassung verabschiedet wurden, zählten u.a. die Abschaffung sämtlicher Feudalrechte, wie etwa die grundherrschaftliche Rechtsprechung und das Jagdrecht (auch die Adelstitel wurden abgeschafft), die Konfiszierung der Kirchengüter, eine Steuerreform sowie die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte. Die bürgerliche Revolution lief gewissermaßen auf der Vorderbühne, im Lichte der nationalen und internationalen Öffentlichkeit ab. Daneben gab es aber zwei weniger beachtete Unter- bzw. Teilrevolutionen, sodass Furet von insgesamt drei Revolutionen spricht, die einander ergänzten, teilweise aber auch gegenläufig stattgefunden hätten.9 Die zweite Revolution ging von den Bauern aus, die sich im Sommer 1789, erschreckt durch das Gerücht, ein reaktionärer Gegenschlag des Adels stehe bevor, gebietsweise bewaffneten und gewaltsam gegen Herrensitze und Schlösser vorgingen, sie ausraubten, zerstörten oder in Flammen aufgehen ließen. Der Initiator der dritten Teilrevolution waren die städtischen Unterschichten. Aufgebracht über steigende Brotpreise und die generelle Nahrungsmittelknappheit, rissen sie bereits in dieser ersten Phase das Gesetz des Handelns wiederholt an sich. Das war etwa beim Sturm auf die Bastille, einem symbolträchtigen Gefängnis, am 14. Juli 1789 der Fall, als es zu den ersten gewalt8 9

Bergeron/Furet/Kosselleck, Das Zeitalter der europäischen Revolution, S. 51 ff. Furet, 1789, S. 16 f.; Bergeron/Furet/Kosselleck, Das Zeitalter der europäischen Revolution, S. 36–39.

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samen Auseinandersetzungen mit Toten auf beiden Seiten kam, und erneut beim Zug nach Versailles im Oktober desselben Jahres, um den König nach Paris zu holen, ein Akt kollektiver Anhänglichkeit (die Pariser Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt noch überwiegend royalistisch) und zugleich eine Demonstration der Stärke, bei der sich die Pariser Marktweiber besonders hervortraten. Im weiteren Verlauf der Geschehnisse erhöhte sich der im Rahmen der dritten Teilrevolution von den Pariser Unterschichten auf die jeweiligen Versammlungsgremien ausgeübte Druck. Vor allem nach dem Eintritt in den von Frankreich erklärten Krieg gegen die monarchisch verfassten europäischen Großmächte rückte auch im politischen Diskurs die Berufung auf das Volk, den gemeinen Bürger, als Grundeinheit jeder Nation immer mehr in den Vordergrund. Damit begann die zweite Revolutionsphase, in welcher sich der Schwerpunkt der politischen Diskussion, einer immanenten Radikalisierungsdynamik folgend, zunehmend von der Mitte nach »links« verschob: von der plaine, der Ebene, in der Versammlung hin zur montagne, der Bergpartei, von den Girondisten zu den Jakobinern. Es folgten die Schreckensjahre der Revolution, die Jahre des Terrors, der nun in den eigenen Reihen der Revolutionäre zu wüten begann und dem eine wachsende Zahl ihrer Anhänger zum Opfer fiel, bis schließlich die verbleibende Minderheit den Hohepriester des Opferungsrituals, Robespierre selbst, zwang, das Schafott zu besteigen und damit dem grauenerregenden Spuk ein Ende setzte. Das Ausufern der Gewalt war nicht zuletzt dem Blut- und Rachedurst des Pariser Plebses gegenüber den höheren Ständen zuzuschreiben, als zentrale Rechtfertigungsformel dafür diente jedoch der Krieg.10 Es gelte, so hieß es, alle Kräfte aufzubieten und nicht die geringste politische Abweichung zu dulden, um die Revolution gegen ihre »äußeren«, aber auch gegen ihre »inneren« Feinde, die »Verräter« zu verteidigen. Verschiedene Städte, u.a. Marseille, Bordeaux und Lyon, hatten sich nicht der zentralistischen, von Paris ausgehenden Jakobinerherrschaft gebeugt, besonders hartnäckig hielt die ländliche Bevölkerung der Vendée an ihrer Loyalität gegenüber dem König und 10

Bergeron/Furet/Kosselleck, Das Zeitalter der europäischen Revolution, S. 59.

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der Kirche fest. Sämtliche Aufstände wurden aufs brutalste unterdrückt, die Vendée wurde verwüstet, ein Großteil ihrer Bevölkerung liquidiert. Der schwelende Bürgerkrieg wurde von den Revolutionären bereits im Keim erstickt. Der Krieg hielt auch nach dem Sturz Robespierres unter dem sogenannten Direktorium an. Das zweite Jahrfünft der Revolution hat in der französischen Geschichtsschreibung keine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Es handelt sich um eine Zwischenphase der Ernüchterung und Interessenpolitik, in der einerseits der Schwung der ersten Revolutionsjahre verloren gegangen war, während sie andererseits noch nicht mit einer Glanzfigur wie Napoleon aufwarten konnte.11 Gewiss fielen in diese Phase einige unmittelbare Gegenreaktionen auf das eben zu Ende gegangene revolutionäre Experiment, doch insgesamt erscheint sie unter dem Gesichtspunkt des Ringens progressiver mit konservativen Kräften wenig ergiebig. Ich wende mich deshalb direkt der mit dem Staatsstreich 1799 beginnenden Herrschaft Napoleons zu, welche den Wirren und politischen Umbrüchen der Revolution ein vorläufiges Ende setzte. Napoleons Einmannherrschaft war der erste Fall einer Diktatur, deren es im 19. und 20. Jahrhundert noch mehrere geben sollte, die sich wie eine eiserne Glocke auf eine von widerstreitenden politischen Kräften zerrissene Gesellschaft legte und deren temporäre Versöhnung erzwang.12 Daneben lag sein innenpolitisches Verdienst darin, dass er eine Synthese zwischen den traditionellen Strukturen des Königreichs und den durch die Aufklärung vorbereiteten Prinzipien moderner Regierungsführung herzustellen unternahm. Er führte die monarchische Tradition fort und durchbrach sie zugleich, indem er sich zum Kaiser, nicht zum König krönen ließ. Er lenkte im Konflikt mit Rom durch den Abschluss eines neuen Konkordatsvertrags ein, rüttelte aber nicht am durch die Revolution eingeführten Grundsatz, dass Priester staatsabhängige Beamte sind. Er errichtete ein autokratisches zentralistisches Regime, reicherte es jedoch durch eine zusätzliche demokratische Komponente in Form von Volksreferenden an. 11 12

Schulin, Die Französische Revolution, S. 247. Bergeron/Furet/Kosselleck, Das Zeitalter der europäischen Revolution, S. 135 ff.

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Er erneuerte den Adelsstand, machte die Aufnahme in ihn aber von persönlichen Leistungen und Verdiensten abhängig. So klug und umsichtig diese innenpolitischen Reformen waren, so wenig erfolgreich und dauerhaft waren Napoleons Bemühungen, auf militärischem Wege eine staatliche Neuordnung Europas zu erreichen. Der gescheiterte Russlandfeldzug von 1812 leitete den Niedergang seines Imperiums ein. Auch innenpolitisch blieb Napoleon ein dauerhafter Erfolg versagt. Nach seiner Abdankung standen sich die Vertreter des durch die Revolution entmachteten monarchischen Systems und die das Volk zum Souverän erklärenden Kräfte in unverminderter Feindschaft gegenüber. Es sollten noch lange Jahrzehnte vergehen, bevor sie in Form der III . Republik einen verfassungsmäßigen Kompromiss erzielen würden.13

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Die drei Grundforderungen, die in der Französischen Revolution erhoben wurden, werden zwar immer in einem Atemzug genannt, hinter ihnen standen aber unterschiedliche soziale Kräfte und Schichten. Frei sein von jeglicher politischer Bevormundung wollte vor allem das städtische Bürgertum, das über Besitz und professionelle Fähigkeiten verfügte. Auch die Bauern verlangten Befreiung von den auf ihnen ruhenden Lasten der Feudalherrschaft. Das im Laufe der Revolution immer mehr in den Vordergrund rückende Gleichheitsprinzip bezog sich dagegen auf das Volk allgemein. Konkret machte sich vor allem die Pariser Unter- und untere Mittelschicht, die während der Revolution ein wachsendes Selbstbewusstsein entwickelte, den Ruf nach Gleichberechtigung zu eigen, unterstützt von Minderheitsfraktionen der anderen Stände und Schichten, die sich der Sogkraft des damit angesprochenen gesellschaftlichen Idealzustands nicht entziehen konnten. Einen am Schluss des vorangehenden Kapitels ausformulierten Gedanken aufgreifend, würde ich die These vertreten, dass die vom 13

Furet, 1789, S. 10 ff.

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Revolutionsgeschehen ausgehende Faszination ihren tieferen Grund in einem neu aufscheinenden kollektiven Identitätsverständnis hatte. Nicht von ungefähr ist in den grundlegenden Reflexionen zur Französischen Revolution von François Furet bereits auf den ersten zwanzig Seiten mehrmals von einem Identitätswandel die Rede.14 Die Französische Revolution stand für den Entwurf und die partielle Umsetzung eines neuen Typs politischer Gemeinschaft, in dem es keine hierarchischen Abhängigkeiten und Interessenkonflikte mehr geben, sondern eine aus dem Gleichheits- und Brüderlichkeitsgedanken erwachsene soziale Harmonie herrschen sollte. Das eigentlich Neue an dieser Konzeption war, dass erstmals in der jüngeren europäischen Geschichte Abhilfe für bestehende Missstände nicht durch den Rekurs auf angeblich gerechtere und besser funktionierende Herrschaftsverhältnisse in der Vergangenheit gesucht, sondern das Bild einer verheißungsvollen Zukunft entworfen wurde. Um das berühmte Hegelwort zu zitieren. »Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.«15 In der Tat stellte die vom radikalen Jakobinerflügel entwickelte Zukunftsvision die bestehende Ordnung buchstäblich auf den Kopf. Aus den Untertanen des Königs sollten mit einem Schlag Bürger einer Nation werden, Standesunterschiede sollten der Gleichberechtigung sämtlicher Bürger gegenüber der Obrigkeit Platz machen. Das klang unwahrscheinlich und kontraintuitiv. So erstaunt es nicht, dass dem neuen politischen Ordnungsentwurf etwas Fiktives anhaftete. Dazu trug nicht zuletzt die große Geschwindigkeit bei, mit der die revolutionären Ideen in der ersten Phase umgesetzt wurden. Es sei nochmals darauf hingewiesen: Es bedurfte nur weniger Monate von der Einberufung der Generalstände über die Umwidmung des dritten Standes zur verfassunggebenden Versammlung bis zur Verabschiedung einiger Gesetze, durch die das politische System auf eine gänzlich neue Grundlage gestellt wurde. Das feudale Frankreich wurde 14 15

Furet, 1789. Zitiert nach Schulin, Die Französische Revolution, S. 11.

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hinweggefegt und durch ein neues Frankreich ersetzt, in dem das Volk der Souverän und Gleichheit das Schlüsselprinzip war. Hegels Ausspruch hatte auch insofern einen wahren Kern, als im revolutionären Prozess anstelle von Machtinteressen und Rechtsansprüchen »Gedanken« in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion rückten, welche die Realität zweitrangig erscheinen ließen. Die politische Auseinandersetzung lief wie eine groß angelegte Theaterinszenierung ab und wurde von vielen Beteiligten der ersten Stunde über weite Strecken auch so empfunden. Nicht nur blühte in der Revolutionszeit tatsächlich das Theater mit einem neuen Publikum, dem Kleinbürgertum, auf, sondern Realität und Theater gingen oft fließend ineinander über. Dasselbe Publikum, das im Konvent von den Rängen mit großem Interesse die politischen Debatten verfolgte, feuerte bei Theateraufführungen die Schauspieler an und schob ihnen gelegentlich Zettel mit zusätzlichen (revolutionären) Sprüchen zu.16 Gleichwohl wäre es verfehlt zu glauben, die Akteure und ihre Zuschauer oder Zuhörer hätten den in Gang gekommenen politischen Transformationsprozess als eine Art Show verstanden. Trotz eines ausgeprägten Bühnenelements in den politischen Auseinandersetzungen waren sich alle Beteiligten darüber im Klaren, dass sie Geschichte schrieben und für die Folgen ihrer Äußerungen und Entscheidungen einstehen mussten. Dies lässt sich nicht nur aus ihren teils sentimentalen, teils pathetischen verbalen Einlassungen ersehen, sondern auch aus ihrer Bereitschaft, die jeweils übernommene Rolle bis zum bitteren Ende durchzuspielen. Man lese etwa die Kommentare Dantons und anderer revolutionärer Vorkämpfer zu ihrer Verurteilung zum Tode und ihre letzten Worte vor der Hinrichtung.17 Hier stößt man auf dieselbe Leidenschaft wie auch auf die Distanz zum eigenen Schicksal und die Bereitschaft, für das gemeinsame Anliegen Opfer zu bringen, wie auch die französischen Soldaten im Rahmen der levée en masse auf den europäischen Schlachtfeldern ihr Leben für die vaterländische Mission aufs Spiel setzten. 16 17

Furet, 1789, S. 59 f.; Schulin, Die Französische Revolution, S. 242. Schulin, Die Französische Revolution, S. 234.

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Nur wenn man die ungeheure Strahlkraft in Rechnung stellt, die von dem neuen Ideal nationaler Identität, ungeachtet seines noch fiktiven Charakters, ausging, wird plausibel, warum es sich gegen alle »vernünftigen« Bedenken durchsetzte und ständig an Bedeutung gewann, während seine Gegner in Bedrängnis gerieten. Dem Gleichheitsgedanken und dem »Volk« als neuer ideeller Entität war eine argumentative Durchschlagkraft zu eigen, gegen die rhetorisch schwer anzukommen war. Die Mitte des politischen Spektrums verschob sich in der konstituierenden Versammlung und im Konvent kontinuierlich von rechts nach links. Konservative Bedenkenträger und skeptische Geister sahen nur noch eine Chance, sich breiteres Gehör zu verschaffen, wenn sie sich dem Anschein nach an die Spitze des radikalen Trends setzten. Es blieb nicht allein bei der Wunschproklamation einer neuen Form von Gesellschaft, sondern gelegentlich fanden bereits entsprechende Experimente statt, vor allem anlässlich der zahlreichen großen und kleinen Feste, die meistens unter freiem Himmel gefeiert wurden. Das wichtigste von ihnen war ein dem höchsten Wesen im Juni 1794 geweihtes Fest, bei dem unter der Leitung des »Oberpriesters« Robespierre viel gesungen und die Errungenschaften der Revolution gepriesen wurden. Gelegentlich konnte es bei solchen Feiern auch zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen, doch das war eher die Ausnahme als die Regel. Bezeichnend für diese Ereignisse war vielmehr eine Stimmung der Ausgelassenheit und klassenübergreifender sozialer Harmonie.18 Ähnliche Szenen ekstatischer Heiterkeit und Freude sollten sich viele Jahrzehnte später anlässlich der Revolution von 1848, im Rahmen der Pariser Kommune von 1870, und zum letzten Mal nach der Befreiung der französischen Hauptstadt von der deutschen Besatzungsherrschaft 1944 wiederholen.19 Generell kann man der Revolution, vor allem soweit sie in Paris stattfand, eine beachtliche schöpferische Potenz bescheinigen. Sie führte unter Abschaffung der Heiligentage ein grundlegend neues Kalendersystem ein, transformierte das Theaterleben, kreierte neue Klei18 19

Schulin, Die Französische Revolution, S. 243. Zolberg, Moments of Madness.

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dermoden. Unter der Regie revolutionärer Politiker wurden erstmals Museen gegründet, und vor allem das Druck- und Pressewesen erfuhr eine enorme Ausweitung.20 Da die Auseinandersetzung um die Neugestaltung Frankreichs in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, vermehrte sich die Zahl der Zeitungen und Broschüren, insbesondere jener, die sich für radikale Neuerungen einsetzten, um ein Vielfaches. Die führenden revolutionären Köpfe verstanden sich als Erzieher der Nation, deren Aufgabe darin bestand, mittels eines gelenkten Kulturwandels die unmündigen Massen auf das anbrechende neue Zeitalter vorzubereiten. Es gab aber auch mehr oder weniger spontane Initiativen »von unten«. Dies gilt beispielsweise für die Figur des Sansculotte, einen im Arbeiter-, Krämer- und Handwerkermilieu unter den Revolutionsanhängern aufkommenden Kleidungsstil und Habitus, bei dem die in den höheren Ständen übliche enge Kniehose durch eine bequeme, locker sitzende lange Hose, wie sie als Arbeitskleidung üblich war, ersetzt wurde, das Haar nicht mehr gepudert wurde und als Kopfbedeckung die rote phrygische Mütze benutzt wurde, ein Erinnerungszeichen an die freigelassenen Sklaven in der Antike.21 All dies unterstreicht, dass es sich bei den kulturellen Innovationen um mehr als einen flüchtigen Mode- und Stimmungswechsel handelte, sondern dahinter ein, wenngleich auf bestimmte soziale Gruppen und Stadtviertel begrenzter, sich anbahnender Mentalitätswandel stand. Um diesen besser zu verstehen, sind zwei Vorbedingungen zur Sprache zu bringen, welche der Revolution den Weg bereitet haben. Zum einen ist nochmals auf die großen Schriftsteller der Aufklärung, auf Voltaire, Rousseau, Diderot und andere, zu verweisen. Wie eingangs erwähnt, kann man sie schwerlich für den Ausbruch der Revolution und noch weniger für deren Exzesse verantwortlich machen. Gleichwohl haben sie das Revolutionsgeschehen maßgeblich beeinflusst, und zwar vor allem durch die Art und Weise, wie sie sich öffentliches Ansehen erwarben. Es handelte sich durchweg um Männer des Wortes ohne reale Machtbasis. Ihr Prestige war allein dem Umstand zuzuschreiben, dass sie es verstanden, Ideen in Umlauf zu brin20 21

Reichardt, Das Blut der Freiheit. Schulin, Die Französische Revolution, S. 240.

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gen, die von den Gebildeten, einer kleinen Minderheit, aufgegriffen und in begrenzten Zirkeln diskutiert wurden.22 Diese eminente Bedeutung der Sprache, der rhetorischen Brillanz, der Rede und Widerrede prägte auch die Debatten in den revolutionären Versammlungen und Gremien. In ihnen wurden Ideale beschworen, eingängige Formulierungen und Argumente vorgebracht, die Gegenseite logischer Widersprüche bezichtigt, in die sie sich verwickelt habe. Die in den Versammlungen entfalteten rhetorischen Künste und Argumentationsmuster wurden in den Klubs und Redezirkeln auf ein einfacheres Niveau heruntergebrochen und fanden durch die zahllosen aus dem Boden geschossenen Zeitungen Verbreitung und Resonanz.23 Die zweite Vorbedingung war ein Machtvakuum im Zentrum des politischen Systems, dass sich umso schwerwiegender auswirkte, als allgemein, auch von den Revolutionären, von der unbegrenzten Gestaltungskraft des Politischen ausgegangen wurde.24 Der König nahm gegenüber dem revolutionären Geschehen lange Zeit eine schwankende Haltung ein, der Hofstaat um ihn herum wirkte schwach und unentschlossen. All dies ermunterte die aufbegehrenden gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen, in dieses Vakuum vorzustoßen und es mit neuen Ideen und Parolen zu besetzen. Es setzte ein Suchprozess nach einem neuen politischen Selbstverständnis ein, der um die Begriffe Freiheit, Volk, Gleichheit, Verrat und Verschwörung kreiste. Längere Zeit konnte sich kein schlüssiges Ordnungsmodell durchsetzen, blieb die Lage instabil, da die Gemäßigten den Radikalen misstrauten und die Radikalen sich auf keinen Kompromiss mit den Gemäßigten einlassen wollten. Es ist kein Zufall, dass sich die revolutionären Kräfte fünf Jahre lang außerstande sahen, eine Regierung zu bilden. Erst der nach außen und nach innen zu führende Krieg verlieh der Revolution eine eindeutige Orientierung und der revolutionären Gesellschaft ein schärferes Profil. Er hatte die Konzeption eines nationalen Volkes zur Voraussetzung und die Entstehung eines Nationalbewusstseins zur Folge. Nun ließen sich die anfangs vagen Verrats22 23 24

Baczko, Artikel »Aufklärung«, S. 1028 ff. Furet, 1789, S. 62. Furet, 1789, S. 36; Baczko, Artikel »Aufklärung«, S. 1029.

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anschuldigungen und Verschwörungsvermutungen mit konkretem Inhalt füllen. Der Krieg verstärkte die Tendenz der Jakobiner zu Intoleranz und Radikalität und rechtfertigte ein Terrorregime, um ihre Gesellschaftskonzeption durchzusetzen. Der durch den Krieg geweckte Nationalismus war besser geeignet, unter den Kämpfenden das Bewusstsein eines gemeinsamen Schicksals und einer gemeinsamen Zukunft zu erzeugen, als die ursprüngliche Mission, im Zeichen der Revolution weltweit für ein neues Verständnis von Gesellschaft und individuellen Grundrechten zu werben. Bis heute gilt Frankreich als das Mutterland des Nationalismus, eine Ideologie, die sich nach dem Ende der Revolutionskriege in ganz Europa in Windeseile verbreitete. Heute gibt es kaum mehr ein Land, das sich nicht als Nationalstaat versteht.

Konservative Kräfte und Elemente Der konservative Impuls kam auf dreifache Weise während der Revolution und nach ihrer Beendigung zum Tragen. Die erste und offenkundigste Form war der Widerstand vieler Franzosen gegen den Sturz eines jahrhundertealten Regimes. Da der Widerstand das Revolutionsgeschehen nicht aufzuhalten vermochte, setzten anschließend intensive Bemühungen ein, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und erneut die Monarchie einzuführen. Sie bilden einen weiteren Beleg für die im vorangehenden Kapitel aufgestellte These, dass ein unterdrückter oder durch die Geschwindigkeit der Ereignisse überrollter konservativer Impuls nicht von der Bildfläche verschwindet, sondern mit zeitlicher Verzögerung erneut auftaucht. Drittens sind strukturelle und mentale Kontinuitäten zu nennen, die, ohne dass dies den von ihrer transformatorischen Mission überzeugten Revolutionären selbst bewusst war, das von ihnen angegriffene Regime mit ihren eigenen Ordnungsvorstellungen verbanden. Es fällt nicht leicht, zu einer Einschätzung zu gelangen, inwieweit das Gros der französischen Bevölkerung den von der Hauptstadt ausgehenden politischen Umwälzungsprozess billigte, ihm gleichgültig gegenüberstand oder ihn ablehnte. Hinzukommt, dass die Revolu100

tion im Verlauf der ersten fünf Jahre häufig ihr Gesicht veränderte, was auf das Kräfteverhältnis zwischen ihren Befürwortern und ihren Gegnern nicht ohne Einfluss geblieben sein dürfte. Was die Letzteren betrifft, erscheint es sinnvoll, einen restaurativen Block, der sich strikt gegen alle politischen Reformen verwahrte und am liebsten die bis 1789 herrschenden politischen Verhältnisse wiederhergestellt gesehen hätte, von einer gemäßigten Fraktion abzugrenzen. Das Lager der Gemäßigten war von der Notwendigkeit eines grundlegenden politischen Wandels überzeugt und distanzierte sich erst von der Revolution, als diese den Gleichheitsgedanken und die Idee der Volksherrschaft zu verabsolutieren begann. Prinzipielle Gegner der Revolution waren der Hof sowie sein engeres und weiteres politisches Umfeld, ein Großteil des Adels – allerdings nicht der ganze Stand –, der hohe Klerus und große Teile der ländlichen Bevölkerung. Auch etliche größere Städte, darunter Lyon, Marseille und Bordeaux, waren nicht gewillt, sich dem von der Jakobinerhochburg in Paris ausgeübten disziplinarischen Druck zu beugen. Während der Krieg mit den monarchischen Mächten Europas »nach außen« anfangs eher halbherzig, mit wechselndem Kriegsglück, geführt wurde, duldeten die Revolutionäre keinerlei Widerstand in Frankreich selbst. Jeder Ansatz zur Auflehnung oder zur Abweichung vom von Paris verordneten Kurs wurde aufs entschiedenste geahndet, bekämpft, in Blut ertränkt. Die Verwüstung der Vendée und die im vorübergehend rebellierenden Lyon angerichteten Massaker sind nur zwei besonders drastische Beispiele unter vielen für die gnadenlose Bestrafung widerspenstiger Bevölkerungsgruppen. Königstreuen Familien und Personen, soweit sie sich nicht aus Opportunismus fügten oder aus den politischen Wirren heraushalten konnten, blieb nichts anderes übrig, als zu emigrieren. Die jenseits der Rheingrenze sich ansammelnden Adelsgeschlechter ließen nichts unversucht, um das restliche, noch monarchische Europa gegen die junge Republik aufzuwiegeln. Die Rolle der gemäßigten Fraktion war ambivalent, sowohl was ihre Haltung als auch was den Einfluss betrifft, den sie auf den Gang der revolutionären Ereignisse ausübte. Die Gemäßigten bildeten die Mehrheit in den sukzessiven »Hauptversammlungen«: der Nationalversammlung, der Legislative und dem Konvent. Ihre Gruppe setzte 101

sich mehrheitlich aus dem gebildeten Besitzbürgertum zusammen, auch einige Adlige zählten dazu. Sie sahen sich in ihrem Bestreben, die absolute durch eine an Gesetze gebundene »konstitionelle« Monarchie zu ersetzen, zunehmend durch eine radikale, die Volksherrschaft hypostasierende Minderheit in die Enge gedrängt und saßen schließlich zwischen allen Stühlen. Gerade an ihnen lässt sich gut die außerordentliche Strahlkraft des neuen, auf den Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit aufbauenden Gemeinschaftsideals demonstrieren, dem eine Recht und Moral in eins setzende gnadenlose Justiz eine zusätzliche Durchschlagskraft verlieh. Wenngleich der gemäßigten Fraktion die größten Rednertalente angehörten, war sie dem Sog, der von dem schemenhaft sich abzeichnenden Idealbild einer auf soziale Harmonie gegründeten Gesellschaftsverfassung ausging, nicht gewachsen. Nicht von ungefähr verlagerte sich der politische Schwerpunkt der Versammlungen stetig von rechts nach links. Darin spiegelte sich das Bemühen der Gemäßigten, den Kontakt zu den Jakobinern nicht abreißen zu lassen. Doch wie auch immer sie sich äußerten, ob sie die Machtusurpation durch die radikalen Gruppen anprangerten oder sich dem Anschein nach an ihre Spitze setzten, um den von ihnen propagierten Maßnahmen die Schärfe zu nehmen, der Effekt blieb derselbe. Sie konnten die Entwicklung nicht aufhalten. Der Polarisierung zwischen den »Vertretern des Volkes« und ihren Feinden, den »Verrätern« der Nation, fielen immer mehr Menschen zum Opfer, auch die Mehrzahl der Gemäßigten. Der Rest passte sich scheinbar den Machtverhältnissen an oder ging ins Ausland. So viel Einseitigkeit und Fanatismus rächten sich. Noch in der Zeit des Direktoriums setzte eine Reaktion auf Überspitzungen und Exzesse in der extremistischen Phase der Revolution ein. Sansculotte und Jakobiner wurden zu Schimpfwörtern, das Duzen fremder Personen hörte jäh auf, auch der Kleidungsstil änderte sich erneut. Nach Jahren des Schreckens und intensiver Tugend- und Austeritätsermahnungen machte sich in den ehemaligen Zentren der Revolution, vor allem in Paris, eine neue Frivolität und Genussfreude breit.25 Doch das war nur der Auftakt zu einer generellen Aufarbeitung der Revolu25

Schulin, Die Französische Revolution, S. 246.

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tion, die sich über Jahrzehnte hinziehen sollte. Die mit ihr verbundene Umwertung aller Werte und vertrauten Denkmuster war zu plötzlich über die französische Gesellschaft hereingebrochen und zu gewaltsam ins Werk gesetzt worden, als dass es mit dem bloßen Sturz der revolutionären Elite sein Bewenden haben konnte. Zwei Eigenheiten des Aufarbeitungsprozesses verdienen besondere Beachtung. Die eine war der bereits beschriebene Versuch Napoleons, Frankreich innenpolitisch zu befrieden, indem er die antagonistischen politischen Kräfte einem einheitlichen Zwangsregime unterwarf und in sein Herrschaftssystem sowohl Bestandteile der alten Ordnung als auch Elemente moderner aufgeklärter Leistungsgesellschaften integrierte. Diktaturen sprengen die Regeln moderner Regierungssysteme, wonach prinzipiell jede Verfassung und jede Regierung umgestoßen und durch alternative Ordnungsentwürfe und -mächte ersetzt werden kann. Denn Diktatoren setzen ihrer Herrschaft keine zeitlichen Grenzen, sie regieren auf unbestimmte Zeit. Sie zu stürzen ist äußerst schwierig, da ihre Herrschaft auf Zwangsmitteln beruht. Das bedeutet, dass sowohl den progressiven Kräften als auch dem konservativen Bestreben, zur früheren politischen Ordnung zurückzukehren, ein Riegel vorgeschoben wird, sodass beiden politischen Lagern nichts anderes übrig bleibt, als sich untereinander und mit dem Regime zu arrangieren. Hätte Napoleon anstatt 15 Jahre die doppelte Zeit regiert, so wäre es ihm vielleicht gelungen, die im Raum stehenden konträren Modelle politischer Ordnung und Legitimität in einem Kompromiss miteinander zu verschränken und zu versöhnen. Seine tatsächliche Regierungszeit reichte dafür nicht aus. Hier kommt der zweite Aspekt der Aufarbeitung der Revolutionsfolgen ins Spiel. Nach Napoleons Abdankung drängten die Vertreter traditionalistischer politischer Ordnungsvorstellungen erneut auf deren uneingeschränkte Durchsetzung. Das sich über lange Jahrzehnte hinziehende politische Ringen zwischen den antagonistischen politischen Kräften und Lagern untermauert Furets These, im Grund sei die politische Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert großenteils ein Nachspiel zur Französischen Revolution gewesen. Diese sei in der 1848er Revolution und in der Pariser Kommune nach dem Krieg gegen Preußen 1870 wieder aufgelebt, während die Zwischenperioden 103

mit monarchischen Restaurationsversuchen angefüllt gewesen seien. Selbst Napoleons bonapartistisches Herrschaftsexperiment habe durch die Diktatur von Napoleon III . eine Wiederauflage erfahren, bevor durch die III . Republik die mehrfache politische Pendelbewegung beendet worden sei und ein neues Kapitel begonnen habe.26 Man könnte den Faden sogar noch weiterspinnen und eine gewisse strukturelle Heterogenität, das Nebeneinander von auf das vormoderne Frankreich verweisenden Traditionssträngen und die Aufgeschlossenheit für moderne Mode- und Protestströmungen aller Art als bleibendes Vermächtnis der großen Revolution bezeichnen.27 Mit der interessanteste konservative Strang war jener, der durch die Revolutionäre hindurchging, ohne dass sie in ihrem Wahn, mit der Vergangenheit konsequent zu brechen, seiner gewahr wurden. Es ist das Verdienst Alexis de Tocquevilles, schon früh auf diese Art der Kontinuität hingewiesen zu haben, indem er aufzeigte, dass die Revolutionäre mit der Ausschaltung sämtlicher regionaler Sonderrechte und Eigenmächtigkeiten nur konsequent auf dem Weg der Zentralisierung der Verwaltung voranschritten, der bereits seit Längerem von den Bourbonen eingeschlagen worden war.28 Furet geht noch weiter, wenn er feststellt, die freigewordene Position des Monarchen sei in der Revolution zwar durch »das Volk« als letztlich souveräne Instanz besetzt worden. Dessen Wille und unbegrenzte »Entscheidungsmacht« hätten aber ähnlich fiktiv im Raum gestanden wie früher die des Königs. An der Distanz zwischen Machtträgern und Regierten habe sich dadurch so wenig geändert wie an der Willkür der Herrschaftsausübung. Die Revolution sei unter umgekehrtem Vorzeichen das Abziehbild der gestürzten Monarchie gewesen, von der sie nicht zuletzt den Glauben an die Allmacht der Politik geerbt habe.29 Eine vergleichbare Umkehrung auf der sozialen Ebene haben Bergeron u.a. hinsichtlich der Figur des Sansculotte beobachtet: Er sei

26 27 28 29

Furet, 1789, S. 10 ff.; Zolberg, Moments of Madness. Mension-Rigau, Aristocrates et grands bourgeois; Hénard, Une certaine idée. de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution; von Thadden, Geschichte als Prozeß bei Alexis de Tocqueville. Furet, 1789, S. 51 ff.

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aufs Haar genau der Gegentypus zum klassischen Aristokraten gewesen, habe in seinem betont ungezwungenen Kleidungsstil und Habitus die höfische Etikette und die in den höheren Ständen übliche Selbstdisziplin gewissermaßen auf den Kopf gestellt.30 Ein weiteres fruchtbares Feld für den Nachweis eingestandener und uneingestandener Kontinuitäten stellt der religiöse Bereich dar. Es ist früh darauf hingewiesen worden, dass in dem Aufbegehren der Pariser Unterschicht uralte chiliastische Traditionen wiederauflebten und in den Brüderlichkeitskult nicht zuletzt die Vorstellung von Jesus als »Sansculotte der Armen« einging. Andererseits haben die Revolutionäre selbst und vor allem Robespierre nicht darauf verzichtet, an die Tradition der katholischen Kirche anzuknüpfen, indem dieser die Entstehung einer vaterländischen Religion propagierte, einen Altar des Vaterlandes errichten ließ, das tugendhafte Volk und die volonté générale mit einer sakralen Weihe ausstattete und einen Kult des »Höchsten Wesens« zelebrierte. Auch hier gilt, dass im Konflikt mit »dem Feind«, hier dem Papsttum, viel von Letzterem übernommen wurde.31 Der Aufweis von Verbindungslinien zwischen der monarchischen Vergangenheit und den Umwälzungsplänen der Revolutionäre verdeutlicht, dass diese weit stärker in traditionellen Denkmustern verhaftet blieben, als ihnen bewusst war. Die Relevanz derartiger aus anderen Epochen stammender, tief in der kollektiven Mentalität verankerter Überzeugungen und Ideen wird sich auch bei der Analyse von Spaniens langem Weg zur Demokratie bestätigen. Bezogen auf Frankreich ist festzuhalten, dass der Hang zum Zentralismus und der tief verwurzelte Glauben an die unbegrenzte Gestaltungskraft der Politik kein Hindernis für die Durchsetzung des revolutionären Projekts, sondern im Gegenteil eine Bedingung seines Erfolges war.

30 31

Bergeron/Furet/Koselleck, Das Zeitalter der europäischen Revolution, S. 64 f. Reichardt, Das Blut der Freiheit, S. 192 ff., 229 ff.

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Die Französische Revolution und der konservative Impuls Identität und kollektives bzw. individuelles Selbstverständnis gelten aufgrund ihrer starken Verankerung im Werte- und Kulturhaushalt einer Gesellschaft im Allgemeinen als konservative Größen. In Ausnahmefällen können sie als zukunftsgerichtete Konstrukte jedoch eine progressive Eigendynamik entfalten. Die Französische Revolution war ein solcher Fall. Ein komplexes Zusammenspiel von neuen ideologischen Schlagwörtern und Gewaltenthemmung, der städtischen Unter- bzw. unteren Mittelschichten mit Teilen des aufgeklärten Bürgertums, von einer zugkräftigen Rhetorik mit konkreten Angriffen auf repräsentative Einrichtungen und Personen des alten Systems erzeugte ein Sprach- und Aktionsgefälle eigener Art, das durch den Doppelkrieg nach außen und innen noch zusätzlich verstärkt wurde. So bildete sich zunächst nur schemenhaft, dann immer schärfer eine neue politische Kultur und Mentalität, ein neues Gemeinschaftsgefühl mit einem eigenen Identitätskern heraus.32 Der Bruch mit der Vergangenheit war zu scharf und vollzog sich zu rasch und gewaltsam, als dass ein struktureller Kompromiss zwischen der alten monarchischen Ordnung und den neuen Ideen der Gleichheit und Volkssouveränität möglich gewesen wäre. Noch während der Revolution angestellte Vermittlungsversuche zwischen ihnen scheiterten. Das im Entstehen begriffene Ideal einer auf sozialer Harmonie und Brüderlichkeit basierenden nationalen Gesellschaft erwies sich als so überzeugend und attraktiv, dass sämtliche Bemühungen gemäßigter Konservativer, es mit rationalen, realitätsbezogenen Argumenten zu relativieren, erfolglos blieben und mit der Ausschaltung der Bedenkenträger oder ihrem Anschluss an die Fortschrittsströmung endeten. Diese schluckte auch die Parallelrevolution der Bauern, die teilweise durchaus sozialkonservative Züge trug. Aus alldem lässt sich ersehen, welch überlegene Anziehungskraft von der eine neue kollektive Identität postulierenden Zukunftsvision ausging.

32

Baczko, Artikel »Aufklärung«, S. 1025 ff.

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Umso bemerkenswerter erscheint es, dass das zukunftsorientierte Gesellschaftsmodell der Revolutionäre nicht auf den Rückgriff auf traditionelle Strukturen und Ressourcen verzichten konnte. Dies geschah oft unter der Hand, weil nach Auffassung der Protagonisten der Revolution deren Bruch mit der Vergangenheit total war. So entbehrt es rückblickend nicht einer gewissen Ironie, dass zu den beredtesten Verteidigern der Revolution, sieht man von der Schlussphase des Terrors ab, mit Adligen (Mirabeau) und wohlhabenden Bürgern (Brissot) Vertreter eben jener Stände gehörten, deren Privilegien man im Begriff war, zu beschneiden oder ganz abzuschaffen. In der Bewegung der Sansculotten schwangen uralte religiöse Erlösungsmythen mit. Noch augenfälliger war die Anlehnung an monarchische Traditionsbestände in struktureller Hinsicht. Nicht nur in dem bereits von de Tocqueville herausgearbeiteten Sinn, dass die schon unter den Bourbonen angelegte Zentralisierungstendenz in der Verwaltung von den Revolutionären übernommen und weiter vorangetrieben wurde. Auch das generelle Verhältnis von politischer Führung und Untertanen bzw. dem Volk, überhaupt die fixe Idee von der Allmacht der Politik, von der die entscheidenden Anstöße für Reformen und strukturelle Veränderungen aller Art auszugehen hätten, waren tief in der französischen Geschichte verankert. Die Unversöhnlichkeit der durch die Revolution aufgeworfenen politischen Fronten hatte, wie gezeigt wurde, zwei Konsequenzen. Sie erklärt zum einen das Aufkommen eines neuen Typus von Diktatur, nämlich bonapartistischer Regime, die sich wie ein Zwangskorsett auf die widerstreitenden politischen Kräfte und Parteien legten und Elemente beider gesellschaftlicher Ordnungsmodelle in ihr System zu integrieren suchten. Die zweite Konsequenz war eine wiederholte Pendelbewegung während des 19. Jahrhunderts zwischen monarchischen und republikanischen Regierungsexperimenten, bis mit dem Beginn der III . Republik das Erbe der Revolution endgültig den Sieg davontrug.

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Spaniens gewundener Weg zur Demokratie Nachdem Ansätze zur Übernahme der Ideen der Aufklärung durch die napoleonische Invasion unterbrochen worden waren, war Spaniens politische Entwicklung im 19. Jahrhundert durch ständige Konflikte zwischen sich an West- und Nordeuropa orientierenden Kräften des Wandels, die den sozioökonomischen Verhältnissen vorauseilten, und Kräften der Reaktion, hinter denen die Mehrheit des Establishments und der Bevölkerung stand, geprägt. Ihr Ringen führte zu blutigen langen Bürgerkriegen, dem Sturz von Regierungen durch militärische Erhebungen (pronunciamientos), kurzen Phasen utopischer Reformen, die regelmäßig scheiterten, und repressiven konservativen Regimen, die in Zeiten allgemeiner Erschöpfung tatsächlich die eine oder andere Reform zustande brachten. Die Autorität und Legitimität der Monarchie nahm unter diesen andauernden Wirren Schaden und verschliss sich zusehends.1 In der breiten Bevölkerung war ein genereller politischer Vertrauensverlust die Folge. Die politischen Eliten und allgemein die Oberschicht waren gründlich diskreditiert, sie galten als eigensüchtig, machtgierig und korrupt. Nicht von ungefähr, denn die meisten ihrer Mitglieder zahlten keine Steuern und nutzten ihren Einfluss schamlos zum eigenen Vorteil aus. Die Wurzeln des Übels gingen bis auf das 16. und 17. Jahrhundert zurück, die Zeit der raschen, relativ mühelosen Expansion Spaniens zu einem Imperium, das von den Ressourcen seiner Kolonien lebte. Der ständige Zufluss von Gold und Silber aus Lateinamerika hatte der Entstehung einer Rentiers-Mentalität, einer Kultur des Müßiggangs, der leeren Rhetorik und des Formalismus 1

Linz, Opposition in and under an Authoritarian Regime, S. 177.

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Vorschub geleistet, welche sich allmählich von der Oberschicht auf die Mittelschicht ausgedehnt hatte. Nachdem der größere Teil Lateinamerikas Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig geworden und der Zustrom von Edelmetallen nach Spanien versiegt war, hatte sich der Kampf um die politische Macht als Voraussetzung eines Zugriffs auf die Staatseinnahmen verschärft. Ob es sich um die Armee, die Parteien, die Kirche, die Großgrundbesitzer oder die frisch aufkommende Schicht von Industrieunternehmern handelte, ihnen allen ging es primär um die Wahrung ihrer Partikularinteressen, ein übergreifendes Verantwortungsgefühl, das Denken in Gemeinwohlkategorien war ihnen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fremd.2 Der Verlust der letzten überseeischen Kolonien 1898 nach einem verlorenen Krieg gegen die USA brachte der spanischen Öffentlichkeit, vor allem den Intellektuellen, schmerzhaft zum Bewusstsein, dass das Land den ehemaligen Status einer Großmacht definitiv eingebüßt hatte. Das Schrumpfen der politischen Einflusssphäre auf den eigenen Nationalstaat fiel just in die Zeitspanne, da die anderen europäischen Nationalstaaten sich anschickten, Afrika unter sich aufzuteilen. Dennoch waren das allgemein um sich greifende Katastrophenbewusstsein und die dadurch ausgelösten Modernisierungsbestrebungen der sogenannten 1898-Generation noch weit von der Einsicht entfernt, nur ein tief greifender Umdenkungsprozess und Orientierungswandel könne Spanien den Anschluss an die aufstrebenden Industrienationen im Norden sichern. Stattdessen hoffte man durch eine Rückbesinnung auf die Grundwerte der eigenen Vergangenheit den Rückschlag in der Weltgeltung ausgleichen und mit der Betonung der religiösen Sonder- und Missionsrolle Spaniens wieder an die alte Größe anknüpfen zu können.3 Tatsächlich hatten sich mehrere strukturelle Probleme angehäuft, ohne deren zumindest ansatzweise Lösung ein Vorankommen auf dem Modernisierungspfad kaum denkbar war. Als Erstes wäre hier die Regionalfrage zu nennen. Spanien zerfällt, vor allem in seiner nördlichen Hälfte, topografisch und kulturell in Regionen mit einer eige2 3

Brenan, Die Geschichte Spaniens, S. 17 f. Bernecker, Ein Interpretationsversuch, S. 399.

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nen Geschichte, teils eigenen Sprachen (Galizisch, Baskisch, Katalanisch) und einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer Besonderheit. Das traditionell übliche Tauziehen zwischen Kastilien mit Madrid als Hauptstadt und Sitz der Regierung einerseits und den auf mehr Autonomie und Steuererleichterungen bestehenden Regionen andererseits hatte sich im Zuge des industriellen Aufschwungs Kataloniens und des Baskenlandes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem alsbald eine kulturelle Renaissance folgte, zusätzlich verschärft.4 Denn einer wirtschaftlich hochpotenten nördlichen Peripherie stand nunmehr ein rückständiges, aber gleichwohl auf seine politische Dominanz pochendes Zentrum gegenüber. Das Auseinanderfallen von wirtschaftlicher und politischer Macht sorgte für erhebliche Spannungen und hatte zur Folge, dass sich sozialpolitische Konflikte auf zwei Ebenen, der nationalen und der jeweiligen regionalen Ebene, abspielten und oft in komplizierter Weise miteinander verschachtelten. Eine zweite Problemachse, die ein hohes Konfliktpotenzial erzeugte, war die soziale Frage, wobei man zwischen dem modernen Industriesektor, der nur im Norden von Relevanz war, und dem für fast ganz Spanien eine wichtige Rolle spielenden Landverteilungsproblem unterscheiden muss. Brisanter und akuter war das Letztere, da im Zuge eines bedeutenden demografischen Wachstums im 19. Jahrhundert die Zahl der Parzellenbesitzer, Kleinpächter und nur saisonweise beschäftigten Landarbeiter stark zugenommen hatte, während sich an den Besitzverhältnissen kaum etwas geändert hatte. Wie Brenan betont, herrschten keineswegs einheitliche Verhältnisse, sondern es muss nach Regionen und teilweise Untergebieten innerhalb derselben differenziert werden.5 In besonderem Maße waren die Landarbeiter in Andalusien der Ausbeutung durch die Großgrundbesitzer ausgesetzt. Hier entstand eine regelrechte Hassfront aufseiten der Diskriminierten und Geknechteten, die sich zu Beginn des Bürgerkriegs in Gewalteruptionen entlud. Die Notsituation der Landarbeiter wurde zusätzlich dadurch verschärft, dass sie nicht einheitlich organisiert waren, sondern durch zwei miteinander rivalisierende Gewerkschaf4 5

Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 145 ff. Brenan, Die Geschichte Spaniens, S. 139 f.

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ten, die anarchistische CNT und die sozialistische UGT, vertreten wurden. Drittens ist die Spannungsachse zwischen dem Klerikalismus, der von konservativen politischen Gruppierungen vertreten wurde, und dem Antiklerikalismus, den die Liberalen auf ihre Fahnen geschrieben hatten, zu erwähnen. Bezeichnend für den über das ganze 19. Jahrhundert sich hinziehenden Konflikt zwischen Konservativen und Liberalen war, dass im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung weniger die wirtschaftspolitische Botschaft des Liberalismus, die Förderung des Unternehmertums und des freien Spiels der Marktkräfte, sondern der Kampf um die »Seelen« stand. Vor allem im Erziehungssektor lieferten sich die Jesuiten als Vertreter des Katholizismus und laizistische Liberale harte Auseinandersetzungen, wem die Ausbildung und mentale Formung der jungen Generation anzuvertrauen sei.6 In wirtschaftlicher Hinsicht war das Ringen der beiden politischen Lager insofern von Bedeutung, als sich durch das Zurückdrängen der für die Interessen der Kirche eintretenden Konservativen für die liberalen Gruppierungen die Chance der Enteignung umfangreicher Kirchengüter ergab, die zumeist in den Besitz städtischer Notabler übergingen. In ihren finanziellen Möglichkeiten und Mitteln beschnitten, lehnte sich die zuvor relativ volksnahe Kirche daraufhin vermehrt an die anderen Machteliten, vor allem den Großgrundbesitz und das Militär, an. Dies führte zu einer zunehmenden Entfremdung von den ländlichen Unterschichten, deren Antiklerikalismus sich im Bürgerkrieg in Form heftiger Angriffe auf Geistliche Luft machte. Sie wendeten sich verstärkt dem Anarchismus und Sozialismus zu, wobei gerade im spanischen Anarchismus, als einer Art religiösem Überbleibsel, auch millenaristische Visionen mitschwangen.7 Zwischen den verschiedenen Konfliktachsen gab es zahlreiche Überschneidungen, gegenseitige Ergänzungen, Brechungen, Kombinationen aller Art. Wenn etwas für das »spanische Labyrinth« (Gerald Brenan), das heißt für die Situation vor Ausbruch des Bürgerkrieges (1936 – 1939), charakteristisch war, dann war es die Vielfalt, Komplexi6 7

Hermet, Die katholische Kirche im franquistischen System, S. 239. Brenan, Die Geschichte Spaniens, S. 55 f.

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tät und schwere Überschaubarkeit der einzelnen Konfliktfelder. Man mag dies auf die Ungleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungsstränge in einem Gesamtprozess nachholender Modernisierung zurückführen oder in einer gewissen strukturellen Heterogenität als weit in die Geschichte zurückreichendes Merkmal der spanischen Gesellschaft und Topografie begründet sehen.8 Theoretisch hätte sich die Vielfalt und teilweise Überkreuzung der Spannungsherde auf zweifache Weise auswirken können: Sie hätten einander entschärfen und neutralisieren oder kumulieren und sich verstärken können. In Spanien war ab Beginn des 20. Jahrhundert das Letztere der Fall, die Desintegrationstendenzen und Krisensymptome nahmen weiter zu. Daran war nicht zuletzt auch der letzte Monarch, Alfons XIII ., schuld, der die Rivalität und immer häufiger gewaltsame Formen annehmenden Auseinandersetzungen eher schürte als dämpfte. Als ein bestimmter Polarisierungsgrad überschritten war, konnten auch der Putsch des Generals Primo de Rivera und seine mehrjährige Diktatur keine Abhilfe mehr schaffen. Sein Regime vermochte die sich abzeichnende politische Spannung allenfalls vorübergehend zu überdecken, aber nicht mehr zu entschärfen. Es schälten sich zwei einander frontal gegenüber stehende Machtblöcke heraus: auf der einen Seite der König, die Armee, die Kirche (vor allem die Jesuiten), Großgrundbesitz und Großindustrie, auf der anderen Fabrik- und Landarbeiter, Kleinpächter und Handwerker, kurz: das Gros der Bevölkerung, flankiert von Mittelschicht-Intellektuellen. Da der König und sein Statthalter, Primo de Rivera, klar für die eine Seite Partei ergriffen hatten, waren sie als Schiedsrichter und Schlichtungsinstanz nicht mehr akzeptabel. »La Monarquía esta delendam«, die Monarchie muss zerstört werden, um zu neuen politischen Ufern aufzubrechen, schrieb Ortega y Gasset 1930 in einem häufig zitierten Zeitungsartikel.9 Alle Hoffnungen richteten sich auf eine alternative Regierungsform, die Republik.

8 9

Bernecker, Ein Interpretationsversuch, S. 398 ff. Ortega y Gasset, »Delenda est Monarchia«.

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Scheitern des ersten Anlaufs: Republik und Bürgerkrieg Der Übergang des Landes zur Republik wurde von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen und unterstützt. Doch diesem ersten Demokratisierungsexperiment war kein Erfolg beschieden. Die Polarisierung der politischen Kräfte sprengte den Rahmen der republikanischen Verfassung und führte zum Bürgerkrieg. Dieser brachte den konservativen Flügel des Militärs unter General Franco an die Macht, der eine jahrzehntelang währende diktatorische Herrschaft ausübte. Die äußere Geschichte des Scheiterns der Republik ist rasch erzählt.10 Zunächst gingen aus den Wahlen von 1931 die Republikaner der Mitte unter ihrem entschlossenen und tatkräftigen Führer Manuel Azaña als Sieger hervor, die sich aber sowohl auf der extrem linken als auch auf der restaurativ gesonnenen rechten Seite durch starke politische Kräfte eingezwängt sahen. Mit ihrem moderaten Kurs konnten sie es keiner der sie flankierenden, zu keinerlei Kompromiss bereiten Parteien recht machen. Maßnahmen zur Begrenzung der Macht der Kirche riefen den Widerstand der Konservativen hervor, erste Ansätze einer Landreform gingen den Sozialisten und Anarchisten nicht weit genug. Immerhin konnte in den ersten zwei Jahren eine republikanische Verfassung verabschiedet werden. In einem sozialen Klima ständiger gewaltsamer Übergriffe und Erhebungen regierend, sah sich die Partei Azañas zunehmend isoliert. Neuwahlen im Jahr 1933 brachten, nicht zuletzt wegen des neuen Wahlrechts, das geschlossene Parteiformationen bevorzugte, eine Rechtskoalition an die Macht. Diese begnügte sich großenteils damit, die von der Vorregierung erlassenen Gesetze zu annullieren, ohne selbst klar zum Ausdruck zu bringen, was für ein Ziel sie anstrebe, ob sie eine Rückkehr zur Monarchie befürworte oder auf einen korporativen Staat hinarbeite. Auch die Linke war gespalten. Weder die extremen Gruppen der Linken noch die der Rechten waren gewillt, der 10

Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 290 ff.; Carr, Spain 1808–1975, S. 603 ff.

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Republik eine Chance zu geben. Beide drängten mehr oder weniger unverhüllt auf eine gewaltsame Lösung des Konflikts. Es entstand eine Atmosphäre allgemeiner Unsicherheit und Unruhe aufgrund ständiger Streiks, lokaler Erhebungen, spontaner Landenteignungen und gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen, die auch unter der 1936 gebildeten Volksfrontregierung anhielten. Schließlich kam es, durch in Marokko stationierte Truppen initiiert, zu der schon seit Längerem erwarteten militärischen Revolte. Die rebellierenden Militärs glaubten, mit Ausnahme der »linken« Hochburgen Madrid und Barcelona das Land relativ rasch unter ihre Kontrolle bringen zu können. Sie unterschätzten jedoch den Widerstandsgeist der politisch mobilisierten Teile der Unterschichten und die Entschlossenheit ihrer sozialistischen bzw. anarchistischen Führer. Wenngleich die republikanischen Truppen den »Nationalisten« – so nannten sich die Aufständischen – militärisch deutlich unterlegen waren, vermochten sie doch deren Durchmarsch nach Norden zu stoppen, sodass Spanien in zwei Hälften zerfiel, eine, die rasch von den Rebellen erobert wurde, und die andere, die in den Händen der Republikaner blieb. Dies machte einen Bürgerkrieg unvermeidlich, der, wie bei Bürgerkriegen üblich, von beiden Seiten mit extremer Rücksichtslosigkeit und Härte geführt wurde. Ausschlaggebend für den Sieg der Aufständischen nach dreijährigem Ringen war deren Unterstützung durch die faschistischen Achsenmächte Deutschland und Italien. Vor allem die Militärhilfe aus dem hochgerüsteten NaziDeutschland war weit effektiver und technisch ausgefeilter als die erst mit einiger Verzögerung aus Moskau entsandten Hilfskontingente Stalins für die Republikaner. Das republikanische Lager war zudem geschwächt durch die anhaltenden Rivalitäten zwischen Sozialisten und Anarchisten einerseits und den anfangs nur eine Minderheit darstellenden Kommunisten andererseits, die jedoch im Laufe des Krieges aufgrund ihrer überlegenen Organisationsfähigkeit zur eigentlichen Speerspitze des republikanischen Widerstandes wurden.11

11

Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 263 ff., 277 ff.

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Fragt man sich rückblickend, warum das mit so viel Optimismus begonnene erste ernsthafte Demokratisierungsexperiment in Spanien scheiterte und bei der anschließenden militärischen Auseinandersetzung die konservative Seite die Oberhand behielt, so erscheint es sinnvoll, die das Oberflächengeschehen bestimmende politische und militärische Ebene von einer zweiten, Tiefenschichten der politischen Kultur berührenden sozialpsychologischen Ebene zu trennen. Was zunächst die politische und militärische Seite des Konflikts angeht, so ist zu bedenken, dass der Übergang zur Republik und das anschließende Bürgerkriegsdrama in Spanien Bestandteil einer übergreifenden europäischen Auseinandersetzung zwischen Linksparteien und faschistischen Bewegungen war, bei der sich das faschistische Lager deutlich in der Offensive befand. Dass der von dieser Seite den Aufständischen zuteilwerdenden militärischen Unterstützung ein maßgeblicher Anteil an Francos Sieg zukam, wurde bereits erwähnt. Doch auch für die vorausgegangenen Parteiendispute im Parlament dürfte der europäische Vormarsch der Rechten und die damit einhergehende Polarisierung der Fronten nicht ohne Bedeutung gewesen sein. Zunächst allgemein mit Begeisterung begrüßt, schien vielen nach wenigen Jahren die Republik nicht mehr der geeignete Rahmen für den sich zuspitzenden gesellschaftlich-politischen Konflikt zu sein. Zwischen die Mahlsteine der extremen Positionen auf beiden Seiten des politischen Spektrums geraten, wurde ihr jede Chance genommen, sich zu bewähren und zu konsolidieren. Hier kommt die zweite sozialpsychologische Ebene der politischen Kultur Spaniens zu jener Zeit ins Spiel. Dabei handelte es sich um systemische Variablen, die nicht auf eine der konkurrierenden politischen Parteien beschränkt und den maßgeblichen Akteuren selbst nicht bewusst waren. Sie prägten ganz wesentlich den Auseinandersetzungsprozess. Folgen wir der Analyse Brenans, so gab es eine ganze Reihe solcher Variablen, die zum Scheitern des republikanischen »Experiments« beitrugen. Ich zähle die wichtigsten auf: – An erster Stelle ist die quasi religiöse Aufladung der politischen Auseinandersetzung zu nennen, die in einer Kreuzzugsmentalität bei der Rechten und einer millenaristischen Endzeitvision bei den Anarchisten ihren deutlichsten Ausdruck fand. Sie verlieh 115





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dem Konflikt die Züge eines Glaubenskampfes, der nur eine Wahrheit kennt, was eine extreme Intoleranz und die Verabsolutierung der Freund-Feind-Dichotomie zur Folge hatte und jeden Kompromiss zum »Verrat« werden ließ. Es entwickelte sich eine Eigendynamik, die sich nicht mehr pragmatisch steuern ließ.12 Die religiöse Überhöhung der Freund-Feind-Dichotomie führte zweitens zu extremem Hass, sie erzeugte Rachemechanismen einerseits und Solidaritätszwänge (etwa bei Streiks) andererseits, die mit dem eigentlichen Konfliktanlass oft wenig zu tun hatten und dessen Lösung im Wege standen. Das Denken in Revanchekategorien ließ es zur Regel werden, dass Regierungen die von ihren Vorgängerinnen erlassenen Gesetze rückgängig machten und den Verwaltungsapparat systematisch von deren Anhängern säuberten. Diese Form des Machtmissbrauchs beschränkte sich nicht auf die Rechtsregierung, sondern die Republikaner sprangen, erneut an die Regierung gelangt, nicht weniger rücksichtslos mit den Monarchisten um und ließen jede Großzügigkeit vermissen. Die Rache, welche die politische Rechte an den streikenden asturischen Bergarbeitern durch den Einsatz der Fremdenlegion nahm, sprengte jedes Maß.13 Drittens stand das Verhaftetsein in begrenzten partikularistischen Denkmustern jeder umfassenderen politischen Planung im Weg. Brenan spricht in diesem Zusammenhang vom tribalen Zug der spanischen Politik und erklärt ihn u.a. mit der starken topografischen Kammerung Spaniens, die das Lokale, allenfalls Regionale gegenüber umfassenderen Entwicklungen und Bewegungen in den Vordergrund treten ließ.14 Spanien war zu jenem Zeitpunkt (und im Grunde bis heute) weit davon entfernt, eine Nation zu sein und sich als solche zu verstehen. Die dem Partikularismus eigene engherzige Gesinnung schlug sich auch im politischen Denkstil nieder: in der Vernachlässigung einer Gesamtstrategie zugunsten raffinierter taktischer Schachzüge, in der Brenan, Die Geschichte Spaniens, S. 65 f., 273 f., 302, Anm. 24. Ebd., S. 302, Anm. 24, 324 f. Brenan, The Spanish Labyrinth, S. IX .

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Bevorzugung von Schlauheit gegenüber Klugheit. Die Unfähigkeit, über den eigenen Zaun zu blicken, hinderte beispielsweise die Anarchisten daran, im Rahmen der Volksfront die regierenden Sozialisten zu unterstützen, womit sie sich letztlich selbst schadeten.15 – Viertens ist als charakteristisches Merkmal der politischen Kultur jener Zeit der fehlende Respekt vor Gesetzen und Gerichtsentscheidungen hervorzuheben, welche für das Funktionieren eines republikanisch verfassten Gemeinwesens zentral sind. Stattdessen begegnet man einem Kult spontaner Widerstandsformen aller Art gegen die Ausübung legaler Herrschaft, deren Träger, wenn sie sich zu harten Reaktionen hinreißen ließen, regelmäßig die öffentliche Meinung gegen sich aufbrachten. Die zahllosen Streiks, Boykotte, Sabotageakte und lokalen Rebellionen, welche das Ende der Monarchie eingeleitet hatten, rissen auch unter der Republik nicht ab. Bezeichnend war die allgemeine Bewunderung für die Figur des Sozialbanditen, während Wohlstand per se als unmoralisch angesehen wurde, gleichviel ob der Reichtum auf legale oder illegale Weise erworben worden war. Die allgemeine Gewöhnung an Unruhen und Gewalt förderte ein soziales Klima der Disziplinlosigkeit, das mit einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber den Eliten und jeder Art von Obrigkeit einherging.16 Die Aufzählung ließe sich fortsetzen, beispielsweise durch den Hinweis auf die geringe Effizienz und fehlende technische Kompetenz der öffentlichen Verwaltung auf allen Ebenen. Der Defizitkatalog, was die fehlenden Voraussetzungen der damaligen spanischen Gesellschaft für die Staatsform der Republik angeht, sollte aber nicht vergessen machen, dass der letzte Grund dieser Inkompatibilität im spanischen Sozialcharakter jener Zeit und einem spezifischen, eng damit verbundenen Selbstverständnis lag. Die herausgestellten Merkmale der politischen Kultur wurzelten in dem tief in die spanische Geschichte zurückreichenden Bewusstsein der Besonderheit und Son15 16

Brenan, Die Geschichte Spaniens, S. 284 f., 306, 309. Ebd., S. 284 f., 288 f., 292 f., 325 ff.

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derrolle des Landes innerhalb Europas. Die Änderung einer politischen Verfassung reichte allein nicht aus, dieses zu erschüttern und zu transformieren. Dazu bedurfte es, wie sich zeigen wird, der einschneidenden Erfahrung einer langjährigen Diktatur und eines ebenfalls sich über Jahrzehnte hinziehenden Prozesses sozioökonomischen Wandels.

Die bonapartistische Phase der Diktatur Francos Herrschaft dauerte über 35 Jahre, sie wurde erst 1975 durch den Tod des Diktators beendet. Das lag nicht an den besonderen Leistungen des Regimes, ausschlaggebend war, dass Franco es verstand, sich trotz mancher Widerstände aus den Kreisen seiner engeren Anhängerschaft an der Macht zu halten und sich der Bevölkerung nach dem Parteiengezänk der Zweiten Republik und dem als Schock nachwirkenden Bürgerkrieg als Garant für die Wahrung des inneren Friedens zu präsentieren. Das Franco-Regime befriedigte, mit anderen Worten, die an jedes Herrschaftssystem herangetragene Grunderwartung, für den Schutz von Leib und Leben seiner Bürger zu sorgen, die nach den blutigen Wirren der jüngsten Vergangenheit aktueller war denn je. Diese Erwartung erfüllte die Diktatur über den gesamten Zeitraum ihres Bestehens, obwohl sich die politischen Trägergruppen des Regimes, dessen Legitimitätsdiskurs als auch die von ihm kontrollierte spanische Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte stark veränderten. Wenngleich der Disput über die angemessene Kategorisierung des Franco-Systems – mit Ausnahme des Konsenses darüber, dass es eine autoritäre, keine totalitäre Diktatur war17 – noch nicht beendet ist, herrscht doch Einigkeit in der Literatur darüber, dass es in zwei Hauptphasen zerfiel: eine erste von 1939 bis zur zweiten Hälfte der 1950er Jahre, und eine zweite, die mit dem Tod Francos endete. Die hier zunächst zur Debatte stehende erste Herrschaftsphase würde ich als bonapartistisch kennzeichnen, während in der zweiten Phase die

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Linz, Opposition in and under an Authoritarian Regime.

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Züge einer technokratischen Entwicklungsdiktatur in den Vordergrund traten.18 In direkter Fortsetzung des Bürgerkriegs stand am Anfang der ersten Phase die Revanche der Sieger an den unglücklichen Verlierern im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Hatte der Krieg bereits 200 000 Opfer gekostet, so nahmen die Franco-Truppen im Anschluss daran rund 240 000 Republikaner gefangen, von denen 50 000 in einem summarischen Verfahren hingerichtet wurden. Hundertausende retteten sich durch die Flucht ins Ausland, meist nach Frankreich. Franco, insoweit ganz in der spanischen Tradition stehend, kannte keine Gnade und konnte sich zu keiner Versöhnungsgeste durchringen.19 Als Gefallene für »Gott und Vaterland« wurde nur der toten Nationalisten gedacht, die weit größere Zahl der im Krieg umgekommenen Republikaner wurde in der offiziellen Propaganda als »Barbaren« und »Kommunisten« verunglimpft oder ebenso wie die Gräueltaten der Nationalisten totgeschwiegen. Die Rache der Sieger traf vor allem die Bevölkerung in den ehemals republikanischen Gebieten; unter der Lebensmittelknappheit, die unmittelbar nach Kriegsende über das Land hereinbrach, litten hingegen alle Spanier. Die als »Hungerjahre« in die jüngere spanische Geschichte eingegangene Zeit von 1939 – 1945 forderte nach Schätzungen rund 200 000 weitere Todesopfer. Ein Großteil der Bevölkerung war chronisch unterernährt.20 Im Unterschied zu anderen im Weltkrieg neutral gebliebenen Ländern als auch zur Situation Spaniens im Ersten Weltkrieg konnte das Land dieses Mal nicht vom Güter- und Rohstoffmangel der in den Krieg involvierten Großmächte profitieren. Schuld daran war in erster Linie der von der Falange-Partei unmittelbar nach Beendigung des Bürgerkriegs durchgesetzte AutarkieKurs in der Wirtschaftspolitik, der eine Abkopplung des Landes von den Warenströmen auf den Weltmärkten zur Folge hatte. Stattdessen

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Casanova, Modernization and Democratization; Bernecker, Ein Interpretationsversuch. Cazorla-Sanchez, Beyond They Shall Not Pass, S. 508 ff.; Cazorla-Sanchez, Fear and Progress, S. 38 f. Cazorla-Sanchez, Fear and Progress, S. 57 f.

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wurde auf industrielle Importsubstitution im eigenen Land und vermehrte staatliche Regulierung der Wirtschaft gesetzt. Dies führte aufgrund der Ineffizienz der Verwaltung und ihrer hohen Korruptionsanfälligkeit zur kontinuierlichen Absenkung des Einkommens- und Lebensniveaus der breiten Bevölkerung, während einige wenige, der Regierung nahestehende Geschäftsleute sich auf Kosten der Allgemeinheit bereicherten.21 Was, so könnte man fragen, rechtfertigt es, das Franco-System mit dem Attribut »bonapartistisch« in seiner ersten Phase mit den Regimen Napoleons I . und Napoleon III . auf eine Stufe zu stellen? Im Unterschied zu jenen gelangte der spanische Caudillo nicht durch einen legalen Akt an die politische Macht, sondern riss diese als Sieger eines Bürgerkriegs an sich. Jedoch stellte auch das Franco-Regime eine verspätete Reaktion auf die durch die Französische Revolution in Gang gekommene Vervielfältigung der politischen Optionen und die damit einhergehende Intensivierung politischer Konflikte dar; auch Franco ging es – wie den französischen Alleinherrschern – darum, die dadurch entfachten politischen Leidenschaften zu dämpfen und die allem Anschein nach aus den Fugen geratene spanische Gesellschaft zu zähmen. Daraus erklärt sich seine Absage an die modernisierungswilligen Kräfte, die in der Zweiten Republik zum Zug gekommen waren und aus seiner Sicht zu einem politischen Desaster geführt hatten: den Liberalismus, den Sozialismus, den Kommunismus und die Freimaurerei. Und dieses Anliegen macht auch seine Botschaft verständlich, es gelte, um die nationale Einheit wiederherzustellen, zu den ureigensten Elementen des spanischen Wesens zurückzukehren und den verlassenen spanischen Sonderweg wieder aufzunehmen.22 Allerdings war Franco klar, dass es mit der schlichten Restauration der Monarchie nicht getan war, diese allenfalls als Fernziel angestrebt werden könne. Nicht von ungefähr bezeichnete er das von ihm geschaffene politische Gebilde, an dessen Spitze er sich setzte, als »Neuen Staat«, wehrte früh einsetzende Versuche eventueller Kronprätendenten, ihnen den Weg zur Macht zu ebnen, konsequent ab 21 22

Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 297 ff. Bernecker, Ein Interpretationsversuch, S. 404.

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und schob auch die Entscheidung, Prinz Juan Carlos mit der künftigen Rolle eines Monarchen zu betrauen, möglichst lange hinaus. Dahinter stand vermutlich die Überzeugung, dass die rivalisierenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte, um ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs zu verhindern, möglichst lange in Schach, das heißt durch autoritären Zwang zusammengehalten werden müssten. Diese Funktion der Diktatur lässt sich durchaus mit den Regimen Napoleons I . und Napoleons III . vergleichen. Manches spricht dafür, dass Francos Alleinherrschaft, nicht zuletzt aufgrund der geschickten Regierungspropaganda, von der Mehrzahl der Spanier durchaus in dem eben skizzierten Sinn verstanden und akzeptiert wurde. Jedenfalls ist die lange unter Historikern verbreitete Ansicht, rund die Hälfte der Bevölkerung habe nur aus Angst vor der repressiven Übermacht des Regimes auf anhaltenden Widerstand oder einen Aufstand verzichtet, durch die neuere Forschung überholt. Nach Cazorla-Sanchez waren Francos Bemühungen, auch im ehemals gegnerischen republikanischen Lager Anhänger zu finden, nicht erfolglos. Er führt eine Reihe von Belegen und Indikatoren – wie die Aussagen von Zeitzeugen, Meinungsbefragungen aus jener Zeit, die Zunahme der Taufen, Beichten und der Anzahl der Messebesucher, den Rückgang der Zahl unverheirateter Paare und unehelicher Kinder sowie die freilich in ihrer Zuverlässigkeit anfechtbaren Referenden, die periodisch stattfanden –, als Beweis dafür an, dass die im Katholizismus wurzelnde Ideologie des Regimes auch außerhalb seiner nationalistischen Anhängerschaft in den 1940er und 1950er Jahren im Vordringen begriffen war.23 Hierfür gab es mehrere Gründe. Ein erster war das Trauma, das der Bürgerkrieg in der spanischen Bevölkerung hinterlassen hatte. Der durch den Konflikt entfachte Hass, der ungeheure Verlust an Menschenleben und materiellem Besitz, die Zwangsrekrutierung für eines der beiden politisch-militärischen Lager, all dies hatte sich tief ins Bewusstsein aller, die das Drama miterlebt hatten, eingeschrieben. Der allgemeine Wunsch war, diese Schreckensperiode hinter sich lassen und zu einem »normalen Leben« zurückzukehren. Franco verstand es 23

Cazorla-Sanchez, Beyond They Shall Not Pass.

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geschickt, die Furcht vor einem Rückfall in bürgerkriegsartige Verhältnisse wachzuhalten und sich als Garant für die Aufrechterhaltung des inneren Friedens zu präsentieren. Dafür war das Gros der Spanier gerne bereit, seinen verfehlten wirtschaftspolitischen Autarkiekurs und die Fortdauer von politischer Kontrolle und Repression in Kauf zu nehmen.24 Aus demselben Grund wollten die meisten Spanier auf keinen Fall in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen werden. Der an sich kriegslüsterne General Franco erwies sich auch hier als aufmerksamer Rezipient der allgemeinen Stimmungslage, indem er, unbeirrt vom wechselnden Kriegsglück, an Spaniens Neutralität festhielt. Vor allem nach 1942/43, als sich die Niederlage der Achsenmächte, mit denen Franco ursprünglich sympathisiert hatte, abzuzeichnen begann, strich die Propagandamaschinerie des Regimes verstärkt die Friedensmission des obersten Führers heraus, welcher der Nation um jeden Preis unnötige Opfer ersparen wolle. Auch der Appell an den nationalen Stolz und die historische Sonderrolle Spaniens im europäischen Kontext verfehlten ihre Wirkung nicht, als nach Kriegsende die FrancoDiktatur als autoritärer Block inmitten einer inzwischen durchgehend demokratisierten politischen Landschaft in Westeuropa übrig geblieben war und von der UNO mit Sanktionen belegt wurde.25 Nach einer Phase der Überpolitisierung kam dem Regime der allgemeine Erschöpfungszustand der Nation und der damit verbundene Rückfall in eine gewisse politische Apathie zustatten. Man war der politischen Parteien und ihres Gezänks überdrüssig und deshalb nicht unglücklich über ein Regime, das für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einstand und im Übrigen versprach, alle wichtigen Fragen einvernehmlich zu regeln, ohne die verschiedenen Gruppen gegeneinander aufzuwiegeln. Die drängenden Subsistenzprobleme der Nachkriegszeit ließen dem Einzelnen ohnehin wenig Zeit, sich um politische Fragen zu kümmern. Doch dieser Zustand hielt nicht an. Ab Mitte der 1950er Jahre, teilweise bereits zuvor, kam es zu Unruhen. Arbeiter und Studenten 24 25

Ebd., S. 509 ff. Sevillano Calero, Ecos de papel, S. 107, 119 ff.

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begehrten in den Großstädten des Landes auf, sie wehrten sich gegen stagnierende Löhne und Gehälter, gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen bei ständig steigender Inflation. Eine neue Generation war herangewachsen, die nicht mehr unter dem nachwirkenden Schock des Bürgerkriegserlebnisses und der anschließenden brutalen Säuberungen stand. Für sie war das Franco-Regime der konstitutive Rahmen ihrer Lebenschancen und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Doch blieb ihr Blick nicht auf das eigene Land beschränkt, sie verglichen es vielmehr mit dem zu neuer Prosperität aufblühenden restlichen Europa. Spanien, dieser Eindruck drängte sich auf, war wirtschaftlich zurückgeblieben und stagnierte. Dagegen rebellierten sie; sie übten mit ihren Anforderungen Druck auf das Regime aus, ohne es indes prinzipiell infrage zu stellen. Auf die Streiks, Demonstrationen und Protestaktionen, die in mehrere innere Krisen mündeten, soll hier nicht näher eingegangen werden. Im Ergebnis entschloss sich Franco zu einer grundlegenden wirtschaftspolitischen Wende, die zugleich mit einer erheblichen Machtverschiebung zwischen den um das Herrschaftszentrum herum gruppierten »politischen Familien« einherging.26 Franco entledigte sich etlicher einflussreicher Führer der Falange, deren Kompetenzen fortan auf den Arbeitsbereich und das Gewerkschaftswesen beschränkt blieben, und er schwächte die konservative Fraktion des katholischen Flügels seiner Bewegung. Die wirtschaftspolitisch entscheidenden Ministerien gingen an Vertreter des technokratisch orientierten Opus Dei, einer katholischen Laienorganisation, die auf eine Modernisierung der spanischen Wirtschaft hinarbeitete. Auf Initiative der fortan bestimmenden Opus-Dei-Leute innerhalb des Wirtschaftsressorts erfolgte die Aufgabe des Autarkiekurses und des Modells einer gelenkten Wirtschaft. An seine Stelle trat die zunehmende Öffnung des Kapital-, Güter- und Arbeitsmarktes. Spanien integrierte sich zügig in das marktwirtschaftliche System des Westens, vor allem Europas. Diese Integration war der wichtigste Baustein einer generellen Annäherung an den Westen, zu der auch gegen entsprechende 26

Zelinsky, Spaniens wirtschaftspolitische Wende; Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 294 f.

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finanzielle Gegenleistung bereits 1953 die Einräumung eines Stützpunktes an die USA zur Vervollständigung ihrer Abwehrfront gegen die UdSSR sowie kurz darauf Spaniens Aufnahme in die UNO und 1958 seine Mitgliedschaft in der OECD gehörten.27

Der Übergang zur Demokratie nach der Phase technokratischer Modernisierung Francos Regierungsumbildung, die Opus Dei den Weg in die wirtschaftlichen Schlüsselressorts ebnete, erfolgte 1957. Zwei Jahre danach wurde ein wirtschaftlicher Stabilisierungsplan verabschiedet, der die Voraussetzung für die Integration des Landes in das kapitalistische System des Westens schuf. Der Plan hatte zwar, wie erwartet, zunächst eine Rezession zur Folge. Doch ab 1962 setzte ein kräftiges wirtschaftliches Wachstum mit jährlichen Durchschnittswerten von über 7 Prozent ein, das bis zur Erdölkrise von 1974/75, unmittelbar vor Francos Tod, anhielt. Nachdem der Wirtschaftsmotor angesprungen war, erfolgte ein umfangreicher gesellschaftlicher Modernisierungsprozess, der das Land an den damaligen Entwicklungsstand Westeuropas heranführte.28 Dieser umfassende Modernisierungsprozess, der sich u.a. in Wanderungen innerhalb Spaniens und über seine Grenzen hinweg, in Urbanisierung, Industrialisierung und Tertiärisierung, Säkularisierung und einer Explosion der Studentenzahlen niederschlug, bedeutete zunächst umfangreiche horizontale und vertikale Bevölkerungsverschiebungen und zugleich einschneidende Veränderungen der Lebensverhältnisse und Lebensqualität sehr vieler Menschen. Durch die massive Landflucht büßte Spanien definitiv den Charakter einer vorwiegend ruralen Gesellschaft ein. Die Attraktivität der industriellen Ballungsräume in Katalonien und im Baskenland ließ dort Enklaven von Zuwanderern aus den südlichen Regionen, vor allem aus Andalusien, 27 28

Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 302. McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention, S. 176 f.; Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 302 f., 323 ff.

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entstehen, die beide Seiten vor neue Probleme multiethnischen Zusammenlebens stellte. »Urbanisierung« hieß für die meisten Migranten ein Leben in neu errichteten Wohnblöcken am Rande der Großstädte, die Gewöhnung an Formen extern bestimmter Beschäftigung mit strikten Arbeitszeiten und häufig lange Anfahrtszeiten von der Wohnung zur Arbeit. Das städtische Leben eröffnete auch neue Freiheiten. Der auf dem Land übliche informelle Zwang zum sonntäglichen Messebesuch entfiel, die Kinder waren nicht mehr allein auf die örtliche Grundschule angewiesen, sondern konnten weiterführende Schulen besuchen. Neue Konsum- und Freizeitgewohnheiten bildeten sich heraus. Mit der allmählichen Lockerung der Pressezensur und der raschen Verbreitung des Fernsehens rückte Spanien näher an das übrige Europa. Der einsetzende Tourismus und die aus Frankreich und Deutschland heimkehrenden Arbeitsmigranten trugen ein Übriges dazu bei, dass die zu Beginn der Franco-Ära zwischen Spanien und dem restlichen Europa errichtete Trennmauer brüchig wurde, immer mehr Spanier sich Europa zugehörig fühlten. Um sich eine Vorstellung vom Ausmaß des Struktur- und Mentalitätswandels zu machen, sei auf die drei Problemachsen zurückgekommen, die anfangs als besondere Belastung für Spaniens Eintritt in die Moderne bezeichnet wurden: das Landverteilungsproblem, der Konflikt zwischen Klerikalismus und Antiklerikalismus und die Spannung zwischen den wirtschaftlich mächtigen nördlichen Regionen Katalonien und dem Baskenland einerseits, der wirtschaftlich zurückgebliebenen, jedoch politisch maßgeblichen Zentralregion Kastilien anderseits. Was wurde aus diesen Konfliktherden im Verlaufe des Modernisierungsprozesses? Mit der Abwanderung der meist ein Leben am Rande des Subsistenzminimums fristenden Landarbeiter, Kleinpächter und Parzellenbesitzer in die Städte lockerte sich der auf dem ländlichen Besitz und Sozialprodukt liegende Umverteilungsdruck, und die Machtverhältnisse zwischen den Grundbesitzern und jenen, die nur ihre Arbeitskraft anzubieten hatten, gestalteten sich weniger asymmetrisch. Der Schwerpunkt der Arbeitskämpfe verlagerte sich definitiv in die Städte, wo die Arbeiter besser organisiert und die Auseinandersetzungen entsprechend hart waren. 125

Zusammen mit Franco hatte auch die katholische Kirche im Bürgerkrieg triumphiert und damit die Auseinandersetzung Klerikalismus–Antiklerikalismus (in der Sprache der Zeit: Republikanismus) für sich entschieden. Die Entwicklung der Kirche unter der Diktatur ist insofern von besonderem Interesse, als für diese Institution der für ganz Spanien behauptete identity shift, also der Wandel des kollektiven Selbstverständnisses in der Franco-Ära, tatsächlich zutraf. Von ihrer Rolle einer ideologischen und legitimatorischen Stütze des Regimes schwenkte sie zu jener der wichtigsten Oppositionskraft um.29 Das gilt zwar nicht für die ganze Kirche, eine Restfraktion verharrte in rechtsdogmatischen Positionen, und der um das Opus Dei gescharte technokratische Flügel leistete dem Regime beträchtliche Dienste und trug damit zu seiner Stabilisierung bei. Doch das Gros der Priester, vor allem der niedere Klerus, wechselte das politische Lager und schloss sich der Opposition an. Hierfür gab es eine Reihe von Gründen, u.a. den mit dem Rückgang der Gläubigen verbundene Machtverlust der Kirche und das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965), das eine generell vermehrte Aufgeschlossenheit der Kirche für soziale Probleme zur Folge hatte. Die Diktatur beeinflusste diesen Gesinnungswandel in zweifacher Weise: Erstens befreite die Protektion durch Franco die Kirche von dem Zwang, sich im Machtkampf gegen rivalisierende politische Kräfte zu behaupten. Dadurch gewann sie den notwendigen Freiraum, um sich auf ihre eigentlichen Aufgaben zu besinnen, was nach dem zweiten Vatikanischen Konzil prioritär den Einsatz und die Fürsorge für die sozial Schwachen und Entrechteten bedeutete (Priester waren sowohl in den Protestbewegungen der Arbeiter als auch in jenen der unterdrückten Regionen stark vertreten). Zweitens kam dem Faktor Zeit eine große Bedeutung zu. Die Tatsache, dass Franco seiner Herrschaft keine zeitlichen Grenzen setzte und sie sich effektiv über mehrere Jahrzehnte erstreckte, war die Voraussetzung eines Generationswechsels und Reifungsprozesses innerhalb der Kirche, der sie von einer regimehörigen zu einer regimekritischen Haltung umschwenken ließ.

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Casanova, Modernization and Democratization, S. 962.

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Anders war die Situation der zwei nördlichen Regionen, die dem republikanischen Lager angehört hatten. Franco glaubte nach seinem Sieg, die Gelegenheit sei günstig, ein altes Desiderat des Militärs einlösend, endlich einen zentralistischen Einheitsstaat errichten zu können. Katalonien und das Baskenland wurden unter der Diktatur wirtschaftlich diskriminiert und sahen sich intensiven Unterdrückungsund Kontrollmaßnahmen ausgesetzt. Die regionalen Sprachen wurden aus dem öffentlichen Raum verbannt, alle Zeugnisse und Symbole der jeweiligen regionalen Kultur systematisch negiert oder ausgelöscht.30 Franco konnte indes nicht verhindern, dass, als in den späten 1950er Jahren der wirtschaftliche Erholungsprozess einsetzte, die katalanischen und baskischen Unternehmer alsbald ihre frühere industrielle Vorreiterrolle zurückgewannen und die beiden Regionen erneut die höchsten Wachstumsraten erzielten. Wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden sie zu den Hauptzielen der innerspanischen Migration, und sie entwickelten ein starkes Selbstbewusstsein sowie eine Widerstandshaltung gegen das Regime. In Katalonien kam es zu einer erneuten kulturellen Renaissance, im Baskenland hingegen entstand mit der Gründung der ETA eine Gewaltorganisation, die der Diktatur den Kampf ansagte und sie durch die Ermordung des designierten Nachfolgers von Franco, Carrero Blanco, entscheidend schwächte. Insgesamt fiel die politische Bilanz des Franco-Regimes nach über drei Jahrzehnten uneingeschränkter Herrschaft gemischt aus. Einerseits konnte es ein Wiederaufflammen bewaffneter Konfrontationen verhindern, einem Volksaufstand aus Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Stagnation durch einen Schwenk in der Wirtschaftspolitik zuvorkommen und im Zuge des Wirtschaftswachstums und der damit einhergehenden Urbanisierung einen der traditionellen Konfliktherde, die ungleiche Besitzverteilung auf dem Land, entschärfen. Doch andererseits übernahm es sich bei dem Versuch, die wohlhabenden Regionen an der nördlichen Peripherie vermehrter zentralstaatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Im Ergebnis führte dieser Versuch in eine verstärkte Militanz und Abwehrhaltung gegenüber Madrid. Au30

Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 181 f.

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ßerdem machte das Regime sich durch seine repressive Reaktion auf Lohnforderungen der Unterschichten und Proteste aller Art seinen ehemals engsten Verbündeten, den katholischen Klerus, zum Gegner. Hinzu kam, dass der vom Regime teils geförderte, teils geduldete gesellschaftliche Modernisierungsprozess keineswegs geeignet war, die Spanier auf die Dauer mit ihrem autoritären Herrschaftssystem auszusöhnen, sondern zusätzliche Unruheherde und Konfliktpotenziale erzeugte.31 Für die späten 1960er und frühen 1970er Jahre zählen McAdam und seine Kollegen eine ganze Reihe militanter Gruppen auf, die dem Regime trotzten und es in Bedrängnis zu bringen versuchten: die Arbeiter, die Studenten, die Basken und Katalanen, der niedere Klerus, politisch mobilisierte Nachbarschaftsgruppen.32 Natürlich war es nicht der jeweilige gesamte Sektor, der aufbegehrte, sondern nur Teile desselben. Doch die Situation schien den genannten Autoren alarmierend genug zu sein, dass sie die Behauptung aufstellten, nie zuvor habe das Franco-Regime so nahe vor dem erneuten Ausbruch eines Bürgerkriegs gestanden wie in diesen Jahren.33 Der Bürgerkrieg fand nicht statt, auch nach Francos Tod kam es zu keinem Bruch, keiner bewaffneten Konfrontation zwischen den verbliebenen Stützen des Regimes und den auf einen politischen Wandel drängenden Oppositionskräften. Beide einigten sich auf einen einvernehmlichen Übergang zur parlamentarischen Monarchie, das heißt auf eine transición pactada, wobei bemerkenswert ist, dass sich dieser Übergang innerhalb des noch in der Franco-Zeit geschaffenen legalen Rahmens vollzog.34 Eine Erklärung für diesen Übergang im Sinne der traditionellen Modernisierungstheorie könnte lauten, Spanien sei damit dem klassischen Muster von Modernisierungsprozessen gefolgt, wonach die Demokratisierung das letzte Stadium nach einer Phase wirtschaftlichen Wachstums und einer Phase gesellschaftlicher Modernisierung dar-

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Olson, Rapides Wachstum als Destabilisierungsfaktor; Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 319 f. McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention, S. 176 f. Ebd., S. 171. Casanova, Modernization and Democratization, S. 962 f.

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stelle. Es lässt sich schwerlich bezweifeln, dass Demokratie diejenige Form politischer Ordnung ist, die am besten modernen Gesellschaften entspricht. Daraus folgt jedoch umgekehrt keineswegs, dass sie ein zwangsläufiges Ergebnis von wirtschaftlichem Take off und gesellschaftlicher Modernisierung darstellt. Wie Barrington Moore gezeigt hat, kann die Entwicklung auch in autoritären Bahnen verlaufen und faschistische Regime hervorbringen.35 Wie ist es Spanien gelungen, aus dieser Bahn auszubrechen? Dafür gibt es meines Erachtens vor allem drei Gründe: Erstens, dass Franco einen starken, in einem legalen Rahmen verankerten Staat hinterließ; zweitens dass sich alte und neue Eliten in gezielter Abwehr radikaler Tendenzen innerhalb des eigenen politischen Lagers auf eine gemäßigte politische Linie einigten; drittens ein Wandel der politischen Kultur.36 Ein starker, wehrfähiger Staat als Hinterlassenschaft des Franquismus unterschied diesen sowohl von der Endphase der Monarchie, bevor sie durch die Zweite Republik abgelöst wurde, als auch von dem politischen Machtvakuum, das in Frankreich vor Ausbruch der Revolution herrschte. Man hat geradezu den Eindruck, dass ein Großteil der Proteste gegen Ende des Regimes nicht von dem ernsthaften politischen Willen getragen wurde, dieses zu Fall zu bringen, sondern im Wissen um seine Festigkeit und Härte von vornherein von einem Gefühl der Vergeblichkeit begleitet war. Der Nimbus der Unbeugsamkeit, dass mit dem Regime nicht zu spaßen sei und das Militär als letzte Eingriffsreserve bereitstehe, hielt auch nach Francos Tod an und schob radikalen Umsturzplänen einen Riegel vor. Sowohl den Führern der Opposition als auch den Eliten, die dem Regime gegenüber loyal geblieben waren, war dies bewusst. Deshalb, aber auch in Erinnerung an den Bürgerkrieg, der von extremistischen Gruppen auf beiden Seiten mehr oder weniger willkürlich vom Zaun gebrochen worden war, einigten sie sich auf einen geordneten Rückzug des Regimes, 35 36

Moore, Soziale Ursprünge; Casanova, Modernization and Democratization, S. 930 ff. McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention, S. 179 ff.; Casanova, Modernization and Democratization, S. 953 ff.

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der es jeder Seite erlaubte, ihr Gesicht zu wahren. Wahrscheinlich stand dahinter die Überzeugung, eine pluralistische Demokratie sei die beste Staatsform, um eine friedliche Auseinandersetzung zwischen aus unterschiedlichen ideologischen Lagern stammenden politischen Kräften zu gewährleisten. Explizit artikuliert wurde der Wunsch nach einem friedlichen Übergang zur Demokratie wiederholt in den Massendemonstrationen nach Francos Tod. Bei einem Großteil der Eliten und vor allem in den sozialen Mittelschichten schwang die Überzeugung mit, es sei an der Zeit, durch ein Bekenntnis zur Demokratie die politische Sonderstellung des Landes innerhalb Europas zu beenden. McAdam u.a. haben darin den Ausdruck eines Identitätswandels der Spanier, verglichen mit der Zeit der Zweiten Republik und des Bürgerkriegs, gesehen.37 Das scheint mir zu hoch gegriffen zu sein. Im Unterschied etwa zu Frankreich ist das Gefühl kollektiver Identität bei Spaniern gerade nicht am Staat und der jeweiligen politischen Ordnung festgemacht, sondern eine Ebene tiefer bei den Regionen, dem kleinen Vaterland (patria chica) angesiedelt.38 Was sich dagegen mit einiger Sicherheit durch die Annäherung an Europa verändert hatte, war die politische Kultur des Landes.

Die Entwicklung in Spanien und der konservative Impuls Spaniens gewundener Weg zur Demokratie hält einige Lektionen in Bezug auf mein Thema bereit. Im 19. Jahrhundert war Spanien eines der ersten Länder, das sich, die wechselnde politische Szenerie im nördlichen Nachbarstaat vor Augen, mit den durch die Französische Revolution ausgelösten politischen Neuerungen auseinandersetzen musste. Die klassische Modernisierungstheorie ging davon aus, dass die politischen Reformen in Frankreich und Großbritannien, aus denen pluralistische Demokratien hervorgingen, bei den in der Entwick37 38

McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention, S. 171 ff. Brenan, The Spanish Labyrinth, S. IX ff.; Brenan, Südlich von Granada.

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lung nachhinkenden Nationen einen gewissen Druck auslösen würden, es den beiden Vorbildern gleichzutun. Das mochte in Spanien bei einer kleinen intellektuellen Elite durchaus der Fall sein, doch für das Gros der Machteliten traf eher das Gegenteil zu: Alarmiert durch die Bedrängnis, in welche die konservativen Kräfte im Nachbarland gerieten, bildeten sie beizeiten eine Abwehrfront im eigenen Land, um der Ausbreitung des Republikanismus Einhalt zu gebieten oder sie zumindest zu unterlaufen. Rein äußerlich wurden zwar, etwa in Form der Einführung von Wahlen, Zugeständnisse an den politischen Geist der Moderne gemacht, doch zugleich wurde durch deren Lenkung »von oben« Sorge dafür getragen, dass dadurch die bestehenden Machtverhältnisse nicht ernsthaft tangiert wurden. Spätestens während der Zweiten Republik, als die linken und im politischen Mittelfeld angesiedelten politischen Kräfte einen klaren Wahlsieg errungen hatten, zeigte sich, wie intakt und einflussreich der aus Adel, Großgrundbesitz, Hochfinanz, Kirche und Armee bestehende konservative Machtblock geblieben war. Nicht nur gelang es ihm nach zwei Jahren, vorübergehend die Mehrheit im Parlament zu erlangen, sondern zugleich schürte er den Konflikt mit dem linken Gegenlager bewusst, bis er in einen militärischen Aufstand und anschließenden Bürgerkrieg mündete, aus dem die Rechte als Sieger hervorging. Diese Eskalierung war allerdings nur möglich, weil das linke Lager in seiner Konfliktfreudigkeit und Gewaltbereitschaft der politischen Rechten in nichts nachstand. Ganz Spanien war zu diesem Zeitpunkt offenbar noch zu sehr im traditionellen Freund-Feind-Denken und entsprechenden gesellschaftlich-politischen Praktiken verhaftet, um das politische Ordnungsinstrument der Republik sinnvoll handhaben zu können. Eine urbane Mittelschicht, die ausgleichend wirken und als Promotor politischer Modernisierung hätte fungieren können, gab es nur in Ansätzen. Von hemmenden Restriktionen befreit, entfaltete der politisch mobilisierte Teil der Spanier in der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Parteien einen quasi missionarischen Eifer, der den republikanischen Gesetzesrahmen sprengte und zu einer gewaltsamen Entscheidung drängte. Die Diktatur Francos, der aus diesem Ringen als Sieger hervorging, unterschied sich von jener Napoleons insofern, als sie nicht un131

ter einem neutralen Vorzeichen stand, sondern eindeutig Partei war. Als Sieger nahm Franco erbarmungslos und maßlos Rache an den Besiegten, was sein Hauptziel, den inneren Zwist zu beenden und die Einheit der Nation zu bewahren, anfangs in den Hintergrund treten ließ. Gleichwohl wird man dies als das Hauptanliegen des Diktators, insbesondere in der ersten Phase seiner Herrschaft, bezeichnen können, was es erlaubt, ihn in die Nähe Napoleons I . und Napoleons III . zu rücken: Er wollte den zentrifugalen Kräften und Bestrebungen auf spanischem Boden Einhalt gebieten, eine Zwangsbefriedung der sich feindlich gegenüberstehenden politischen Lager erreichen, die nationale Einheit schützen und einen Zustand öffentlicher Sicherheit und Ordnung wiederherstellen. Francos Diktatur dauerte über 35 Jahre, mehr als doppelt so lang wie jene von Napoleon I. Die ihr eigene Verbindung von Stabilität und Härte, welche die Voraussetzung ihres langen Bestandes war, zeitigte Wirkungen, die über die repressive Aufrechterhaltung der nationalen Einheit hinausgingen und jenseits der Möglichkeiten eines zeitlich begrenzten parlamentarischen Regimes lagen. Drei davon seien besonders erwähnt. Die erste war die erneute Übernahme konservativer Verhaltensmuster durch einen Teil der republikanisch gesonnenen Bevölkerung. Mag sich darin auch teilweise die durch Francos Entpolitisierungsbestrebungen nahegelegte Rückkehr zu politischer Apathie und Indifferenz widerspiegeln, so kam sicher das Motiv hinzu, sich den gegebenen Machtverhältnissen und den aufs Neue verbindlichen Lehren der Kirche anzupassen. Zweitens scheint die These berechtigt, dass gerade durch die akzentuiert konservative Ausrichtung des Regimes konservative Kräfte wie das Militär und die Kirche, von politischen Selbstbehauptungssorgen entbunden, sich wieder vermehrt auf ihre eigentlichen Aufgaben besinnen konnten. Beim Militär führte dies dazu, dass es sich aus der Politik weitgehend zurückzog und im Vorgriff auf rechtsstaatliche Verhältnisse zu einer rein professionellen Institution entwickelte. Im katholischen Klerus und bei den Katholiken allgemein fand ein Wandel von der wichtigsten ideologischen Trägergruppe des Regimes hin zu dessen bevorzugtem Braintrust oder sogar zum Anschluss an die Opposition statt. Nicht weniger nachhaltig wirkte sich die Stärke und Härte des franquistischen Herrschaftssys132

tems auf die oppositorischen Gruppen aus. Da das Regime sich kaum bewegte und von unbestimmter Dauer war, zwang es die unterschiedlichen Parteien und Gruppierungen, aufeinander zuzugehen und sich über gemeinsame Grundsätze und Ziele zu einigen, um ihm auf Dauer Paroli bieten zu können. All dies erforderte Zeit, was mich zum Ausgangspunkt dieser kurzen Betrachtung zurückführt. Sowohl bei den regimeloyalen Institutionen und Gruppierungen als auch bei deren Gegnern bedurfte es eines längeren inneren Reifungsprozesses, um jene Anpassungen, Neuausrichtungen und veränderten Frontenbildungen hervorzubringen, ohne die ein paktierter legaler Übergang zur Demokratie schwerlich denkbar gewesen wäre. Ein längerer Zeitraum war auch notwendig, um Franco zu der Einsicht gelangen zu lassen, dass der zunächst eingeschlagene wirtschaftspolitische Autarkiekurs verfehlt war. Erst der danach vollzogene wirtschaftspolitische Schwenk leitete jene Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse ein, die zum einen den Besitzverteilungsproblemen auf dem Land ihre frühere Brisanz nahmen und die zum anderen die Spanier den Anschluss an die politische Kultur Nord- und Westeuropas suchen ließen. Nicht zuletzt wegen ihrer langen Dauer schuf die Franco-Diktatur also selbst die Voraussetzungen dafür, überflüssig zu werden.

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Eine konservative Revolution: Iran 1979 Nach einer fast 40-jährigen Entwicklungsdiktatur, die eine forcierte Modernisierung des Landes betrieb, wurde Mohammad Reza, der seinem Vater Riza Khan 1941 als Schah nachgefolgt war, 1979 in einer Revolution gestürzt und musste ins Ausland fliehen. Die politische Führung übernahm der Schiitenführer Ayatollah Khomeini, der unter der offiziellen Bezeichnung »Islamische Republik« ein theokratisches Herrschaftssystem errichtete, das bis heute Bestand hat. Sowohl inländische als auch ausländische Beobachter hatten ab 1977 mit einem politischen Machtwechsel gerechnet. Doch beide waren erstaunt, dass das Land mit der Übernahme der Regierung durch einen Zweig der schiitischen Geistlichkeit gewissermaßen einen Sprung rückwärts in seiner Entwicklung machte. Erwartet worden war, dass der Despot durch ein rechtsstaatlich-demokratisches System ersetzt werden würde, das sich an westlichen Vorbildern orientierte. Für den überraschenden Ausgang der Revolution werden vor allem zwei Erklärungen in der Literatur angeboten.1 Zum einen wird darauf verwiesen, dass der Schah selbst der säkularen Opposition als Bedrohung für sein Regime weit mehr Gewicht eingeräumt hätte als Widerstandsreaktionen aus dem Klerus, den er geringschätzte und nicht sonderlich ernst nahm. Deshalb habe er sich darauf konzentriert, prominente westlich orientierte Politiker zu entmachten und ins Exil zu schicken, was deren Lager sehr geschwächt habe, als es um die Entscheidung ging, wem die Führerschaft innerhalb des Bündnisses revolutionärer Kräfte zufallen würde. Zum anderen, so heißt es, 1

Keddie, Modern Iran, S. 169, 215 ff.; Parsa, States, Ideologies, and Social Revolutions, S. 243 ff.

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habe Khomeini, solange er die Herrschaft des Schahs aus dem Exil angriff, keinerlei eigene Machtambitionen erkennen lassen, sondern den Anschein erweckt, er wolle sich mit einer politischen Beraterrolle zufriedengeben. Er habe, mit anderen Worten, seine Konkurrenten und Gegner aus taktischen Gründen getäuscht und erst nach vollzogenem Machtwechsel seine wahren politischen Absichten enthüllt. Die Etablierung einer Theokratie als Ergebnis eines politischen Betrugsmanövers? Beide Erklärungen können nicht wirklich befriedigen. Die Revolution wurde nicht von einer begrenzten Zahl politischer Organisationen und Gruppierungen ins Werk gesetzt, sondern war das Ergebnis der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten. Warum schenkten sie einem religiösen Führer wie Ayatollah Khomeini und seiner Gefolgschaft mehr Vertrauen als weltlichen Politikern und ihrer Klientel? Ließen sie sich dabei wirklich von der Vorstellung leiten, Khomeini und generell die schiitische Ulama würden sich nach dem Sturz des Regimes wieder zurückziehen und weltlichen Politikern die Neugestaltung der politischen Ordnung überlassen? Welche Rolle spielten überhaupt solche mittelfristigen Perspektiven angesichts der Welle von Empörung, die das Schah-Regime hinwegspülte? Wie also erklärt sich der konservative Ausgang einer im Zeichen des generellen Aufbruchs stehenden Revolution? Bevor der Regimewechsel mit dem unverhofften konservativen Ausgang genauer untersucht wird, sollen jedoch einige allgemeine Bemerkungen zur jüngeren Geschichte des Iran vorausgeschickt und die sukzessiven diktatorischen Regime der Pahlavi-Dynastie in ihren Grundzügen dargestellt werden.

Historischer Kontext und erste Pahlavi-Diktatur (1925 – 1941) Der Modernisierungsprozess setzte im Iran bereits relativ früh im 19. Jahrhundert ein. Dies hing mit der Einflussnahme Großbritanniens und Russlands auf das Land zusammen, die zwar seine formelle Souveränität nicht antasteten, jedoch aufgrund ihrer waffentechni135

schen Überlegenheit wirtschaftliche, teils (das gilt vor allem für Russland) auch territoriale Zugeständnisse von der schwachen QuajarenDynastie erzwangen.2 Der geografisch aus sehr unterschiedlichen Zonen bestehende Iran war zu jener Zeit ein dezentrales politisches Gebilde, ein Großteil der Macht lag in den Händen der Besitzer ausgedehnter Ländereien in den Provinzen und bei nomadischen Stämmen im Süden des Landes. Die Monarchie brachte zwar einige fähige Politiker hervor, die durch den Import westlicher Technologie und administrative sowie militärische Reformen den Staatsbildungsprozess voranzubringen versuchten; etliche Erneuerungsimpulse gingen auch von jungen Leuten, die im Westen studiert hatten, oder längere Zeit im Exil weilenden Politikern aus. Doch versickerte ihre Wirkung meist in Hofintrigen, blieb oberflächlich und begrenzt. Konnte der Kontakt mit dem Westen am traditionellen, durch Korruption, exzessive Bereicherung einiger weniger auf Kosten der breiten Masse und Gewalt als politisches Durchsetzungsmittel geprägten Herrschaftsstil nur wenig ändern, so provozierten die westlichen Einmischungen doch schon relativ früh (ab 1840) eine nicht zuletzt aus religiösen Motiven gespeiste Gegenbewegung. Der islamische Klerus, als Schiiten deutlich vom ansonsten im arabischen Ländergürtel dominierenden Sunnitentum abgesetzt, war traditioneller Bestandteil des politischen Macht- und Intrigenspiels. Immerhin konnte sich die geistliche Ulama, die über einen beträchtlichen Rückhalt in der Bevölkerung verfügte, als Stimmführerin von Unzufriedenheit und Protest gelegentlich auch gegen den Hof als Herrschaftszentrum wenden.3 Es gab also bereits Präzedenzfälle zur Revolution von 1979. Insgesamt nahmen sowohl die iranischen Eliten als auch die breite Bevölkerung eine zutiefst ambivalente Haltung gegenüber den aus dem Westen stammenden technischen Errungenschaften und institutionellen Neuerungen ein. Einerseits hegten sie dafür Bewunderung, versuchten sie nachzuahmen oder direkt zu übernehmen. Andererseits erregte die Überlegenheit des Westens auch Neid, Gefühle verletzten Stolzes und der Wut über die dem Land zugefügten Demü2 3

Keddie, Modern Iran, Kap. 3 und 4. Ebd., S. 45.

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tigungen. Beides zusammen erzeugte Mischprojekte in Form »von oben« implementierter Reformen, die, von den Initiatoren selbst oft nur halb ernst gemeint, nicht konsequent durchgesetzt wurden. Ein typisches Beispiel hierfür war die 1905 nach einer »Revolution« verabschiedete Verfassung, die eine konstitutionelle Monarchie einführte und bis 1979 in Kraft blieb. Sie sah eine gewisse Gewaltenteilung und ein partizipatives Element in Form einer repräsentativen Versammlung (den Majlis) vor. Beides blieb aber weitgehend toter Buchstabe, an den sich nur wenige Politiker hielten. Nach wie vor bestand Politik primär in einem um den Hof herum konzentrierten Ränke- und Intrigenspiel, waren Günstlingswirtschaft und Nepotismus gängige Praktiken und Mord ein beliebtes Mittel, um einen unliebsamen politischen Gegner aus dem Weg zu räumen. Am Ende des Ersten Weltkriegs befand sich der Iran in einem deplorablen, der Anarchie nahen Zustand.4 Teile des Landes, die von britischen und russischen Truppen besetzt gewesen waren, lagen ausgeplündert darnieder, Missernten und Spekulation auf den Getreidemärkten erzeugten Hungersnöte. Die Krone, extrem geschwächt, konnte kaum noch Steuerungs- und Kontrollfunktionen wahrnehmen, das Parlament der Majlis war zu einem Haufen ihre jeweiligen Partikularinteressen verfolgender Stammesführer, Großgrundbesitzer, Bazar-Händler und Geistlicher verkommen. Zwar hatte der Druck des durch die Revolution geschwächten Russland auf das Land nachgelassen. Dafür trat Großbritannien umso bestimmter auf und verfolgte offensichtlich die Absicht, aus dem Iran ein Protektorat zu machen, um sich durch Erweiterung der Landbrücke Ägypten–Palästina–Irak einen direkten Weg nach Indien zu sichern. All dies löste im Iran tiefe Unzufriedenheit und Ressentiments aus, die sich vor allem gegen Großbritannien richteten. Die Erregung steigerte sich, als eine Neufassung des anglo-iranischen Abkommens 1919 die Reform des Finanz-, Steuer- und Kommunikationssytems unter britischer Beratung sowie eine umfassende britische Militärhilfe, finanziert durch eine iranische Anleihe beim britischen Staat, vorsah 4

Avery/Hambly/Melville, The Cambridge History of Iran, S. 213 ff.; Keddie, Modern Iran, S. 73 ff.; Ansari, Modern Iran since 1921, S. 20 f.

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und die Briten sich an die Umsetzung der neuen Vertragsvereinbarungen machten, noch bevor diese vom Parlament ratifiziert worden waren. Ein Aufschrei öffentlicher Empörung war die Folge, in dem sich das Gefühl verletzten Nationalstolzes Luft machte. Das war die Stunde des Kosakenführers Riza Khan.5 Oberst Riza Khan hatte sich in der Kosakenbrigade unter russischen Offizieren hochgearbeitet. Dies war der beste Weg für eine militärische Karriere, da nur von Ausländern geführte Militäreinheiten als geschult und effektiv galten. Ehrgeizig, intelligent und durchsetzungsfähig stieg der Oberst im Iran rasch weiter auf, wurde Oberbefehlshaber der iranischen Streitkräfte, dann Kriegsminister, was ihm den Zugriff auf die Staatsfinanzen sicherte. Schließlich wurde er in dem bestehenden politischen Machtvakuum auch zum Premier ernannt, womit die Anwartschaft auf eine mögliche Diktatur verbunden war. In einem Akt scheinbaren Machtverzichts, der sein Prestige noch steigerte, willigte er 1926 ein, sich zum Erbmonarchen krönen zu lassen. Reza Schah, wie er nun genannt wurde, war ungeachtet seiner langen Dienstzeit unter russischen Vorgesetzten, vielleicht auch gerade deshalb, äußerst nationalistisch eingestellt. Er verfolgte das doppelte Ziel, den Iran von der Bevormundung durch fremde Mächte, insbesondere der Rolle eines Spielballs zwischen britischen und russischen Einflussbestrebungen, zu befreien und das Land zu einem modernen Staat im Sinne der westlichen Vorbilder zu machen, ohne seine Wurzeln und glorreiche Vergangenheit zu verleugnen. Beide Ziele stießen auf beträchtliche Hindernisse. Ein Haupthindernis, das sich der Transformation in einen modernen Nationalstaat in den Weg stellte, war die ethnische Heterogenität des Landes, vor allem die zahlreichen, teils sehr mächtigen Nomadenstämme, die weitgehend autonom waren. Um sie zu unterwerfen, konzentrierte sich Reza Schah auf den Ausbau jenes Sektors, dem er selbst entstammte und von dem er am meisten verstand: des Militärs. Er schuf eine 40 000 Mann starke, gut geschulte, ihm ergebene Armee, die nach und nach alle sezessionistischen Bestrebungen auslöschte und mit List und Gewalt die Eigenständigkeit der Stämme aus5

Avery/Hambly/Melville, The Cambridge History of Iran, S. 217 f.

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höhlte. Durch die Vertreibung oder Ermordung ihrer Führer stark geschwächt, stellten sie schließlich kein ernsthaftes Widerstandspotenzial für die Zentralregierung mehr dar. Allerdings schrumpfte damit auch die bis dahin einen wichtigen Platz einnehmende Weidewirtschaft, eine den natürlichen Gegebenheiten des Landes gut angepasste Wirtschaftsweise, und es breiteten sich Krankheit und Depression unter den mit großer Brutalität umgesiedelten nomadischen Bevölkerungsgruppen aus. Für diese »Kosten« des eingeschlagenen Modernisierungskurses hatte der Schah ebenso wenig Sinn und Interesse wie später sein Sohn Mohammad Reza Schah.6 Es blieb indes nicht bei negativen Maßnahmen und der Beseitigung von Hindernissen. Der Schah setzte auch eine Reihe positiver Akzente, um seinem Ziel, der Schaffung eines modernen Nationalstaats, näher zu kommen. Er nahm den Aufbau der Infrastruktur des Verkehrswesens in Angriff, baute die Landeshäfen aus, legte ein umfassendes Straßen- und Transportsystem an, begann mit dem Bau einer Eisenbahnlinie, die Teheran mit anderen Städten verbinden sollte. Er verwandte sich für die Reform des Erziehungswesens, gründete die Universität von Teheran, führte mithilfe ausländischer Berater ein an europäischen Vorbildern ausgerichtetes Handels- und Kriminalrecht ein, bestand auf der Gleichbehandlung von Frauen und Männern. Sein Neuerungsdrang machte auch vor der schiitischen Geistlichkeit nicht halt, die aller Sonderrechte verlustig ging, womit der Islam allen anderen Religionen gleichgestellt war. Offenbar war er fest davon überzeugt, das Land innerhalb weniger Dekaden von Grund auf umgestalten und eine stark tribal geprägte Gesellschaft in ein modernes Staatswesen verwandeln zu können. Nicht seine weitreichenden innenpolitischen Ambitionen, sondern seine Bemühungen, die seinen Operationsspielraum einengenden außenpolitischen Fesseln abzustreifen, wurde ihm indes zum Verhängnis. Die lästigste unter ihnen war die von Großbritannien über den Iran ausgeübte Dominanz, und hier wiederum in erster Linie das Abkommen von 1901, das es den Briten erlaubte, die ergiebigen Erdöl6

Keddie, Modern Iran, S. 85 ff.; Avery/Hambly/Melville, The Cambridge History of Iran, S. 222 ff.

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felder, die wichtigste Primärressource des Landes, nach Belieben auszubeuten. Zwar erreichte der Schah 1932 eine Kündigung des Vertrags und den Eintritt in Neuverhandlungen. Doch konnte er, mit dem Widerstand sämtlicher an der Erdölförderung interessierter Industriestaaten konfrontiert, nur eine geringfügige Erhöhung des dem Iran zustehenden Anteils an den Verkaufserlösen durchsetzen. Sein den aufkeimenden Antikolonialismus beschwichtigender Haupterfolg bestand darin, dass fortan sämtliche sich im Iran aufhaltenden Ausländer iranischem Recht unterworfen waren und nicht mehr verlangen konnten, vor Gericht entsprechend den Rechtsnormen ihrer Ursprungsländer behandelt zu werden. Die vom Schah als irritierend empfundene Abhängigkeit von Großbritannien war vermutlich auch der Grund, warum er vermehrt die Fühler nach Deutschland ausstreckte. Er verstieß damit gegen die Grundregel iranischer Außenpolitik, wonach die Selbstständigkeit des Landes an die Bedingung geknüpft war, dass man es verstand, die beiden Großmächte, zwischen denen es eingezwängt war, Russland und Großbritannien, gegeneinander auszuspielen. Als der Schah versuchte, sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs aus diesem Konflikt herauszuhalten und sein Land für neutral erklärte, marschierten britische und sowjetische Truppen in den Iran ein und setzten ihn ab.7

Die Entwicklungsdiktatur Mohammad Reza Pahlavis (1941 – 1979) Nach der Absetzung Reza Schahs 1941 befand sich das Land in einer ähnlichen Situation wie am Ende des Ersten Weltkriegs. Es war teilweise von ausländischen Truppen besetzt, das Parlament, nach dem Abdanken des Despoten zu neuem Leben erwacht, zerfiel wieder in miteinander rivalisierende, meist Partikularinteressen vertretende Klüngel, ohne dass sich ein übergreifendes politisches Konzept abzeichnete. Mohammad Reza Schah, von den Besatzungsmächten als 7

Avery/Hambly/Melville, The Cambridge History of Iran, S. 242; Ansari, Modern Iran since 1921, S. 73.

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Nachfolger seines Vaters auf den Thron gehoben, war in der Schweiz erzogen worden. Zunächst noch unsicher und konziliant, entwickelte er sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem rücksichtslosen, brutalen Herrscher, der keinen Politiker mit Profil neben sich duldete und gegen Ende seines Regimes einem mit missionarischen Zügen verbundenen Größenwahn erlag, der ihn den Kontakt zur sozialen und politischen Realität verlieren ließ.8 Die Regierungszeit Mohammad Reza Schahs zerfiel in zwei Hauptperioden, 1941 –1953 und 1953 –1979; an der Schwelle zwischen beiden lag der gescheiterte Versuch Mohammad Mossadeghs, einen alternativen, mehr am nationalen Gesamtinteresse und dem Wohl der breiten Masse ausgerichteten politischen Kurs einzuschlagen. Der Zweite Weltkrieg hatte das Überstürzte und Provisorische der Modernisierungsanstrengungen der vergangenen zwei Jahrzehnte offengelegt und die unverminderte militärische Verwundbarkeit des Landes aufgezeigt. Dieses befand sich inmitten eines Übergangsprozesses von traditionellen zu modernen Strukturen, ohne dass letztere bereits wirklich gefestigt gewesen wären. Von einer eigenen Industrie konnte nur ansatzweise die Rede sein, das frisch geschaffene Kommunikations- und Transportsystem zeigte bereits Abnutzungsspuren, vielerorts fehlte es an einer befriedigenden Wasserversorgung, durch die einsetzenden Land-Stadtwanderungen war ein beschäftigungsloses urbanes Subproletariat in den Großstädten entstanden, die Inflation entwickelte sich zum Dauerproblem, und im Norden des Landes regten sich erneut sezessionistische Kräfte. All dies erzeugte eine Stimmung breiter Unzufriedenheit, gab auch Anlass zu diversen Parteigründungen und Reformanläufen, deren Träger vornehmlich die neu entstehenden urbanen Mittelschichten waren, häufig Universitätsabsolventen, die keinen ihrem Ausbildungsniveau entsprechenden Arbeitsplatz fanden.9 Das allgemeine Unbehagen fand sein Ventil in einem gesteigerten, vor allem gegen Großbritannien gerichteten Nationalismus, der sich an der Ausbeutung des Erdöls durch die britische Fördergesellschaft AIOC entzündete. 8 9

Ansari, Modern Iran since 1921, S. 167 ff. Keddie, Modern Iran, S. 105 ff.; 118 f.

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Dies waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für den politischen Aufstieg Mossadeghs, der, gestützt auf eine von unterschiedlichsten Gruppen getragene nationale Bewegung, die Verstaatlichung der Erdölindustrie forderte. Von der breiten Bevölkerung und der Majlis-Versammlung begeistert begrüßt, stieß diese Initiative auf den entschiedenen Widerstand der internationalen Erdölkonzerne sowie der Regierungen Großbritanniens und der USA . Der Schah, der in Mossadegh einen gefährlichen Rivalen witterte, verhielt sich zunächst abwartend und ließ ihn halbherzig gewähren. So entspann sich ein Machtpoker zwischen dem rasch zu großem Ansehen gelangten populistischen Politiker, der ihn als Fanatiker und Sozialisten denunzierenden internationalen Presse und dem ihm ebenfalls keineswegs wohlgesonnenen Schah. Mossadeghs Sturz 1959 durch einen vom CIA eingefädelten Coup ließ ihn für das Volk zum Helden und Märtyrer werden. An den früheren Abkommen, wonach den externen Förderfirmen 50 Prozent der Gewinne aus dem Erdölgeschäft zufielen, änderte sich jedoch auf absehbare Zeit nichts.10 Nachdem Mossadegh ausgeschaltet war, hatte der Schah freie Bahn, um seine ehrgeizigen Zukunftspläne zu verwirklichen. Er nutzte sie zum einen, um seine Herrschaft zu einem diktatorischen, allenfalls noch mit Gewalt zu stürzenden System auszubauen, zum anderen für die Realisierung dessen, was er für die wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung des Landes hielt. Anfangs noch von einer konservativen Machtkoalition eingerahmt, setzte der Schah in den späten 1950er und 1960er Jahren alles daran, um sämtliche Gruppen und Konkurrenten, die seinem absoluten Herrschaftsanspruch im Wege standen, kaltzustellen oder zu beseitigen. Er perfektionierte den Sicherheitsapparat und stützte sich dabei vor allem auf die Geheimpolizei (SAVAK ), die durch willkürliche Verhaftungen und die Folterung aller der Opposition Verdächtigten eine Atmosphäre permanenter Einschüchterung erzeugte. Nach der Devise »L’état c’est moi«,11 misstraute der Schah jedem, unterwarf alles seinem persönlichen Machtdiktat und duldete nur servile Gefolgsleute in seiner un10 11

Avery/Hambly/Melville, The Cambridge History of Iran, S. 251 ff. Ebd., S. 267.

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mittelbaren Umgebung. Periodisch aufkommender Unzufriedenheit, etwa zu Beginn der 1960er Jahre, begegnete er, wenn repressive Mittel versagten, mit der Kooptation der Dissidenten sowie mit der generösen Befriedigung der Konsumwünsche der Aufbegehrenden. Zugleich war Mohammad Reza Schah bestrebt, die Aufholjagd des Iran im Modernisierungsprozess zu beschleunigen, um sich mit dem Land alsbald in die Riege der fortschrittlichen Industrienationen einreihen zu können. Außenpolitisch baute er es mithilfe der inzwischen reichlich sprudelnden Einnahmen aus dem Erdölgeschäft durch Import der modernsten Rüstungsgüter zur führenden Militärmacht des mittleren Ostens aus. Das wichtigste Instrument, um seinen ehrgeizigen Zielen innenpolitisch näher zu kommen, waren die mit großem Pomp verkündeten Reformpläne, die sogenannte Weiße Revolution. Einen ihrer Hauptschwerpunkte bildete eine umfassende Landreform, daneben enthielten sie jedoch eine Reihe weiterer, durchaus fortschrittlich klingender Programmpunkte, zu denen u.a. die Einführung des Frauenwahlrechts, die Überführung der Wälder in Staatsbesitz einerseits, die Privatisierung staatseigener Industriebetriebe andererseits und eine umfassende Alphabetisierung der Landbevölkerung gehörten.12 Alle diese Maßnahmen waren von dem unaufhörlichen Bemühen begleitet, die eigene Rolle als mit außerordentlichen Fähigkeiten begabter Führer, der seiner Mission folgt, die Gesellschaft zu ihrem eigenen Vorteil grundlegend zu transformieren, gebührend herauszustreichen. In zahlreichen Reden und Interviews äußerte sich der Schah selbstgefällig über den eigenen Werdegang, er schrieb auch Bücher über sich und sein »Werk«. Dabei legte er bei der Auswahl der Personen, mit denen er sich verglich, keine übertriebene Bescheidenheit an den Tag; anlässlich der Krönungszeremonie 1967 war es Napoleon I., als er sich wie dieser selbst die Krone aufs Haupt setzte, ein anderes Mal Churchill.13 Seinem Land verhieß er eine blendende Zukunft in Gestalt der »Großen Zivilisation«, welche die vom Materialismus verdorbenen westlichen Industriestaaten hinter sich lassen und 12 13

Keddie, Modern Iran, S. 145 ff. Ansari, Modern Iran since 1921, S. 169 ff.

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eine neue Synthese der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse und der Wertschätzung von Kultur, Moral und Spiritualität schaffen würde. Für sich selbst, der die Nation in absehbarer Zeit diesen paradiesähnlichen Verhältnissen entgegenführen würde, griff er auf mehrere historische Rollenvorbilder zurück. Mal beanspruchte er, in die Fußstapfen des Achämenidenkönigs Kyros zu treten, der vor 2500 Jahren gelebt hatte, dann wieder zog er es vor, sich als mit visionären Zügen ausgestatteter Lehrer und Erzieher der Nation zu präsentieren, gelegentlich schlüpfte er auch in die Rolle des Propheten. Konstant blieb nur seine Botschaft, die Erbmonarchie sei die einzige dem Iran angemessene Regierungsform, sie sei gewissermaßen Bestandteil seiner Identität. Daraus leitete er die Befugnis ab, sich als absoluter Herrscher in allen wichtigen Fragen die letzte Entscheidung vorzubehalten. Unzählige Statuen und zu seinen Ehren errichtete Monumente sowie ein intensiv betriebener Personenkult untermauerten den Anspruch auf Alleinherrschaft.14 Bisweilen wird behauptet, diese übertriebene Selbstbeweihräucherung habe in der Bevölkerung eher Heiterkeit hervorgerufen als Respekt erzeugt. Auch das Protzen mit den jeweils neuesten aus den USA bezogenen Rüstungsgütern und Waffensystemen habe niemanden beeindruckt, sondern ihm nur das eher abschätzige Attribut eines »Gendarmen« der Supermacht in der Region eingetragen. Überhaupt sei er, ungeachtet seines internationalen Profilierungsdrangs, von vielen als eine Marionette der USA betrachtet worden. Es fällt schwer zu beurteilen, wie ernst der Schah mit seinen oft großsprecherischen Attitüden in den verschiedenen Bevölkerungsschichten und -gruppen genommen wurde, zumal viel dafür spricht, dass die für ihn bezeichnende Mischung aus Misstrauen und leicht verletzlichem Stolz einerseits, überzogenem Nationalismus und Überheblichkeit andererseits generelle Züge insbesondere der städtischen, zunehmend mittelständisch geprägten iranischen Gesellschaft waren. Zwei Dinge dürften indessen ziemlich klar sein: Zum Ersten, dass die vom Regime durchgeführten Reformen großenteils ganz andere als die beabsichtigten Wirkungen zeitigten; und zweitens, dass der Schah, der nach Aus14

Ebd., S. 180 ff., 190.

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schaltung aller kritischen Geister am Hof nur mehr von Schmeichlern und Jasagern umgeben war, in seinen Großmachtträumen befangen, zunehmend den Kontakt zur sozialen und politischen Realität im eigenen Lande verlor. Dass die angestrebten Reformen großenteils im Sand verliefen oder ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen die eigentlichen Zielsetzungen in den Hintergrund treten ließen, hing mit der chronischen Ineffizienz und Korruptheit des iranischen Verwaltungsapparates zusammen. Darüber hinaus lassen sich aber noch eine Reihe spezifischer Gründe nennen, die ihrer Umsetzung im Wege standen:15 – Die Landreform, ein Kernstück der Weißen Revolution, wurde teils verwässert, teils von den Großgrundbesitzern erfolgreich umgangen. In der ersten, vergleichsweise effektivsten Reformstufe erhielten nur 10 Prozent der landlosen Bauern eine eigene Scholle. Die Entbindung der Großgrundbesitzer von ihren früheren sozialen Verpflichtungen ließ ein Heer am Rande des Subsistenzminimums oder unterhalb desselben lebender Pächter, Kleinparzellenbesitzer und Landarbeiter entstehen, die in die Großstädte, vor allem nach Teheran, abwanderten und dort ein neues urbanes Subproletariat bildeten. – Die prowestliche Manie des Regimes hatte zur Folge, dass zahlreiche Beraterteams aus den USA und Europa ins Land geholt wurden, die ohne genauere Kenntnis der speziellen topografischen und klimatischen Bedingungen »Modernisierungsprojekte« im landwirtschaftlichen Bereich in Angriff nahmen, etwa Weideflächen in Ackerbauflächen umwandelten. Dadurch wurde der traditionelle Wasserhaushalt gestört, das Ergebnis waren oft Ertragsminderungen. Da die Agrarproduktion mit dem raschen demografischen Wachstum nicht Schritt halten konnte, wurde das Land von Getreideimporten abhängig, um seine Bevölkerung zu ernähren. – Generell überschätzten der Schah und seine Berater die Möglichkeit, eine Gesellschaft und Wirtschaft »von oben«, unter staatlicher Leitung und Kontrolle umzuformen. Hinzu kam, dass in15

Keddie, Modern Iran, S. 149.

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nerhalb des Staatsapparates kaum Personen mit einschlägigen Kompetenzen arbeiteten und es an Erfahrung fehlte, wie sich Reformprojekte umsetzen lassen. Man sah, in obrigkeitlichen Allmachtillusionen befangen, nicht oder wollte nicht sehen, dass es eines ist, Gesetze zu erlassen oder Pläne auszuarbeiten, und ein anderes, die Mentalität der Menschen so zu beeinflussen, dass sie bereit sind, sich den Plänen anzupassen oder die Gesetze mit Leben zu erfüllen.16 – Dies wiederum hing damit zusammen, dass die seit Jahren vorhandene Kluft zwischen einer kleinen, um den Hof herum konzentrierten Oberschicht und dem Gros der Bevölkerung sich unter dem Schah-Regime nicht verringerte, sondern noch größer wurde. Zwar hatte sich im Zuge des allgemein zunehmenden Wohlstands aufgrund der reichlich fließenden Erdölerlöse auch eine breite städtische Mittelschicht herausgebildet. Diese blieb in ihren Vermögensverhältnissen und ihrem Lebensstil aber weit hinter der engeren Entourage des Schahs zurück. Der Schah lebte inmitten eines begrenzten Zirkels von Unternehmern, Diplomaten, Vertretern ausländischer Firmen und sonstigen Nutznießern der Macht in einer Atmosphäre des Luxus und der Verschwendung, abgehoben von der breiten Bevölkerung und geradezu Welten entfernt von den Armen der Vorstadtviertel oder den Resten der Nomadenstämme des Hinterlandes. Vergleicht man die beiden aufeinanderfolgenden Pahlavi-Diktaturen, so kann man eine Reihe von Gemeinsamkeiten feststellen. Dazu zählen eine forcierte nachholende Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen und technischen Aspekte der Modernisierung; das Vertrauen, das Land »von oben«, von der staatlichen Spitze her erneuern zu können, eng verbunden mit dem Glauben an die Effektivität von Gewalt als Mittel sozialer und politischer Kontrolle; Elitismus, die Geringschätzung des einfachen Volkes; wenig Respekt vor der Opposition und generell den Grundprinzipien westlicher Politik, wie Gewaltenteilung oder die Achtung der Menschenrechte; die Duldung eines hohen Maßes an Nepotismus und Korrup16

Hamzeh’ee, Soziale Anomie im Iran der Schah-Ära.

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tion; schließlich eine eher verschwommene Vorstellung von den Besonderheiten des eigenen Landes, dessen Schwächen und Vorzügen, deren Kenntnis Voraussetzung jeder vernünftigen Entwicklungspolitik wäre. Neben Gemeinsamkeiten gab es jedoch auch Unterschiede zwischen Pahlavi Vater und Sohn, vor allem was die Voraussetzungen ihrer Herrschaft und deren Handhabung betrifft. Pahlavi I. hatte den Thron aufgrund seiner militärischen Fähigkeiten und seines politischen Geschicks erobert, seinem Sohn fiel er dagegen durch Erbfolge und dank dem Umstand zu, dass die entscheidenden auswärtigen Mächte gewillt waren, diese zu respektieren. Dies verlieh seinem politischen Mandat, noch verstärkt durch die enge Anlehnung an die USA , Züge eines Lehens, die den bisweilen herausgekehrten Nationalismus etwas künstlich erscheinen ließen. Die internationale Situation hatte sich, verglichen mit der Vorkriegssituation, entscheidend verändert. Hatte Reza Schah noch unter der beständigen Drohung der Einmischung von Drittmächten in die inneren Angelegenheiten des Iran regieren müssen und nur einen begrenzten Zugriff auf dessen wichtigste Ressource, das Erdöl, gehabt, so konnte sein Sohn, an der Spitze eines als souverän respektierten Staates stehend, entscheidenden Einfluss auf die internationale Preisgestaltung für den begehrten Treibstoff nehmen und die Verkaufserlöse dafür größtenteils in die Staatskasse fließen lassen. Das Großmachtgetue und die überzogenen nationalen Zukunftsambitionen des Schahs sind nur vor dem Hintergrund des dem Land plötzlich bescherten Devisenüberflusses verständlich. Der Iran stellte einen frühen Fall des Versuchs nachholender akzelerierter Entwicklung, gestützt auf einen einzigen, sich auf dem Weltmarkt glänzend verkaufenden Rohstoff dar. Im Ergebnis hat die dadurch erzeugte Erwartungsblase und Illusion über die eigene wirtschaftliche Potenz dem Entwicklungsprozess eher geschadet als genützt.

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Voraussetzungen und Trägergruppen der Revolution Wenngleich im Rahmen neuer Ressourcenmobilisierungstheorien das Hauptaugenmerk von Revolutionsstudien primär auf den strategisch wichtigen Akteuren und ihrem Vorgehen gegen ein Regime liegt, spricht im Falle der iranischen Revolution doch einiges dafür, dass ihr Beginn und Verlauf auch durch einige strukturelle und situative Bedingungen maßgeblich beeinflusst wurden.17 Eine Bedingung war die extreme Zentralisierung der Machtausübung in den Händen des Schahs. Nach jedem Konflikt mit Premierministern, die auf eine gewisse Autonomie pochten, zog er die Zügel seiner Herrschaft noch schärfer an und übte mithilfe eines ebenso repressiven wie effizienten Sicherheits- und Geheimdienstapparates eine lückenlose Kontrolle über sämtliche politisch relevanten Gruppen und Individuen aus. Die hochgradige Personalisierung der Macht machte das Regime äußerst verletzlich. Sie versperrte dem Schah die Möglichkeit, die Schuld für politische Fehlentscheidungen und administratives Versagen auf untergeordnete Statthalter und Stellvertreter abzuschieben. Er allein war vor der Öffentlichkeit letztlich für alles verantwortlich, was unter seiner Herrschaft geschah. So traf ihn auch die Hauptverantwortung für die ab 1977 einsetzende Wirtschaftskrise. Diese wurde u.a. durch Missernten, eine steigende Inflation und hochschnellende Mietpreise ausgelöst. Die Regierung reagierte darauf mit einem deflatorischen Programm, das zu einem jähen Anstieg der Zahl von Arbeitslosen unter den ungeschulten Arbeitern führte. Die Unzufriedenheit der unter prekären Verhältnissen in Vorortvierteln oft in Behelfsunterkünften hausenden Unterschichten war umso größer, als es eine begrenzte Schicht begüterter Iraner und die in urbanen Enklaven lebenden externen Beraterstäbe als Kontrastfolie gab, die sich in ihrem luxuriösen Lebensstil durch die wirtschaftliche Rezession nicht beeinträchtigen ließen. Diese stand zudem in einem eklatanten Gegensatz zu den Versprechungen 17

Parsa, States, Ideologies, and Social Revolutions; Keddie, Modern Iran, S. 214ff.; Avery/Hambly/Melville, The Cambridge History of Iran, S. 287 ff.

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des Schahs, eine Gesellschaft des allgemeinen Wohlstands und sozialer Gerechtigkeit schaffen zu wollen. Das von ihm erzeugte Ambiente überzogener Erwartungen schlug nun in Enttäuschung um. Das erinnert an die Lage in Frankreich vor dem Ausbruch der großen Revolution, als ebenfalls Missernten die Brotpreise in die Höhe und die Massen auf die Straße trieben. Schauplatz der größten Unruhen war damals Paris, und ähnlich wird man bezüglich der allmählichen Zuspitzung der Situation im Iran ab 1977 sagen können, dass ihre Dynamik wesentlich durch die Rolle von Teheran als Metropole und Aktionszentrum bestimmt war. Gewiss gab es auch andere Städte, etwa die Heilige Stadt Qom, die in bestimmten Phasen maßgeblichen Einfluss auf den Revolutionsverlauf hatten. Doch keine ist mit Teheran vergleichbar, das nicht allein das höchste Mobilisierungspotenzial für Demonstrationen und Protestmärsche hatte, sondern auch mit dem Hof und der Regierung Sitz der Machtzentren war, die es zu stürzen galt. Die politischen Kräfte, die auf diesen Sturz hinarbeiteten, kamen aus unterschiedlichen Lagern, dazu zählten religiöse Führer und säkulare Politiker, Radikale und Gemäßigte, Vertreter linker, liberaler oder sogar rechter politischer Positionen. Was sie einte, war allein der feste Entschluss, der despotischen Herrschaft des Schahs ein Ende zu setzen. Nach Misagh Parsa, dessen Analyse ich in diesem Abschnitt weitgehend folge, war die heterogene Zusammensetzung der aufbegehrenden Kräfteallianz kein Nachteil, sondern von Vorteil für das gemeinsam verfolgte Ziel. Denn auf diese Weise konnten Ressourcen und Energien unterschiedlicher Provenienz gebündelt werden, und dem Schah wurde die Chance genommen, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen.18 Neben den Resten der Parteien, vor allem der Nationalen Front Mossadeghs, und den Arbeitern, die durch Streiks zur Verschärfung des Konflikts beitrugen, waren es vor allem drei Großgruppen, welche das Geschehen bestimmten: die Studenten, Teile des Klerus und jener Teil der Unternehmerschaft, der sich in den städtischen Bazaren konzentrierte.

18

Parsa, States, Ideologies, and Social Revolutions, S. 26 ff.; 241 ff.

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Studenten zählen in allen Ländern, die einen nachholenden Entwicklungsprozess durchlaufen, zum Protestpotenzial par excellence. Selbst wenn sie, wie unter dem Schah im Iran, einer starken Zensur und Kontrolle unterworfen waren, bewegten sie sich doch in einem Freiraum eigener Art, sowohl was die Universität als eine relativ offene Stätte des Lehrens und Lernens als auch was die Möglichkeit betrifft, nach Gutdünken über die eigene Zeit zu verfügen. Studierende sind zudem besonders aufgeschlossen für transnationale Strömungen und Ideen, nicht selten verbringen sie ein oder mehrere Semester im Ausland, wo sie eine kritische Distanz zu den Verhältnissen zu Hause gewinnen. All dies traf auch auf den Iran in den 1970er Jahren zu, vor allem auf die Universität von Teheran. Dort studierten nicht wenige Kinder sozialer Aufsteiger, die keine Chance sahen, ihr professionelles Wissen eines Tages in eine angemessen bezahlte Tätigkeit einbringen zu können. Daraus resultierte Unsicherheit und Bitterkeit. Studenten stellten einen Großteil der Teilnehmer an den Massendemonstrationen gegen das Regime, und sie waren auch die Hauptleidtragenden staatlicher Repression.19 Für den Ausgang des Konflikts spielten sie allerdings nur eine untergeordnete Rolle, da sie durch die Aufspaltung in mehrere Flügel organisatorisch geschwächt waren. Nur die bereits in den 1960er Jahren aus einem studentischen Milieu hervorgegangenen Guerillagruppen gewannen, wenngleich zwischenzeitlich weitgehend aufgerieben, in der Schlussphase der Auseinandersetzungen erneut an Bedeutung, da sie zu den wenigen Verbänden mit effektiver Kampferfahrung zählten. Auch die Bazar-Wirtschaft, durch die in den 1970er Jahren noch rund zwei Drittel des nationalen Handels abgewickelt wurde, hatte unter der Diktatur gelitten. Der Unternehmenssektor zerfiel zu jenem Zeitpunkt in eine Minderheit von einigen Tausend Unternehmen, die, eng angelehnt an das Regime, sich dessen Modernisierungskurs angeschlossen hatten und dafür in den Genuss von Staatsaufträgen und Subventionen kamen, und in die Mehrzahl traditioneller regierungsunabhängiger Ladenbesitzer, Handwerksbetriebe und Kaufleute, die sich, auch räumlich deutlich sichtbar, in der städtischen Bazar-Wirt19

Keddie, Modern Iran, S. 218 ff.

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schaft konzentrierten. Dazu gehörten nicht nur lokale Klein- und mittelgroße Händler, sondern auch Unternehmen von beträchtlichem Kapitalvolumen und Einfluss.20 Allein der Teheraner Bazar beschäftigte über 100 000 Menschen. Wenn sie streikten und ihre Geschäfte schlossen, konnten sie die städtische Wirtschaft weitgehend lahmlegen. Aufgrund ihrer zentralen Lage und der Unübersichtlichkeit der Bazare bildeten sie einen idealen Unterschlupf für von der Polizei verfolgte Demonstranten. An sich war der Bazar-Sektor nicht sonderlich politisch interessiert, sondern verfolgte primär wirtschaftliche Interessen. Er hatte sich für den Nationalismus Mossadeghs aufgeschlossen gezeigt und wiederholt gegen die Wirtschaftspolitik des Schah-Regimes Einspruch erhoben, ohne indes in eine prinzipielle Oppositionshaltung zu verfallen. Mehrere Umstände veranlassten die Bazaris nach 1975 jedoch dazu, sich deutlicher zu positionieren. Zum einen belastete das Regime den Sektor mit zusätzlichen Abgaben, führte Preiskontrollen zur Dämpfung der Inflation ein und schränkte seine Rechte ein. Zum anderen ließ es die zunehmende, stark streuende Repression als ratsam erscheinen, sich im Falle einer weiteren Konflikteskalation nach Verbündeten umzusehen. Insgesamt blieb der Bazar-Sektor jedoch schwankend und konnte sich nicht zu einer gemeinsamen aktiven Oppositionshaltung mit dem Klerus gegen das Regime entschließen. Erst die Eigendynamik des Konflikts, auch die räumliche Nähe von Bazaren und etlichen Moscheen, ließ beide Gruppen zu einem Widerstandsblock verschmelzen. Auch hinsichtlich der Geistlichkeit (Ulama) wäre es verfehlt anzunehmen, sie hätte sich beizeiten geschlossen gegen den Modernisierungskurs des Schahs und dessen despotische Regierungsmethoden gewandt. Vor allem der angesehene hohe Klerus blieb zurückhaltend und äußerte keine offene Kritik am Regime. In den Reihen des niederen Klerus, der in engerem Kontakt zu den sozialen Unterschichten und Randgruppen stand und gelegentlich die Härte der staatlichen Kontroll- und Unterdrückungsmaßnahmen zu spüren bekam, waren

20

Parsa, States, Ideologies, and Social Revolutions, S. 204 ff.

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eher regimekritische Töne zu hören; doch auch hier zeichnete sich kein einheitlicher Trend ab.21 Und dies, obwohl Mohammad Reza Schah, insoweit in die Fußstapfen seines Vaters tretend, die Privilegien und den Einfluss der Geistlichen drastisch beschnitten hatte: durch die Landreform, welche viele Vertreter des geistlichen Stands ihre Pfründe kostete; durch die Frauenemanzipation, die Schließung von Moscheen und religiösen Schulen, die Beschlagnahme religiöser Spendenorganisationen und die angestrebte Säkularisierung des gesamten Erziehungswesens; nicht zuletzt auch durch die Berufung des Pahlavi-Regimes auf die Achämeniden als seine Vorläufer unter Negierung der über mehr als tausend Jahre hinweg vom Islam geprägten Geschichte des Landes. All dies waren deutlich gegen die Religion und ihre Vertreter gerichtete Maßnahmen. Manchen materiell in die Enge getriebenen Ulamas blieb nichts anderes übrig, als ein bescheidenes Auskommen in der Regierungsbürokratie zu suchen. Ein gewisser Erfolg der vom Schah mit Nachdruck verfolgten Säkularisierungspolitik schien unübersehbar, beispielsweise in Form des nachlassenden Moscheebesuchs. Doch sollte man sich über den latenten Einfluss des schiitischen Klerus nicht täuschen, der beträchtlich blieb und eine zusätzliche Steigerung aufgrund einer generellen Trendwende ab den frühen 1970er Jahren erfuhr, die zu einer Aufwertung des Islam in der iranischen Gesellschaft führte. Bevor diese Trendwende, ohne die Ayatollah Khomeini schwerlich zur Schlüsselfigur im Revolutionsprozess aufgestiegen wäre, genauer analysiert wird, erscheint es sinnvoll, kurz innezuhalten, um ein Resümee der von Parsa herausgestellten Revolutionsursachen zu ziehen. Dabei kommt man nicht umhin festzustellen, dass das von ihm betonte Erfolgsrezept, einer Hauptkonfliktachse sei ein möglichst breites Bündnis unterschiedlicher Oppositionsgruppen vorzuziehen, etliche Fragen offenlässt. In der Tat war keine der eben durchgemusterten oppositorischen Kräfte geschlossen und stark genug, um eine Führungsrolle beim Angriff auf das Schah-Regime zu übernehmen. 21

Parsa, States, Ideologies, and Social Revolutions, S. 130 ff.; Keddie, Modern Iran, S. 188, 222.

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Einem insoweit entschlossenen Flügel stand jeweils eine kaum minder starke Fraktion gemäßigter Zauderer gegenüber, die es nicht zum Äußersten kommen lassen wollten. Wie aber verwandelte sich dieses lose Bündnis von im Prinzip zur Beseitigung der Schah-Despotie entschlossenen Machtgruppierungen in jene harte, durch keinerlei Abschreckungsmaßnahmen einzuschüchternde Widerstandsfront, die nicht ruhte, bis der Schah tatsächlich abdankte? Woher stammten die Funken und Signale, die bloßes Interesse und politisches Kalkül in eine Welle der Mobilisierung, Begeisterung und Opferbereitschaft umschlagen ließen, die das Regime förmlich hinwegspülte? Sicher beging der Schah einen Fehler, als er Mitte 1978 in der Hoffnung, die Situation werde sich dadurch etwas beruhigen, einige Zugeständnisse machte, den repressiven Kontrolldruck lockerte und die Pressezensur teilweise aufhob. Er schuf damit eine Art Machtvakuum, das, ähnlich wie es von Furet bei der Französischen Revolution diagnostiziert wurde, von den oppositorischen Kräften als Ansporn wahrgenommen wurde, das offenkundig geschwächte und im Rückzug befindliche Regime endgültig zu vertreiben. Heißt das, dass jener Gruppe und Kraft, die als erste diese Chance wahrnahm und am entschiedensten in das Machtvakuum vorstieß, automatisch eine hegemoniale Rolle innerhalb der revolutionären Bewegung zufallen würde? War Ayatollah Khomeini eine Art religiöser Glücksritter oder der Exponent einer breiten Strömung?

Die konservative Wende Lange Zeit waren es vor allem säkularisierte Intellektuelle und Politiker liberal-demokratischer Couleur gewesen, die im Namen der Verfassung von 1905 das Regime angegriffen hatten. Sie hatten dessen Ausbau zu einem despotischen Herrschaftssystem, die Korruptheit der Verwaltung, die Unterwürfigkeit der Beamten, die Verschwendungssucht des Hofes und die Inkompetenz der um den Schah versammelten Beratungsgremien und Politiker kritisiert. Von daher ist es verständlich, dass der Schah mit besonderem Misstrauen jene liberalen aufgeklärten Köpfe beobachtete, welche dem Regime vorwarfen, 153

in den autoritären Traditionen der Vergangenheit stecken geblieben zu sein. Sie wurden verfolgt, man sperrte sie ein oder zwang sie, ins Exil zu gehen, sodass dieser Flügel der Opposition zum Zeitpunkt der Revolution deutlich geschwächt war. Dabei übersah der Schah, dass es ab den späten 1960er Jahren zu einem geistig-ideologischen Bruch in den oppositionellen Strömungen gekommen war, den er selbst mitverursacht hatte. Bei der Kritik am Regime stand immer weniger ein Modell westlich liberaler Regierung als vielmehr die Idee eines von seinen Schwächen befreiten humanen islamischen Herrschaftssystems Pate. Der Westen, vor allem die USA , unter deren transnationalem Schutzschild der Schah operierte, wurden aus dieser Perspektive zunehmend mit kolonialer Ausbeutung, Säkularisierung und Materialismus gleichgesetzt.22 Mehrere Faktoren trugen zu dieser veränderten Sichtweise bei. Auf der internationalen Ebene gerieten Formen säkularisierter Herrschaft nicht nur durch die schlechten Erfahrungen in Misskredit, die Iraner mit dem Kapitalismus westlicher Prägung gemacht hatten. Die beiden Spielarten des sowjetischen und chinesischen Sozialismus, die sie teils unmittelbar vor Augen hatten, schienen ihnen keine attraktive Alternative dazu zu sein. Von entscheidender Bedeutung waren jedoch das Schah-Regime selbst und die Auswirkungen der von ihm praktizierten Modernisierung nach westlichem Muster. Diese hatte das Land aus der Sicht vieler Iraner in die Abhängigkeit von den kapitalistischen Großmächten und transnationalen Erdölkonzernen gebracht und den Schah zu einer Marionette auf der internationalen Bühne werden lassen, die nach dem Willen ihres Meisters, der USA , tanzen musste. Sie hatte unzählige Menschen ihrer traditionellen Existenzgrundlage beraubt und zur Abwanderung aus dem Hinterland in die Großstädte gezwungen, wo sie, entwurzelt und jedes sozialen Beistandes ledig, ein kümmerliches Dasein fristeten. Sie hatte die Kluft zwischen reich und arm auf dramatische, den Kriterien sozialer Gerechtigkeit Hohn sprechende Weise vertieft.

22

Richard, Modern Iranian Thought, S. 170 ff.; Nikpey, Politique et religion en Iran contemporain; Arjomand, The Turban for the Crown, S. 91 ff.

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Im Lichte dieser Fehlentwicklung erschien der Islam wie ein ideologischer Rettungsanker, wenn man ihn von einigen alten Zöpfen und gewissen Schwächen befreite. Er bot sich als ein doppeltes Schutzschild gegen die drohende Abhängigkeit vom Westen und gegen die Säkularisierung, das Abgleiten in eine rein materialistische Weltsicht an. Im Grunde handelte es sich um eine Neuauflage der panislamischen Reformbewegung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit einer ähnlichen Mischung von progressiven und traditionalistischen Elementen, die jedoch nunmehr, da unter einem deutlich antiwestlichen Vorzeichen stehend, fundamentalistischere Töne anschlug.23 Nicht allein innerhalb der Geistlichkeit erlebte die schiitische Glaubenslehre einen Erneuerungsschub, auch Studenten und Intellektuelle wandten sich wieder der lange Zeit in Misskredit geratenen eigenen Religion zu oder schickten sich an, ihre Reformvorschläge in der Sprache des Islam zu formulieren. Das war beispielsweise bei Ali Schariati der Fall, einem früh verstorbenen Soziologen, der lange in Paris gelebt hatte und neben Ayatollah Khomeini zum Idol der großenteils aus jungen Menschen bestehenden revolutionären Bewegung wurde. Ali Schariatis Vorträge, schriftlich oder auf Kassetten in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet, boten einfache, einprägsame Formeln an, was zu tun sei, um der herrschenden Misere zu entrinnen: Erneuerung des Glaubens, Führerschaft der Imame, mehr soziale Gerechtigkeit. Diese Formeln fielen vor allem bei Studenten, die aus einfachen sozialen Verhältnissen stammten und wenig im kritischen Denken geschult waren, auf fruchtbaren Boden.24 Soweit sich der schiitische Klerus dem Widerstand gegen das Schah-Regime anschloss, konnte er einige Vorteile für sich verbuchen, auf die andere Oppositionsgruppen verzichten mussten. Der wichtigste bestand darin, dass er als Verwalter des Sakralen einen gesellschaftlichen Tabubereich repräsentierte, der für das Regime schwer fassbar und kontrollierbar war. Ähnlich wie katholische Priester und 23 24

Richard, Modern Iranian Thought, S. 175. Nikpey, Politique et religion en Iran contemporain; Richard, Modern Iranian Thought, S. 206; Arjomand, The Turban for the Crown, S. 93.

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Institutionen im Baskenland unter der Franco-Diktatur oder in der Spätphase des Kommunismus in Polen bildete die Einflusssphäre des schiitischen Klerus einen Schutzraum eigener Art, der den staatlichen Zugriffsmöglichkeiten Grenzen setzte. Die Ulama verfügte über eigene soziale Netzwerke, besaß eigene Mobilisierungskanäle, um die Unzufriedenheit mit der Diktatur zu schüren und Protestdemonstrationen auszulösen. Selbst wenn zunächst nur ein Teil des Klerus, erbost über die unter dem Regime erlittene Machteinbuße, auf einen Oppositionskurs einschwenkte, vermochte diese Minderheit, zusammen mit den radikalisierten Bazaris, aus dem Untergrund heraus der Umsturzbewegung eine schwer zu bremsende Dynamik zu verleihen. Paradoxerweise ging einer der Hauptanstöße für die Eskalation des Konflikts von einer Entscheidung des politisch neutral gebliebenen hohen Klerus aus. Den Anlass bildeten Protestkundgebungen von Theologiestudenten in der heiligen Stadt Qom gegen einen von offizieller Seite verfassten Zeitungsartikel, in dem Ayatollah Khomeini herabgesetzt und beleidigt wurde. Sie hatten ein massives Einschreiten der Sicherheitskräfte zur Folge, bei dem nicht weniger als 70 Studenten getötet wurden. Nun gibt es im Schiitentum einen rituellen Brauch, wonach 40 Tage nach der widerrechtlichen Ermordung von Glaubenskämpfern ihrer in Protestmanifestationen gedacht wird. Die Freigabe dieses Erinnerungsritus durch den hohen Klerus von Qom löste eine Eigendynamik von Aufstands- und Unterdrückungsgewalt aus, die erst mit dem Fall des Regimes endete. In der sich über rund ein Jahr hinziehenden Eskalationsphase des Konflikts waren für dessen Verlauf nicht mehr in erster Linie die im Vorabschnitt beschriebenen Oppositionsgruppen bestimmend, sondern zum einen Ayatollah Khomeini, der als charismatische Führungsfigur an die Spitze der Umsturzbewegung vorstieß, zum anderen die rebellierenden Massen, die sich in ihrem Elan weder durch Unterdrückungsmaßnahmen noch durch zahlreiche Todesopfer bremsen ließen.25 Ayatollah Khomeini vertrat mit seiner Ansicht, Geistlichen sollte bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen erheblicher Ein25

Arjomand, The Turban for the Crown, S. 100 ff., 103 ff.

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fluss zukommen, nur eine Minderheitsmeinung innerhalb des Klerus. Aus zwei Gründen genoss er jedoch ein großes Prestige in der Bevölkerung. Der eine war seine Doppelbotschaft, der westliche Imperialismus untergrabe mit dem ihm inhärenten Materialismus die Glaubensgrundlage der Iraner, den Islam, und mache das Land zusätzlich von externen Mächten abhängig, der andere war die unerhörte Konsequenz und Härte, mit der er trotz erheblicher persönlicher Opfer (er musste wiederholt ins Exil gehen) über Jahrzehnte an seiner Schahkritik festhielt.26 Beides sicherte ihm die Sympathie der Massen und machte ihn in der heißen Phase der Revolution zu ihrer Galionsfigur, deren Rückkehr aus dem Ausland sie stürmisch einforderten. Doch wer waren diese Massen? Waren es die Migranten in den Vorstädten von Teheran, das Subproletariat, das sich dort, von der Regierung im Stich gelassen, eine notdürftige Existenz aufzubauen versuchte? Waren es die mit den Studienbedingungen und ihren Zukunftschancen unzufriedenen Studenten? Waren es die jüngst zu einem gewissen Wohlstand gelangten neuen Mittelschichtgruppen wie Angestellte, Lehrer und Akademiker, die der politischen Bevormundung durch das despotische Regime leid waren, oder im Gegenteil die um ihren früheren Einfluss gebrachten Vertreter der alten Mittelschichten, vor allem sozial abgestiegene Kleriker und Bazaris? Die Antwort ist schwierig, da es an Detailuntersuchungen zu dieser Frage fehlt. Zweierlei scheint jedoch klar zu sein: Erstens ist entgegen früheren Annahmen davon auszugehen, dass die Zuwanderer, die sich am Rande der Großstädte niedergelassen hatten, bei den Protestdemonstrationen nur eine untergeordnete Rolle spielten. Sie waren viel zu sehr mit dem täglichen Kampf ums Überleben beschäftigt und in Auseinandersetzungen mit der lokalen Bürokratie verstrickt, um sich für die hohe Politik zu interessieren. Zweitens scheint festzustehen, dass es sich bei der Mehrzahl der im Kampf gegen das Schah-Regime Engagierten nicht um religiöse Fanatiker handelte, die an seine Stelle eine die Herrschaftsgewalt nach islamischen Prinzipien ausübende Regierung setzen wollten.27 26 27

Parsa, States, Ideologies, and Social Revolutions, S. 133 ff. Bayat, Street Poltitics, S. 35 ff.; Saunders, Die neue Völkerwanderung, S. 321 ff.

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Unter den Pahlavis, vor allem dem zweiten Reza Schah, hatte sich eine Spaltung der Kultur in eine Eliten- und eine Volkskultur vollzogen.28 Die um den Hof versammelte Machtelite sowie die gesamte Oberschicht und obere Mittelschicht pflegten einen weitgehend säkularisierten, an westlichen Konsummustern orientierten Lebensstil. Auch die übrige Gesellschaft, einschließlich der Land-Stadt-Migranten, war nur noch teilweise religiös. Gleichwohl blieb der Islam ein wichtiger Bestandteil des allgemeinen Lebensgefühls und Selbstverständnisses. Aus ihm speisten sich Theaterstücke, Geschichten, Passionsspiele, alles, was im kollektiven Gedächtnis an Tradition gespeichert war. Weil der Islam die Grundlage ihrer Artikulierungsmöglichkeiten darstellte, machten Vorstadtbewohner in den Sommernächten mit dem Schrei »Allah ist groß« auf die entwürdigenden Bedingungen aufmerksam, unter denen sie lebten; oder zogen Studentinnen als Ausdruck ihrer Negierung des Westens nonnenähnliche Gewänder an. Das war nicht unbedingt ein Zeichen von Frömmigkeit und Glaubenstreue, sondern eine Kampfansage an das Schah-Regime, dessen Verwestlichung von einem Großteil der Bevölkerung als Verrat an der Nation, ihrer Kultur, Geschichte und letztlich ihrer Würde empfunden wurde. Abschließend ist festzuhalten, dass die von Parsa herausgearbeitete Oppositionshaltung wichtiger Machtträger eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Herrschaftswechsel war. Ihre Allianz hätte möglicherweise ausgereicht, um das despotische Regime zu stürzen und durch ein der Verfassung von 1905 näher kommendes liberal-demokratisches System zu ersetzen, nicht jedoch, um eine Revolution in Gang zu bringen. Dazu bedurfte es eines vorübergehenden Machtvakuums, das durch eine explosive Verbindung zwischen dem islamistischen Charismatiker Ayatollah Khomeini und einer in ihrem kulturellen und nationalen Selbstbewusstsein tief verletzten und aufgebrachten, sich aus unterschiedlichen Schichten und Gruppen rekrutierenden Menge ausgefüllt wurde. Die speziell im Schiitentum verankerte Leidensbereitschaft mag ein Übriges dazu beigetragen haben, sich durch die schließlich einsetzenden verstärkten Repres28

Richard, Modern Iranian Thought, S. 170 ff.

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sionsmaßnahmen des Regimes nicht mehr abschrecken zu lassen. Der Versuch des Schahs, das Land durch eine Entwicklungsdiktatur in die Moderne zu katapultieren, endete mit dem gegenteiligen Resultat, dass sich ein Großteil der Iraner auf das besann und an das klammerte, was sie für ihre traditionelle Identität hielten.

Iran und der konservative Impuls Die Situation des Iran unterschied sich in zweifacher Hinsicht von jener Spaniens. Zum einen handelte es sich um einen außerhalb Europas gelegenen Staat mit einer weit in die Geschichte zurückreichenden, kulturelle und politische Hochleistungen aufweisenden Tradition. Zum anderen erregten zunächst die geopolitische Lage, später die Erdölfunde beizeiten ein starkes Interesse europäischer Großmächte, vor allem Großbritanniens, am Iran. Beide Umstände wirkten sich nachhaltig auf die Beziehung des Landes zu den westlichen Industriestaaten und zum vom Westen ausgehenden Modernisierungsprozess generell aus, wobei man eine externe Beziehungskomponente und die Auswirkung auf die interne Entwicklung unterscheiden kann. Was die äußere Beziehung zum Westen betrifft, so war für sie eine Mischung aus Symbiose und Spannung kennzeichnend. Dank seiner Öffnung gegenüber dem Westen konnte der Iran zwar eine Reihe durch die industrielle Entwicklung hervorgebrachter Produkte und Kommoditäten übernehmen, musste dafür aber regelmäßig Zugeständnisse machen. Vor allem die rücksichtslose Ausnützung ihrer waffentechnischen Überlegenheit durch Großbritannien und Russland, die bis zur zeitweisen Besetzung iranischen Territoriums und zur Einmischung in interne politische Angelegenheiten reichte, sorgte schon früh für Ressentiments aus verletztem Nationalstolz. Später erzeugte das ständige Tauziehen zwischen ausländischen Konzernen und der iranischen Regierung um die Erlöse aus der Erdölförderung eine ähnlich ambivalente, von Kooperationsbereitschaft und Misstrauen zugleich geprägte Haltung. Hinsichtlich des innenpolitischen Aspekts der frühen Aufge159

schlossenheit für den Westen gab es zwar viele Politiker, Intellektuelle und Studierende, die nach Besuchen in einem westeuropäischen Land, voller Bewunderung für dessen politische Einrichtungen und rechtliche Errungenschaften, diese auf den Iran übertragen wollten. Die erwähnte Verfassung von 1905 ist ein Beispiel für diese Angleichungsbemühungen. Allerdings blieben sie letztlich mehr kosmetischer Natur, ein nachhaltiger Erfolg war ihnen nicht vergönnt. Die politische Kultur des Landes wurde nach wie vor durch weitgehend nach eigenem Gutdünken regierende despotische Alleinherrscher bestimmt. Anders als in Spanien hat es während des ganzen 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hinein kein genuin republikanisches Regierungsexperiment im Iran gegeben, nur eine lückenlose Abfolge sich in starkem Maße auf Gewalt stützender Diktaturen. Der Iran stellt ein frühes Beispiel eines inzwischen gängigen Modells nachholender Entwicklung dar, das von dem Bestreben getragen wird, sich die technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften des Westens anzueignen, ohne sich tiefer mit deren geistigen und kulturellen Wurzeln auseinanderzusetzen. Die beiden Pahlavi-Herrscher spiegelten, ungeachtet der Einführung einzelner Rechtsfiguren wie etwa des Frauenwahlrechts, diese Grundauffassung wider. Ihr Aktivismus war von der Überzeugung getragen, in einem Parforceritt der iranischen Gesellschaft Modernisierung aufoktroyieren zu können. In echt despotischer Manier ließen sie sich in dieser Überzeugung weder durch ihre auf der Hand liegende Unkenntnis der real herrschenden Verhältnisse im eigenen Land, die Anknüpfungspunkt jeder effektiv greifenden Entwicklungsanstrengung hätten sein müssen, noch durch die sich einstellenden kontraproduktiven Effekte der Modernisierungsmaßnahmen irre machen. Es waren allerdings weniger die trotz des reichlichen Devisenflusses fragwürdigen Resultate der aufwändig inszenierten Entwicklungspläne als die zunehmende Entfremdung des zweiten Vertreters der Pahlavi-Dynastie, Mohammad Reza Schah, gegenüber dem eigenen Volk, wie auch seine als Verrat an der nationalen Essenz und Würde empfundene Verwestlichung, die ihm zum Verhängnis wurden. Dabei ist zu bedenken, dass der Iran, außerhalb der Tradition der europäischen Aufklärung stehend, keinen mit einer echten Revolution ver160

bundenen Entwurf einer besseren künftigen Ordnung kannte. Kommunistische Gruppen und Strömungen waren in dem Land stets eine Randerscheinung geblieben. Deshalb lag es nahe, dass sich die Kritik am Herrscher und das Aufbegehren gegen ihn auf ein in der Vergangenheit liegendes Vorbild »guter Regierung« stützten, dem der Machthaber untreu geworden sei. Dies war der Grund, warum sich die in Teilen bereits weitgehend säkularisierte iranische Gesellschaft der Sprache und Metaphern des Islam bediente, um den Despoten zu stürzen, und einer der Hauptgründe, warum die Revolution eine konservative Wende nahm. Diese Wende hat die Grundstruktur von Macht und Herrschaft weitgehend intakt gelassen. An die Stelle eines weltlichen ist ein geistlicher oberster Machthaber getreten, doch viele Einrichtungen des Pahlavi-Regimes wurden praktisch ohne Abstriche übernommen. Dies gilt für die Gründung einer regimehörigen Partei »von oben« ebenso wie für die Unterstützung des stark von theokratischen Elementen bestimmten Regierungssystems durch paralegale Milizen und Gewaltgruppen, welche politische Dissidenten gezielt angreifen und Protestdemonstrationen sprengen. Auch der systematische Ausbau der Geheimdienste, die Pressezensur und der Versuch, die neue Verfassung durch ein Plebiszit legitimieren zu lassen, erinnern stark an das Schah-Regime. Ob und wann der Iran sich einer pluralistisch-liberalen Demokratie annähern wird, bleibt eine offene Frage.29

29

Fürtig, Das postrevolutionäre Regime im Iran.

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Zwischenbilanz 2 Die politische Sphäre, so die in der Einleitung geäußerte Annahme, bietet kein eindeutiges Bild hinsichtlich des konservativen Impulses. In der Moderne ist keine politische Ordnung definitiv festgeschrieben und deshalb unumstößlich. Jede Verfassung kann prinzipiell durch eine andere ersetzt werden, die jüngere Geschichte ist voll von Auseinandersetzungen, bei denen mehr demokratische Partizipation fordernde Gruppen auf sich dagegen stemmende, an hierarchischen Strukturen festhaltende Kräfte trafen. Deshalb wurde Politik als ein relativ offenes Feld bezeichnet, wo das Kräfteverhältnis zwischen unterschiedliche Standpunkte und Ideologien vertretenden Parteien den Ausschlag dafür gibt, welche jeweils die Oberhand behält. Das war nicht immer so. Bis zur Französischen Revolution war ein Aufbegehren gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nur mit der Begründung möglich, die Machthaber missbrauchten ihre Befugnisse, sie seien einem Ideal tradierter Herrschaft untreu geworden. Die Blicke als Messlatte für eine gute Regierung waren also stets auf die Erfahrungen in der Vergangenheit gerichtet. Erst durch die Aufklärung und die Französische Revolution wurde diesem einseitigen Maßstab eine zweite Dimension in Form der Möglichkeit einer besseren Gestaltung der politischen Ordnung in der Zukunft hinzugefügt. Fortan gab es alternative Vorstellungen über die wünschenswerte Verfassung des Gemeinwesens. Erfahrungshorizont und Erwartungshorizont konnten unter Umständen weit auseinandertreten.1 Die Tatsache, dass nunmehr zwei oder mehrere politische Optionen im Raum standen, machte die Aufgabe, einen stabilen, Sicherheit 1

Koselleck, »Fortschritt« und »Niedergang«, S. 224.

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und Ordnung für jedermann gewährleistenden institutionellen Rahmen zu schaffen, nicht einfacher. Seit dem 19. Jahrhundert wurden die europäischen Nationalstaaten zum Schauplatz intensiven Ringens und manchmal von Zerreißproben, bei denen die Vertreter des konservativen Lagers, das sich inzwischen auch organisiert hatte, auf die verschiedenen Varianten progressiver, auf mehr Gleichheit und Partizipation pochende Bewegungen trafen. Dabei gab es durchaus Bestrebungen, ohne systemsprengende Auseinandersetzungen zu Kompromisslösungen zu gelangen. Nicht selten waren es die konservativen Kräfte, welche durch Zugeständnisse versuchten, das Heft in der Hand zu behalten und den Prozess politischen Wandels zu kontrollieren. Das war etwa in Spanien während der Restaurationszeit der Fall, als die traditionellen Eliten durch Einführung des allgemeinen Wahlrechts sich zwar formell auf den neuen demokratischen Geist einließen, jedoch zugleich dafür sorgten, dass die informellen Regeln der Machtverteilung und Machtausübung die alten blieben.2 Auch Deutschland könnte man in diesem Zusammenhang als Beispiel aufführen, wo es laut Schumpeter im 19. Jahrhundert zu einer Arbeitsteilung zwischen der in außenpolitischen und militärischen Fragen überlegenen alten Aristokratie und den mehr an sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen interessierten bürgerlichen Eliten kam.3 Wie die spanische Erfahrung zeigt, waren solche Kompromisse nicht unbedingt von Dauer, vor allem wenn sie eine Seite deutlich benachteiligten. Dann verzögerten sie oft nur den offenen Konflikt. Die hier durchgeführte Untersuchung bezog sich auf drei Fälle, in denen es zu einer offenen Konfrontation zwischen traditionsverhafteten Gruppen und Verbänden und einer auf Fortschritt und demokratische Partizipation pochenden politischen Bewegung kam. Zwei liegen in Europa und stehen in der politischen Ideentradition des alten Kontinents, der dritte Fall des Iran fällt aus diesem Rahmen heraus. In diesem Resümee sollen zunächst die Französische Revolution und Spaniens Weg zur Demokratie anhand von drei Kriterien nochmals durchgemustert werden: dem Parameter »Zeit«, der Rolle von Dikta2 3

Bernecker, Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert, S. 169. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 211–263.

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turen im Übergangsprozess und der Bedeutung der jeweiligen politischen Kultur. Anschließend wird ein Fazit für den einem außereuropäischen Kontext zugehörigen Iran zu ziehen sein. Der »Zeit« kam für den Übergang von einer ständisch-monarchischen zu einer liberal-demokratischen Verfassung in Frankreich und Spanien ein unterschiedlicher Stellenwert zu. Wie Furet mehrmals betont hat, überforderten das enorme Tempo sowie die Brutalität, mit denen die einschneidenden, das alte System auf den Kopf stellenden Reformen durchgeführt wurden, große Teile der französischen Bevölkerung und machten sie zu erbitterten Feinden der Revolution. So wenig Zeit es kostete, die französische Gesellschaft zu spalten, so lange sollte es dauern, bis diese Spaltung einigermaßen überwunden wurde. Das Pendel schwang mehrmals zwischen monarchischer Restauration und erneutem republikanischen Aufbegehren hin und her, bis 1870 dem republikanischen Prinzip endgültig der Vorzug gegeben wurde. Auch in Spanien wirkte sich der Zeitfaktor hinderlich auf die Durchsetzung progressiv-republikanischen Gedankengutes aus, allerdings nicht aus Gründen des Zeitmangels, sondern zunächst eher aus einem zeitlichen Überschuss. Spanien ist ein früher Fall der Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Entwicklungen. Als unmittelbarer Nachbar Frankreichs wurde es ab dem späten 18. Jahrhundert Zeuge der dort stattfindenden mentalen und politischen Umwälzung, ohne dass im eigenen Land auch nur entfernt vergleichbare Bedingungen herrschten. Während ein kleiner Sektor von Politikern und bürgerlichen Intellektuellen begeistert die Ideen der Französischen Revolution aufgriff, diente die Entwicklung im Nachbarland dem Gros traditioneller Eliten eher als Warnung, enger zusammenzurücken, um sich zur Gegenwehr gegen die zu erwartende demokratische Welle zu rüsten. Diese Abwehrstrategie war so erfolgreich, dass der konservative Block sowohl das republikanische Experiment von 1931 bis 1936 unbeschadet überstehen als auch den anschließenden Bürgerkrieg – allerdings mithilfe der Achsenmächte – für sich entscheiden konnte. Paradoxerweise war es erst die lange, unbestrittene Herrschaft der konservativen Kräfte unter Franco, welche eine Lockerung des Bündnisses und das Aufkommen dissidenter Gruppen innerhalb des konservativen Lagers 164

ermöglichten, wodurch der Übergang zu einem liberal-pluralistischen Verfassungsmodell erleichtert wurde. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf den zweiten Parameter, die Rolle der Diktatur in der Übergangsphase von einer traditionellen hierarchischen zu einer eher partizipativ-egalitären modernen politischen Ordnung. Es gibt unterschiedliche Typen diktatorischer Regime. Seit dem Zweiten Weltkrieg begegnet man in »Dritte Welt«-Regionen häufig dem Typus der von Militärs angeführten Entwicklungsdiktatur.4 Hier interessiert vor allem der Typus bonapartistischer Zwangsherrschaft, wie er in Europa im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet war, bei dem sich ein autoritärer Staat gleich einer eisernen Glocke auf eine innerlich von widersprüchlichen Kräften und Ideologien zerrissene Gesellschaft legt.5 Es dürfte kein Zufall sein, dass sowohl die nur knapp an einem Bürgerkrieg vorbeigekommene Französische Revolution, die statt dessen implodierte, als auch die in einen Bürgerkrieg mündende Zweite Republik in Spanien jeweils durch eine Diktatur ihren Abschluss fanden. Bezeichnend für Diktaturen in Abweichung von der oben gegebenen Charakterisierung moderner politischer Systeme als offen, flexibel und veränderbar ist, dass sie einen geschlossenen Regimetypus darstellen, der sich keine zeitlichen Grenzen setzt. Da sie auf der extremen Steigerung des dem Staat eigenen Monopols über physische Zwangsmittel beruhen, laufen sie kaum Gefahr, gewaltsam beseitigt zu werden, sondern enden, wie im Falle Francos, mit dem Tod des Diktators oder weil dieser, wie Napoleon, mit seinen militärischen Expansionsplänen scheitert. Mit einer konservativen Schlagseite gleich erratischen Blöcken in der modernen westlichen, auf Demokratie und Rechtsstaat hin orientierten politischen Landschaft stehend, können ihnen in von widerstrebenden Kräften zerrissenen Gesellschaften gleichwohl wichtige Funktionen zufallen:

4 5

Straßner, Militärdiktaturen im 20. Jahrhundert. Marx, Der Achtzehnte Brumaire; Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 287 ff.; Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation, S. 83, 186 ff.

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Sie verhindern, dass die Spannungen zwischen den gegensätzlichen politischen Lagern (erneut) zum offenen, gewaltsam ausgetragenen Konflikt eskalieren. – Dem Anspruch nach über den Parteien stehend, sind sie meist darauf bedacht, in ihr Herrschaftssystem all jene Elemente aufzunehmen, die für die Integration und Entwicklung der Nation in ihrer Gesamtheit nützlich erscheinen, was ihnen tendenziell einen synkretistischen Zug verleiht. – Allein von der Tatsache, dass sich Diktaturen oft über Jahrzehnte erstrecken, kann ein entschärfender Effekt auf eingefahrene Konfliktfronten ausgehen. In solch ausgedehnten Zeiträumen können Entwicklungen stattfinden, die frühere Interessenprofile und Auseinandersetzungsherde obsolet werden lassen. Mit dieser Aufzählung werden die negativen, aus dem repressiven Charakter diktatorischer Regime folgenden Seiten dieser Herrschaftsform nicht heruntergespielt, man sollte jedoch genau hinsehen und differenzieren, um welchen Typus von Diktatur es sich jeweils handelt. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass eine autoritäre Diktatur einem drohenden oder ausufernden Bürgerkrieg vorzuziehen ist. Im Idealfall kann gerade der unverrückbare, rigide Charakter diktatorischer Herrschaft gesellschaftliche und politische Reifungsprozesse auslösen, die unter einem stärker von Meinungsschwankungen abhängigen Parteiregime schwerlich denkbar wären. Die Diktatur kann, mit anderen Worten, dazu beitragen, die Bedingungen zu schaffen, um sich selbst überflüssig zu machen. Im Fall des Franquismus trat dieser Effekt tatsächlich ein, die Dauer von Napoleons Herrschaft, die weniger als halb so lang war, reichte dafür nicht aus. Allerdings ist es mit dem bloßen Zeitablauf nicht getan, wenn es um kollektive Reifungsprozesse und einen Mentalitätswandel geht. Hier kommt die dritte Variable der politischen Kultur ins Spiel. Ihre Bedeutung war sowohl im französischen wie auch im spanischen Fall beträchtlich. In Frankreich, wo politische Kultur und nationales Selbstverständnis aufs engste miteinander verkoppelt sind, war es eine sich herausschälende Vorstellung von einem alternativen, auf den Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit beruhenden Typus von Gemeinschaft, die eine ungeahnte Attraktivität und Dynamik entfal166

tete und den Verlauf der Revolution bestimmte. Wir begegnen hier dem seltenen Fall, dass aus dem kulturellen Haushalt einer Gesellschaft stammende Praktiken und Leitprinzipien die soziopolitische Entwicklung nicht bremsten, sondern zusätzlich beflügelten. In Spanien dagegen können wir das Umgekehrte beobachten: Die für alle Parteien, auch die linken, gleichermaßen geltende Verhaftung in traditionellen Denkmustern, vor allen den Kategorien von Freund und Feind, Solidarität und Verrat sowie lokalistischen Fehde- und Rachepraktiken, war einer der Hauptgründe für das Scheitern der Zweiten Republik. Die eigentümliche Trägheit, die im Allgemeinen dem soziokulturellen Bereich und allem, was das tradierte Selbstverständnis tangiert, zu eigen ist, lässt sich auch aus dem langen Zeitraum ersehen, den in beiden Ländern die Modernisierung der politischen Kultur in Anspruch nahm. Sowohl in Frankreich als auch in Spanien dauerte es etliche Jahrzehnte, bis schließlich primär von demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien geprägte Verfassungen verabschiedet wurden. Alle drei Variablen, der Zeitfaktor, eine Diktatur und die politische Kultur, kommen auch im iranischen Fall zum Tragen, wenngleich in einer anderen Form und Funktion. Der Figur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen begegnen wir dort in maßlos übersteigerter Form, weil sich um den Schah herum ein den westlichen intellektuellen Moden folgender und dem westlichen Luxuskonsum frönender Kreis gebildet hatte, während das Gros der Bevölkerung, davon abgekoppelt, weiterhin in herkömmlichen Vorstellungen und gemäß herkömmlichen Gebräuchen lebte. Das Regime war keine bonapartistische Diktatur, sondern verstand sich als Entwicklungsdiktatur, und was schließlich den Ausschlag für den Ausgang der Revolution gab, war nicht ein wie auch immer geartetes politisches Zukunftsmodell, sondern die Renaissance des Islam als Glaubenslehre und Ordnung stiftende Macht. All dies erklärt sich aus einer vom europäischen Kontext abweichenden Grundkonstellation. Deren kennzeichnende Strukturmerkmale waren die folgenden: Erstens hat der Orient keine Aufklärung im europäischen Sinn gekannt. Das hatte zur Folge, dass die Herrscher in klassisch despotischer Manier ihre Macht ausübten, ohne auf die Untertanen Rück167

sicht zu nehmen; es bedeutete weiterhin, dass die Untertanen, wenn sie sich gegen den König auflehnten, dies nicht mit der Begründung einer Verletzung der Menschen- und Gleichheitsrechte taten, sondern weil er seiner Funktion eines guten patriarchalischen Herrschers im traditionellen Sinn untreu geworden sei. Zweitens erlag der letzte Schah, insoweit vielen aktuellen Regierungschefs in weniger entwickelten Ländern vergleichbar, dem Trugschluss, nachholende Entwicklung bestehe allein darin, den wirtschaftlichen und technologischen Vorsprung des Westens aufzuholen. Dazu bedürfe es entsprechender finanzieller Ressourcen, über die er in Form der Erdöleinnahmen zu verfügen glaubte, während die soziokulturellen Voraussetzungen und die speziellen topografischen, klimatischen etc. Bedingungen in dem jeweiligen Land zweitrangig seien. Dieser Irrtum führte zu etlichen Fehlplanungen und Fehlentwicklungen, deren Konsequenzen vor allem die breite Bevölkerung zu spüren bekam. Zusammen mit seiner zunehmenden ausschließlichen Orientierung am Westen zog dies eine wachsende Entfremdung des Hofes gegenüber dem Gros der Bevölkerung nach sich. Das spektakuläre Nebeneinander von extremer Armut und üppigem Luxus im urbanen Raum von Teheran trugen ein Übriges dazu bei, die bestehende Spannung zu verschärfen. Es bedurfte nur eines Funkens, um die Entfremdung in Empörung umschlagen zu lassen und die Eskalierungsschraube in Gang zu setzen, die in den Sturz des Regimes mündete. Ungeachtet der aufgezeigten Unterschiede ist festzuhalten, dass es – ähnlich wie im französischen und spanischen Fall – auch im Iran in der letzten Phase, als der Konflikt sich zuspitzte, die jenseits des Machtpokers im engeren Sinn liegende politische Kultur war, die seinen Ausgang entscheidend beeinflusste.

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III Alles gerät in Bewegung: Prozesse nachholender Entwicklung

Südkoreas Sprung zur industriellen Exportnation Korea war schon ein Nationalstaat avant la lettre, das heißt bevor es Nationalstaaten im modernen Sinn des Wortes gab. Es kann mit einer ethnisch homogenen Bevölkerung auf eine bis ins 7. Jahrhundert zurückreichende politische Geschichte zurückblicken, die bemerkenswerte Kontinuitäten aufweist. Dazu zählen die frühe Entstehung einer zentralistischen Bürokratie, relativ stabile Grenzen, die durch den Charakter einer Halbinsel weitgehend vorgegeben waren, und über Jahrhunderte hinweg regierende Herrscherhäuser. Schon unter der Koryo-Dynastie (918 –1393) wies das stark an China angelehnte Koreanische Reich eine hochstehende, durch den Konfuzianismus geprägte (daneben gab es jedoch auch buddhistische Klöster) Kultur auf, mit eigenem Buchdruck und einer anspruchsvollen Keramik- und Goldschmiedekunst. Für die weitere Entwicklung war die Yi-Dynastie (1392 –1910) bestimmend, die Korea eine 200 Jahre währende wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit bescherte.1 Unter ihr wurde der Neokonfuzianismus zur offiziellen Staatsdoktrin, und es bildete sich eine Aristokratie, die Schicht der Yangban, heraus, aus der sich, nach einem strengen, auf die Kenntnis der konfuzianischen Lehre abstellenden Prüfungssystem ausgewählt, die politisch-kulturelle Elite des Landes rekrutierte. Für ihre Verdienste wurden die Yangban mit Landzuteilungen belohnt. Unter dem Einfluss der Yangban, teils auch auf Initiative des Herrscherhauses, wurde ein eigenes Alphabet geschaffen (obwohl die offizielle Sprache weiterhin chinesisch blieb), wurden militärische und landwirtschaftliche Handbücher verfasst, Astronomie, Medizin 1

Engelhard, Südkorea, S. 65 ff.

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und Technik gefördert (z.B. wurden bereits im 15. Jahrhundert Kanonen gebaut), aber auch die schönen Künste, vor allem die Malerei, die Dichtung und die Keramik, gepflegt. Dem König stand ein Beratungsgremium zur Seite, das darauf achtete, dass die Herrschaft gemäß konfuzianischen Prinzipien ausgeübt wurde, er selbst war nicht vor Kritik gefeit, wenn er dagegen verstieß. Erste japanische Einfälle am Ende des 16. Jahrhunderts leiteten eine Stagnationsphase und den allmählichen Niedergang des Choson-Reiches (Choson = Land der Morgenröte) ein. Es folgten innere Unruhen und ideologische Richtungskämpfe um die reine konfuzianische Lehre, phasenweise kam es zur weitgehenden Monopolisierung der politischen Macht durch einige wenige Yangban-Clans sowie zu zunehmender Ausbeutung der abhängigen Bauern durch ihre Grundherren. Diese Missstände wurden jedoch durch Kritik und Reformvorschläge aufgeklärter konfuzianischer Schriftgelehrter (sogenannter Literati) teilweise aufgefangen und abgebremst.2 Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert erreichten über in China tätige katholische Missionare westliche Einflüsse Korea. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspann sich ein Konkurrenzkampf zwischen den expandierenden Großmächten Russland, Großbritannien, den USA und Japan darüber, welcher von ihnen es gelänge, Korea wirtschaftlich und militärisch in die eigene Einflusssphäre zu integrieren. Die externen Übergriffe und der von den Kolonialmächten ausgeübte Druck unterhöhlten die Autorität des Regimes und lösten kontroverse Diskussionen darüber aus, wie auf die wirtschaftliche und technologische Überlegenheit des Westens zu reagieren sei. Manche plädierten für einen raschen Wandel unter Übernahme der westlichen Errungenschaften, andere für eine graduelle Anpassung; es gab auch den Versuch, mittels Durchführung einiger überfälliger Reformen, etwa einer Steuerreform, der Aufstockung des Verteidigungshaushalts und vermehrter zentralistischer Kontrolle, das alte Regime zu retten. Insgesamt überwog unter dem Einfluss der Yangban und der Literati die Überzeugung, es gelte sich nach Möglichkeit gegen die »west2

Eckert/Robinson/Lee, Korea Old and New, S 57 ff., 107 ff., 132 ff.

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lichen Barbaren« und ihren Materialismus abzuschirmen und der eigenen, im Konfuzianismus wurzelnden Tradition treu zu bleiben. Auch die anfängliche Toleranz gegenüber dem Christentum, das rasch in Korea Fuß gefasst hatte, wich später einer teilweise brutalen Verfolgung der Missionare und ihrer Anhängerschaft.3 Es blieb dem von Japan 1904 errichteten, rund vier Jahrzehnte dauernden Kolonialregime vorbehalten, die Reste des alten Reiches zu beseitigen und dem Land eine neue Grundorientierung zu geben. Das geschah nicht aus altruistischen Motiven, Japan hatte die ernsthafte Absicht, die nahe gelegene Halbinsel dauerhaft dem eigenen Herrschaftsbereich einzuverleiben. Koreas Wirtschaft wurde konsequent in den Dienst der Interessen des Kolonialstaats gestellt: Die ohnedies mageren Waldbestände wurden dezimiert, die Bodenschätze verstärkt ausgebeutet, die landwirtschaftliche Produktion wurde mit dem Ziel gesteigert, einen Teil der Reisernte für die japanische Bevölkerung abzuzweigen. Die Japaner bauten die koreanischen Häfen aus, um sie als Ausgangspunkt für ihre Pläne, sich auf dem Festland auszubreiten, zu nutzen. Sie entmachteten die Yangban-Aristokratie in politischer Hinsicht, tasteten aber ihre Vormachtstellung in der Landwirtschaft nicht an, vermutlich in der Hoffnung, sie auf diese Weise als Verbündete zu gewinnen. Die japanische Herrschaft initiierte aber auch Reformen, zu welchen Korea zu jenem Zeitpunkt aus eigenen Stücken schwerlich in der Lage gewesen wäre und die günstige Voraussetzungen für den ab 1960 einsetzenden wirtschaftlichen Take-off schufen: Die Kolonialherren führten eine Alphabetisierungskampagne durch und reformierten das Bildungssystem von Grund auf, womit das Potenzial an geschulten Arbeitskräften enorm gesteigert wurde. Auch die erste Industrialisierungswelle in Korea geht auf die Japaner zurück. War das Land zum Zeitpunkt seiner Eroberung fast ein reiner Agrarstaat, so betrug der Beitrag der Industrie zum nationalen BIP 1940 bereits 30 Prozent; allerdings blieben die Industrieunternehmen fast durchweg in japanischer Hand. Schließlich hinterließen die Japaner auch in politischer Hinsicht ein Erbe, an das die koreanischen Eliten unmittelbar an3

Ebd., S. 170 ff., 194 ff.

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knüpfen konnten. Dies gilt sowohl für die Schlüsselrolle des Staates als Motor nachholender Entwicklung als auch für die dabei eingesetzten planerischen Instrumente.4 Zwischen dem Abzug der Japaner nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und dem Beginn des wirtschaftlichen Booms lagen zwei einschneidende, folgenreiche Ereignisse. Das eine war der Koreakrieg von 1950 bis 1953, ein äußerst blutiger, verlustreicher Konflikt, der einmal mehr die prekäre Situation des Landes am Schnittpunkt der Einflusssphären verschiedener Großmächte vor Augen führte. Das andere war im Anschluss daran eine auf Drängen der USA durchgeführte Landreform, welche die durch die Japaner bereits politisch kalt gestellte Yangban-Oberschicht zusätzlich ihre wirtschaftlichen Privilegien kostete. Dadurch entstand ein Machtvakuum, das einem neuen politischen Akteur, dem Militär, die Chance eröffnete, die Herrschaft an sich zu reißen.5 Zum Verständnis der erfolgreichen industriellen Aufholjagd des kleinen Landes erscheint es sinnvoll, wichtige Stationen seines historischen Werdegangs zu rekapitulieren. Den einen oder anderen teilte es mit den anderen erfolgreichen »kleinen Tigern« (Taiwan, Singapur, Hongkong) oder dem »großen Tiger« Japan; insgesamt ergeben sie aber doch ein unverwechselbares Eigenprofil. Drei sind besonders erwähnenswert: – Erstens brachte es die geografische Lage Koreas an der Peripherie von Großmächten, lange Zeit von China, später von Russland und Japan, mit sich, dass koreanische Herrscher nicht nur zu politischen Zugeständnissen gezwungen waren, zeitweise auch einen Vasallenstatus ihres Landes akzeptieren mussten, sondern auch in kultureller Hinsicht Anleihen bei ihren Nachbarn machten, sich diesen anpassten und von ihnen lernten. Dessen ungeachtet ist es dem Land jedoch gelungen, das Bewusstsein seiner Eigenheit und Einzigartigkeit zu bewahren.

4 5

Messner, Republik Korea (Südkorea), S. 170 ff.; Eckert/Robinson/Lee, Korea Old and New, S. 254 ff. Engelhard, Südkorea, S. 73 ff., 93 ff.; Vogel, The Four Little Dragons, S. 42 ff.

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An Herausforderungen gewöhnt, ging die koreanische Gesellschaft aus Krisen und Invasionen eher gestärkt als innerlich geschwächt hervor. Hierfür ist das beste Beispiel die rund 40 Jahre anhaltende japanische Besatzung, die darauf abzielte, Korea zu einem Festlandsannex des Inselreiches zu machen. Ein jahrelang gegen die Besatzungsmacht geführter Guerillakrieg und ein von den Japanern blutig niedergeschlagener Aufstand 1919 bewiesen, dass der koreanische Widerstandswille ungebrochen war. Der Konflikt mit der Kolonialmacht trug entscheidend dazu bei, die Bindung der Koreaner an das Herrscherhaus zu stärken und das Bewusstsein einer gemeinsamen Ethnizität in Nationalismus und nationalen Stolz umschlagen zu lassen.6 Ein geschichtlich verankerter Zentralstaat mit einer meritokratisch ausgewiesenen Herrschaftsklasse ist das dritte Erbstück aus der Vergangenheit. Hier könnte ein Erklärungsschlüssel für die bis heute bestehende Bereitschaft der Koreaner liegen, sich in ein hierarchisches Ordnungsgefüge einzugliedern und es gutzuheißen. Dabei wird den Herrschenden offenbar unterstellt, die von ihnen Abhängigen nicht einseitig auszubeuten, sondern ihrer herausgehobenen Position mit moralischem Verantwortungsgefühl gerecht zu werden.

Der Sprung Der Koreakrieg zog die Teilung des Landes nach sich, das in großen Teilen verwüstet war und dessen Städte zerstört waren. Er hinterließ eine Bilanz von 350 000 getöteten Soldaten und einer Million umgekommener Zivilisten und löste breite Flüchtlingsströme aus. Auch Nordkorea nahm Flüchtlinge auf, doch weit mehr flohen vom Norden in den Süden (rund 2 Millionen), um dem Kommunismus zu entgehen.7 Fortan stellte das kommunistische Regime in der nördlichen Landeshälfte die wichtigste Herausforderung für Südkorea dar: als Be6 7

Shin, Modernisierung und Zivilgesellschaft in Südkorea, S. 122 ff. Vogel, The Four Little Dragons, S. 42 ff.

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drohung, doch anfangs auch als Ansporn, sich vom Norden in der Entwicklung nicht überflügeln zu lassen. Die Bedingungen, um dieser Herausforderung zu begegnen, schienen nicht günstig. Nur 23 Prozent der Fläche Südkoreas sind agrarisch nutzbar, der Rest besteht aus Bergland oder Busch- und Niedrigwaldgebieten. Der Süden verfügt kaum über Bodenschätze, soweit vorhanden, befinden sie sich fast durchweg in Nordkorea, wo schon die Japaner die entsprechenden Fabrikanlagen zu ihrer Ausbeutung errichtet hatten. Bereits 1960 wies Südkorea mit 25 Mio. Einwohnern weltweit mit die höchste Bevölkerungsdichte auf (inzwischen hat sich diese Zahl verdoppelt). Die Vielzahl der durch den Krieg arbeitslos Gewordenen wurde durch die Flüchtlinge zusätzlich erhöht. Ezra Vogel spricht zu Recht von einer Notsituation, mit der die südkoreanischen Eliten konfrontiert waren, und dem daraus folgenden Zwang, etwas dagegen zu unternehmen.8 Doch zunächst geschah wenig, das darauf hingedeutet hätte, dass die Eliten sich der krisenhaften Situation bewusst waren. Unter dem nach einem langen Exil in den USA zurückgekehrten Präsidenten Syngman Ree wurde eine Landreform durchgeführt und die importsubstituierende Industrialisierung des Landes weiter gefördert. Der politisch weitgehend isolierte Präsident machte jedoch zugleich zahlreiche Zugeständnisse an diverse wirtschaftliche und politische Interessengruppen, die ihn an tiefer gehenden Reformen hinderten. Erst nach dem Militärputsch Parks 1960 änderte sich die politische Situation schlagartig. General Park Chung Hee, aus einem ländlichen Mittelschichtmilieu stammend, hatte seine militärische Ausbildung durch die Japaner erhalten und unter ihnen Karriere gemacht.9 Durch das Vorbild Japan angespornt, setzte er von Anfang an auf eine Strategie exportorientierter Industrialisierung, um das Land aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von überlegenen Drittmächten zu befreien. Selbst aufgeschlossen und lernfähig, umgab er sich mit einem Stab kompetenter militärischer und wirtschaftlicher Berater (»Technokraten«), die 8 9

Ebd., S. 43, 87. Davis, Discipline and Development, S. 81 ff.

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seine nationalistische, antikommunistische Grundeinstellung teilten. Gemeinsam arbeiteten sie auf das Ziel hin, in einer möglichst kurzen Zeit aus Südkorea eine entwickelte Industrienation zu machen, um die sozialen Probleme des Landes zu lösen und diesem die Anerkennung als respektiertes Mitglied der internationalen Gemeinschaft freier Völker zu verschaffen. Die Hauptinstrumente zur Verwirklichung dieses Ziels waren die Gründung eines Planungsstabes, der unter der Leitung des Präsidenten die strategisch wichtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen traf, und die regelmäßige Verabschiedung von Fünfjahresplänen. In Letzteren spiegelte sich der bald darauf erfolgende Schwenk von einem Kurs der Importsubstitution zur systematischen industriellen Exportförderung sowie der Übergang von Gütern der Textil- und Leichtindustrie zur Produktion von Kapitalgütern und technologieintensiven Waren. Mit dem Staat als Hauptdrehscheibe und Motor des Wirtschaftsgeschehens gelang dem Land ein spektakulärer Wachstumsschub. Dieser ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass Südkorea nicht ein bloßer Nachzüglerstaat im wirtschaftlichen Entwicklungsprozess war, wie seinerzeit Deutschland oder die skandinavischen Länder in Bezug auf den industriellen Vorreiter Großbritannien, sondern ein »late late-comer«,10, der eine entsprechend größere technologische Lücke überwinden musste, um zu den fortgeschrittenen Industrienationen aufzuschließen. Wie gut ihm das gelang, lässt sich an einigen beeindruckenden Zahlen ablesen. Wenngleich sich die Bevölkerungszahl von 1960 bis 2000 fast verdoppelte, konnte das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in dieser Zeit um das 120-Fache auf 9628 US -Dollar pro Jahr gesteigert werden. Das Exportvolumen stieg von 1965 bis 2000 um das 984-Fache. Das Außenhandelsvolumen insgesamt erhöhte sich etwa im selben Zeitraum von 477 Mio. auf 332 Milliarden US -Dollar. Im Jahr 2000 rangierte Südkorea hinsichtlich seiner Exporte im internationalen Ländervergleich an 12., bei den Importen an 13. Stelle.11 Die Serie schwindelerregender Erfolgszahlen ließe sich fortsetzen, wobei freilich die jeweils überaus niedri10 11

Vogel, The Four Little Dragons, S. 4 f. Engelhard, Südkorea, S. 20 ff.

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gen Ausgangswerte zu berücksichtigen sind. Insgesamt bestätigt das Zahlenmaterial die Richtigkeit der von Dirk Messner schon 1994 getroffenen Feststellung, Südkorea habe sich im Zuge nachholender Industrialisierung innerhalb von drei Jahrzehnten von einem der leastdeveloped countries zu einem Land entwickelt, das den Anschluss an die OECD -Nationen geschafft hätte.12 Es liegt auf der Hand, dass es für eine Kollektivleistung dieses Ausmaßes eines prinzipiellen Einverständnisses zwischen der autoritären Park-Regierung und den Regierten hinsichtlich des eingeschlagenen Kurses bedurfte, doch inwieweit dieser Konsens mit Zwangselementen vermischt war, darüber gehen die Meinungen auseinander. Eckert u.a. vertreten die Meinung, das Regime habe mit einer Kombination von garrots and sticks gearbeitet, also Anreize und Kontrollstrategien miteinander verbunden.13 In der Tat fällt in die Zeit der Militärdiktatur eine erhebliche quantitative Aufstockung der Geheimdienste und Sicherheitskräfte. Park und sein Herrschaftsstab duldeten keine Abweichung und gingen mit großer Härte gegen Gruppen und Individuen vor, die sich dem von ihnen der Nation verordneten Weg beschleunigter Entwicklung widersetzten. Genau diese repressiven Züge des Regimes sind Gegenstand einer jüngeren Arbeit von Yin-Wook Shin,14 der förmlich eine Gegenrechnung zur offiziellen und auch in der Literatur dominierenden Erfolgsstory Südkoreas aufmacht. Der rapide wirtschaftliche Fortschritt, so Shin, sei mit der Ausbreitung einer bellizistischen Kultur erkauft worden, die keinerlei Widerstand geduldet und aufkommende Konflikte im Keim erstickt habe. Unter dem Einfluss der USA , die sich, ihrem liberal-demokratischen Credo zum Trotz, aus Angst vor dem Kommunismus uneingeschränkt hinter Parks Diktatur gestellt hätten, habe Südkorea eine deutliche politische Rechtswende vollzogen. Auch die nach der Selbstverbrennung eines Arbeiters aus Protest gegen die Lebensbedingungen seiner Klasse sich ab 1970 zaghaft bildenden Gewerkschaften seien ständig »von oben« gegängelt und diszipliniert 12 13 14

Messner, Republik Korea (Südkorea), S. 168. Eckert/Robinson/Lee, Korea Old and New, S. 405. Shin, Modernisierung und Zivilgesellschaft in Südkorea.

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worden. Erst in der Schlussphase des Regimes habe die Opposition allmählich an Profil gewonnen und die autoritäre Regierung in Bedrängnis gebracht. Für einen nicht gründlich mit der politischen Kultur Koreas Vertrauten, wie den Verfasser, ist es schwierig zu beurteilen, inwieweit Druck »von oben« und politische Willfährigkeit »von unten« einen echten Gegensatz bildeten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Shin, der bei einem deutschen Soziologen promovierte, die Kriterien, die er sich im Gastland angeeignet hatte, einer ganz anders gearteten politischen Geschichte und Gegenwart überstülpte. Gewiss wird es eine mit dem Kurs der Militärregierung ganz und gar nicht einverstandene Opposition gegeben haben, die unter großem persönlichen Opfermut gegenzusteuern versuchte. Doch wie umfangreich und repräsentativ für breitere Bevölkerungsschichten sie war, ist eine offene Frage. Shin selbst räumt wiederholt ein, das Regime sei gut mit den Schlüsselverbänden der Zivilgesellschaft vernetzt gewesen. Seine sich an den Antikommunismus und Nationalismus der Bevölkerung richtenden Appelle hätten breiten Anklang gefunden, während die Denunzierung der Regierungspolitik als »primitiver Materialismus« oder »amoralischer Machtrealismus« nur bei einer Minderheit Gehör gefunden hätte.15 Wie immer man »den Sprung« aus einer übergeordneten moralischen Warte beurteilen mag, fest steht, dass er das Land grundlegend verändert hat. Aus einer in den 1950er Jahren noch überwiegend ruralen Bevölkerung ist innerhalb weniger Jahrzehnte eine hochgradig urbane Gesellschaft geworden. Die Verkehrswege und -gewohnheiten, der Bildungskanon, Konsummuster, soziale Sitten und Gebräuche, alles war dem Zwang zur Anpassung an die neuen Arbeitsabläufe und die urbane Lebensweise unterworfen, wobei das Profil einer Industriegesellschaft alsbald durch jenes einer Dienstleistungsgesellschaft ergänzt wurde. Das gesellschaftliche Gefüge wurde durch horizontale und vertikale Ausdifferenzierungsprozesse komplexer, vor allem bildete sich eine breite soziale Mittelschicht, die auf die Dauer nicht gewillt war, sich die Bevormundung durch eine autoritäre politische 15

Ebd., S. 176 f., 184, 190, 217 f.

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Elite gefallen zu lassen. Ihre sich häufenden Proteste bildeten den Auftakt zum in den 1980er Jahren einsetzenden Demokratisierungsprozess.

Erklärungsversuche – die Rolle des konservativen Impulses in Südkorea Südkoreas Befreiung von Armut und Unterentwicklung hat etliche Erklärungen gefunden. Diese sollen hier nicht im Einzelnen aufgezählt und gegeneinander abgewogen werden. Vielmehr werde ich versuchen, in einer Art Synopse die Bedeutung aus der Vergangenheit stammender Strukturelemente, Praxen und Denkmuster für das südkoreanische »Wirtschaftswunder« herauszuarbeiten. Dabei ist, wie bereits in der Einleitung erwähnt, davon auszugehen, dass der prinzipiell auf Fortschritt und Innovation programmierte wirtschaftliche und technische Sektor in der Moderne dem konservativen Impuls als eigenständiger bremsender Kraft nur wenig Entfaltungsspielraum zugesteht. Man wird also nach verdeckten, indirekten Manifestationen desselben Ausschau halten müssen. Der koreanische Fall bietet dafür, quer über die sozialen Schichten hinweg, viele Beispiele. Voraussetzung für den Sprung des Landes in die Moderne war, dass die traditionelle Herrschaftsklasse der Yangban entmachtet und dem Staat seine Autonomie zurückgegeben wurde.16 Da dem Staat als Motor und Finanzier nachholender Entwicklungsprozesse zentrale Bedeutung zukommt, war dies eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des wirtschaftlichen Take-off. Aus Lateinamerika kennen wir etliche Fälle (der im nächsten Kapitel untersuchte Fall Argentinien bietet sich insoweit als lehrreiches Beispiel an), in denen die traditionelle Oberschicht durch einen Militärputsch oder eine populistische Bewegung aus ihren angestammten politischen Machtpositionen verdrängt wurde, ohne dass die neue Regierung Anstalten machte, die bisherige Entwicklungsstrategie prinzipiell infrage zu stellen. Dagegen übernahm in Südkorea mit General Park und seinem 16

Evans, State and Dependence in East Asia.

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Regierungsteam eine Gruppe die politische Führung, die sich der inneren Probleme des Landes und seiner Verletzlichkeit nach außen voll bewusst und entschlossen war, sich dieser Herausforderung zu stellen. Bemerkenswerterweise gehörten diesem Führungsteam auch einige Angehörige alter Yangban-Familien an. Die Bereitschaft, eine radikale politische Kursänderung vorzunehmen, entstand nicht von einem Tag auf den anderen. Sie war auch nicht allein das Ergebnis eines an Japan orientierten Lernprozesses, das vorgemacht hatte, wie man es anstellt, den Westen einzuholen. Dahinter stand vielmehr ein Denken in Verantwortungskategorien, wie es jahrhundertelang in Korea gepflegt worden war. Die Militärregierung knüpfte an eine letztlich im Neokonfuzianismus verankerte Staatsdoktrin an, wonach es die wichtigste und vornehmste Aufgabe des Herrschers ist, »die Dinge in Ordnung zu bringen«.17 Er hat sich dieser Aufgabe im Zweifel auch gegen die Anfechtungen und das Agieren oppositorischer Kräfte zu unterziehen. Hier mag eine der Hauptwurzeln für die dirigistische Form liegen, mit der Park und sein Beraterteam das Modernisierungsprojekt umsetzten. Auch das Sichhinwegsetzen über Widerstände und Protest ist ohne eine in der traditionellen politischen Kultur des Landes angelegte Tendenz zu Patriarchalismus und Autoritarismus schwerlich denkbar. Doch sollte, wie bereits angedeutet, die damit verbundene Entfernung von der Bevölkerungsmehrheit nicht überschätzt werden. Laut einer Studie von Diane Davis verstanden sich Park und ein Großteil der ihn umgebenden Offiziere vor allem als Repräsentanten der ländlichen Mittelschicht.18 Davis leitet ihre These vor allem aus der Herkunft Parks und von Teilen seines Teams aus diesem sozialen Milieu her. Längere Zeit habe er nur deshalb den raschen Auf- und Ausbau der Industrie mit allen Mitteln gefördert, um die ländliche Infrastruktur mit den Exportgewinnen ausbauen und den landwirtschaftlichen Sektor insgesamt sanieren zu können. Sein Leitbild sei keineswegs eine hochindustrialisierte urbane Gesellschaft, sondern eine intakte bäuerliche Gemeinschaft nach dem Modell Dänemarks 17 18

Kleiner, Korea, S. 336. Davis, Discipline and Development.

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gewesen. Diese Sichtweise der Hintergrundmotive der militärischen Führungsspitze ist insofern interessant, als sie erneut die Relevanz traditionalistischer Einstellungsmuster für den von Park gesteuerten Modernisierungskurs bestätigt. Für ihn verkörperte der selbstständige Kleinbauer, der das Letzte aus seiner Parzelle herausholt, um sich und die Seinen zu erhalten, die Tugenden der Sparsamkeit und Enthaltsamkeit, der Selbstdisziplin und des Pflichtgefühls gegenüber der Gemeinschaft, ohne die er sich »Entwicklung« nicht vorstellen konnte.19 Faktisch war es allerdings nicht der ländliche Mittelstand, der zur tragenden Säule des Wirtschaftswachstums wurde, sondern die unzähligen Migranten, die aus dem Hinterland in die Städte strömten, um dort Beschäftigung in den aufstrebenden Unternehmen der Industrie und der Dienstleistungsbranche zu finden. Deren Wachstum und Erfolg deuten darauf hin, dass der traditionelle ländliche Tugendkanon in modifizierter Form auch die städtische Arbeitsmoral beeinflusste und zu einem generellen Charakteristikum der südkoreanischen Bevölkerung geworden war. Drei Eigenschaften sind es, die sich nach der einschlägigen Literatur im Hinblick auf die ambitiösen Entwicklungspläne der Militärs besonders vorteilhaft auswirkten. An erster Stelle ist das stark ausgeprägte Nationalgefühl der Südkoreaner zu nennen. Darin spiegelte sich das Wissen darum, dass die politische Führungselite und das Volk gewissermaßen im selben Boot saßen und nur aufgrund einer gemeinsamen Anstrengung die Chance hatten, »neue Ufer« zu erreichen. Aus der langen Geschichte Koreas ableitbar, zu deren markanten Besonderheiten wiederholte externe Invasionen und eine erstaunliche Kontinuität der Herrscherhäuser zählten, waren das Bewusstsein einer unverwechselbaren kollektiven Identität und der Stolz darauf ein mentaler Mobilitätsfaktor, ohne den das wirtschaftliche Aufholexperiment schwerlich gelungen wäre.20 An zweiter Stelle ist die Disziplin als typische koreanische Eigenschaft hervorzuheben, wobei Selbstdisziplin und die Bereitschaft, sich Fremdzwängen zu fügen, praktisch die zwei Seiten derselben Medaille sind. Südkorea, so ist immer wieder zu lesen, habe zum Zeitpunkt des 19 20

Ebd., S. 65 ff.; 86 ff. Engelhard, Südkorea, S. 71 ff.

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Militärputsches 1960 über ein breites Potenzial an billigen, fleißigen, Entbehrungen nicht scheuenden Arbeitskräften verfügt.21 Das vom Militärregime lange Zeit verhängte Organisations- und Streikverbot trug zusätzlich dazu bei, dass die Arbeiterschaft lange Zeit nicht aufbegehrte, sondern sich reibungslos in den umfassenden Produktionsprozess einfügte. Doch es erklärt nicht alles, ebenso wenig wie die ursprünglich verbreitete Arbeitslosigkeit, die jede Beschäftigungsmöglichkeit für den Einzelnen als Fortschritt erscheinen ließ. Hinzu kam eine schwer konkretisierbare, aus der nationalen Tradition sich herleitende Motivationskomponente, bestehend aus Zähigkeit, Geduld im Ertragen von Ungerechtigkeit und Leid und Selbstdisziplin. Alles zusammen begründet, warum südkoreanische Unternehmen mit ihren Angeboten für Großbaustellen im Nahen Osten regelmäßig günstigere Konditionen als Konkurrenzfirmen aus anderen Ländern anbieten konnten und häufig den Zuschlag erhielten. Als ein dritter Zug, der den raschen Industrialisierungsprozess begünstigte, ist das hohe durchschnittliche Ausbildungsniveau der südkoreanischen Arbeiter zu erwähnen. Es ging nicht zuletzt auf die japanische Besatzungsmacht zurück, welche, um die Bevölkerung zu anspruchsvollen Tätigkeiten heranziehen zu können, ihre systematische Alphabetisierung betrieben hatte. Die japanischen Bemühungen wären aber nicht so erfolgreich gewesen, hätten sie nicht bei den Koreanern, traditionsbedingt, einen exzellenten Resonanzboden gefunden. Denn das Ziel, sich durch ständiges Lernen zu vervollkommnen, zählte zu den klassischen im Neokonfuzianismus wurzelnden Bildungsidealen. Hier konnte Parks Regierung, die der Nation mit der geplanten wirtschaftlichen Transformation zugleich einen gewaltigen Lernprozess zumutete, vergleichsweise mühelos anknüpfen.22 Etliche »Tugenden« und mentale Dispositionen, die in diesem Abschnitt als für den Industrialisierungsprozess nützlich und förderlich herausgestellt werden, gehen letztlich auf den Neokonfuzianismus zurück, jahrhundertelang die offiziell als verbindlich anerkannte 21 22

Engelhard, Südkorea, S. 96; Castells, Den Drachen enthaupten?, S. 276; Vogel, The Four Little Dragons, S. 46 ff. Kleiner, Korea, S. 326.

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Religion in Korea (daneben gab es inoffiziell andere Religionen). Lässt sich daraus schließen, dass es, ähnlich wie dies Max Weber für den protestantischen Calvinismus herausgearbeitet hat, eine direkte Kausalverbindung zwischen der konfuzianischen Lehre und dem sich in jüngster Zeit in der Region stetig ausbreitenden Kapitalismus gibt? Weber selbst hat dies bekanntlich energisch bestritten,23 und seiner Analyse dürfte insoweit wenig hinzuzufügen sein. Doch auch wenn der Neokonfuzianismus wenig geeignet gewesen sein sollte, eine kapitalistische Entwicklung anzustoßen, schließt dies keineswegs aus, dass sich der konfuzianische Tugendkanon trefflich in den Dienst eines wie auch immer zustande gekommenen wirtschaftspolitischen Kursschwenks in Richtung kapitalistische Marktwirtschaft stellen ließ. Eben dies ist in Südkorea geschehen.24 Von der nationalistischen, antikommunistischen Militärjunta mehr oder weniger bewusst instrumentalisiert, haben letztlich im Neokonfuzianismus wurzelnde Einstellungen und mentale Gewohnheiten der südkoreanischen Gesellschaft deren Absprung in die Moderne enorm erleichtert. Neben dieser wichtigen Funktion religiös bedingter Grundhaltungen erfüllten Religionsgemeinschaften und religiöse Überzeugungen noch eine weitere: Sie dienten als Gegenpol des Geläufigen und Vertrauten für die unter einem gewaltigen Veränderungsdruck stehende Gesellschaft, stellten Halt gebende Traditionsinseln in einem sozioökonomischen Umfeld dar, wo alles in Bewegung geraten war. Solche stark im Glauben wurzelnde Traditionsinseln waren beispielsweise der Schamanismus und die Familie. Die südkoreanische Gesellschaft ist in religiöser Hinsicht alles andere als dogmatisch. Neben dem dominierenden Neokonfuzianismus hatten auch der Buddhismus und in jüngerer Zeit das Christentum zahlreiche Anhänger und Glaubensadepten. Außerdem erfreut sich das Schamanentum großer Beliebtheit. Viele Koreaner nehmen bei wichtigen Ereignissen, wie Tod, Hochzeit oder dem Bau eines Hauses, die Dienste von Schamanen, meist Frauen, in Anspruch, die durch Beschwörungen, Opfer und rituelle Gesänge den Schutz der Geister 23 24

Weber, Konfuzianismus und Taoismus, S. 470 f. Vogel, The Four Little Dragons, S. 2 ff., 91 ff.

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und Götter für das Werk oder die fraglichen Personen erflehen. 1966, inmitten des einsetzenden Wirtschaftsbooms, soll es in Südkorea 63 000 Schamaninnen und Schamanen gegeben haben.25 Das erinnert stark an das Spanien der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, als nach der Franco-Diktatur alles in Bewegung geriet, jedoch gleichzeitig die Zahl und Popularität von Wallfahrten, vorwiegend zu Mariendenkmälern, jäh anstieg. Einen weiteren Stabilitätshort und -anker bildete in Südkorea die Familie. Auch in der Umbruchzeit blieb, wie Kleiner feststellt, der Ahnenkult stark verbreitet, wurde die überwiegende Mehrzahl zu Hause geboren und zog es auch vor, dort zu sterben. Selbst wenn traditionelle, die innerfamiliären Beziehungen betreffende Regeln nicht mehr im Detail befolgt wurden, blieben davon doch die Grundprinzipien unberührt: dass das Wohl der Familie über dem des Einzelnen steht, die Kinder den Eltern, der jüngere dem älteren Bruder und die Frau dem Mann Gehorsam und Respekt schulden.26

Eine vermischte Gesamtbilanz Kleiners Beobachtungen liegen schon über 30 Jahre zurück, inzwischen ist die Lage noch komplexer und unübersichtlicher geworden. Folgt man Dieter Schneidewind, der das Land seit Langem kennt und bis in die jüngste Zeit regelmäßig besucht hat, so ist die frühere Orientierung an der Gemeinschaft heute individuellem Leistungsstreben und Geltungsbewusstsein gewichen, die traditionelle Achtung vor Autoritäten und Statusgefälle hat rüden selbstbezogenen Durchsetzungsmethoden Platz gemacht, an die Stelle sittlicher Normen als Wertmaßstab ist das Renommieren mit Wohlstandssymbolen als Ausweis des wirtschaftlichen Erfolgs getreten.27 Nicht weniger drastisch beschreibt der in Berlin lebende Koreaner Byung-Chul Han die Lage, wenn er sein Heimatland als eine Übermüdungs- und Burnout-Gesell25 26 27

Kleiner, Korea, S. 325. Ebd., S. 340 ff. Schneidewind, Wirtschaftswunderland Südkorea, S. 67 ff.

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schaft charakterisiert, die unter Jugendlichen mittlerweile weltweit die höchsten Selbstmordraten aufweist. Das Spezifikum Südkoreas im transnationalen Vergleich sei ein exzessives Maß an Selbstausbeutung. Nicht mehr das traditionelle »Du sollst«, sondern »Du kannst« sei zur herrschenden Maxime an südkoreanischen Schulen geworden, womit die Leistungsansprüche an den Einzelnen ins Grenzenlose gestiegen seien. War dieser früher fest in ein Beziehungsnetz eingebunden, so falle er nunmehr zunehmend der sozialen Isolierung anheim, vor der er durch die Dauernutzung des Handys und sozialer Medien wie Facebook und Twitter Schutz suche.28 Was ist geschehen? Hat sich die südkoreanische Gesellschaft mit der Parforcetour von einer traditionellen ruralen Gesellschaft zur urbanen modernen Industriegesellschaft übernommen? Das Land steckt noch in einer sich lange hinziehenden Übergangsphase, sodass man mit Urteilen und Prognosen vorsichtig sein muss. Gleichwohl, auf einen kurzen Nenner gebracht, hat es den Anschein, als wenn der erfolgreiche Sprung nach vorn, was die wirtschaftliche und technische Entwicklung betrifft, nicht von einem vergleichbar befriedigenden Identitätsmanagement begleitet wurde. Dies wiederum, so die hier vertretene These, liegt am nachlässigen einseitigen Umgang mit der reichhaltigen kulturellen Tradition des Landes. Diese wurde nicht aufgearbeitet oder, in welcher Form auch immer, als eigenständige Größe in die jüngste Entwicklungsphase eingebracht, sondern entweder schlicht beiseitegeschoben und ad acta gelegt oder als Akzelerator für den Modernisierungsprozess eingesetzt. Daraus ergab sich ein doppeltes Problem. Zum einen erwies sich die Verstärkung traditioneller Einstellungsmuster, soweit sie dem wirtschaftlichen Aufholprozess dienlich waren, als ein Hindernis für die auf die Entwicklung zur Industriegesellschaft folgenden Modernisierungsschritte, zum anderen rächte es sich, dass man einer systematischen Auseinandersetzung zwischen traditionellen Wertprämissen und Überzeugungen und im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft geforderten Eigenschaften und Verhaltensweisen aus dem Weg ging. Erstere verschwanden mit ihrer weitgehenden Ignorierung 28

Han, Südkorea.

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nicht von der gesellschaftlichen und politischen Bildfläche, sondern blieben latent präsent, um fragwürdige Ad-hoc-Bündnisse mit neu entstandenen Ambitionen und Interessen einzugehen. Ein gutes Beispiel für die Dysfunktionalität durch die Militärregierung geförderter, im kollektiven Gedächtnis gespeicherter Einstellungsmuster ist der von ihr betonte Patriarchalismus sowie ihr repressiver Autoritarismus. Die Akzentuierung der damit verbundenen submissiven Haltung der Bevölkerung gegenüber politischen Machtträgern kollidierte mit den sich ab den 1980er Jahren verstärkenden Demokratisierungsbestrebungen. Nun gibt es, wie auch Modernisierungstheoretiker inzwischen zugestehen, keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Verbreitung der Partizipationsbasis des politischen Systems. Gerade in Südkorea existierte jedoch bereits ab den 1960er Jahren eine politische Oppositionsbewegung, die sich energisch gegen das vorherrschende militärische Sicherheits- und Ordnungsdenken zur Wehr setzte, eine Einführung rechtsstaatlich-demokratischer Verhältnissen verlangte und schließlich Mitte der 1980er Jahre ihr Anliegen auch durchsetzte. Die formelle Einführung der Demokratie bedeutete indes keineswegs, dass damit das Autoritarismus-Problem ausgeräumt war; das Gros der Koreaner hatte weiterhin mehr Vertrauen zu dominant auftretenden politischen Führungspersönlichkeiten als zu durch Wahlen legitimierten Abgeordneten und Regierungsmitgliedern. 15 Jahre nach der Ablösung des Militärregimes durch eine gewählte Regierung kam eine politikwissenschaftliche Studie zu dem Ergebnis, Südkorea sei weit vom Status einer konsolidierten Demokratie entfernt. Die Mehrheit bejahe zwar die Demokratie als Ideal, sei jedoch mit ihrer praktischen Handhabung unzufrieden. Nur 25 Prozent sprachen sich ohne Wenn und Aber für eine demokratische politische Ordnung aus. Vor allem in Krisenzeiten – Mitte der 1990er Jahre musste das Land eine ernsthafte Finanzkrise durchstehen – war die Mehrheit davon überzeugt, ein autoritärer politischer Führungsstab würde sie besser bewältigen als demokratisch gewählte Volksvertreter.29

29

Shin, Mass Politics, S. 47 ff., 75 ff.; Kang, The Developmental State, S. 220 ff.

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Was das zweite Problem, die fehlende Aufarbeitung der Diskrepanz zwischen traditionellen Moralvorstellungen und vom kapitalistischen Wachstumsmodell samt seiner liberal-rechtsstaatlichen Verfassungsordnung geforderten Eigenschaften und Normen angeht, so ist von koreanischer Seite manchmal zu hören, es gelte in einem ersten Schritt zunächst die westlichen Institutionen einzuführen, die sich im Laufe der Zeit von selbst mit den entsprechenden Inhalten füllen würden.30 In Befolgung dieser Devise wurden in Südkorea und etlichen anderen südostasiatischen Staaten zum Beispiel Gesetze mit sozialpolitischen Zielen erlassen, deren letzter Ursprung im christlichen Denken liegt, für das es insoweit im Neokonfuzianismus keine Parallele gibt.31 Das darin zum Ausdruck kommende Vertrauen in die Gestaltungskraft, die formalen Regeln innewohnt, wirkt allerdings etwas naiv, wenn man einen vergleichenden Blick nach Lateinamerika wirft. Dessen Staaten, zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach den Unabhängigkeitskriegen fast alle (mit Ausnahme Brasiliens) unter einem republikanischen Vorzeichen gegründet, haben es größtenteils bis heute nicht geschafft, eine genuin republikanische Ordnung zu realisieren, sondern weisen weiterhin autoritär-demokratische Mischverfassungen auf. Dabei steht Lateinamerika Europa sowie Nordamerika von seiner Geschichte und Kultur her weit näher als Südkorea. Zwischen Südkorea und dem Westen bestehen tief greifende, in unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen wurzelnde Differenzen, von denen nur zwei herausgegriffen seien. Erstens kommt im Westen der abstrakten Figur des Staatsbürgers sowie dem Gleichheitsprinzip große Bedeutung zu; dagegen herrscht in Südostasien (ähnlich wie übrigens in Brasilien32) eine partikularistische Auffassung des Einzelnen vor, der erst aufgrund seiner Einbettung in konkrete soziale Beziehungsnetze zu einer vollwertigen Person wird. Aus beiden Konzeptionen ergeben sich hinsichtlich der Stellung der Individuen in der Gesellschaft grundverschiedene Implikationen und Konsequenzen. 30 31 32

Kim, Die Entstehung »neuer Wohlfahrtsstaaten«. Rieger/Leibfried, Kultur versus Globalisierung. Da Matta, The Quest for Citizenship.

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Zweitens: Während in westlichen Gesellschaften dem Recht als Ordnung stiftendem Element eine Schlüsselrolle zufällt, ist es in von der konfuzianischen Tradition geprägten Gesellschaften der Moral untergeordnet. Auch dies führt zu erheblichen Unterschieden, etwa in Bezug auf die Einstellung zu Konflikten, zu gemeinschaftsschädigenden Verhaltensweisen oder zur Konkurrenz. Rechtsverhältnisse bergen eine starke Komponente des Misstrauens, sie stellen Sanktions- und Kontrollmöglichkeiten für den Fall bereit, dass sich jemand nicht an die Gesetze hält. Moral zielt hingegen darauf ab, Vertrauen zu stiften, und setzt Vertrauen voraus. Man fragt sich, wie der westliche Kapitalismus, der bekanntlich keine moralischen Restriktionen kennt, dauerhaft in einem Land Fuß fassen kann, ohne dass dessen rechtliche Instrumentarien geschärft werden, sodass sie effektiv greifen. Im besten Fall wäre tatsächlich damit zu rechnen, dass mit der westlichen Wirtschaftsordnung längerfristig auch die Normen und Institutionen in das südkoreanische Ordnungssystem integriert werden, die den Kapitalismus zähmen und regulieren. Daneben wird es aber weiterhin breite gesellschaftliche Bereiche geben, in denen quasi anomische Verhältnisse herrschen, alte und neue Erwartungen, Normvorstellungen, Glaubensfragmente und soziale Praktiken mehr oder weniger unverbunden nebeneinander existieren. Sie können einander ergänzen oder konterkarieren, neutralisieren oder steigern. Die eingangs erwähnte Tendenz zur exzessiven Selbstausbeutung ist ein gutes Beispiel für die letztgenannte Kombination: die Steigerung der traditionellen koreanischen Tugend der Selbstdisziplinierung ins Maßlose durch die für kapitalistische Gesellschaften typischen Leistungszwänge.

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Auf der Schwelle stehen geblieben: Argentinien In jüngerer Zeit hat Argentinien durch eine brutale Militärdiktatur und Staatsbankrotte oder diesen sehr nahe kommende Finanzkrisen wiederholt die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hier interessierte jedoch vor allem die Frage, warum es dieses reiche, über eine ethnisch homogene, relativ gebildete Bevölkerung verfügende Land nicht vermocht hat, zum Kreis entwickelter Industriestaaten vorzustoßen. Um dieser Frage nachzugehen, ist zunächst ein kurzer Überblick über die Geschichte des Landes nötig, bevor jene Phasen, in denen am ehesten die Chance eines Entwicklungssprunges zu bestehen schienen, untersucht werden: die Zeit der sogenannten oligarchischen Herrschaft von 1880 bis 1916 und die erste peronistische Regierungszeit von 1945 bis 1955. Abschließend wird eine Gesamtbilanz unter Berücksichtigung der fehlenden bzw. vorhandenen Traditionselemente zu ziehen sein, wobei sich, gewissermaßen als Kontrastfolie, ein Vergleich mit Südkorea anbietet. Argentinien gehörte mehrere Jahrhunderte lang zum spanischen Kolonialreich in Lateinamerika, war allerdings nur an dessen Rand angesiedelt und von untergeordneter Bedeutung, da das Hauptinteresse der spanischen Krone auf die Ausbeutung von Edelmetallen im mittleren Andenraum (Potosi) und in Zentralamerika gerichtet war. Erst 1776 erfuhr der La-Plata-Raum eine gewisse Aufwertung, als Buenos Aires zum Sitz eines Vizekönigs gemacht wurde. Das Vizekönigreich des Río de la Plata umfasste neben Argentinien auch das heutige Bolivien, Paraguay und Uruguay.1 1

Rock, Argentina 1516–1987, S. 39 ff.; Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 28.

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Auslöser für die nationale Unabhängigkeitsbewegung war in Argentinien wie im restlichen Lateinamerika der Einmarsch napoleonischer Truppen in Spanien und die Absetzung des Monarchen. Dadurch entstand ein Machtvakuum an der Spitze des Königreiches, welches auch die Kolonien zu einer politischen Neuorientierung zwang. Die verschiedenen Teilregionen des ehemaligen Herrschaftsgebietes des Vizekönigs verfolgten nicht nur unterschiedliche Pläne und Interessen, sondern konnten sich auch nicht über die politische Struktur des aus den Trümmern des Kolonialerbes zu schaffenden neuen politischen Gebildes einigen. Die Unabhängigkeitskriege zogen sich über längere Zeit hin, unmittelbar gefolgt von Jahrzehnte anhaltenden bürgerkriegsartigen Wirren in dem sich neu formierenden Staatswesen. Unter dem mit eiserner Hand regierenden Diktator J. Manuel Rosas (1829 –1852) kehrte zwar für zwei Jahrzehnte politische Ruhe ein. Nach seiner militärischen Niederlage und der Verabschiedung einer Verfassung, die in ihren Grundzügen bis heute in Kraft ist, bedurfte es aber noch weiterer zehn Jahre, bis der Konflikt zwischen den für weitgehende Selbstständigkeit der Provinzen kämpfenden Konföderalisten und den für einen Zentralstaat unter Führung von Buenos Aires eintretenden Unitariern dahingehend entschieden wurde, ein föderales Staatsgebilde mit Buenos Aires als Zentrum zu errichten. Die gleichnamige, bei Weitem mächtigste und reichste Provinz des Landes sträubte sich zwar noch eine Weile, sich von ihrer Hauptstadt und deren lukrativem Hafen zu trennen. Doch als es schließlich gelang, Buenos Aires zur nationalen Hauptstadt mit einem Sonderstatus zu machen, waren die territorialen und machtpolitischen Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Nationalstaat geschaffen.2 Auf diesen und seine mit nur einem begrenzten Exekutivapparat ausgestattete Regierung kamen gewaltige Aufgaben zu. Er musste versuchen, ein riesiges, äußerst dünn besiedeltes Gebiet mit verstreuten Provinzhauptstädten, die teilweise eigene Milizen aufgestellt und ein beträchtliches Eigenbewusstsein entwickelt hatten, in eine gemeinsame Ordnung zu integrieren. Dazu bedurfte es einer minimalen In2

Rock, Argentina 1516–1987, S. 118 ff.

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frastruktur, das heißt der Konstruktion von Straßen und Brücken, später von Eisenbahnlinien, um die Kommunikation zwischen den verschiedenen Landesteilen und vor allem zwischen diesen und dem Zentrum Buenos Aires sicherzustellen; es bedurfte daneben einer landesweiten Verwaltung, die eine gewisse Vereinheitlichung des Rechts und der Verfahrensregeln in den verschiedenen Provinzen sicherstellte; und es bedurfte eines nationalen Kontingents von Sicherheitskräften, vor allem einer schlagkräftigen Armee, die das Zusammenwachsen der Teile überwachte und aufkommende Widerstände oder lokale Erhebungen rasch zu unterdrücken imstande war.3 Die politische Elite, die den Integrationsprozess vorantrieb, richtete sich in ihrem Vorgehen weitgehend nach den Leitideen, die von der sogenannten Generation von 1837 entwickelt worden waren. Dabei handelte es sich um eine Gruppe von Intellektuellen, die, von Rosas ins Exil getrieben oder nach freiwilligen Auslandsaufenthalten, Überlegungen darüber angestellt hatte, wie eine den soziopolitischen Realitäten gerecht werdende künftige politische Ordnung aussehen müsste.4 Zwei ihrer Grundideen fanden vor allem in der Verfassung und der Praxis der politischen Führung ihren Niederschlag. Das war zum einen die Überzeugung, es bedürfe angesichts des Missverhältnisses zwischen einem riesigen Territorium und der geringen Zahl seiner Bewohner eines beträchtlichen Bevölkerungswachstums, um aus Argentinien einen ansehnlichen Nationalstaat zu machen. Gobernar es poblar, regieren heißt bevölkern, lautete ein Leitsatz Alberdis, eines der Vordenker der 1837er Generation. Dabei dachten er und seine Gesinnungsgenossen vor allem an die intensive Förderung der Einwanderung aus West- und Nordeuropa, von der man sich erhoffte, dass sie das genetische Erbe des als träge und rückständig eingeschätzten iberischen Bevölkerungsstammes aufbessern würde.5 Hier schimmerte die zweite Grundüberzeugung jener Generation von der prinzipiellen Überlegenheit der westeuropäischen Zivilisation gegenüber allen 3 4 5

Oszlak, La formación del Estado Argentino, S. 85 ff. Botana, El orden Conservador, S. 42; Romero, Las ideas políticas en Argentina, S. 129 ff. Romero, Las ideas políticas en Argentina, S. 134.

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anderen Kulturen durch, der es deshalb mit allen Kräften nachzueifern gelte. Der in Lateinamerika in der zweiten Jahrhunderthälfte verbreitete Positivismus als philosophische Strömung unterstützte den Glauben, durch die Nachahmung Europas und die Zuwanderung möglichst vieler Europäer in absehbarer Zeit einen ähnlichen zivilisatorischen Entwicklungsstand erreichen zu können.6 Der nach 1880 einsetzende rapide sozioökonomische Wandel schien diesen Optimismus zunächst zu bestätigen. Unter der Führung der alten Oberschicht nahm das Land, ausgehend von Produktionssteigerungen im agrar- und viehwirtschaftlichen Sektor, einen mirakulösen wirtschaftlichen Aufschwung. In den Dekaden bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vervielfachte sich das Exportvolumen von Getreide und Rindfleisch, und es kam zu einer, abgesehen von einer kurzen Rezessionsphase, kontinuierlichen Steigerung des Bruttoinlandproduktes ebenso wie des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens. Argentinien entwickelte sich in dieser Zeit von einem rückständigen Land zu einer Nation, die nach allen verfügbaren Wohlstandsindikatoren den Vergleich mit den an der Spitze des Fortschritts befindlichen Staaten England und Frankreich nicht zu scheuen brauchte. Der jähe Reichtum zog eine in die Millionen gehende Zahl von Einwanderern aus den ärmsten Regionen Europas an. Buenos Aires entwickelte sich zu einer Metropole mit prachtvollen Straßen, Repräsentationsbauten und ausgedehnten Parks, die sich, auch was das kulturelle Angebot betrifft, mit europäischen Hauptstädten messen konnte.7 Die Hintergründe und Grenzen dieses spektakulären Wachstumsschubes werden in einem eigenen Abschnitt auszuleuchten sein. Für die generelle und speziell die weitere politische Entwicklung des Landes war von Bedeutung, dass sich die traditionelle kreolische Oberschicht, von welcher die maßgeblichen Impulse für das »Wirtschaftswunder« ausgegangen waren, das politische Heft weiterhin nicht aus der Hand nehmen ließ. Einem in den gebildeten Schichten verbreiteten Misstrauen gegenüber den »unkultivierten« einfachen Bevölke6 7

Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 98 f. Ebd., S. 106 ff.

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rungsschichten gehorchend, richtete sie das politische System so ein, dass ungeachtet der offiziellen Bezeichnung »Republik« die politische Willensbildung von »oben nach unten« erfolgte und sämtliche wichtigen Entscheidungen, einschließlich jener über seinen künftigen Nachfolger, vom regierenden Präsidenten getroffen wurden, um anschließend in pseudolegalen Wahl- und anderen Verfahren eine Bestätigung zu erfahren.8 Diese Doppelbödigkeit trug dem Herrschaftssystem in der Bevölkerung die abschätzige Bezeichnung eines »oligarchischen Regimes« ein. Es blieb aber nicht bei verbalen Invektiven. Im Zuge der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen war es zu bedeutsamen gesellschaftlichen Umschichtungen gekommen. Neben der Entstehung einer städtischen Arbeiterschaft ist vor allem die Herausbildung einer neuen städtischen Mittelschicht erwähnenswert, die nicht gewillt war, ihre politische Entmündigung auf Dauer widerspruchslos hinzunehmen. Für die traditionelle Oberschicht ergab sich dadurch eine neue Situation. War ihr Bestreben im Rahmen des Staatsbildungsprozesses dahin gegangen, die auseinanderstrebenden Provinzen in den Nationalstaat zu integrieren, so gesellte sich nun zu der »horizontalen« eine »vertikale« Konfliktebene. In mehreren gewaltsam niedergeschlagenen Aufständen kündigten von der Mittelschicht getragene politische Parteien ihren Anspruch auf politische Mitsprache an. Schließlich war es der liberale Flügel der traditionellen Oberschichtspartei PAN selbst, der die Initiative zu einer Gesetzesreform ergriff, durch welche allgemeine und geheime Wahlen zur verbindlichen Norm gemacht wurden. Die Wahlrechtsreform ebnete der sich primär auf Mittelschichtgruppen stützenden Radikalen Partei den Weg zur Macht, die sie von 1916 bis 1930 innehatte. Der Regierungswechsel hatte jedoch kaum Einfluss auf den Regierungsstil und die Wirtschaftspolitik. Die Radikalen setzten keine neuen wirtschaftspolitischen Akzente, etwa in Form einer vermehrten Förderung der nationalen Industrie, sondern verließen sich weiterhin auf Rindfleisch und landwirtschaftliche Erzeugnisse als lukrative, den Wohlstand des Landes sichernde Export8

Botana, El orden Conservador, S. 74 ff.

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produkte. Sie traten auch insofern in die Fußstapfen ihrer konservativen Vorgänger, als sie die Ausübung politischer Herrschaft vor allem als Chance verstanden, sich und die eigne Klientel, die im Vergleich zu den Oberschichtregimen stark gewachsen war, an den Pfründen staatlicher Macht teilhaben zu lassen.9 Die Weltwirtschaftskrise, die der auf Freihandel angewiesenen argentinischen Volkswirtschaft durch die Rückkehr der meisten Industriestaaten zu Schutzzöllen und der Drosselung ihrer Importe einen harten Schlag versetzte, vermochte es ebenfalls nicht, den Glauben, dass die Zukunft des Landes in der Ausfuhr land- und viehwirtschaftlicher Rohprodukte liege, ernsthaft zu erschüttern. Die durch einen Militärputsch und anschließende betrügerische Wahlen erneut zur politisch dominierenden Kraft aufgestiegene alte »Oberschicht« fuhr fort, auf den Außenhandel als Motor wirtschaftlichen Wachstums zu setzen, wie sie es vor dem Ersten Weltkrieg getan hatte. Erst ein zweiter Militärputsch 1943, mitten im Weltkrieg, aus dem nach mehrmaligem Stühlerücken innerhalb der rebellierenden Offiziersjunta Oberst Juán Domingo Perón als Führungsfigur hervorging, eröffnete die Möglichkeit, die Entwicklungssackgasse, in die sich das Land hineinmanövriert hatte, zu verlassen und einen Neuanfang zu wagen.10 Wie das peronistische Regierungsexperiment verlief und ausging, wird ebenfalls in einem eigenen Abschnitt eingehender analysiert. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass etliche Umstände eine Umorientierung zu begünstigen schienen. Durch den Zweiten Weltkrieg wurde die politische Anbindung an Europa und die wirtschaftliche Abhängigkeit Argentiniens vom alten Kontinent gelockert. Die in ihren wirtschaftlichen Kapazitäten durch das Kriegsgeschehen voll ausgelasteten europäischen Staaten waren mehr denn je auf argentinische Agrar- und Fleischimporte angewiesen. Zugleich bot sich der argentinischen Industrie, vom Konkurrenzdruck europäischer Importe entlastet, die Chance einer raschen Expansion. Perón, in Kategorien des nationalen Gesamtinteresses denkend und als Militär an keine be9 10

Spektorowski, Collective Identity and Democratic Construction; Rock, Argentina 1516–1987, S. 95, 271 ff. Waldmann, Der Peronismus.

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stimmte soziale Klasse gebunden, brachte gute Voraussetzungen für eine über Partikularbelange hinausgehende, der Allgemeinheit dienende Entwicklungspolitik mit. Die von seiner Regierung verabschiedeten Fünfjahrespläne ebenso wie seine Option für eine zwischen Kapitalismus und kommunistischem Kollektivismus liegende »Dritte Position« wirkten ebenfalls vielversprechend. Wie ist es dann zu erklären, dass Argentinien schon 1951 in Zahlungsbilanzschwierigkeiten geriet und einen Kredit bei einer nordamerikanischen Bank aufnehmen musste, dass zur gleichen Zeit die Inflation den Löhnen und Gehältern davonzulaufen begann und Perón sich zu einer energischen Revision seiner ursprünglichen Wirtschafts- und Sozialpolitik gezwungen sah?11 Da Perón in einem weiteren Militärputsch nach rund zehnjähriger Regierungszeit gestürzt wurde, bleibt offen, ob der von ihm ab 1951 vollzogene wirtschaftspolitische Schwenk dem Land die erstrebte wirtschaftliche und politische Stabilität gebracht hätte oder nicht. Feststehen dürfte indes, dass seine gewaltsame Entfernung von der Regierung, die ihm immerhin – was in Argentinien bis dahin keineswegs selbstverständlich war – aufgrund zweier betrugsfreier Wahlen (1946 und 1951) zugefallen war, dem Land längerfristig mehr schadete als nützte. Es pendelte rund zwei Jahrzehnte zwischen zivilen Minderheitsregierungen (die die Mehrheit stellenden Peronisten waren nicht zu den Wahlen zugelassen) und Militärregimen hin und her. Auch das schließlich an den im Exil alt gewordenen Perón gemachte Zugeständnis, in das Land zurückzukehren und die Zügel der Regierung erneut in die Hand zu nehmen, brachte nicht den ersehnten inneren Frieden. Erst im Anschluss an das vorläufig letzte, besonders blutige Militärregime (1976 –1983) fand Argentinien zu dauerhaften demokratischen Verhältnissen zurück. Diese vermochten allerdings weder den permanenten Verfall der politischen Kultur aufzuhalten noch die festgefahrene Situation eines Schwellenlandes auf Dauer aufzubrechen.12

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Ebd., S. 127 f, 251 ff. Waldmann, Argentinien.

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Wirtschaftlicher Aufschwung unter oligarchischer Kontrolle (1880 –1916) In den dreieinhalb Jahrzehnten zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg verwandelte sich Argentinien von einem dünn besiedelten, in quasi ständischen Strukturen verhafteten, mit einem dürftigen Verkehrsnetz ausgestatteten Land in eine nach damaligen Maßstäben allen Kriterien der Modernität und des Fortschritts genügende Nation. Motor der Entwicklung war eine spektakuläre Entfaltung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft und im Viehzuchtsektor. Dahinter stand eine vermehrte internationale Nachfrage nach argentinischen Nahrungsmitteln, die zu enormen Steigerungsraten im Außenhandel führten, doch gleichzeitig erlebten auch primär für den inneren Markt produzierende Provinzen wie Mendoza (Wein) und Tucumán (Zuckerrohr) einen beträchtlichen Aufschwung. Die Dimensionen des Wachstumsprozesses lassen sich anhand einiger Zahlen verdeutlichen: Zwischen 1904 und 1914 betrug die wirtschaftliche Wachstumsrate in keinem Jahr weniger als 8 Prozent, ihr Durchschnittswert für den gesamten Zeitraum von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg lag zwischen 5 und 6 Prozent; mit Ausnahme einer kurzen Finanzkrise Anfang der 1890er Jahre war die argentinische Volkswirtschaft in einem kontinuierlichen Expansionsprozess begriffen. Besonders beeindruckend sind die Exportvolumina: Die Rindfleischexporte stiegen von 34 000 Tonnen 1882 innerhalb von 30 Jahren auf fast das Siebenfache. In derselben Zeit wurde Argentinien von einem Land, das auf Getreideimporte aus Chile und den USA angewiesen war, zum größten Getreideexporteur der Welt.13 Eine derartige Wohlstandsmehrung hatte soziale Konsequenzen, von denen hier nur zwei besonders erwähnt seien. Die eine bestand darin, dass Argentinien für den in Europa bestehenden Bevölkerungsüberschuss zu einem der attraktivsten Einwanderungsländer wurde. »Faire l’Argentine«, »riche comme un Argentin« wurden zu geflügelten Losungen, die Millionen in das Land lockten. Damit folgte die reale Ent13

Losada, Historia de las élites en la Argentina, S. 130; Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 101.

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wicklung durchaus den von der 1837er Generation entworfenen Direktiven, wenngleich das Gros der Zuwanderer nicht, wie erhofft, aus Mittel- und Westeuropa, sondern aus den ärmeren Regionen Südeuropas, vor allem aus Spanien und Italien, stammte. Anfangs überwogen die golondrinas (»Schwalben«), welche, durch die hohen Löhne in der argentinischen Landwirtschaft angezogen, den europäischen Winter für die Erntearbeit in Argentinien nutzten, doch das reichte auf Dauer für die Deckung des Bedarfs an Arbeitskräften nicht aus. Ab 1880 lag die Einwanderungszahl in keinem Jahr unter 80 000. Das Wachstum der Gesamtbevölkerung von rund 3,9 Millionen um 1880 auf mehr als das Doppelte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wurde zu Recht als ein Prozess demografischer Erneuerung bezeichnet.14 Nur ein Teil der Migranten konnte und wollte im expandierenden landwirtschaftlichen Sektor Beschäftigung finden, ein Punkt, auf den noch zurückzukommen sein wird. Die Mehrheit blieb in den Städten oder kehrte nach einiger Zeit in die Städte zurück, wo sie im ebenfalls langsam in Fahrt kommenden verarbeitenden Gewerbe oder im rasch anschwellenden Dienstleistungssektor unterkam. Die Einwanderung verstärkte damit den bereits bestehenden Urbanisierungstrend. Buenos Aires wurde zur ersten über eine Million Einwohner umfassenden Metropole Lateinamerikas; 1914 lebte bereits mehr als die Hälfte der Argentinier in Städten mit über 20 000 Einwohnern, 1947 wuchs dieser Anteil auf über zwei Drittel.15 Das bedeutete gleichzeitig, dass sich die im land- und viehwirtschaftlichen Sektor konzentrierte Steigerung der Produktivkräfte nur auf eine Minderheit der arbeitenden Bevölkerung bezog. Die wichtigste Produktionseinheit im Nahrungsmittelbereich war die estancia, ein inmitten eines teilweise mehrere Tausend Hektar umfassenden Wirtschaftsareals liegender Gutsbetrieb, der neben einem in dieser Epoche zu stattlichen Herrenhäusern ausgebauten Wohngebäude samt Park aus etlichen Stallungen, Speichern und sonstigen

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Romero, Las ideas políticas en Argentina, S. 170 ff. Waldmann, Der Peronismus, S. 36.

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Nebengebäuden bestand. Die lukrativsten, technische und sonstige Neuerungen am schnellsten aufgreifenden Estancias lagen in der pampa humeda, einem etwa 600 km breiten, äußerst fruchtbaren Tieflandgürtel rund um Buenos Aires herum. Hier wurde die Qualität von Fleisch und Wolle durch die Einführung neuer Rassen systematisch verbessert, und man begann mit der Umzäunung der Weiden mit Stacheldraht die Produktionskapazität des viehwirtschaftlichen Sektors erheblich zu steigern.16 Anfänglich von Einzelnen getragene Initiativen entwickelten sich aufgrund günstiger politischer, internationaler und technologischer Rahmenbedingungen rasch zu einer umfassenden Aufbruchsbewegung. Was zunächst das nationale Umfeld betrifft, so hatte der 1860 frisch aus der Taufe gehobene argentinische Staat sich inzwischen konsolidiert und war unter der Führung etlicher starker und tüchtiger Präsidenten (unter denen vor allem Julio A. Roca hervorzuheben ist) zu einer nach innen wie nach außen Respekt und Vertrauen einflößenden Größe geworden. Nach innen hatte er in einem militärischen Feldzug (der sogenannten campaña del desierto) die Indianer definitiv aus der Pampa zurückgedrängt und damit die für Landwirtschaft und Viehzucht verfügbare Zone beträchtlich erweitert. Außerdem hatte er seinen Souveränitätsanspruch unterstrichen, indem er den kirchlichen Einfluss im Erziehungsbereich beschnitt und die allgemeine Wehrpflicht sowie eine sechsjährige allgemeine Schulpflicht einführte. Aus wirtschaftlicher Sicht war der Ausbau des Eisenbahnnetzes besonders wichtig, weil damit der Transport tierischer und pflanzlicher Rohstoffe in die Hauptstadt und den wichtigsten Ausfuhrhafen Buenos Aires erleichtert wurde. Mit der Gründung einer Nationalbank, der Schaffung einer einheitlichen Währung und einheitlicher Zolltarife an den Grenzen sorgte der Staat zudem dafür, dass Argentinien nach außen kreditwürdig erschien und zu einem interessanten Investitionsobjekt für internationale Kapitalgeber wurde.17 Die internationale Konjunkturlage begünstigte den wirtschaftlichen Aufschwung insofern, als dieser (wie der südkoreanische 16 17

Sabato, La clase dominante en la Argentina moderna. Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 10.

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»Sprung nach vorn« 80 Jahre später) in eine Phase transnationalen Freihandels fiel, in welcher Europas aufsteigende Industriestaaten Mühe hatten, ihre wachsende Bevölkerung aus eigenen Kräften zu ernähren. Technologische Neuerungen wie Kühlhäuser und Kühlschiffe taten ein Übriges, um den Transport ansehnlicher Fleischmengen über größere Distanzen und Zeiträume hinweg zu ermöglichen. Ein besonders intensives Komplementärverhältnis entwickelte sich zur immer noch führenden Industrienation Großbritannien. Britische Banken finanzierten, oft abgesichert durch Bürgschaften des argentinischen Staates, weitgehend den Ausbau der Infrastruktur des Landes, vor allem des Eisenbahnnetzes. Britische Industrieprodukte eroberten im Gegenzug zur Fleischausfuhr in das Vereinigte Königreich den argentinischen Markt. Doch Großbritannien war nicht der einzige Handelspartner, auch zu Deutschland und zum künstlerisch wie vom Lebensstil her bewunderten Vorbild Frankreich entwickelten sich kommerzielle Austauschbeziehungen.18 Im Gegensatz zu Südkorea, dessen Aufstieg zur industriellen Exportnation viele Väter hatte und in der Wissenschaft zu einem lebhaften Disput darüber geführt hat, wem das Hauptverdienst für das südkoreanische Wirtschaftswunder zukomme, stellt sich diese Frage für den argentinischen Aufschwung ab 1880 nicht; es besteht Einigkeit darüber, dass es die alte, aus der Fusion der Provinzeliten mit den Führungsgruppen von Buenos Aires bei der Staatsgründung von 1860 hervorgegangene Oberschicht war, welche die entscheidenden Weichen für den Modernisierungssprung des Landes stellte. Bei dieser »Generation der 80er Jahre« handelte es sich um eine Elite von Großgrundbesitzern und städtischen Patriziern, die das gemeinsame Anliegen zusammengeführt hatte, das mental und sozioökonomisch noch in quasi kolonialen Strukturen verhaftete Land zügig zu einem modernen Staatswesen nach europäischem Muster umzuformen. Europa, vor allem sein westlicher Teil, lieferte nicht nur das Gesellschaftsmodell, sondern schien mit seinem Bevölkerungs- und Kapitalüberschuss auch die erforderlichen Ressourcen bereitzustellen, um das

18

Losada, Historia de las élites en la Argentina, S. 125 ff.

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angestrebte Ziel in der kürzest möglichen Zeit zu erreichen.19 Das Verdienst der führenden Köpfe der Oberschicht bestand darin, erkannt zu haben, dass man durch die Erschließung des eigenen Rohstoffpotenzials europäische Bedarfslücken und Mängellagen ausgleichen konnte. Ihnen war es zuzuschreiben, dass die Land- und Viehwirtschaft den Anstrich von Hinterwäldlertum und Zivilisationsferne verlor. Estancia wurde zu einem Sozialprestige und Wohlstandsmehrung symbolisierenden Begriff.20 Dank dem lukrativen internationalen Geschäft mit landwirtschaftlichen und viehwirtschaftlichen Rohstoffen sammelte sich in einem relativ kurzen Zeitraum ein unermesslicher Reichtum in den Händen der traditionellen Oberschichtfamilien an. Doch dieser, und hier setzt die Kritik an der alten Oberschicht und ihrem Wachstumsmodell an, wurde weder teilweise vom Staat abgeschöpft noch reinvestiert, um Produktivitätsfortschritte im landwirtschaftlichen Sektor zu erzielen oder anderen Produktionszweigen auf die Beine zu helfen, sondern floss großenteils in den Luxuskonsum. Zwar waren politische und wirtschaftliche Elite nicht identisch, bildeten also keinen gemeinsamen Block, sondern erhielten eine funktionale Trennung, einschließlich gewisser Spannungen, aufrecht.21 Das sämtliche Oberschichtsmitglieder umspannende Solidaritätsband reichte jedoch aus, um die jeweilige politische Führung davon abzuhalten, mittels Einkommenssteuern einen Teil der exorbitanten Gewinne aus dem Exportgeschäft für den Staat und die Allgemeinheit abzuzweigen. Wie Oszlak überzeugend nachwies, erhob der Staat während der ganzen fraglichen Epoche keine direkten, schon gar nicht etwa progressive Steuern, sondern finanzierte seine Ausgaben durch Einfuhrzölle und über die Unterschichten unverhältnismäßig hart treffende Konsumsteuern, die fallweise durch Kreditaufnahmen ergänzt wurden.22 Auch wurden, nachdem ein bestimmtes, den jeweiligen lokalen Gegebenheiten optimal angepasstes Niveau erreicht war, keine weiteren Pro19 20 21 22

Waldmann, Der Peronismus, S. 33 ff. Losada, Historia de las élites en la Argentina, S. 131. Ebd., S. 153. Oszlak, La formación del Estado Argentino, S. 167 ff.

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duktivitätsfortschritte mehr erzielt. Produktionssteigerungen waren ausschließlich der zusätzlichen Nutzung peripher gelegener Gebiete zuzuschreiben, während sich am Produktionsprozess als solchem nichts mehr änderte. Das sich in einer begrenzten Schicht ansammelnde Kapital fand in einer steigenden Prachtentfaltung und einem luxuriösen Lebensstil seinen Ausdruck, der französisch geprägt war. Es galt als chic, ausgedehnte Reisen nach Frankreich zu unternehmen, sich nach der französischen Mode zu kleiden, die Wohnung mit französischen Kunstwerken zu schmücken und einen französischen Koch zu beschäftigen, der ein 8-Gänge-Menu zu servieren imstande war. In dieser Übernahme raffinierter französischer Stilelemente lag eine deutliche Abkehr von der unprätentiösen, wenig formalisierten Lebensweise, die früher für die argentinische Oberschicht kennzeichnend gewesen war. Auch hatte die Veränderung der argentinischen Gesellschaft durch die hohe Zahl an Zuwanderern sowie die sich abzeichnende Ausdifferenzierung sozialer Schichten nicht etwa die Öffnung der traditionellen Oberschichtfamilien für soziale Aufsteiger und neue Führungskräfte zur Folge, sondern führte eher zu ihrer Abschließung, zu verstärkter Endogamie und dem Auftürmen von Hindernissen für Neuzugänge. In einem gewissen Sinn setzten sich damit die Oberschichtgruppen in einen Widerspruch zu dem von ihnen selbst initiierten Aufbruch des Landes in die Moderne. Dieser Widerspruch lässt sich an zwei Problemen exemplifizieren: dem Umgang mit der Verfassung und der angeblichen Förderung einer ruralen Mittelschicht. Nach längerem Hin und Her hatte sich Argentinien, fortschrittlichen europäischen Vorbildern folgend, für die Staatsform der Republik entschieden. Der dieser Staatsform inhärente Gleichheitsgedanke kollidierte jedoch mit dem Misstrauen der Oberschicht gegenüber den ungebildeten Schichten des Hinterlandes und ihren Zweifeln an der politischen Loyalität und dem Patriotismus der Einwanderer und ihrer Abkömmlinge. Deshalb entwarf man eine Konstruktion, derzufolge es zwischen bloßen »Bewohnern« des Landes und »Bürgern« eine Unterscheidung zu treffen gelte. Stünde Bewohnern ein uneingeschränkter Gebrauch ihrer zivilen Freiheiten und Rechte zu, so sei die Ausübung der politischen Rechte auf die weit begrenztere Zahl 202

von Bürgern zu beschränken.23 In der politischen Praxis spielte sich ein System ein, in dem die Willensbildung nicht von »unten nach oben«, sondern von »oben nach unten« erfolgte. Wichtigste Entscheidungsinstanz war der Präsident, der bei allen wesentlichen Fragen, einschließlich jener, wer sein Nachfolger werden sollte (weshalb man ihn el gran elector, den großen Wähler, nannte), das letzte Wort hatte. Da jedoch formell das allgemeine Wahlrecht gültig war, bedurfte es eines aufwendigen Apparates mit vielen Hintermännern, die dafür sorgten, dass die vorab getroffene Kandidatenselektion mit den Wahlergebnissen übereinstimmte. Der damit verbundene systematische Betrug war ein Schwachpunkt des konservativen Regimes und Anlass unaufhörlicher Kritik durch die sich allmählich formierende politische Opposition. Zu den ursprünglichen Plänen der Oberschichtregierungen hatte auch die Förderung des ländlichen Mittelstandes gezählt, ein verständliches Anliegen, wenn man an die Schlüsselrolle mittelständischer Familienbetriebe für die ländliche Entwicklung in anderen Großregionen, etwa den USA , denkt. Doch auch hier klaffte eine große Lücke zwischen den zunächst gesetzlich proklamierten Absichten und den zu ihrer Realisierung getroffenen Maßnahmen. Die Chancen zur Korrektur der ungleichen ländlichen Besitzverhältnisse durch die Erschließung neuer Ländereien oder durch die Zuweisung von Staatsland an mittelständische Farmer blieben weitgehend ungenutzt. Soweit Kolonien von Familienbetrieben mit öffentlicher Förderung zustande kamen, erwiesen sie sich häufig als nicht dauerhaft. Prägend für den Pamparaum blieb vielmehr der Großgrundbesitz.24 Hierfür gab es verschiedene Gründe: Teilweise waren es die aus Südeuropa stammenden Siedler selbst, die, des anstrengenden Jobs eines Farmers leid, dem Land den Rücken kehrten und in die Städte abwanderten. Daneben wirkten sich aber auch Schwächen der Verwaltung und das Neuzugängen wenig förderliche soziale Ambiente im ruralen Milieu zu Lasten der Siedlungswilligen aus. Dazu zählten u.a. die langwierige, oft an Bestechungsgelder gebundene Prozedur des Landerwerbs, die Schwie23 24

Botana, El orden Conservador, S. 50 ff. Fleer/Tobler, Der Staat und die Entwicklung der Landbesitzverhältnisse.

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rigkeit, als Ausländer und Neuankömmling in den Genuss von Krediten zu kommen, ungesicherte Eigentums- und Rechtsverhältnisse und eine schwerfällige, ineffiziente Justiz. Mit all diesen informellen Hindernissen konnten in der Gegend etablierte und bekannte Landherren weit leichter und geschickter umgehen als neue Siedlungsaspiranten, sodass es im Ergebnis bei einer weiteren Verfestigung tradierter Großgrundbesitzstrukturen blieb. Trotz aller Verdienste, welche die traditionelle Oberklasse für den raschen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes für sich in Anspruch nehmen kann, gingen doch auch Weichenstellungen für weitere Entwicklungen auf ihr Konto, die äußerst kritisch zu beurteilen sind. Zusammenfassend seien drei noch einmal besonders hervorgehoben: Das war zum Ersten die Transformation der Führungsgruppen dieser Schicht aus einer aufgeklärten, auf eine bessere Zukunft der gesamten Nation hinarbeitenden Elite in eine primär an der Erhaltung der eigenen Vormachtstellung interessierte Oligarchie. Es ist, als hätten die Urheber der alle Erwartungen in den Schatten stellenden wirtschaftlichen Entwicklung, gleichsam erschrocken über ihren eigenen Erfolg, einen konservativen Rückzieher gemacht. Diese Wendung zur sozialen Abschließung und partikularistischen Wahrnehmung der Gruppenbelange, die an alte korporativistische Traditionen im iberoamerikanischen Raum anknüpfte, sollte später bei den die politische Macht im Land übernehmenden sozialen Schichten Schule machen.25 Zweitens hat die traditionelle Oberschicht das seit der Unabhängigkeit bestehende Identitätsproblem Argentiniens noch zusätzlich vertieft.26 Der alte Konflikt, ob Argentinien eher über seine Provinzen oder von seiner Haupt- und wichtigsten Hafenstadt Buenos Aires her zu definieren sei, war mit der Staatsgründung nur oberflächlich überbrückt worden. Tatsächlich brach er mit der Hinwendung der zu Wohlstand Gelangten nach Europa und dem europäischen Lebensstil erneut verstärkt auf, war doch damit die Frage aufgeworfen, ob Argentinien überhaupt zu Lateinamerika gehöre oder nicht vielmehr eine europäische Enklave auf lateinamerikanischem Boden sei. Die Reser25 26

Wiarda, The Soul of Latin America. Shumway, The Invention of Argentina.

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viertheit gegenüber den Zuwanderern und die Differenzierung zwischen Bürgern und Bewohnern trugen dazu bei, das Zugehörigkeitsproblem noch zu verschärfen. Drittens begründete die Handhabung des Staatsapparates und der Rechtsordnung durch die Führungsgruppen der Oberschicht eine fragwürdige Tradition. Wenngleich es nicht an gesetzlichen Maßnahmen fehlte, die auf allgemeine Ziele und Belange abstellten, bestand doch insgesamt kein Zweifel, dass die Staatsmaschinerie stark an den Interessen der Oberschicht ausgerichtet war. Hinzu kam das doppelbödige Rechts- und Staatsverständnis der Machteliten. Die neuere Institutionen-Ökonomik hat herausgearbeitet, wie wichtig klare und verbindliche rechtliche Regeln für langfristige Entwicklungsprozesse sind. Die traditionellen Oberschichteliten haben durch ihre Bereitschaft, formelle Rechtsnormen um informeller Spielregeln willen zu verbiegen, letztlich der Nation einen Bärendienst erwiesen.27 Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass selbst die klügsten Köpfe innerhalb der alten Oligarchie die Problematik nachholender Entwicklung unterschätzt haben. Dazu mögen sie durch den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika vorherrschenden Positivismus Comte’scher Prägung verführt worden sein, der eine Art Automatismus der Entwicklung in Richtung der durch Westeuropa vorgegebenen Modelle unterstellte. Viele der in Argentinien vollzogenen Maßnahmen und Schritte trugen den Stempel des Ausnützens einer günstigen Gelegenheit, des Sichverlassens auf glückliche Umstände, als würde sich der Rest mehr oder weniger von allein ergeben. Auch diese Sorglosigkeit sollte Spuren bei künftigen politischen Eliten des Landes hinterlassen.

Peronismus und Populismus (1943–1955) Ende der 1930er Jahre hatte sich in Argentinien eine Reihe struktureller Probleme angesammelt, welche die Notwendigkeit einer politischen Neuorientierung nahelegten. Das hartnäckige Festhalten an 27

Harriss/Hunter/Lewis, The New Institutional Economics.

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einseitigen Förderungen des Exports von Weizen und Gefrierfleisch reichte nicht mehr aus, um die erforderlichen Devisen für ein kontinuierliches Wachstum des Bruttosozialprodukts zu erwirtschaften. Im Schatten des weiterhin dominierenden Export-Import-Handels hatte sich zwar eine importsubstituierende nationale Nahrungsmittel-, Textil- und Leichtindustrie herausgebildet, von staatlicher Seite weder gefördert noch durch Zollbarrieren gegen externe Konkurrenz abgeschirmt blieben ihre Entfaltungsmöglichkeiten jedoch begrenzt. Die Beibehaltung des Großgrundbesitzes als maßgebliche ländliche Produktionseinheit sowie die für ihn typischen extensiven Bewirtschaftungsmethoden war nicht ohne soziale Konsequenzen geblieben. Ab Anfang der 1930er Jahre setzte ein intensiver Rückwanderungsstrom von arbeitslos gewordenen Pächtern und Landarbeitern oder Farmern, die vergeblich in der Landwirtschaft Fuß zu fassen gesucht hatten, in die östlichen Städte, vor allem nach Buenos Aires ein. Ein Teil davon fand in der Industrie, ein anderer im wachsenden Dienstleistungsbereich Arbeit, insgesamt bildeten sie jedoch eine wurzellose, weitgehend marginalisierte Masse, von der noch unklar war, wie sich ihre Präsenz auf das soziale und politische Klima in der Metropole auswirken würde.28 Was den politischen Bereich betrifft, so hatte, es wurde bereits erwähnt, die alte Oberschicht nach einem Militärputsch die Macht zurückerobert. Obwohl sie über einige fähige Köpfe verfügte, die aus der schwierigen Situation nach der Weltwirtschaftskrise das Bestmögliche machten und im Infrastrukturbereich, etwa beim Straßennetz, zukunftsweisende Verbesserungen in die Wege leiteten, konnten sich die Minderheitsregierungen nur mittels systematischen Wahlbetrugs an der Staatsspitze behaupten. Das hat der ganzen Epoche im Volksmund den Schimpfnamen einer infamen Dekade (década infame) eingetragen. Letztlich war damit der endgültige Abtritt der alten Oberschicht von der politischen Bühne besiegelt.29

28 29

Waldmann, Der Peronismus, S. 40; Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 140. Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 173 ff.

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Man könnte, wie ich es in einer früheren Studie getan habe,30 die Problemakkumulation auch als geballte Summe von Herausforderungen oder Krisen bezeichnen, mit denen sich die politische Führung des Landes konfrontiert sah. In diesem Sinne trafen Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre, vier »Krisen« zusammen: eine Identitätskrise – hier handelte es sich im Grunde um ein Dauerproblem der jungen Nation, die sich durch die Tatsache, dass ihr jüngst gewonnenes Selbstvertrauen als Exportnation von landwirtschaftlichen Erzeugnissen infrage gestellt war, erneut verunsichert sah; eine Abhängigkeitskrise – nach der Weltwirtschaftskrise und der weltweiten Rückkehr zum Protektionismus traten die strukturellen Nachteile einer auf den Export von Primärgütern angewiesenen Nation gegenüber den Industrienationen deutlich zutage; eine soziale Distributionskrise – die in den Städten sich ansammelnden Migranten aus dem Landesinneren und generell die urbanen Unterschichten drängten auf eine gerechtere Verteilung des Sozialprodukts; und eine politische Partizipationsund Legitimitätskrise – ausgelöst durch die Konzentration der politischen Macht bei einer kleinen Führungsspitze, während das Gros der Bevölkerung vom Prozess politischer Willensbildung ausgeschlossen blieb.31 Der Zweite Weltkrieg wirkte sich ambivalent aus. Einerseits hatte er zunächst einen drastischen Rückgang des Außenhandels zur Folge, was u.a. zu Energieengpässen und Versorgungsschwierigkeiten hinsichtlich bestimmter Importgüter führte und die Angst vor Streikbewegungen schürte, wie sie während des Ersten Weltkriegs stattgefunden hatten. Andererseits verschaffte er der nationalen Industrie, die vom Konkurrenzdruck durch die überlegenen Industrienationen, die in den Krieg verstrickt waren, befreit war, eine unverhoffte Entfaltungschance und bot nach einiger Zeit, als erneut die Fleischexporte nach Großbritannien einsetzten, Argentinien die Möglichkeit, einen Devisenvorrat für die Nachkriegszeit anzusparen. Was die argentinische Öffentlichkeit mehr als alles andere beunruhigte, war die Frage, wer aus dem kriegerischen Konflikt als Sieger hervorgehen würde, hing 30 31

Waldmann, Der Peronismus, S. 39 ff. Rokkan, Die vergleichende Analyse der Staaten- und Nationenbildung.

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davon bei einem so stark nach außen hin orientierten Land doch entscheidend die eigene Zukunft ab. Die Überzeugung brach sich Bahn, dass die Nation sich verstärkt auf die eigenen Interessen besinnen, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müsse, wobei dem Staat als Repräsentanten des Gemeinwohls die Führungsrolle zufallen sollte.32 Die allgemeine Unsicherheit, verbunden mit der Auffassung, die zivilen Politiker, die wiederholt durch Korruptionsskandale von sich reden gemacht hatten, seien durch die Situation überfordert, war vermutlich der Hauptgrund, warum eine Gruppe junger Offiziere, die sich in einer Loge namens GOU zusammengeschlossen hatten, 1943 putschte. Für Perón, der sich relativ rasch als informelle Führungsfigur innerhalb der um die Macht rivalisierenden Gruppen des Militärs profilierte, stellte sich die Lage insgesamt durchaus günstig dar. Als Angehöriger der Streitkräfte galt er als unparteiisch und von vornherein an keine soziale Schicht oder Interessengruppe gebunden. Weit überdurchschnittlich begabt, sah er nicht nur deutlich die Probleme, die sich der weiteren nationalen Entwicklung in den Weg stellten, sondern schien als erklärter Patriot auch willens, sie anzugehen. Da er als höherer Offizier längere Zeit an der Kriegsakademie unterrichtet und zudem als Militärattaché einige Jahre in Europa verbracht hatte, verfügte er zudem über die notwendigen Erfahrungen und rhetorischen Fähigkeiten, um in die politische Arena überwechseln zu können. Letzteres bewies er, als ihn gegen Kriegsende ein wachsender Teil der bürgerlichen Presse als Faschisten angriff und politisch in die Defensive zu drängen versuchte. Perón hatte es inzwischen verstanden, sich, ausgehend vom »Sekretariat für Arbeit und Vorsorge« (Secretaría de trabajo y previsión), einer an sich zweitrangigen Institution, ein Gegengewicht in Form einer festen Anhängerschaft in den Unterschichten aufzubauen. Er hatte zahlreiche arbeitnehmerfreundliche Verordnungen und Gesetze erlassen und in Arbeitskonflikten häufig für die Arbeitnehmerseite Partei ergriffen. Das tat er nicht, wie eine spätere einseitige Interpretation dieses politischen Kurses glauben machen wollte, weil er ein verkappter Sozialist war, sondern im Gegenteil, um der Gefahr einer Hinwendung der Arbeiterschaft zum Kommunismus 32

Waldmann, La Argentina en la II Guerra Mundial.

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zuvorzukommen. Die entscheidende Kraftprobe fand im Oktober 1945 statt, als Perón auf Betreiben oppositioneller Kräfte durch die regierenden Militärs sämtlicher Ämter, die er inzwischen in seiner Person konzentriert hatte, enthoben und in Schutzhaft genommen wurde. Dem dadurch entfesselten Proteststurm einer riesigen Menschenmenge, die aus den Vorstädten in die Innenstadt strömte und sich vor dem Regierungsgebäude versammelte, war die Militärjunta nicht gewachsen. Nach seiner triumphalen Wiedereinsetzung in die verlorenen Ämter war für Perón der Weg zu einer Präsidentschaftskandidatur frei. Den Wahlkampf konnte er dank seines Charismas und überlegenen rednerischen Talents für sich entscheiden, zumal der nordamerikanische Botschafter, indem er sich für den Gegenkandidaten einsetzte, Perón die Chance zuspielte, sich als Verteidiger der nationalen Souveränität zu profilieren.33 Der Wahlkampf war hart, aber fair geführt worden und die Wahlen selbst erstmals seit Langem ohne betrügerische Manipulationen verlaufen, sodass die politische Partizipationskrise fürs Erste ausgeräumt schien. Anschließend setzte Perón alles daran, das Vertrauen in die Legitimität des Staatsapparates wiederherzustellen und diesen zu einer verlässlichen und berechenbaren Größe im öffentlichen Bewusstsein auszubauen. Seine besondere Aufmerksamkeit galt nach wie vor den unteren sozialen Schichten, das heißt der Lösung der sozialen »Umverteilungskrise«. Während der ersten Regierungszeit kamen große Teile der Arbeiterschaft in den Genuss der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, wurden Urlaubsregelungen eingeführt und Wohnungsbau- sowie Kreditvergabeprogramme für Minderbemittelte aufgelegt. Von der Regierung unterstützt, gelang es den Gewerkschaften von 1945 bis 1949 durchschnittliche Lohnerhöhungen von 62 Prozent durchzusetzen.34 War zu Beginn der 1940er Jahre nur ein kleiner Teil der Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft, so entwickelten sich diese nun aufgrund des massiven Zustroms neuer Mit33 34

Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 183 ff.; Waldmann, Der Peronismus, S. 156–162. Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 186 f.; Waldmann, Der Peronismus, S. 114 ff.

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glieder zu machtvollen Organisationen. Bei der Mobilisierung und Betreuung der Unterschichten stand ihm seine Frau Eva Duarte Perón (»Evita«) zur Seite. Sie betrieb mittels einer eigens zu diesem Zweck gegründeten, großenteils mit öffentlichen Geldern finanzierten sozialen Stiftung systematisch Armenfürsorge, ließ Krankenhäuser, Erholungsstätten und soziale Wohnanlagen für Bedürftige errichten. Setzte sich Perón primär für die rechtliche Emanzipation der Arbeiterschaft ein, so verfolgte Evita die Verteidigung der Würde der Unterschichtangehörigen und ihre volle Anerkennung als argentinische Staatsbürger. Dem sozialen Engagement des sich ergänzenden Paares lag nicht zuletzt ein politisches Kalkül zugrunde. Im Gegenzug für seine Politik sozialer Umverteilung erwartete Perón und erwartete vor allem seine Frau, dass die sozialen Unterschichten ihren Präsidenten uneingeschränkt unterstützten. Gewerkschaftsführer, die sich diesem Erwartungsdruck nicht beugten, mussten zurücktreten. Perón seinerseits konnte allerdings aufgrund seiner Parteilichkeit nicht länger reklamieren, ein über den Tarifparteien stehender Schiedsrichter bei Konflikten zu sein. Er wurde abhängig von den ihn unterstützenden Massen.35 Er ließ es als Präsident auch nicht an Bemühungen fehlen, die beiden anderen strukturellen Herausforderungen, die wirtschaftliche Außenabhängigkeit (die »Dependenzkrise«) und das Identitätsproblem, anzugehen. Noch während des Krieges war von den Militärs ein sogenannter Nachkriegsrat ins Leben gerufen worden, der Pläne entwickelte, wie man aufstrebende nationale Industriezweige gegen die nach Kriegsende aller Voraussicht nach wieder einsetzende Konkurrenz ausländischer Firmen abschirmen würde. Die Regierung unterstrich nach Beendigung des Krieges zudem ihren Anspruch auf vermehrte wirtschaftliche Selbstständigkeit durch die Nationalisierung etlicher in ausländischen Händen befindlicher Infrastrukturunternehmen, vor allem der Züge und des Eisenbahnnetzes. Alsbald wurde ein Fünfjahresplan verabschiedet, der mehrere ehrgeizige Industrialisierungsprojekte einschloss, und, in Korrektur früherer Fehler, eine be35

Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 194.

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sondere Behörde, der sogenannte IAPI , geschaffen, der beauftragt war, einen Teil der im Außenhandel mit Rohstoffen erzielten Gewinne zum Zweck der Industrieförderung abzuschöpfen. Perón versuchte sich auch – das war sein Beitrag zur Lösung des Identitätsproblems – als politischer Vordenker und Staatsphilosoph, indem er in mehreren Vorträgen seine ideologische Position präzisierte. Sich sowohl von einem kruden Manchester-Kapitalismus als auch vom Kollektivismus und Kommunismus der Sowjetunion distanzierend, optierte er für einen Zwischenweg, den er Justizialismus (nach innen) und Dritte Position (nach außen) nannte. Seine Zielvorstellungen gingen in die Verfassungsänderung von 1949 ein, wo es in der Präambel hieß, Argentinien sei eine sozial gerechte, wirtschaftlich freie und politisch souveräne Nation.36 Man könnte seinen Versuch, die Position des Landes im transnationalen Kontext neu zu bestimmen, als Vorläufer der späteren Blockfreien-Bewegung charakterisieren. Mit der Verabschiedung der neuen Verfassung erreichte das etatistische Projekt Peróns seinen Höhepunkt. In ihr wurde zwar rein formal das Prinzip staatlicher Gewaltenteilung nicht angetastet, insgesamt war sie jedoch so angelegt, dass sämtliche staatlichen Institutionen in Ausführungsorgane einer übermächtigen Exekutive verwandelt wurden. Nach 1949 wandte sich Perón, anfangs nur zögerlich, dann, ab der Wirtschaftskrise von 1951/52, immer entschiedener vom ursprünglich vertretenen etatistischen Herrschaftsmodell ab. Sein autoritärer Führungsanspruch und der daraus abgeleitete Kontroll- und Disziplinierungsdruck, den er auf den Staatsapparat und die Gesellschaft ausübte, ließen zwar nicht nach, sondern verstärkten sich eher, am Ende seiner Regierungszeit die Grenze zum Totalitarismus streifend. Doch standen sie nicht mehr im Dienst der Verfolgung nationaler Ziele, sondern dienten fast ausschließlich der Festigung der eigenen Machtposition. Dies lässt sich nicht zuletzt am Bedeutungszuwachs der Peronistischen Partei ablesen, die, nachdem sie in den ersten Regierungsjahren nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, nun zum wichtigsten Herrschaftsinstrument aufstieg. Gleichzeitig ergriff der 36

Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 153.

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Staat nicht mehr einseitig Partei für die Arbeitnehmerseite, sondern zog sich zunehmend aus dem Wirtschaftsgeschehen zurück, verschaffte also der privaten Unternehmerinitiative wieder mehr Entfaltungsspielraum. Wie lässt sich diese Abkehr von den ursprünglichen politischen Idealen und Zielen erklären? Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, stelle ich primär auf strukturelle Argumente ab. Gewiss gab es eine Reihe mehr akzidenteller Umstände, die ebenfalls zur Erklärung herangezogen werden könnten. In wirtschaftlicher Hinsicht wäre hier etwa der Ausschluss Argentiniens aus dem Marshallplan, der Rückgang der internationalen Preise für Getreide und Rindfleisch Ende der 1940er Jahre und zwei schwere Missernten zu nennen, im politischen Bereich ein für Perón alarmierender Militärputsch, der niedergeschlagen wurde, und 1952 der Tod seiner Frau, die zugleich seine wichtigste politische Stütze gewesen war. Doch gehe ich davon aus, das es vor allem strukturelle, im geschichtlich gewachsenen Mentalitätshaushalt der meisten Argentinier verankerte Gründe waren, die Perón an der Fortsetzung seines Modernisierungsprojekts hinderten und der Mobilisierung der dafür erforderlichen breiten Zustimmung im Weg standen. Teilweise überschnitten sie sich mit den Gründen, die bereits in den 1880er Jahren den so hoffnungsvoll begonnenen wirtschaftlichen Aufschwung in einer Sackgasse hatten enden lassen. Drei sind besonders hervorzuheben: Das war zum Ersten die allgemeine Überzeugung, Argentinien sei ein reiches, verschwenderisch mit natürlichen Ressourcen ausgestattetes Land. Wirtschaftliche Engpässe seien deshalb stets vorübergehender Natur, sie seien vor allem darauf zurückzuführen, dass eigensüchtige, strategisch günstig platzierte Minderheiten sich allzu großzügig aus dem gemeinsamen Ressourcentopf bedienten und den Rest der Bevölkerung darben ließen. Vermutlich schon früh in der nationalen Geschichte angelegt, erfuhr diese Grundüberzeugung eine eindrucksvolle Bestätigung in den wirtschaftlichen Boom-Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als Millionen vom alten Kontinent nach Argentinien aufgebrochen waren, um dort ihr Glück zu suchen. Wie sollten angesichts dieser verbreiteten Erwartungshaltung in die Zukunft blickende Intellektuelle und Politiker mit der Einsicht durchdringen, dass die 212

Ausbeutung der natürlichen Ressourcen irgendwann an eine Grenze stoßen würde und es dann für weitere Entwicklungsfortschritte eines stärkeren Gewerbefleißes sowie vermehrter industrieller Anstrengungen bedürfte? Zumal die peronistische Regierung selbst, ungeachtet der ehrgeizigen proklamierten Ziele, nicht mit gutem Beispiel voranging. Beim ersten Fünfjahresplan handelte es sich um eine Aneinanderreihung von Industrievorhaben ohne präzise Zeit- und Kostenangaben sowie Kontrollmöglichkeiten. Die Nationalisierung privater Unternehmen war häufig mehr politischen Prestigegesichtspunkten geschuldet, als dass der Staat damit eine Vorreiterrolle im Industrialisierungsprozess übernommen hätte.37 Dass der staatlichen Initiative insoweit Grenzen gesetzt waren, hing zweitens mit Peróns spezieller Beziehung zur Arbeiterschaft zusammen. Wie bereits angedeutet, bestand zwischen beiden Seiten eine Art informeller Pakt, demzufolge Perón für den Schutz und die Förderung des materiellen Wohls seiner primär in den unteren Schichten konzentrierten Gefolgschaft zu sorgen hatte, die ihm ihrerseits unbedingten Gehorsam schuldete. Diese caudillaje genannte soziale Figuration, die in jüngerer Zeit oft die Form des Populismus angenommen hat, ist ebenfalls bereits jahrhundertealt.38 Bezeichnend für sie ist das persönliche Band, das den Führer einer Bewegung oder Gruppe mit seiner Anhängerschaft verbindet.39 Dieses Band entfaltet Verpflichtungswirkungen, die weit über rechtliche Verträge hinausgehen und jeden institutionellen Rahmen sprengen können. So erklärt sich einerseits der Personenkult, der für Perón und seine Frau zelebriert wurde und in Eva Peróns Sakralisierung nach ihrem Tod gipfelte. Doch hier liegt andererseits auch die Erklärung dafür, dass Perón der Arbeiterschaft weit mehr an materiellen Vergünstigungen und rechtlichen Zugeständnissen zuschanzte, als es der argentinischen Volkswirtschaft zuträglich war. Dies wiederum war nur möglich, weil Perón und seine Partei den Staatsapparat besetzt hatten. Damit ist ein dritter Faktor angespro37 38 39

Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 148 ff. Dealy, The Public Man; Waldmann, Der Peronismus, S. 280 ff. Da Matta, Carnivals, Rogues, and Heroes, S. 137 ff.

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chen, auf den wir schon bei der Generation der 1880er Jahre gestoßen sind: Der Staat ist nur der Form und dem Schein nach eine neutrale Instanz. Tatsächlich gibt es einen informellen nationalen Konsens, dass jene Gruppe oder soziale Schicht, der es gelungen ist, die Regierung zu übernehmen, damit zugleich eine Anwartschaft auf die Abzweigung eines Teils der Staatseinnahmen zur Befriedigung der privaten Bedürfnisse ihrer engeren und weiteren Anhängerschaft erlangt hat. Dieses Anrecht ist Bestandteil der korporativistischen Tradition Lateinamerikas. Argentinien gilt als Prototyp einer Nation, in welcher der Staat, von korporativistischen Gruppen belagert, in den Bankrott getrieben zu werden droht.40 Was Perón betrifft, so musste er nicht nur die Ansprüche seiner wichtigsten Unterstützergruppe, der Arbeiter, befriedigen, sondern auch die anderen Organisationen, die ihm politisch den Rücken stärkten, vor allem das Militär, bevorzugt behandeln. Mit der ihm eigenen Hellsichtigkeit erkannte Perón nach einigen Jahren die Sackgasse, in die hineinzugeraten er im Begriff war, und revidierte seine politischen Pläne. Den Ausschlag für das von ihm vollzogene Umlenken mag die Wirtschaftskrise von 1951/52 gegeben haben. Nicht mehr »Wachstum«, sondern »Stabilität« lautete nun die Devise. Die Staatstätigkeit wurde zugunsten der Ermunterung zur Privatinitiative zurückgeschraubt, der gewerkschaftliche Einfluss gestutzt, dagegen die Unternehmerverbände aufgewertet. Da zugleich die Organisation anderer Sektoren und Gruppen, der Journalisten, der Universitäten usf., weiter vorangetrieben wurde, kam Perón in dieser letzten Phase seinem von Anfang an verfolgten Leitbild einer Communidad organizada, einer organisierten Gemeinschaft mit der staatlichen Exekutive als Führungszentrum, näher denn je zuvor. Er brachte sich indes um die Früchte seiner Bestrebungen, indem er, sei es aus Eitelkeit oder aus Ehrgeiz, die durchgehende »Peronisierung« von Staat und Gesellschaft durchzusetzen versuchte. Um in den öffentlichen Dienst einzutreten, Richter oder Beamter zu werden, musste man Mitglied der Peronistischen Partei sein; ob man als Journalist, Anwalt oder Abgeordneter tätig war, im Jugenddienst oder 40

Wiarda, The Soul of Latin America, S. 279.

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in der Krankenpflege arbeitete, unablässig wurde man unter Druck gesetzt, seine Loyalität zu der peronistischen Bewegung und ihrem Führer zu bekunden. Sogar das Militär blieb von dieser Einflussnahme nicht verschont. Die Bilder und Aussprüche Peróns und seiner verstorbenen Frau bedeckten Anschlagtafeln, Litfaßsäulen und Hauswände, die beiden waren im öffentlichen Raum omnipräsent. Wer sich diesem Konformitätszwang zu entziehen suchte, musste mit Sanktionen rechnen. Diese gezielte Polarisierung des politischen Lagers stand in einem deutlichen Gegensatz zu dem ursprünglichen Anliegen Peróns und des Militärs, sämtliche nationalen Kräfte zu bündeln, um den während der Kriegs- und der Nachkriegszeit sich stellenden Herausforderungen gewachsen zu sein. Sie beschwor damit unweigerlich jene Krise erneut herauf, die Perón in seinen ersten Regierungsjahren einzudämmen bemüht war: die latent stets virulente nationale Identitätskrise. An sie zu rühren bedeutete zugleich, die katholische Kirche herauszufordern, die als traditionelle Sinngebungsinstitution für das argentinische Selbstverständnis eine wichtige Rolle spielte. Perón provozierte bewusst diesen Konflikt, wie etliche gesetzgeberische Maßnahmen in den letzten Regierungsjahren, etwa die Einführung der Ehescheidung oder die Gleichstellung unehelicher mit ehelichen Kindern, deutlich machten – und verlor ihn. Die ausgedehnten Protestdemonstrationen gegen das Regime am Fronleichnamstag von 1955 bildeten den Auftakt zu einer offenen Auseinandersetzung, die mit einem militärischen Aufstand und Peróns Abdankung endete.41

Argentinien versus Korea Argentinien und Südkorea weisen fast durchgehend ein konträres Profil auf. Zwar teilen beide Länder in Bezug auf ihre Entwicklungsanstrengungen in jüngerer Zeit, dass diese wesentlich durch die Belebung des Außenhandels stimuliert wurden und in eine Epoche globalen Freihandels fielen, doch was ihre Ressourcen sowie den his41

Carreras/Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 201.

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torischen, politischen und kulturellen Kontext betrifft, in welchen die Bemühungen um nachholende Entwicklung eingebettet waren, so überwiegen die Unterschiede: – Im Falle Koreas handelt es sich um ein sehr altes Kulturvolk mit einer rund tausend Jahre zurückreichenden Geschichte, das eine klare Identitätsvorstellung von sich hat; Argentinien ist hingegen eine relativ junge, in ihrem Selbstverständnis gespaltene, innerlich unsichere Nation. – Korea ist sehr dicht bevölkert, vor allem Südkorea mangelt es an natürlichen Ressourcen; Argentinien ist mit Ressourcen aller Art, von tierischen und pflanzlichen Rohstoffen bis hin zu Erdöl, Mineralien und Möglichkeiten, die Wasserkraft zu nutzen, reich ausgestattet und, gemessen am Umfang seines Territoriums, dünn besiedelt. – Korea, eingezwängt zwischen Großmächten, geriet mehrmals in Abhängigkeit von der einen oder anderen und stand jahrzehntelang unter japanischer Kolonialherrschaft; Argentinien war aufgrund seiner geografischen Randlage in seiner kurzen Geschichte fast nie in externe militärische Auseinandersetzungen verwickelt und konnte sich weitgehend frei von äußerem Druck entfalten. – Korea gehört zum u.a. von Konfuzianismus und Buddhismus geprägten fernöstlichen Kulturraum, welcher der westlichen Zivilisation ursprünglich fremd und ablehnend gegenüberstand; Argentinien, dessen Bevölkerung fast durchgehend europäischen Ursprungs ist, hat stets einen engen Kontakt zum Alten Kontinent gewahrt und diesem nach Kräften nachgeeifert. Lässt man diese Unterschiede Revue passieren, so drängt sich zunächst der Eindruck auf, Argentiniens Chancen, den Anschluss an die europäischen Industrienationen zu gewinnen, seien ungleich größer gewesen als die Südkoreas. Wie wir wissen und auch aus der Analyse der beiden Fallbeispiele hervorgeht, täuscht dieser Eindruck. Tatsächlich liegen die Verhältnisse gerade umgekehrt, hat Südkorea Argentinien den Rang im nachholenden Industrialisierungsprozess abgelaufen, das nie über den Status eines Schwellenlandes hinausgekommen ist. Daraus lässt sich als eine erste Schlussfolgerung ableiten, dass für den Erfolg bzw. Misserfolg beschleunigter nachholender Entwicklung 216

die Ressourcenausstattung eines Landes, seine externe Abhängigkeit oder Unabhängigkeit sowie seine Nähe oder Ferne zum westlichen Kulturkreis zwar nicht gänzlich unerheblich sind, jedoch letztlich nur eine untergeordnete Rolle spielen. Verschiebt man den Fokus der Betrachtung auf die soziopolitische Sphäre, so liegt die These näher, im Falle Koreas habe den Ausschlag gegeben, dass die über Jahrhunderte hinweg unangefochten herrschende Yangban-Klasse unter dem Kolonialregime Japans zunächst politisch kaltgestellt worden sei und durch die Landreform nach dem Koreakrieg auch ihre Besitzvorteile eingebüßt habe. Erst dadurch habe eine neue, sich aus dem Militär rekrutierende Elite die Möglichkeit erhalten, sich des Staatsapparates zu bemächtigen und mit ihm einen radikalen wirtschaftspolitischen Schwenk zu vollziehen. Eine vergleichbare Situation habe es in Argentinien nicht gegeben. Diesem Argument ist im Hinblick auf die Aufschwungsphase Argentiniens in den 1880er Jahren seine Berechtigung nicht abzusprechen. Die traditionelle Oberschicht von Großagrariern hatte das rasche Wirtschaftswachstum nicht nur in Gang gebracht, sondern übte weiterhin die Kontrolle über den Staat aus und verstand es, die politische und ökonomische Entwicklung so zu steuern, dass sie nicht mit ihren Interessen kollidierte. Daraus ergab sich ein Handicap für ehrgeizige wirtschaftliche Zielsetzungen und Zukunftspläne. Das zweite nachholende Entwicklungsexperiment unter Perón bewies jedoch, dass die Fähigkeit der traditionellen Eliten, unliebsame wirtschaftliche und politische Veränderungen zu verhindern, irgendwann an Grenzen stieß. Perón gehörte, wie Park in Südkorea, zum Militär, war also von vornherein an keine soziale Schicht gebunden. Die Parallelen reichen noch weiter: Argentinien stand am Ende des Zweiten Weltkrieges durchaus vor mit der Lage Koreas nach dem Koreakrieg vergleichbaren schwierigen Fragen. Auch hier galt es, die Weichen so zu stellen, dass die weitere Entwicklung gesichert war, ohne dass das Land Gefahr lief, in eine allzu starke Abhängigkeit von einer Großmacht – im Falle Argentiniens der USA – zu geraten. Perón, insoweit Park ebenfalls nicht unähnlich, war weitsichtig genug, die Problematik mit ihren längerfristigen Implikationen zu durchschauen, und, gestützt auf eine Gruppe gleichgesinnter Offiziere, zudem willens, sie 217

anzugehen und zu lösen. Warum missglückte dieses Vorhaben im Falle Argentiniens, konnte dagegen in Südkorea erfolgreich durchgeführt werden? Die Antwort auf diese Frage sollte meines Erachtens nicht bei einer bestimmten sozialen Schicht, Machtkonstellation oder unterschiedlichen Zielprioritäten gesucht werden. Aufschlussreicher sind gewisse Hintergrundvariablen, die, im kulturell-moralischen Haushalt beider Gesellschaften gespeichert, das Verhalten sowohl ihrer einzelnen Mitglieder als auch sozialer Gruppen maßgeblich beeinflussten. Inwieweit sie sich auf die Anstrengung eines Prozesses beschleunigter nachholender Entwicklung einließen und dieser Prozess erfolgreich verlief, hing vor allem von drei Kriterien ab: – Existierten ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Konsens über die nationale Identität und die Bereitschaft, die auf die nationale Gemeinschaft zukommenden Herausforderungen anzunehmen? – Wie stand es generell um die Machteliten und ihr Verhältnis zum Staat? Betrachteten sie diesen als Garanten ihrer Herrschaftsposition oder waren sie sich der damit verbundenen Verantwortung für das Gemeinwohl und die Zukunft des Landes bewusst und handelten entsprechend? – Worauf beruhte der politische Gehorsam und wie war es um die Bereitschaft der breiten Bevölkerung bestellt, den Direktiven der politischen Führung zu folgen? Geschah dies aufgrund von positiven oder negativen Sanktionen oder in einem gewissen Maße auch aus Einsicht und im Vertrauen darauf, dass das, was die politische Führungsspitze anordnete, dem allgemeinen Besten diente? Das sind einfache, undifferenziert klingende Alternativen. Gleichwohl liefern sie ein Raster, das es erleichtert zu erkennen, wo die entscheidenden Schwächen der argentinischen Entwicklungsbemühungen lagen. Dabei wird keineswegs unterstellt, dass Südkorea dem Idealtypus einer durch ein unverbrüchliches Solidaritätsband geeinten Gesellschaft entsprach, deren verantwortungsbewusste Elite stets in Begriffen des Allgemeinwohls dachte und ein entsprechendes Vertrauen in der Bevölkerung zu erzeugen in der Lage war. Die koreanische Geschichte ist reich an Epochen und Episoden, in denen der 218

Herrscher und die Yangban-Oberschicht ihre Machtposition einseitig zu Lasten der Bauern ausnutzten, diese unterdrückten und ausbeuteten. Sie ist jedoch auch durch eine durchgängige Tradition herrschaftskritischer, vom Konfuzianismus geprägter Moralphilosophie geprägt, die im Westen ihresgleichen sucht. Diese Tradition war offenbar ungeachtet der Jahrzehnte währenden japanischen Kolonialherrschaft stark genug, um bis in die Gegenwart, zumindest bis zu den 1960er Jahren, eine gewisse Wirkung zu entfalten. Besonders augenfällig ist der Kontrast hinsichtlich des ersten Kriteriums eines Grundkonsenses hinsichtlich der nationalen Identität, die im Falle Koreas seit den 1950er Jahren freilich auf den südlichen Teil der Halbinsel beschränkt ist. Es gibt zahlreiche Zeugnisse für den Nationalstolz und die Bereitschaft der Koreaner, zusammenzustehen, angefangen von einem blutig niedergeschlagenen Aufstand gegen das japanische Besatzungsregime zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu einer breiten Spendenaktion am Ende desselben, als es galt, dem Staat aus einer Liquiditätskrise herauszuhelfen. Eine vergleichbare Kollektivanstrengung wäre in Argentinien undenkbar, wo aus Misstrauen gegenüber den finanziellen Machenschaften der Exekutive jede über etwas Kapital verfügende Familie ein Konto im Ausland unterhält. Argentinien leidet, wie schon erwähnt, unter einer chronischen nationalen Identitäts- und Vertrauenskrise,42 wobei der Ausgrenzungsimpuls, also das Bestreben, Personen aus der Nation heraus zu definieren und zu Vaterlandsfeinden bzw. -verrätern zu erklären, regelmäßig die Oberhand gegenüber der positiven Bestimmung des Nationalen gewinnt. Perón selbst mutierte von einem integrierenden zu einem die Nation bewusst spaltenden Politiker. Doch worauf sollen nationale Entwicklungsprojekte aufbauen, wenn Unklarheit darüber herrscht, wer und was zur Nation gehört und wo ihre Grenzen sind? Unter den südkoreanischen Staats- und Wirtschaftseliten gab es gewiss Individuen und Untergruppen, die mit ihrem Engagement für den Sprung zur industriellen Exportnation primär Eigeninteressen verfolgten. Insgesamt ist jedoch bemerkenswert, mit welcher Entschlossenheit und Konsequenz sich ein begrenzter Zirkel von Offizie42

Waldmann, Argentinien, S. 175 f.

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ren und zivilen Technokraten für einen Entwicklungsplan einsetzte, der die Überwindung von Rückständigkeit und Armut der ganzen Nation und die Abwehr des Kommunismus zum Ziel hatte. Nach einer vergleichbaren konzertierten Aktion hält man in der jüngeren Geschichte Argentiniens vergeblich Ausschau. Auch hier finden sich zwar Individuen und Teilgruppen, die in nationalen Kategorien dachten und denken. Sie hatten und haben jedoch enorme Mühe, ihren Ideen zu größerer Resonanz in einer Gesellschaft zu verhelfen, deren Mitglieder überwiegend in korporativistischen, nur auf ihren begrenzten Vorteil achtenden Interessengruppen organisiert sind. Die Oberschicht insgesamt konnte sich in den 1880er Jahren nicht aus ihrer korporativistischen Befangenheit lösen, und auch Perón war von Interessenverbänden, vor allem den Gewerkschaften und dem Militär, umlagert, die nicht über ihren begrenzten Gruppenhorizont hinausschauten. Am schwierigsten erscheint es, den Unterschied zwischen beiden Nationen hinsichtlich des dritten Kriteriums, der politischen Grundhaltung der breiten Bevölkerung, zu belegen. Das Park-Regime war äußerst repressiv, es unterdrückte jeglichen Streik und Protest, was sich die argentinische Gesellschaft vermutlich nicht lange hätte gefallen lassen. Gleichwohl scheint es eine Bereitschaft der überwiegenden Mehrheit in Südkorea gegeben zu haben, die Regierung gewähren zu lassen und ihr auf dem eingeschlagenen Entwicklungsweg zu folgen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die meisten Koreaner in den 1960er Jahren noch Subsistenzsorgen hatten und jede Chance begrüßten, ihr Los zu verbessern, während es Perón am Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer insgesamt relativ verwöhnten Gesellschaft zu tun hatte. Doch das erklärt nicht alles. Die tieferen Gründe für die Gefügigkeit der Koreaner lagen vermutlich in einer aus der konfuzianischen Tradition herleitbaren Überzeugung, der Einzelne habe sich der Obrigkeit und dem Kollektiv unterzuordnen, während im vom Christentum geprägten Westen, vor allem wo die katholische Konfession vorherrscht, die sozialen Rechte des Einzelnen stärkere Berücksichtigung finden.43 43

Nisbet, The Geography of Thought.

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Die Hauptdifferenz zwischen Argentinien und Südkorea bestand somit nach der hier vertretenen Ansicht in soziokulturell bedingten Einstellungsunterschieden gegenüber Staat und Gesellschaft. Andere kulturelle Traditionsmuster mögen ebenfalls eine Rolle gespielt haben, waren aber vermutlich zweitrangig. So werden regelmäßig der ebenfalls aus dem Konfuzianismus herleitbare Bildungshunger und das Selbstverbesserungsbestreben der Koreaner als Grund für ihre hohe Arbeitseffizienz hervorgehoben, doch einem ähnlichen Bildungseifer begegnen wir ebenfalls bei den Argentiniern. Auch dass das Wohlergehen der Familie eine der Hauptantriebsfedern für den materiellen Ehrgeiz des Einzelnen sei, gilt sowohl für Korea als auch für Argentinien. Letztlich waren es nicht Einzelfaktoren, auf die es für den Erfolg bzw. Misserfolg des in beiden Ländern stattfindenden nachholenden Entwicklungsprozesses ankam, sondern deren Einbettung in den mentalen Gesamthorizont der jeweiligen Gesellschaft. Eine ganz andere Frage ist, wie die beiden Nationen das nachholende Entwicklungsexperiment, ob erfolgreich oder nicht, verarbeitet haben, wie es also um ihr kollektives Identitätsmanagement bestellt ist. Was Südkorea betrifft, so wurden bereits Zweifel angemeldet, ob sich diese Gesellschaft nicht durch eine allzu rasche Transformation von einer traditionellen Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft nach westlichem Vorbild überfordert hat. Eine systematische Aufarbeitung der damit jeweils verbundenen normativen Voraussetzungen und Wertmuster hat nie stattgefunden, sodass beide oft unverbunden nebeneinanderstehen oder vom Zufall gesteuerte Verbindungen eingehen. Argentinien hatte von Anfang an wegen seiner starken Anlehnung an Europa, die sich nur schwer mit den im Landesinneren herrschenden Lebensverhältnissen in Einklang bringen ließ, ein nationales Identitätsproblem. Lange Zeit für ein Übergangsphänomen gehalten, hat sich die zwiespältige Selbstdefinition – mit variierenden gegenständlichen Polen – im Laufe der Zeit sogar eher verfestigt, sodass man hier von einer hybriden kollektiven Identität sprechen kann. Die meisten Argentinier haben sich daran gewöhnt, mit ihr zu leben, zumal sie die Quelle einer außerordentlichen geistigen und künstlerischen Fruchtbarkeit dieses Volkes ist. Was sie schmerzt und an ihrem kollektiven Selbstbewusstsein nagt, ist, dass sie, im Gegen221

satz zu Südkorea, als Wirtschaftsnation versagt haben; dass sie insoweit nicht die ursprünglichen hochgesteckten Erwartungen erfüllen konnten, sondern dauerhaft auf der Schwelle zur entwickelten Industrienation stehen geblieben sind.

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Widerwillig, gleichwohl erfolgreich: Modernisierung im Baskenland Bislang standen Nationalstaaten im Mittelpunkt der Betrachtung, beim Baskenland handelt es sich um eine kleinere territoriale Einheit, eine Region oder, wie es in der spanischen Verfassung heißt, eine »autonome Gemeinschaft«. Ähnlich wie bei Katalonien erstreckt sich das Siedlungsgebiet der Basken über die Landesgrenzen hinaus nach Frankreich. Die folgende Analyse bezieht sich aber nur auf das spanische Baskenland. Die Fokussierung auf eine Region bedingt eine Verschiebung von der sozialen Makroperspektive zur Mesoperspektive, da es um engräumigere soziale Verhältnisse und begrenztere Bevölkerungszahlen geht. Sich in einer Region konzentrierende ethnische Minderheiten weisen meist ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl auf als die Bevölkerung umfangreicher Nationalstaaten. Sie verfügen über keinen Staatsapparat, der sie nach außen hin vertritt und ihre inneren Angelegenheiten regelt, sondern allenfalls über politische Vertretungsorgane mit begrenzten Kompetenzen, die mit jenen des Zentralstaates konkurrieren. Zum Zentralstaat, zu der in den Händen der Bevölkerungsmehrheit befindlichen Herrschaftsinstanz, die umfassende Kontrollansprüche erhebt, haben ethnische Minderheiten oft ein gespanntes Verhältnis. Ihre Geschichte ist nicht selten, so auch im Falle der Basken, durch anhaltende Bestrebungen gekennzeichnet, sich gegen Zentralisierungstendenzen und Übergriffe des Zentrums zur Wehr zu setzen. All dies führt dazu, dass Minderheiten oft, historisch bedingt, außergewöhnliche Fähigkeiten zur Selbstorganisation und notfalls zur Selbstverteidigung aufweisen. Diese Fähigkeiten steigern ihr Anpassungsvermögen an neue Situationen, unter Umständen auch ihre Entwicklungspotenzen. 223

Der historische Ursprung der Basken verliert sich in der Prähistorie, erste Besiedlungsspuren des heutigen Baskenlandes gehen auf das 11. Jahrhundert zurück. Im 14. Jahrhundert war die Region bereits von einem Netzwerk von Ortschaften überzogen, von denen allerdings nur zwei, Bilbao und Vitoria, mehr als 5000 Einwohner hatten. Schon früh bildeten sich administrative und geografische Untereinheiten, sogenannte Provinzen, heraus, von denen drei in Frankreich, vier in Spanien lagen und liegen: Vizcaya, Guipúzcoa, Alava und Navarra (die Zugehörigkeit Navarras zum Baskenland ist allerdings umstritten). Jede Provinz hat ihre eigene Geschichte, hatte eine eigene Beziehung zur spanischen Krone, auch eigene, von der Krone anerkannte Rechtsinstitutionen, sogenannte fueros, in denen teils privatrechtliche, teils öffentliche Ansprüche und Pflichten geregelt waren, etwa die an die Zentralmacht zu entrichtenden Steuern oder ob und inwieweit Basken Militärdienst für den König leisten mussten.1 Die Geschichte des baskischen Volkes, das eine eigene Blutgruppe und eine nicht in die indogermanische Sprachfamilie fallende Sprache, das Euskera, hat, ist reich an Mythen. In Anbetracht der heute dominierenden nationalistischen Leseart dieser Geschichte fällt es schwer, den historischen Realitätsgehalt dieser ins Mythische gehobenen kollektiven Vorstellungen zu beurteilen. Etwa, ob tatsächlich alle Basken »gleich« gewesen sind, es keine ins Gewicht fallenden sozialen Unterschiede zwischen ihnen gegeben hat (der sogenannte igualitarismo vasco),2 oder ob sie, als durchweg adlig geltend, vom Militärdienst weitgehend befreit waren. Es gibt aber eine Unterscheidung, die näher zu betrachten sich lohnt, da sie an die historische Einheit des baskischen Volkes rührt: die Einteilung der Bevölkerung des spanischen Baskenlandes in eine Mehrheit, die auf Einzelgehöften oder in kleinen Siedlungen im Hinterland lebte, und eine Minderheit, die sich in den Städten konzentrierte. Lange galt für das Baskenland insgesamt das rurale Milieu als prägend, dessen tragende Säule das Einzelgehöft (basería) bildete.3 Bis 1 2 3

Fusi, El País Vasco, S. 161 f.; Heiberg, The Making of the Basque Nation, S. 20 f. Otazu, El »igualitarismo« vasco. Hess, Reluctant Modernization, S 15 ff.

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etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebten über 80 Prozent der spanischen Basken auf dem Land. Der Einzelhof war nicht nur ein wirtschaftlicher Betrieb, sondern eine Institution mit einem eigenen – zugleich von allen Familienmitgliedern getragenen – Namen, die in ein Geflecht reziproker Rechte und Pflichten gegenüber anderen Höfen eingebunden war. Um seine Wirtschaftskraft zu erhalten, wurde der Hof auf nur einen Erben, meist den ältesten Sohn, übertragen, der damit aber zugleich eine Reihe von Belastungen hinsichtlich des Unterhalts der Eltern sowie der Entschädigung der leer ausgehenden Geschwister übernahm. Die Hofbewirtschaftung war aufgrund der nicht sonderlich fruchtbaren Böden und der begrenzten Wirtschaftsfläche der Höfe keine leichte Aufgabe, kein Wunder, dass im Tugendkanon der Bevölkerung Eigenschaften wie Ausdauer, Fleiß und Genügsamkeit ganz oben standen. Meist wurde eine Kombination aus Forstwirtschaft, Viehhaltung, Getreide- und später Maisanbau praktiziert; fast alles, was konsumiert wurde, stammte aus dem Hof selbst oder (wie Beeren und Pilze) aus seiner unmittelbaren Umgebung. Trotz unvermeidlicher Konjunkturschwankungen und phasenweiser Machtverschiebungen im ländlichen Bereich war das baseríaSystem über Jahrhunderte hinweg (vom späten 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts) relativ stabil. Diese Stabilität wurde zum einen damit erkauft, dass die zweit- und drittgeborenen Söhne auf dem Hof keinen Platz fanden. Der von der ländlichen Gesellschaft produzierte demografische Überschuss, vor allem die Männer, musste ein Auskommen in den Städten suchen oder nach Übersee auswandern. Auf sie geht der Ruf der Basken als tüchtige Sekretäre, Seeleute, Militärs, Unternehmer, als Priester, aber auch als Abenteurer zurück.4 Der zweite Grund hing mit der Organisationsfähigkeit der ländlichen Gemeinschaft insgesamt zusammen. Es fällt auf, wie stark in der baseríaKultur die gegenseitigen Beistandspflichten der Nachbarn und die Kooperation sämtlicher Hofbesitzer, gleichgültig ob Eigentümer oder Pächter, verankert waren, wenn es um gemeinsame Projekte ging. Von daher kann man Andreas Hess zustimmen, wenn er hier, unter Berufung auf die Arbeiten E. P. Thompsons, einen Fall traditionel4

Fusi, El País Vasco, S. 186.

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ler Moralökonomie diagnostiziert.5 So wenig der Einzelhof nur dazu diente, die Subsistenz der Familienmitglieder zu sichern, so wenig stellte die Dorfgemeinschaft einen reinen Zweckverband dar, dessen Sinn sich darin erschöpfte, die über die Bewirtschaftung des Einzelgehöftes hinausgehenden Sonderlasten und -risiken aufzufangen. Beide waren Bestandteil einer umfassenderen Ordnung, deren Fundament letztlich mit dem Katholizismus zusammenhängende gemeinsame moralische Grundüberzeugungen waren. Hier liegt der tiefere Grund für die erstaunliche Beharrungskraft des ganzen Systems, wie auch für die wiederholten Versuche, es zu retten, nachdem seine wirtschaftlichen Voraussetzungen brüchig geworden waren. Der Gegenpol zum Hinterland als konservativem Hort der baskischen Gesellschaft waren die Städte, vor allem die Küstenstädte San Sebastián und Bilbao. In ihnen herrschte ein anderer Geist. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie im Gegensatz zu den nur mäßig ergiebigen ländlichen Gebieten über gewisse Standortvorteile und Ressourcen verfügten, welche das städtische Bürgertum zur Mehrung seines Wohlstandes zu nutzen verstand.6 Dazu zählte die strategisch bedeutsame Lage an der Nordküste Spaniens, welche die Chance eröffnete, den Handelsaustausch Kastiliens mit Europa und Übersee, vor allem Lateinamerika, unter Kontrolle zu bekommen. Daneben waren es die Erzvorkommen in der Provinz Vizcaya, die, seit jeh in begrenztem Umfang abgebaut, ab 1870 zur Grundlage des Aufbaus einer Schwerindustrie werden sollten, und schließlich auch die zahlreichen Flussmündungen an der kantabrischen Küste, welche, zu Häfen ausgebaut, die Entwicklung einer sich über weite Teile des Atlantik erstreckenden Fischfangindustrie begünstigten. All dies setzte eine dynamische städtische Bourgeoisie voraus, die in der Lage war, Kapital zu akkumulieren und es gewinnbringend anzulegen. Gelegentlich erwarben Patrizier aus den Städten zwar auch, meist für begrenzte Zeit, größere Ländereien, doch im Allgemeinen zogen sie lukrativere Wirtschaftszweige vor, ursprünglich den Handel, später die Industrie und das 5 6

Hess, Reluctant Modernization, S. 39 ff.; Thompson, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie, S. 67 ff. Heiberg, The Making of the Basque Nation, S. 24 ff.

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Bankwesen. Die Aufgeschlossenheit der maßgeblichen urbanen Schichten für Neuerungen sowie ihre eng damit zusammenhängende liberale und tolerante Grundhaltung standen in einem scharfen Gegensatz zur traditionsverhafteten, sich in festen moralischen Bahnen bewegenden Denkweise der ruralen Bevölkerung. Kein Wunder, dass die Provinzversammlungen (Juntas), bei denen Vertreter des städtischen und ländlichen Sektors zusammentrafen, um gemeinsame Beschlüsse zu fassen, häufig zu Schauplätzen heftiger Auseinandersetzungen zwischen ihnen wurden.7

Herausforderung »von innen«: ein Industrialisierungsschub Bislang bezog sich die Darstellung auf die Basken als ethnische Minderheit innerhalb des spanischen Staates. Dies entsprach ihrem Selbstverständnis als Volksgruppe, die sich aufgrund ihrer Geschichte, einer eigenen Sprache, gewohnheitsrechtlicher Rechtsinstitutionen, einer besonders intensiven Glaubenshaltung (Ignatius von Loyola, der Begründer des Jesuitenordens, war Baske), möglicherweise auch physiologischer Merkmale von der restlichen spanischen Bevölkerung unterschied. Dieses vorpolitische ethnische Sonderbewusstsein verwandelte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in einen Minderheitsnationalismus mit politischer Stoßrichtung. Dabei handelte es sich um einen kontinuierlichen Transformationsprozess, hinter dem aber zwei Hauptschubkräfte standen. Die eine stammte aus dem Baskenland selbst, es war die Entstehung einer sich im Großraum von Bilbao konzentrierenden Schwerindustrie. Die zweite kam »von außen« in Form des vom repressiven Franco-Regime auf die Region ausgeübten politischen Zentralisierungs- und Gleichschaltungsdrucks. Beide erzeugten als Gegenreaktion eine nationalistische Bewegung, als deren Hauptrepräsentant die Baskische Nationalistische Partei (Partido Nacionalista Vasco, PNV ) zunehmend Kompetenzen und Stimmen auf sich zu vereinigen verstand. 7

Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 166.

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Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden sich die zwei nördlichen Peripherie-Regionen Katalonien und das Baskenland in der Defensive gegenüber Madrid. Die sogenannten Karlistenkriege (1833–1839 und 1847–1849), in denen die Basken ihre Sonderrechte einbüßten, markierten ein letztes Mal die politisch-militärische Dominanz des Zentrums. Dann wendete sich das Blatt, und es kam zu einer erfolgreichen Renaissance eines »späten peripheren Nationalismus gegen einen früh entstandenen Zentralstaat«.8 Den Anfang machte Katalonien, wo sich nach einer Wiederbelebung der katalanischen Sprache und Literatur in enger Verbindung zu einer architektonischen Neugestaltung Barcelonas die politische Strömung des Katalanismus herausbildete. Ihr folgte im Abstand von wenigen Jahrzehnten eine baskische Parallelbewegung. Den Hintergrund des neu erwachten Selbstbewusstseins bildete in beiden Regionen das Erstarken der Wirtschaft durch einen Industrialisierungsschub, in Katalonien der Textilindustrie, im Baskenland der Eisen- und Stahlindustrie.9 Die baskische Schwerindustrie basierte, wie erwähnt, auf Eisenerzvorkommen im Raum um Bilbao, die bereits seit Langem durch Kleinbetriebe unter Verwendung von Holz als Brennmaterial ausgebeutet worden waren. Erst als britische Unternehmer sich für den Import von Roheisen aus Vizcaya zu interessieren begannen und dessen Herstellung durch die Einfuhr britischen Kokses sowie verbesserter technischer Verfahren preiswert gestaltet werden konnte, lagen die Voraussetzungen für einen raschen Aufschwung dieses Industriezweiges vor. Dank dem kombinierten Einsatz britischen und baskischen Kapitals wurde die Eisenerzproduktion von 1870 bis 1900 um mehr als 100 Prozent gesteigert, womit Vizcaya gleichzeitig zur wirtschaftlich dynamischsten unter sämtlichen spanischen Provinzen aufstieg. In diesem Zeitraum nahm die Provinzbevölkerung um 50 Prozent zu, Bilbao allein verzeichnete ein Wachstum seiner Einwohnerzahl von 20 000 auf 100 000. Das Eisenbahnnetz wurde zügig ausgebaut, Hunderte von Handelsgesellschaften gegründet, die

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Linz, Opposition in and under an Authoritarian Regime. Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 167 ff.

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Kapazität der Handelsflotte derart erweitert, dass sie sich auf rund die Hälfte des gesamtspanischen Transportvolumens von Schiffen belief.10 Der Bevölkerungszuwachs in der Provinz Vizcaya kam teilweise aufgrund horizontaler demografischer Umschichtungen innerhalb des Baskenlandes zustande, ein Großteil der Zuwanderer stammte jedoch aus den angrenzenden spanischen Provinzen. Das gilt vor allem für das neu entstandene Industrieproletariat – in den großen Hüttenwerken arbeiteten gegen Ende des Jahrhunderts mehr Nichtbasken als Basken. Viele dieser Migranten schlossen sich der sozialistischen Gewerkschaft UGT (Unión General de Trabajadores) an, die sich als überregionale, gesamtspanisch ausgerichtete Interessenvertretung der Arbeitnehmer verstand. Bildete sich somit auf den unteren Stufen der sozialen Schichtungspyramide eine Arbeiterschaft heraus, die zum größten Teil des Baskischen nicht mächtig war und wenig Interesse an der gewachsenen Eigenart des baskischen Volkes zeigte, so lockerte sich an deren Spitze, bei den baskischen Großunternehmern, ebenfalls die Bindung an die Region. Aus einem städtischen Umfeld stammend, dachte und operierte die baskische Großbourgeoisie seit jeh in überregionalen Kategorien. Dieser Trend verstärkte sich durch den Auf- und Ausbau von Produktionsstätten der Schwerindustrie zusätzlich, bedurfte es dazu doch eines, verglichen etwa mit der katalanischen Textilindustrie, weit größeren Kapitalaufwandes sowie einer umfassenderen Absatzplanung. Als erste in ganz Spanien wurden im Baskenland Aktiengesellschaften als Form der Mobilisierung von Kapital eingeführt, die baskischen Banken zählten und zählen bis heute zu den mächtigsten Finanzinstituten der Halbinsel. Ausgehend vom industriellen Boom im Raum von Bilbao gerieten weite Teile des Baskenlandes in den Sog eines umfassenden Modernisierungsprozesses. Das Schrumpfen des landwirtschaftlichen Sektors, verbunden mit der zunehmenden Verstädterung, der massive

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Solozábal, El primer Nacionalismo Vasco, S. 80 ff.; Fusi, El País Vasco, S. 9 ff.; Heiberg, The Making of the Basque Nation, S. 38 ff.

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Zuzug von Migranten aus anderen Regionen, die Zurückdrängung des Baskischen durch das Spanische als Umgangssprache, der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, die Steigerung der Kommunikationsdichte, das Aufkommen neuer ideologischer Strömungen und einer weitgehend säkularisierten urbanen Massenkultur neben dem bisher unangefochten dominierenden Katholizismus – all dies waren Teilelemente eines umfassenden Transformationsprozesses einer durch das Primat von Verwandtschaft, gemeinsamer Sprache und Religion geprägten Volksgruppe in eine moderne pluralistische Marktgesellschaft.11 Die nunmehr entstehende nationalistische Bewegung war nur eine von mehreren Reaktionen auf eine Situation, deren Charakteristikum die Veränderung zahlreicher Verhaltensparameter war, die bis dahin den Alltag bestimmt hatten. Eine Reaktion, die ein Suchprozess und ein Versuch in einem war: die Suche nach den bleibenden, auf jeden Fall erhaltenswerten Strukturmerkmalen der baskischen Ethnie, gewissermaßen nach deren Essenz; und der Versuch, diese Strukturmerkmale durch eine politische Anstrengung in die Moderne zu verpflanzen und zur einigenden Klammer aller Basken zu machen. Die Entstehung des baskischen Nationalismus ist der Initiative nur eines Mannes zuzuschreiben, dem es gelang, nach und nach Anhänger für seine Idee zu gewinnen. Sabino Arana y Goiri (1865 –1903), einer alteingesessenen Schiffsbauerfamilie Bilbaos entstammend, hatte in seiner Jugend einige Jahre in Barcelona zugebracht, als sich dort der Katalanismus entfaltete. Er hatte während seines Aufenthaltes in der katalanischen Kulturmetropole begonnen, sich intensiv dem Studium des Baskischen zu widmen, das bei den urbanen Mittelund Oberschichten seiner Heimat zunehmend vom Spanischen als Umgangssprache verdrängt wurde. Nach Bilbao zurückgekehrt, kündigte er 1893 in einem Kreis von Freunden die Absicht an, für die Unabhängigkeit Vizcayas kämpfen zu wollen. Kurz darauf gab er eine Zeitschrift heraus, die sich vornehmlich mit baskischer Sprache, Geschichte und Kultur sowie lokalpolitischen Fragen befasste. 1894 rief er mit einer Gruppe von Anhängern eine politische Organisation, die

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Fusi, El País Vasco, S. 9 ff.

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Vorläuferin des PNV, ins Leben, die sich 1895 erstmals der Öffentlichkeit mit einem eigenen politischen Programm vorstellte.12 Dass Arana y Goiri aus einer Familie des alten städtischen Mittelstandes von Bilbao stammte, war kein Zufall, war diese alte Mittelschicht doch durch die Herausbildung einer neuen Oberschicht von Unternehmern auf der einen und ein städtisches Industrieproletariat auf der anderen Seite in eine soziale Abseitsposition geraten. Entsprechend blieb der PNV in Vizcaya zunächst eine Minderheitspartei mit begrenztem politischen Rückhalt, eingezwängt zwischen den weit einflussreicheren Parteien des liberalen Lagers und den Sozialisten. Erst allmählich gelang es ihm, eine breitere Gefolgschaft in jenen sozialen Gruppen und Schichten zu finden, deren Ängste und Interessen er in erster Linie ansprach: dem kleinen und mittleren Bürgertum, selbstständigen Arbeitern, Fischern und Bauern. Die anfangs begrenzte Resonanz der Partei hing auch mit den von ihrem Gründer propagierten politischen Ideen zusammen, von denen der sich über das ganze folgende Jahrhundert hinziehende Suchprozess nach einer angemessenen Selbstdefinition der baskischen Nation seinen Ausgang nahm. Es handelte sich um ein krauses Gemisch teils konservativer, teils auch progressiv anmutender ideologischer Versatzstücke, deren gemeinsamer Nenner darin bestand, das Rad der Geschichte nach Möglichkeit zurückzudrehen und vor allem die Folgen der Industrialisierung rückgängig zu machen. Was die zeitgenössischen baskischen Intellektuellen besonders gegen Arana y Goiri aufbrachte, war sein unverhohlener Rassismus, der u.a. darin zum Ausdruck kam, dass er alle negativen Begleitumstände der Industrialisierung den Zuwanderern, den maquetes, wie sie abwertend im baskischen Volksmund genannt wurden, anlastete. Zu diesen unerwünschten Nebenfolgen zählten z.B. eine vor allem in Bilbao zutage tretende gesteigerte Kriminalität sowie die Lockerung der Sitten. Beides war nach dem Begründer der nationalistischen Bewegung der zunehmenden Säkularisierung zuzuschreiben, die ihrerseits das Resultat der Vermengung der strenggläubigen Basken mit ihren weit weniger 12

Heiberg, The Making of the Basque Nation, S. 49 ff.; Solozábal, El primer Nacionalismo Vasco, S. 325 ff.

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katholischen Nachbarn war. Um all diesen Übeln wirksam zu begegnen, so der Vorschlag Arana y Goiris, müsse sich das Baskenland von Spanien lösen, seine Grenzen abriegeln und die Pflege der vernachlässigten eigenen Sprache sowie des vom Verfall bedrohten traditionellen moralischen Tugendkanons wieder aufnehmen.13 So weit in knappen Strichen das politische Programm des bis heute verehrten Gründungsvaters des baskischen Nationalismus, an dem allerdings bereits von ihm selbst gegen Ende seines kurzen Lebens einige pragmatische Abstriche gemacht wurden. Auch seine Anhänger und politischen Erben hielten nicht starr daran fest, hätte dies angesichts der Unumkehrbarkeit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung doch das baldige Aus für die junge Partei bedeutet. Sie weichten zunächst den Rassismus und den dogmatischen Katholizismus ihres Begründers auf, um ihre soziale Basis zu verbreitern. Später, unter der Diktatur Primo de Riveras (1921 –1930), als jegliche politische Betätigung eingestellt werden musste und sich der Schwerpunkt der Parteiarbeit in den sozialen und kulturellen Bereich verlagerte, näherte sich der PNV den christlich-sozialen Positionen jener Zeit an, was ihn für dem Katholizismus nahestehende Teile der Arbeiterschaft akzeptabel machte.14 Die Partei bewies auch beachtliche organisatorische und administrative Fähigkeiten, ein Zug, der umso mehr hervorsticht, als er im übrigen Spanien nicht sonderlich ausgeprägt war. Sie brachte in Vizcaya nicht nur eine gesetzliche Landreform auf den Weg, sondern sorgte auch für deren praktische Umsetzung durch vermehrte technische Hilfe für die Bauern sowie spezielle Versicherungen und Möglichkeiten der Kreditaufnahme für sie. Von all diesen Zugeständnissen an die Bedürfnisse ihrer Klientel und an die jeweilige politische Konstellation blieb ein intransigenter Grundzug des PNV als bleibendes Erbe seines Gründers unberührt. Er verlieh der Partei ein ambivalentes Profil, auf das noch zurückzukommen sein wird.15 13 14 15

Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 169 ff.; Heiberg, The Making of the Basque Nation, S. 50 f. Fusi, El País Vasco, S. 197 ff. Pablo/Mees, El péndulo patriótico, S. 463 ff.

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Gleichviel wie man das Wirken des PNV im Einzelnen einschätzt, bleibt festzustellen, dass seine frühe Gründung und allmähliche Etablierung von großem Vorteil für die Region war. Verlieh er doch den konservativen Kräften und Gruppen der baskischen Gesellschaft beizeiten eine Möglichkeit, sich öffentlich zu artikulieren. Damit wurde ein Auseinandersetzungsprozess zwischen progressiven und konservativen Teilen der baskischen Gesellschaft in Gang gesetzt, den man sowohl in Südkorea als auch in Argentinien vermisst und der dem von Peter Marris erhobenen Postulat der »Abarbeitung« des Vergangenheitsverlusts nahekommt, ohne die das kollektive Identitätsgefühl Schaden leidet.

Herausforderung »von außen«: die repressive Franco-Diktatur Das auf die Auslöschung der Basken als Volksgruppe abzielende Franco-Regime war die Hauptbedrohung, mit der sich die Minderheit nach dem Bürgerkrieg konfrontiert sah, aber es war nicht die einzige. Denn in den 1950er Jahren setzte erneut die für längere Zeit unterbrochene Industrialisierung ein. Die zweite Industrialisierungswelle beschränkte sich nicht auf den Großraum von Bilbao, sondern erfasste auch kleinere Städte Vizcayas und die Nachbarprovinz Guipuzcoa. Ihre Folge war eine weitere Schrumpfung des landwirtschaftlichen Sektors, während neben dem verarbeitenden Gewerbe der Dienstleistungssektor laufend neue Arbeitskräfte aufnahm. Das bedeutete einerseits einen weiteren Schlag für das eng mit dem ruralen Milieu verbundene traditionelle Selbstverständnis der Basken, doch gleichzeitig wurde ihre wirtschaftliche Führungsrolle innerhalb Spaniens bestätigt, und der Lebensstandard in der Region erhöhte sich beträchtlich. Zusammen mit Katalonien nahm das Baskenland, was das Durchschnittseinkommen betrifft, weiterhin den ersten Rang unter den spanischen Provinzen ein und rangierte auch hinsichtlich anderer Modernisierungsindikatoren weit vorn. Ähnlich wie am Ende des 19. Jahrhunderts zog die Region als industrieller Wachstumspol einen Strom von Zuwanderern aus den Nachbarprovinzen an, erneut ergab 233

sich gegen 1970 die Situation, dass ein Großteil der im Baskenland Sesshaften entweder selbst außerhalb desselben geboren war oder von zugezogenen Eltern abstammte. Die Lage näherte sich, mit anderen Worten, stark den Verhältnissen an, die 70 Jahre früher den Anstoß für die Gründung einer nationalistischen Bewegung gegeben hatten.16 Allerdings nahm die Wiederholung eines vertrauten Szenarios dem erneuten industriellen Aufschwung samt seinen unliebsamen Begleiterscheinungen, wie der zunehmenden Umweltverschmutzung, einen Gutteil seiner Brisanz. Die Hauptgefahr ging nunmehr von dem Franco-Regime aus, das eine konsequente Politik der Unterdrückung und Gleichschaltung der kleinen Ethnie verfolgte. Dabei dürfte bei Franco einerseits das Rachemotiv gegenüber den Provinzen Vizcaya und Guipúzcoa eine Rolle gespielt haben, die sich in der Schlussphase des Bürgerkriegs dem republikanischen Lager angeschlossen hatten; zum anderen mochte ihm die Gelegenheit günstig erscheinen, um die für das Militär typische Zielvorstellung eines nationalen Einheitsstaates zu realisieren. Die repressiven Maßnahmen setzten unmittelbar nach der militärischen Eroberung des Baskenlandes ein: Hunderte von Personen wurden hingerichtet, Tausende eingesperrt, wenn sie sich vor der Verfolgung nicht durch die Flucht ins Exil retteten. Die öffentliche Verwaltung wurde »gesäubert«, sämtliche Beamten durch Funktionäre aus anderen Teilen Spaniens ersetzt. Alle Zeugnisse der Regionalkultur wurden entfernt, zerstört, verboten. Aus Buchhandlungen und Bibliotheken verschwanden die Druckerzeugnisse in der Regionalsprache. Institute, die sich der Pflege der baskischen Kultur und Tradition gewidmet hatten, mussten schließen, Straßen- und Geschäftsnamen mussten ins Spanische übersetzt werden. Der Gebrauch des Baskischen bei Behörden und im öffentlichen Leben wurde mit Strafen belegt, das Euskera konsequent aus dem Erziehungswesen verbannt. Der Unterricht an staatlichen Schulen wurde von Lehrern aus anderen Gebieten Spaniens übernommen, den Kindern war sogar die Verständigung untereinander in ihrer Muttersprache untersagt.17 16 17

Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 182 ff. Ebd., S. 183.

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Darüber hinaus ergriff die Zentralregierung jede erdenkliche Maßnahme, um den inneren Zusammenhalt der Region und ihren wirtschaftlichen Einfluss auf das restliche Spanien zu schwächen. So wurde auch der erneute industrielle Aufschwung ab Mitte der 1950er Jahre von staatlicher Seite nicht unterstützt, sondern eher abgebremst. Die baskischen Provinzen wurden ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen nach militärischen und administrativen Gesichtspunkten zerteilt und unterschiedlichen Gebietseinheiten zugeordnet, um jeden Zweifel darüber auszuräumen, dass es aus Regierungssicht kein Baskenland gab. Die Region wurde finanziell kräftig zur Ader gelassen, die von ihr an das Zentrum abgeführten Steuern lagen deutlich über den von der Zentralverwaltung für lokale Zwecke zur Verfügung gestellten Summen. Das war einer der Gründe, warum es um den Ausbau der Infrastruktur in den baskischen Provinzen schlecht bestellt war und dem stürmischen Wirtschaftswachstum ab den 1960er Jahren eklatante Mängel im Gesundheits- und Erziehungswesen sowie in der Einrichtung von Sport- und Freizeiteinrichtungen gegenüberstanden. Wie reagierte die Bevölkerung auf die staatliche Unterdrückungskampagne und die Negierung ihrer ethnisch-kulturellen Identität? Der Versuch, sich zu wehren, nahm im Wesentlichen drei Formen an. Die erste bestand in der stillschweigenden, manchmal auch die Form offener Rebellion annehmenden Verweigerungshaltung gegenüber einem Regime, das die Ethnie nicht anzuerkennen bereit war.18 Sie lässt sich exemplarisch an der hohen Zahl von Enthaltungen bei den politischen Referenden ablesen, die das Regime in größeren zeitlichen Abständen abhielt: 1947 bei 9,8 Prozent für das Baskenland liegend, steigerte sich dieser Prozentsatz 1966 auf 19,4 Prozent und lag 1976, unmittelbar nach Francos Tod, bei 42,8 Prozent. In dieser Steigerung spiegelte sich die wachsende Ablehnung, auf die das Regime beim Gros der baskischen Bevölkerung stieß. Deren Unmut wurde bisweilen auch offen in Form von Manifestationen zum Ausdruck gebracht, beispielsweise bei den Feiern zum wichtigsten patriotischen Fest, dem Aberri Eguna am Ostersonntag, das jedes Mal in einer ande18

Nuñez, Clases sociales en Euskadi, S. 7 ff., bezeichnet diese Haltung als »Negation der Negation«.

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ren Stadt stattfand. Darüber hinaus wurde das öffentliche Leben im Baskenland zwischen 1970 und 1975 fünf Mal durch politische Generalstreiks lahmgelegt. An diesen Streiks, mit denen u.a. gegen drohende Todesurteile für baskische Freiheitskämpfer protestiert wurde, beteiligten sich nicht nur Arbeiter und Angestellte, sondern auch Handwerker, Ladeninhaber, Geschäftsleute und kleine Unternehmer, kurz die gesamte Mittelschicht.19 Eine zweite Abwehrstrategie bildete der Rückzug aus dem vom Staat beherrschten öffentlichen Raum in die vielfältigen Gruppen und Vereine der Zivilgesellschaft. Wie eingangs erwähnt, ist im Baskenland mangels eines verlässlichen Staates die Bereitschaft zur organisatorischen Eigeninitiative sehr ausgeprägt. Die ganze Region war zur Franco-Zeit von einem dichten Netzwerk von Verbänden, Klubs und sonstigen Zusammenschlüssen aller Art überzogen, deren Ausrichtung von gewerblichen Zwecken über die Bildung bis hin zu sportlichen Aktivitäten, Wandervereinen und Volkstanzgruppen reichte. Ein gutes Beispiel lieferte insoweit das Schulwesen. Nachdem vom Regime alle öffentlichen Schulen unter staatliche Kontrolle gestellt worden waren, entstanden nach und nach in den meisten Ortschaften auf private Initiative hin baskische Schulen (ikastolas). In ihnen machten baskische Lehrer die Kinder in deren Mutteridiom mit jenem Lehrstoff vertraut, den sie für relevant hielten. Im Ergebnis hatte der Versuch des Regimes, die Minderheit auszulöschen, eher das Gegenteil, nämlich deren Konsolidierung, zur Folge. Die Basken vermieden nach Möglichkeit jeden Kontakt mit den offiziellen Stellen und zogen sich in soziale Räume und Gruppen zurück, in denen sie »unter sich« waren, sich ungezwungen äußern konnten. Das konnte, wie im Fall der baskischen Kleinstadt Elgeta, so weit gehen, dass neben den offiziellen staatlichen Institutionen eine komplette Parallelstruktur entstand, welche die meisten Bedürfnisse und Funktionen des Gemeinwesens abdeckte.20 Handelte es sich bei den ersten beiden Abwehrstrategien um defensive Formen kultureller Selbstbehauptung, so stellte die dritte den 19 20

Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 185 ff. Heiberg, The Making of the Basque Nation, S. 224 f.

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Versuch dar, dem Franco-Regime offensiv, durch Gewaltanschläge, die Stirn zu bieten. Ihr Hauptträger war die Untergrundorganisation ETA (Euskadi ta Akatasuna, Baskenland und Freiheit). Die Ursprünge der ETA gehen auf die 1950er Jahre zurück, als sich eine Gruppe von Studenten regelmäßig an der Universität Deusto in Bilbao traf, um die baskische Kultur und Sprache zu pflegen. Später vereinigte sie sich vorübergehend mit der Jugendorganisation des PNV, dessen Führung, um der Verfolgung durch das Franco-Regime zu entgehen, nach Paris ins Exil ausgewichen war. Als ein mit den Vertretern der baskischen Exilregierung in Paris geführtes Vermittlungsgespräch, um Spannungen auszuräumen, scheiterte, machten sich die jungen Patrioten selbstständig und gründeten die ETA .21 Wenngleich die Entwicklung der ETA von heftigen theoretischen Disputen begleitet war, einigte man sich doch auf einige Prinzipien, in denen sie sich klar von der durch den PNV vertretenen traditionellen nationalistischen Position absetzte. Zum einen verzichtete sie auf die bisher zentralen ideologischen Grundpfeiler des Katholizismus und des Antikommunismus und nahm stattdessen linkes Ideengut in ihren Zielkatalog auf. Zum anderen hielt sie nicht länger an legalen parlamentarischen Methoden zur Verteidigung der Belange des Baskenlandes fest, sondern bekannte sich offen zur Gewaltanwendung als einzig möglichem Weg, um sich gegen die repressive Diktatur zur Wehr zu setzen.22 Es bedurfte indes einiger Jahre, bevor die ETA ihren kühnen Ankündigungen Taten folgen ließ. Zunächst baute sie im französischen Teil des Baskenlandes, also jenseits der Grenze, ein Refugium auf und trat in den spanischen baskischen Provinzen nur durch das Verteilen von Flugblättern und das Bemalen von Wänden mit baskischen Sprüchen in Erscheinung. Ab 1967 steigerte sich ihre Militanz. Die Zahl der Angriffe auf öffentliche Einrichtungen, der Banküberfälle und Sprengstoffanschläge nahm rasch zu. Als 1968 ein ETA -Mitglied durch die Polizei getötet wurde, schlug die Organisation sofort zurück und brachte als Revanche einen als notorischer Folterer bekannten Polizeioffizier um. Damit setzte eine nicht mehr aufzuhaltende Spi21 22

Elorza, La historia de ETA . Fusi, El País Vasco, S. 211.

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rale von Angriffen auf das Regime und Repressionsakten desselben ein, die nach Francos Tod in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreichte und noch zwei weitere Jahrzehnte den Konflikt anheizte, bevor sich dessen Dynamik erschöpfte. Der spektakulärste Schlag der Gewaltorganisation gegen die Diktatur war die Ermordung Carrero Blancos, der Francos Nachfolge antreten sollte.23 Ethnische Minderheiten finden sich im Laufe der Zeit mit der tendenziellen Zurücksetzung gegenüber der Mehrheitsbevölkerung des jeweiligen Nationalstaats ab. Was ihnen eine gewisse Sicherheit verleiht, ist häufig der Umstand, dass sie sich innerhalb eines Teilgebietes konzentrieren, wo sie dominant sind und ungestört ihre Traditionen pflegen und sich entfalten können. Wird ihnen dieser Siedlungsraum streitig gemacht, sei es durch eine Welle von Zuwanderern, sei es durch die Politik der Zentralregierung, so werden sie rebellisch. Die baskische Exilregierung des PNV in Paris war durch die doppelte Bedrängnis, in welche das Baskenland durch einen zweiten Zuwanderungsschub von außen und vor allem durch den repressiven Zugriff der Franco-Diktatur auf die Region geriet, überfordert. Nachdem sich ihre Hoffnung zerschlagen hatte, die Alliierten würden den spanischen Alleinherrscher als letztes Überbleibsel der faschistischen Epoche zum Rücktritt zwingen, blieb ihr nichts anderes übrig, als im Ausland das »natürliche« Ende des Regimes abzuwarten. Auch die ETA konnte dieses mit ihren Anschlägen nicht ernsthaft gefährden, sondern allenfalls seine Verletzlichkeit demonstrieren. Das Hauptverdienst der Gewaltorganisation aus baskischer Sicht war primär symbolischer Natur: Die jungen Basken, die sich ihr anschlossen, bewiesen unter Einsatz ihres Lebens, dass sie nicht bereit waren, widerstandslos die ihrem Volk zugefügte Demütigung und Schmach hinzunehmen. Das machte sie in den Augen der meisten Basken zu Helden. Mit ihrem Sichaufbäumen gegen die Diktatur retteten sie für viele die kollektive Ehre und Würde der ethnischen Gemeinschaft. Aus diesem Grund zögerte ein Großteil der Bevölkerung, der ETA den Rücken zu kehren, als mit dem Übergang Spaniens zur Demokratie der ur23

Waldmann, Katalonien und Baskenland, S. 190; Waldmann, Ethnischer Radikalismus.

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sprüngliche Grund für das Aufbegehren der Region gegen die Zentralregierung entfallen war. Rückblickend stellt sich die steile Karriere der ETA als eine durch Ausnahmebedingungen diktierte besondere Phase in der Entwicklung des baskischen Nationalismus dar. Anschließend übernahm erneut der PNV die Rolle des Hauptrepräsentanten der Bewegung, die er bereits vor dem Franco-Regime innegehabt hatte.

Die Komplementarität von industrieller Entwicklung und konservativer Selbstvergewisserung Ethnische Minderheiten, die keinen staatlichen Schutz genießen, verfügen, wie eingangs bemerkt, oft über gesteigerte Selbsthilfekräfte und eine größere innere Solidarität als nationalstaatlich organisierte Gesellschaften. Das schließt innere Spannungen nicht aus. Das Verhältnis zwischen den Küstenstädten des Baskenlandes und den ruralen Zonen der Region ist ein Beispiel solch innerer Auseinandersetzungen. Lange Zeit weitgehend voneinander getrennt, traten in jüngerer Zeit diese beiden Teilwelten der baskischen Ethnie zunehmend in einen engeren Kontakt zueinander. Das hatte zur Folge, dass einerseits die divergenten Interessenlagen und die Mentalitätsunterschiede zwischen ihnen deutlicher hervortraten, doch es erhöhte andererseits auch die Chance, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu befruchten. Mit dieser Betrachtungsweise wird ein Gegenstandpunkt zu jenen Autoren vertreten, welche die Essenz der Ethnie einseitig an der traditionellen Moralökonomie des basería-Systems mit seinem mythologisch überhöhten Gleichheitsdenken festmachen wollen und damit die dynamische Bourgeoisie der baskischen Städte aus der ethnischen Gemeinschaft ausklammern. Gewiss, es gab baskische Unternehmer, hohe Beamte, auch Intellektuelle und Vertreter der Geistlichkeit, die sich mehr mit Gesamtspanien und Madrid als mit ihrer Heimat identifizierten. Den städtischen Sektor insgesamt auszusparen, würde der Ethnie jedoch eine Einheitlichkeit und Geschlossenheit unterstellen, welche in der empirischen Realität keine Entsprechung finden. Viel239

mehr ist davon auszugehen, dass wir es mit zwei unterschiedlichen Anpassungsstrategien ein und desselben Volksstammes an die jeweiligen Umweltbedingungen zu tun haben, der im Übrigen jedoch durch gemeinsame Merkmale, wie dieselbe Sprache, gewisse Institutionen und traditionelle Gebräuche, geeint blieb. Weit davon entfernt, der Ethnie langfristig geschadet zu haben, hat sich die aufgezeigte Bipolarität eher positiv für sie ausgewirkt. Sie hat ihr, verglichen mit homogeneren ethnischen Minderheiten, eine besondere Flexibilität verliehen und die Kapazität, sich auf unterschiedliche Konstellationen und strukturelle Veränderungen einzustellen. Dieser Zug hat sich vor allem in der jüngeren Geschichte bewährt, die durch politische Turbulenzen sowie erhebliche innere Entwicklungsdiskrepanzen und soziale Verwerfungen gekennzeichnet war. Etwas stichwortartig verkürzt bietet sich die These an, dass es in dieser Zeit zu einer Art informeller Arbeitsteilung zwischen dem städtischen und dem ruralen Pol des spanischen Baskenlandes gekommen ist: Die städtische Bourgeoisie vertrat den dynamischen Flügel der Ethnie; sie sorgte dafür, dass die Region wirtschaftlich nicht zurückfiel, sondern in ihrem Entwicklungstempo mit den Wachstumsraten der Industriestaaten mithalten konnte und an diese Anschluss fand. Dagegen stand der in der Defensive befindliche rurale und kleinstädtische Sektor für das Beharren auf traditionellen Wertmustern und Gebräuchen und die unverminderte Wertschätzung, die diesen entgegengebracht wurde. Ihm war es zu danken, dass es nicht zu einer Identitätsspaltung kam, sondern ein Großteil traditioneller Überzeugungen und sozialer Interaktionsmuster von der modernen baskischen Gesellschaft übernommen wurde und in sie einging. Die beiden Pole standen einander nicht länger gegenüber, sie begannen sich zu vermischen und einander ihren jeweiligen Stempel aufzudrücken. Wie wichtig die Industrialisierungsschübe für die Region waren, lässt sich mithilfe eines Gedankenexperiments aufzeigen. Nehmen wir an, es hätte sie nicht gegeben, was wäre dann aus dem Baskenland geworden? Es wäre zwar nicht verarmt, jedoch, ähnlich wie die baskischen Provinzen in Südfrankreich oder die Bretagne weiter im Norden Frankreichs, eine relativ rückständige, jeglicher Frische und 240

Dynamik entbehrende, in ihrem Selbstverständnis und ihren Gewohnheiten in der Vergangenheit verhaftete, auf Zuschüsse des Zentralstaats angewiesene Region geblieben, die allenfalls Touristen angezogen hätte. Tatsächlich hat sich der Industrialisierungsprozess ja nicht auf die großen Küstenstädte und Alava (die Hauptstadt der Provinz Vitoria) beschränkt, sondern ist bis weit in die kleineren Städte des Hinterlandes vorgedrungen. Ihm ist es zuzuschreiben, dass die Infrastruktur, das Bildungswesen und der Dienstleistungssektor nach modernsten Standards ausgebaut werden konnten und die notwendigen Investitionen bereitstanden, um dem kulturellen und künstlerischen Bereich zu neuer Blüte zu verhelfen. Hier kommt der zweite Pol, die Bemühungen um die Wahrung des soziokulturellen Erbes, ins Spiel. Dabei konnte das Baskenland an eine reiche Vergangenheit, was die Musik, den Sport, die Bildhauerei oder die Architektur angeht, anknüpfen. In sozialer Hinsicht ist besonders eindrucksvoll, wie sich bestimmte Gemeinschaftsformen und der zahlreiche Assoziationsformen bestimmende Gleichheitsgedanke bis heute erhalten haben. Das Baskenland ist diejenige Region, in welcher, mehr als anderswo in Spanien, der aus dem germanischen Recht stammende Genossenschaftsgedanke eine besondere Verbreitung gefunden und teilweise sogar in der verarbeitenden Industrie Fuß gefasst hat. Marianne Heiberg berichtet von einem Fall in der von ihr untersuchten Kleinstadt Elgeta, in der etliche Arbeiter einer Möbelfabrik, des autoritären Führungsstils des Fabrikinhabers überdrüssig, diesem kündigten und gemeinsam eine Produktionsgenossenschaft gründeten, in der zumindest in der ersten Phase alle gleichberechtigt waren und die gleiche Bezahlung erhielten.24 Ein weiteres Beispiel sind die sogenannten Kulinarischen Gesellschaften, klubähnliche Vereine, in denen sich Männer regelmäßig treffen, um miteinander zu kochen und zu speisen. Auch in diesen Vereinen, die sich ausgehend von San Sebastián über das ganze Baskenland verbreitet haben, gilt das strikte Gleichheitsprinzip. Wohlhabenden Mitgliedern ist es verwehrt, dem Verein etwa durch zusätzliche Spenden aus einem finanziellen Eng-

24

Heiberg, The Making of the Basque Nation, S. 209.

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pass herauszuhelfen, um jeder Art von einseitiger Abhängigkeit vorzubeugen.25 Die gegenseitige Annäherung und teilweise Durchdringung der ehemals gegensätzlichen Lebenswelten bedeuten nicht, dass sie fusionierten. Mit der für diese Ethnie bezeichnenden Beharrlichkeit wurde an gegensätzlichen Positionen festgehalten, selbst wenn man zu Adhoc-Zugeständnissen bereit war. Nach wie vor existieren streng hierarchische Organisationsstrukturen neben flachen Assoziationsformen, plädieren Gruppen für die Loslösung der Region von Spanien, während andere sich mit den derzeit gültigen Autonomiestatuten zufriedengeben, sind Dogmatismus und Xenophobie verbreitete Einstellungen. Die Plattform, auf der diese Gegensätze ausgetragen wurden und weiter ausgetragen werden, ist die Baskische Nationalistische Partei, der PNV. Wie Pablo und Mees aufgezeigt haben, stellt er ein zutiefst hybrides Gebilde dar, hin- und hergezogen zwischen gegensätzlichen Positionen sowie häufig einer vollmundigen, aufs Ganze gehenden Rhetorik und einer weit zahmeren, zu Kompromissen bereiten politischen Praxis.26 Man kann diese pendelartig zwischen unterschiedlichen Standpunkten schwankende Politik kritisieren, sie als Ausdruck von Schwäche der Partei verstehen, die unfähig war, ihre Anhänger auf einen bestimmten Kurs festzulegen. Man kann aber auch ein Verdienst darin sehen, dass es ihr ungeachtet der multiplen Anforderungen, mit denen die Region in den letzten 100 Jahren konfrontiert war, gelungen ist, eine Spaltung des nationalistischen Lagers zu vermeiden und seine verschiedenartigen Kräfte in einer Organisation zu bündeln. Das spanische Baskenland liefert in dem Dreiersample den Beweis dafür, dass die nachholende industrielle Entwicklung einer Region und ihr Identitätsverständnis nicht auseinanderdriften müssen. Das ist eine beachtliche Leistung, die jedoch ihren Preis hatte und nicht frei von gewissen Schwächen und Nachteilen ist. Zum Preis, der dafür entrichtet werden musste, zählen der beschleunigte Niedergang des ruralen Sektors und die lange Blutspur, die der Terrorismus der 25 26

Hess, Reluctant Modernization, S. 129 f. Pablo/Mees, El péndulo patriótico.

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ETA nicht nur bei den Sicherheitskräften und politischen Vertretern

des Zentralregimes, sondern auch bei den Basken selbst hinterlassen hat. Die Hauptschwäche des baskischen Modells einer Kombination von wirtschaftlichem Fortschritt und Traditionswahrung besteht darin, dass die Zuwanderer in diesen Kompromiss nicht eingeschlossen sind. Obwohl offenkundig ist, dass das baskische Wirtschaftswunder ohne einen massiven Zustrom von Arbeitskräften aus den angrenzenden Provinzen nicht möglich gewesen wäre, zählten die Migranten lange Zeit für die Basken nicht. Der ausgeprägte Ethnozentrismus des kleinen Volkes, in dem in abgeschwächter Form der Rassismus des Begründers des PNV, Sabino y Arana, fortlebt, erhielt in der Franco-Ära, als sich aufgrund des von Madrid ausgeübten Drucks ein heftiges Ressentiment gegen alles Spanische entwickelte, zusätzliche Nahrung. Doch Franco ist seit 40 Jahren tot, der Region wurde inzwischen ein Großteil der Rechte zugestanden, um die sie fast hundert Jahre lang vergeblich gekämpft hatte. Es bleibt abzuwarten, ob im Zuge der »Normalisierung« der Beziehung zu Madrid auch hinsichtlich der Behandlung der Zuwanderer, die teilweise schon in der dritten oder vierten Generation in der Region ansässig sind, der pragmatische Geist der Basken obsiegt, sodass sie sie wie ihresgleichen behandeln.

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Zwischenbilanz 3 Bei der dritten Teiluntersuchung zur Wirkweise des konservativen Impulses standen nicht Individuen oder ein gesellschaftlicher Teilbereich, die Politik, zur Debatte, sondern Gesellschaften in ihrer Gesamtheit, die sich auf den Pfad beschleunigter nachholender Entwicklung begeben hatten. Der infrage stehende Prozess dauerte meist länger als politische Umbrüche; ein Zeitraum von zwei bis drei Jahrzehnten war die Regel. Technischer und wirtschaftlicher Fortschritt gelten als begrüßenswert, da sie eine Linderung von Armut und materieller Not, die Anhebung des allgemeinen Lebensstandards sowie den Einschluss breiter Bevölkerungsschichten in die moderne Konsumgesellschaft versprechen. Sozioökonomischen Entwicklungsprozessen wird außerdem eine Eingleisigkeit unterstellt, die den Rückfall in frühere Stadien der Unterentwicklung ausschließt. Aus beiden Gründen bieten sie konservativen Bestrebungen auf Anhieb geringe Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht von ungefähr geht die Theorie der Pfadabhängigkeit, in der eine gewisse Verwunderung ihren Niederschlag findet, dass nicht alle Kostensenkungen versprechenden technischen Innovationen unverzüglich von Unternehmen übernommen werden, auf die Wirtschaftswissenschaften zurück.1 Allenfalls das beschleunigte Tempo, in dem Prozesse nachholender wirtschaftlicher Entwicklung ablaufen, oft ablaufen müssen, um eine Erfolgschance zu haben, mag Widerstände und Versuche, diese Prozesse zu bremsen, auslösen. Das Überspringen oder Beiseiteschieben von Barrieren, die sich aus traditionellen Einstellungen, Überzeugungen und Praxisgewohn1

Castaldi/Dosi, The Grip of History.

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heiten ergeben, führt jedoch nicht zu deren automatischer Löschung im kollektiven Gedächtnis. Vereinfacht lautet das Resultat der vergleichenden Analyse, dass Gesellschaften, die sich, vom Fortschrittsmythos beflügelt, in einen Prozess nachholender beschleunigter Entwicklung stürzen, regelmäßig von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Dabei muss man sich vor vereinfachenden deterministischen Kausalannahmen etwa der Art hüten, Wirtschaft und Technik drängten einseitig nach vorne, während Kultur und traditionelles Selbstverständnis sich stets hemmend auf Entwicklungsfortschritte auswirkten. Wie der Fall Südkorea zeigt, können auch aus der Tradition herleitbare mentale Muster dem wirtschaftlichen Aufholprozess dienlich gemacht werden. Um der differenzierten Wirkung in der Vergangenheit wurzelnder Werthaltungen und Leitbilder gerecht zu werden, bietet es sich an, auf die bereits wiederholt angesprochene Unterscheidung zwischen sozioökonomischer Entwicklung als »äußerlichem« Prozess und dem kollektiven Identitätsmanagement als seinem »inneren« Pendant zurückzugreifen. Wir lassen die drei Fälle unter Anwendung dieses Analyserasters nochmals kurz Revue passieren, um abschließend ein Fazit in der Form eines Plädoyers für die Rehabilitierung der sogenannten Moral-Economy-Theorie zu ziehen. Südkorea war, wie Ezra F. Vogel unterstrich, ein »später Spätentwickler« (late late developer), der seine sämtlichen Kräfte aufbieten musste, um die fortgeschrittenen Industrienationen einzuholen.2 Das Zeitraffertempo des Aufholprozesses ließ nur wenig Spielraum für prinzipielle Auseinandersetzungen, an welchen Traditionen festzuhalten und welche aufzugeben seien. Die ehrgeizigen Zukunftspläne der politischen Führung sprachen im Zweifel für eine En-bloc-Übernahme japanischer bzw. nordamerikanischer oder europäischer Entwicklungsmodelle. Diese Übernahme verlief umso reibungsloser, als auf der politischen Machtebene kein nennenswerter Widerstand gegen den von der Offiziersclique um Park repressiv implementierten Kurs nachholender exportorientierter Industrialisierung aufkam. Nachdem die über Jahrhunderte hinweg tonangebende Oberschicht der Yangban 2

Vogel, The Four Little Dragons.

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durch das japanische Besatzungsregime politisch ausgeschaltet worden war, um dann im Zuge der Landreform in den 1950er Jahren auch ihre wirtschaftliche Vorzugsstellung einzubüßen, gab es keine Kraft mehr, die das Modernisierungsprojekt hätte aufhalten können. Die versprengten Reste der Yangban-Klasse förderten dieses im Gegenteil zusätzlich, indem sie oft, gleichsam über Nacht, zu Industrieunternehmern mutierten und ihr überlegenes Wissen sowie ihre Beziehungsnetzwerke in den Dienst der neuen Vision nationaler Entwicklung stellten. Auf der kulturellen Ebene lagen die Dinge komplizierter. Einerseits gab es, wie schon beschrieben, eine Reihe von im traditionellen konfuzianischen Tugendkanon wurzelnden Einstellungen und Werthaltungen, die sich in den Dienst des wirtschaftlichen Aufholprojektes stellen ließen. Dazu zählten das Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein der Eliten, die allgemeine Wertschätzung von Bildung, Selbstdisziplin und Effizienz, schließlich auch der Vertrauensvorschuss und eine prinzipielle Unterordnungsbereitschaft der breiten Bevölkerung gegenüber den staatlichen Machtträgern. Diese mentalen Dispositionen wurden gemäß dem bereits von Peter Marris aufgezeigten Transformationsmechanismus aus ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang herausgerissen, »entkontextualisiert« und damit für neue Ziele verfügbar gemacht. Es bestanden jedoch andererseits auch einige kulturelle Traditionsinseln fort, die, teils links liegen gelassen, teils weiter gepflegt, den abrupten Wandel abfederten. Dazu zählten das Schamanentum, dem in der privaten Sphäre große Bedeutung zukam, die weiterhin verbindliche hierarchische innerfamiliäre Struktur und die prinzipielle Unterordnung des Einzelnen unter das Wohl des sozialen Kollektivs. Was die sozioökonomische Entwicklung angeht, so war die südkoreanische Entwicklungsdiktatur erfolgreich. Südkorea ist der Sprung zur industriellen Exportnation gelungen, das Land zählt heute zum begrenzten Kreis etablierter Industrieländer. Hinsichtlich des zweiten Kriteriums, des Identitätsmanagements, fällt die Bilanz dagegen gemischter aus. Im Zuge des akzelerierten wirtschaftlichen Wachstums hat die südkoreanische Gesellschaft großenteils jene kulturellen Reserven aufgezehrt, die Voraussetzung dieses Wachstums waren. Dieses 246

paradoxe Fazit lässt sich gut am Identitätsverständnis selbst demonstrieren. Wie bereits Albert Hirschman, der bekannte Entwicklungsökonom, unterstrichen hat, zählt eine intakte kollektive Identität zu den die Chancen einer erfolgreichen nachholenden Entwicklung steigernden Bedingungen.3 Für Südkorea, das auf eine weit zurückreichende kulturelle und politische Eigentradition zurückblicken konnte, war die ausgeprägte ethnische Solidarität und das daraus erwachsende Nationalbewusstsein sicher einer der zentralen, den Entwicklungssprung ab den 1960er Jahren ermöglichenden Faktoren. Dieser Sprung wiederum hat zwar einerseits das kollektive Selbstbewusstsein gestärkt, jedoch andererseits Sekundärwirkungen gezeitigt, die das gemeinsame Identitätsverständnis infrage stellen, wie sowohl den hohen Selbstmordraten als auch anderen Indikatoren, die auf anomische Entwicklungen in der südkoreanischen Gesellschaft hindeuten, zu entnehmen ist. Die Vergangenheit hat die südkoreanische Gegenwartsgesellschaft in zweifacher Hinsicht eingeholt. Zum einen hat die Instrumentalisierung traditioneller Einstellungen durch das Militärregime zu einer Übersteigerung dieser Charaktereigenschaften geführt, die dem Fortgang der Modernisierung abträglich war. So war der an alte autokratische Herrschaftsmuster anknüpfende repressive Autoritarismus der Diktatur für den in den 1980er Jahren einsetzenden Demokratisierungsprozess alles andere als förderlich. Und die den Koreanern nachgerühmte, auf den Konfuzianismus zurückgehende Tugend der Selbstdisziplin verwandelte sich im Rahmen der ab 1960 verstärkt implementierten kapitalistischen Marktwirtschaft in ein ausgefeiltes System der Selbstausbeutung, das den Menschen keine Zeit mehr für Ruhe und Muße lässt. Doch auch die im Zuge forcierter Industrialisierung überspielten oder beiseitegeschobenen Wertorientierungen und überlieferten Gewohnheiten sind dadurch nicht von der Bildfläche verschwunden, sondern ragen, zumindest in rudimentärer Form, wie Relikte aus einer anderen Zeit, in die vom Geist des liberalen Individualismus geprägte Moderne hinein. Dies gilt für das Primat des Kollektivs gegenüber 3

Hirschman, Entwicklung, Markt und Moral, S. 275.

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dem Einzelnen, den Vorrang konkreter Personenverbände gegenüber abstrakten Prinzipien und für den Vorzug, der informellen Vertrauensbeziehungen gegenüber sanktionsbewehrten Rechtsvorschriften gegeben wird. Die in diesen strukturellen Antinomien enthaltenen Spannungen wurden selten thematisiert, geschweige denn systematisch abgearbeitet. Dass sie sich von selbst auflösen werden, ist unwahrscheinlich. Eher ist damit zu rechnen, dass »alte« und »neue« Elemente, interessenbedingt, zu Allianzen zusammenfinden, die äußerst zählebig und schwer kontrollierbar sein könnten. In Argentinien schienen die Voraussetzungen nachholender Entwicklung, von außen betrachtet, weit günstiger als im Fall Südkoreas zu sein. Handelte es sich doch um ein dünn besiedeltes, reich mit natürlichen Ressourcen aller Art ausgestattetes Land mit einer ethnisch homogenen Bevölkerung, die sich nach Herkunft und Selbsteinschätzung als aufs engste mit der westeuropäischen Zivilisation verbunden verstand. In diesem Fall gaben jedoch mentale, eng mit der politischen und kulturellen Tradition des Landes verbundene Dispositionen und Orientierungen, anders als in Südkorea, den Ausschlag dafür, dass die Pläne akzelerierter Entwicklung allenfalls kurzfristig Erfolge zeitigten und letztlich scheiterten. Das galt sowohl für den vielversprechenden ersten Anlauf in den 1880er Jahren als auch für den zweiten Versuch im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg unter Perón. Der erste Anlauf scheiterte daran, dass die Oberschicht, von der die Initiative für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierungsprojekt ausging, es zwar geschickt verstand, sich mit der argentinischen Nahrungsmittelproduktion in den aufblühenden Welthandel einzufädeln, und einige bemerkenswerte Reformen zustande brachte, jedoch letztlich zu sehr in partikularistischem Interessendenken befangen war, um die Nation insgesamt auf den Pfad nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung zu bringen. Die übermäßige Fixierung auf begrenzte Gruppeninteressen war das unerfreuliche Vermächtnis, das sie den später an die Macht kommenden sozialen Schichten hinterließ. Diese bestanden großenteils aus den Nachkommen von Migranten, die ohnedies primär nach Argentinien gekommen waren, um dort als Einzelne oder Familien ihr Glück zu machen. Wahrscheinlich 248

wurden zudem in der optimistischen Grundstimmung der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und aufgrund der scheinbaren Mühelosigkeit, mit der sich aus dem transnationalen Handel große Gewinne ziehen ließen, die Schwierigkeiten des Aufholprozesses gegenüber den europäischen Industrienationen erheblich unterschätzt. Insoweit schienen die Aussichten bei dem zweiten Versuch, zu den fortgeschrittenen Industrieländern aufzuschließen, nach dem Militärputsch von 1943 weit günstiger zu sein. Argentinien war »gereift«, sich seiner wirtschaftlichen und politischen Verletzlichkeit sowie der erforderlichen Anstrengungen, um mit den Industrienationen gleichzuziehen, stärker bewusst als zuvor. Der Krieg hatte die wirtschaftliche Außenabhängigkeit des Landes gelockert und der nationalen Industrie neue Absatzchancen eröffnet. Mit Perón und der ihn umgebenden Offiziersclique bemächtigte sich erstmals eine Gruppe der Herrschaft, die an keine soziale Schicht gebunden war. Perón, international erfahren, war mit dem Instrumentarium nachholender Industrialisierung vertraut und startete in seine erste Regierungszeit mit vielversprechenden Fünfjahresplänen. Warum musste das mit einem satten Devisenvorrat aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene Land dann fünf Jahre später bei einer Bank seines Erzrivalen, der USA , um die Gewährung eines Kredites nachsuchen? Vordergründig lassen sich für das Zusammenbrechen der ehrgeizigen Entwicklungsvision Peróns zwei Gründe nennen, hinter denen als eigentliche Kausalvariable eingerastete Strukturmuster der politischen Kultur des Landes stehen. Erstens sind Zweifel daran angebracht, ob die Lektion aus früheren wirtschaftlichen Engpässen, z.B. der Weltwirtschaftskrise, einschneidend und nachhaltig genug war, um die Illusion zu zerstören, die günstige Gelegenheit, nicht Fleiß und eigene Bemühungen seien der Schlüssel zu allgemeinem Wohlstand. Zweitens bestand Perón im Unterschied zu Park in Südkorea darauf, seine politische Macht durch ein demokratisches Wahlprozedere zu legitimieren. Von der Oberschicht und der Mittelschicht als einer der letzten Repräsentanten des im Weltkrieg unterlegenen Faschismus angeprangert, suchte und fand er Unterstützung bei den weitgehend marginalisierten städtischen Unterschichten. Durch die daraus entstehende gegenseitige Abhängigkeitsbeziehung wurden tief 249

in der politischen Kultur Argentiniens verankerte Einstellungen und Verhaltenstendenzen aktiviert, die den politischen Handlungsspielraum Peróns stark einengten. Stichwortartig lassen sie sich mit den Konzepten des »Caudillismo« und des »Korporativismus« umreißen. Als ein von den Unterschichten verehrter, charismatischer Führer konnte sich Perón zwar ihrer politischen Loyalität sicher sein, die ihm an den Urnen regelmäßig überwältigende Wahlsiege bescherte. Doch als Gegenleistung wurde von ihm erwartet, dass der Staat bei Arbeitskämpfen im Zweifelsfall für die Arbeitnehmerseite Partei ergriff und auch im Übrigen alles tat, um seine umfangreiche Gefolgschaft symbolisch wie materiell zufriedenzustellen. Der großzügig Gelder verteilenden und soziale Einrichtungen unterschiedlichster Art ins Leben rufenden Stiftung Eva Perón kam insoweit eine die staatliche Sozialpolitik flankierende wichtige Bedeutung zu. Doch nicht genug damit, im Rahmen des in Argentinien ausgeprägten Denkens in korporativistischen Anspruchskategorien ließen sich auch andere Machtgruppen, etwa das Militär, der auf den Regierungskurs einschwenkende Teil des Unternehmerlagers und die katholische Kirche, ihre Gefügigkeit gegenüber der Regierung mit aufwendigen materiellen Zugeständnissen »abkaufen«. Kein Wunder, dass die Befriedigung all dieser Begehrlichkeiten den Staatshaushalt in Bedrängnis brachte. Hinzu kamen weitere in der politischen und kulturellen Tradition des Landes wurzelnde Faktoren. Anders als den Koreanern ist den Argentiniern ein moralisches Gebot der Selbstdisziplin fremd, sie neigen eher zu exzessivem Individualismus. Als Kollektiv haben sie es nie geschafft, sich darauf zu einigen, was unter der argentinischen Nation zu verstehen sei. Es hat sich geradezu zu einer die Geschichte des Landes durchziehenden makabren Manie entwickelt, dem jeweiligen politischen Gegner die Zugehörigkeit zur Nation abzusprechen und diese exklusiv für die eigene politische Partei oder Bewegung in Anspruch zu nehmen.4 Auch Perón konnte dieser Versuchung nicht widerstehen. Anfangs mit dem Programm angetreten, alle Kräfte des Landes für eine gemeinsame Entwicklungsanstrengung zu bündeln, machte er in der Schlussphase seines Regimes die Frage der Unterstüt4

Waldmann, Argentinien, S. 175 ff.; Shumway, The Invention of Argentina, S. X.

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zung oder Ablehnung seiner Partei und Bewegung zum Ausgangspunkt einer erneuten Spaltung. Unter diesen Umständen war ein Scheitern der ursprünglichen ambitionierten Entwicklungspläne unvermeidlich. »Scheitern« heißt nicht, dass Argentinien ein armes, rückständiges Land geblieben wäre – dazu ist es in der Tat zu gut mit natürlichen Ressourcen ausgestattet –, sondern dass die Pläne, in den Kreis der entwickelten Industrienationen vorzustoßen, Luftgespinste blieben. Stattdessen hat sich ein Modernisierungsmodell eigener Art herausgebildet, bei dem der Aspekt der Wohlstandsmehrung und Teilhabe an den Annehmlichkeiten des modernen Lebens gegenüber dem Komplementäraspekt von Anstrengung und Leistungsdenken im Vordergrund steht. Diese Zielvorstellung eines angenehmen Lebensstils schließt, insbesondere bei den städtischen Mittelschichten, einen starken professionellen Ehrgeiz und ein hohes Kompetenzniveau sowie eine ausgesprochene Zivilität in den sozialen Umgangsformen durchaus mit ein. Aufs Ganze gesehen bleibt jedoch eine Konsumorientierung im Modernisierungsverständnis prägend, vor allem in Bezug auf den Staat, der primär als eine soziale Umverteilungsagentur wahrgenommen wird. Aus ihr folgt bei den allermeisten eine profunde Skepsis gegenüber den Behörden und allen ihren Maßnahmen, aber auch eine gewisse Distanz zum eigenen Land, für das man keine tiefere Anhänglichkeit empfindet. Man kehrt ihm ohne besonderes Bedauern den Rücken, wenn sich andernorts bessere Möglichkeiten auftun, ein den eigenen beruflichen Ambitionen und modernen Konsumstandards entsprechendes Leben zu führen. Der dritte Fall des spanischen Baskenlandes ist der einzige, in dem sich ein gewisser Ausgleich zwischen den dynamischen Kräften des wirtschaftlich-technischen Fortschritts und jenen der Traditionswahrung eingependelt hat. Bei den spanischen Basken entfiel die institutionelle Klammer eines gemeinsamen Staates, der in den anderen beiden Fällen den Hauptmotor nachholender Entwicklung oder ein gewichtiges, diese bremsendes Element darstellte. Was sie zusammenhielt, war ein durch eine gemeinsame Sprache, einen strengen Katholizismus und bestimmte Institutionen untermauertes kollektives Selbstbewusstsein nach innen und eine gewisse Frontstellung gegen251

über dem spanischen Zentralstaat nach außen. Mangels eines staatlichen Schutzes teilten die Basken auch starke Selbsthilfekräfte und die Fähigkeit, sich zu organisieren. Im Übrigen zerfiel die Region aber in unterschiedliche Lebenswelten, insbesondere in ein stark von autarken Einzelhöfen geprägtes, weitgehend auf sich selbst gestelltes rurales Hinterland und in die viel offeneren, am internationalen Handel partizipierenden Küstenstädte. Die zwischen diesen beiden nur lose miteinander verbundenen Lebenswelten bestehende Balance wurde durch die Entstehung eines schwerindustriellen Ballungszentrums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Raum von Bilbao erschüttert. Sowohl die vom Industrialisierungsprozess ausgehende Veränderung der allgemeinen Lebensweise als auch insbesondere die dadurch angezogenen Arbeitskräfte aus den Nachbarprovinzen wurden von traditionalistischen Gruppen sowohl des Hinterlandes als auch in den Städten als eine bedrohliche Infragestellung der herkömmlichen Ordnung empfunden. Als Reaktion auf diese Bedrohung entstand die Nationalistische Baskische Partei, der PNV, die mit dem doppelten Ziel antrat, die Industrialisierung zu stoppen, um der von ihr ausgehenden Erosion katholischer Wert- und Moralvorstellungen zu begegnen, und das Baskenland zu einem von Madrid unabhängigen selbstständigen Staat zu machen. Unabhängig von diesen Programmpunkten lag die eigentliche Bedeutung der Gründung einer nationalistischen Partei darin, dass damit dem Konservatismus zum einen eine öffentliche Stimme und institutionelle Form verliehen wurde und er zum anderen durch die Koppelung an den Nationalismus eine besondere Legitimierung erfuhr. Damit war die Chance einer in mehr oder weniger regulären Bahnen verlaufenden Auseinandersetzung mit den progressiven (ursprünglich auch den pro-spanischen) Kräften innerhalb des Baskenlandes eröffnet. Beide konnten sich aneinander abarbeiten, sich dabei wechselseitig annähern und partiell durchdringen. Dadurch dass der Identitätsdiskurs unmittelbar an den sich rasch vollziehenden Industrialisierungsprozess anknüpfte, wurde verhindert, dass die beiden Spannungsachsen auseinanderdrifteten und eine jeweils eigene Dynamik entfalteten. Stattdessen kam es zu einer gewissen Arbeitsteilung 252

und Komplementarität zwischen den auf den wirtschaftlichen Fortschritt setzenden, liberalen und weltoffenen Kräften einerseits und den eher defensiven, auf die Wahrung des soziokulturellen Erbes pochenden Gruppen andererseits. Ihre Symbiose wurde durch zwei Umstände zusätzlich befördert. Der eine war die repressive, auf die Auslöschung der Ethnie abzielende Politik des Franco-Regimes. Tatsächlich erreichte der Diktator damit genau das Gegenteil, nämlich die Erweiterung und Konsolidierung der nationalistischen Bewegung, die zur bestimmenden politischen Kraft innerhalb der Region wurde. Zweitens ist einzuräumen, dass der begrenzte Umfang des spanischen Baskenlandes und seiner Bevölkerung informelle Arrangements und die wechselseitige Befruchtung, auch gegenteiliger Standpunkte und politischer Einstellungen, erheblich erleichtert hat. Das hängt damit zusammen, dass der soziale Zusammenhalt kleiner Nationen (man denke etwa an die Schweiz, Norwegen, Dänemark oder die Niederlande) generell jenem der großen nationalen Flächenstaaten überlegen ist. Damit geht ein höheres Maß an äußerer und innerer Flexibilität angesichts neuer Machtkonstellationen einher, allerdings häufig auch ein deutlich überdurchschnittlicher Ethnozentrismus, wofür die Basken ebenfalls ein gutes Beispiel sind. Auf der Suche nach einem theoretischen Bezugsrahmen, in den sich die Erkenntnisse der drei Fallstudien einordnen lassen, ist der Verfasser auf die Moral-Economy-Theorie aufmerksam geworden, die auch bisweilen in der Literatur zu den drei Fällen auftaucht.5 Sie ist eng mit den Namen des britischen Sozialhistorikers Edward T. Thompson und des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi verknüpft.6 Thompson wies nach, dass Volkserhebungen im England des 18. Jahrhunderts keine spontanen, unreflektierten Reaktionen der Menge auf Ereignisse, mit denen sie nicht gerechnet hatte, wie eine Brotpreiserhöhung oder ein Versorgungsengpass, darstellten, sondern einen Protest gegen die Verletzung moralischer Ordnungsprinzipien. Nach 5 6

Hess, Reluctant Modernization, S. 15 ff. Thompson, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie, S. 67 ff.; Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, S. 129 ff.; Polanyi, The Great Transformation.

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diesen, auch von den Behörden geteilten Ordnungsvorstellungen bildeten Produktion, Handel und Konsum die Einzelbestandteile eines umfassenden Gesamtsystems informeller Rechte und Pflichten, durch das innerhalb bestimmter Margen festgelegt wurde, was die jeweiligen Teilnehmer am Marktgeschehen voneinander erwarten durften. Polanyi vertrat die These, dass sich die liberale Marktwirtschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts aus dieser Einbettung in ein soziales Normengeflecht befreite und ihrerseits Grundregeln postulierte, welche nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesamte gesellschaftliche Institutionengefüge auf eine vollkommen neue Grundlage stellten. Die hier vorgestellten Länderanalysen lassen vermuten, dass Polanyis Schlussfolgerungen etwas voreilig waren, die Moralökonomie noch nicht definitiv abgedankt hat. Gerade bei den Prozessen nachholender beschleunigter Entwicklung schimmert an vielen Stellen die Traditions- und Kulturbedingtheit ihres Erfolgs oder Misserfolgs durch. Zwar kann von einer direkten Einrahmung der ökonomischen Vorgänge durch sittliche Regeln nur in den seltensten Fällen die Rede sein. Auf indirekte Weise, durch in religiösen Anschauungen oder in moralischen Imperativen der politischen Kultur wurzelnde Einstellungen und Tabus schlagen im kollektiven Bewusstsein gespeicherte soziale Normen aber nach wie vor für die wirtschaftliche Entwicklung zu Buche.7

7

Rieger/Leibfried, Kultur versus Globalisierung.

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IV Verluste und Gegenreaktionen: der konservative Impuls im Kontext

Hauptergebnis der Untersuchung ist die durchgehende Tendenz Einzelner, sozialer Gruppen und teilweise ganzer Gesellschaften, in Situationen beschleunigten Wandels zäh an der entschwindenden Vergangenheit festzuhalten. Diese Reaktion fällt umso entschiedener aus, je größer der erlittene Verlust ist und als solcher empfunden wird. Dass der Tod eines nahen Angehörigen bei den Hinterbliebenen Trauerreaktionen auslöst, ist bekannt; Trauerrituale zählen zu den ältesten Manifestationen des konservativen Impulses bei der Gattung Mensch. Auch aus politischen Gründen in die Verbannung in ein anderes Land geschickt zu werden, gilt seit je als ein schlimmes Los. Doch dass auch der freiwillige Aufbruch in die Fremde auf der Suche nach besseren Existenzbedingungen mit erheblichen psychischen Kosten, dem schmerzlichen Vermissen der verlassenen Heimat und dem Versuch ihrer Rekonstruktion im Ankunftsland, verbunden ist, ist keine gängige Erkenntnis. Ebenso wenig, dass der Verlust der Geldwertillusion während der Hyperinflation in der Weimarer Republik nicht nur große Verwirrung und verzweifelte Versuche, sich dem galoppierenden Geldwertschwund anzupassen, auslöste, sondern wider alle ökonomische Rationalität auch ein Festhalten an der überkommenen Arbeits- und Sparmoral. Vergleichbare Reaktionen wurden auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene bei Prozessen eines politischen Umbruches und beschleunigter nachholender Entwicklung herausgearbeitet. Die beiden Phänomene wurden zwar in getrennten Kapiteln behandelt, waren aber faktisch zum Teil eng miteinander verknüpft. So fiel etwa der lange »gewundene Weg Spaniens zur Demokratie« großenteils mit dem Wandel des Landes zur modernen Industriegesellschaft zusam257

men und das Scheitern der Schah-Diktatur im Iran bedeutete gleichzeitig das Scheitern der Pahlavi-Dynastie, den Iran auf despotischem Weg innerhalb einiger Jahrzehnte aus feudalen und tribalen Verhältnissen in die Moderne zu katapultieren. Wer hätte während der Französischen Revolution vermutet, dass die Beschwörung eines neuen, auf den Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit beruhenden Gemeinschaftstypus ein fast ein Jahrhundert dauerndes politisches Nachspiel haben würde, da restaurative Kräfte stets auf Neue versuchen würden, das Rad der Geschichte zurückzudrehen? Wer hätte ahnen können, dass der hoffnungsvolle politische Aufbruch Spaniens zu Beginn der Zweiten Republik nicht den definitiven Abschied vom Ancien Regime der Monarchie bedeutete, sondern alsbald in einen Bürgerkrieg, gefolgt von einer jahrzehntelang auf der spanischen Gesellschaft wie eine eherne Glocke ruhenden Diktatur münden würde? Und wem wäre in den Sinn gekommen, Argentinien nach 1880, als es sich dank fantastischer Handelsgewinne aus dem Export von Rindfleisch und Getreide zu einem Land mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen als Frankreich und Deutschland zu jener Zeit entwickelte, vorherzusagen, dass es, vom Erbe der iberischen politischen Kultur eingeholt, einer Zukunft sozioökonomischen Stillstands und anhaltender politischer Krisen entgegengehe? Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie erscheinen umso beweiskräftiger, als die vergleichenden Studien im Sinne eines »most different systems design«1 unterschiedliche Situationen, funktionale Bereiche, geografische Großräume und Kulturen in den Blick nehmen. Die behandelten Fälle verbindet jedoch, dass sie sich nicht auf eine gewaltförmige oder verbrecherische Vergangenheit, etwa Kriege oder massive Gräueltaten, sondern auf eher neutrale oder positiv bewertete Sachverhalte, die zudem im Nachhinein zusätzlich verklärt werden, beziehen. Beim Umgang mit schlimmer Vergangenheit überwiegt, wie Christian Meier in einer aufschlussreichen Studie aufgezeigt hat, seit alters her die Tendenz, irgendwann einen Schlussstrich zu ziehen, um dem Denken in Vergeltungskategorien ein Ende zu setzen und zu einem »normalen« Leben zurückkeh1

Przeworski/Teune, The Logic of Comparative Social Inquiry.

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ren zu können.2 Meier selbst muss indes einräumen, dass ein Kollektivverbrechen von der Dimension des Holocaust kein Vergessen kennt und letztlich auch nicht kennen darf. Generell überwiegt heute die Neigung, vergangenes schweres Unrecht nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern, auch um der Opfer willen, auf seiner Rekapitulierung und Aufarbeitung, in welcher Form auch immer, zu bestehen. Wenn es jedoch schon schwerfällt, »schlimme Vergangenheit« ruhen zu lassen, um wieviel verständlicher ist es dann, dass man nicht bereit ist, in der Erinnerung vermischte oder positiv besetzte Sachverhalte aus dem Gedächtnis zu löschen, sondern versucht, sie in die Gegenwart zu transferieren, sie weiterhin hochhält und sich an sie klammert? Die Untersuchung hat eine Fülle von Formen, Funktionen und Wirkmechanismen des konservativen Impulses zutage gefördert, die oft erst mit zeitlicher Verzögerung zum Tragen kommen. Bevor wir ihre Ergebnisse in einer Art Synopse, teilweise ergänzt durch weitere Fallbeispiele, präsentieren, ist es angebracht, nochmals kurz auf die begrifflichen und methodischen Voraussetzungen der Untersuchung zurückzukommen. Dies soll mittels dreier kritischer Fragen geschehen, von denen sich zwei auf das Konzept »Impuls«, die dritte auf das Forschungsdesign insgesamt bezieht. Impuls bedeutet »Antrieb«, »Anstoß«, in abgeschwächter Form auch »Anregung« oder »Hinweis« (Duden). Inwieweit, so wäre zu fragen, konnte man noch im Falle der Park-Diktatur in Südkorea mit diesem Konzept arbeiten, wo der Prozess nachholender beschleunigter Entwicklung nicht nur von der politischen Spitze ausging, sondern auch so weitgehend von ihr kontrolliert wurde, dass für die Entfaltung konservativer Gegenkräfte, welcher Art auch immer, kaum Platz blieb. Park gelang es, auch aus dem traditionellen koreanischen Tugendhaushalt stammende Eigenschaften, wie ein hohes Maß an Zähigkeit und Selbstdisziplin, in den Dienst des diktatorischen Entwicklungsziels zu stellen. Nun ist es, wie in der Fallstudie ausgeführt wurde, schwierig, im Falle Koreas Fremddisziplinierung und Selbstdisziplinierung sauber voneinander zu trennen. Gewiss scheute das Regime nicht davor zurück, seinem Entwicklungsprojekt im Zweifel 2

Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns.

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auch durch den Einsatz von Zwangsmitteln zur Durchsetzung zu verhelfen. Doch das hätte allein nicht ausgereicht, um den raschen Sprung zur industriellen Exportnation zu bewerkstelligen. Entscheidend war, dass die Militärregierung und das Gros der Bevölkerung an einem Strang zogen, dass sich die traditionellen Tugenden nicht auf innere Einsichten beschränkten, sondern sie, in die tägliche Arbeitspraxis eingebracht, einen wichtigen Baustein des südkoreanischen Wirtschaftswunders bildeten. Konservative Einstellungen und Eigenschaften, so lässt sich aus diesem Beispiel schließen, dienen nicht notwendig einer konservativen Gesamtstrategie, sondern können auch für andere Zwecke und Funktionen eingesetzt werden. Eine weitere, ebenfalls das Begriffliche betreffende Frage ist, ob sich die Ausgangsentscheidung bewährt hat, das Konzept des konservativen Impulses nicht auf die den Akteuren bewussten Verlustreaktionen zu beschränken, sondern auf Formen der Verhaltenskontinuität auszudehnen, die gewissermaßen durch sie hindurchgehen, ohne als solche registriert zu werden. Ein Handlungsimpuls, so die hier vertretene Ansicht, setzt nicht notwendig voraus, dass der Handelnde durchschaut, was ihn letztlich antreibt. Es ist vorstellbar, dass er davon überzeugt ist, etwas prinzipiell Neues zu wagen, während ein außenstehender Beobachter unschwer erkennt, dass hier eingefahrene Muster und Motive am Werk sind. Gäbe man diesen Erklärungsschlüssel aus der Hand, so würde man damit auf ein wichtiges Analyseinstrument zur Aufdeckung konservativer Denk- und Verhaltensweisen verzichten. Es wäre beispielsweise unmöglich, an Alexis de Tocquevilles frühe Einsicht anzuknüpfen, dass die Jakobiner in der Französischen Revolution, ungeachtet ihres Anspruchs, das politische System auf den Kopf zu stellen, in mancher Hinsicht getreulich unter den Bourbonen vorgezeichnete politische Leitlinien fortführten. Ohne den Zugriff auf in der traditionellen politischen Kultur des Landes wurzelnde Schwächen, deren sich die politischen Parteien nicht bewusst waren, wäre es schwer gewesen, das rasche Scheitern der Zweiten Republik in Spanien zu erklären. Ein dritter, auf den Gesamtzuschnitt der Untersuchung bezogener Einwand könnte schließlich lauten, im Mittelpunkt der Kapitel II und III stünden Einzelfallstudien von Ländern oder Regionen, ohne 260

dass deren Einbettung in einen größeren transnationalen Zusammenhang hinreichend berücksichtigt sei. Dem Vorwurf des »methodischen Nationalismus« habe ich zu begegnen versucht, indem ich selektiv Außeneinflüsse zur Sprache brachte: etwa im Falle Spaniens darauf hinwies, dass sich dort angesichts der wiederholten revolutionären Erhebungen im benachbarten Frankreich bereits früh die politisch rechts stehenden Kräfte zu einem Defensivbündnis zusammenschlossen. Generell ist bei allen Fällen politisch und wirtschaftlich nachholender Entwicklung klar, dass dieser Prozess stets, sei es als Schatten oder als Vorbild, vom Beispiel des entwickelten Westens als Außenfolie begleitet wird. Doch wie mit diesem Schatten bzw. Vorbild umgegangen wurde und wird, hängt entscheidend von den jeweiligen nationalen historischen und kulturellen Rahmenbedingungen ab. Insoweit schließe ich mich, was die sozioökonomische Entwicklung angeht, den bewährten Theorien autozentrierter Entwicklung an,3 während ich mich in Bezug auf die politischen Verhältnisse und das kollektive Identitätsmanagement primär auf eigene Forschungserfahrungen stütze.

Determinanten des Impulses In der Einleitung wurde von der Annahme ausgegangen, der konservative Impuls als Verlustreaktion auf beschleunigten einschneidenden Wandel hänge im Wesentlichen von drei Faktoren ab: ob die Veränderungen willkommen seien oder als Belastung empfunden würden; ob sie definitiver Natur sind oder rückgängig gemacht werden können; schließlich vom zeitlichen Spielraum, der zur Verfügung steht, um sich an sie anzupassen. Ergänzend wurde bezüglich gesellschaftlicher Umwälzungen die These vertreten, das Ausmaß des konservativen Impulses variiere je nach Funktionsbereich: Der technologischwirtschaftliche Sektor, auf Fortschritte hin programmiert, gebe ihm nur wenig Raum. Demgegenüber nehme der kulturelle Sektor und al3

Hirschman, Entwicklung, Markt und Moral, S. 275; Hein, »Autozentrierte Entwicklung«.

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les, was an das Selbstverständnis der Menschen rührt, eine eher zögerliche und verzögernde Haltung gegenüber Prozessen des Wandels ein. Der politische Machtbereich schließlich sei vergleichsweise wandlungsindifferent, entsprechend den jeweiligen Kräfteverhältnissen und vorherrschenden Legitimationsvorstellungen sei er eher dem progressiven oder konservativen Lager zuzuordnen. Wie haben sich diese Vorannahmen in der empirischen Praxis bewährt? Bei den Grundannahmen handelte es sich nicht um voneinander getrennte Komplexe, die Einteilung der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche baute vielmehr auf den anfangs herausgearbeiteten drei Kriterien auf. Zunächst wurde deren Gültigkeit anhand von unterschiedlichen individuellen Verlusterfahrungen überprüft, ein Test, den sie im Wesentlichen bestanden. Greifen wir als Beispiel etwa den die Menschen hochgradig verunsichernden rapiden Geldwertschwund heraus: Im Fall der Weimarer Hyperinflation, die als ein Unheil über die deutsche Gesellschaft hereinbrach, das dem Einzelnen in seiner Wucht kaum eine Chance ließ, sich darauf einzustellen, jedoch gleichzeitig als eine Art Hexensabbat erschien, der nicht von Dauer sein konnte, trafen alle eine konservative Reaktion – im Sinne des Festhaltens an der überkommenen Arbeits- und Sparmoral – begünstigenden Faktoren zusammen. Demgegenüber fiel die Reaktion der Argentinier auf die sich über längere Zeit hinziehende Megainflation, die erst am Schluss in einer Hyperinflation mündete, weit pragmatischer aus, denn im Unterschied zur Hyperinflation war die Megainflation in einem gewissen Maße berechenbar und schien sich zu einem Dauerphänomen zu entwickeln, auf das man sich einstellen musste. Manche wurden geradezu zu Artisten in dem riskanten Spiel mit Zeit und Zahlen und zogen erhebliche Gewinne daraus. Generell erwiesen sich bei individuellen Verlusterfahrungen jene Fälle als besonders aufschlussreich, in denen, wie etwa beim Tod eines nahen Angehörigen, der Verlust widersprüchliche Reaktionen auslöste. Es zeigte sich, dass das »Realitätsprinzip«, also die Unumstößlichkeit des durch eine einschneidende Veränderung geschaffenen neuen Sachverhalts, dem subjektiven Moment des Nichtdamiteinverstandenseins auf die Dauer überlegen ist. »Auf die Dauer« – das heißt, dass dabei dem Zeitfaktor entscheidende Bedeutung zukommt. 262

Wie weit lassen sich Einsichten dieser Art auf gesellschaftliche Prozesse des Wandels übertragen, greift auch hier das Dreierschema der Kriterien? Lassen wir die zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereiche kurz Revue passieren: Was zunächst den technologisch-ökonomischen Bereich betrifft, so kann man, an Aleida Assmann anknüpfend, feststellen, dass der Westen seit dem 16. Jahrhundert in ein Zeitalter kontinuierlicher Lernprozesse eingetreten ist, die Geduld und Experimentierfreude erfordern und an deren Spitze Wissenschaft, Technik und die Wirtschaft stehen.4 Joseph Schumpeter drückte es etwas anders aus, wenn er von einem Prozess schöpferischer Zerstörung als wirtschaftlicher Antriebskraft sprach, meinte aber dasselbe: dass das Gewinnmaximierungsprinzip, das dem Kapitalismus inhärent ist, verbunden mit dem festen Glauben an die Segnungen der Technik den ganzen Sektor unaufhörlich vorantreibt. Gewiss stehen in manchen Gesellschaften und Regionen Ignoranz, Trägheit und Inkompetenz der kontinuierlichen Ausbreitung technischer Errungenschaften im Wege. Doch das Beispiel der »vier kleinen Tiger« Südostasiens, in jüngster Zeit auch Chinas und Indonesiens, zeigen noch in Armut und Not lebenden Bevölkerungsgruppen, dass es einen Ausweg aus der Misere gibt. Hier sind, mit anderen Worten, sämtliche Voraussetzungen dafür gegeben, beschleunigten Wandel als ein großes Zukunftsversprechen zu perzipieren, was kritischen Gegenargumenten und -kräften den Wind aus den Segeln nimmt. »Kultur« ist tendenziell genau am Gegenpol zum fortschrittsfreudigen wirtschaftlichen und technischen Sektor angesiedelt, und zwar weitgehend unabhängig davon, welchen Kulturbegriff man zugrunde legt; ob man darunter einen spezifischen, für die Erhaltung der Wertebasis einer Gesellschaft zuständigen Funktionsbereich à la Talcott Parsons, eine übergreifende, alles soziale Handeln umfassende Sinnebene oder eingespielte Kommunikationsformen und -inhalte auf der sozialen Mikroebene versteht.5 In jedem Fall liegt kulturell geprägten Äußerungen und Handlungsweisen stets ein in der Vergangenheit wurzelndes, über Sozialisationsmedien Einzelnen und sozialen Kol4 5

Assmann, Zeit und Tradition, S. 35 ff. Parsons, The Social System, S. 113 f.; Reckwitz, Kulturelle Differenzen.

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lektiven vermitteltes Selbstverständnis zugrunde, das sich gegen brüske Veränderungen sperrt. Jacob Burckhardt fasste Kultur als Selbstidentifizierung des Menschen in einem freien, geistbestimmten Verhältnis zu sich selbst und zur Natur, die im Zeitalter des sich ausdehnenden industriellen Kapitalismus zwangsläufig in eine Defensivposition abgedrängt werde.6 Auch bei meinen Fallbeispielen fiel kulturellen Strömungen und Kräften wiederholt der konservative Part bei Entwicklungsprozessen zu. Man denke etwa an die rückwärts gewendete Revolution von 1979 im Iran, an die basería-Kultur im Baskenland oder an die noch stark quasi-religiös bestimmte politische Kultur Spaniens in den 1930er Jahren, welche die junge Republik alsbald scheitern ließ. Das heißt indes nicht, dass dem kulturellen Bereich jeder Innovationsschub fremd wäre. In Form eines während der Französischen Revolution spontan entstehenden, den Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit verpflichteten Gemeinschaftstypus haben wir eine solche Neuerung kennengelernt. Freilich zeigte sich bei näherer Betrachtung, dass sie nicht aus dem Nichts heraus kreiert wurde, sondern in den Ideen der Aufklärung bereits einen geistigen Vorbereitungs- und Experimentierraum hatte. Prinzipiell vollziehen kulturelle Einrichtungen und Gewohnheiten nur selten Sprünge, bestimmend für sie und ihre Träger ist der Anschluss an Vertrautes und Bewährtes, wohl auch in dem intuitiven Wissen, dass ein Verlassen eingespielter Bahnen kaum mehr rückgängig zu machen ist. Macht und Politik, so meine Annahme, befinden sich in einer wandlungsindifferenten Zone zwischen den beiden anderen Bereichen, sie folgen keinem immanenten Beschleunigungs- oder Verzögerungstrend, sondern richten sich nach den jeweiligen Kräfteverhältnissen, die eine zusätzliche Stütze in entsprechenden Legitimitätsvorstellungen finden. In meine drei Kriterien übersetzt, bildet Politik die öffentliche Bühne, auf welcher die gegensätzlichen Auffassungen darüber, ob Wandel erwünscht ist oder nicht, aufeinanderprallen und nichts definitiv und unumstößlich ist, auch nicht die politische Ordnung, innerhalb derer diese Fragen diskutiert, die Konflikte ausgetragen werden. Inzwischen hat sich, zumindest in Europa, eine offene, 6

Rüsen, Geschichte als Prozess bei Jacob Burckhardt, S. 190 ff.

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liberal-demokratische Ordnung mit festen, satzungsmäßig verbrieften Spielregeln durchgesetzt. Das war bei den hier behandelten, teilweise zeitlich ins 19. bzw. in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückreichenden Länderbeispielen noch nicht der Fall. Ein Großteil der Auseinandersetzung drehte sich genau um die Frage, welche Regierungsform den sich stellenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen angemessen sei. Wenn die Kontroversen zu heftig wurden, die Wellen emotionaler Erregung zu hoch schlugen, schuf oft das Militär ein fait accompli, indem es die Macht übernahm und den im Streit liegenden politischen Kräften einen Zwangsfrieden auferlegte. In anderen Fällen war es die Überzeugung, der Gesellschaft eine grundlegende Entwicklungsreform »von oben« verordnen zu müssen, die despotische Machthaber dazu veranlasste, eine Diktatur zu errichten. Doch damit waren, wie besonders die Entwicklungsdiktaturen im Iran und in Südkorea belegen, die Konflikte nicht definitiv ausgeräumt. In beiden Fällen meldeten sich die beiseitegedrängten, die kulturelle und religiöse Tradition dieser Gesellschaften verkörpernden Gruppen und Kräfte nachträglich zu Wort. Im Iran übernahmen sie die Führungsrolle bei der Revolution, die den Schah den Thron kostete und das Land bis zur Stunde der Herrschaft reaktionärer Mullahs auslieferte. In Südkorea fielen die Reaktionen weniger dramatisch aus, was nicht heißt, dass sie weniger tief greifend waren. Viel deutet darauf hin, dass die dem Vergessen anheimgestellte kulturelle Vergangenheit die südkoreanische Gegenwartsgesellschaft eingeholt hat und ihr in Form von Autoritarismus, Desorientierung und übertriebener Selbstausbeutung große Probleme bereitet. Sowohl im individuellen wie auch im kollektiven Bereich förderten die Einzeluntersuchungen die eminente Bedeutung kultureller Faktoren und des eng mit ihnen verschwisterten konservativen Impulses zutage. Beide schimmerten, den Akteuren bewusst oder nicht bewusst, bei zahlreichen Fällen und Situationen durch. Erwähnt seien erneut die Rückbesinnung der Deutschen während der Weimarer Hyperinflation auf die traditionelle Arbeits- und Sparmoral als Richtschnur ihres Verhaltens, die Rekonstruktion einer Ersatzheimat durch die türkischen Migranten im Exil, die unzufriedenen Massen im Iran, die ohne wirklich religiös zu sein, dem säkularisierten Schah-Regime 265

mit dem Ruf »Allah ist groß« die Stirn boten, sowie nicht zuletzt die Basken, welche die moderne städtische Vereinskultur mit den aus den traditionellen ruralen Sozialmilieus stammenden Prinzipien der Gleichheit und Solidarität anreicherten. Allerdings bietet aus meiner Sicht die Fortgeltung traditionaler Werthaltungen und Gebräuche ebenso wenig eine Garantie für eine leidlich stimmige, exzessive Devianzen und innere Zerreißproben vermeidende Fortentwicklung der betreffenden Gesellschaften wie die einseitige Betonung wirtschaftlichen und technischen Fortschritts. Deshalb wurde, gewissermaßen als Integrationsklammer zwischen ihnen, das Konzept des Identitätsmanagements eingeführt. Identitätsmanagement bedeutet nicht zuletzt Zeitmanagement, die Kunst des Umgangs mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In diesem Sinne war beispielsweise der iranische Schah mit seiner starken Fixierung auf alles Moderne (mit Ausnahme des eigenen despotischen Regierungsstils) unter Vernachlässigung der gewachsenen Strukturen ein miserabler Identitätsmanager. Es handelt sich um eine schwer fassbare, aber gleichwohl sehr wichtige Größe. Wer im Falle rein individueller Verluste, etwa eines Todes im nahen sozialen Umfeld, für das Identitätsmanagement zuständig ist, erscheint klar, nämlich die unmittelbar Betroffenen selbst, die freilich diese Aufgabe an professionelle Helfer, etwa Psychologen, delegieren können. Im gesellschaftlichen Bereich stellt sich die Lage weit komplizierter dar, da Kirchen und andere sinnstiftende Institutionen ihre frühere Orientierungsfunktion weitgehend eingebüßt haben und herausragende, weitsichtige Persönlichkeiten in modernen Gesellschaften rar sind. Gleichwohl wäre es aus meiner Sicht, und die Fallbeispiele bestätigen dies, verfehlt, die Suche nach einem angemessenen Identitätsmanagement der Politik und den Politikern zu überlassen, handelt es sich doch um eine sich ständig neu stellende Aufgabe, an deren Bewältigung alle gesellschaftlich relevanten Akteure und Institutionen mitwirken sollten.

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Schaubild 2: Gesellschaftliche Funktionsbereiche und ihr Verhältnis zum sozialen Wandel

Verlustreaktionen Die im Folgenden herausgearbeiteten Verhaltensmuster, in denen der konservative Impuls zum Ausdruck kommt, beziehen sich allein auf Situationen und Fälle, die einen gewissen Spielraum für den Wandel bremsende Reaktionen offenlassen. Denn wenn alle Gegenkräfte durch einen Prozess beschleunigten Wandels mitgerissen werden oder gezwungen sind, sich ihm unterzuordnen, bleibt für Ausgleichs- oder Gegenmanöver kein Platz mehr. Der konservative Impuls reduziert sich auf einen Mentalvorbehalt gegen die stattfindenden Veränderungen. Was nicht ausschließt, dass er zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Kontrolle nachlässt, zu einem ernsthaften Störfaktor für die sich einpendelnde neue Gleichgewichtslage wird. 267

Die folgend beschriebenen konservativen Reaktionsweisen fallen durchweg in den sozialpsychologischen und den soziokulturellen Bereich; die Behandlung machtpolitischer Verschiebungen und Arrangements bleibt einem eigenen Abschnitt vorbehalten. Die angeführten Beispiele sind den untersuchten Fällen und Situationen entnommen, ergänzt durch empirische Belege aus der Literatur. Sie dienen der Demonstration und Plausibilisierung der verschiedenen Mechanismen und Reaktionsmuster. Diese schließen sich nicht gegenseitig aus, ein bestimmtes Verhalten kann also Elemente aus zwei Reaktionsmechanismen enthalten. Der wiederholt unterstrichenen Bedeutung des Zeitfaktors für den gesamtem Problemkomplex Rechnung tragend, unterscheide ich präventive Schritte, um drohenden Verlusten beizeiten zu begegnen, von Reaktionen auf bereits eingetretene Verluste und nachträglichen Bemühungen, ihre Folgen abzumildern. Schaubild 3: Verlustreaktionen – zeitlich gestaffelt präventiv

Reaktionen auf eingetretene Verluste

nachträglich

– den Wandel negieren, – Schaffung von Transitions- – den Verlust komignorieren ritualen und Filtern pensieren – den Wandel hinauszögern für das Neue – Formen der Erin– den Wandel unterlaufen – Aussparen von Traditionsnerung und verfälschen inseln – Flucht in die Vergangenheit, ihre Verklärung – Traditionsbruch, Sprung in die Zukunft – Abarbeiten der Differenz von »alt« und »neu«

Drei bezeichnende Reaktionen im Vorfeld einschneidender, scheinbar unabwendbarer Veränderungen sind deren Hinauszögern, solange es irgend geht, der Versuch sie einfach zu ignorieren oder das Treffen von Maßnahmen, um sie zu unterlaufen und ihre Auswirkungen nach Möglichkeit zu begrenzen. Ein gutes Beispiel für Verzögerungstaktiken sind drohende Todes268

fälle. Die moderne Medizin bietet bei manchen Krankheiten die Möglichkeit, das Leben eines todgeweihten Patienten immer wieder, unter Umständen mehr als ihm selbst lieb ist, zu verlängern. Ebendies entspricht auch dem ärztliches Handeln leitenden hippokratischen Eid: nichts unversucht zu lassen, um zu verhindern, dass jemand stirbt. Nicht unähnlichen Verhaltensmustern kann man im administrativen oder politischen Bereich begegnen, wenn es etwa um das Hinausschieben dringend erforderlicher Reformen geht. Nach wie vor ist eine offene Frage, ob es zur Französischen Revolution gekommen wäre, wenn Adlige und Provinzstände rechtzeitig der wiederholt von Finanzministern Ludwig XVI . vorgeschlagenen Sanierung der Staatsfinanzen zugestimmt hätten. Hätte die argentinische Oberschicht beizeiten ein Wahlgesetz verabschiedet, das allgemeine, geheime Wahlen garantierte, hätte sie eventuell einen zusätzlichen Legitimitätsbonus erlangt, dank dessen sie über das Jahr 1916 hinaus an der Macht geblieben wäre. Zwar geht es hier vorwiegend um beschleunigten Wandel, der Menschen hinsichtlich ihrer Anpassungsmöglichkeiten in zeitliche Bedrängnis bringt, doch gibt es auch den umgekehrten Fall, dass konservative Gruppen und Kräfte durch das allzu lange Hinauszögern einer unvermeidlichen Maßnahme den Anschluss an eine nicht aufzuhaltende Entwicklung verpassen. Eine zweite Form, dem Wandel auszuweichen, besteht darin, dass man ihn ignoriert und so tut, als könne alles beim Alten bleiben. Wie bereits Marris feststellte, ist die Fähigkeit des Menschen, unliebsame, mit seinem Weltbild und Vorstellungsvermögen kollidierende Erfahrungen nicht zur Kenntnis zu nehmen, schier unbegrenzt.7 Marris dachte dabei an die eine oder andere der von ihm interviewten Witwen, die sich weigerten, anzuerkennen, dass ihr Gatte gestorben war und fortfuhren, ihr Leben so zu gestalten, als sei er weiterhin präsent. Während der Hyperinflation in der Weimarer Republik begegnen wir, auf einer anderen Ebene, einer ganz ähnlichen Reaktion. Viele Deutsche wollten nicht wahrhaben, dass sich die Grundregeln rationalen Finanzgebarens radikal geändert hatten, sondern hielten unverdros7

Marris, Loss and Change, S. 12 ff., 23 ff.

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sen an den überkommenen Prinzipien und Usancen des Geldverkehrs fest. Dahinter stand die ganz und gar nicht irrationale, sondern alsbald durch die Realität bestätigte Überzeugung, der böse Spuk werde alsbald durch eine Währungsreform ein Ende finden, während die von Marris befragten Witwen nur nach und nach akzeptieren konnten, dass ihr Mann für immer verschwunden war. Fiktionen können unter Umständen auch relativ lange Zeit der veränderten Wirklichkeit standhalten. Ich denke hier an die von Necla Kelek beschriebene Lage nicht weniger türkischer Migrantinnen, die in der Bundesrepublik Deutschland in einer Art türkischer Enklave leben: kaum ein Wort deutsch sprechen und verstehen, nur mit ihresgleichen verkehren, die Kinder streng nach türkisch-muslimischen Normen und Regeln erziehen, also so leben, als hätten sie ihr Heimatland nie verlassen. Die trügerische Annahme, sich in einer Sonder- und Ausnahmesituation zu befinden, die ihre eigentliche Existenz nicht berühre, erfährt oft eine zusätzliche Bestätigung durch die Absicht, über kurz oder lang in die Türkei zurückzukehren. Der bei Migranten befremdlich klingende, von Kelek wiederholt gehörte Ausruf »wir brauchen die Deutschen nicht« war vermutlich keine dreiste Lüge, sondern entsprach durchaus der inneren Überzeugung dieser Frauen.8 Eine dritte Form der Abwehr ist die scheinbare Anpassung an neue, häufig als von außen aufgedrängt empfundene Entwicklungen, die jedoch innerlich nicht akzeptiert, sondern nach Möglichkeit unterlaufen und ausgehöhlt werden, um tradierte Gewohnheiten und Strukturen beibehalten zu können. Spanien und vor allem Lateinamerika bieten reichliches Anschauungsmaterial für diese Strategie. Im 19. Jahrhundert mit liberalen und demokratischen Reformen in Westeuropa, dem sie sich eng verbunden fühlten, konfrontiert, konnten die Eliten dieser Länder nicht umhin, sich mit diesen »fortschrittlichen« Entwicklungen auseinanderzusetzen. Sie bewältigten diese Herausforderung auf ihre Art, indem sie zwar einerseits die entsprechenden Institutionen aus Frankreich oder Großbritannien übernahmen, sie jedoch andererseits gemäß der in ihnen vorherrschenden autoritä8

Kelek, Die fremde Braut, S. 21 ff.

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ren politischen Kultur inhaltlich verfälschten und teilweise geradezu in ihr Gegenteil verkehrten. In der Untersuchung wurde die Handhabung des Wahlrechts Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in Spanien und Argentinien als Beispiel angeführt. In beiden Ländern fanden in gewissen Zeitabständen Wahlen statt, bei denen alle freien und mündigen Bürger aufgefordert waren, ihre Stimme abzugeben. Eine aufwendige, zu diesem Zweck eigens geschaffene Manipulationsmaschinerie sorgte jedoch gleichzeitig dafür, dass nur jene Kandidaten die zu besetzenden Posten erhielten, die dafür »von oben« (im Zweifel durch den Regierungschef selbst) vorgesehen waren. Hat sich das »Neue«, ungeachtet aller Bemühungen, den Prozess des Wandels aufzuhalten oder abzuwenden, dennoch durchgesetzt, so stellt sich die nächste Frage, was der Vergangenheit verpflichteten Kräften und Gruppen an Möglichkeiten verbleibt, ihr konservatives Anliegen in die neue Situation einzubringen und sich dieser anzupassen. Aus dem Untersuchungsmaterial ergeben sich fünf mögliche Reaktionsmuster, die teils mehr individueller Natur, teils mehr auf der ideologischen Ebene angesiedelt sind: die Bereitstellung und Nutzung von Übergangsriten; das Einrichten von Traditionsinseln; ein verstärkter Rekurs auf die verklärte Vergangenheit als Abfederungsmechanismus gegenüber dem Neuen; ein scheinbar radikaler Bruch mit der Vergangenheit (»Identitätswechsel«); schließlich die mehr oder minder systematische Aufarbeitung der Differenz von »einst« und »jetzt«. Die meisten Gesellschaften kannten früher Transitionsrituale, die es dem Einzelnen erleichterten, sich nach einer einschneidenden Veränderung der Lebensumstände, etwa einem Wechsel des sozialen Status, zurechtzufinden.9 Ein vielzitiertes Beispiel sind Trauerrituale, durch die den engsten Hinterbliebenen in einem Todesfall eine Sonderstellung eingeräumt und Gelegenheit gegeben wurde, den schmerzlichen Verlust innerlich zu verarbeiten, ehe sie erneut in die Gemeinschaft der »normalen« Mitbürger aufgenommen wurden. Hierzu zählten bestimmte Trauerzeiten (Sechswochenfrist, Jahresfrist) ebenso wie feste Erwartungen, was die Kleidung und die sozialen Ver9

Gennep, Übergangsriten.

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kehrsformen angeht. In der Moderne, vor allem im städtischen Milieu, haben sich diese Trauergebräuche weitgehend verwässert oder ganz aufgelöst. Es bleibt dem engsten sozialen Umfeld des Hingeschiedenen überlassen, wie es mit dem Tod umgehen will, ob es eine religiöse, eine säkulare oder gar keine Trauerfeier ausrichtet. Das mag ein Gewinn an individueller Gestaltungsfreiheit sein, bedeutet aber gleichzeitig die Einbuße eines wichtigen Stützmechanismus in einer hochproblematischen Situation. Auch auf der makrogesellschaftlichen Ebene gibt es bisweilen Mechanismen, den aus dem Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen resultierenden Schock abzumildern, das Neue in Bezug auf bereits existierende Strukturen anschlussfähig zu machen. Horst Reimann hat in seinen Arbeiten über Sizilien und Malta, zwei Inseln, die im Verlauf der Geschichte wiederholt Invasionen ausgesetzt waren, darauf hingewiesen, dass von der autochtonen Bevölkerung spezielle Filter entwickelt wurden, um die eigene Kultur gegen übermächtige Einwirkungen von außen zu schützen. Mit ihrer Hilfe sei eine »Siebung« hinsichtlich jener Elemente möglich gewesen, die akzeptiert und integriert wurden, während der Rest zurückgewiesen wurde.10 Ein zweiter Weg, um sich einem nicht mehr aufzuhaltenden Wandel entgegenzustemmen, ist die Bildung von gegen ihn abgeschirmten »Traditionsinseln«.11 Sofern die Veränderungen, wie bei einer politischen Umwälzung, den ganzen öffentlichen Raum umfassen, kommen als Nischen, in denen sich überkommenes Brauchtum und Kulturgut halten können, vor allem Institutionen aus dem privaten Bereich, zum Beispiel Verwandtschaftsnetze und religiöse Glaubensgemeinschaften, in Betracht. Nicht von ungefähr ist hier von »Institutionen« die Rede. Denn als Komplexe formalisierter oder in eingefahrenen Praktiken gehärteter sozialer Regelsysteme sind Institutionen wie kein anderes Substrat geeignet, dem Wandel der Zeiten zu trotzen. Ein Traditionshort erster Ordnung in diesem Sinn ist in den meisten Gesellschaften die Familie. Das gilt insbesondere für Oberschichtfamilien, die in der Vergangenheit eine bedeutende Rolle ge10 11

Reimann, Die Vitalität »autochthoner« Kulturmuster. Lauer, Perspectives On Social Change, S. 324 ff.

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spielt haben. Liest man beispielsweise eine vor nicht allzu langer Zeit erschienene, auf Interviews basierende Studie über die französische Oberschicht, so könnte man den Eindruck gewinnen, in diesem Land habe es nie eine Revolution gegeben. Die Pflege des Stammbaums und Stammsitzes der Familie, die Erziehung der Kinder, strikte soziale Verkehrs- und Heiratsregeln – alles wurde bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hinein so gehandhabt, wie es immer gehandhabt worden war.12 In der französischen Oberschicht mögen diese Traditionen vielleicht besonders ausgeprägt sein, aber in fast allen Gesellschaften bilden Familien einen Schonraum eigener Art, wo sich Traditionen besonders hartnäckig halten. Es ist gerade der routinehafte, nicht reflektierte Charakter familialer Gebräuche und Sozialbeziehungen, der dazu führt, dass die eingespielten Praktiken, ohne kritisch hinterfragt zu werden, durch die Kinder von ihren Eltern übernommen und an die eigenen Kinder weitergegeben werden.13 Eben darin liegt der Unterschied zu einer dritten Form, sich plötzlich hereinbrechenden Wandels zu erwehren, der Glorifizierung der Vergangenheit. Auch hier handelt es sich um ein insulares Phänomen, eine Art Enklave, jedoch eine hochgradig imaginierte und konstruierte. Es ist seit Langem bekannt, dass wirtschaftliches Wachstum und Modernisierungsprozesse soziale Unsicherheit, überzogene Zukunftserwartungen und damit zwangsläufig Frustrationen auslösen – dass von ihnen ein Gesellschaften destabilisierender Effekt ausgeht.14 Die Flucht in eine verklärte Vergangenheit oder eine in die Vergangenheit projizierte reine religiöse Lehre stellt in einer solchen Situation für viele ein willkommenes Hilfsmittel dar, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Auch politische Eliten bedienen sich seiner, um die überschießenden Erwartungen zu dämpfen und ihre Gesellschaften zu disziplinieren. Es ist kein Zufall, dass in einigen Ländern, die unter verstärktem Modernisierungsdruck stehen, vonseiten der Regierungen durch Berufung auf einen rigiden Traditiona12 13 14

Mension-Rigau, Aristocrates et grands bourgeois. Hernes, Prozeß und struktureller Wandel. Olson, Rapides Wachstum als Destabilisierungsfaktor.

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lismus heftig gegengesteuert wird. Man denke etwa an den Wahhabismus, eine ultraorthodoxe Variante des Islam, der vom Herrscherhaus Saudi Arabiens vertreten wird, oder den von Evo Morales in Bolivien als Herrschaftsideologie benützten Indigenismus. Das kann im Extremfall wie jenem des letzten Schahs im Iran, der sich, rund 1400 Jahre islamischer Tradition überspringend, auf die Achämeniden als Ahnherren der eigenen Dynastie berief, so weit führen, dass die Geschichte völlig umgeschrieben, gewissermaßen neu erfunden wird, um den eingeschlagenen politischen Kurs zu rechtfertigen. Auch der unter muslimischen Migranten der zweiten Generation im Westen nicht selten anzutreffende islamische Fundamentalismus ist hier einzuordnen. Er stellt eine von mehreren möglichen Antworten auf das mit der Existenz in der Fremde eng verbundene Doppelproblem sozialer Anerkennung und der eigenen Identitätsfindung dar. Auch ihm liegt weniger eine religiöse Rückbesinnung als ein historisches Konstrukt, die angeblich perfekte Glaubensordnung unter den ersten drei Kalifen, zugrunde.15 Die islamische Lehre wird aus ihren verschiedenartigen geschichtlichen und kulturellen Kontexten herausgelöst und auf einige wenige Grundwahrheiten und Postulate reduziert, welche die Basis eines weltweiten Kalifats bilden sollen. Tatsächlich ist die Hinwendung zum Fundamentalismus für die Migrantensöhne der Versuch, ihre aus der Auseinandersetzung mit zwei unterschiedlichen Kulturen und Lebensweisen resultierende tiefe Verunsicherung durch den Anschluss an eine weltumspannende Bruderschaft religiös Gleichgesinnter zu kompensieren.16 Eine vierte Reaktionsmöglichkeit wurde stichwortartig mit Traditionsbruch und »Identitätswechsel« gekennzeichnet. Wie lässt sich beides mit dem konservativen Impuls vereinbaren, ist es nicht genau das Gegenteil davon? An dieser Stelle bewährt sich, dass die Untersuchung sich nicht auf Formen bewussten, weitgehend rationalen konservativen Verhaltens beschränkt hat, sondern mit dem Impulskonzept auch auf durch vorrationale Motive bedingte Verhaltensweisen 15 16

Krämer, Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik, S. 182. Roy, Der islamische Weg nach Westen; Waldmann, Radikalisierung in der Diaspora.

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ausgedehnt wurde. Etwas holzschnittartig sei die These aufgestellt, dass keine Neuerung, sie mag sich noch so kühn und radikal geben, ganz auf den Rückgriff auf Traditionselemente verzichten kann. War dem Schah im Iran oder General Park in Südkorea bewusst, dass sie in ihrer selbstherrlichen Manier, dem Volk mit despotischen Mitteln einen Modernisierungskurs aufzuoktroyieren, getreulich in die Fußstapfen früherer autoritärer Herrscher in ihren Ländern traten? Ahnten die spanischen Abgeordneten, die zu Beginn der Zweiten Republik voller Stolz und Hoffnung ihre neuen parlamentarischen Funktionen wahrnahmen, dass sie mit ihrer der traditionellen politischen Kultur entlehnten, zwischen kleinlicher Taktiererei und sakraler Überhöhung schwankenden Art, politische Konflikte auszutragen, im Begriff waren, der neuen Staatsform alsbald das Grab zu schaufeln? Besonders scharfsichtig wurde die Fortgeltung alter Normen und Strukturelemente im Falle der Französischen Revolution herausgearbeitet. Schon Alexis de Tocqueville wies, was die Zentralisierung der Verwaltung betrifft, auf die durchgehende Spur hin, die von der Herrschaft der Bourbonen über die Machtausübung durch die Jakobiner bis weit ins 19. Jahrhundert hineinreichte. François Furet vertiefte diese Perspektive durch die Behauptung, die Französische Revolution habe, spiegelbildlich verkehrt, in mehrfacher Hinsicht sich bereits unter dem Ancien Regime herausbildende Strukturmerkmale des französischen Regierungssystems fortgeführt.17 Ich wende mich nun dem letzten Reaktionsmuster einer mehr oder weniger systematischen »Aufarbeitung« des einschneidenden Wandels zu. Was soll man sich darunter vorstellen? Hinsichtlich der klassischen individuellen Verlustsituation von Tod und Trauer hat Peter Marris bereits ausführlich erläutert, wie das Abarbeiten der dadurch ausgelösten widersprüchlichen Gefühle – von verzweifeltem Festhalten an der Vergangenheit einerseits und dem Zwang, sich auf die neue Situation einzustellen, andererseits – vor sich geht: dass es anfangs vor allem darum gehe, den durch das Hinscheiden der geliebten Person vollzogenen Bruch in seiner vollen Härte zu akzeptieren und den daran gebundenen Erfahrungen von Leid und Kummer 17

de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution; Furet, 1789.

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nicht auszuweichen; die Frage, wie mit der neuen Lage umzugehen sei, sei zunächst zweitrangig. Sie gewinne in dem Maße an Relevanz, wie das tiefe Tal der Tränen durchschritten sei und die neu entstandenen Realitäten ihren Tribut forderten. Dies sei eine Frage der Zeit, als innere Brücke zwischen dem »Einst« und dem »Jetzt« könnten Werthaltungen und Überzeugungen dienen, die, auf eine allgemeine, abstrakte Ebene gehoben, der neuen Situation einen gewissen Sinn verleihen könnten.18 Wie weit lassen sich diese am tragischen Einzelfall gewonnenen Erkenntnisse für Wandel auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene fruchtbar machen? Um diese Frage zu beantworten, erscheint es nützlich, als Vergleichsparameter ein anderes bereits behandeltes kollektives Reaktionsmuster, das Unterlaufen und Verfälschen einer anstehenden größeren Reform, heranzuziehen. Das Beispiel, das ich dafür gewählt hatte, war der Umgang spanischer und lateinamerikanischer Machteliten mit den von Westeuropa im 19. Jahrhundert ausgehenden Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen. Ein in diesem Zusammenhang wichtiger Punkt ist, dass diese Bestrebungen aus dem Ausland stammten, ihr Ursprung also nicht in Spanien oder Lateinamerika selbst lag. Das hatte zur Folge, dass sich die einheimischen Eliten nicht ernsthaft verpflichtet fühlten, sich intensiver mit den aus Europa auf sie zukommenden Entwicklungen auseinanderzusetzen. »Von außen« an eine Gesellschaft herangetragene Erwartungen eines grundlegenden Wandels lassen sich ungleich leichter abwehren, als wenn diese aus der betreffenden Gesellschaft selbst hervorgegangen sind. Handelt es sich um Bewegungen und Kräfte, die sich in dem betreffenden Land selbst herausgebildet haben, stellen sie eine viel grundsätzlichere Herausforderung dar. Sie zwingen die auf den Status quo eingeschworenen Gruppen, ihre Position neu zu überdenken, entfesseln also genau jene Skala widersprüchlicher Emotionen und Argumente, die Marris bereits auf der individuellen Ebene als Folge einer einschneidenden Zäsur im Lebenslauf beobachtet hat. Für den darauf folgenden Auseinandersetzungsprozess ist wichtig, dass er nicht auf die einseitige Anpassung des schwächeren an den stärkeren 18

Marris, Loss and Change, S. 23 ff.

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Part hinausläuft, sondern beide Seiten Zugeständnisse machen und vor allem das konservative Lager dahin gebracht wird, Teile des Programms der »Progressiven« zu akzeptieren und in die eigene gesellschaftlich-politische Agenda aufzunehmen. Erst dann kann man von einer »Aufarbeitung« des Konflikts und Wandels sprechen. Diese positive Bilanz kann man unter den untersuchten Fallbeispielen nur für zwei ziehen – die spanischen Basken und Milli Görüs, die orthodoxe Organisation türkischer Migranten in der Bundesrepublik. In beiden Fällen stammte die Herausforderung, sich einem brüsken Wandel zu stellen, aus den betreffenden Großgruppen selbst, bei den Basken in Form der überstürzten Industrialisierung der Region Ende des 19. Jahrhunderts, bei der in Milli Görüs dominierenden zweiten Generation türkischer Migranten aufgrund der Tatsache, dass sie sich nicht mehr als reine Türken betrachten konnten, sondern mit einer Doppelidentität als Türken und als Deutsche konfrontiert waren. Beide lösten den strukturellen Konflikt konstruktiv, indem sie ihrem traditionellen Selbstverständnis neue Elemente hinzufügten und es damit auf eine solidere Grundlage stellten: die Basken durch ihre Mutation von einer ethnischen Gruppe zu einer eigenen Nation mit allen dazugehörigen Institutionen, Milli Görüs, indem es als wahrhafte Neuerung die Idee eines Euroislam aus der Taufe hob. Kommen wir zum letzten Zeitabschnitt: Die Neuerungen sind vollzogen und nicht mehr rückgängig zu machen, die Partei der »Progressiven« hat die Oberhand gewonnen und zeigt sich wenig gewillt, Abstriche an ihren Veränderungsplänen zu dulden. Was bleibt den unterlegenen Traditionalisten als Trost und Heilmittel, um ihre Niederlage zu verschmerzen? Stichwortartig sind hier zwei Trostmittel zu nennen: Kompensation und Erinnerung. Der überstrapazierte Kompensationsbegriff ist zu einer Catch-allFormel geworden, deren Geltungsbereich von der Psychologie über das Recht und die Geschichtswissenschaft bis hin zur Philosophie reichen soll.19 Hier wird er nur auf jene Substitute angewendet, die unmittelbar an die Stelle eines erlittenen Schadens oder Verlusts treten: Wenn etwa von türkischen Migranten in der Bundesrepublik eine Art 19

Marquard, Kompensation.

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künstliche Heimat mit entsprechenden Sitten, Speisen und religiösen Praktiken errichtet wird, welche die zurückgelassene echte Heimat ersetzen soll. Ein anderes Beispiel wäre die mehrheitlich geduldete Machtergreifung eines Diktators nach dem Sturz der Monarchie und anschließenden blutigen Wirren, der in der verklärenden Rückschau offenkundig den Frieden und politische Stabilität verkörpernden König ersetzen soll. Entscheidend ist das »Als-ob«, Kompensation bezieht sich auf die unmittelbar verflossene Vergangenheit und erweckt sie zu neuem Leben. Demgegenüber spendet Erinnerung Trost für etwas, das definitiv der Vergangenheit angehört: Bauwerke, Denkmäler, Institutionen, z.B. Stiftungen, Gedenktage, auch rituelle Gebräuche können diese Funktion erfüllen. Sie speichern das Gedenken an Erhabenes oder Erschütterndes, an ein Einzelereignis oder eine Ereigniskette, an individuelle Heldentaten und Opfer oder kollektive Dramen, in jedem Fall an etwas, das keinen unmittelbaren Bezug mehr zur Gegenwart aufweist, sondern im kollektiven Gedächtnis abgespeichert ist und fortlebt.

Machtverschiebungen Politik, so meine These, hat sich seit der Französischen Revolution aus einem traditionsorientierten institutionellen Gefüge in ein prinzipiell neutrales offenes Forum verwandelt, auf dem die Konflikte zwischen konservativen und progressiven Kräften ausgetragen werden. Die strategische Bedeutung dieses öffentlichen Forums sowie wiederholte Polarisierungen der politischen Gruppen und Kräfte haben die politischen Systeme der Moderne häufigen Zerreißproben ausgesetzt und eine strukturelle Instabilität bewirkt, welche die Intervention an sich politikfremder Ordnungsmächte wie des Militärs provozierte. Ich gebe zunächst einen Überblick über das konservative Kräftespektrum, bevor ich auf den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung, die politischen Umbrüche und ihre Folgen, eingehe. In seinem Aufsatz zur Entstehung des europäischen Konservativismus im späten 18. Jahrhundert nennt Fritz Valjavec drei Hauptgruppen, die das Bedürfnis verspürten, ihre durch das Heraufdäm278

mern eines neuen Zeitalters bedrohte Position zu festigen: den Adel und die christlichen Kirchen, das Kleinbürgertum der Handwerker sowie der nur über begrenzte Mittel verfügenden Gewerbetreibenden und den Bauernstand, soweit er von grundherrschaftlichen Lasten befreit war.20 Diese Großgruppen sollten in der Tat zu den tragenden Säulen konservativer Strömungen und Bewegungen in den folgenden 150 bis 200 Jahren werden. Ob es sich um Frankreich, Spanien oder das ferne Korea handelte, mit leichten Variationen waren es stets dieselben sozialen Schichten und Institutionen, die sich gegen eine Entwicklung zur Wehr setzten, von der abzusehen war, dass sie sie ihre Privilegien kosten, eventuell auch in ihrer Existenz gefährden würde. Die wichtigsten waren – der Königshof und die eng an ihn angelehnte Zentralbürokratie; – der Adel; – die Geistlichkeit, vor allem der hohe Klerus; – Großgrundbesitzer und freie Bauern; – das städtische Kleinbürgertum. Daneben gab es stets auch soziale Milieus, die aufgrund ihres ganzen Lebenszuschnitts stärker mit der Vergangenheit verwachsen waren als der Bevölkerungsdurchschnitt. Wenngleich nicht von unmittelbarer politischer Relevanz, bildeten sie doch einen wichtigen Nährboden für aufkommende konservative Strömungen. Dass die Familie, vor allem die bürgerliche und die Oberschichtfamilie, sowie religiöse Glaubensgemeinschaften häufig einen Hort der Traditionswahrung bildeten (und weiter bilden), wurde schon erwähnt. Ähnliches galt für ländliche im Vergleich zu städtischen Gebieten oder für die ältere im Vergleich zur jüngeren Generation. Wenngleich der Frau traditionell die Rolle der Hüterin von Brauchtum und Tradition zufiel, gab es doch bereits früh Ausreißerinnen aus diesem konventionellen Klischee. Erinnert sei etwa an die Pariser Marktweiber, die in einer frühen Phase der Revolution, die Initiative an sich reißend, den in Versailles residierenden König im Triumphzug nach Paris holten, oder, in jüngster Zeit, an türkische Migrantinnen, die aus dem traditionellen Familienghetto ausbrechen, um ein eigenständiges Leben zu führen. 20

Valjavec, Die Entstehung des europäischen Konservativismus, S. 142 ff.

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Das Bild der »Neuerer« ergibt sich als Kontrastfolie zu den bisher aufgezählten Schichten und Gruppen, fällt aber insgesamt unschärfer aus, vermutlich nicht zuletzt, weil die Angst, etwas zu verlieren, zu einer dezidierteren Stellungnahme herausfordert als das Engagement für eine angeblich bessere Zukunft. Zum progressiven Lager zählen meist die sich als Vorhut der Kritik am Status quo verstehenden Studenten, des Weiteren die Intellektuellen in ihrer Mehrheit, das städtische Unternehmertum und sein Gegenpart, die organisierte städtische Arbeiterschaft, das Bildungsbürgertum und generell die urbanen städtischen Mittelschichten. Die Position des Militärs, eines wichtigen Machtfaktors in den Fallanalysen, ist nicht eindeutig. An sich als Bestandteil der Staatsbürokratie eher auf der konservativen Seite einzuordnen, vollzog es manchmal einen überraschenden Seitenwechsel und setzte sich an die Spitze der Fortschrittspartei. Überhaupt geriet die skizzierte Kräfteaufteilung erheblich ins Rutschen, nachdem die alte Ordnung durch einen politischen Machtwechsel grundsätzlich infrage gestellt worden war. Es taten sich neue Perspektiven auf, von denen teilweise eine gewaltige Sogwirkung ausging. Das führte dazu, dass nicht wenige Konservative, sei es aus Überzeugung, sei es aus Opportunismus, die Seite wechselten und sich dem Gegenlager anschlossen. Zu erwähnen sind etwa französische Adlige, die in der Nationalversammlung spontan auf ihre Privilegien verzichteten, spanische Priester des niederen Klerus, die sich mit der Arbeiterschaft oder den ausgebeuteten ländlichen Unterschichten identifizierten, nicht zuletzt Angehörige der traditionellen koreanischen Herrschaftsklasse der Yangban, die nach der Enteignung ihrer umfangreichen Ländereien quasi über Nacht zu Industrieunternehmern mutierten. Doch diese Konversionen fanden, wohlgemerkt, erst vor dem Hintergrund eines sich anbahnenden oder bereits vollzogenen Machtwechsels statt. Solange das traditionelle Herrschaftsgebäude noch stabil erschien und die dominante Position der alten Oberschichten nicht ernsthaft infrage gestellt war, bildeten diese häufig einen Machtblock, an dem alle Reformversuche abprallten. Der Herrschaftswechsel erfolgte in Form eines Militärputsches, eines von außen oder von innen erzwungenen Übergangs von der Monarchie zur Republik oder 280

durch eine Revolution. Bezeichnend für die Zähigkeit der alten Ordnung und die Schwierigkeit, sie auszuhebeln, war, dass es durchweg eines vorübergehenden Machtvakuums an der Regierungsspitze bedurfte, um den Rebellen die Chance der Herrschaftsübernahme zu eröffnen. Ohne das Zaudern des französischen Königs, seine lange Zeit zwiespältige Haltung und seinen gescheiterten Fluchtversuch wäre, wie Furet deutlich gemacht hat, die ihm lange wohlgesonnene Pariser Bevölkerung nicht von ihm abgefallen und wäre der radikale jakobinische Flügel nicht zur bestimmenden Kraft des Revolutionsgeschehens geworden. Im Falle Koreas waren es die japanische Invasion von 1910 und das darauf folgende Kolonialregime, die der traditionellen Monarchie und Yangban-Herrschaft den entscheidenden Stoß versetzten. Auch in Spanien kam der Übergang zur Zweiten Republik erst zustande, nachdem das monarchische System so ausgehöhlt und geschwächt war, dass es einer Diktatur (jener Primo de Riveras) bedurfte, um es pro forma aufrechtzuerhalten. Sogar der Sturz des Schah-Regimes folgte diesem Muster. Als die Proteste gegen das Regime immer militantere Formen annahmen, beging der Schah den Fehler, die Opposition durch scheinbares Einlenken und Zugeständnisse versöhnlich stimmen zu wollen, was jedoch, als Zeichen der Schwäche aufgefasst, noch zu einer Steigerung der Intensität der Angriffe führte. Eine Ausnahme bildete insoweit der wirtschaftliche Durchbruch in Argentinien Ende des 19. Jahrhunderts, der nicht nach einem politischen Machtwechsel erfolgte, sondern von der traditionellen Oberschicht selbst in die Wege geleitet wurde. Das bedeutete aber keineswegs, dass sich die argentinischen Oberschichtfamilien aufgeschlossener für den mit dem einsetzenden Wirtschaftswachstum verbundenen sozialen Wandel und eher bereit gezeigt hätten, soziale Aufsteiger in ihre Reihen aufzunehmen, als die alten Oberschichten in anderen Ländern. Unter den hier untersuchten Beispielen findet sich kein Fall, in dem grundlegende strukturelle Veränderungen durch ein Bündnis alter mit neuen Eliten zustande gekommen wäre, in aller Regel – die Ausnahme bildete wie gesagt das Argentinien der 1880er Jahre – mussten sie mit Druckmitteln gegen die vormals einflussreichen Schichten durchgesetzt werden. Von daher bin ich skeptisch ge281

genüber der älteren Literatur, die behauptet, in Nigeria und in Indien sei es in den 1960er Jahren zu einer reibungslosen Zusammenarbeit zwischen traditionellen Eliten und neuen, für die Modernisierung aufgeschlossenen Führungskadern gekommen.21 Im Zweifel wird diese »Zusammenarbeit« wohl darauf hinausgelaufen sein, dass sich die alten Stammeshäuptlinge und politisch einflussreichen Familien rein äußerlich auf die aus dem Westen stammenden Institutionen und Verfahrensregeln einließen, um sie anschließend mit dem Geist der traditionellen politischen Kultur zu durchdringen und in diese zu integrieren. Es hat in den Fallbeispielen tatsächlich Bündnisse zwischen Elitegruppen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft und mit zum Teil weit auseinanderklaffenden ideologischen Grundüberzeugungen gegeben. Diese kamen aber nicht zu Beginn des Herrschaftswechsels, sondern erst lange Zeit danach zustande, nach einer sich über etliche Jahrzehnte erstreckenden Periode politischer Unruhen und innerer Entzweiung. Teils schwang das politische Pendel in diesem Zeitraum mehrmals zwischen konservativen Restaurationsversuchen und erneuten Anläufen zur Gründung einer Republik hin und her, teils kam es zu militärischen Interventionen für die eine oder andere Seite, und teils nahmen die politischen Auseinandersetzungen eine solch militante Form an, dass sich das Militär als Ordnungsmacht dazwischenschaltete und ein längerfristiges diktatorisches Regime errichtete, ehe sich die maßgeblichen Akteure auf eine Verfassung als kleinsten gemeinsamen Nenner einigten. Wie ist das zu erklären? Der moderne liberale Rechtsstaat ist ein anspruchsvolles Konstrukt, zu dessen Etablierung in einer Gesellschaft es geraumer Zeit, großer Geduld und schmerzhafter Lernprozesse bedarf. Die stark von autoritären und sakralen Elementen geprägte traditionale politische Kultur der meisten europäischen Staaten stand dem Übergang zu rechtsstaatlichen Verhältnissen deutlich im Wege. Unabhängig von diesen Erblasten war es aber die Französische Revolution selbst, die entscheidend zur Destabilisierung der europäischen politischen Landschaft beitrug. Denn sie begnügte sich nicht damit, der Monarchie 21

Lauer, Perspectives On Social Change, S. 325 ff.

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Restriktionen aufzuerlegen und sie in einen verfassungsmäßigen Rahmen einzuzwängen. Vielmehr zielte sie auf ihre Abschaffung; an ihre Stelle sollte ein neuer Typus politischer Vergemeinschaftung treten, der auf den Grundprinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit beruhte. Das war der Kerngehalt des revolutionären Anliegens. Waren bislang politische Proteste und Rebellionen von der Grundidee getragen, einen in der Vergangenheit liegenden Zustand »guter Herrschaft« wiederherzustellen, so erhielt dieser klassische Modus der Korrektur politischer Missstände nun Konkurrenz durch die Verheißung einer künftigen Ordnung, in der es mehr Wohlstand und soziale Gerechtigkeit geben werde. Erfahrungshorizont und Erwartungshorizont traten, wie Koselleck feststellte, auseinander.22 Im Grunde wurde aus dem politischen Raum heraus eine neue Form kollektiver Identität geschaffen. Fortan sollten zwei einander diametral entgegengesetzte gesellschaftlich-politische Grundoptionen existieren, wobei jene, die auf eine bessere Zukunft setzte, zusätzlich Nahrung durch das Wiederaufleben millenaristischer Heilsvisionen und den durch die industrielle Revolution geförderten Glauben an einen grenzenlosen technisch-wirtschaftlichen Fortschritt erhielt. Diesem mit großer Wucht und Geschwindigkeit über sie hereinbrechenden Konflikt zwischen gegensätzlichen Ordnungsvisionen und legitimatorischen Ideologien waren die meisten politischen Systeme nicht gewachsen. Frankreich selbst lieferte das beste Beispiel dafür, wie Restaurationsregime und republikanische Regierungsexperimente sich mehrmals abwechselten und selbst quasi-diktatorische Zwischenphasen nichts nützten, bis man sich endlich, 80 Jahre nach Revolutionsbeginn, auf eine die Zustimmung der Mehrheit findende Verfassung einigte. Die von großen Hoffnungen und einer allgemeinen politischen Aufbruchsstimmung begleitete Zweite Republik in Spanien scheiterte bereits nach wenigen Jahren. Auch in den im Anschluss an den Ersten Weltkrieg in beträchtlicher Zahl entstehenden neuen kleinen Nationalstaaten war die Phase parlamentarischer Regie-

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Koselleck, »Fortschritt« und »Niedergang«, S. 224.

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rungen meist nur von kurzer Dauer; in den 1930er Jahren wurden sie fast durchweg von Diktaturen abgelöst.23 Das Wechselspiel unterschiedlicher Regierungssysteme blieb nicht auf Europa beschränkt. Auch Argentinien geriet nach einem ersten Militärputsch 1930 und vor allem nach Peróns Sturz 1955 in einen nicht enden wollenden Strudel politischer Turbulenzen, bis das letzte, besonders blutige Militärregime (1976 –1983) den (vorerst) dauerhaften Übergang zur Demokratie einleitete. Diktaturen, vor allem Militärdiktaturen, waren in der jüngsten Geschichte weltweit von so großer Bedeutung, dass Alexander Straßner das 20. Jahrhundert geradezu als Jahrhundert der Militärdiktaturen bezeichnet.24 Kann man daraus schließen, dass autoritäre Regime, insbesondere Entwicklungsdiktaturen mit der ihnen eigenen Mischung von restriktiver politischer Kontrolle und Aufgeschlossenheit für wirtschaftlichen und technischen Fortschritt besser geeignet sind, die Probleme, die sich beim Übergang zur Moderne stellen, zu bewältigen als liberal-rechtsstaatliche Demokratien? Ginge es nur um die Messung von Fortschritt und Modernisierung mit den üblichen Indikatoren, dann ließe sich auf diese Frage eine leidlich präzise Antwort geben.25 Dann wäre es auch möglich einzuschätzen, ob es Militärregimen mit ihrer unvermeidlich konservativen Schlagseite eher gelingt, Gruppen aus dem konservativen Lager für einen auf wirtschaftliches Wachstum hin orientierten Entwicklungskurs zu gewinnen als demokratischen Regierungen. Nun hat sich jedoch im Verlauf der Untersuchung eine gewisse Verschiebung der Problemstellung ergeben. Lautete sie ursprünglich ganz allgemein, wie förderlich oder hinderlich sich der konservative Impuls auf beschleunigten sozialen Wandel auswirkt, so ist zunehmend das Spannungsverhältnis zwischen sozioökonomischer Entwicklung einerseits und den weit subtileren Prozessen des kollektiven Identitätsmanagements andererseits in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Insoweit stellen sich Militär- und sonstige Diktaturen 23 24 25

Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation, S. 186 ff. Straßner, Militärdiktaturen im 20. Jahrhundert, S. 108 ff. Ebd., S. 322 ff.

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nicht als ein einheitlicher Regimetypus dar, sondern es ist zwischen verschiedenen Untertypen zu differenzieren. Entwicklungsdiktaturen, wie jene der Pahlavis im Iran oder die Militärdiktatur von Park, ließen jegliche Sensibilität für die gewachsene kulturelle Besonderheit ihres Landes vermissen, sondern stellten dessen sämtliche Ressourcen in den Dienst eines beschleunigten Aufholprozesses gegenüber dem Westen, was sich rächte. Bonapartistische Diktaturen, die sich gleich einer eisernen Glocke auf innerlich zerstrittene Gesellschaften legten, schneiden insoweit besser ab. Sie erzwangen einen äußerlichen Frieden, ohne sich dauerhaft auf einen bestimmten Entwicklungskurs festzulegen, und gaben den gesellschaftlichen und politischen Kräften allein bereits aufgrund ihrer ausgedehnten Dauer die Chance eines Reifungsprozesses. Es bleibt dabei: Der Staat ist, wenngleich wie auch das Recht auf vorpolitischen Wertprämissen beruhend, ungeeignet, tiefere, an das Selbstverständnis einer Gesellschaft rührende Grundsatzfragen zu entscheiden. Deren Lösung ist vielmehr im vorstaatlichen politischen und gesellschaftlichen Raum zwischen den verschiedenen Kräften und Gruppen auszuhandeln. Sollte jedoch einer der Machtakteure auf die Idee kommen, seine utopischen Vorstellungen über die Eroberung des Staatsapparates zu realisieren, kann eine bonapartistische Diktatur ein nützliches Korrektiv bilden, um derartige Ambitionen zu beschneiden. Denn sie führt die Grenzen des zulässigen politischen Engagements vor Augen und gibt allen Parteien Gelegenheit, sich auf die recht verstandene Funktion moderner politischer Systeme zu besinnen, kontroverse Debatten zu kanalisieren, ohne sich von ihnen absorbieren zu lassen.

Alternative Pfade nachholender Entwicklung Einen wesentlichen Anstoß für die Untersuchung bildete, wie in der Einleitung erwähnt, die Unzufriedenheit des Verfassers mit der Modernisierungstheorie in ihrer klassischen Form, die in Bezug auf die im Entwicklungsprozess nachhinkenden Staaten mehr Fragen aufwarf als Antworten lieferte. Dabei wurde keineswegs bezweifelt, dass die 285

Menschheit mit Ausnahme ganz weniger Gesellschaften in den Sog komplexer Umwälzungen in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht geraten ist, für die sich mangels eines geeigneteren Etiketts der Ausdruck Modernisierung durchgesetzt hat. Auch wurde eingeräumt, dass an dem diesen Prozess überwölbenden theoretischen Konstrukt einige wesentliche Verbesserungen vorgenommen worden sind, dass man es vor allem durch das Zugeständnis, es gebe nicht nur den westlichen Königspfad der Modernisierung, sondern multiple Modernisierungen vom Stigma des Euro- und US -Zentrismus befreit hatte. Gleichwohl war ein Unbehagen geblieben. Es hing primär damit zusammen, dass sich an der hinter der Modernisierungsideologie stehenden Grundidee kaum etwas geändert hatte. Ich würde sie als die Annahme einer unaufhaltsamen Diffusion der ursprünglich vom Westen ausgehenden Neuerungen charakterisieren. In ihr findet nicht nur eine Großregion wie das subsaharische Afrika, in der viele dieser Neuerungen nur zum Schein übernommen wurden, während tatsächlich die alten Strukturen weiterhin dominieren, keinen Platz, sondern sie unterschlägt auch die großenteils erfolgreichen Bemühungen peripherer Staaten und Gesellschaften, den Modernisierungsanforderungen auszuweichen, sie abzufedern, abzufälschen oder der eigenen politischen Kultur dienstbar zu machen. Diese Reaktionen kommen allenfalls als Abweichungsphänomene in den Blick. Die Modernisierungstheorie räumt, mit anderen Worten, den gesellschaftlichen und politischen Akteuren der peripheren Staaten zu wenig Bedeutung ein. Mein Vorschlag geht deshalb dahin, sie durch ein »Challenge-Response-Modell«, das eng mit dem Namen des britischen Historikers Arnold Toynbee verbunden ist, zu ergänzen, also die »Verwestlichung« als eine Herausforderung zu begreifen, auf welche die Eliten und gesellschaftlichen Kräfte einer peripheren Gesellschaft antworten müssen und mit der sie unterschiedlich umgehen können.26 Dies scheint mir der beste Weg zu sein, um den unterschiedlichen Reaktionen in peripheren Gesellschaften auf den drohenden oder bereits eingetretenen Verlust ihrer ursprünglichen Institutionen, Gewohnheiten und sozialen Strukturen gerecht zu werden. 26

Toynbee, Studie zur Weltgeschichte.

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Diese Betrachtungsweise erscheint umso mehr gerechtfertigt, als es sich fast durchweg um eine »von außen« erfolgende Infragestellung der herkömmlichen Lebensweise handelte. Wie bereits erwähnt, besteht ein beträchtlicher Unterschied zwischen den innerhalb einer Gesellschaft selbst vollzogenen Entwicklungssprüngen und Brüchen und einem Veränderungsdruck, der von außen an sie herangetragen wird. Sofern Letzterer nicht die Form einer jeden Widerstand brechenden militärischen Invasion annimmt, können autochthone Gruppen einen gemeinsamen Widerstand organisieren. Es ist unter solchen Bedingungen auch leichter, eine geschlossene emotionale Abwehrfront zustande zu bringen, als wenn der Konflikt mitten durch eine Gesellschaft hindurchgeht. Selbst wenn die Öffnung widerspenstiger Gesellschaften gegenüber dem westlichen Einfluss durch eine »Kanonenbootpolitik« erzwungen oder peripheren Regionen ein Kolonialregime aufoktroyiert wurde, blieben Lücken und Nischen bestehen, in denen tradierte Loyalitätsmuster und Beziehungsnetze aufrechterhalten werden konnten. Was als Widerstandspotenzial genutzt wurde, an dem Modernisierungszwänge »von außen« oder (im Fall von Kolonialregimen) »von oben« abprallten, konnte sich freilich später als Fessel erweisen, wenn sich einheimische Regierungen selbst anschickten, den Weg nachholender Entwicklung einzuschlagen. Denn ob der Entwicklungsprozess erfolgreich verlief, hing, unabhängig vom Willen der Akteure, auch von der strukturellen Anschlussfähigkeit eines Landes an die Imperative der Moderne ab. Insoweit scheinen mir insbesondere drei Fragen bzw. Kriterien von Bedeutung zu sein: – Gab es ein abgrenzbares Territorium und eine daran gebundene kollektive Identität? – Wurden Gesellschaften und Staat als getrennte Einheiten perzipiert, gab es eine staatliche Bürokratie und vom Staat erlassene allgemeingültige Normen? – Inwieweit kam den Individuen eine von den sozialen Netzwerken, in die sie eingebettet waren, unabhängige Eigenbedeutung zu, gab es den »Staatsbürger«? Die untersuchten Länder reichen nicht aus, um eine elaborierte Typologie der verschiedenen Formen nachholender Entwicklung zu er287

stellen. Es bleibt offen, inwieweit sie wirklich repräsentativ für den jeweiligen Kulturraum sind, außerdem decken sie nur drei außereuropäische, lange Zeit in der Modernisierungsdynamik nachhinkende Großregionen ab, nämlich Lateinamerika, Südostasien und den Nahen und Mittleren Osten. Ergänzt durch das subsaharische Afrika könnten die Analyseergebnisse immerhin ausreichen, um einen ersten Typisierungsvorschlag der durch Modernisierungsdruck ausgelösten, den Stempel des konservativen Impulses tragenden Reaktionsformen zu erstellen. Afrika in das Sample einzuschließen erscheint sinnvoll, da es einen Extremfall hinsichtlich der aufgeführten Kriterien darstellt. Es lassen sich vier Hauptformen von »Entwicklung« als Resultat der Auseinandersetzung mit der Moderne unterscheiden: – der Traditionsbruch, der Sprung in die Moderne: Südostasien; – der Doppelcode, duale Systeme als Ergebnis des Unterlaufens der Moderne: Lateinamerika; – die halbierte Moderne, Übernahme moderner Errungenschaften in Technik und Wirtschaft bei gleichzeitigem verstärkten Rekurs auf die eigene kulturelle und religiöse Tradition: Der arabische Raum; – die Moderne als Fassade und Maskerade: Afrika südlich der Sahara. In den Typen sind unschwer einige der bereits herausgearbeiteten Reaktionsmuster auf den Einbruch der Moderne in eine mehr oder weniger in traditionellen Strukturen verhaftete Gesellschaft wiederzuerkennen. In der Typologie werden diese Reaktionsmuster auf ein allgemeineres abstrakteres Niveau gehoben. Sie hat idealtypischen Charakter, sowohl was die Typen selbst als auch was ihre regionale Zuordnung betrifft. Der für Südostasien als bezeichnend erachtete radikale Bruch mit der Vergangenheit schließt nicht aus, dass es in einigen Bereichen und Ländern zu einem gleichberechtigten Nebeneinander traditioneller und moderner normativer Muster im Sinne des dual codes gekommen ist. Gleiches gilt für Schwarzafrika. Umgekehrt begegnet man in schwer erschließbaren Gebieten Lateinamerikas, beispielsweise bei den Indiogemeinschaften des Amazonasbeckens, der weitgehend ungebrochenen Fortgeltung einer traditionellen Sozialordnung, die nur locker an moderne Verwaltungsstrukturen angebun288

den ist,27 und in wieder anderen Teilregionen einer reibungslosen Anpassung an die Technik und das Konsumverhalten der Moderne bei gleichzeitiger Berufung auf einen traditionellen Indigenismus. Die vier für die Großregionen als charakteristisch erachteten idealtypischen Reaktionsformen seien kurz skizziert. Dass den südostasiatischen Staaten, zumindest was die äußerlichen Fortschrittsparameter angeht, der Anschluss an die hoch entwickelten Industrieländer in relativ kurzer Zeit gelang, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie im Sinne der eingangs aufgeführten Kriterien günstige Voraussetzungen für eine nachholende Entwicklung aufwiesen. Dazu gehörte zunächst, wenn wir von dem untersuchten Fall Südkorea ausgehen, ein klar definiertes Territorium und eine historisch gewachsene, aus häufigen Konflikten mit übermächtigen Nachbarn gestärkt hervorgegangene kollektive Identität. Wieweit es unter der traditionellen Monarchie über die Scheidelinie zwischen einer Herrschaftsklasse und der restlichen Bevölkerung hinaus bereits zur Herausbildung eines eigenen Staatsapparates kam, mag dahingestellt bleiben. Spätestens unter dem japanischen Kolonialregime entstanden jedoch jene zentralen Verwaltungsstrukturen, die es dem Militär nach dem Putsch von 1960 erlaubten, zielstrebig eine Politik exportorientierter Industrialisierung in Angriff zu nehmen und sämtliche Ressourcen des Landes, natürliche, soziale und mentale, dafür in Dienst zu nehmen. Zu Letzteren zählten auch aus dem traditionellen konfuzianischen Tugendkanon stammende Eigenschaften wie der Bildungseifer des Einzelnen, seine Selbstdisziplin und die Bereitschaft, sich dem Wohl der Gemeinschaft unterzuordnen. Wiewohl äußerst nützlich für das nationale Industrialisierungsprojekt, gingen diese Qualitäten damit als möglicher kultureller Auffangpuffer für die aus dem Modernisierungsschub resultierende allgemeine Verunsicherung und Desorientierung verloren. Generell ist festzustellen, dass das kollektive Identitätsmanagement über der einseitigen Ausrichtung am kapitalistischen Wirtschaftsmodell des Westens zu kurz kam.

27

Greene, Customizing Indigeneity.

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Die Staaten Lateinamerikas haben von dem 300-jährigen Kolonialregime einen handlungsfähigen zentralistischen Verwaltungsapparat geerbt, doch blieb dessen Durchsetzungsfähigkeit lange Zeit auf den Einzugsbereich der Großstädte und Regierungszentren beschränkt, während im dünn besiedelten Hinterland personalisierte, an Großgrundbesitz und gewaltsame Selbsthilfe gebundene Machtverhältnisse herrschten. Das nationale Selbstbewusstsein der Lateinamerikaner war, mit Ausnahme Brasiliens, anfangs wenig ausgeprägt, da die Staatsgrenzen weitgehend noch einer aus der Kolonialzeit stammenden, primär durch administrative Gesichtspunkte diktierten Einteilung in Verwaltungsbezirke folgten. Der mit dem Gegensatz von Stadt und Hinterland vorgegebene Dualismus schwächte sich im Laufe der Zeit nicht ab, sondern durchdrang die gesamte politische Kultur Lateinamerikas. Noch im Jahr 2000 konnte ein argentinischer Abgeordneter in aller Offenheit verkünden, dass es in seinem Land, wie jeder, der es zu Vermögen und politischem Einfluss bringen wolle, wisse, zwei gleichberechtigt nebeneinander stehende Regelsysteme gebe: Das eine bestehe aus den formellen Vorschriften, denen ein gewisser Respekt zu zollen sei, doch daneben existiere ein zweites »unterirdisches« System sozialer Netzwerke und multipler Gefälligkeiten, das, wenngleich im offiziellen Diskurs tabuisiert, von nicht geringer Bedeutung sei.28 Das Interesse der herrschenden Klassen an der Aufrechterhaltung dieses ihren Macht- und Dispositionsspielraum ausweitenden Doppelcodes hat aus einer ursprünglich mehr zufälligen, geografischen Gegebenheiten geschuldeten Notlösung eine Dauereinrichtung werden lassen. Damit ist zwar einerseits eine gewisse Kontinuität der u.a. über die politische Kultur vermittelten kollektiven Identität der Länder der Subregion verbürgt. Andererseits stellt die aus dem Doppelcode resultierende Rechtsunsicherheit, wie von der neuen Institutionenökonomik aufgezeigt wurde, jedoch eine Dauerhypothek für ihre wirtschaftliche Entwicklung dar. Zusammen mit dem aus der katholisch-iberischen Tradition stammenden Korporativismus erklärt sie, warum kaum

28

Waldmann, Regelsprengender Individualismus, S. 197.

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eines von ihnen über den Rang eines Schwellenlandes hinausgelangt ist.29 Was den arabischen Großraum angeht, so stütze ich mich, mangels ausgedehnterer Kenntnisse, in erster Linie auf das Kapitel über den Iran. Der Iran fällt zwar aus dem Gros der arabischen Staaten durch seine indogermanischen Wurzeln, die historisch weit zurückliegende Rolle eines Großreichs sowie die Tatsache heraus, dass seine Bevölkerung der muslimischen Minderheit der Schiiten angehört, dürfte jedoch im Übrigen für das regionale Gesamtpanorama nicht untypisch sein. Das gilt sowohl für die Feststellung, dass bis Ende des 19. Jahrhunderts von einer Nation im modernen Sinn nicht die Rede sein konnte, da große Teile des Territoriums in den Händen weitgehend selbstständiger Nomadenstämme waren, wie auch für den Befund, dass die jeweils herrschenden Dynastien über keinen starken, zur Kontrolle der Gesellschaft fähigen bürokratischen Apparat verfügten, sondern klassische Despotien waren: grausam und schwach. Alles das wollten die beiden Herrscher der Pahlavi-Dynastie ändern; ihre Reformen zielten nicht auf eine halbierte Moderne, sondern auf die totale Modernisierung ab. Ähnlich wie in Südostasien, sollte mit der Tradition gebrochen, ein Sprung in eine verheißungsvolle Zukunft vollzogen werden. Wenn sie dabei vor allem die technischen Errungenschaften der Moderne vor Augen hatten, konnten sie an nachahmenswerte historische Vorbilder anknüpfen. Hatten doch im Mittelalter islamische Herrscher eine glänzende, vom Nahen Osten über Nordafrika bis nach Spanien reichende Zivilisation geschaffen und arabische Mathematiker, Astronomen und Philosophen damals weithin in Vergessenheit geratenes antikes Schrifttum neu entdeckt und den verbliebenen aufgeschlossenen Geistern im Abendland, vor allem Mönchen, zugänglich gemacht. Im ganzen arabischen Raum, bis weit in die fundamentalistischen Kreise hinein, ist eine Bewunderung für den technischen Fortschritt lebendig geblieben, verbunden mit der Einsicht, dass der Westen insoweit der islamischen Welt davongeeilt sei und man von ihm lernen müsse.30 Doch dieser 29 30

Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik; Waldmann, Argentinien. Heidenreich, Sakrale Geographie, S. 110.

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Nachahmungseifer bezog und bezieht sich bis heute ausschließlich auf die äußere, wissenschaftlich-technische Überlegenheit der europäischen und gesamten westlichen Kultur, während der dahinterstehende kritische Geist der Aufklärung sowie die daran anknüpfenden Säkularisierungstendenzen rigoros abgelehnt werden. In Abwehr des von Europa auch auf arabische Gesellschaften übergreifenden Säkularisierungstrends verstärkten sich zusätzlich orthodoxe Strömungen innerhalb des Islam, wie der Salafismus und der Wahhabismus.31 Die Fehleinschätzung dieser dialektischen Dynamik kostete den letzten Schah den Thron, worauf sich ein dauerhaftes theokratisches Regime im Iran etablieren konnte, während andere arabische Länder, zwischen den konträren Polen hin- und hergerissen, einer ungewissen politischen Zukunft entgegensehen. Bleibt als vierte Großregion das subsaharische Afrika. Wenn der dort vorherrschende Umgang mit der Moderne als »Fassade« und »Maskerade« abgestempelt wird, stütze ich mich dabei vor allem auf die ausgezeichnete Studie von Patrick Chabal und Jean-Pascal Daloz,32 aber nicht nur. Schon früher stieß ich auf den Aufsatz eines Ethnologen, in dem »Maskierung« als eine unter mehreren Reaktionsformen afrikanischer Eingeborener auf die westliche Zivilisation bezeichnet wurde, ein Reaktionsmuster, dem ich anderweitig bei Nachzüglergesellschaften noch nicht begegnet war.33 »Maskierung« sollte bedeuten, man verstecke sich hinter fremden Elementen und übernehme sie nur scheinbar, um gerade dadurch das Fremde abzuwehren. Die westlichen Einrichtungen und die westliche Kultur abzulehnen, hatten Schwarzafrikaner, folgt man Chabal und Daloz, allen Grund, da sie größtenteils inkompatibel mit den eigenen politischen und kulturellen Traditionen waren. Nach den eingangs genannten drei Kriterien war keine andere außereuropäische Großregion so weit von dem Gesellschafts- und Staatsverständnis des Westens entfernt und damit so wenig dafür geeignet, zu dem aufzuschließen, was man im Westen unter Moderne versteht, wie Afrika südlich der Sahara. 31 32 33

Krämer, Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik. Chabal/Daloz, Africa Works. Rottenburg, »Sesam, öffne Dich!«, S. 476.

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Das begann mit dem Fehlen eindeutiger kollektiver Identitäten sowie eines ihnen zuzuordnenden territorialen Bezugsrahmens und führte über die durchgehende Informalisierung von Politik, welche die Trennung von Gesellschaft und Staat überflüssig machte, bis hin zu der Tatsache, dass für die moderne Figur des Staatsbürgers kein Platz war, da der Einzelne fest in soziale Netzwerke, sei es den Familienclan oder die ethnische Gruppe, eingebunden war und sich nur als Mitglied derselben artikulieren und profilieren konnte. In Afrika, so die beiden Autoren, herrsche nach wie vor eine patrimoniale Ordnung, in welcher die maßgeblichen Sozialbeziehungen vertikaler Natur seien. Der »Big Man«, der es verstehe, Reichtum und Einfluss anzuhäufen, ernte dafür weniger Neid als Respekt und Bewunderung, weil von ihm erwartet werde, dass er die sozial Schwächeren an seinem Überfluss teilhaben lasse. Angebliche Fortschritte der Region in Richtung Rechtsstaat und Demokratie werden von den beiden Autoren als illusionär hingestellt. Vielmehr sei im Gegenteil eher eine »Retraditionalisierung« der Region in Form erneut zunehmenden Aberglaubens und Hexereikults zu beobachten, was im Übrigen nicht ausschließe, dass die Afrikaner einen zwar selektiven, aber äußerst geschickten Gebrauch von den Leistungs- und Hilfsangeboten des Westens machten.34 Es fällt auf, dass die Auseinandersetzung der konservativen Gruppen und Kräfte mit den Strömungen der Moderne in keiner der vier Großregionen als »Aufarbeiten« oder allmähliches Abarbeiten des Zusammenpralls zwischen den unterschiedlichen Welten beschrieben werden kann. Dies dürfte, zusätzlich zu dem Umstand, dass sich das Neue als eine »von außen« kommende Herausforderung darstellte, auch mit der Form zusammenhängen, in denen sich die Neuerungen präsentierten. Gerade im politischen Bereich handelte es sich oft um institutionelle Einrichtungen, etwa den Rechtsstaat, die Demokratie oder eine unabhängige Justiz, die man, weil sie sich auf dem alten Kontinent oder in den USA bewährt hatten, auch mit einiger Dringlichkeit Nachzüglerstaaten im Entwicklungsprozess zur Übernahme empfahl. Man ging dabei davon aus, dass sich, sei einmal die formale 34

Chabal/Daloz, Africa Works, S. XIX , S. 17 ff., S. 45 ff., S. 63 ff.

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Übernahme bewerkstelligt, über kurz oder lang auch der entsprechende Inhalt einstellen und die institutionelle Hülle mit dem Geist füllen würde, aus dem heraus die Institutionen einst geschaffen worden waren. Das war ein Trugschluss, wie sich gut am Beispiel der Demokratie aufzeigen lässt, die unter dem hegemonialen Einfluss der USA nach dem Kalten Krieg zu einem institutionellen Muss für alle schwächeren Nachzüglerstaaten wurde, die es mit den internationalen Hilfsorganisationen nicht verderben wollten. Doch wie viele der formal demokratisch ausgewiesenen Staaten werden wirklich demokratisch regiert und bei wie vielen verbirgt die demokratische Fassade nur fortdauernde autoritäre Abhängigkeitsbeziehungen und Loyalitätsmuster? Dabei hat es in den letzten Jahrzehnten durchaus bleibende Konversionen von vertikalen zu demokratischen Regierungsformen gegeben, man denke etwa an die sogenannten ConoSur-Staaten in Lateinamerika, Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay, die, in den 1970er Jahren unter Militärdiktaturen stehend, mittlerweile zu stabilen Demokratien geworden sind. Dieser Wandel war aber nicht das Ergebnis externen Drucks, sondern ausschlaggebend dafür waren Lernprozesse innerhalb dieser Gesellschaften selbst, die nach der letzten, durchweg besonders harten und blutigen Militärherrschaft entschlossen waren, diese Regierungsform künftig nicht mehr zu dulden. Erfolgreicher, von gesellschaftlicher Seite verkraftbarer und nachvollziehbarer sozialer Wandel vollzieht sich, idealtypisch betrachtet, nicht »von außen nach innen«, sondern umgekehrt »von innen nach außen«. Das haben schon soziologische Klassiker wie Karl Marx und Joseph A. Schumpeter erkannt, die, jeder auf seine Art, postulierten, eine Gesellschaft müsse möglichst lange an den alten »Hüllen« festhalten; so lange, bis in ihrem Schoße und unter ihrem Schutz die neu sich entwickelnden Kräfte stark und reif genug wären, um das alte Gehäuse zu sprengen und sich die ihnen gemäße Form zu suchen.35 Legt man dieses Modell von sozialem Wandel zugrunde, so war wahrscheinlich das Vorgehen der christlichen Kirchen, die bei ihrer Mis35

Karl Marx nach Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, S. 139; Schumpeter, Über den Kapitalismus, S. 345 ff.

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sionstätigkeit in außereuropäischen Ländern an der Basis, bei den Menschen, ansetzten, weit erfolgsträchtiger als alle von außen stammenden und aufwendigen Bemühungen, diesen Ländern Entwicklungsnachhilfe in Sachen Rechtsstaat und Demokratie zu geben.

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V Theoretische Verortung

Die theoretische Einordnung der Untersuchung setzt eine Einschätzung der theoretisch relevanten Strukturmerkmale des gewählten Ansatzes, das heißt die Einnahme eines metatheoretischen Standpunktes voraus. Das fällt dem Verfasser nicht leicht, nachdem sein Augenmerk bislang ausschließlich darauf gerichtet war, verschiedene Bausteine einer Perspektive, die »konservativer Impuls« genannt wurde, zu einer stimmigen Gesamtkonzeption zusammenzufügen. Insofern haften den folgenden Überlegungen alle Mängel eines ersten Versuches an. Was man dem konservativen Impuls zweifelsohne auf Anhieb attestieren kann, sofern man seine Existenz anerkennt, ist ein überaus breites Relevanz- und Anwendungsfeld. Das hängt zum einen mit der Ubiquität von Prozessen sozialen Wandels, häufig sehr raschen und einschneidenden Wandels, in unserer Zeit zusammen, zum anderen damit, dass es sich um eine sozialpsychologische Größe handelt, die von der sozialen Mikrosphäre über Zwischenstufen bis hin zur sozialen Makrosphäre reicht. Worin also besteht das Spezifische dieses theoretischen Ansatzes? Zum Ersten ist eine stark ausgeprägte Kausalkomponente bei der Analyse der Wirkweise des konservativen Impulses hervorzuheben. Diese kam sowohl bei der Frage nach seiner Entstehung, den Umständen seiner Auslösung (als Folge von Prozessen tief gehenden Wandels) als auch in dem Bemühen, die Determinanten seiner Stärke herauszuarbeiten, zum Tragen. Zweitens ist der Ansatz in hohem Maße kontextbezogen und -abhängig. Je nach gesellschaftlichem Funktionsund Strukturbereich wurde von unterschiedlichen Grunddispositionen hinsichtlich der Empfänglichkeit oder dem Sichsperren gegenüber konservativen Ideen und Strömungen ausgegangen. Auch dem 299

geschichtlichen Kontext wurde Rechnung getragen. In Zeiten einer allgemeinen Aufbruchsstimmung (wie der Französischen Revolution) tun sich Konservative schwer, mit ihren Bedenken durchzudringen, während nach Phasen tiefer Zerstrittenheit oder eines drohenden Bürgerkrieges der Ruf nach Ruhe und Ordnung Widerhall findet. Drittens ist, ähnlich wie der soziale, auch der zeitliche Rahmen des Ansatzes weit gespannt. Er kann unterschiedliche Zeitspannen von Monaten über Jahre bis zu einem Jahrhundert oder sogar darüber hinaus erfassen. Viertens lässt sich der Ansatz als interaktiv und prozessbetont charakterisieren. Er ist auf der Schwelle zwischen einer struktur- und einer akteursbezogenen Betrachtungsweise angesiedelt. Der Schwerpunkt der Analyse lag zwar auf dem Verhalten der Akteure, den strukturellen Hintergrund bildete jedoch regelmäßig ein Prozess beschleunigten Wandels, der objektiver Natur war, zumindestens einen objektiv fassbaren Kern hatte. Auf der anderen Seite flossen in die jeweiligen Reaktionen stets auch vorgegebene Traditionsbestände und Machtverhältnisse ein. So lag der Fokus der Untersuchung auf dem Wechselverhältnis zwischen Akteuren und Strukturen sowie der Interaktion unterschiedlicher Akteure bzw. Akteursgruppen, deren jeweiliges Ergebnis zwar nachvollziehbar, jedoch nicht prognostizierbar war.

Modernisierungstheorie Im Hinblick auf die aufgezählten Merkmale ist die Modernisierungstheorie in ihrer klassischen Form genau am entgegengesetzten Ende meines Kriterienkatalogs angesiedelt. Sie kennt keine Kausalwirkungen im engeren Sinn. Modernisierungsprozesse vollziehen sich selbsttätig, weitgehend unabhängig vom jeweiligen soziohistorischen Kontext. Sie erstrecken sich über Jahrhunderte oder länger und geschehen auf einer gesellschaftlichen Makroebene, die, wenn überhaupt, nur Machteliten die Chance gibt, korrigierend einzugreifen. Es handelt sich also um ein theoretisches Konstrukt, das weniger Partialentwicklungen erklärt als ein Abbild und eine Interpretation des Gesamtprozesses anbietet, den man als Modernisierung bezeichnet. Dieser 300

Gesamtprozess wird als kohärentes und dynamisches, letztlich geschlossenes System begriffen, das aus sich heraus die »fortschrittlichen« Entwicklungen hervortreibt, ohne dass es auf die Verhaltensweisen der sozialen Akteure, ihre Initiativen und Reaktionen ankäme.1 Von Talcott Parsons ursprünglich mit dem Stempel globaler Gültigkeit versehen, wurden die »evolutionären Universalien« durch die Eisenstadt’sche These von den »multiple modernities« etwas aufgelockert. Danach sollen in der sogenannten Achsenzeit (800 bis 200 vor Christus) mit der Entstehung der großen Weltreligionen zugleich die Weichen für langfristig divergierende Entwicklungspfade und Modernisierungsprozesse gestellt worden sein. So verdienstvoll es war, ein theoretisches Modell aufzubrechen, das die gesamte Welt in das Zwangskorsett einer einheitlichen Zukunftsvision pressen wollte, änderte sich damit an den aufgezeigten Prämissen des ganzen Ansatzes nur wenig. Auch Eisenstadts Modernisierungspfade der verschiedenen Großzivilisationen sind langfristig angelegt und von außen wie von innen nur sehr begrenzt beeinflussbar. Die religiös bedingten Ausgangskonstellationen bleiben, unabhängig von internen Machtkämpfen und Strukturverwerfungen, über endlose Zeiträume hinweg prägend, von Pfadunterbrechungen oder einem offenen Ausgang von Konflikten kann keine Rede sein. Dem Ganzen haftet nach wie vor ein stark teleologischer Zug an, wie er generell für systemisches Denken bezeichnend ist.2 Die Diskrepanzen zwischen dem Anliegen sowie den Ausgangsprämissen der Modernisierungstheorie und meinem Ansatz sind so augenscheinlich, dass man nicht einmal von echten Gegensätzen und Inkompatibilitäten sprechen kann, vielmehr eher das Bild eines unverbundenen Nebeneinanders unterschiedlicher Theorieentwürfe, die so gut wie nichts miteinander zu tun haben (mit Ausnahme der Tatsache, dass sie sich beide auf sozialen Wandel beziehen), angebracht erscheint. Es hat indes aus der Schule der Modernisierungstheoretiker heraus immer wieder Versuche gegeben, deren Grundannahmen auf 1 2

Parsons, Evolutionäre Universalien. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne; Eisenstadt, Die Achsenzeit in der Weltgeschichte; Knöbl, Die Kontingenz der Moderne, S. 61–110.

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ein Niveau herunterzubrechen, das dem hier verfolgten Ziel des Verständnisses und der Erklärung realer Entwicklungsprozesse nahekommt. Auf drei dieser Versuche soll kurz eingegangen werden, ein vierter wird in einem späteren Abschnitt zu behandeln sein. Allen vieren ist gemeinsam, dass neben Strukturen und systemischen Tendenzen die sozialen Akteure als den Prozess des Wandels mitgestaltende Größen berücksichtigt werden. Ein früher Versuch, das blind Gesetzmäßige der von Parsons postulierten evolutionären Universalien einzuschränken, geht auf Dietrich Rüschemeyer zurück und wurde unter dem Schlagwort »partielle Modernisierung« bekannt.3 Rüschemeyer wies darauf hin, dass im Rahmen von Modernisierungsprozessen oft traditionelle und moderne Elemente über einen langen, sich über mehrere Generationen erstreckenden Zeitraum nebeneinander existieren und komplizierte Verbindungen eingehen. Oft erführen traditionelle Wertorientierungen in Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne sogar eine zusätzliche Verstärkung, etwa in Form einer Glorifizierung der eigenen Vergangenheit oder einer nationalistischen Betonung der Einmaligkeit und Besonderheit der sich wandelnden Gesellschaft. Als Beispielfälle dienen Rüschemeyer vornehmlich Preußen und Japan, Nachzüglerstaaten der ersten Stunde im von Großbritannien und Frankreich ausgehenden Industrialisierungsprozess, die über einen mächtigen bürokratischen Regierungsapparat und eine handlungsfähige Beamtenschaft verfügten. Die Eliten beider Länder hätten nichts unversucht gelassen, um ihre Herrschaftsposition mithilfe des von ihnen selbst angestoßenen Wandels zu festigen, sie hätten moderne Mittel für traditionelle Ziele eingesetzt und mit traditionellen Mitteln moderne Ziele verfolgt.4 Derartige akteursbezogene Ausführungen passen nicht recht zum anfänglichen Bekenntnis des Autors zum Systemansatz und zu seinem Festhalten am Theorem der langfristig unaufhaltsamen Diffusion der von der Moderne hervorgebrachten Neuerungen. Preußen und Japan, wo der Modernisierungsprozess von den alten Eliten erfolgreich initiiert und über weite Strecken kontrolliert 3 4

Rüschemeyer, Partielle Modernisierung. Ebd., S. 388.

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wurde, sind, aufs Ganze gesehen, eher Ausnahmefälle geblieben, sie haben allenfalls in Lateinamerika (Brasilien) und einigen Staaten des Nahen Ostens Nachahmer gefunden. Dagegen lässt sich Rüschemeyers Beobachtung, dass neue und alte Elemente häufig dauerhafte, einseitigen Korrekturversuchen trotzende Verbindungen eingehen, durch zahlreiche neuere Belege bestätigen, man denke nur an das »duale« Normensystem, das sich in großen Teilen Lateinamerikas eingebürgert hat. Leider ist sein Vorschlag, eine Typologie der verschiedenen Formen partialer Modernisierung zu entwickeln, auf keine Resonanz gestoßen. Zu den ernsthaftesten Anstrengungen, die der Modernisierungstheorie inhärente Tendenz zu einer linearen, leicht ins Teleologische mündenden Geschichtsbetrachtung zu korrigieren, zählt Wolfgang Knöbls Studie über die Kontingenz der Moderne.5 Knöbl zeichnet nicht nur sorgfältig die wichtigsten makrosoziologischen Theorieentwürfe sozialen Wandels, von der orginären Modernisierungstheorie Parson’scher Prägung über die von Eisenstadt entfachte Zivilisationsdebatte bis zum World-History-Ansatz von Emmanuel Wallenstein, nach, sondern arbeitet auch ihre jeweiligen Hauptschwächen heraus. Sein Hauptvorwurf geht dahin, dass sie allzu leichtfertig komplexen Entwicklungsprozessen eine Einheitshaube in Form eines reduktionistischen Etiketts überstülpten und die erforderliche Sensibilität für geschichtliche Brüche, Abweichungen und Sonderwege, kurz für Kontingenzen vermissen ließen. Um es nicht bei der bloßen Kritik bewenden zu lassen, fügt Knöbl den theoretischen Analysen im letzten Teil des Bandes zwei Essays über die jüngere Geschichte des Südens der USA und Lateinamerikas an. In ihnen versucht er, die gängigen Klischees über die Entwicklung der beiden Regionen auszuräumen und seine Forderung nach einer auch Pfadunterbrechungen und alternative Weichenstellungen berücksichtigenden geschichtlichen Darstellung einzulösen.6 Das gelingt ihm recht gut, die Essays wirken überzeugend, sie werfen jedoch zwei grundsätzliche Fragen auf. Die erste bezieht sich un5 6

Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Ebd., S. 208 ff.

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mittelbar auf das Kontingenzkonzept, das von Knöbl überstrapaziert wird, wenn es als eine Art terminologischer Lückenbüßer für alle Entwicklungssprünge und Entwicklungsbrüche herhalten muss, denen in soziologischen Makrotheorien nicht Rechnung getragen wird. Wird damit in Abhängigkeit vom Generalisierungs- und Pauschalisierungsgrad der jeweiligen Makrotheorie sein Anwendungsbereich nicht schier uferlos ausgedehnt? Knöbl selbst stellt klar, dass Kontingenz keine absolute Kategorie ist, sondern nur in einem bestimmten Theoriezusammenhang Sinn ergibt.7 Das heißt mit anderen Worten, dass Geschehnisse und Prozesse, die sich im Licht einer allgemeinen Modernisierungstheorie als »kontingent« ausnehmen, durchaus einer Erklärung zugänglich sein mögen, wenn man sie mithilfe weniger anspruchsvoller Theorien mittlerer Reichweite analysierte. Aus meiner Sicht erweist man dem Kontingenzbegriff einen Bärendienst, wenn man ihn zu einer catch-all-Formel für alle empirischen Entwicklungen und Ereignisse degradiert, welche durch die engeren oder weiteren Maschen einer allgemeinen Theorie zum sozialen Wandel fallen. Sinnvoller erscheint es, an seinem ursprünglichen Gehalt eines nicht eliminierbaren Freiheitsspielraums im menschlichen Handeln anzuknüpfen, der in einem engen Zusammenhang mit den älteren Begriffen der »Fortuna« und des »Zufalls« steht.8 Aus dieser Warte sollte das Operieren mit dem Kontingenzkonzept wirklich akzidentellen, unvorhersehbaren Entscheidungen und Entwicklungen vorbehalten bleiben, während es im Übrigen darauf ankäme, in den jeweiligen makrosoziologischen Interpretationsrahmen je nach Bedarf auch mesound mikrosoziologische Erklärungsmuster einzufügen. Hier schließt sich die zweite Frage an: Angenommen, die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit angetretene Modernisierungstheorie wird aufgrund einer Vielzahl historisch nachgewiesener Brüche und Pfadabweichungen zunehmend verwässert und unglaubwürdig, bedeutet das, dass die Soziologie gut beraten ist, künftig auf eine umfassende Interpretation der gewaltigen weltweiten Umwälzungen, die bislang unter dem Sammeletikett »Modernisierungsprozesse« lie7 8

Ebd., S. 190 ff. Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest.

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fen, zu verzichten? Wo wird die Grenze zwischen einer zunehmend historisch argumentierenden Soziologie und einer für soziologische Konzepte und Theoreme sensibilisierten Geschichtswissenschaft zu ziehen sein? Ein dritter Anlauf, von abstrakten Begriffen auf die Ebene des empirisch Nachvollziehbaren herabzusteigen, geht nicht von Vertretern der Modernisierungstheorie, sondern von Theoretikern der Postmoderne, genauer gesagt, der reflexiven Moderne aus. Da nur im Modernisierungsprozess bereits weit fortgeschrittene Gesellschaften im Begriff sind, die Schwelle zur Postmoderne zu überschreiten, während bei vielen Nachzüglergesellschaften offen ist, ob sie je dieses Stadium erreichen werden, waren Theoretiker der reflexiven Modernisierung von vornherein der Versuchung enthoben, nach universell gültigen Gesetzmäßigkeiten Ausschau zu halten.9 Sie vermieden aber auch insofern, in die Fallen der Modernisierungstheorie zu tappen, als sie nicht von einer mehr oder weniger zwangsläufigen Diffusion und Reproduktion der für das Stadium der Postmoderne kennzeichnenden sozialen Verhaltensweisen und Mechanismen ausgingen, sondern unterschiedliche Optionen der Betroffenen zuließen. Beispielsweise legten sie drei mögliche Reaktionsformen auf die gegenwärtig im Westen durchgängig zu beobachtende Entgrenzung von Herrschaft dar: eine fundamentalistische, eine neoliberale und eine kosmopolitische.10 Diese Art von Aussagen bleibt hinter schlüssigen eindeutigen Prognosen zurück, ist aber an Wert deutlich einer Aussagenlogik überlegen, die sich in Zweifelsfällen hinter das Kontingenzargument, dass die betreffende Situation bzw. Entwicklung völlig offen sei, zurückzieht.

9 10

Beck, Vom Veralten soziologischer Begriffe; Bonß/Lau, Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne. Bonß/Lau, Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne, S. 29.

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Theorie der Pfadabhängigkeit Dieser Theorieansatz erscheint in mancherlei Hinsicht als das Gegenstück zur Modernisierungstheorie. Hier geht es nicht um eine umfassende Interpretation der multiplen, miteinander verflochtenen Wandlungsprozesse, die sich, von Europa ausgehend, unter dem Etikett »Modernisierung« über die ganze Welt ausgebreitet haben, sondern um sehr spezielle Entwicklungssequenzen. Anstatt eines überschaubaren Kausalkonnexes verfolgen die Analysen historische Ereignisketten, die zu Ergebnissen führen, mit denen nach den Ausgangsbedingungen niemand gerechnet hätte. Gemeinsam ist der Modernisierungstheorie und der Pfadabhängigkeitstheorie lediglich, dass ihr Fokus auf der historischen Soziologie liegt und bei beiden dem Kontingenzkonzept große Bedeutung zukommt. Legt man die Kurzdefinition von J. Mahoney, einem der prominentesten Vertreter des Pfadabhängigkeitsansatzes in den Sozialwissenschaften, zugrunde, so bildet eine kontingente Konstellation regelmäßig den Ausgangspunkt pfadabhängiger Entwicklungen. Diese werden als eine historische Sequenz definiert, in welcher kontingente Ereignisse bestimmte institutionelle Muster hervorbringen oder eine Kette von Folgeereignissen auslösen, die nicht mehr dem Zufallsprinzip gehorchen, sondern weitgehend determiniert sind.11 Im Einzelnen stellt Mahoney drei Besonderheiten heraus, welche die Pfadabhängigkeitsanalysen über das allgemeine Motto history matters hinaus charakterisieren und das Anwendungsgebiet dieser Forschungsstrategie einengen sollen: erstens die überlegene Kausalkraft der Ausgangskonstellation einer historischen Ereignisfolge, die das Kausalgewicht späterer Ereignisse und Entwicklungen relativiert und der somit gewissermaßen eine Weichenstellungsfunktion im Hinblick auf das Folgegeschehen zukommt. Diese Ausgangsbedingungen sind zweitens kontingent, lassen sich also nicht mehr oder weniger schlüssig und zwingend aus vorangegangenen Strukturen und Ereignissen ableiten. Daraus folgt zugleich, dass auch das Endergebnis der gesamten historischen Entwicklungssequenz ursprünglich nicht vorherseh11

Mahoney, Path Dependency in Historical Sociology, S. 507.

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bar war. Es handelt sich, mit anderen Worten, um zunächst für unterschiedliche Optionen offene Situationen, die jedoch, nachdem die Weichen einmal gestellt sind, eine prägende Wirkung auf die weitere Entwicklung ausüben.12 Ist die Eingangsschwelle zu der historischen Ereignisfolge einmal überschritten, so greifen drittens relativ deterministische Kausalgesetzmäßigkeiten bis zum Ende der betreffenden historischen »Sequenz« oder Periode. Dabei kommen je nach historischem Prozess zwei Grundtypen von Kausalmechanismen zum Zuge: sich selbst verstärkende (eigendynamische) Mechanismen und solche, die auf dem Wechselspiel von Reaktion und Gegenreaktion beruhen.13 Entscheidende Anstöße für die Pfadabhängigkeitsanalyse gingen von den Wirtschaftswissenschaften aus. Es war weniger die kontingente Ausgangssituation, welche die Aufmerksamkeit der Vertreter dieser Disziplin auf sich zog, als die Tatsache, dass ein einmal eingeschlagener Pfad nicht mehr ohne Weiteres verlassen wurde und werden konnte. Dieser Befund kollidierte mit der Annahme, wirtschaftliche Akteure handelten prinzipiell rational und träfen jene Entscheidungen, welche jeweils die größten Vorteile versprächen. Wie, so fragte man sich, ist es zu erklären, dass sich ein nicht mehr dem jüngsten Kenntnisstand entsprechendes Produkt weiterhin auf dem Markt behauptet, obwohl bereits ein technisch ausgereifteres, denselben Zweck besser erfüllendes Modell im Handel erhältlich ist? Die Antwort lag in der oft zitierten Formel der increasing returns: Wenn eine Firma unter erheblichem Aufwand ein Produkt auf den Markt gebracht, dafür eigene Vertriebs- und Reparaturstellen eingerichtet hat und kaum mehr zusätzliche Mehrkosten anfallen, kann es bei kontinuierlich steigendem Absatz wirtschaftlich sinnvoller sein, dieses Produkt beizubehalten, als auf eine neue, technisch perfektere Version desselben umzuschwenken.14 Der Grundgedanke der increasing returns ging in etwas modifizierter Form in den neuen Zweig der Institutionenökono12 13 14

Sogenannte critical junctures, vgl. Cappoccia/Kelemen, The Study of Critical Junctures. Mahoney, Path Dependency in Historical Sociology, S. 510 ff. Pierson, Increasing Returns, S. 13 ff.; Castaldi/Dosi, The Grip of History.

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mie ein, deren prominentester Vertreter Douglas North ist. Dabei wurde ein sehr weites Verständnis von »Institutionen« zugrunde gelegt, das sowohl die formellen als auch die informellen Normen und Regeln einer Gesellschaft umfassen soll. Auch für die Institutionen gilt, wie North und seine Schüler nachwiesen, der Grundsatz, dass die Einführung neuer Regeln in einer komplexen Gesellschaft mit beträchtlicher Mühe und »Investitionskosten« in Form von Lernerfahrungen, Koordinationspraktiken und Umorientierung der Erwartungen verbunden ist, während all diese Mechanismen sich verstärkend und stabilisierend zugunsten einer bereits bestehenden normativen Ordnung auswirken.15 Von Überlegungen dieser Art war es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Politikwissenschaft, und in der Tat waren es besonders Vertreter dieses Fachs oder der politischen Soziologie, die den Pfadabhängigkeitsansatz aufgriffen und weiterentwickelten. Nach Pierson erklärt sich dies daraus, dass institutionelle und aus politischen Entscheidungen resultierende strukturelle Weichenstellungen im politischen Bereich noch eine wesentlich nachhaltigere Wirkung entfalten als in der doch im Wesentlichen durch das freie Spiel der Marktkräfte bestimmten Wirtschaft.16 Mahoney hat in seiner gründlichen Studie über die Bedeutung der liberalen Schwenkungen in sämtlichen zentralamerikanischen Ländern zwischen 1870 und 1900 ausführlich dargestellt, welche teils sehr unterschiedlichen längerfristigen Folgen sich aus den eingangs geschaffenen institutionellen Rahmenbedingungen ergaben.17 Was leistet eine Theorie pfadabhängiger Entwicklung für die historische Soziologie, und wo liegen die Berührungspunkte zum hier vertretenen Standpunkt von der Relevanz des konservativen Impulses? Aus meiner Sicht liegt der Hauptverdienst der Theorie darin, historische Sachverhalte erneut einer kausalen Analyse zugeführt und der Versuchung eines geschichtlich immer weiter zurückgehenden 15 16 17

Mummert, Wirtschaftliche Entwicklung und Institutionen; Pierson, Increasing Returns, S. 19. Pierson, Increasing Returns, S. 23 ff. Mahoney, Beyond Correlational Analysis.

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Kausalregresses einen Riegel vorgeschoben zu haben. Dazu bedurfte es der prinzipiellen Unterscheidung zwischen zwei Grundtypen historischer Phasen: kurzen, relativ offenen, in denen die Karten sozusagen neu gemischt werden, sodass die sich dabei ergebende, die weitere Entwicklung prägende Machtkonstellation nicht mehr aus den zuvor bestehenden Verhältnissen ableitbar ist; und längere, relativ geschlossene Phasen, in denen der einmal eingeschlagene Weg weiterverfolgt wird, bis er an seine Grenzen stößt, worauf sich das gleiche Sequenzmuster wiederholt. Diese Betrachtungs- und Vorgehensweise erlaubt es, auch sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Kausalketten in den Blick zu nehmen und analytisch aufzuschlüsseln. Sie bewährt sich besonders dort, wo das Resultat einer derartigen Aneinanderreihung von ursächlich miteinander verknüpften Teilprozessen gängigen Annahmen über die Kausalwirkung der Ausgangskonstellation widerspricht. Einen weiteren Vorzug der Theorie sehe ich darin, dass sie es vermeidet, »Kontingenz« zu einer Aushilfserklärung zu machen, auf die stets dann rekurriert wird, wenn die jeweils zugrunde gelegte Theorie versagt, sondern dass Kontingenzphänomenen ein präziser Platz innerhalb des Erklärungskonstrukts zugewiesen wird. Ihr Stellenwert hängt vom jeweiligen Phasentypus ab. Von zentraler Bedeutung sind sie zweifellos in den kurzen Phasen der Weichenstellung, in denen scheinbar zweitrangige Faktoren den Ausschlag dafür geben können, welche der verschiedenen Optionen sich durchsetzt und ihre Prägewirkung für die weitere Zukunft entfalten kann. Sind insoweit die Würfel einmal gefallen und die betreffende Gesellschaft befindet sich für absehbare Zeit auf einem bestimmten Entwicklungspfad, so ist sie zwar keineswegs gegen Kontingenzen gefeit, diese müssen aber gewichtiger, von größerer Durchschlagskraft sein, um die Gesellschaft von der eingeschlagenen Bahn abzubringen. Das Bestechende an der Pfadabhängigkeitstheorie ist, dass sie einerseits an dem Anspruch festhält, historische Prozesse kausal zu erklären, sich jedoch andererseits nicht mit allzu simplen Erklärungsschemata begnügt, sondern Analyseraster bereitstellt, die dem komplexen Verlauf längerfristiger Prozesse gerecht werden. Diese Vorzüge sollten jedoch nicht dazu führen, die Grenzen und gewisse Schwächen des Ansatzes zu übersehen. Er eignet sich gut für die Aufschlüsselung 309

der Entstehungsgeschichte konkreter politischer oder wirtschaftlicher Sachverhalte, wie »autoritäre Regime« oder »Industrialisierung«, kulturelle und sozialpsychologische Entwicklungen dürften mit ihm weit schwerer einzufangen sein.18 Bei der Neuentdeckung des Institutionellen durch die Wirtschaftswissenschaft wurde zudem übersehen, dass Institutionen, freilich in einem konkreten Sinn, seit über einem Jahrhundert ein fester Topos in der europäischen Sozial- und Rechtswissenschaft sind, wobei ihr tendenziell konservativer Charakter so selbstverständlich ist, dass sie teilweise geradezu zum Inbegriff von Stabilität und Halt vermittelnden Größen in Zeiten beschleunigten Wandels wurden.19 Gleichwohl rückt die dem Wechselverhältnis zwischen Strukturen und Akteuren zugemessene Bedeutung, die Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes, das Bemühen um die Eingrenzung des Anwendungsbereichs von Kontingenzen, die Betonung des Zeitfaktors und das Zugeständnis der Offenheit historischer Prozesse die Pfadabhängigkeitstheorien in die Nähe des hier vertretenen Ansatzes. Handelt es sich nur um eine fiktive Nähe, oder besteht tatsächlich die Möglichkeit, Überlegungen zum »konservativen Impuls« mit ihnen zu verbinden? Kehren wir zum eingangs skizzierten idealtypischen Modell einer pfadabhängigen Entwicklung von Mahoney zurück, so enthält es zwei Abschnitte, in denen konservative Regungen und Bewegungen zum Zug kommen können. Die erste Möglichkeit ergibt sich während der critical-juncture-Phase, wenn die Weichen für eine neue Entwicklung gestellt werden. Wie Capoccia und Kelemen zu Recht ausführen, ist keineswegs gesagt, dass die als maßgeblich sich herausbildende Kräftekonstellation für den Wandel optiert. Es ist auch möglich, dass ein Bündnis konservativer Gruppen die Oberhand behält, welches die eine Veränderung des Status quo anstrebenden Einflusskräfte erfolgreich abwehrt und zum ursprünglichen Gleichgewichtszustand zurückkehrt.20 Die zweite Möglichkeit ergibt sich im Rahmen der eingeschlagenen Entwicklungspfade. In einem Falle, so hieß es, stabili18 19 20

Goldstone, General Laws. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Capoccia/Kelemen, The Study of Critical Junctures, S. 352.

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sierten diese sich durch laufende, von entsprechenden Institutionen produzierte Selbstverstärkungsprozesse. Es gibt aber noch einen zweiten Pfad, der über den vorhersehbaren Aufschaukelungsprozess von Reaktionen und Gegenreaktionen auf den eingeschlagenen Kurs führt.21 Hier können konservative Gegenbewegungen einen wichtigen Beitrag zur Festlegung des definitiven Pfades leisten. Als Endergebnis der Auseinandersetzungen kann ein Regimetypus entstehen, mit dem zu Beginn der historischen Sequenz niemand gerechnet hätte.

Challenge-Response-Theorie Der Ausdruck Theorie greift in diesem Falle eigentlich zu hoch. Es handelt sich um einen Denkansatz, der zwei bewährte Stammväter hat, die Historiker Ibn Khaldun und Arnold Toynbee. Der Ansatz wurde zwar gelegentlich aufgegriffen, jedoch nie zu einer expliziten Theorie weiterentwickelt und ausgearbeitet. Ausgangspunkt der dem Challenge-Response-Ansatz verpflichteten Studien ist die Absage an das Denken in deterministischen Kausalverknüpfungen und linearen Entwicklungen in den Sozialwissenschaften, an deren Stelle Wechselbeziehungen zwischen Akteuren oder Akteuren und ihrer Umwelt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die beiden erwähnten Klassiker faszinierte insbesondere ein paradoxer Zug dieser Wechselbeziehungen: dass Schwierigkeiten und Hindernisse nicht zur Beschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten von Gesellschaften führen, sondern im Gegenteil einen Ansporn für die Mobilisierung zusätzlicher Energien und einer besonderen Leistungsbereitschaft, um ihr Los zu verbessern, bilden. Es liegt auf der Hand, dass sich eine sozialpsychologische Prämisse dieser Art nicht ohne Weiteres in die gängigen Lern- und Rationalitätstheorien menschlichen Verhaltens einfügt. Das mag einer der Hauptgründe dafür sein, dass der Ansatz in jüngerer Zeit nicht weiter vertieft wurde. Dabei kann man ihm, selbst wenn man sich auf die 21

Mahoney, Path Dependency in Historical Sociology, S. 526 ff.; Mahoney, The Legacies of Liberalism, S. 10 ff.

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hier analysierten Fälle beschränkt, schwerlich eine Prima-facie-Plausibilität abstreiten. Kommen wir etwa auf den Vergleich zwischen Südkorea und Argentinien zurück. Argentinien war zweifellos, was die äußeren Rahmenbedingungen (fehlende militärische Bedrohung) und Ressourcenausstattung (Bodenschätze, Fruchtbarkeit des Landes) betrifft, in einer weit günstigeren Lage als Südkorea. Wenn Südkorea der Sprung zur industriellen Exportnation gelang, während Argentinien bis heute nicht über den Status eines Schwellenlandes hinausgekommen ist, so lag dies neben einem Elitenwechsel in Südkorea sicher an der Bereitschaft der koreanischen Bevölkerung, sich der Herausforderung in Form von Außenabhängigkeit, Armut und der Gefahr, in den kommunistischen Machtbereich integriert zu werden, zu stellen und sich der kollektiven Anstrengung, sie zu bewältigen, zu unterziehen. Der Erste, der auf die »kollektive Moral« als Antriebskraft für politischen Wandel aufmerksam machte, war Ibn Khaldun.22 Anfang des 14. Jahrhunderts in Tunis geboren, wurde Ibd Khaldun Zeuge des zunehmenden Niedergangs der nach der Expansion des Islam im 6. und 7. Jahrhundert gegründeten arabischen Fürstentümer, ein Niedergang, der von heftigen inneren Kämpfen, Gewaltexzessen, politischen Intrigen und Überfällen wilder Nomadenstämme auf die reichen Städte in den fruchtbaren Ebenen begleitet war. Aus einer vornehmen Familie stammend und sehr gebildet, bekleidete Ibn Khaldun hohe politische Ämter, war auch selbst an politischen Intrigen und Umsturzplänen beteiligt und verbrachte einige Jahre im Gefängnis. Dort und nachdem er sich im fortgeschrittenen Alter aus der Politik zurückgezogen hatte, verfasste er umfangreiche historiografische Werke. Besonders bekannt, da nach Jahrhunderten wiederentdeckt und immer wieder zitiert, wurde die »Muqaddima«, eine Art Einführung zu seinen geschichtlichen Studien, in welcher er die Grundzüge seiner Herrschaftssoziologie darlegte. Dabei war er weder mit den Werken von Aristoteles noch von Thukydides vertraut. Bedenkt man, dass er sich praktisch ausschließlich auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen stützte, so muss man anerkennen, dass der Versuch, eine von theologischen Erklärungen und dem Rekurs auf herausragende Herr22

Bouthoul, Ibn-Khaldun.

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scher und Ereignisse abgelöste historische Machtsoziologie zu entwickeln, eine gewaltige geistige Leistung in jener Zeit darstellte.23 In ihrem Zentrum steht eine zyklische Theorie des Machtwechsels, die mit sozialpsychologischen Eigenheiten von Eroberern und Unterworfenen in Verbindung gebracht wird, die wiederum ihrerseits den jeweiligen Umweltbedingungen geschuldet seien und sich mit ihnen veränderten. Das harte, entbehrungsreiche Leben der Nomadenstämme der Beduinen, so Ibn Khaldun, der selbst längere Zeit unter ihnen zubrachte, erzeuge nicht nur außergewöhnliche individuelle Charaktereigenschaften wie Mut und Tapferkeit, Stolz und Selbstständigkeit. Da die Einzelnen aufeinander angewiesen seien und sich jeder auf den anderen verlassen können müsse, entwickelten die Nomadenvölker auch ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl, einen esprit de corps unter Gleichberechtigten. Dieser führe dazu, dass sie bei kriegerischen Auseinandersetzungen anderen Bevölkerungsgruppen, vor allem Stadtbewohnern, regelmäßig überlegen seien. So würden in Luxus schwelgende Städte leicht zur Beute räuberischer nomadischer Horden, die nach Reichtum und einer Verbesserung ihrer kargen Lebensbedingungen lechzten. Der kriegerische Erfolg leite jedoch zugleich den Verfall ihres Gemeinschaftsgeistes und damit ihren Niedergang ein. Getreu seiner Hypothese von der Prägekraft des jeweiligen natürlichen und sozialen Umfelds, beschreibt Ibn Khaldun, wie die Nomaden, den sie verwöhnenden Einflüssen nicht gewachsen, über die Generationen hinweg verweichlichten, eigensüchtig und servil würden. Die vierte auf die Eroberer folgende Generation habe die Tugenden und Qualitäten, die einst die Voraussetzung für die Erringung der Herrschaft gewesen seien, völlig vergessen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sei die betreffende Gesellschaft reif für den nächsten Machtzyklus, der genau nach dem gleichen Muster ablaufe.24 Ibn Khaldun erhob zwar den Anspruch, universell gültige Gesetze politischer Machtsequenzen aufzuzeigen. Wie Bouthoul überzeugend darlegt, beschränkten sich seine Erfahrungen und unmittelbaren Kenntnisse jedoch im Wesentlichen auf den von den Arabern 23 24

Ebd., S. 15 ff. Ebd., S. 67 ff.

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kontrollierten geografischen Gürtel nördlich der Sahara und auf den Süden Spaniens.25 Demgegenüber bildet der von A. Toynbee entwickelte Challenge-Response-Ansatz den Abschluss seiner umfangreichen, insgesamt 21 Zivilisationen umfassenden Studien zur Weltgeschichte.26 Ich verzichte hier auf die Wiedergabe seiner Herleitung der Theorie unter Zurückweisung deterministischer Umwelt- und Rassentheoreme aus der Kosmogonie unterschiedlicher Völker und Kulturen und konzentriere mich gleich auf deren Quintessenz. Diese lässt sich in vier grundlegenden Einsichten zusammenfassen. Die erste besteht in der entschiedenen Zurückweisung von Erklärungen nach dem Muster der Naturwissenschaften, welche bestimmte Einzelfaktoren als Ursache der Entwicklung einer Kultur zur Weltzivilisation herausstellen. Weltzivilisationen seien vielmehr regelmäßig das Resultat von »Wechselwirkungen«, von »Begegnungen«, sei es zwischen dem Menschen und den natürlichen Umweltbedingungen, sei es zwischen verschiedenen Kulturen und Zivilisationen. Verstärkte Wechselwirkungen und Austauschprozesse würden zweitens vor allem durch Veränderungen ausgelöst, die ein ursprünglich bestehendes Gleichgewicht in Frage stellen, etwa durch einen fundamentalen Klimawandel oder den Kontakt mit einer anderen, überlegenen Zivilisation. Was sich aus derartigen Wechselbeziehungen ergibt, ist, so die dritte Annahme, offen, also nicht eindeutig prognostizierbar. Meist sind mehrere Auseinandersetzungsprodukte denkbar und empirisch nachweisbar. Toynbee lässt aber viertens keinen Zweifel aufkommen, dass die Kühnheit und Innovationspotenz der Antwort proportional zum Ausmaß der jeweiligen Herausforderung zunimmt.27 Je mehr sich ein Volk zumute, um ein Problem, mit dem es konfrontiert ist, zu bewältigen, desto größer sei seine Chance, zu zivilisatorischer Exzellenz aufzusteigen. Die empirische Untermauerung dieser Thesen fällt ungeachtet der Reichhaltigkeit des dem britischen Historikers zur Verfügung stehenden geschichtlichen Belegmaterials insgesamt unbefriedigend aus. 25 26 27

Ebd., S. 14 ff. Toynbee, Studie zur Weltgeschichte. Ebd., S. 88 ff., 102 ff.

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Das liegt zum einen an der schier endlosen Dehnung des Herausforderungskonzeptes, das dadurch jegliche Griffigkeit einbüßt, zum anderen auch an der Überstrapazierung der These per aspera ad astra, dass also nur jenem Volk, jener Kultur der Lorbeer des Rangs einer Hochzivilisation winkten, die sich zunächst ein Maximum an Schwierigkeiten und Hindernissen zumuteten. Gleichwohl sollten diese Schwächen nicht vergessen machen, dass hier ein Theorieentwurf vorgelegt wurde, der etliche Vorzüge in sich vereinigt: Er klammert die Akteure und sozialen Interaktionen und damit den jeder Entwicklung inhärenten menschlichen Freiheitsspielraum (die ihr eigene Offenheit) nicht aus; da sozialpsychologischer Natur, ist er auf Individuen und soziale Kollektive gleichermaßen anwendbar; schließlich zeigt er mit dem Aufweis mehrerer möglicher Reaktionen auf eine Herausforderung einen Zwischenweg zwischen der Option für einen strikten Kausaldeterminismus und dem Rekurs auf die keinerlei Begrenzung kennende Kontingenzformel auf. Um den Challenge-Response-Ansatz von der Abstraktionsebene des allgemeinen Kulturvergleichs und der Entstehung von Hochzivilisationen herunterzuholen und zu einem für überschaubare Prozesse des Wandels brauchbaren theoretischen und methodischen Instrument zu machen, bedürfte es gewisser Präzisierungen und Operationalisierungen, die teilweise schon in Angriff genommen worden sind. Eine erste zentrale Frage ist, was man unter einer »Herausforderung« eigentlich verstehen soll. Genügt es, dass ein Problem von scharfsinnigen Geistern, etwa Wissenschaftlern, als solches erkannt wird, oder muss es auch im allgemeinen Bewusstsein präsent sein? Man könnte die These vertreten, dass die größten einer Gesellschaft drohenden Gefahren oft schleichender Natur sind, sich unmerklich vollziehen, ohne größeres Aufsehen zu erregen. Hier liegen offenkundig Grenzen des Ansatzes, er setzt eine konkrete Infragestellung des Status quo voraus, die zumindest den Eliten bewusst ist. Bei der nächsten Frage, wie Herausforderungen zu bewältigen sind, muss man sich vor der Vorstellung eines »Entweder-oder«, dem erfolgreichen Meistern der Krise oder dem Scheitern bei dem Versuch, mit ihr fertig zu werden, hüten. Diese dramatischen Alternativen stellen eher die Ausnahme dar, im Zweifel existieren stets mehrere 315

Optionen, wie sie beispielsweise bei den türkischen Migranten in der Bundesrepublik, die sich mit der Aufnahmegesellschaft auseinandersetzen müssen, herausgearbeitet wurden. Darin liegt, wie bereits betont wurde, in jedem Fall ein Fortschritt gegenüber der bloßen Kontingenzformel, die alles offenlässt. Für eine weitere Eingrenzung der Kontingenzen ist es nützlich, sich die den Akteuren zur Bewältigung der Herausforderung zur Verfügung stehenden Ressourcen genauer anzusehen und die Stärke einen akzelerierten Wandel blockierender Gegenkräfte einzuschätzen. Was Letztere betrifft, so hat die hier vorgenommene Untersuchung wiederholt gezeigt, dass die alten Machteliten als geschlossene Formation so lange wie möglich ihre Privilegien und damit die überkommenen Strukturen verteidigen, als Einzelne nach ihrer Entmachtung jedoch zu den eifrigsten Promotoren des Wandels mutieren können. Wie bei Einzelnen, so ergibt auch für ganze Gesellschaften die Behauptung wenig Sinn, sie würden automatisch an ihren Aufgaben wachsen. Das Toynbee’sche Paradox – »je größer die Schwierigkeiten desto mächtiger der Ansporn« – hat als Hintergrundvariable die Fähigkeit Einzelner und sozialer Kollektive zur Sammlung und Anspannung ihrer Kräfte zur Voraussetzung. Wie bereits Ibn Khaldun erkannte und sich auch beim Vergleich der Entwicklung Südkoreas und Argentiniens bestätigte, kommt es mehr auf die »moralische« Verfassung einer Gesellschaft (den jeweiligen »Tugendkatalog« und das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl) als auf die äußerliche Ressourcenausstattung an. Die Ressourcenlage ist das eine, inwieweit sie sich bei der Lösung der jeweils anstehenden Probleme als hilfreich erweist, dagegen eine andere Frage. Diese ist komplex und führt leicht zu Missverständnissen. Auf Anhieb verführerisch wirkende Anschluss- und Lösungsmöglichkeiten können sich längerfristig als verhängnisvolle Fallstricke erweisen. Ibn Khaldun hat bereits das klassische Beispiel hierfür mit seiner These geliefert, dass der vordergründige militärische Erfolg der Nomadenvölker über sesshafte, kulturell höher stehende Bevölkerungsgruppen zugleich den unvermeidlichen Niedergang der Eroberer einleite. In unserer Zeit wird diese Lektion durch Entwicklungsländer, die über wertvolle Rohstoffe, insbesondere Erdöl verfügen, 316

bestätigt. Mag ihnen die starke internationale Nachfrage nach dem begehrten Gut auch hohe Deviseneinnahmen bescheren und die rasche Angleichung der Konsumstandards ihrer Bevölkerung an das Niveau der Industrieländer ermöglichen, so lähmt der jähe Überfluss doch zugleich jene Kräfte, deren Mobilisierung es zur Absicherung einer dauerhaften Modernisierung bedarf. Hans Dieter Seibel hat ein Schema entwickelt, wie sich eher traditionelle Gesellschaften durch die Vermehrung offener, flexibler Rollenmuster an moderne Strukturen anpassen können.28 Wo indes, wie in weiten Teilen Afrikas, die Grundvoraussetzungen moderner Staatlichkeit fehlen, ist es mit Veränderungen des Rollenverhaltens, um einen politischen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, nicht getan. Schließlich müssen auch Probleme der zeitlichen Streckung oder Häufung von Herausforderungen und, eng damit zusammenhängend, einer möglichen Überforderung (als Pendant zur »Unterforderung«) sozialer Akteure und ganzer Gesellschaften diskutiert und präzisiert werden. Bei Toynbee ist diese Thematik bereits angeschnitten.29 Die wichtigsten Vorarbeiten dazu hat in den 1960er und 1970er Jahren die Forschergruppe um Gabriel Almond und Lucian Pye, die sich mit der vergleichenden Analyse der Staaten- und Nationenbildung beschäftigte, geleistet.30 Sie unterschied auf einer halb empirischen, halb normativen Basis eine Reihe sukzessiver Krisen, die im Verlauf der Entstehung einer Nation und eines Staatsgebildes als Herausforderungen an die politischen Eliten herangetragen werden.31 Das hätten Bausteine einer Theorie mehr oder weniger gelungener politischer Entwicklung sein können. Leider wurde der Ansatz in empirischen Arbeiten nur vereinzelt aufgegriffen und weiterverfolgt.32

28 29 30 31 32

Seibel, Struktur und Entwicklung der Gesellschaft, S. 87 ff. Toynbee, Studie zur Weltgeschichte, S. 154. Rokkan, Die vergleichende Analyse der Staaten- und Nationenbildung; Pye, Aspects of Political Development. Verba, Sequences and Development. Waldmann, Der Peronismus.

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Ein sozialer Mechanismus Es gibt diverse Verbindungslinien zwischen dem »konservativen Impuls« und einer Reihe sozialwissenschaftlicher Theorieansätze. Unter dem Gesichtspunkt des sozialen Wandels lässt sich, wie wir gesehen haben, an Pfadabhängigkeitstheorien oder Challenge-Response-Theorien anknüpfen; ganz allgemein bieten sich Theorien des kollektiven Gedächtnisses, des Fundamentalismus, des »Bonapartismus«, Neuauflagen der Moral-Economy-Theorie, möglicherweise auch anomietheoretische Ansätze als Interpretationsrahmen an, in den sich das Konzept integrieren ließe. Den Grundgedanken und Intentionen dieser Studie am nächsten kommt ein Aufsatzband von Charles Tilly mit dem Titel »Stories, Identities and Political Change«, den er in einer Spätphase seines Schaffens veröffentlichte.33 Er kreist erneut um sein bevorzugtes Thema, die Entstehung, Entwicklung und Identität soziopolitischer Bewegungen. Tilly verzichtet darauf, einen allgemeinen Erklärungsansatz vorzustellen, sondern begnügt sich mit der Herausarbeitung brauchbarer Bausteine eines solchen. Er nennt derer drei: Der erste bezieht sich auf die Entstehung soziopolitischer Bewegungen (generation), der zweite auf die Hindernisse, denen sie begegnen, und drittens sind die Narrative über ihre Identität (identity stories) von Bedeutung.34 Auch diese Untersuchung erhebt keinen theoretischen Anspruch im Sinne des Aufweises einer allgemein gültigen sozialen Gesetzmäßigkeit. Wie von P. Hedström und R. Swedberg, R. Mayntz, J. Mahoney und etlichen anderen in jüngerer Zeit kritisch vermerkt wurde, lässt sich generellen Gesetzen zwar etwas über die Wahrscheinlichkeit einer engen Verknüpfung von zwei Variablen entnehmen, sie sagen aber nichts über den kausalen Nexus aus, der die eine mit der anderen verbindet.35 Hier ging es aber genau um den Nachweis solcher Kau33 34 35

Tilly, Stories, Identities and Political Change. Ebd., S. 207 ff. Hedström/Swedberg, Social Mechanisms: An Introductory Essay, S. 1 ff.; Mayntz, Soziale Mechanismen, S. 205 ff.; Mahoney, Beyond Correlational Analysis.

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salzusammenhänge. Ich ging von der Annahme aus, dass es nicht ausreiche, die sukzessiven Neuerungsstufen aneinanderzureihen, um einschneidenden beschleunigten sozialen Wandel und seine Folgen zu begreifen. Vielmehr müsse man sich mit der Dynamik des jeweiligen Wandlungsprozesses befassen. Dabei stoße man regelmäßig neben Kräften und Impulsen, die ihn vorantreiben, auf Gegenkräfte und -impulse, die sich ihm in den Weg stellen, ihn aufzuhalten versuchen. Erst ihr Ringen miteinander und das sich im Zeitverlauf verändernde Kräfteverhältnis ergebe ein vollständiges Bild des komplexen Kausalablaufs der jeweiligen Entwicklung. Die Rolle des konservativen Elementes in diesen Auseinandersetzungen lässt sich am besten als die eines sozialen Mechanismus (social mechanism) umschreiben. Was die charakteristischen Merkmale eines sozialen Mechanismus sind, dessen zunehmende Beliebtheit als sozialwissenschaftliches Konzept vor allem der unfruchtbaren und letztlich vergeblichen Suche nach allgemeinen soziologischen Kausalgesetzen geschuldet ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Mahoney zählt nicht weniger als 24 Definitionsversuche dafür auf. Die meisten Autoren sind sich in Anlehnung an Robert King Merton und sein Plädoyer für Theorien mittlerer Reichweite in der Soziologie einig, dass soziale Mechanismen im Mittelfeld zwischen bloßer Beschreibung und der Suche nach sozialen Gesetzen angesiedelt sind.36 Doch was jenseits dieser negativen Abgrenzung positiv darunter zu verstehen ist, darüber ist eine intensive Debatte im Gange. Sie kreist u.a. um Fragen wie das Verhältnis von makro-, meso- und mikrosozialer Ebene bei der Analyse sozialer Mechanismen, ob deren Ausgangspunkt stets ein Explanandum als Resultat eines Kausalprozesses oder eine kontingente Ursprungssituation sei, ob Kausalmechanismen beobachtbar sein müssen oder nicht, konstant sein müssen oder variabel in ihren Wirkungen sein dürfen, und anderes mehr. An dieser Stelle erübrigt es sich, diese Diskussion im Einzelnen nachzuzeichnen. Im Kontext dieser Untersuchung genügt die von Renate Mayntz vorgeschlagene Definition, die ebenso einleuchtend wie einfach handhabbar ist. Sie versteht unter einem sozialen Mechanis36

Hedström/Swedberg, Social Mechanisms, S. 2 f.

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mus »Sequenzen kausal verknüpfter Ereignisse, die sich unter bestimmten Bedingungen wiederholen«.37 In dieser Begriffsbestimmung finden wir sämtliche Elemente wieder, mit denen zu Beginn dieses Kapitels der hier vertretene Ansatz beschrieben wurde. Der »konservative Impuls« als theoretisches Konstrukt, so wurde gesagt, impliziere u.a. – ein Denken in Kausalkategorien und Kausalketten; – eine starke Kontextabhängigkeit seiner Wirkweise; – den Einschluss des Zeitfaktors (wann und wie lange kommt er zum Tragen?) bei seiner Analyse; – die Betonung des prozesshaften und interaktiven Aspekts sozialen Wandels und seiner Folgen. Was gewinnt man durch die Konzeptualisierung des konservativen Impulses als sozialen Kausalmechanismus? Lassen sich Aussagen über kausale Schlüsselvariablen und entscheidende Weichenstellungen bei über mehrere Teiletappen sich erstreckenden Kausalprozessen machen? Ich versuche den heuristischen Wert des Verständnisses des konservativen Impulses als Sozialmechanismus durch drei Paarvergleiche zu demonstrieren, die jeweils einem Kapitel der Studie entnommen sind. Die kurzen Pfeile in der folgenden grafischen Darstellung stehen für den jeweiligen Kausalzusammenhang, der lange Pfeil bezieht sich auf die Zeitachse. Sowohl bei der Verarbeitung von Todesfällen als auch bei jener der Auswanderung spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Im Normalfall dominiert nach dem Tod eines nahen Angehörigen zunächst der Trauerimpuls, und die Bereitschaft, sich auf die neue Situation einzustellen, wächst nur allmählich. Ein Überspringen der Trauerphase kann negative Folgen zeitigen. Auch die Tatsache, dass die Folgen der Auswanderung weniger bei den Auswanderern selbst als bei ihren Kindern und Kindeskindern in Form eines Identitätskonfliktes bei Jugendlichen manifest werden, ist ein Beleg dafür, dass der zeitliche Aufschub konservativer Reaktionen keineswegs deren Abschwächung oder gar Löschung bedeutet. 37

Mayntz, Soziale Mechanismen, S. 208.

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Schaubild 4: Individuelle Verlusterfahrungen: Kausalmechanismen

Sowohl bei Todesfällen als auch im Umgang mit dem Identitätskonflikt bei den Nachfolgegenerationen der Auswanderer lässt sich nach Maßgabe der Stärke des konservativen Impulses eine Auffächerung in drei mögliche Reaktionen beobachten. Dabei handelt es sich um Idealtypen, die ihrerseits wiederum in Untertypen ausdifferenziert werden könnten. Sowohl der Tod eines nahen Angehörigen als auch die Auswanderung der Familie stellen zweifelsohne eine Herausforderung dar – sie räumen den Betroffenen regelmäßig einen gewissen Entscheidungsspielraum ein, der nicht nur eine, sondern mehrere mögliche Antworten zulässt. Für die Frage, welche jeweils bevorzugt wird, lassen sich in den Fallbeispielen zusätzliche Determinanten wie Alter, soziale Einbettung oder auch Persönlichkeitsvariablen heranziehen. In jedem Fall scheint das Aufzeigen konkreter Verhaltensalternativen einer Forschungsstrategie vorzuziehen zu sein, die, nachdem kein eindeutiger deterministischer Kausalzusammenhang erkennbar ist, auf die Kontingenzklausel rekurriert. 321

Schaubild 5: Kausalmechanismen beim Übergang von der Monarchie zur Republik bzw. Demokratie Frankreich

Zeitachse

Spanien

Republikanismus im benachbarten Frankreich während des 19. Jahrhunderts, von Minderheitsgruppen begeistert aufgenommen, führt zu einem Defensivbündnis der konservativen Kräfte, aus neben dem Hof vor allem der Kirche, dem Militär und den Großgrundbesitzern.

Französische Revolution mit Vision neuer, auf Gleichheits- und Brüderlichkeitsprinzip beruhender Gesellschaft reißt auch gemäßigte Kräfte mit und lässt keinen Widerstand aufkommen. Es wird allerdings die bereits unter der Monarchie einsetzende Zentralisierung der Verwaltung fortgeführt.

Dieses Rechtsbündnis ist so stark, dass es auch den förmlichen Übergang zur Republik fast unbeschadet übersteht. Das Scheitern der Republik geht nicht nur auf die Boykottpolitik der im internationalen Aufwind befindlichen Rechten zurück. Auch die unter sich zerstrittenen Republikaner sind, noch in der traditionellen politischen Kultur verhaftet, der neuen Situation nicht gewachsen.

Nach dem Zusammenbruch der Revolution erstarken die restaurativen Kräfte erneut und werden durch aus dem Exil Zurückgekehrte noch verstärkt. Republikanisches und konservatives Lager stehen sich in einem Machtpatt unversöhnlich gegenüber.

Die bonapartistische Diktatur Napoleons I. ist eine Zwangsbefriedung der antagonistischen politischen Kräfte »von oben« und zugleich der Versuch einer Synthese (mit konservativer Schlagseite) alter und neuer politischer Ordnung. Sie scheitert nach 15 Jahren an zu ambitiöser Militär- und Außenpolitik.

Die politische Polarisierung mündet in einen Bürgerkrieg. Aus ihm geht, u. a. aufgrund der Unterstützung durch die Achsenmächte, die politische Rechte unter General Francoals Sieger hervor. Franco errichtet eine personalistische Diktatur, die 35 Jahre andauert.

Nach Abdankung Napoleons wiederholte Pendelbewegung zwischen monarchischen Regimen und erneuten Anläufen zur Gründung einer Republik.

Die erste Phase der Diktatur ist nach einem Rachefeldzug gegen die Besiegten durch bonapartistische Züge geprägt: Bemühen um Einheit der Nation, Betonung ihrer Sonderrolle innerhalb Europas, die Wahrung der Neutralität im Zweiten Weltkrieg, das Setzen auf

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Frankreich

Zeitachse

Spanien

Ausgleich zwischen den um Dominanz ringenden »Familien« innerhalb des Regimes.

Erst mit der der III. Republik 1870, rund 80 Jahre nach dem Revolutionsbeginn, endet das Tauziehen zwischen konservativen und progressiven Kräften, findet Frankreich zu politischer Stabilität zurück.

Wirtschaftskrise in den 1950er Jahren führt zu einer Schwenkung von betont konservativer zu modernisierungsfreundlicher Politik. Lange Dauer diktatorischer Herrschaft bewirkt Reifung und gegenseitige Annäherung früher zerstrittener Oppositionskräfte, Angleichung an die politische Kultur des restlichen Europas.

Damit war die Voraussetzung für einen friedlichen Übergang zur Demokratie nach Francos Tod (1973) gegeben.

Ungeachtet der beträchtlichen Unterschiede im Demokratisierungsprozess zwischen dem Vorreiter Frankreich und dem Nachzügler Spanien, verdeutlicht der Vergleich nochmals, welch ungeheure Provokation die republikanische Staatsidee für die traditionellen Herrschaftseliten in beiden Ländern darstellte und wie verzweifelt diese sich gegen ihre Verbreitung und Durchsetzung wehrten. Ihr hartnäckiger Widerstand ließ über kurz oder lang in beiden Staaten eine Situation des politischen Machtpatts entstehen, welche die jeweiligen politischen Systeme einer schweren Zerreißprobe aussetzte und die Länder an den Rand des Chaos brachte. In beiden Fällen waren es ähnliche Faktoren (»Mechanismen«), die eine Annäherung der konträren politischen Standpunkte ermöglichten und nach einer Phase der Turbulenzen den Weg zurück zu stabilen politischen Verhältnissen ebneten. Zum einen waren es bonapartistische Diktaturen, die einem Bürgerkrieg vorbeugten oder ihm ein Ende setzten. Im Interesse der Wahrung der nationalen Einheit um einen Ausgleich zwischen den konfligierenden Gruppen und Kräften bemüht, ergriffen sie nicht Partei, sondern nahmen den Standpunkt einer übergeordneten Ent323

scheidungsinstanz ein, die der Gesellschaft einen Zwangsfrieden auferlegte. Von ihrer letztlich systemerhaltenden Grundorientierung her war jedoch klar, dass sie eher dem konservativen Lager zuzuordnen waren. Umso bemerkenswerter erscheint, dass der Modernisierungsprozess unter dem quasi konservativen Schutzschild dieser Diktaturen teilweise größere Fortschritte machte als in den Phasen republikanischer Regierungen. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie in reichlichem Maße über einen zweiten Schlüsselfaktor, nämlich »Zeit«, verfügten. »Zeit«, hier weniger verstanden als richtige Sequenz sukzessiver »Kausalschritte«, denn schlicht als »Dauer«. Insbesondere bedurfte es eines längeren Zeitraumes, um bei den politischen Akteuren die Überzeugung reifen zu lassen, dass den ständigen gewaltsamen Regimewechseln die Kanalisierung der Konflikte durch eine gemeinsame Verfassung vorzuziehen sei, also einen politischen Mentalitätswandel bei ihnen zu bewirken. In Frankreich setzte sich diese Überzeugung nach einschlägigen Erfahrungen durch, in Spanien zeitigte die lange Diktatur, verbunden mit der Angst vor einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs, nach Francos Tod dasselbe Ergebnis. Schaubild 6: Kausalmechanismen im Verhältnis von Industrialisierung und Identitätsmanagement Baskenland

Zeitachse

Südkorea

Zwei Voraussetzungen des in den 1960er Jahren einsetzenden industriellen Booms sind erwähnenswert: In den 1930er Jahren unter japanischer Besatzungsherrschaft kommt es auf deren Initiative zu ersten Industrialisierungsansätzen. In den 1950er Jahren wird die traditionelle Yangban-Elite, die sich gegen Modernisierungskurs gesperrt hatte, durch eine Landreform definitiv entmachtet.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts Industrialisierungsschub, ausgehend von der Bourgeoisie in den Küstenstädten, insbes. Bilbaos, der die konservative Kleinbauernschicht des ruralen Hinterlandes gegenübersteht.

Wirtschaftsboom, der Migranten aus Nachbarregionen anzieht, führt im Großraum von Bilbao zu raschem Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Säkularisierung und der Zurückdrängung der baskischen Sprache durch das Spanische. Als Reaktion Gründung der Baskischen Nationalistischen Partei

Im Militärputsch von 1960 übernimmt eine Gruppe nationalistischer Offiziere die Herrschaft. Angeführt von General

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Baskenland

Zeitachse

Südkorea

Park und unterstützt durch ein technokratisches Beraterteam beschließt die neue Regierung, mittels Fünfjahresplänen Südkorea im Eiltempo zu einer exportorientierten Industrienation umzuformen.

(PNV), die sich für die Rückkehr zu früheren Verhältnissen einsetzt, als Minderheitspartei vor allem Unterstützung des städtischen Kleinbürgertums und in ruralen Zonen findet.

Die Basken schließen sich im Bürgerkrieg dem republikanischem Lager an, das ihnen einen Autonomiestatus einräumt. Nach dem Sieg der Nationalisten folgt ein harter Rachefeldzug Francos.

Diese Absicht wird erfolgreich in die Tat umgesetzt. Innerhalb von gut 20 Jahren stößt das arme, unterentwickelte Land zur Riege der hoch entwickelten Industrienationen vor. Das repressive Regime sorgt dafür, dass kein Widerstand gegen seinen Kurs aufkommt.

Trotz anhaltender Repressionen nimmt der zweite Industrialisierungsschub in Spanien ab den 1950er Jahren erneut von Katalonien und dem Baskenland seinen Ausgang, mit ähnlichen, die traditionellen Strukturen infrage stellenden Konsequenzen wie der erste. Der zweite Industrialisierungsschub und die harte Unterdrückung durch das Franco-Regime führen nicht zur Schwächung sondern zu einer zusätzlichen Stärkung des Nationalbewusstseins. In der politischen Krisensituation profiliert sich die Gewaltorganisation ETA als Hauptexponent des Widerstands.

Nachdem die alten Eliten entmachtet sind, fehlen soziale Trägergruppen, um traditionelle Werte und Interessen zu verteidigen. Die herkömmlichen konfuzianischen Tugenden werden teils in den Dienst des Industrialisierungsprojektes gestellt, teils in private Randbereiche (Familie etc.) abgedrängt.

In der Vergangenheit wurzelnde Mentalitätsreste und moralische Normen verschwinden jedoch nicht, sondern werden nur überdeckt und stehen weiteren Modernisierungsschritten wie der Demokratisierung und Entwicklung zum Rechtsstaat im Wege. Das versäumte kollektive Identitätsmanagement rächt sich in Form allgemeiner Verunsicherung, Desorientierung und Selbstüberforderung.

Die politische Mobilisierung unter nationalistischem Vorzeichen hält nach Spaniens Rückkehr zur Demokratie an. Der PNV wird zur stärksten Partei in der Region. Auf gesellschaftlicher Ebene kommt es zur Verzahnung und gegenseitigen Ergänzung progressiver und konservativer Strukturen und Kräfte.

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Als Ergebnis des letzten Paarvergleichs zwischen dem Baskenland und Südkorea ist festzuhalten, dass die Basken ihre Identität als eigenständiges Volk in modifizierter aber gleichwohl im Kern intakter Form über den beschleunigten Industrialisierungsprozess samt all seinen sozialen Nebenfolgen hinübergerettet haben, während in Südkorea die Industrialisierung, so erfolgreich sie auch verlief, mit dem Preis der Einbuße des traditionellen Selbstverständnisses erkauft wurde, an dessen Stelle kein gleichwertiges Äquivalent getreten ist. Diese unterschiedlichen Entwicklungen sind nicht selbstverständlich, gab es doch eine Reihe von Parallelen zwischen beiden Völkern, die auch einen ähnlichen Verlauf der wirtschaftlichen Aufholjagd und ihrer Auswirkungen erwarten ließen. In beiden Fällen handelte es sich um ethnische Großgruppen mit einer uralten Kultur und eigenen Sprache, die, in einem begrenzten Gebiet, eingezwängt zwischen mächtigen Nachbarn lebend, daran gewöhnt waren, mit ihrer Eigenart und ihrem Sonderbewusstsein dem Wandel der Zeiten zu trotzen. Hinsichtlich der neuen Herausforderung, sich der weltweit sich ausbreitenden Industriekultur anzupassen, wogen allerdings die unterschiedlichen Voraussetzungen hierfür zwischen ihnen schwerer. Drei verdienen besonders hervorgehoben zu werden. Erstens hatte das spanische Baskenland nur den Status einer Region innerhalb Spaniens und war kein Staat wie Südkorea. Das bedeutete, dass die Initiative zur nachholenden Industrialisierung von einer gesellschaftlichen Gruppe, konkret: der Großbourgeoisie der Küstenstädte, vor allem Bilbaos, ausgehen musste, da es keine Regierung gab, die diesen Prozess anstoßen konnte. Die baskische Bourgeoisie konnte bei diesem Vorhaben zweitens auf eine unternehmerische Tradition in den Küstenstädten zurückgreifen, woran es in Südkorea fehlte, musste allerdings die Entstehung einer Gegenbewegung in Kauf nehmen, welche den Industrialisierungsprozess mitsamt seinen sozialen Begleiterscheinungen strikt ablehnte. So entspann sich ein innergesellschaftlicher Auseinandersetzungs- und Aushandlungsprozess, welcher die Industrialisierungsdynamik zeitweise bremsen mochte, doch zugleich dafür sorgte, dass sich der wirtschaftliche Aufschwung nicht allzu sehr vom traditionellen Selbstverständnis der Region abkoppelte, wie es in den Zonen des ruralen Hinterlandes 326

weiterhin gepflegt wurde. Derartige gelegentliche Verzögerungen in der nachholenden Entwicklung konnte sich das Baskenland leisten, da es, und hier liegt der dritte Unterschied, »nur« ein einfacher Nachzügler in der von Großbritannien ausgehenden Industrialisierungswelle war, kein »später Nachzügler« wie Südkorea. Für Südkorea ergab sich aus der Tatsache, dass es zu den late late comern zählte, zusammen mit den beiden anderen Unterschieden, eine ganz andere Ausgangssituation. Angesichts des dadurch gesteigerten Aufholdrucks hatte ein Projekt nachholender Industrialisierung nur eine Realisierungschance, wenn die Initiative vom Staat ausging und der ganze Prozess weitgehend von ihm kontrolliert wurde. Für diese Vorgehensweise sprach auch das Fehlen einer wirtschaftlichen Unternehmerkultur in dem Land. Tatsächlich errichtete Park eine Entwicklungsdiktatur. Das Regime stellte sämtliche Kräfte und Ressourcen des Landes in den Dienst einer möglichst raschen Entwicklung zur industriellen Exportnation, worin der Schlüssel allgemeinen Wohlstands, nationaler Selbstständigkeit und der Anerkennung Südkoreas im Kreis der entwickelten Staaten gesehen wurde. Für subtilere Überlegungen, wie der äußerliche Entwicklungssprung mit dem tradierten Selbstverständnis Koreas in Einklang zu bringen sei, blieb wenig Raum. Man löste dieses Problem durch eine Art Identitätswechsel, indem man sich an westlichen Vorbildern orientierte. Abschließend bleibt festzuhalten: Versteht man den konservativen Impuls und die Verlustreaktionen als soziale Mechanismen, so lassen sich historische Prozesse, in denen sie regelmäßig eine Rolle spielen, als Ketten sukzessiver Kausalmechanismen darstellen, die weitestgehend dem Geschehensprozess folgen, sich aber deutlich von der reinen Narration abheben. Auch an sich zu erwartende, nicht sogleich eintretende, sondern erst nachträglich erfolgende Verlustreaktionen beeinflussen den Kausalablauf. Paarvergleiche sind ein hilfreiches Mittel, um robuste Kausalmechanismen herauszuarbeiten, denen eine Schlüsselbedeutung dafür zukommt, warum historische Prozesse bei ähnlichen Ausgangsbedingungen unterschiedlich ausgehen oder unterschiedliche Verlaufsprozesse ähnliche Ergebnisse zeitigen. 327

Beide methodischen Instrumente, das Konzept sozialer Mechanismen und Paarvergleiche, können, und das ist nicht ihr geringstes Verdienst, dazu beitragen, einer uferlosen Ausdehnung und Anwendung des Kontingenzkonzeptes gegenzusteuern und dieses auf den harten Kern dessen zu reduzieren, was Historikern seit je Erklärungsschwierigkeiten bereitet hat: das Glück (fortuna), der »Zufall« und das Verhalten zentraler politischer Entscheidungsträger.38

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Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest.

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Schaubilder Schaubild 1: Determinanten des konservativen Impulses Schaubild 2: Gesellschaftliche Funktionsbereiche und ihr Verhältnis zum sozialen Wandel Schaubild 3: Verlustreaktionen – zeitlich gestaffelt Schaubild 4: Individuelle Verlusterfahrungen: Kausalmechanismen Schaubild 5: Kausalmechanismen beim Übergang von der Monarchie zur Republik bzw. Demokratie Schaubild 6: Kausalmechanismen im Verhältnis von Industrialisierung und Identitätsmanagement

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82 267 268 321

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Dank Die Situation eines emeritierten Professors ist in mancher Hinsicht mit jener eines jungen Nachwuchswissenschaftlers vergleichbar. Herausgenommen aus dem akademischen Routinebetrieb, verfügt er einerseits über den notwendigen zeitlichen Spielraum, um sich ganz einem Thema widmen zu können, muss aber andererseits auf den intensiven Gedankenaustausch verzichten, den das Eingebundensein in ein Netzwerk von Fachkollegen mit sich bringt. So ist denn auch die vorliegende Arbeit über weite Strecken zu einem wissenschaftlichen Alleingang geraten, was aber nicht bedeutet, dass nicht zahlreiche Anregungen und Hinweise von Freunden, Kollegen, auch ehemaligen Studenten in sie eingegangen sind. Dies gilt bereits für die Idee und erste Projektskizze zu dem Thema, die u.a. von Wolfgang Reinhard, Dieter Nohlen, Hans Jürgen Friess, Stefan Drechsel und meinem Sohn Adrian wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurden. Petra Terhoeven gab mir erstmals Gelegenheit, einige Hypothesen der Arbeit auf dem Göttinger Historikerkolloquium zu präsentieren und zu diskutieren. Eine Reihe weiterer Kollegen half mir mit ihrem Fachwissen zu Einzelfällen und speziellen Problemen; hier sind insbesondere Walther Bernecker, Ludger Mees, Andreas Hess, Felipe Mansilla, OhSeok Kwon und Christoph Lau zu erwähnen. Christoph zählt außerdem zu den wenigen, die kontinuierlich Anteil am Fortgang der Arbeit nahmen und die einzelnen Schritte mit mir diskutierten, das Gleiche gilt für Peter Kolb, Heinrich P. Krumwiede und Wolfgang Knöbl. All den Genannten möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen. Wissenschaft ist das eine, ihre Umsetzung und die Schaffung ihrer praktischen Voraussetzungen das andere. Ohne die bibliografi343

schen und sonstigen Hilfsdienste von Marion Gomoluch und Moritz Hillebrecht wäre es mir schwergefallen, mein Vorhaben zu realisieren. Für die Übertragung des handschriftlichen Manuskripts in eine digitale Fassung konnte ich auf die bewährten Fertigkeiten meiner ehemaligen Sekretärin, Lieselotte Winterholler, zurückgreifen. Auch Ihnen sei für Ihre Arbeit, Ihre Hilfsbereitschaft sowie die Geduld, mit der Sie auf meine Wünsche eingingen, vielmals gedankt. Peter Waldmann Augsburg im Mai 2016

Zum Autor Peter Waldmann ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Augsburg. Durch zahlreiche Veröffentlichungen als Gewaltund Terrorismusexperte ausgewiesen, gilt sein besonderes Interesse den lateinamerikanischen Staaten. Er hatte Gastprofessuren in Buenos Aires und Cordoba (Argentinien), in Santiago de Chile, Madrid, San Sebastian und Sevilla, in Bern und Harvard inne, erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Juan Carlos in Madrid, ist Mitglied der »Academia Argentina de la Historia«, war Vizepräsident der Universität Augsburg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit.

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