Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht: Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland
 9783412313210, 3412054755, 9783412054755

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QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR H Ö C H S T E N G E R I C H T S B A R K E I T IM A L T E N R E I C H HERAUSGEGEBEN VON BERNHARD DIESTELKAMP, ULRICH GUNTER GUDIAN,

EISENHARDT

ADOLF LAUFS, WOLFGANG

Band 4

SELLERT

DER KAMPF UM DIE APPELLATION ANS REICHSKAMMERGERICHT Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland

von

JÜRGEN

WEITZEL

1976

BÖHLAU

VERLAG

KÖLN

WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Wilhelm Hahn- und Erbenstiftung, Bad Homburg v. d. H .

Copyright © 1976 by Böhlau-Verlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung medianischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung — auch von Teilen des Werkes — auf photomedianisdiem oder ähnlichem Wege, der tontedinisdien Wiedergabe, des Vortrage, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Satz und Drude: Hartmann-Druck GmbH, Bonn Budibinderische Verarbeitung: Josefs-Drudcerei, Bigge-Olsberg Printed in Germany ISBN 3 412 05475 5

INHALT

Vorwort

IX

EINLEITUNG 1. Stand der Forschung 2. Ziele der Untersuchung a) Verhältnis von Reich und Ständen b) Tätigkeit des RKG c) Rezeptionsbezüge d) Gang der Studie 3. Quellenlage

1 3 1 11 12 12 12

Erster Abschnitt

GRUNDLAGEN A. Z u l ä s s i g e B e s c h r ä n k u n g e n freiheit

der

Appellations25

I. Reservatrecht der obersten Gerichtsbarkeit

25

II. Allgemeingesetzliche Beschränkungen

34

III. Formen speziellen Einverständnisses 1. Privilegien 2. Bestätigung landesherrlicher Regelungen, Staatsverträge B. U n z u l ä s s i g e Be s c h r ä n k u n g e n : verboteund-behinderungen C. A b g r e n z u n g e n

. .

35 36 39

Appellations-

zu v e r w a n d t e n E r s c h e i n u n g e n

I. Exemtionsstreitigkeiten

41 43 43

II. Streitigkeiten aus Rechtsverweigerung

44

III. Verhältnis zur Nichtigkeitsbeschwerde

46

D. D i e j u d i z i e l l e n H i l f s m i t t e l d e s R K G g e g e n unzulässige Beschränkungen derAppellation

52

vi

Inhalt Zweiter Abschnitt DIE APPELLATIONSVERBOTE

A.Sachverhalte

59

I. Österreich 1. Allgemeine territoriale Beschränkung der Exemtion (bis 1600) 2. Verhältnisse des Landgerichts Schwaben insbesondere (1505— 1802)

59 59

II. Kurstaaten 1. Sachsen (bis 1559) und Brandenburg (bis 1586) —Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle 2. Brandenburg a) Anwendung der Goldenen Bulle auf die Neumark (zumindest bis 1586) b) Ravensberg (1563—1702/1746) c) Vorweggenommenes Privileg (1694—1702) . . . . d) Endgültige Abkehr vom RKG (1704—1746) . . . . 3. Kurpfalz (1497—1652) 4. Köln (1786) 5. Trier (1719—1721)

87

67

87

137 139 140 142 147 151 152

III. Sonstige Reichsfürsten einschließlich Grafen 1. Baden (um 1495, 1622/54—1803) 2. Bayern (um 1495) 3. Hessen (1524—etwa 1570) 4. Jülich-Berg (bis 1559) 5. Mecklenburg (1755/57) 6. Münster (zumindest bis 1532) 7. Ostfriesland (bis 1590) 8. Paderborn (1521/22, 1566—1583) 9. Pommern (1640—1648) 10. Weifische Herzogtümer a) Calenberg (bis 1544) b) Lüneburg (1535) c) Wolfenbüttel (1559—1562) 11. Württemberg (bis 1571, 1730—1803) 12. Würzburg (bis 1551)

153 153 158 166 172 185 186 189 193 197 197 197 201 201 205 212

IV. Reichsstädte 1. Aachen (1530/32, 1592/95) 2. Bremen (bis 1541)

213 215 221

Inhalt

VII

3. Dortmund (1621/22) 4. Hamburg (bis 1554) 5. Rottweil (bis 1565)

223 225 230

V. Sonstige

232

1. Deutscher Orden (1606—1768) 2. Reidisritterschaft (bis 1653) 3. Exkurs: Privat-, insbesondere Familienverträge . . . . B. R e i c h s g e s e t z l i c h e

Gegenmaßnahmen

I. Zustandekommen einer Sondervorschrift bis 1548/55 . 1. 2. 3. 4.

232 232 235

.

.

.

238

.

.

.

238

R K G O 1495 Visitation 1526 Visitation 1531 und Reichsabschied 1532 R K G O 1548/55

238 240 241 243

II. Kritik an R K G O 1555 II Tit. 28 § 2

244

1. Zu enge Fassung des Tatbestandes — Erstreckung auf Behinderungen 2. Unklarheiten hinsichtlich der Ausnahmen

244 247

Dritter Absdinitt DIE A. M i ß b r a u c h

APPELLATIONSBEHINDERUNGEN des

Appellationsverfahrens.

.

253

I. Einseitiges Einführen und Berechnen der Appellationssumme .

253

II. Einseitiges Einführen und Mißbrauch von Appellationssolemniei.

255

III. Mißaditung von Suspensiv- und Devolutiveffekt

264

IV. Tatsächliche Erschwerungen

268

B. L a n d e s h e r r l i c h e tion

Alternativen

zur

Appella-

I. Allgemeine Aspekte II. Güteverfahren III. Persönliche Gerichtsbarkeit als Quelle außerordentlicher Verfahrensbeendigung C. I n s t a n z e n v e r m e h r u n g I. Der historisch gewadisene Instanzenzug .

270 270 270 283 298 298

Inhalt

Vili

II. Die Lehre von den tres conformes

300

III. Einzelformen der Errichtung weiterer Instanzen

302

Vierter Abschnitt

ANALYSE DER UNZULÄSSIGEN

BESCHRÄNKUNGEN

A. V e r b r e i t u n g

319

I. Geographische Aspekte

319

II. Temporale Gesichtspunkte

319

III. Ständisdi bedingte Verschiedenheiten

324

B. S t r u k t u r e n

325

I. Verbote und Behinderungen

325

II. Gewohnheitsrecht und gesetztes Recht

325

III. Einzelfälle und Verbotssituationen

327

IV. Tatsächlicher Druck und rechtliche Sanktionen

329

V. Unreditsgehalt und Kampfstrategien

332

Fünfter Abschnitt

ERGEBNISSE A. D i e Gerichtsverfassung Reichsverfassung

als

Spiegel

der 341

I. Umbau und Festigung durch Rezeption und Reidisreform (16. Jahrhundert) II. Stillstand und Erschlaffen (17. Jahrhundert)

341 346

III. Der Kampf gegen die Auflösung (18. Jahrhundert) . . . .

347

IV. Bausteine der Gerichtsverfassung

348

B. D a s

RKG

C.Geschichte

als

Hüter

der

der

Gerichtsverfassung

Rechtsmittel

352 355

Abkiirzungsverzeidinis

359

Quellen- und Sdirifttumsverzeidinis

361

Register

389

Prozeßregister

399

VORWORT

Anläßlich der Neuausgabe seines Werkes über das Reichskammergericht 1965 gab Rudolf Smend der Hoffnung Ausdruck, daß eine neue Generation das „alte Problem von Recht und Macht in der Geschichte" auch am Gegenstand der Gerichtsbarkeit des alten Reiches von neuem erörtern werde. Als ich im Herbst 1969 — ausgehend von Stölzel II, S. 117 und Mynsinger obs. I, 14 — mit der Untersuchung landesherrlicher Maßnahmen gegen die Appellation ans Reichskammergericht begann, erschienen mir (und anderen) unzulässige Beschränkungen des Rechtsmittels ans Reich als machtpolitische Entgleisungen der Stände. Es zeigte sich jedoch alsbald, daß die Verhältnisse nicht so einfach liegen. Insbesondere die Geschichte der Rechtsmittel und die der Gerichtsprivilegien bieten bestes Anschauungsmaterial für die Komplexität des Verhältnisses von Recht und Macht: rechtliche Institute entstehen aus den politisch-sozialen Bedingungen ihrer Zeit, werden im Kampf um territoriale Herrschaft differenziert eingesetzt und fortgebildet, erstarren schließlich nach dem Wegfall ihrer historisch-politischen Rahmenverhältnisse in dogmatisierten Figuren. Am Beispiel der rezeptionsbedingten Veränderungen wird aber auch deutlich, daß es umfassendere Entwicklungszusammenhänge geben kann, die rechtliche Systeme und die in ihnen festgelegten Wertungen auflösen, ohne dabei der Einflußnahme der je interessierten Gruppen zu unterliegen und von ihnen gesteuert werden zu können. Die hier vorgelegte Arbeit kann die von Rudolf Smend „jüngeren Kräften" überlassene Bearbeitung des Prozesses und der Gesamtleistung des Reichskammergerichts allenfalls in einem schmalen Ausschnitt bieten, gleichwohl sei sie dem Andenken Rudolf Smends gewidmet. Selbst in einer Zeit der Prozeß- und Rechtsmittelreformen kann der Verfasser einer Untersuchung über historische Formen und Zwecke des Verfahrens und der Rechtsmittel nur vage hoffen, von „Dogmatikern" und „Praktikern" zur Kenntnis genommen zu werden. Gleichwohl sei an die stärkere Orientierung des vorliberalen Verfahrens an inhaltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen erinnert. Der

χ

Vorwort

Hinweis darauf, daß der dreistufige Instanzenzug erst durch die Reichsjustizgesetze und auf deren politischen Hintergrund festgelegt wurde, sollte zu der Überlegung ermutigen, ob nicht ein zweistufiges Gerichtssystem, das der ersten Instanz eine entschieden größere Bedeutung als bislang zukommen ließe, der gegenwärtigen Regelung vorzuziehen ist. Die Aufgabe der Bundesgerichte könnte so mittels einer Vorlageverpflichtung der obersten Landesgerichte allein auf die Wahrung der Rechtseinheit konzentriert werden. Die Arbeit lag im Sommersemester 1974 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a. M. als Dissertation vor. Sie wurde zu Beginn des Jahres 1974 abgeschlossen, Literatur wurde nur da nachgetragen, wo es unumgänglich erschien. So konnte insbesondere auch die von Herrn Prof. Dr. Laufs besorgte kritische Neuausgabe der Reichskammergerichtsordnung von 1555, die demnächst in dieser Reihe erscheinen wird, nicht mehr benutzt werden. Mein Dank gilt im weitesten Sinne allen, die mir wissenschaftliches Arbeiten ermöglichten. Herr Prof. Dr. Bernhard Diestelkamp hat nicht nur die Anregung zur Beschäftigung mit den Appellationsverboten gegeben, er hat auch die Arbeit betreut und als Mitherausgeber ihr Erscheinen in dieser Reihe ermöglicht. Ferner hat er, seitdem ich als sein Assistent tätig gewesen bin, meine Entwicklung ganz allgemein durch Rat, Tat und freundlichen Zuspruch gefördert. Dafür sei ihm besonders gedankt. Dem Zweitgutachter und Mitherausgeber Herrn Prof. Dr. Wolf gang Sellert bin ich vornehmlich für fruchtbare Kritik, die in der endgültigen Fassung zu einigen Entschärfungen und Klarstellungen führte, sowie für seinen aktiven Einsatz bei der Beschaffung der Druckkosten verbunden. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang auch Herrn Rechtsanwalt Cannawurf von der Wilhelm Hahn- und Erbenstiftung, die durch ihre großzügige finanzielle Förderung die Drucklegung Wirklichkeit werden ließ. Für Hinweise, Auskünfte und hilfreiche Gespräche danke ich einem weiteren Mitherausgeber der Reihe, Herrn Prof. Dr. Ulrich Eisenhardt, den Mit-Doktoranden, Herrn Rechtsanwalt Rolf-Dieter Gmei-

XI

Vorwort

ner und Herrn Assessor Dr. Hagen Wend sowie all den Mitarbeitern der von mir benutzten Archive und Bibliotheken. Schließlich sei auch Frl. stud. iur. Elisabeth Buchberger gedankt, die in mühevoller Arbeit die erste Reinschrift angefertigt hat. Frankfurt am Main, im September 1975 Jürgen

Weitzel

EINLEITUNG

1. S t a η d d e r F o r s c h u η g Die auf Appellationsprivilegien, der Einführung von Appellationssummen und dem Appellationsverfahren insgesamt beruhenden Beschränkungen der Berufung ans RKG haben im Rahmen der Kameralliteratur, der Abhandlungen zum Staatsrecht (Gerichtsverfassung), zur Yerfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte von Reich und Territorien sowie zum Prozeßrecht und seiner Geschichte von Anfang an ihre Darsteller gefunden. Einzelne Appellationsprivilegien und die Privilegiengeschichte einzelner Territorien sind in älterer und auch in neuer Zeit zum Gegenstand spezieller Untersuchungen gemacht worden 1 . Gleichwohl bleiben selbst hier über Detailfragen hinausgehende Lücken von allgemeiner Bedeutung, vornehmlich in der Kenntnis der Frühzeit der Privilegien vor 1495 und, in Ermangelung einer umfassenden verläßlichen Ubersicht, hinsichtlich der Einzelheiten ihrer zunehmenden Verbreitung in späterer Zeit 2 . Die Beschäftigung mit umstrittenen und eigenmächtigen Maßnahmen der Landesherren gegen die Appellation ans RKG ist zwar so alt wie die Kameralistik selbst 3 , steht aber ganz im Schatten der vorgenannten Literatur. N u r dort, wo die Geltung von Privilegien streitig geworden ist, gewinnt sie etwas an Breite, nicht aber an Eigenständigkeit 4. Im übrigen beschränkt sie sidi auf die Aussage, daß es verboten sei, die Appellation zu behindern, daß ihre Ausübung im *) Vgl. unter anderen die Abhandlungen von G ü n t h e r (Sachsen), Ρ e r e 1 s und S t ö 1 ζ e 1 (Brandenburg-Preußen), S p i t t l e r und Τ h. K n a p p (Württemberg) und R o e n n b e r g (Mecklenburg), sowie die Literatur zum Appellationsprivileg der Goldenen Bulle (insbesondere E i s e n h a r d t ) . 2 ) Zum Vorhaben einer Edition der Appellationsprivilegien vgl. E i s e n h a r d t , privilegia, S. 1 ff., 23. Dieser Beitrag enthält auch einen Versuch zur Klärung der Frühzeit der Appellationsprivilegien. Ihm stehen Teile der vorliegenden Arbeit teils übereinstimmend, teils widersprechend als Ergebnis parallel laufender Forschungsarbeit an der Seite. s ) Sie beginnt mit der XIV. der Observationen M y n s i n g e r s 1563. 4 ) Vgl. insbesondere das in Anm. 1 aufgeführte Schrifttum. Es muß der nachfolgenden Darstellung zumindest hinsichtlidi der Fakten weitgehend zugrunde gelegt werden, da eine neue Aufbereitung dieser Grundlagen nicht möglich war.

Einleitung

2

Rahmen der bestehenden gesetzlichen Regelungen niemandem verwehrt werden könne. Dem folgt zumeist die Bemerkung, daß die Stände sich nicht immer entsprechend verhalten haben. Die Darlegungen beschränken sich auf knappe Hinweise bei der Erörterung verwandter Materien, auf die Darstellung von Einzelvorkommnissen und auf interessiert klingende Anmerkungen. Systematisch werden nur die Kameralliteratur des 18. Jahrhunderts 5 und staatsrechtliche Erörterungen dieser Zeit 6 . Sie erkennen erste Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen des Gegenstandes und handeln diese ansatzweise zusammenhängend, zumeist unter Beschränkung auf besonders aktuelle Erscheinungen und Rechtsfragen, ab. Angaben über die Verbreitung und Durchsetzbarkeit appellationsbeschränkender Maßnahmen fehlen dabei fast völlig. Seit der Auflösung des RKG sind landesherrliche Maßnahmen gegen seine Tätigkeit als Appellationsinstanz überhaupt nicht mehr Gegenstand systematischer Darstellung und Untersuchung gewesen 7 .

6

) Zu nennen sind vornehmlich die Arbeiten von v. L u d o l f , Commantatio, S. 169 ff. und v. C r a m e r in zahlreichen Abhandlungen seiner Fallbesprechungen, z. B. W N 2, S. 71 ff., ferner M o h 1 II, S. 4 ff., 10 ff. ·) O f t in Form von Dissertationen, vgl. insbesondere S c h i c k , ferner B r u n n e m a n n ( V o s s ) , J ä g e r , F. E. v. P u f e n d o r f , De privilegiis, S a l z m a n n und S c h e l h a ß . ') S t o l z e l II, S. 115 ff., P e r e l s , S. 11 ff. und W i g g e η h o r η , S. 94 setzen sich nur beiläufig und das Problem der grundsätzlichen Unzulässigkeit solcher Maßnahmen lediglich berührend mit der Fragestellung auseinander. Den großen Zusammenhang umreißt für die Epoche nach 1495 treffend Β u c h d a , H R G I, Sp. 198, mit dem Satz: „Doch nidit nur bei den Kurfürsten, audi bei anderen Landesherren, selbst bei Reidisstädten, rief das Aufkommen des neuen Rechtsmittels vielfältige Bemühungen wach, Appellationen der Untertanen zu unterbinden, um die Landesjustiz jeder Kontrolle durch ein Gericht des Reiches zu entziehen und absolute Gerichtshoheit zu erwerben". Neuerlich hat L i e b e r i c h in seinem Beitrag zur Festschrift für E. C. Hellbling, 1971, insb. S. 434 ff., 445 f., anhand einiger bayrischer Prozesse am RKG aus den Jahren bis 1501 auf die Probleme hingewiesen, die dem Gericht insbesondere in seiner Frühzeit bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe als Appellationsinstanz erwudisen. Zur Frage der Verteidigung der Reidisjustiz im 18. Jahrhundert nimmt neuestens M. H i η ζ — weitestgehend in Aufarbeitung des von v. C r a m e r angebotenen Materials — in seinem Werk über den Mandatsprozeß am RKG Stellung (S. 301 ff.). Die neuesten Äußerungen zur Fortgeltung der Appellationsprivilegien der Goldenen Bulle nach 1495 finden sich bei Β r o ß S. 21—28, 36 f. Er setzt sich jedoch ausschließlidi mit den in diesem Zusammenhang unmittelbar auftretenden Rechtsfragen auseinander.

Ziele der Untersuchung

2. Z i e l e d e r

3

Untersuchung

a) V e r h ä l t n i s v o n R e i c h u n d

Ständen

Die Untersuchung ist bewußt in der herausfordernden Breite des Themas durchgeführt worden. Ihr Schwerpunkt soll und kann deshalb nicht in Detailforschungen liegen, sondern im Aufzeigen größerer Entwicklungslinien. Eine bestimmte Art von Konfliktsituationen zwischen Reich und Ständen wird zusammengefaßt und im Hinblick auf die zwischen beiden Lagern bestehenden Machtverhältnisse in ihren Zusammenhängen und Bezügen grundsätzlich interpretiert. Nur bei dieser umfassenden, sowohl das Reich als auch die Territorien gleichwertig berücksichtigenden Zielsetzung 8 konnte angesichts der bisherigen Unterbewertung des Problemkreises die Fragestellung in ihrem ganzen Gewicht klargemacht werden. Insoweit ist audi vergleichende Verfassungsgeschichte betrieben worden. In den aufgezeigten Bedingungen liegt andererseits die Beschränktheit der Arbeit, die bei der Breite des Gegenstandes in vielen Dingen der Ergänzung durch Einzeluntersuchungen bedarf. Gleichwohl sind auch hier Grenzen gezogen worden: zeitlich in der Beschränkung auf die Epoche des RKG, sächlich in der Auslassung der entsprechenden Fragestellung für den R H R sowie für andere Rechtsmittel oder -behelfe zum RKG 9, örtlich in der Nichtbeachtung solcher Gebiete, die sich schon vor oder alsbald nach 1495 dem Reich und der Reichsgerichtsbarkeit gegenüber verselbständigten. Es handelt sich hierbei um die mit Exemtionsprivilegien versehenen österreichischen Erblande Böhmen, Burgund, Niederlande, Luxemburg, aber audi um Lothringen, die Schweiz und die italienischen Gebiete 10. 8 ) Einer entsprechenden Fragestellung folgt G e r h a r d H i n z in seiner Untersuchung über das Reichsbewußtsein der Fürsten im 17. Jahrhundert, w o er S. II, 2 ff. zu Recht darauf hinweist, daß die Reichswirklichkeit nur vom Reich u n d den Territorien her erfaßt werden kann. Dem ist die ältere, teils reichisch, teils territorial, teils österreidiisch, teils preußisch, teils katholisch, teils protestantisch voreingenommene Geschichtsschreibung weitgehend nicht gerecht geworden. 9 ) Diese Ausgrenzung betrifft insbesondere Beschwerden wegen Nichtigkeit und wegen Rechtsverweigerung. 10 ) Zu den Verhältnissen der hier genannten Reichsteile zum RKG vgl. S e l l e r t , Zuständigkeit, S. 15 ff., 22 ff., 29 f., 41 ff., M a l b l a n k , IV S. 22 ff., S m e η d , S. 72, 85, Β e s o 1 d , S. 30 ff., H a r ρ ρ r e c h t , II S. 97, F a h n e n b e r g , S. 13 ff., 66 ff., B l o e m , S. 39 f., W i e a c k e r , S. 105, N é v e , S. 105 ff., 523 ff., G u d i a n , Institutionen, S. 418 ff., 447 ff., zu dem Basler Verbot der Appellation ans RKG vgl. Τ h i e m e , Statutarrecht und Rezeption, S. 85.

4

Einleitung

Österreich selbst konnte hingegen wegen seiner engen Beziehungen zum Reichsganzen aus der Untersuchung nicht ausgeschlossen werden. Die zeitliche Begrenzung erscheint, obwohl gleichartige 11 Maßnahmen auch aus der Zeit vor 1495 bekanntgeworden sind, schon wegen der Eigenständigkeit der Epoche des RKG gerechtfertigt. Mit der Neuorganisation der Reichsjustiz gewinnt die Appellation eine erheblich gesteigerte Bedeutung 12 und die Stände stoßen bei dem Versuch, ihre Absichten durchzusetzen, auf einen beachtenswerten Widerstand. Die Einbeziehung des RHR hätte eine im Rahmen einer Dissertation nicht mehr vertretbare Mehrarbeit bedeutet. In der Alternative aber schien die Untersuchung der Verhältnisse des von den " ) Von den hier behandelten Maßnahmen gegen die Appellation ans RKG sind vielerlei ähnliche Vorkommnisse und Erscheinungen abzugrenzen. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß es selbstverständlich auch im Verhältnis anderer, innerterritorialer Geridite zueinander zu entsprechenden Auseinandersetzungen gekommen ist, wenn der Instanzenzug nicht hinreichend gefestigt war, vgl. S t ö 1 ζ e 1, II S. 154 f., 159, 169 f. (Göttingen, Lüneburg). Besonderes gilt hinsichtlich der vor 1495 zu beobachtenden Rechtsmittelbehinderungen. Bei ihnen handelt es sidi infolge der Gegebenheiten des Rechtsmittelwesens nur zum Teil um Behinderungen der Appellation, in der Mehrzahl aber um Maßnahmen gegen erstinstanzlidie Ladungen oder gegen den Zug an auswärtige Oberhöfe, vgl. P l a n c k , I S. 271 f. und Β u c h d a , ,Appellation' und ,Appellationsprivilegien' in H R G I, Sp. 197, 200. Soweit vor 1495 bestehende Rechtsmittelbehinderungen in unmittelbarem Zusammenhang mit späteren Appellationsverboten stehen, werden sie selbstverständlich in die Darstellung mit einbezogen. Als Beispiele früherer Maßnahmen seien in zeitlicher Abfolge genannt: I. Als ältestes Appellationsverbot kann der aus dem Jahre 1168 datierende Beschluß des Lombardenbundes gelten, Appellationen an den Kaiser und seinen Richter hinfort nicht mehr zuzulassen, vgl. J u l i u s F i c k e r , Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, Bd. 2, Neudruck der Ausgabe 1868—74, Aalen 1961, S. 61, A. H e s s e l , Beiträge zu Bologneser Geschichtsquellen, Neues Archiv 31 (1906), S. 473, Ο ρ e t , S. 16 f. Anm. 3. II. Wohl nicht erstmals 1419 schlossen sidi die Hansestädte in einem Bündnis gegen die nach ihrer Ansicht ungerechtfertigten Ladungen des R H G zusammen, vgl. F r a n k l i n , II S. 21 mit Anm. 5, S. 74 ff., E b e l , Lübisches Recht I, S. 370 Anm. 8. III. Kn o l l e , S. 74 schildert einen Fall von Appellationsbehinderung im Zusammenhang mit städtischen Unruhen in Stettin um 1428. IV. S t ö l z e l , II S. 139 und S t o b b e , Rechtsquellen II S. 65 weisen auf die thüringische Landesordnung von 1466 hin, die bestimmt: , . . . man solle eine anhängige Sache an einem Gerichte zu Ende führen, an welchem man sie begonnen, da man Doctores in den Landen d a z u . . . haben könne'. Stölzel versteht diese Stelle als Appellationsverbot, während Stobbe sie vorsichtiger als Verbot des Angehens auswärtiger Oberhöfe interpretiert, allerdings fügt auch er an, die Landesherren wollten ihr Gebiet »von jedem fremden Eingriff, wo möglich auch von Kaiser und Reich" freihalten. 12 ) Vgl. Β u c h d a , H R G I, Sp. 196 ff.

Ziele der Untersuchung

5

Ständen mitregierten, gegenüber dem R H R älteren R K G leichter und umfassender Aufschluß über die Entwicklung der Appellationsfrage zu geben. Die genannten Gebiete schließlich konnten deshalb außer Betracht bleiben, weil sie sich ohnehin schon derart vom Reich entfernt hatten, daß ihre Verhältnisse für die Ziele der Untersuchung nicht mehr relevant werden konnten. Nicht einbezogen wurden ferner die Fälle des Einsatzes geistlicher Gerichtsbarkeit (Offizialate) und der Appellation nach Rom zum Nachteil der Reichsgerichtsbarkeit ls . Die Eignung des Untersuchungsgegenstandes zu Aussagen über das beschriebene Erkenntnisinteresse des Verhältnisses von Reich und Ständen ist wegen der zentralen Bedeutung, die der Erwerb der uneingeschränkten Gerichtshoheit durch den Landesherrn für die Ausbildung des modernen Territorialstaates hat, nicht zu bezweifeln u . Die Durchsetzbarkeit einseitiger Maßnahmen der Landesherren gegen die Appellation ans R K G kann mit einiger Berechtigung als allgemeiner Gradmesser für die Verfassungsverhältnisse des Reiches angesehen weiden, da die Verfassung des Reiches weitgehend gleichbedeutend ist mit seiner Rechtsverfassung 15 . In den prozessualen Gegebenheiten der Appellation und des Vorgehens gegen Rechtsverweigerung, in den Eingriffsmöglichkeiten der Reichsgerichte zum Schutze mittelbarer Reichsuntertanen 16 kommt die Oberhoheit des Reiches vornehmlich zum Ausdrude. In besonders starkem Maße nach dem Westfälischen Frieden wandte sich die „Exklusivitätstendenz der Landeshoheit" gegen die Rechtsprechung der Reichsgerichte, da in ihr das Reich einen gewichtigen Machtfaktor behauptet hatte 17 . Dabei stellt die Appellation im Justizbereich gewissermaßen den neuralgischen Punkt des Kampfes der Stände um ihre Unabhängigkeit vom Reich

" ) Vgl. hierzu E i c h m a η η , S. 143 ff., Η a f k e , S. 59 ff. ) Zu dieser allgemeinen Fragestellung vgl. H ä r t u n g , Verfassungsgeschichte, S. 8 f., F e h r , Rechtsgeschichte, S. 132, N é v e , S. 523 ff., S e l l e r t , S. 1 f., 22, 24, ders., R H R , S. 256 ff., 260, L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 434 ff., M. H i n z , S. 1 ff., S c h l o s s e r , S. 26, F r a n k l i n , II S. 5, R o s e n t h a l , I S. 12. 15 ) Vgl. M. H i n z , S. 297, 523 f., ferner W i e a c k e r , S. 99, F e i l e r , S. 165 f., H a t t e n h a u e r , S. 15, B l o e m , S. 69, H a f k e , S. 23 ff. " ) Vgl. dazu insbesondere S c h e l h a ß , H e r t z , S. 331 ff., F e 11 e r , S. 34 ff., 57 ff., auch P r a t j e , S. 162 ff., 179 ff., H a t t e n h a u e r , S. 15, B l o e m , S . 9 2 f f . , W u l f f e n , S. 17, 25, 63 ff. " ) Vgl. G r u b e , S. 63. 14

6

Einleitung

dar 18. In diesem Bereich konnten auch die kleineren unter ihnen, im Gegensatz zur Zuständigkeit der Reichsgerichte bei iustitia denegata vel protracta, mit Aussicht auf Erfolg Politik gegen das Reich und die kaiserlichen Reservatrechte machen. Der mit der Beseitigung der Appellation in einem Höchstmaße vollzogene Ausschluß der Gerichtsbarkeit des Reiches enthält den krönenden Absdiluß aller dahin gehenden Bemühungen. Wie es mit dem Willen des Kaisers über die Vergabe von Privilegien wegen der politischen Schwäche des Reiches zur Schmälerung der Reichsjustiz kam, ist weitgehend bekannt. Die vorliegende Arbeit soll klären, ob die Schwäche so groß war, daß es den Ständen audi gegen den Willen von Kaiser und Reich, R H R und RKG gelang, die Gerichtsbarkeit des RKG abzuschütteln. Das Gewicht und das Bild der Privilegiengeschichte sollen so durch eine Geschichte des im Grundsätzlichen illegitimen Kampfes gegen die Appellation ergänzt werden, damit aber auch möglicherweise eine Veränderung in ihrer Beurteilung erfahren. Unter dem Gesichtspunkt der Betrachtung des Kräfteverhältnisses zwischen Reich und Ständen ist die Untersuchung auf die Wiedergabe realer Machtverhältnisse ausgerichtet. Es wird deshalb vordringlich gefragt, inwieweit die Stände solche Maßnahmen durchsetzen konnten, wie lange sie wirksam blieben, wie sich das Reich und die Bürger dagegen zur Wehr setzten, wie oft tatsächlich auf diesem Wege die Appellation unterbunden werden konnte. Die von der modernen Rechtsgeschichte zu erwartende vorrangige Erfassung der Rechtswirklichkeit sowie ihrer sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen 19 erfolgt hier in erster Linie in bezug auf den Tatbestand miteinander konkurrierender staatlicher Machtausübung sowie die sich aus dieser Situation für den abhängigen Untertanen ergebenden Konsequenzen. Da der Untersuchungsgegenstand auf rechtswidrige, zumindest aber 18

) Vgl. M. H i n z , S. 288, 297 f., Β r o ß , S. 25 f. ) Zu diesen neueren Ansätzen vgl. insbesondere B a d e r , Aufgaben, S. 10 ff., 17 und Wertproblem, S. 655 f., ferner G e r h a r d H i n z , S. II f., 7 f., G r u b e , S. 3, S i m o n , S. 314 ff., W i e a c k e r , Reditsgesdiichte, S. 137 ff., D i e s t e l k a m p , S. 371 ff., K r o e s c h e l l , I S . 9 ff., ders. „Rechtsfindung", S. 498 ff.; zum Stand der Diskussion um den wissensdiaftstheoretisdien und methodischen Standort der heutigen Rechtsgesdiichte vgl. ferner L a u f s , Rechtsentwicklungen, S. VII ff., A r b e i t s g r u p p e , Kritik der bürgerlichen Reditsgesdiichte, S. 109 ff., B a r k , S. 164 ff., W i e a c k e r , S. 14 ff., 423 ff., G u d i a n , Zur Situation der Germanistik, S. 216 ff.. T h i e m e , Deutsches Privatrecht, H R G I, Sp. 702 ff., W a h s n e r , S. 172 % W r j b e l , S. 155 ff., L a n d a u , S. 145 ff. und W e s e l , S. 337 ff. 19

Ziele der Untersuchung

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auf rechtlich streitige Maßnahmen abstellt, ist eine Beschränkung auf rein juristische Normvorstellungen und -anspräche von vornherein ausgeschlossen. Andererseits gewinnen bei der starken rechtstechnischen Ablösung des Rechtsmittelwesens vom sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund tatsächliche Momente nicht immer den unmittelbaren Einfluß auf den Arbeitsgegenstand, der es ermöglichte, sie knapp und doch überzeugend darzutun 2 0 . Im Kampf um die Kontrolle der Gerichtsbarkeit im Reich wird die Gestaltung des Rechtsmittelwesens ganz entscheidend vom Willen und vom Ausgleich zwischen den politisch Mächtigen bestimmt. Nur selten und dann zumeist in Abwehr einer Bedrohung ihrer Positionen sind niedere Stände und Schichten (Bürger, Bauern, Ritter, niederer Adel, Landstände) aktiv an dieser Auseinandersetzung beteiligt. Zumeist erscheinen sie als Objekte des Kampfes zwischen Reich und erstarkender Landesherrschaft. Die die allgemeine Entwicklung der Machtverhältnisse im Reich wesentlich bestimmenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren schlagen nur selten unmittelbar auf das so beschriebene Gemeinschaftsverhältnis der Reichsgewalten durch. Sie sind im Rahmen dieser Arbeit nicht schlicht nachvollziehbar. Hinsichtlich der allgemeinen Lebensbedingungen des Reiches muß deshalb auf die einschlägigen Darstellungen der Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte verwiesen werden 2 1 . Immerhin ist es von Interesse, vorab darauf hinzuweisen, daß zur Zeit des R K G mehr noch als heute die Möglichkeiten der Rechtsverfolgung von der finanziellen Leistungsfähigkeit und der sozialen Stellung der Partei abhängig waren 22 , ja daß man in Einzelfällen die Zulässigkeit eines zweiten oder weiteren Rechtsmittels von der Zugehörigkeit des Beschwerten zu einem bestimmten Stand abhängig ge20 ) Zum ,sublimen Kausalnexus' zwischen wirtsdiaftlidi-sozialen Erfordernissen und der Reditsum-/fortbildung gerade bei komplexen und langanhaltenden Entwicklungen vgl. Wi e a c k e r , S. 143 f., D i e s t e l k a m p , S. 372 f., L a u f s , Rechtsentwicklungen, S. V I I f. Audi die Vertreter eines streng materialistisch ausgerichteten Verständnisses der Rechtsgeschichte sehen sich bei der Beschreibung von Kausalbeziehungen qualifizierter Art Schwierigkeiten gegenüber, vgl. A r b e i t s g r u p p e , Kritik der bürgerlichen Rechtsgeschichte, S. 110, 124 mit Anm. 59, 127 ff. 2 1 ) Vgl. etwa Μ o 11 e k , I S. 119 ff., 245 ff., D o b b , S. 44—255, S o m b a r t , I 1 S. 319 ff., I 2 S. 463 ff., II 1 S. 3 ff., II 2 S. 623 ff., an Einzeldarstellungen D i e s t e l k a m p , S. 371 ff., S t a m m , S. 130 ff., 134, 136 f., 144. 22 ) Insbesondere für die Spätzeit des R K G vgl. T h u d i c h u m , R K G , S. 219 ff., ein Beispiel aus der Mitte des 16. Jahrhunderts findet sich bei W e i t z e l , S. 223 f.

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Einleitung

macht hat 2 S . Im übrigen kann es als ein Beitrag auch zum gegenwärtigen Rechtsverständnis und zu den Entwicklungsbedingungen von Redit überhaupt gewertet werden, wenn sich erweist, daß sogar solche Materien wie die Zuständigkeit und das Verfahren in Rechtsmittelangelegenheiten — die vordergründig dodi positiv und zwingend regelbar erscheinen — über Jahrhunderte hin entgegen den gesetzlichen Regelungen und gerade auch außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens Gegenstand intensivster politischer Auseinandersetzung gewesen sind. Was die Feststellung der Wirkung der landesherrlichen Maßnahmen betrifft, so liegt die Schwierigkeit der Aufgabe nicht allein im Auffinden der Fakten, sondern auch in ihrer Bewertung: welche sind die Beurteilungskriterien für die ,Durchsetzbarkeit' solcher die Appellation beeinträchtigender Maßnahmen? Man wird sich zunächst von Vorstellungen lösen müssen, die unsere heutigen Anforderungen an Effektivität und Durchsetzbarkeit von Rechtsprechung zum Ausgangspunkt der Überlegungen machen. Die Wirksamkeit des Kampfes gegen solche landesherrlichen Unternehmungen läßt sich nicht daran messen, wie oft nachweisbar die die Rechte der Untertanen bestätigenden Entscheidungen der Reichsgerichte tatsächlich vollstreckt worden sind. Ein solcher Gradmesser stellte zu hohe Anforderungen an die Durchsetzbarkeit von Rechtspositionen überhaupt zu dieser Zeit. Nach dem allgemeinen Zustand der Reichsverfassung geht es an der Realität vorbei, annehmen zu wollen, daß ein auf der Grundlage streitiger Jurisdiktionszuständigkeit ergangenes Urteil im Gebiet des Standes, der die Zuständigkeit des Gerichtes bestritt, hätte vollstreckt werden können 24 . Dabei machte die Reichsgerichtsbarkeit grundsätzlich keine Ausnahme. Vollstreckt wurde auch hier nur gegen die Kleinen, von den Großen gegen minder mächtige Reichsstände nur dann, wenn es politisch opportun und gewinnversprechend 25 war, 25 ) In der Landgrafschaft Fürstenberg war im 16. Jahrhundert für Unfreie das Hofgericht letzte Instanz. Die Appellation zum RKG war diesem Personenkreis gesetzlich untersagt, vgl. L e i b e r , S. 403, 409. u ) Zu der sich — wenn audi in weit größerem Maße — mit ähnlichen Zuständigkeitsstreitigkeiten auseinandersetzenden Rechtsprechung und Vollstreckung des Rottweiler Hofgerichts äußert sich, anschaulich nach den verschiedenen Zeitpunkten differenzierend, G r u b e , S. 29 ff., 49 ff., 77 f., 81 f. 26 ) Zur Vollstreckungschance reichsgerichtlicher Erkenntnisse bei widerstrebendem Reichsstand vgl. allgemein F e l l e r , S. 27, 66 f., B r e n n e r t , S. 819 ff., H e r t z , S. 334 ff., T h u d i c h u m , RKG, S. 166 f., 214 ff., auch F r a n k l i n , R H G I, S. 354 ff., Β 1 o e m , S. 24 ff., 61 f.

Ziele der Untersuchung

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nicht aber bei Zuständigkeitsdifferenzen zwischen Reichsgericht und Reichsstand. So muß es in jedem Fall als ein beachtlicher Erfolg gewertet werden, wenn das RKG und die Untertanen sich den Anmaßungen der Landesherren nicht beugten, wenn die Verhältnisse politisch im Gespräch blieben und die — nach wie vor ergehenden — Entscheidungen des RKG den Anspruch des Reiches in einer das Rechtsbewußtsein des Landesherrn und den Widerstand der Untertanen anstachelnden Weise aufrechterhielten. Solange sich die Untertanen, gestützt durch die Rechtsprechung des Reichsgerichtes, ihrer Rechte bewußt blieben, solange die Landstände mit ihrem Redit auf Appellation noch handeln konnten und ihre und der einzelnen Untertanen Aktivitäten die Position des Landesherrn in Frage stellten, solange war die Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Seite nodi nicht gefallen 26. Es läßt sich nach dem aus den Quellen gewonnenen Eindruck sogar die Behauptung wagen, daß von den Zeitgenossen die Berühmung einer Jurisdiktionszuständigkeit und die damit verbundene Ausübung des Gerichtszwangs in verschiedenartigster Form als die im Vordergrund stehende Beeinträchtigung empfunden worden ist. Gegen sie wendet man sich in teilweise Jahrhunderte währenden Auseinandersetzungen mit Heftigkeit. Nicht erst die kaum zu erwartende Vollstreckung einer Entscheidung, vielmehr die politischen und staatsrechtlichen Folgen einer unwidersprochen gebliebenen Jurisdiktionsanmaßung waren es, gegen die sich jeder Machthaber zur Wehr setzen mußte 2 7 . Deshalb erscheint es verständlich, daß zwischen den Beteiligten oft Jahrhunderte um die Zuständigkeit gestritten wurde, obwohl jeder — was die Vollstreckung betrifft — sein Gebiet vom Einfluß des Gegners freihalten konnte. Entscheidender mußte es jedoch den Untertanen darauf ankommen, sich die Vollstreckungsmöglichkeit zu schaffen. Gleichwohl wird man auch hier all die anderen Motive nicht unterbewerten dürfen, die eine Partei veranlassen konnten, jahrzehntelange und kostspielige Prozesse um ihr Recht zu führen, von denen sie zu keiner Zeit wußte, ob eine Entscheidung jemals würde vollstreckt werden können. Bei Auseinandersetzungen mit einer mächtigen Landesherrschaft schied die Vollstreckung des in diesen streitigen und politisch relevanten Dingen se ) Vgl. F e 1 1 e r , S. 64 ff., 168 f. *7) Geriditshoheit ist das Zeichen der Landeshoheit, vgl. v. K ü n ß b e r g , S. 639 ff., 644 ff., R o s e n t h a l , I S . 7, S. 142, N é v e , S. 523, B a d e r , Südwesten, S. 16.

Schröder — Schlesinger,

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Einleitung

gegen sie ergangenen Urteils zumeist von vornherein aus den Überlegungen aus. Man strebte den Ausspruch des obersten Gerichtes vielmehr wegen seines moralischen und rechtlichen Gewichtes an, konnte mit ihm in Vergleichsverhandlungen die eigene Position stärken oder die Obrigkeit zum Einlenken bewegen. Somit ist auf das gesamte Taktieren der Parteien abzustellen, darauf zu achten, wo Positionen zurückgenommen werden und welche Mittel zur Durchsetzung des behaupteten Anspruches zur Anwendung kommen. Das Recht blieb oft sowohl im Bewußtsein des Machthabers, der es beugte, als auch im Bewußtsein des Untertanen, der es nicht selten mit einer verbissenen Hartnäckigkeit suchte, audi dann Recht, wenn ihm die Macht entgegenstand 28. Erst in zweiter Linie stellt sich dagegen die Frage nach der Rechtfertigung der Maßnahmen, zwar weniger die nach der Rechtmäßigkeit solcher Anordnungen schlechthin, mit der die aufgezeigte Problematik steht und fällt, wohl aber der Rechtmäßigkeit des einzelnen Verbotes im Sinne einer abschließenden Beurteilung der historischen Rechtslage en detail 29. Von beachtlichem Interesse bleibt gleichwohl die Frage, inwieweit sich die Stände gezwungen sahen, rechtlich zu argumentieren und wie stark und berechtigt in diesem Zusammenhang cum grano salis ihre Position einzuschätzen ist. Hatten sie beachtliche Rechtsgründe für sich, so ist ihr Auftreten anders zu beurteilen, als wenn sie das Reich offensichtlich unbegründet herausforderten. Geht man von der beschriebenen Zielsetzung aus, so kann und muß der zu untersuchende Sachverhalt „Maßnahme gegen die Appellation" weit ausgelegt werden und es fallen hierunter nicht nur eindeutig unrechtmäßige Anordnungen, sondern praktisch jeder Streit um die grundsätzliche Zulässigkeit der Appellation, bei dem sich territoriale und Reichsinstitutionen gegenüberstanden. Die Unterscheidung zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Maßnahmen gewinnt mit dieser näheren Maßgabe für die Arbeit keine primäre Bedeutung. 28

) Vgl. L a u f s , S. 459 f., T h u d i c h u m , RKG, S. 193, Β l o e m , S. 103. ) Hierbei wird nicht übersehen, daß sich infolge des steten Wandels der Machtstrukturen auch das Verfassungsrecht des Reiches stetig verändert. Gleichwohl gibt es Fälle, die bezogen auf einen bestimmten Zeitpunkt und gemessen an eindeutigen Reichsgesetzen und der opinio communis doctorum verläßlich zu klassifizieren sind. 2ί

Tätigkeit des RKG

b) T ä t i g k e i t d e s

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RKG

Neben dem Kaiser, der aber auch Landesherr war und als solcher seinen Vorteil suchte, mußte es vornehmlich das RKG als eine selbstund reichsbewußte Institution kümmern, daß nach reichsgesetzlichen Maßstäben unzulässige Appellationsbeeinträchtigungen von den Landesherren nicht durchgesetzt werden konnten. Dies gilt umsomehr, als das Gericht in diesen Fragen unmittelbar in seiner Zuständigkeit betroffen wurde. Es ist deshalb ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, welche Rolle das RKG in den Auseinandersetzungen spielte, ob es nach den Möglichkeiten seiner Zeit wirkungsvoll agierte und die Fähigkeit besaß, seine Zuständigkeit im Rahmen der Gesamtverhältnisse des Reiches nach besten Kräften zugunsten des Reiches zu erkämpfen und zu bewahren. Sollte es sich hier im Rahmen des Möglichen als erfolgreicher Hüter der Gerichtsverfassung des Reiches erweisen, so wird dies ein weiteres Glied in einer Kette positiver Beurteilung seiner Tätigkeit sein. Insoweit will die Untersuchung nicht nur Aspekte zum Kampf zwischen Reich und Ständen eröffnen, sondern audi einen Beitrag zur veränderten Bewertung der Wirksamkeit des RKG erbringen 30. 30 ) Hier gilt es insbesondere, die am Vorbild des nationalen Einheitsstaates orientierte und deshalb insoweit unhistorische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zum alten Reich, seiner Verfassungswirklichkeit und den Wirkungschancen der Reichsgerichte zu korrigieren, vgl. G e r h a r d H i n z , S. 4 ff., auch oben S. 3 Anm. 8. Zur überkommenen opinio communis über den Unwert des RKG und zur gewandelten Einschätzung des Gerichtes durch die neuere Fachliteratur vgl. A d e r s , S. 24, A d e r s - R i c h t e r i n g , Bd. 1 S. VIII, H e r m a n n B e c k e r , S. 1, E r l e r , H R G I, Sp. 1731, H e r t z , S. 331 f., 334 ff., 351, unsachlich K i m m i n i c h , S. 239 f., L i e b e r i c h , S. 445 f., P i t z , S. 5 f., S m e n d , RKG, W i g a n d , Denkwürdigkeiten, S. XI f. und Beiträge, Bd. 1, S. 124 ff., daselbst auch D i e t z , S. 114 ff., W i e a c k e r , S. 105, 177, W i g g e n h o m , S. 252 ff., T h u d i c h u m , S. 148, P o e t s c h , Reichsjustizreform, insbesondere S. 77, M. H i n z , S. 1 ff., v. A r e t i η , I S. 97 ff., S c h e y h i n g , S. 41, H ä r t u n g , S. 42 f., H e u s i n g e r , S. 19 ff., F e i l e r , S. 168, H a t t e n h a u e r , S. 2 ff., H a f k e , S. 21 ff. Auch der heutige Bearbeiter muß die Gefahr sehen, sidi vorschnell für oder gegen die Institution RKG einnehmen zu lassen, indem er sich allzu früh eine umfassende Beurteilung zutraut, wo in einer Zeitspanne von 300 Jahren differenzierte Aussagen erforderlich sind. Entscheidend sind jedenfalls die allgemeinen staatsrechtlichen Voraussetzungen der Arbeit des Gerichtes von dem zu trennen, was es aus dieser ihm vorgegebenen Grundlage gemacht hat. Andererseits wird man sich von der Vorstellung freizumachen haben, die Rechtsprechung des RKG sei für die Parteien in jedem Falle vorteilhafter gewesen als die der obersten Landesgerichte. G ö n n e r , Handbuch I, S. 6 f. spricht in diesem Zusammenhang von einem

12 c)

Einleitung

Rezeptionsbezüge

Uber die beiden intendierten Zielsetzungen hinaus ließen sich Anregungen und neue Gesichtspunkte zur Entwicklung der Rechtsmittel, zur Rezeptionsgeschichte und zur Beurteilung der Reichsreform gewinnen S 1 .

d) G a n g d e r

Studie

Aus Methode und Zielsetzungen ergibt sich der Gang der Untersuchung. Nach einer Abhandlung der begrifflichen und rechtlichen Grundlagen folgt in zwei Abschnitten, gegliedert nach Erscheinungsformen, die Darstellung der relevanten Tatsachen. Diese — selbstverständlich bereits wertende — Aufbereitung des Materials geschieht in der Absidit, die teilweise wenig bekannten Erscheinungen hinreichend zu belegen und nach Möglichkeit für den Leser selbst bewertbar werden zu lassen, relativ ausführlich. Dabei erweist sich die derzeit noch gegebene Uberschaubarkeit der Vorkommnisse als ein beachtenswerter Vorteil. Danach erfolgt eine Analyse der Geschehnisse, aus der schließlich Folgerungen gezogen werden.

3. Q u e l l e n l a g e Bei einem derart niedrigen Stand wissenschaftlicher Vorarbeiten stellte sich die Frage nach der Erreichbarkeit von Quellen in besonderem Maße. Entsprechend dem bereits Gesagten mußten sich erste Ansatzpunkte aus der die Appellation und die Privilegien behandelnden Literatur ergeben. Auch die einschlägigen Regelungen der R K G Ordnungen, der Reichs- und Visitationsabschiede (bzw. -schlüsse), der Gemeinen Bescheide und conclusa pieni des Gerichts waren zu beach-

vorgespiegelten „praejudicium iurisdictionis caesareae", einer „cameralistischen Lieblingsidee" der reidisgerichtlichen Schriftsteller. Was die Dauer der Prozesse betrifft, kann den Territorialgerichten von vornherein der Vorzug gegeben werden — vgl. etwa M o h i , II S. 11. Im übrigen ist die Fragestellung, ob sich das Zurückdrängen der Reichsgerichte durch Territorialgerichte zugunsten der Bedürfnisse der Rechtsunterworfenen ausgewirkt hat, nidit Gegenstand der Arbeit. 5 1 ) Zu den die Geschichte der Rezeption und der Rechtsmittel betreffenden Ansatzpunkten vgl. W e i t z e l , S. 225 ff., 234 ff., 241.

Quellenlage

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ten 3 2 . U n t e r den genannten Gesichtspunkten bot sich die Durchsicht wesentlicher Teile der K a m e r a l l i t e r a t u r 3 3 und der S t a n d a r d w e r k e zum P r o z e ß r e c h t 3 4 an. G r o ß e H i l f e leisteten — allerdings fast ausschließlich im A u f s p ü r e n v o n Einzelfällen, weniger in dogmatischer und systematischer Hinsicht — die kompilatorischen A u s f ü h r u n g e n Johann Jakob M o s e r s zum Problemkreis A p p e l l a t i o n 3 5 , w ä h r e n d andere staatsrechtliche Großdarstellungen relativ unergiebig blieben 3 e . In der neueren Literatur w a r e n Hinweise und Problemstellungen aus rezeptionsgeschichtlichen U n t e r s u c h u n g e n 3 7 zu beachten. Insbesondere aber galt es, die V e r ö f f e n t l i c h u n g e n zur Gerichtsbarkeit des Reiches 3 8 , vornehmlich zum R K G , zur Geschichte v o n A p p e l l a t i o n s 32 ) Da es nodi an kritischen modernen Editionen fehlt, mußten vornehmlich benutzt werden: L u d o l f s Corpus Iuris Cameraiis, L i i n i g s Ternsches Reichsarchiv, die neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede. Die Quellensammlung Ζ e u m e r s reicht für breitere Untersuchungen nicht aus. Visitationsschliisse, Gemeine Bescheide, Plenumsbeschlüsse und sonstige Urkunden und Belege fanden sich oft als gedruckte Quellen in der einschlägigen Kameralliteratur. Herangezogen wurden ferner sonstige Quellensammlungen oder Werke mit überwiegender Quellendarstellung: z.B. v. A n d l e r , C o r t r e i u s , Datt, Gylmann-Wehner, Londorp, von Meier, Pfeffinger, S c h m a u ß. Zur Geschichte der Reichsreform und des RKG bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind die sogenannten reichspublizistischen Werke von H a r p p r e c h t und J. J. M ü l l e r (Reichstagsstaat und Reichstagstheatrum Maximilians I.) auch heute noch unersetzbar. Eine inhaltliche Beschreibung der verschiedenen Arten von Quellen des Kameralrechts findet sich bei W i g g e n h o r n , S. 3 ff., 78. 33 ) Mit dem Hinweis, daß es sich hier nicht ausschließlich um Schrifttum nur zum RKG handelt, sind als Auswahl zu nennen: B l u m e , v. C r a m e r , D e c k h e r r , E s t o r , F a b r i c i u s , G a i l , H e r t i u s , v. L u d o l f , Malblank, Mynsinger, Nettelbladt, Roding, Senckenberg, Tafinger, Zwirlein. 34 ) Vgl. v. B e t h m a n n - H o l l w e g , Endemann, Zivilprozeßredit, E n g e l m a n n , D a n z , v. G ö n n e r , Handbuch, P l a n c k , S c h w a r t z , W e t ζ e 11. 35 ) In seinem Neuen Teutschen Staatsrecht, Band 8, Von der Teutschen Justizverfassung. 3e ) So etwa die von Ρ ü 11 e r und v. G ö n n e r , der die Appellationsbehinderungen in seinen Abhandlungen zum Prozeßrecht darstellt; ergiebiger Häberlin. S7 ) Unter anderen v. B e l o w , Rezeption, W i e a c k e r , S. 97 ff., D i e s t e l k a m p , S. 371 ff., M e r k e l , R o s e n t h a l , S t o b b e , Rechtsquellen, S t ö 1 ζ e 1, Riditertum und Rechtsprechung, weniger die Arbeiten von C o i n g , K r a u s e und T r u s e n zur sogenannten Frührezeption. 38 ) Zu nennen sind hauptsächlich E n d e m a n n , RKG, F r a n k l i n , RHG, H e r t z , L e c h n e r , L i e b e r i c h , P i t z , S e l l e r t , Zuständigkeit und

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Einleitung

privilegien 3 9 und zur territorialen Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses der obersten Landesgerichtsbarkeit zur Reichsgerichtsbarkeit zu untersuchen. Die anhand dieser Literatur aufgefundenen Einzelfälle und Geschehnisse mußten — was auch vielfach für die unmittelbar aus modernen Verzeichnungen ersehenen Prozesse gilt — soweit erforderlich und möglich mit Nachweisen aus speziellen Abhandlungen zur Territorial-, Lokal- und Familiengeschichte, insbesondere auch unter Heranziehung entsprechender Quellennachweise 40 , aufgehellt werden. Hin und wieder gelang es, soweit ein Streit über die Zulässigkeit der Appellation ans R K G gelangt war und die Parteien identifiziert werden konnten 41 , die betreffenden Prozeßakten ausfindig zu machen und beizuziehen. Sie stammen aus den Hauptstaatsarchiven Düsseldorf und München sowie aus dem Rijksarchiev Maastricht. Einzelfälle in ausführlicher Darstellung konnten ferner in den Veröffentlichungen von Entscheidungen des R K G 4 2 , die vornehmlich durch seine Beisitzer erfolgten, vermutet und gefunden werden. Der Einblick in die Prozeßakten und einschlägige Äußerungen zum Verfahrensrecht des R K G zeigten alsbald, daß weite Teile der über einzelne Appellationsbehinderungen berichtenden Sekundärliteratur wenig aussagekräftig sind, da sie die Entscheidungen des R K G terminologisch unzureichend beschreiben, die deshalb nicht ohne weitere Anhaltspunkte inhaltlich bestimmt werden konnten. Es handelt sich um Ladung, S m e η d , R K G , S p a n g e n b e r g , Stobbe, R K G und R G , S t ö l z e l , K G O 1521 und Ein ältester RKG-Prozeß, T h u d i c h u m , R K G , Tomaschek, Wiggenhorn. 3 e ) Vgl. oben Anm. 1. 4 0 ) Etwa v. B e l o w , Landtagsakten, Bürgermeister, Kleins c h m i d t , Hessische Landesordnungen, v. F ü r t h , H o n t h e i m , S c h n e i d t , S c o t t i , um nur einige Beispiele zu nennen. 4 1 ) Teilweise standen hier wegen Verfremdung der Namen der Parteien oder infolge von Schreibfehlern und vielfältigen Varianten in der Schreibweise — vgl. dazu W e i s e , Sp. 254 f., insbesondere Anm. 14, und A d e r s - R i c h t e r i n g , S. X — oder unzureichender Verzeichnung — vgl. Aders-Richtering, S. I X — unbehebbare Schwierigkeiten im Wege. 4 2 ) Zu nennen sind vornehmlich B l u m e , Chilias Sententiarum, v. C r a m e r s Beiträge und Nebenstunden, D e c k h e r r , Relationum, Η o s c h e r , Jahrbücher und Sammlung, K l o c k , ν. L u d o l f , N o v a Collectio, M a d e r , Meichsner, Seyler-Barth, Vahlkampf und W i g a n d , Denkwürdigkeiten. Es konnten nicht alle Quellen dieser Art ausgewertet werden, doch stellen die genannten einen repräsentativen Ausschnitt dar.

Quellenlage

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alle die Darstellungen, die sich in ihrer Aussage darauf beschränken, das R K G habe trotz der bestehenden Differenzen ,Appellationen angenommen', wobei in der Mehrzahl der Fälle offensichtlich dieses 'Annehmen' mit einer — unbeschadet der Möglichkeit des Fortfalls der die Zuständigkeit begründenden Faktoren im Laufe des Verfahrens — abschließenden positiven Entscheidung über die Zuständigkeit des Gerichtes gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung ist nach dem Verfahren des R K G bei streitiger Zuständigkeit jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn das Gericht in einem Zwischenurteil 4 3 unter Zurückweisung der gegen seine Zuständigkeit erhobenen Einreden dahingehend entscheidet, daß es zuständig sei. Die Annahme der Appellation im Sinne einer endgültigen Zuständigkeitsentscheidung kann also nicht daraus hergeleitet werden, daß das Gericht die Ladung und andere das Verfahren einleitende und sichernde Gebote 4 4 ergehen läßt. Dieser in den Quellen als ,Erkennen der Prozesse' bezeichnete und mit der das Appellationsinstrument begleitenden Supplik eingeleitete V o r g a n g 4 5 ist vielfach als eine abschließende Entscheidung des Gerichtes über seine Zuständigkeit mißverstanden 4 6 und als ,Annahme' der Appellation (beim erstinstanzlichen Prozeß als .Zulassung der Klage') bezeichnet worden. Dem Irrtum, daß mit

4 S ) In dem im Jahre 1508 am R K G anhängigen Rechtsstreit Eglin und Hover/ Glatthaar wurde über die Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes in einem Zwischenurteil vorab befunden, vgl. S e y l e r - B a r t h , I S. 239, H a r ρ ρ r e c h t , III S. 58. Desgleichen erging im Verfahren Sailer'Sailers Gläubiger 1551 eine Vorabentscheidung gegen ein behauptetes gewohnheitsrechtliches Appellationsverbot, vgl. dazu W e i t z e l , S. 222. Jedoch gibt es auch Fälle, in denen die Entscheidung über die Zuständigkeit im — materiellen — Endurteil enthalten ist. Es war üblich, diesen Punkt im Tenor ausdrücklich zu klären. Vgl. M e i c h s n e r , III S. 933 ff., 946 f., 950 ff., 956, S e y l e r - B a r t h , I I S . 1065, W e i t z e l , S. 240 u . a . zu einer Entscheidung aus dem Jahre 1585. M ) Vgl. zu den Grundlagen des Appellationsverfahrens W e t z e i l , S. 701 ff., W i g g e n h o r n , S. 174 ff., F r a n k l i n , K K G , S. 37 ff., W e i t z e l , S. 216 mit Anm. 14, 15. « ) Vgl. W e i t z e l , S. 220 mit Anm. 39, W i g g e n h o r n , S. 98 ff., 174 ff., 199 ff., S e l l e r t , Ladung, S. 205 mit Anm. 18, S. 209 („Prozeß exequieren oder verkünden"), S. 229 („reproductio der verkünd- und insinuierten Prozeß"), ders., R H R , S. 170 ff., Ν e u r o d e , S. 252 ff., auch unten S. 133 f., 288. 4 e ) Dieses Mißverständnis dürfte in einigen Äußerungen zu dem behandelten Problemkreis der Zuständigkeit des R K G eine entscheidende Rolle spielen, vgl. Μ o h 1, II S. 320 f., M o s e r , 2. Β. 3. Κ . S. 346 ff., S t ö 1 ζ e 1, K G O , S. 159 ff., S e l l e r t , S. 23, 37, ders., R H R , S. 180, aber auch ders., Ladung. S. 205, L a u f s , S. 204 mit Anm. 185, G i l l e s , S. 219 f.

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Einleitung

dem Erkennen der Appellationsprozesse über die Zuständigkeit entschieden sei, liegen zwei Fehlvorstellungen zugrunde. Die Einsicht, daß audi das RKG über seine Zuständigkeit streitig verhandeln und deshalb die Parteien vorladen mußte 47, setzte sich zunächst deshalb nicht durch, weil man annahm, das Gericht habe, da ihm die Privilegien ja bekannt gewesen seien, ihnen zuwiderlaufende Appellationen im einseitig vom Kläger betriebenen Extrajudizialverfahren a limine ohne Ladung zurückgewiesen. Diese Annahme entspricht aber — wie in neuerer Zeit insbesondere S m e η d 48 klargestellt hat — nicht der Praxis des RKG. Das RKG beachtete in dieser frühen Zeit — zumindest bis 1570 49 — mangels einer allgemeinen und anfänglichen Insinuationspflicht Privilegien nicht von Amts wegen, sondern nur auf die Intervention der Landesherren hin 50. Diese Praxis des RKG 47 ) In allen von mir untersuchten RKG-Prozessen wird von b e i d e n Parteien weitläufig und streitig über die Zuständigkeitsfrage verhandelt, nidit aber das Verfahren bis zur Entscheidung über die Annahme der Klage oder bis zur Litiskontestation vom Kläger einseitig geführt. Dies folgt bereits eindeutig aus dem Verlauf der von mir in ZRG (GA) 90 (1973) S. 213 ff. dargestellten Prozesse. Audi die Darstellung der von S m e η d , Br.-Pr., S. 163 ff. geschilderten Verfahren läßt sich anders gar nicht verstehen. 4β ) Br.-Pr., S. 169 mit Anm. 1 zu S t ö 1 ζ e 1, KGO, S. 159 ff. 4β ) Zur Wirksamkeit aller nicht auf allgemeingeltenden Gesetzen beruhenden Appellationsbeschränkungen gegenüber dem RKG bedurfte es der amtlichen Vorlegung der Freiheit (Insinuation, auch Intimation) durch den Berechtigten beim Gericht zwecks Kenntnisnahme und Anerkennung. Als gesetzlich zwingend vorgeschriebenes Erfordernis gibt es die Insinuation von Appellationsprivilegien erst seit RA 1570 § 70 — vgl. NSRA III, S. 296 f. —, der alle Stände aufforderte, ihre Rechte beim RKG anzumelden. Bis 1570 war die Frage, ob allgemein bekannte Privilegien dem RKG insinuiert werden müßten, streitig — vgl. F a h n e n b e r g , S. 5, K n a p p , S. 84. Die Einrede der Appellationsfreiheit wurde von dem betroffenen Reichsstand jeweils ad hoc vorgebracht und bewiesen. Zur Insinuation vgl. allgemein S e 11 e r t , H R G II, Sp. 385 ff., Ρ e r e 1 s , S. 13 ff., M o s e r , 2. Β. S. 1336 f., E i s e n h a r d t , S. 80, W i g g e n h o r n , S. 80 f., H e w i g , S. 119 f., W u l f f e n , S. 39 f., 52 ff. t0 ) Vgl. S m e n d , Br.-Pr., S. 169 Anm. 1, P e r e l s , S. 25 Anm. 5, Streitschrift .Information' bei Β ü r c k h 1 e, I S. 365, S t ö 1 ζ e 1, II S. 595 ff. So verfuhr auch schon das R H G , vgl. F r a n k l i n , II S. 19 ff. Der Berufung der Parteien auf das Privileg kam dabei offenbar keine Bedeutung zu. In allen von S m e n d , Br.-Pr., S. 163 ff. und auch in den von mir anhand der Prozeßakten bearbeiteten Fällen intervenierte stets die Obrigkeit zugunsten des Appellaten. Sie allein wird durch das Privileg begünstigt und muß seine Beachtung sichern, ebenso wie sie allein die Insinuation am R K G vornehmen kann. Die Parteien haben kein Reflexrecht. F r a n k l i n , a. a. O., schreibt zwar, daß bei Evokationen auch der Geladene selbst sich auf die Freiheit habe berufen können, bringt aber nur Beispiele für die Intervention des Landesherrn, die nach ihm „zahlreiche Hinweise in den Urkunden" belegen.

Quellenlage

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wird durch Ausführungen M e u r e r s 5 1 aus dem Jahre 1567 bestätigt: „Sonderlidi werden dergleichen Privilegien . . . nicht o b s e r v i r t . . . wo ein Privilegium oder Freyheit nidit durch ein Exception fürbracht, die Sadi unangesehen der Freyheit angenommen w i r d t . . . " .

Etwas tiefer in die Verfahrenspraxis dringt eine zweite unzutreffende Vorstellung ein, die dahin geht, das mit der „Reproduktion der Prozesse", das ist das Wiedereinbringen der mit Zustellungsnachweisen versehenen Ladung und sonstiger Gebotsbriefe des Gerichtes, beendete Extrajudicialverfahren 52 enthalte bereits eine — vorbehaltlich des späteren Wegfalls der die Zuständigkeit begründenden Faktoren — abschließende Klärung der Zulässigkeits- und insbesondere der Zuständigkeitsfragen 53 . Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Erkennen der Prozesse wurde vielmehr nur dann verweigert — und nur insoweit enthält das Extrajudicialverfahren eine Uberprüfung der Zuständigkeit —, wenn die Sache aus prozessualen oder auch aus materiellen Gründen offensichtlich 54 aussichtslos war. Dies wurde in den Streitigkeiten um die Appellationszuständigkeit — soweit ersichtlich — nie angenommen. In den Verfahren bis 1570 kann man sich eine sofortige Abweisung ohne Ladung des Appellaten kaum vorstellen, da ja selbst bei unstreitig bestehendem Appellationsprivileg dieses als Einrede vorgebracht werden mußte 5 5 . Erwies sich aber — nach 1570 — die Appellation bereits im Extrajudicialverfahren

" ) Blatt C X X X I I I Vorderseite. ) Zur Unterscheidung von Judicial- und Extrajudicialverfahren als Abschnitten des reidiskammergerichtlichen Prozesses vgl. P ü t t e r , Anleitung II, S. 119, Μ o h 1, Vergleidiung, S. 201 ff., 206 ff., 271 ff., 310 f., Wiggenhorn, S. 98 ff., 174 ff., 199 ff., S e l l e r t , Ladung, S. 228 f., W e i t z e l , S. 220 Anm. 39. " ) Vgl. W e i t z e l , S. 216 Anm. 14, 15 und S. 220 Anm. 39; an der bereits dort in bezug auf W i g g e n h o r n , a.a.O., vertretenen Ansicht wird audi gegenüber der in einigen Punkten abweichenden Auffassung S e l l e r t s , R H R , S. 177 ff., insbesondere S. 179 Anm. 608 und 610 sowie S. 180, festgehalten. Vgl. dazu bereits oben Anm. 45—47. 54 ) Vgl. S e l l e r t , Ladung, S. 205, M o h i , Vergleichung, S. 209 ff. Das Extrajudicialverfahren ist deshalb in der Sache mit der von einem richterlichen Ausschuß durchgeführten Vorprüfung von Verfassungsbeschwerden am Bundesverfassungsgericht vergleichbar. Entwicklungsgeschichtlich beruht es allerdings auf ganz anderen Voraussetzungen, nämlich der Selbständigkeit des Ladungsverfahrens, die auch andere alte Redite kennen. 55 ) Dies ist ein weiterer Beweis dafür, daß die Zuständigkeitsfrage grundsätzlich streitig verhandelt wurde. i2

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Einleitung

als unzulässig, so dürften RKG-Prozeßakten über die Verweigerung der Ladung nicht entstanden oder jedenfalls nicht erhalten geblieben sein 56 . Es kann somit festgestellt werden, daß das Erkennen der Prozesse in den hier behandelten Appellationsstreitigkeiten nicht mehr als den Erlaß von Ladung und sonstigen Geboten, also Rechtshängigkeit und verfahrenssichernde Maßnahmen mit sich bringt. Die Entscheidung über die Zuständigkeit gehört in streitigen Fällen dem Stadium des Judicialverfahrens an, in dem durch (Zwischen-) Urteil über die vom Landesherrn erhobene exceptio de non appellando (non devoluta) befunden wird. D a diese Zusammenhänge in weiten Teilen der Literatur unklar bleiben, mußten Erklärungen, die Appellationen seien 'angenommen' worden, anhand weiterer Anhaltspunkte auf ihren Inhalt überprüft oder aber — beim Fehlen von ergänzenden Faktoren — offen gelassen werden. Der unmittelbare Zugang zu den Prozeßakten des R K G war bei dem bekanntermaßen beklagenswerten Zustand ihrer Erfassung und Verzeichnung 57 nur teilweise möglich. Die Durchsicht der Verzeichnung des Staatsarchivs Münster sowie der von A d e r s besorgten Zusammenstellung der Dortmunder Prozesse am R K G und der entsprechenden Verzeichnung der Aachener Streitigkeiten durch G o e c k e und V e i t m a n n förderte einige aus der Literatur noch nicht bekannte Prozesse zutage 5 8 . Vgl. S m e η d , S. 142 Anm. 2. ) Zur Geschichte des Archivs des R K G und seinen derzeitigen Verhältnissen vgl. A d e r s , S. 23 ff., A d e r s - R i c h t e r i n g , I S. VII ff., L a t ζ k e , Looz-Corswarem/Scheidt, S. V I I - I X , P i t z , S. 5 f., S e l l e r t , S. 3 f., W e i s e , Sp. 254 f., W i g a n d , Denkwürdigkeiten, S. X I I I ff. und Beiträge I, S. 124 ff., daselbst audi D i e t ζ , S. 114 ff., Wiggenhorn, S. 5 ff., N e v e , S. 70 ff., 240 ff., D i e s t e l k a m p , Quellen, S. 1 ff. 58 ) Es sind dies: 58

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StA Münster R K G H 354,

Hagedorn/Kleytz, Münster, 1529,

StA Münster R K G H 355,

Hagedorn/Krämergilde zu Münster, 1530,

StA Münster R K G A 1102,

Armbruster, Wesemann/Bistum und Stadt Paderborn, 1521,

StA Münster R K G S 1097,

de Schamps/Bürgermeister Münster, 1590,

StA Münster R K G S 1098,

de Schamps'Pagenstecher, Münster, 1591, Mülher/Stadt Dortmund, Kaspar Bergfeld und Johann Boenen, Dortmund, 1622/23,

StA Münster R K G Ν 4094,

und Rat

zu

Quellenlage

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Die Verzeichnungen des Staatsarchivs Koblenz sowie des Frankfurter untrennbaren Bestandes enthalten keinen eindeutig als Appellationsverbot erkennbaren Fall. Sie vermitteln aber — ebenso wie die übrigen Verzeichnungen und wie die zusammenfassende Betrachtung der überprüften Entscheidungssammlungen — Anhaltspunkte zur Einschätzung der Häufigkeit solcher gegen die Appellation gerichteter Maßnahmen bei den Reichsständen, deren RKG-Akten heute in den genannten Archiven aufbewahrt werden. Die für die Zeit ab 1573 erhaltenen zunächst privaten 59 später amtlichen Urteilsbücher und die Protokollbände (ab 1705) des sogenannten untrennbaren Bestandes (BA Frankfurt/M) wurden zur Ergänzung des ermittelten Prozeßmaterials soweit erforderlich herangezogen 60. StadtA Aachen RKG O 1586,

von der Over/Magistrat und Schöffen zu Aachen, 1530, StadtA Aachen RKG Ρ 537, Pastor/Colin, Aachen, 1591, StadtA Aachen RKG Ρ 538, Pastor/Colin und Magistrat zu Aachen, 1592. Der Fall Hagedorn war mir unter verstümmelter Parteibezeichnung bereits aus der Kameralliteratur bekannt — vgl. W e i t z e l , S. 217 Anm. 20 —, wurde jedodi nebst der Bearbeitung durch W i g a n d , S. 221 ff. anhand der Verzeichnung ,neu entdeckt'. Die Aufstellung soll audi die Nützlichkeit moderner Verzeichnisse belegen. Sie verwendet wegen der Übersichtlichkeit die Signaturen des Generalrepertoriums. Die des StA Münster finden sich oben S. 361. 5 ") Das sogenannte älteste Urteilsbuch des untrennbaren Bestandes ist eine Privataufzeichnung des RKG-Assessors Mörder, vgl. W e i t z e l , S. 218 Anm. 23. eo ) Die Entscheidungen des RKG ergehen — wie damals allgemein üblich — ohne Begründung. Die Tenores geben keinen hinreichenden Aufschluß über die rechtlichen Erwägungen des Gerichts. Zudem befinden sie sidx überlicherweise nicht bei den Akten, sind zumeist auch nicht im Quadrangelprotokoll verzeichnet. Der Tenor muß somit — sofern der Ausgang des Rechtsstreits nicht anderweitig bekannt ist — im Urteilsbuch oder — bei Entscheidungen, die vor 1573 liegen — in der Sammlung von S e y 1 e r und B a r t h gesucht werden. Letztere hat den großen Nachteil, daß die Parteien mit verfremdeten Initialen bezeichnet werden. Sie ist ferner nicht vollständig und enthält hin und wieder unzutreffende Datierungen. Tenores vor 1573 sind deshalb nur teilweise aufspürbar. Die den Entscheidungen des Gerichts zugrundeliegenden Voten/Relationen der Beisitzer befinden sich ebenfalls nicht bei den erhaltenen Prozeßakten. Für das 18. Jahrhundert sind sie weitgehend in den Protokollbänden enthalten. Für die frühere Zeit müssen sie, soweit sie nicht in Entscheidungssammlungen publiziert oder besprochen worden sind, als verloren angesehen werden. Die älteren Entsdieidungssammlungen — etwa M e i c h s n e r 1603 — leiden wiederum daran, daß die Parteien mit verfremdeten Initialen bezeichnet werden. Die Rekonstruktion eines Prozeßverlaufes des 16. und 17. Jahrhunderts in allen rechtlichen und tatsächlichen Bezügen ist aus all diesen Gründen ein oft aufwendiges und im Erfolg unsicheres Unternehmen. Die einzelnen Bruchstücke der Prozeßübermittlung können oft nur unter Zuhilfenahme erzählender Quellen, die Zusammenhänge und Namen nennen — insbesondere H a r p p r e c h t — auf-

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Einleitung

Bei der Durchsicht der Repertorien mußte, da nicht jeder Zuständigkeitsstreit überprüft werden konnte, auf die eindeutige Verzeichnung als Appellationsverbot oder -behinderung abgestellt werden, die zumeist darin besteht, daß eine Partei, nämlich der Appellant, gerade wegen der Appellation bestraft wird oder sich über Maßnahmen seiner Gerichtsherren beklagt, die ihm die Appellation erschweren oder einen Verzicht auf das Rechtsmittel abnötigen sollen. In weniger eindeutigen Fällen waren vorkommende Attentate, die Verweigerung der Aktenherausgabe, der Antrag auf Lossprechung von einer bei Haftentlassung geschworenen Urfehde (relaxatio ad effectum agendi) 61, die Intervention des Landesherrn mit der Behauptung einer auf Herkommen oder Privileg beruhenden Appellationsbefreiung Anhaltspunkte dafür, daß sich weitere Nachforschungen als lohnend erweisen könnten. Bestehende und angestrebte Appellationsprivilegien waren hier insbesondere, aber auch sonst ganz grundsätzlich, zur Aufhellung der Situation und zur Erkenntnis der Zusammenhänge zu beachten. Es gehörte deshalb zu den Vorarbeiten, einen einigermaßen verläßlichen Uberblick über die Entwicklung der Appellationsbefreiungen generell und über den Stand der Dinge für ein bestimmtes Territorium jeweils im Zeitpunkt des untersuchten Einzelfalles zu gewinnen 62. Sicherlich wird in den nicht verzeichneten Beständen der Archive noch mancher gleichartige Fall liegen. Selbst bei der Durchsicht der Verzeichnungen wird hier und da ein Beispiel nicht erkannt oder übersehen worden sein, was auch von den herangezogenen Entscheidungssammlungen zu gelten hat. Gleichwohl ist der an dem gewonnenen Material ausgerichtete Uberblick eine hinreichende Grundlage gefunden, erkannt und sinnvoll zusammengefügt werden. Beispiele und weitere Hinweise zu dieser Grundlagenarbeit enthalten P i t z , L i e b e r i c h , RK-Prozesse und W e i t z e l (dort insbesondere Anm. 11, 12, 17, 18, 20, 23, 25, 29, 31, 63). el ) Vgl. Ρ r a t j e , S. 140 f. und die dort genannte Literatur. 62 ) Hierzu dienten vornehmlich die bei L u d o l f , Corpus Iuris Cameraiis als Anhang, G y l m a n n - W e h n e r , Bd. VI S. 5 ff., C o r t r e i u s , Bd. 4 S. 170 ff., R o d i n g , S. 362 ff., B l u m e , S. 367 ff., Β a l e m a n n , S. 265 ff. sowie in der übrigen verarbeiteten Literatur mitgeteilten Privilegienerteilungen, die unter Angabe der Appellationssumme und des Datums der Erteilung gesammelt wurden. In Zweifelsfällen half eine Anfrage bei Frau Dr. B e n n a vom Haus-, H o f - , und Staatsarchiv Wien oder bei Herrn Prof. Dr. E i s e n h a r d t (vgl. oben Anm. 2.). Weitere Hinweise finden sidi bei Ρ ü 11 e r , Literatur III, S. 473 und IV, S. 375 f.

Quellenlage

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für eine erste allgemeine Beurteilung des Problems ®3. Eine breitere Erfassung aufgrund gezielter Arbeit 64 erscheint kaum möglich, stünde auch angesichts ihrer Mühen in keinem Verhältnis zum — -wahrscheinlich geringen — Erfolg. Wesentlich abweichende Ergebnisse werden sich nicht ergeben, da zumindest länger andauernde Maßnahmen gegen die Appellation erfahrungsgemäß doch in irgendeiner Form ihren Niederschlag auch in der Literatur gefunden haben. Die Kombination der Erfassung der Quellen sowohl von der Literatur als audi von den Archivverzeichnissen her ist also ein wesentlicher Teil der Methode der Arbeit. Nur so und nur deshalb, weil es sich um einen von der Verzeichnung her relativ gut erkennbaren Streitstoff handelt, konnte der Versuch gemacht werden, ein sachlich-systematisches Thema durch die Verarbeitung von RKG-Akten zwar nicht erschöpfend zu behandeln, wohl aber in der Darstellung entscheidend zu ergänzen und in der Beurteilung zu festigen. Die so umfänglich zusammengetragenen Rechtstatsachen erfahren eine wirklidikeitsgetreue Einschätzung durch Vergleiche der Erscheinungen untereinander und mit anderen verwandten Entwicklungen, insbesondere der allgemeinen Entwicklung der Gerichtsverfassung und der Vergabe von Privilegien, auf dem Hintergrund der Ausbildung der souveränen Territorialstaaten. Bei der Interpretation von Einzelquellen ist auf die zeitgenössische Theorie und Praxis, möglicherweise bestehende Abweichungen zwischen beiden, das Rechtsdenken der Zeit und die Begriffswelt der Quellen selbst abzustellen 65.

M ) Insgesamt wurden etwa 20 000 Entscheidungen des RKG zu drei Vierteln anhand moderner Verzeichnungen und zu einem Viertel anhand älterer Entscheidungssammlungen überprüft. Zu den Einzelheiten vgl. die Auswertung unten S. 321 f. M ) Etwa in Form einer Durchsicht des 43bändigen Generalrepertoriums der RKG-Akten in der Außenstelle des Bundesarchivs in Frankfurt/M. Zu grundsätzlichen Überlegungen über die Methode der Arbeit mit Prozeßakten des RKG, die dazu führen, „die Analyse selbst zum Gegenstand der Arbeit" werden zu lassen, vgl. P i t z , S. 9. Der hohe rechtsgeschiditliche Aussagewert dieser Quellen, aber auch die mit ihrer Bearbeitung verbundenen Schwierigkeiten sind heute allgemein anerkannt, vgl. insbesondere die oben Anm. 38 Genannten. « ) Vgl. B a d e r , Aufgaben, S. 5 ff., S i m o n , S. 316.

Erster Abschnitt

GRUNDLAGEN

Α. Z U L Ä S S I G E BESCHRÄNKUNGEN DER A P P E L L A T I O N S F R E I H E I T

I. R e s e r v a t r e c h t

der o b e r s t e n

Gerichtsbarkeit

Die RKGO 1555 II Tit. 28 § 1 bestimmt: ,Es soll nicht allein von den Urteilen durch die ordentliche Untergericht dem kayserlidien Cammergeridit ohne Mittel unterworfen, ausgesprochen, sondern auch in den Rechtfertigungen, so gegen Kurfürsten, Fürsten, Fürstenmäßigen, Grafen, Herren und Ritterschaften durch andere oder unter ihnen selbst fürgenommen und geübt, einem jeden Teil, der sich mit gesprochenem Urtel beschwert befindt, an das kayserliche Cammergericht zu appellieren zugelassen s e i n , . . . , in maßen hie oben von den rechtlichen Austrägen in erster Instanz weiter geordnet und versehen ist, doch einem jeden seine Privilegien und Freiheiten derhalben vorbehalten'

,Hie oben' bezieht sich auf RKGO 1555 II Tit. 2 § 22, wo es bei der Regelung der Austräge heißt: ,Dodi soll keiner Partei die Appellation vor das Kaiserlich Kammergeridit benommen oder abgestrickt sein, nach laut des Artikels von den Appellationen, welche angenommen werden sollen oder nicht, hie unten begriffen'.

Die Vorschriften gehen mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß von Austrägen 3 und von dem Urteil eines dem RKG unmittelbar unterstehenden Landesgerichtes „der Teil, der durch das gesprochene

NSRA III, S. 103, C J C S. 167. Die Bestimmung entspricht C O C II Tit. 31 Vorspruch vor § 1 (nach C J C S. 694). Das Konzept der R K G O 1613 ist, obwohl es niemals formell Gesetz wurde, gleichwohl faktisch das Gesetz gewesen, nach dem das RKG bis 1806 gelebt hat, vgl. S e l l e r t , S. 7, H ä r t u n g , S. 42, W i g g e n h o r n , S. 3. η C J C S. 152, NSRA III, S. 87. s ) Zur Institution der Austräge vgl. S m e η d , S. 55 ff., S e l l e r t , S. 39, 46 ff., 50 ff., W i g g e n h o r n , S. 62 f., 67, 73, 89, P r a t j e , S. 143 f., M. H i η ζ , S. 163 ff. Zur Regelung der Appellation von Austrägen im Konzept der R K G O vgl. COC II Tit. 2 § 2, der auf die umfassende Regelung der Appellation in Teil II Tit. 31 verweist.

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Zulässige Beschränkungen

Urteil des Unterrichters beschwert zu sein glaubt, auf die nächste höhere Instanz oder den Oberrichter sicli berufet, damit er allda besser Recht finden möge" 4 . Unmittelbar anschließend bringt § 2 als Sonderregelung zum Ausdruck, daß die tatsächlichen Verhältnisse dem Grundsatz des § 1 nicht immer entsprachen: ,Und dieweil bißhero etlidie Stände ihre Unterthanen mit Eyd und Pflicht dahin gezwungen, von ihren Urtheilen nicht zu appelliren, und so die Partheyen darüber appellirt, dieselben als meyneydig zu straffen unterstanden, welches aber nicht allein dem Rechten zuwider, sondern auch dem Kays. Cammer-Gericht und desselben Jurisdiction zum höchsten abbrüchig: So wollen, ordnen und setzen wir, daß hinführo keiner gezwungen werden soll, sich des appellirens zu enthalten, oder von gethaner Appellation abzustehen und so solches geschehe, daß alsdann solche Verpflichtung an ihr selbst unbündig seyn, und daß die Partheyen so sich beschwert befinden, zu appelliren, und ihre Appellation zu prosequiren, nichts destoweniger, ohne einige Verletzung ihrer Ehren, Fug und Macht haben sollen: Es wäre dann, daß einer sich freywillig und ungedrungen vorhin der Appellation begeben, oder aber daß er Vermög eines rechtmäßigen Privilegien seiner Oberkeit oder Richters, auch sonst von Rechtswegen nicht appelliren könte oder möchte, in welchem Fall dann jederzeit durch das Cammer-Geridit erkennet und geschehen soll, was sich, vermög der Recht, und dieser Reidis-Ordnung zu thun gebührt' 5 .

Beide Bestimmungen beruhen auf der seit Jahrhunderten überkommenen und im Grundsätzlichen bis 1806 anerkannten Stellung des Kaisers als des Inhabers der höchsten Gerichtsbarkeit im Reiche, als der Quelle allen Rechts und des Wahrers der Rechte der Untertanen, kraft deren ihm ursprünglich die letzte Entscheidung in einem jeden Rechtsstreit vorbehalten blieb 6 . Jedermann konnte sich zur Uberprüfung einer Gerichtsentscheidung an den Kaiser wenden. Ge4 ) So die Definition des Rechtsmittels Appellation bei H e 11 f e 1 d , Bd. 1, S. 248, vgl. auch Ρ r a t j e , S. 142, G i 11 e s , S. 217 ff. E s t o r , S. 445 definiert: „Die Appellation ist eine Rechtswohltat und wird wegen eines angeblich unbilligen Urteils (iniqua) erhoben." B l u m e , Proc. cam., S. 544 sagt: „Provocado ( = appellano + nullitas + restitutio in integrum) ad Cameram vero est actus, quo auxilium iudicis Camerae ad tollendum gravamen a iudice inferiori illatum imploratur". 5 ) So nach NSRA III, S. 103, vgl. audi CJC S. 167. ·) Vgl. G o b 1 e r , Bl. 127 Rückseite, R o e n n b e r g , S. 148, 152, S c h i c k , S. 74 ff., v o n d e r N a h m e r , Bd. 3, S. 539, M o h l , Bd. 1, S. 5, v o n G ö n n e r , Handbuch, Bd. 1, S. 2, Ρ e r e 1 s , Justizverweigerung, S. 14, Ρ o e t s c h , Reichsjustizreform, S. 2, Ε i s e η h a r d t , S. 81, 96, Ρ r a t j e , S. 116 ff., 122 f., W i g g e n h o r n , S. 13, S c h w a r t ζ , S. 67, F r a η k 1 i η , I S. 1 ff., T o m a s c h e k , S. 526.

Reservatredit oberste Gerichtsbarkeit

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schah dies früher — soweit die Parteien nicht ohnehin ihren Gerichtsstand unmittelbar beim König hatten — im Wege der Urteilsschelte 7 , so galt später, ab 1495 gesetzlich festgelegt 8 , in erster Linie die Appellation als Mittel kaiserlicher Kontrolle der von den Instanzen der Landesherren erlassenen Urteile. Mit der Errichtung des RKG im Jahre 1495 bestellte der Kaiser dieses oberste Reichsgericht, das von ihm und den Ständen getragen war, zur Ausübung seiner Rechte 9 . Inhaltlich ausgefüllt und gestützt wurde die so in Appellationssachen allgemein begründete Zuständigkeit des RKG durch Überlegungen, die in der Appellation generell und insbesondere in der an den obersten Richter im Reiche die Möglichkeit einer defensio naturalis erblickten, die schon aus der Natur der Sache nicht abgeschnitten werden durfte 10. Unter dogmatisch systematisierenden Gesichtspunkten ist die Stellung des Kaisers als Inhabers der höchsten Gerichtsbarkeit im Reiche und damit seine ausschließliche Zuständigkeit zur Disposition über sein und der Untertanen Redit zur Appellation — nicht nur von den Staatsrechtslehren! — als Reservatrecht 11 (ius solum Imperatori 7

) Vgl. Ρ 1 a η c k , I S. 271 ff., S c h r ö d e r - ν ο η Κ ü η ß b e r g , S. 400 f., 594, F r a n k l i n , II S. 72, 204 ff., B u c h d a , H R G I, Sp. 197, 200. Die Frage nach dem Aufkommen der Appellation in bezug auf die Reichsgerichte steht hier nicht zur Erörterung an. Das Rechtsmittel dürfte aber bereits für das KKG die Regelform der Berufung ausgemacht haben, wobei — wie auch sonst — zunächst Mischformen mit der Urteilsschelte zu vermuten sind. Es steht jedenfalls fest, daß die R K G O 1495 insoweit keine Neuerung brachte, sondern einen vorhandenen Rechtszustand aufzeichnete. Vgl. hierzu Bu c h d a , H R G I, Sp. 196 ff., B r o ß , S. 10. 8 ) Vgl. R K G O 1495 §§ 13, 24, 28 (Zeumer II, S. 284 ff.), R K G O 1555 II Tit. 28 ff. (NSRA III, S. 103 ff.), C O C II Tit. 31 ff. (CJC S. 694 ff.). 9 ) Vgl. Ρ ü 11 e r , Anleitung II, S. 87 ff., M o h 1, I S. 9 ff., 30 f., II S. 4 ff., S c h i c k , S. 74 f., S t ö l z e l , II S. 108, W i g g e n h o r n . S . 67 f. 10 ) So unter Zugrundelegung von Dig. 1, 1, 9 (.naturalis ratio') das Votum des Referenten in einem vom RKG 1585 entschiedenen Fall eines Appellationsverbotes auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage, abgedruckt bei M e i c h s η e r , III S. 954, besprochen von W e i t z e l , S. 239 f. Zu diesen naturrechtlichen Bezügen der Appellation vgl. auch Β u c h d a , S. 303 f. ») Vgl. Ρ f e f f i η g e r , Bd. 3, S. 282 ff., N e u r o d e , S. 465, F a h n e n b e r g , S. 59 f., R o e n n b e r g , S. 165 f., v. C r a m e r , W N 2, S. 73, 88, Ρ r a t j e , S. 116 ff., S. 142 f., 229 ff., dem allerdings insoweit nicht gefolgt werden kann, als er das Redit zur Verleihung von Geriditsprivilegien als Ausfluß des kaiserlichen Begnadigungsrechtes einordnet. Es handelt sich hier vielmehr — ebenso wie bei der Bewilligung von Austrägen — um das Recht zur Organisation der eigenen Rechtsprechung. — Zum Begriff der Reservatrechte allgemein, insbesondere zur Frage, welche Rechte darunter begriffen sind, vgl. v. C r a m e r ,

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Zulässige Beschränkungen

competens) verstanden worden. Dies bringt zum Ausdruck, daß nur er allein und in Unabhängigkeit von den Ständen über die Erhaltung der Appellationsmöglichkeit zu befinden hatte. Der Rechtszustand spiegelte sich deutlich wider in der Vergabe von Privilegien, auf deren Erteilung kein Rechtsanspruch bestand, die vielmehr allgemein vom Kaiser nach freiem Ermessen im Hinblick auf politische und finanzielle Erwägungen vergeben wurden. Freilich versuchten die Stände auch hier, die kaiserliche Stellung zu schmälern. Die einschlägigen Bestimmungen insbesondere des Jüngsten Reichsabschiedes12 und — gleichlautend — einiger Wahlkapitulationen 13 bekräftigten den kaiserlichen Anspruch jedoch mehr als sie ihm abträglich sein konnten 14. Systema, S. 631 f., Ρ ü 11 e r , Anleitung II, S. 85, Ρ f e f f i η g e r , Bd. 3, S. 2 ff., O b e r l ä n d e r s Lexikon, S. 617 f., S e l l e r t , S. 107 ff., P r a t j e , S. 36 f., 50 ff., 86 ff., 365 ff., Η o k e , H R G II, Sp. 476 ff. 12 ) Vgl. J R A § 116 ( Z e u m e r , II S. 452), in dem sich der Kaiser verpflichtet, bei der Erteilung von Appellations- und anderen die Gerichtsbarkeit des Reiches betreffenden Privilegien, ,welche zur Ausschliessung und Beschränkung des Heil. Reidis Jurisdiction, wie audi der Ständen älterer Privilegien oder sonsten zu Präjudiz eines Tertii ausrinnen wollen, die Nothdurfft väterlich beobachten und mit Conceßion der Privilegien erster Instantz oder sonderbaren Austrägen auf diejenige, weldie dieselbe bishero nicht gehabt oder hergebracht, fiirters an Uns halten' zu wollen; erläutert bei N e u r o d e , S. 466 ff. ls ) Vgl. die Angaben bei Ρ e r e 1 s , S. 11 Anm. 3 und Eisenhardt, S. 81 Anm. 23, auch S c h i c k , S. 109, N e u r o d e , S. 469, P r a t j e , S. 142 f. mit Anm. 2, S. 143, W i g g e η h o r η , S. 74; zu den Wahlkapitulationen allgemein vgl. K l e i n h e y e r , S. 1 ff., H ä r t u n g , Wahlkapitulationen, S. 306 ff. 14 ) Die Zustimmung der Kurfürsten zur (Wieder-)Erteilung des iiiimitierten Privilegs an Sachsen 1559 stellt eine absolute Ausnahmeerscheinung dar, deren mögliche rechtliche Bedeutung einer näheren Untersuchung bedürfte, vgl. den Hinweis bei P e r e i s , S. 11 Anm. 3, im übrigen G ü n t h e r , S. 51 ff., 174. Insbesondere der Gedanke des § 116 JRA wurde zum Argument derer, die gegen unzulässige Appellationsbeschränkungen Stellung nahmen, vgl. S c h i c k , S. 109 f., M o h l , I I S . 12. Im übrigen zeigt bereits das Geschehen um §§ 112, 115 J R A ( Z e u m e r , II S. 451 f.), daß § 116 mit seiner weiten Klausel der „väterlichen Beachtung der N o t d u r f t " die Stellung des Kaisers nicht beeinträchtigt hatte. Nachdem in § 112 die allgemeine Appellationssumme auf 400 Reichstaler = 600 fl. angehoben worden war und die Stände versucht hatten, alle bestehenden begrenzten Privilegien gegenüber der bisherigen Appellationssumme von 300 fl. durch eine pauschale Regelung so zu erhöhen, daß sie gegenüber der neuen Summe von 600 fl. nicht untergegangen wären, stellte § 115 kategorisch fest: ,Und stehet . . . bey des Heiligen Reiches Churfürsten und Ständen samt und sonders, über ihre auf gewisse Summa habende und hergebrachte Privilegia de non appellando, um deren fernere Erhöhung bei Uns als Rom. Kayser, von dem diese und andere dergleichen Begnadigungen herrühren, in so weit gebührend anzuhalten und nach

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Grundsätzliche Voraussetzung der rechtlichen Zulässigkeit von Appellationsbeschränkungen war mithin die Einwilligung des Kaisers. So wie die Landesherren aufgrund ihrer Gerichtshoheit über die an ihre Landesgerichte gerichtete Appellation befinden und verfügen konnten 15, so konnte es der Kaiser hinsichtlich des an ihn gerichteten Rechtsmittels. Sein Reservatredit kann durdi landesherrliche Maßnahmen zwar faktisch, nicht aber rechtlich, beeinträchtigt werden, weil die Landesherren insoweit keine eigenen Rechte haben und voll und ganz untergeordnet sind 16. Dabei bedarf es hier keiner breiten Auseinandersetzung mit der Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Reichs- und Territorialrecht. Unabhängig davon, ob man mit S t ö l z e l 1 7 zur Verbindlichkeit des Reichsrechtes für die Untertanen im Grundsatz eine vorherige Transformation in Landesrecht fordert oder aber mit S c h m e l z e i s e n 1 8 den Reichsgesetzen mit der Verkündung durch den Kaiser unmittelbare Bindungswirkung für Reichsstände und Untertanen zuerkennt, gilt für die Verhältnisse hinsichtlich der Appellation ans RKG eben deshalb, weil es sich hier um eine Grundnorm kaiserlicher Berechtigung handelt, die absolute Unterordnung der Reidisstände und ihrer Gerichte: disponere circa id quod non est suae iurisdictionis nemo potest 1 9 . Dies gilt um so mehr als jedenfalls die Landesherren als unmittelbare Normadressaten verpflichtet waren, jedwede Eingriffe in die „verfassungsrechtliche Grundordnung des Reichs" 20 zu unterlassen. Hierher gehört

Gestaltsam der Sachen Umständen Unsere Resolution und Verordnung darüber zu erwarten'. Vgl. N e u r o d e , S. 464 ff., M e i e r n , 2. T. 12. B. S. 398, 9.B. S. 231, 228, 442, 641, M o h i , II S. 38 ff., P r a t j e , S. 142 f., 233. w ) Vgl. v. G ö n n e r , Handbuch I, S. 5, 9, R o s e n t h a l , I S. 15, W e i t z e l , S. 229 f. m. Anm. 102. " ) Vgl. v. C r a m e r , TO 2, S. 95 f. " ) II S. 77, 83 f., 95. «) Quellen II 1. Halbband, S. 26 ff., vgl. auch F e l l e r , S. 37, 68. le ) Auf diesem Grundsatz beruht das Votum des Referenten in dem vom RKG 1585 entschiedenen Fall, vgl. oben Anm. 10. — Entsprechend geht schon nach B a r t o l u s und Β a 1 d u s das Recht einer Gemeinschaft, sich Statuten zu geben, nur so weit, wie ihr audi die Gerichtsbarkeit zukommt. Dem folgt im wesentlichen die Literatur zum Staatsrecht des Reiches. Vgl. hierzu, zu den tatsächlichen Verhältnissen sowie zur Bedeutung des Gewohnheitsrechts in diesem Zusammenhang Τ h i e m e , Statutarredit und Rezeption, S. 69 ff., 84 f., K e r n , Recht und Verfassung, S. 60 ff., H e w i g , S. 106 ff., W e i t z e l , S. 227 ff. !0 ) So S c h m e 1 ζ e i s e η , a. a. Ο., S. 27, vgl. audi Τ r i e ρ e 1, S. 20, Β i e η e r , I S. 114 f., II S. 234 ff., M. H i η ζ , S. 288 ff., W u 1 f f e η , S. 80.

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aber der Angriff auf die kaiserliche Stellung als Inhaber der obersten Gerichtsgewalt im Reiche wie er in einer unzulässigen Beschränkung der an ihn gerichteten Appellation gegeben ist 2 1 . Die Vermutung von Ρ e r e 1 s 22 , daß solche, die Appellation ans R K G beschränkende Landesnormen „die Untertanen im Verhältnis zur Landesgewalt binden" mochten, kann nicht bestätigt werden. Für eine dahingehende Rechtswirkung fehlt es an den elementarsten Grundlagen. Den Landesherren und auch den zeitweilig im Verein mit ihnen handelnden Landständen ermangelte jegliche Kompetenz zur Regelung des Gegenstandes. Die von ihnen in einem Raum absoluter Unzuständigkeit erlassenen Gesetze und abgeschlossenen Verträge waren solche zum Nachteil Dritter. Das Rechtsempfinden der Zeit 2 3 beurteilte unzulässige Appellationsbeschränkungen als ab initio nichtig und unwirksam. Aus eindeutig rechtswidrigen Maßnahmen konnte keine rechtliche Verpflichtung der Untertanen hergeleitet werden. Mit abgezwungenen Eiden suchte man diesem Mangel zu begegnen. Auf einem anderen Blatt steht es, daß die Landesherren ihre gegen das Reich gerichteten Maßnahmen innerhalb ihrer Gebiete gegen jeglichen Widerstand mit Gewalt und unter Berufung auf angebliche Rechtsverletzungen der widerstrebenden Untertanen durch!1) S c h m e l z e i s e n , a. a. O., S. 27 nennt gerade das Appellationsverbot als Beispiel eines solchen Eingriffes in die verfassungsrechtliche Grundordnung. Vgl. ferner v. G ö n n e r , Handbuch, I S. 16. — In diese Richtung geht auch die Argumentation einschlägiger Voten von RKG-Assessoren. So im Rechtsstreit Mainz/Erfurt um 1600, vgl. K l o c k , S. 1013 ff., 1127 ff. Rdnr. 448, 454, ferner in Sachen Landau/Lösch und Konsorten 1610, vgl. K l o c k , S. 240 ff. Rdnr. 47—49. Zum richterlichen Prüfungsrecht der höchsten Reichsgerichte gegenüber der territorialen Gesetz- und Verordnungsgebung im 18. Jahrhundert vgl. W u 1 f f e η , insbesondere S. 63 ff., 79 ff. 22 ) S. 12, vgl. auch C a n t i u n c u l a bei B r e m e r , S. 137f., R o e n n b e r g , S. 147 f., T h . K n a p p , S. 81 hinsichtlich unvordenklicher Gewohnheiten und vereinbarter Verbote. a ) Dieses findet bereits in RKGO 1555 II Tit. 28 § 2 seinen Ausdruck, der feststellt, daß ,so solches b e s d i e h e . . . alsdann solche Verpflichtung an ihr selbst unbündig sein . . . ' solle, vgl. oben S. 26. Aus der Rechtspraxis des 16. Jahrhunderts sind das Gutachten des C l a u d i u s C a n t i u n c u l a 1545 zum Nürnberger Stadtrecht und das von B a s i l i u s A m e r b a c h 1575 zu den Breslauer Statuten zu beachten. Beide Verfasser stimmen der Auffassung des Β a 1 d u s zu: „Et sic est arguendum, quod statutum subditorum, quod non liceat appelare ad superiorem dominum, non valet, quia super iure superioris non possunt statuere; statuta ergo, ne liceat appellare ad imperatorem vel ad curiam praesidentium pro imperio nullius sunt momenti". Vgl. hierzu Τ h i e m e , Statutarrecht und Rezeption, S. 85, B r e m e r , S. 123 ff., 136 ff.

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zusetzen suchten. Dies geschah aber nicht immer. Auf einem anderen Blatt steht es ferner, daß die Untertanen in den vielen Fällen rechtlich objektiv streitiger Appellationsbeschränkungen das Risiko trugen, ob sich diese — selbst am R K G — als zulässig erwiesen oder doch zumindest in langwierigen Auseinandersetzungen keine Klärung erfuhren. Hier sind Recht und Macht kaum trennbar miteinander verknüpft. Zur Erteilung einer Appellationsbefreiung bedurfte der Kaiser nicht der Zustimmung der Landstände des zu privilegierenden Territoriums 2 i . Im Verhältnis zum obersten Gerichtsherren gibt es keinen Anspruch auf Erhaltung des Rechtsmittels ans R K G . Andererseits beachteten der Kaiser und die Reichsgerichte ständische Rechte, die Appellation in einem bestimmten U m f a n g beizubehalten. Solche Rechte erwuchsen den Landständen aus vertraglichen Vereinbarungen mit den Landesherren, die auf die Annahme oder Ausübung eines Privilegs verzichteten 2 5 . Diese Rücksichtnahme entsprang zwar auch recht-

2 4 ) Vgl. Moser, 1. B. S. 186 f., P e r e l s , S. 11 insbesondere audi Anm. 4 mit Literaturhinweisen. 2 5 ) Dem K a m p f von Landständen um die Erhaltung der Appellationsmöglichkeit ans R K G war angesichts der Verschiedenartigkeit der Macht- und Rechtsverhältnisse in den einzelnen Territorien insgesamt nur teilweise Erfolg beschieden. Durchsetzen konnten sich die pommerschen Landstände 1566 und 1614 gegen ein Privileg bis zu 500 fl., vgl. M o s e r , 1. B. S. 187. Das bekannteste Beispiel ist der von den Ständen im Jahre 1655 erzwungene Verzicht des Kölner Kurfürsten auf das ihm am 20. April 1653 erteilte illimitierte Privileg. Es blieb damit bis zur Errichtung des Oberappellationsgerichts im Jahre 1786 bei der durch ein Privileg des Jahres 1613 festgelegten Appellationssumme von 1000 fl., vgl. M o s e r , 1. B. S. 190 ff., v. C r a m e r , W N 2, S. 81 f., R o e n n b e r g , S. 136 f., E i s e n h a r d t , S. 83, 94 ff., ders., Das kurkölnische Oberappellationsgericht, S. 38 ff., M. H i n z , S. 308 f. Daß der R H R schon bei Erteilung des Privilegs Bedenken wegen bestehender ständischer Rechte gehabt haben muß, folgt aus seinem Votum zu einem entsprechenden, von Mainz 1654 beantragten Privileg, vgl. M o s e r , 1. B. S. 189. — Unbeachtet blieb in den Jahren 1766—1768 der Widerstand der Stände von Jülich und Berg gegen das K u r p f a l z 1764 verliehene unbeschränkte Privileg, vgl. M o s e r , 1. B. S. 205 ff., R o e n n b e r g , S. 141. — Dem Herzog von Mecklenburg wurde bereits 1724 vom R H R untersagt, in Appellationsangelegenheiten etwas wider die Rechte der Ritter- und Landschaft zu verordnen, vgl. v. C r a m e r , W N 2, S. 82. In der Folge waren auch die Vorstellungen der Mecklenburger Stände gegen das nach dem Teschener Frieden 1779 verliehene iiiimitierte Privileg erfolgreich, vgl. R o e n n b e r g , S. X V I I I und X X I , 151 insbesondere Anm. 75, S. 162 ff., 223 ff., 315 ff., H e r t z , S. 348, F e l l e r , S. 151 ff., 161.

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lichen Gesichtspunkten 2β, hatte aber in dem gemeinsamen Interesse von Reich und Landständen an der Beschränkung der Macht des Territorialherren einen entscheidend politischen Hintergrund 27 . Selbstverständlich konnte die Zustimmung der Landstände zu einer vom Landesherrn verordneten Maßnahme gegen die Appellation ans RKG selbst dann, wenn sie von den Landständen unter Verzicht auf das Appellationsrecht gewollt und vertraglich mit dem Landesherrn abgesprochen war, deren rechtliche Unzulässigkeit im Verhältnis zum Kaiser nicht heilen. Die Landstände konnten reichsrechtlich ebensowenig mit einem Verzicht auf die Appellationsmöglichkeit über die Rechte des Reichsoberhauptes verfügen wie sie der Erteilung einer Freiheit widersprechen konnten. Die so vereinbarten Appellationsbeschränkungen sind nur politisch etwas anderes als vom Landesherrn einseitig verhängte 28 . Dessen waren sich sowohl die Reichs- als audi die Landstände durchaus bewußt 2 9 . Die von S t ö l z e l 3 0 — teilweise mit viel Phantasie — in verwirrender Fülle aufgeworfenen Fragen nach der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Maßnahmen gegen die Appellation, nach der verpflichtenden Wirkung und den Adressaten von Reichsgesetzen und 2e ) Es handelt sich bei diesen Vereinbarungen zwischen Landesherren und Ständen um conventiones publicae, um verbindliche und oft durch ständische Gegenleistungen (vornehmlich Steuerbewilligungen) erkaufte Zusagen. Gerade die Kölner Erklärung des Jahres 1655 fand bei den Reichsinstitutionen bis 1786 strengste Beachtung und der Kurfürst mußte 1786 dem Kaiser das Einverständnis der Stände zur Neuerung des Oberappellationsgerichtes nachweisen, vgl. M o s e r , 1. B. S. 187, E i s e n h a r d t , S. 94 ff., allgemein auch W u l f f e n , S. 40 ff., 63 ff. " ) Vgl. H e r t z , S. 331, 343, M. H i n z , S. 330 ff., 377 ff., 516, H ä r t u n g , S. 133, v. B i e n e r , III S. 221 f., W u l f f e n , S. 25 f., 40 ff., H e u s i n g e r , S. 8 ff., Β 1 o e m , S. 92 ff. Davon, daß es andererseits den Fürsten gelang, die Reichsverfassung (Steuerrecht, Wehrverfassung) als Instrument gegen ihre Landstände einzusetzen, berichtet G. H i n z , S. 15 ff., 40, 113, vgl. auch H ä r t u n g , Wahlkapitulationen, S. 336, T h u d i c h u m , RKG, S. 209 ff. 28 ) Vgl. M y n s i n g e r , S. 13 (obs. X I I I , cent. 1), S t r y k , S. 24, v. C r a m e r , W N 2, 76 und Systema, S. 301, M o s e r , 2. B. S. 561, 573 f., 569, 1. B. S. 232 f., Ρ e r e 1 s , S. 11 ff., 58 ff., E i s e η h a r d t , S. 81, 94, aber audi oben Anm. 22. 2β ) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 13 Anm. 1, S. 38 Anm. 3, S. 59 f. so ) Bd. II S. 108 ff., 138 ff. Insgesamt kann man sich nicht des Verdachtes erwehren, S t ö l z e l gebe einer bewußt komplizierenden Darstellung zugunsten seiner These vom geringen Einfluß der Rechtsprechung des RKG auf die Rezeption — vgl. II S. 36 f., 123 ff., dazu W e i t z e l , S. 214 mit Anm. 6 — den Vorzug.

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Privilegien in diesem Zusammenhang, lassen sich im Grundsätzlichen mit einigen wenigen Sätzen beantworten. Soweit diese hier nodi nicht en detail belegt werden können, werden die folgenden Ausführungen zeigen, daß audi die Lösungen in Einzelfragen sich stets an den genannten Grundsätzen ausrichteten. Danach steht den Untertanen des Reiches als Reflex eines kaiserlichen Reservatrechtes das landesgesetzlidi unabänderliche Recht der Appellation ans R K G zu, dem das Recht und die Pflidit des R K G zur Annahme 3 1 der Appellationen entspricht. Das Recht des Kaisers kann auf der Grundlage eines an den Landesherrn adressierten Privilegs oder im Rahmen einer sonstigen kaiserlichen Einwilligung eingeschränkt oder ganz aufgehoben werden. Der Landesherr ist damit berechtigt, den Untertanen den Gebrauch des Rechtsmittels zu verbieten, sie bei Verstößen gegen seine Freiheit zu bestrafen 3 2 . Nach der Insinuation des Privilegs am RKG, das diese bei Einhaltung gewisser Formalitäten 3 3 vorzunehmen hat, bindet das Privileg die Rechtsprechung des Gerichtes 34 , so daß der Landesherr gleichwohl angenommene Appellationen und die auf dieser Grundlage ergangenen Befehle des R K G unbeachtet lassen bzw. gegen sie beim Kaiser, beim Reichstag oder auch bei einer Visitations> l ) Zur Annahme der Appellation und dem .Erkennen der Prozesse' vgl. oben S. 15 ff. 3 2 ) Zumeist enthalten schon die Privilegien selbst eine Geldstrafendrohung. Das Landesrecht konnte aber auch härtere Strafen festsetzen. Beginnend im 16. Jahrhundert gibt es darüber hinaus eine allgemeine Gesetzgebung des Reiches gegen mutwillige ( = im Bewußtsein oder audi in fahrlässiger Unkenntnis ihrer formellen und/oder materiellen Aussichtslosigkeit eingelegte) Appellationen, so z . B . §§ 85, 119, 120 J R A (NSRA III, S. 662). Der genaue Inhalt des in diesem Zusammenhang meist gebrauchten Wortes .frivol· ist noch ungeklärt. Das angegangene Geridit hatte darüber zu befinden, ob ein Fall mutwilliger Appellation vorliege. Die Strafzumessung lag in seinem Ermessen und orientierte sich grundlegend an der Vorstellung, daß die Appellation eine Reditswohltat sei, von der nur der wirklich Beschwerte Gebrauch machen dürfe. Entsprechende Strafbestimmungen kennen bereits territoriale HGOen des 15. Jahrhunderts, vgl. B e n d e r , S. 41, 89, O t t e , S. 116 f. In Kurpfalz ließ man für mutwillig erachtete Appellationen ans Reichsgericht vor 1495 einfach nicht zu, vgl. B e n d e r , S. 62, 88, so auch die badische H G O von 1509 für die Appellation ans Hofgericht, vgl. L e i s e r , S. 75. Aus der Literatur vgl. M o h l , II S. 104 ff., aus der Praxis des R K G Voten der Jahre 1597 und 1607 bei K l o c k , S. 436 Rdnr. 3 ff., S. 679 ff. Rdnr. 13 ff. — Hinsichtlich der Supplikation am R H R vgl. S e 11 e r t , R H R , S. 381, 384. 3 S ) So mußte etwa ein Privileg stets im Original vorgelegt werden, vgl. die oben S. 16 Anm. 49 genannte Literatur. M ) Einschlägige reichsgesetzliche Vorschriften sind bei M o h l , II S. 73 angegeben. Zu beachten ist insbesondere § 105 J R A .

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kommission wirksam Protest einlegen kann. Insoweit enthält das Privileg einen kaiserlichen Befehl ans RKG, Appellationen nicht anzunehmen. Eine einseitig landesherrliche Beschränkung der Berufung ans RKG, insbesondere deren gänzliches Verbot, ist in jedem Fall den Reichsgesetzen zuwider. Das gilt auch von appellationsbeschränkenden Gewohnheiten 35 sowie von solchen Verboten und Behinderungen, die auf Absprachen zwischen dem Landesherrn und seinen Ständen beruhen.

II. A l l g e m e i n g e s e t z l i c h e

Beschränkungen

Freilich stand dieses Recht zur Appellation den Untertanen in concreto nicht formlos und auch nicht uneingeschränkt zu. Die RKGOen 36 bildeten mehr und mehr Voraussetzungen für ein Appellationsverfahren aus, die über Formalien, Fristen und die Festlegung von Appellationssummen 37 der Flut der eingehenden Appellationsprozesse Herr zu werden versuchten. Daneben galt das gemeine Recht, das bereits von vornherein gewisse Streitigkeiten als inappellabel aussdiloß 38 . Diese, alle Reichsstände gleichmäßig treffenden 35 ) Zur — in ihren Einzelheiten komplizierten — Rechtslage bei appellationsbesdiränkenden Gewohnheiten vgl. W e i t z e l , S. 226 ff., audi oben Anm. 19. 3e ) Vgl. R K G O 1496 Tit. 14, 17, 18 (CJC S. 10 ff.), RKGO 1521 Tit. 23, 24 (CJC S. 50 f.) sowie oben Anm. 8. 37 ) Zur allgemeinen Appellationssumme vgl. M o h 1, II S. 36 ff., 43 ff., H a r ρ ρ r e c h t , III S. 166, 396, 403 f., 0 1 1 e , S. 115 ff., B e n d e r , S. 40 ff., O p e t , S m e n d . S . 186, C o n r a d , II S. 159 f., Ρ e r e 1 s , S. 2 f., insbesondere S. 3 Anm. 1. Sie wurde 1521 in Höhe von 50 fl. eingeführt, 1570 auf 150 fl., 1600 auf 300 fl. erhöht und letztlich 1654 auf 600 fl. = 400 Rtl. festgesetzt. 38 ) So waren grundsätzlich Kriminal-, Polizei- und Merkantilsachen (insbesondere Wechselklagen) sowie geistliche Angelegenheiten von der Appellation ausgenommen. Diese Grundsätze wurden vom RKG, vornehmlich in Strafsachen in der Absicht einer Verbesserung der Kriminalreditspflege bereits vor Erlaß der Carolina, nicht immer streng eingehalten. Da die Nichtigkeitsbeschwerde diesen Beschränkungen nicht unterlag, konnte vom RKG audi nach 1530 bei besonders groben Fehlentscheidungen (Hexenprozesse) hin und wieder Abhilfe geschaffen werden. Aus der Literatur vgl. M o h l , II S. 68 ff., 128 ff., v. G ö n n e r , Handbuch II, S. 3 ff., 38, v. C r a m e r , Systema, S. 299, M o s e r , 2. B. S. 576, Ρ e r e 1 s , S. 2, W i g a n d , Denkwürdigkeiten, S. 297 ff. und Wetzlarsche Beiträge III, S. 73 ff., Ν è ν e , S. 238, S m e η d , S. 83, H e u s i η g e r , S. 16 f., H a r ρ ρ r e c h t , III S. 55, M ü l l e r , Reidistags-Theatrum II, S. 43 betreffend den Reidistag zu Lindau 1496, A n g e r m e i e r , Reichsregimenter, S. 285, S e 11 e r t , S. 73 ff., E b e r h a r d S c h m i d t , Strafreditspflege, S. 107, 204, W i g g e n -

Formen speziellen Einverständnisses

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Schranken der Appellation können zwar nicht dem Begriff der Appellationsprivilegien zugerechnet werden 3 9 , sind aber im Sinne einer umfassenden Beschreibung der Grenzen des Rechtsmittels gleichwohl als allgemeine Beschränkungen einer absoluten Appellationsfreiheit zu verstehen. Ihre Grundlagen waren, da auf einem Gesetzgebungsakt des Reiches oder Grundsätzen des gemeinen Rechts beruhend, allgemein anerkannt und gesichert, so daß es kaum zu Auseinandersetzungen prinzipieller Art über Geltung und Umfang gekommen ist. Die Rechte des Kaisers erfuhren hier insoweit eine Modifizierung, als er im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens der Zustimmung der Stände bedurfte 40 . Andererseits sicherte dieses Verfahren die kaiserlichen Rechte und verhinderte, daß sie im Einzelfall später wirksam in Frage gestellt werden konnten. Soweit deshalb allgemeine Appellationsbeschränkungen Gegenstand der Auseinandersetzung wurden, handelte es sich durchweg um den Tatbestand ihrer offenbaren mißbräuchlichen Verwendung in einzelnen Fällen.

III. F o r m e n s p e z i e l l e n

Einverständnisses

Politisch weitaus interessanter als der Mißbrauch der in allgemeinen Reichsgesetzen geregelten generellen Voraussetzungen der Appellation sind die unter Berufung auf spezialgesetzliche Befreiungen eines Reichsstandes durchgeführten unzulässigen Appellationsbeschränkungen. Zum Verständnis des im Nachfolgenden unter dem Gesichtspunkt der Reditswidrigkeit, zumindest aber der Streitbefangenheit dargestellten Tatsachenmaterials, erscheint es deshalb unumgänglich, zunächst einen Abriß der für die Erteilung und Entwicklung zulässiger spezialgesetzlicher Appellationsbeschränkungen geltenden Grundlagen zu geben.

h o r n , S. 67, 90. A n gesetzlichen Bestimmungen vgl. zu Kriminalsachen R A 1530 § 95 (NSRA II, S. 321) und R K G O 1555 II Tit. 28 § 5 (NSRA III, S. 104), zu Merkantilsachen J R A § 107 ( Z e u m e r II, S. 450) und R A 1670 (NSRA IV, S. 76). »») Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 2. » ) Vgl. Μ o h l , II S. 41.

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Zulässige Beschränkungen

1. P r i v i l e g i e n Die Hauptform der kaiserlichen Genehmigung zur Beschränkung der Appellation ans RKG stellen die Appellationsprivilegien dar, die alsbald nach 1495 sowohl was die Anzahl der begünstigten Reichsstände betrifft als audi hinsichtlich des Umfangs der Befreiungen immer mehr zunahmen 41. Sie enthalten die spezialgesetzliche Befreiung eines oder mehrerer Reichsstände von der Pflicht, Urteile ihrer Obergerichte auf das von den Parteien eingelegte Rechtsmittel der Appellation hin dem RKG zur Uberprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung vorzulegen 42 . Waren es anfänglich vornehmlich die Reichsstädte 43 und einige Kurfürsten 44 , die, letztere gestützt auf die Goldene Bulle, Appellationsbefreiungen geltend machen konnten, so gab es nach 1654 kaum noch einen bedeutenden Reichsstand, der nicht in der einen oder anderen Form privilegiert gewesen wäre 45. Die Privilegien waren entweder unbegrenzt, wobei nur die Fälle der (unheilbaren) Nullität und der Rechtsverweigerung (iustitia denegata vel protacta) appellabel gelassen wurden, oder aber sie waren

41 ) Eine umfassende Geschichte der Appellationsprivilegien unter Gesichtspunkten moderner Forschung ist noch nidit geschrieben, vgl. oben S. 1. Anm. 1, 2. Über das Wichtigste informieren P e r e i s , S. 3 ff., Β u c h d a , H R G I, Sp. 196 ff. (.Appellation, Appellationsprivileg'), E i s e n h a r d t , a.a.O. 42 ) So im Ansdiluß an die Definition von Ρ e r e 1 s , S. 1. 43 ) In den ersten Jahren nach 1495 wurden an folgende Reichsstände Privilegien erteilt, die selten über eine Befreiung bis zu 50 fl. hinausgehen, zumeist auch und teilweise ausschließlich Appellationsformalien zum Gegenstand haben: 1495 — Straßburg, Nürnberg, 1498 — Ulm, 1499 — Windsheim, 1504 — Lübeck, 1506 — Eßlingen, 1508 — Nürnberg, 1510 — Reutlingen, 1512 — Frankfurt/M., Lindau, 1514 — Worms, 1517 — Bayern, 1518 — Kurpfalz, Lüttich, Biberach. Bei dem 1495 an Württemberg verliehenen Privileg handelt es sich um die Befreiung von auswärtigem Gericht. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll vielmehr nur die Anfänge der Appellationsbefreiungen nach 1495 illustrieren. Die Angaben beruhen auf H a r p p r e c h t , II S. 43, 141, 183, III S. 90, 128, 137, 172, CJC Anhang, S. 103 ff., 372, 385, 414 f., L ü n i g , Pars spec. Cont. IV, Teil 1, S. 427 f., 382 f., 198, 1246 ff. und 2, S. 318 ff., 40 f., 773 f., 570 f., M o s e r , Reichsstädtisches Handbuch II, S. 383 f., S t ö 1 ζ e 1, II S. 139. 44 ) Es handelt sich um Sachsen und Brandenburg, die ihre auf eine iiiimitierte Befreiung gerichteten Ansprüche aus der Goldenen Bulle (Kap. XI) nach 1495 behaupteten und 1559 bzw. 1586 für das Gebiet der Kurlande bestätigt erhielten. 45 ) Soweit die Privilegiengeschichte einzelner Stände für die Darlegung unzulässiger Appellationsbeschränkungen von Bedeutung ist, finden sidi Angaben darüber in den nachfolgenden Ausführungen.

Spezielles Einverständnis: Privileg

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limitiert auf bestimmte Geldsummen (quoad summam) 4e . Abweichend von der Berechnung der allgemeinen reichsrechtlichen Appellationssumme 47 , der der Betrag der Beschwer (summa gravaminis) durch das anzufechtende Urteil zugrundegelegt wurde 48 , handelt es sich bei den Summen der Appellationsprivilegien grundsätzlich um den anfänglichen Streitwert der Hauptsache (summa petitionis) 49 . Die Befreiungen waren aber auch oft sachbezogen (quoad causam) bestimmt. Offenbare Schuldsachen, Handwerkssachen, Besitzstreitigkeiten, Iniurien- und Schmähsachen, Handelssachen und Angelegenheiten die Gebäude einer Stadt betreffend, gehören zu den Gegenständen, für die Befreiungen erteilt wurden 50. Die Privilegien galten in der Regel für alle Obergerichte eines Reichsstandes, konnten aber auch nur ein bestimmtes Gericht betreffen 51 . Neben den materiellen Appellationsbefreiungen finden sich vornehmlich in den frühen Appellationsprivilegien um 1495 formelle Begünstigungen des Landesherrn im Rahmen des Verfahrens (sogenannte Appellationssolem4β ) Zur Beschreibung der verschiedenartigen Ausgestaltung von Appeliationsprivilegien vgl. P e r e i s , S. 1 ff., 5 ff., Ζ e u m e r , Goldene Bulle I, S. 52, W i g g e η h o r η , S. 93, S e 11 e r t , S. 38 ff., Eisenhardt, privilegia, S. 2 ff. " ) Vgl. oben Anm. 42. 48 ) Zur Berechnung der allgemeinen Appellationssumme vgl. M o h 1, II S. 56 ff., Ρ e r e 1 s , S. 3 Anm. 1, unzutreffend L i e d 1, S. 95, S e 11 e r t , S. 38, W i g g e η h o r η , S. 90 ff., R o e η η b e r g , S. 23 ff., V a h 1 k a m ρ f , II S. 268 ff., T a f i n g e r , S. 616 f. 49 ) Dies ergibt sich aus der eindeutigen Formulierung in der Mehrzahl der Privilegien, die auf ,die anfängliche Klage, Haupt-Sadi oder Handlung' abstellen. Als Beispiele durch die Jahrhunderte seien genannt: Privileg für Nürnberg 1508 (CJC Anhang, S. 415 ff.), Privileg für Lübeck 1588 (CJC Anhang, S. 394 ff.), Privileg für Mecklenburg 1651 (CJC Anhang S. 270 ff.) und Privileg für Brandenburg 1702 (CJC Anhang S. 55 ff.). Es entspricht dies auch dem Sinn der Privilegiensummen, die primär eine Befreiung des Standes für Prozesse von geringerer Gewichtigkeit bezweckten. Anders die gesetzliche Appellationssumme, die auf eine Entlastung des R K G von geringfügigen Streitwerten abstellte und diese anhand der Besdiwer maß. — So audi Eisenhardt, Appellationsprivileg Trier, S. 277, 280, Ο ρ e t , S. 15 f., L e i b e r , S. 409, O t t e , S. 137, a. A. S e 11 e r t , S. 38, der audi für die Privilegien von dem Besdiwerdewert ausgeht, in sich und gegenüber dem Vorzitat unklar ders., R H R , S. 379 mit Anm. 40, audi E i s e n h a r d t , privilegia, S. 4.

Die Beschwer mußte nach gemeinem Recht stets eine materielle sein, die rein formelle Besdiwer genügte nicht. Vgl. hierzu G i l l e s , S. 15 mit Anm. 99, S. 212 f. hinsichtlich der Beziehungen zur Regelung der ZPO. 50 ) Vgl. M o s e r , 1. B. S. 202, 217, Ρ e r e 1 s , S. 7. 51 ) Als Beispiel seien die Privilegierungen des Würzburger Bischofs in bezug auf das Stadtgericht Würzburg 1550 und 1586 erwähnt, vgl. W e i t z e l , S. 215 Anm. 10, S. 228 mit Anm. 84, 85, S. 245 Anm. 190.

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Zulässige Beschränkungen

nien 5 2 ). Es sind dies die Berechtigung zur Abnahme eines Kalumnieneides 5 3 durch den Unterriditer und zur Erhebung einer Kaution 5 4 oder auch eines Succumbenzgeldes 5 5 durch ihn. 6 2 ) Vgl. N e u r o d e , S. 249, P e r e l s , S. 7, aus der Praxis des R K G vgl. Κ 1 o c k , S. 5 Rdnr. 14, S. 646 ff. Rdnr. 4. 53 ) Die Kalumnieneide oder Eide „vor Gefährde" sind ein allgemein verbreitetes Hilfsmittel zur Herbeiführung einer an den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgerichteten Prozeßführung der Parteien, das die verschiedensten Ausformungen gefunden hat. Die Parteien schwören, ,daß sie nemlich eine gerechte Sache zu haben glauben, was sie vorbringen und begehren nidit aus Gefährde und böser Meinung, noch zu Aufschub und Verlängerung der Sachen, sondern allein zur Nothdurft thun, die Wahrheit nicht verhalten, auf des Gegenteils Vorbringen oder Erzehlung der Gesdiicht, in allen seinen Umbständen ohne Gefährde antworten, und sobald sie aus den Beweisthumben oder sonsten in progressu der Sachen befinden würden, daß sie eine Unrechte Sache hätten, davon abstehen und sich deren gänzlich entschlagen wollen' (§ 43 J R A — N S R A I I I , S. 649 f.). Zur gedanklichen Verknüpfung vgl. oben Anm. 32. Zu unterscheiden sind grundsätzlich der vor dem Oberriditer, hier dem R K G , als allgemeiner Verfahrenseid sowie im Falle konkret zu erwartender unredlicher Prozeßführung erneut zu leistende Eid (§ 43 J R A , vgl. die Erläuterung bei Ν e u r o d e , S. 200 ff.) und der aufgrund eines Privilegs des Unterrichters vom Appellanten als Appellationsformalie vor diesem abzulegende Kalumnieneid, der hier angesprochen ist (§ 117 J R A — NSRA III, S. 661, Ν e u r o d e , S. 470 ff.). Als Appellationseide werden die Kalumnieneide dann bezeichnet, wenn sie sich speziell auf das Rechtsmittel beziehen. Sie sichern — insbesondere dann, wenn sie bereits vom Unterrichter abgenommen werden — gegen den Mißbrauch des Rechtsmittels allgemein (hier nach Β r o ß , S. 67 ff., Zusammenhang mit dem Malicieneid), aber auch gegen das unbeschränkte Einbringen neuen Prozeßstoffes (vgl. §§ 73, 118 J R A — N S R A III, S. 654, 662 — kommentiert bei Ν e u r o d e , S. 475 ff.). Zum ius novorum vgl. neuestens Β r o ß , S. 38 ff., der allerdings keine Verbindung zu den Kalumnieneiden herstellt. Die Rechtslage der Zeit vor dem J R A wird von M o h 1, II S. 92 als unklar und unvollständig bezeichnet. Diesen Befund bestätigen die von Β r o ß , S. 59 ff. zu § 10 R K G O 1495 vorgelegten Untersuchungen. Vgl. ferner D a n z , S. 541 ff., 593, ν. Μ o h 1, I I S. 91 ff., ν. G ö n n e r , Handbudi III, S. 260 ff., W i g g e n h o r n , S. 179, 201, 216 f., Β e η d e r , S. 45 f., S e l l e r t , R H R , S, 155 ff., G i l l e s , S. 219, E s t o r , S. 527, 826 ff., B l u m e , Processus, S. 394 f., 557, R o d i n g , Pandectae, S. 812 ff., E n d e m a n n , Civilprozeßredit, S. 474, F a b r i c i u s , S. 1135. 54 ) Die Kaution dient der Sicherung des Appellanten wegen eines streitbefangenen Gegenstandes oder der des Appellaten wegen Kosten und Schäden für den Fall, daß der Appellant am R K G unterliegt. Sie ist mit Gut durch Hinterlegung beim Unterrichter, durch Bürgschaft oder notfalls durch Eid zu erbringen, vgl. N e u r o d e , S. 474, M o h l , I I S. 100, W i g g e n h o r n , S. 179, E b e l , Lübisches Redit, S. 114 f., D a n z , S. 707 ff., E s t o r , S. 529 f., R A 1654 § 117 (NSRA III, S. 661 f.). 5 5 ) Das Succumbenz- oder Verfallsgeld stellt sidi im Gegensatz zur Kaution als ein an den Unterrichter oder dessen Obrigkeit im Fall des Unterliegens des Appellanten verfallenes Strafgeld dar. Die Voraussetzungen des Verfalles lagen

Spezielles Einverständnis : kaiserliche Bestätigung

2. B e s t ä t i g u n g l a n d e s h e r r l i c h e r Staatsverträge

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Regelungen,

Das kaiserliche Einverständnis zu Beschränkungen des Appellationsrechtes der Untertanen war aber nicht förmlich an Privilegien gebunden, sondern griff überall dort rechtlich wirksam Platz, wo es in beliebiger Form unmißverständlich erteilt worden war. Es konnte deshalb auch zu Auseinandersetzungen darüber kommen, ob der Kaiser seine Redite verschwiegen habe und damit gewohnheitsrechtlich ein Zustand erwachsen sei, wie ihn sonst nur ein Privileg begründen konnte. Die akquisitive Verjährung wurde gegenüber dem kaiserlichen Reservatrecht generell als unwirksam angesehen 56. Bestätigte der Kaiser nachträglich einen solchen Brauch, so stand dies der Erteilung eines Privilegs gleich. Im Verfolg der Übung, Landesgesetze zur Absicherung ihrer Gültigkeit im Verhältnis zum Reich — insbesondere den Reichsgerichten — vom Kaiser bestätigen (vidimieren/konfirmieren) 57 zu lassen 58, wurden ihm oft Statute, Landes-, Gerichtsund Polizeiordnungen, die in der einen oder anderen Weise Beschrängrundsätzlich nur bei frivoler oder mutwilliger Appellation (vgl. oben Anm. 32, auch Anm. 53) vor. In Einzelfällen genügte die Niederlage am Obergeridit als solche. Das Succumbenzgeld betrug — oft nach dem Ermessen des Gerichts — in der Regel bis zu 10 Prozent des Streitwertes. Vgl. D a η ζ , S. 593 f., W i g g e n h o r n , S. 178, E s t o r , S. 530 ff., S e l l e r t , S. 38, in Kurpfalz zumindest seit 1480 5 Prozent: B e n d e r , S. 42, 87. Zur Herleitung des Succumbenzgeldes aus der deutschrechtlichen Wette bei Urteilsschelte vgl. E b e l , Rechtszug, S. 20 f., ders., Lübisches Recht, S. 114 f. Als Mittel zur Eindämmung der Appellationen konkurriert es mit der Appellationssumme, vgl. L e i b e r , S. 407 f., B e n d e r , S. 40 ff., 115 ff. Es findet sich auch bei anderen Rechtsmitteln, ζ. B. bei der reichshofrätlidien und der reichskammergerichtlichen Revision, vgl. S e l l e r t , R H R , S. 381ff., ders., Problematik, S. 3 f., H a r p p r e c h t , V, Vorbericht, S. 38. 5e ) Vgl. W e i t z e l , S. 222 f., 231, 240, 244 f. 57 ) Als Terminus findet sidi ohne Unterschied zur Bestätigung bereits erteilter Privilegien auch der Begriff confirmatio. Zur Erscheinung selbst vgl. v. C r a m e r , W N 2, S. 95, Μ o s e r , 2. Β. S. 560. 5β ) Vgl. S c h m e l z e i s e n , Quellen II, S. 27 f. und die von ihm in Anm. 5 Genannten. Der Kaiser bestätigte 1555 nicht nur die von S c h m e l z e i s e n , a. a. O., als Beispiel genannte Württembergische Landesordnung, sondern auch das Landrecht von 1555 (vgl. K u n k e l , Quellen I 2, S. X X I V mit Anm. 34, H e w i g , S. 99, 116), was f ü r Württemberg den ersten Schritt zur Legitimation seiner bislang auf der Grundlage einer im Jahre 1495 bestätigten Befreiung von auswärtigem Gericht (sog. Evokationsprivileg) zu Unrecht behaupteten unbeschränkten Appellationsbefreiung darstellt, vgl. v. S ρ i 111 e r , S. 41 ff., S. 61 ff., 83 ff., K n a p p , S. 74 ff. Zur Bestätigung allgemein K e r n , Recht und Verfassung, S. 52 ff., H e w i g , S. 1 ff.

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Zulässige Beschränkungen

kungen der Appellationsfreiheit enthielten 59, zur Bestätigung vorgelegt. Wurden sie genehmigt, so galt der damit festgelegte Zustand ebenso wie eine Befreiung durch Privileg. Auf diese Weise konnten insbesondere auch die vom Landesherrn mit den Landständen ausgehandelten Appellationsbeschränkungen reichsrechtlidi verbindlich werden eo . In diesen Fällen einer Beschränkung der Zuständigkeit des RKG durch genehmigte Landesnormen kam deren Insinuation beim RKG besondere Bedeutung zu. Appellationsbefreiungen können sich ferner in Staats- und Völkerrechtsverträgen (insbesondereFriedensverträge) befinden 61 und bedürfen dann, wenn der Kaiser selbst Vertragspartei ist, keiner gesonderten Bestätigung. Streitig war, ob die durch einen solchen Vertrag begünstigten Stände dem RKG einen einschlägigen Vertragsauszug insinuieren mußten.

5 ») Beispiele sind genannt bei M o s e r , 1. B. S. 216, 219, 232, 2. B. S. 560, 576, S t o b b e , II S. 212, aus der Praxis des RKG vgl. K l o c k , S. 930 ff. (Voten in Sadien Dietenberger/Steinhaus — Appellationseid nach Münsterscher H G O von 1571/1580). «») Vgl. S c h e l h a ß , S. 227, 229 ff. el ) Beispiele: Vertrag Holsteins mit Ditmarschen 1559 betreffend HolsteinGottorf ( M o s e r , 1. B. S. 217 f.). Der Westfälische Friede (Art. 10 § 12 Instrumentum Pacis Osnabrugense — Z e u m e r , I I S . 419) räumt Schweden für seine deutschen Gebiete eine unbeschränkte Appellationsbefreiung ein, vgl. M o s e r , 1. B. S. 224, R o e n n b e r g , S. 207.

Β. U N Z U L Ä S S I G E BESCHRÄNKUNGEN: APPELLATIONSVERBOTE UND -BEHINDERUNGEN

Unzulässige Beschränkungen der Appellation sind danach allein durch das mangelnde kaiserliche Einverständnis gekennzeichnet. Entsprechend den für die Privilegien geltenden Kategorien gibt es auch bei den unzulässigen Appellationsbeschränkungen solche, die das Rechtsmittel gänzlich und unmittelbar zu unterbinden beabsichtigen und solche, die es quasi mittelbar zu beschränken suchen. Im zweiten Fall erfolgt eine indirekte Einflußnahme im Rahmen der Akzidentalia (Appellationsformalien) oder durch Manipulationen in bezug auf die Entscheidungsfreiheit der Untertanen und die in den Gegebenheiten der allgemeinen Justizverfassung festgelegten Grundlagen der Appellation. Begrifflich soll deshalb zwischen Appellationsverboten und Appellationsbehinderungen als Erscheinungsformen der unzulässigen Appellationsbeschränkung unterschieden werden. Diese Differenzierung beruht nicht auf der Freude am Bilden von Kategorien, sondern ihr liegen strukturmäßige Unterschiede der Erscheinungsformen zugrunde, die sich besonders in der Darstellung der Fakten niederschlagen werden. Die Appellationsverbote gehen als leicht feststellbare und zahlenmäßig überschaubare Sachverhalte (Einzelfälle oder andauernde Verbotssituationen) ohne weiteres dem Verständnis ein. Sie können kasuistisch als Einzelvorgänge mit dem Ziel möglichster Vollständigkeit aneinandergereiht werden. Da die Einlegung oder Fortführung der Appellation unmittelbar Gegenstand des Verbotes ist, unterscheiden sie sich allenfalls nach der Motivation und den unterschiedlichen Formen der faktischen Einflußnahme. Bei der Appellationsbehinderung ist nicht die Einlegung oder Fortführung der Appellation selbst Gegenstand der Manipulation, sondern es sind die Voraussetzungen des Institutes, die zum Nachteil der reichsgerichtlichen Zuständigkeit verändert werden. Es handelt sich also um Maßnahmen, die von ihrem Ansatzpunkt her nur mittelbar auf die (Häufigkeit der) Einlegung des Rechtsmittels einwirken. Der indirekte Kampf gegen die Berufung ans RKG läßt sich am leichtesten in der Form des unrechtmäßig-mißbräuchlichen Einsatzes

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Unzulässige Beschränkungen

des in seiner Kompliziertheit und wegen der mit ihm verbundenen Risiken 1 ohnehin schon abschreckenden Appellationsverfahrens erkennen. Schwieriger wird der Nachweis der Zugehörigkeit zum untersuchten Themenkreis bei den Angriffen auf die über den Gebrauch der Appellation entscheidende Willensfreiheit der Parteien mittels einer Aushöhlung der in der allgemeinen Gerichtsverfassung vorgegebenen Grundlagen des Rechtsmittels. Sie erfolgen von zwei unterschiedlichen Ansatzpunkten aus. Zum einen werden den Parteien von den Landesherren größtenteils bewußt zum Nachteil der Appellation ans RKG — teils mit legalen Mitteln, teils aber auch mit unzulässigem Druck — geförderte Alternativen der Streiterledigung angeboten 2 . Zum anderen soll ihre Bereitschaft, sich ans RKG zu wenden, durch eine Vermehrung der Instanzen innerhalb des eigenen Landes korrumpiert werden. Hinsichtlich beider Arten der Manipulation ist sowohl was die generelle Beurteilung angeht als audi in bezug auf den Einzelfall der Nachweis des Verstoßes gegen Reichsrecht und insbesondere der des bewußten und gezielten Einsatzes dieser Techniken als Mittel gegen die Appellation eine Problematik, die in dieser Form bei den Appellationsverboten nicht gegeben ist. Die Appellationsbehinderungen lassen sich mithin angesichts der Fülle an Einzelfällen und Erscheinungsformen sowie aufgrund ihrer verfeinerten Wirkungsweise und der damit verbundenen erschwerten Einsicht in die Zugehörigkeit der Erscheinung zum Themenkreis nur unter Erörterung aller rechtlicher Bezüge im Flusse der Entwicklung darstellen und verständlich machen.

' ) Zum Appellationsverfahren informieren umfassend W e t ζ e 11, S. 701 ff., M o h l , II S. 1 ff., D a n z , S. 611 ff., wegen der Risiken vgl. oben S. 33 Anm. 32, S. 38 Anm. 53, S. 38 f. Anm. 55. 2 ) Vgl. L e η e 1, S. 149 f., W e i t z e l , S. 214 Anm. 6, 234 ff., 241.

C. A B G R E N Z U N G Z U V E R W A N D T E N ERSCHEINUNGEN

Die Freiheit von der Appellation hat als eine bestimmte Art der Gestaltung justizieller Beziehungen zwischen Reich und Reichsstand Bezüge zur Exemtion eines Gebietes vom Reich als der gewissermaßen nächst höheren Stufe der Unabhängigkeit. Als Rechtsmittel ist die Appellation — für andere Rechtsbehelfe und Rechtsmittel 1 besteht im Hinblick auf das Verständnis des Tatsachenmaterials kein Anlaß zu vorlaufenden Erörterungen — von den ebenfalls ans RKG gerichteten Beschwerden wegen Rechtsverweigerung und wegen Nichtigkeit abzugrenzen. Hinsichtlich eines jeden der drei Bezugspunkte ist das Verhältnis zum Begriff der unzulässigen Appellationsbeschränkung klarzustellen. Hingegen sind die gegen die Appellation von Austrägen gerichteten Maßnahmen voll in das Thema einzubeziehen, da sie selbst dann, wenn Reichsunmittelbare nicht von Untertanen, sondern von Gleichgestellten in Anspruch genommen wurden, Aufschluß über das Verhältnis von Landeshoheit und Reichsgewalt geben.

I.

Exemtionsstreitigkeiten

Ein Exemtionsprivileg nach heute herrschendem Verständnis 2 befreit in justizieller Hinsicht seinen Inhaber u n d das privilegierte Gebiet von der Gerichtsbarkeit des Reiches schlechthin, verleiht ihm also völlige Justizhoheit 3 . Es schließt die Lücken, die selbst ein iiiimitiertes Appellationsprivileg läßt 4 . Maßnahmen gegen die Ap*) Der Begriff .Rechtsmittel' wird in dieser Arbeit nicht im Sinne der ZPO, sondern zumindest in der umfassenderen Bedeutung nach dem gemeinen Recht gebraucht. Zu den bestehenden Unterschieden vgl. G i l l e s , S. 3 ff., 24 ff., 211 ff. Selbst der Begriff des gemeinen Rechts erweist sich aber dort als zu eng, w o die Entstehung von Rechtsmitteln aus allgemeinen Behelfen — vorläufig — noch nicht ausführlich beschrieben, sondern nur angedeutet werden kann. 2 ) Frühere Zeiten, insbesondere die Epoche der noch nicht rezeptionsbeeinflußten deutschen Gerichtsverfassung, kennen einen abweichenden Exemtionsbegriff. Vgl. dazu unten S. 117 ff. 3 ) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 7, S e 11 e r t , S. 22, 39 f. 4 ) Vgl. oben S. 36.

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Verwandte Erscheinungen

pellation ans R K G können sich aus der Inanspruchnahme eines Exemtionsprivilegs, aus Streitigkeiten um seinen Bestand und seine Auslegung ergeben, sofern es nur vom R K G in Zweifel gezogen wurde und sich Parteien fanden, die sich von den obersten Gerichten des eximierten Standes appellierend ans R K G wandten. D a die Appellationsfreiheit einen wesentlichen Teil der Exemtion ausmacht, sind die Auseinandersetzungen um eine Exemtionslage insoweit voll in die Darstellung des Kampfes um die Appellation einzubeziehen. Sie fordern sogar erhöhte Aufmerksamkeit, da die Spannung zwischen Rechtslage und Machtanspruch hier noch größer ist als bei der Berufung auf Appellationsfreiheiten 5 . Im übrigen sind Exemtionsstreitigkeiten für die Fragestellung irrelevant. D a die Mehrzahl der eximierten Gebiete als für das Erkenntnisinteresse der Untersuchung unerheblich ausgeschieden werden konnte 6 , verbleiben hier nur Streitigkeiten aufgrund der Exemtion Österreichs oder aufgrund etwaiger Exemtionsbestrebungen der nicht ausgeschiedenen Territorien.

II. S t r e i t i g k e i t e n

aus

Rechtsverweigerung

Das Anrufen der Reichsgerichte in Fällen von Rechtsverweigerung und -Verzögerung mittels einer grundsätzlich nicht an feste Formen gebundenen Beschwerde (querela protractae vel denegatae iustitiae) ist unter justiz- und allgemeinpolitischen Gesichtspunkten eine dem Aufbegehren gegen Appellationsbeschränkungen entsprechende Erscheinung 7 . In beiden Fällen gerät die infolge ihrer politischen und organisatorischen Ungebundenheit leichter als heute versagende Landesjustiz 8 in Konflikt mit den die Rechtsprechung kontrollierenden Reichsgerichten. Gleichwohl handelt es sich um recht verschieden geartete Brüder. 5 ) Vgl. S e l l e r t , S. 24. ·) Vgl. oben S. 3. 7 ) Zur Justizverweigerung allgemein vgl. M o h i , II S. 131 ff., P e r e l s , Justizverweigerung, G e o r g C o h n , S c h l o s s e r , S. 86 ff., W i g g e η h o r n , S. 69, M. H i n z , S. 316 ff., an gesetzlichen Bestimmungen seien genannt: R K G O 1495 § 16 (Z e u m e r , II S. 287), R K G O 1555 II Tit. 1 § 2, auch Tit. 26 (NSRA, III S. 86, 102 f. — C J C S. 166 f.), C O C II Tit. 1, Tit. 28 ( C J C S. 667, 692 f.). 8 ) Vgl. Ρ e r e 1 s , Justizverweigerung, S. 12, auch P r a t j e , S. 131.

Streitigkeiten aus Rechtsverweigerung

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Die iustitia denegata ist durch die grundsätzliche und endgültige Ablehnung des Rechtsschutzansuchens, die iustitia protracta durch den ungebührlich und unzumutbar langen Verzug in der gerichtlichen Behandlung einer Streitsache gekennzeichnet 9 . Das Verbot der Appellation ans R K G setzt dagegen die durch Urteil abgeschlossene Befassung zumindest eines Gerichtes des Landes mit der Angelegenheit gerade voraus. Der Landesherr weigert sich in den Fällen unzulässiger Appellationsbeschränkung nicht, seine Instanzen tätig werden zu lassen. Vielmehr behindert er die Rechtsprechung eines anderen. D a das Recht nur von dem verweigert werden kann, der nach der konkreten Situation des Verfahrens zur Entscheidung berufen ist, haben die hier untersuchten Fälle der Appellationsbeschränkung terminologisch nichts mit der Justizverweigerung zu tun. Die Weigerung, einen Rechtsstreit in erster Instanz anzunehmen, ist stets Justizverweigerung. Das Verbot einer zweiten Instanz im Lande kann sowohl Justizverweigerung sein, nämlich dann, wenn eine Appellationsmöglichkeit generell eingeführt ist und nur im konkreten Fall unterbunden wird 10 , als auch im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Appellationsverbot zum R K G stehen, wenn nämlich sowohl die zweite Instanz im Lande als auch die Berufung zum Reichsgericht abgeschnitten werden sollen n . Dieser unmittelbare Zusammenhang impliziert nicht die Rechtswidrigkeit der auf die Landesinstanz bezogenen Appellationsbeschränkung, da dem Landesherrn innerhalb seines Territoriums die Befugnis zur Gestaltung des Instanzenweges zukommt 1 2 . Ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Justizverweigerung und Appellationsverbot ist nur dort zu beobachten, wo — insbesondere in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts — das generell gespannte Verhältnis von Territorialjustiz und R K G verbunden mit dem Fehlen eines modernen, an den Erfordernissen der Appellation ausgerichteten Instanzenzuges zum Kampf gegen das R K G sowohl als Appellationsinstanz als auch gegen seine s ) Vgl. Ρ e r e 1 s , Justizverweigerung, S. 2 f f . zu weiteren Aspekten der begrifflichen Abgrenzung der Justizverweigerung und S. 2, 23 ff., 35 zu den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen, ferner M. H i n z , S. 317. 10 ) Man kann in dieser Fallgestaltung selbstverständlich ein .innerterritoriales Appellationsverbot' sehen, das dann allerdings auch nur als Unterfall der Rechtsverweigerung zu verstehen ist. u ) Vgl. die von W e i t z e l anhand des Falles Sailer 1550 behandelten Würzburger Verhältnisse. l 2 ) Vgl. E s t o r , S. 445, W e i t ζ e 1, S. 229 f. mit Anm. 102.

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Verwandte Erscheinungen

Zuständigkeit bei Justizverweigerung führte. In diesen frühen Jahrzehnten des R K G unterschied man noch nicht streng zwischen Rechtsverweigerungsbeschwerde und Appellation. Wohl als Nachklang des Verständnisses der Urteilsschelte als einer bewußt unrichtigen Rechtsfindung, gleich Rechtsverweigerung, erschien den Zeitgenossen hin und wieder jedes Anrufen des R K G in anderer als erster Instanz als eine Art Appellation 1 3 .

III. V e r h ä l t n i s

zur

Nichtigkeitsbeschwerde

Iniquitas und nullitas 1 4 sind die beiden grundsätzlichen Gesichtspunkte, unter denen ein Angriff auf ein ergangenes Urteil geführt werden kann. Gegen das materiell unrichtige, wegen falscher Gesetzesanwendung ungerechte Urteil richtet sich dabei die Appellation (oder audi ein sonstiges Rechtsmittel 1 5 ), während die auf wesentlichen Verfahrensmängeln beruhende 1 6 Nichtigkeit der Entscheidung im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde geltend gemacht wird. Auf diese Weise sind Nullität und Appellation im Grundsätzlichen nach den Bereichen ihrer Regelungsfunktion unschwer voneinander abzugrenzen. Die im Untersuchungszeitraum nicht enden wollenden, nur vordergründig wissenschaftlichen Streitigkeiten über die Nullitätsbe1S ) Vgl. den Wortlaut von Kap. X I der Goldenen Bulle, ferner H a r p p r e c h t , V S. 85 ff., 281 ff., audi unten S. 161, 179. 14 ) Zum Gegensatz zwischen nullitas = Nichtigkeit und iniquitas = Ungerechtigkeit, audi Unbilligkeit, Beschwer vgl. M y n s i n g e r , S. 330, R o d i η g , S. 335, B l u m e , C O C S. 257, M o h l , II S. 110 f., D a n z , S. 656, S e l l e n , R H R , S. 397 Anm. 174, G i l l e s , S. 51 ff. zur Bedeutung der „Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung" im heutigen Reditsmittelsystem, S. 211 ff. zu nullitas und iniquitas in historischer Sicht. Der von G i l l e s gegebene historische Abriß „Gemeines Redit" stellt im wesentlichen die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts dar. Er wird deshalb der Gesamtentwicklung seit 1500 nicht immer gerecht. Dies gilt insbesondere für die Gesichtspunkte, unter denen die Rechtsmittel in ordentliche und außerordentliche unterteilt worden sind. Vgl. dazu des Näheren unten S. 285 ff. mit Anm. 79. 15 ) Audi andere Rechtsmittel (-behelfe), ζ. B. Revision und Supplik, stellen auf die Iniquität der Entscheidung ab, vgl. E s t o r , S. 392. Ihr Verhältnis zur Nullitätsquerel ist hier jedoch unerheblich. Unterschiedliche Formen der genannten Rechtsmittel finden sidi insbesondere in ihrer gemeinreditlidien Ausgestaltung und in der an den obersten Reichsgerichten, vgl. etwa S e 11 e r t , R H R , S. 373 ff., 395 ff. Näheres hierzu unten S. 287 ff. " ) Vgl. R o d i η g , S. 335 f., E s t o r , S. 393 ff.

Verhältnis Nichtigkeitsbeschwerde / Appellation

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schwerde selbst und über ihr Verhältnis zur Appellation 17 beruhen demgegenüber auf einer Verknüpfung beider Institute im formellprozessualen Bereich. Diese diente nicht nur zur Verdrängung des Nullitätsgedankens zugunsten des Anfechtungsprinzips infolge einer zunehmenden staatstheoretischen Orientierung an absolutistischen Vorstellungen 18 , sondern wurde vornehmlich und ganz konkret zur Beschränkung der Zuständigkeit des R K G herangezogen. 1521 wurde vom Reichsgesetzgeber erstmals angeordnet, daß die Nichtigkeit, um ,den Verzug zweifacher Rechtfertigung' zu vermeiden, grundsätzlich zusammen mit der Appellation (incidenter) und nicht selbständig (principaliter) vorgebracht und behandelt werden solle 19 . Die Vorstellung ging zunächst dahin, daß die Appellation dann subsidiär zur Nichtigkeitsklage einzulegen sei. Die Rechtsentwicklung verkehrte das Verhältnis jedoch zugunsten der Appellation. Die Geltendmachung der Nichtigkeit blieb aber auch ohne Einlegung der Appellation als einfache Beschwerde zulässig. In der Folgezeit verstärkte sich die Verknüpfung von Nullitätsbeschwerde und Appellation, von nullitas und iniquitas, so sehr, daß die principaliter erhobene Nullitätsklage teilweise als unzulässig angesehen wurde 2 0 . Die Tendenz dieser von den Reichsständen und ihren Juristen geförderten Entwicklung ging dahin, die zwischen Appellation und Nullitätsbeschwerde bestehenden Bindungen nicht nur als ein gleichzeitiges Nebeneinander selbständiger Rechtsmittel (also temporal im Sinne von R K G O 1521 Tit. 21 § 1) zu verstehen, sondern die Appellation (funktional) als das Mittel erscheinen zu lassen, mit dem die Nichtigkeit geltend zu machen sei. Die Nichtigkeit wurde so mehr und mehr als ein Tatbestand angesehen, der nur im Zusammenhang mit einem " ) Vgl. G a i l , S. 487 ff., M y η s i η g e r , S. 145 ff., R o d i η g , S. 336 ff., 392, 491, L u d o l f , Commentatio, S. 193 ff., H o f m a n n , Reichspraxis, 3. Teil, S. 221 f., E s t o r , S. 401, v. C r a m e r , W N 125, S. 124, M o h 1, II S. 110 ff., G ö n n e r , Handbuch III, S. 183 f., 492 ff., P e r e l s , S. 9 f., im zeitlichen Ablauf nidit hinreichend differenzierend E n g e l m a n n , 2. Bd. 3. Heft, S. 160, N e u r o d e , S. 490 ff., W i g g e n h o r n , S. 180, E n d e m a n n , Civilprozeß, S. 942, W e t z e i l , S. 793 ff., einschließlich der römischrechtlichen Grundlagen G i l l e s , S. 204, 210, 214 ff. 18 ) So G i l l e s , S . 7 7 mit Anm. 194, S. 217 ff. l e ) R K G O 1521 Tit. 21 § 1 ( C J C S. 49); zur weiteren gesetzlichen Entwicklung, die allgemein als unklar empfunden wurde — vgl. E s t o r , S. 403 f., Μ o h l , II, S. 112, 115 f., D a n ζ , S. 652 — vgl. R K G O 1523 Tit. 5 §§ 6, 7 ( C J C S. 61), R K G O 1555 III Tit. 34 ( C J C S. 185), C O C III Tit. 40 ( C J C S. 743). 2 0 ) Vgl. B l u m e , Processus, S. 556, H e r t i u s , II S. 261, E s t o r , S. 400 ff.

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Verwandte Erscheinungen

auf die Unrechtmäßigkeit des Urteils abstellenden Rechtsmittel, insbesondere der Appellation 21 , vorgebracht werden konnte 22 . Mit der Appellation sollte auch ohne ausdrücklichen Antrag die Nichtigkeitsbeschwerde erhoben sein 23 . Das RKG und die Mehrzahl der Kameralisten hielten, gestützt auf die einschlägigen Bestimmungen der RKGOen, gleichwohl gegenüber den starken Bestrebungen derer, die die selbständige Nullitätsquerel völlig abgeschafft sehen wollten 24 , daran fest, daß es sich grundsätzlich um zwei verschiedene Rechtsmittel handele 25 . Damit konnte die Nullität unmittelbar im Anschluß an die Entscheidung eines landesherrlichen Obergeridites nur bei gleichzeitiger Einlegung der Appellation geltend gemacht werden, blieb aber für die Parteien principaliter auch nach Ablauf des Decenniums entsprechend der vom gemeinen Recht gesetzten Frist noch 30 Jahre 26 verfügbar. Außerdem verhinderte die vom RKG akzeptierte Selbständigkeit der Nullitätsbesdiwerde, daß die Stände ihre Appellationsprivilegien — es sei denn, sie hätten die Nichtigkeit ausdrücklich mit einbezogen 27 — auf

21 ) Es findet sidi nicht nur die Verbindung mit der Appellation, sondern audi die mit anderen Rechtsmitteln gegen Iniquität, vgl. E s t o r , S. 392, 400, audi oben Anm. 15. 22 ) Die übliche Verbindung beider Rechtsmittel zeigt sich bereits in der Formel des Appellationsantrages, ,zu erkennen, daß niditiglidi oder übel geurteilt, wohl appelliert' sei, vgl. R K G O 1555 III Tit. 31 §§ 10, 11 (NSRA III, S. 122), C O C III Tit. 36 § 1 (CJC S. 736), Μ o h l , I S. 2, W e t ζ e l l , S. 738, 752. Auch der Sprachgebrauch läßt die Nichtigkeitsbeschwerde nicht mehr selbständig in Erscheinung treten. So heißt es in einer bei M o h i (II S. 116) abgedruckten Stellungnahme des Kaisers zu Änderungsvorschlägen der Stände, daß Appellationen sowohl ,a sententia nulla interponiret' als audi ,contra sententiam iniquam' gesucht werden. Dem entspricht der Sprachgebraudi in der Literatur. 2S ) Vgl. E s t o r , S. 403. 24 ) Bayern machte 1644 einen solchen Vorschlag, vgl. M o h l , II S. 112 f. " ) Die Ansicht des R K G wird belegt insbesondere durch die Rechtsprechung zur Frage der Anwendbarkeit der Appellationsprivilegien auf die Nullität und dadurch, daß es bei erkannter Nichtigkeit die Appellation als überflüssig abwies (vgl. dazu das Votum des Referenten und das Urteil in dem 1585 entschiedenen, bei M e i c h s η e r , III S. 950 ff. abgedruckten Fall, dazu W e i t z e l , S. 239 f. mit Anm. 163. Über die Auffassungen in der Kameralliteratur informieren die oben Anm. 17 Genannten. 2 «) JRA § 121 (NSRA, III S. 662), Ε η g e 1 m a η η , 2. Bd. 3. Heft, S. 160, M o h l , II S. 119 ff. l7 ) Es gibt Privilegien, die nach ihrem Wortlaut die Nichtigkeit ausdrücklich einbeziehen, solche, die sie ausdrücklich ausnehmen und andere, die sich nicht erklären. Obwohl nach M o h l , II S. 122 ff. alle angesehenen Kameralisten und selbst einige Stände verneinten, daß privilegia de non appellando gegen die

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die Nullität erstreckten 28 (appellatione remota, non cessât nullitas) 29 . Beides widersprach zutiefst den Intentionen der Landesherren 30 . Diese selbst für Nichtigkeiten aus dem geringfügigsten Anlaß geltende Rechtslage führte zum einen am RKG bei den principaliter eingelegten Nullitätsbeschwerden aus Gründen der Zulässigkeit zu langwierigen Streitigkeiten darüber, ,ob sententia als nulla oder iniusta sidi verhalte' 31 , zum anderen förderte sie den Mißbrauch der Nullitätsbeschwerde durch Parteien, die gestützt auf relativ unerhebliche Mängel schon seit Jahren rechtskräftige Urteile, die ihnen jetzt nicht mehr zusagten, zu beseitigen suchten 32. Mit einer Neuregelung in §§ 121, 122 JRA 33 sollten die Mißstände beseitigt werden. Sie brachte die Unterscheidung zwischen heilbaren und unheilbaren Nichtigkeiten (nullitates sanabiles et insanabiles). Nullität schützten, gab es über diese Frage immer Streit. Nidit nur die Gesetzgebung — vgl. oben Anm. 19 — war also unklar, sondern audi die Privilegienpraxis. Vgl. auch S a 1 ζ m a η η , S. 63, P e r e l s , S. 9 f. î8 ) Zu den Bestrebungen der Stände, Appellationsprivilegien auf die Nullität und andere Rechtsbehelfe zu erstrecken vgl. die bei M o h 1 (II S. 123 f.) als Anmerkung abgedruckte Äußerung der Fränkischen und Wetterauischen Grafen auf dem Reichstag 1654, es sei bekannt, daß es Stände gebe, die gestützt auf Appellationsprivilegien Beschwerden wegen Justizverweigerung zu unterdrücken suchten, ferner S c h i c k , S. 99 f. betreffend Braunschweig und P e r e l s , S. 9 f. betreffend Brandenburg. Zum mißglückten Versuch Brandenburgs, 1690 für die nidit zur Kur gehörigen Lande ein Privileg bis zu 2250 fl. auch für Nullitäten zu erlangen, vgl. P e r e l s , S. 42. 29 ) Diesen Satz vertrat nidit nur die Praxis des RKG — vgl. oben Anm. 25 — sondern auch die Mehrzahl der Kameralisten, vgl. insbesondere Ν e u r o d e , S. 494 f., E s t o r , S. 403 f., R o d i η g , S. 336 ff., der sidi gegen die abweichende Ansicht sächsischer Juristen ( C a r p z o v , K n i c h e n ) wendet, P e r e l s , S. 9 f. 30 ) Die Angelegenheit war für die Stände von erheblicher Bedeutung, da bei der Weitläufigkeit der Niditigkeitsgründe jede wegen eines Appellationsprivilegs oder auch aus Mangel an der allgemeinen Appellationssumme — deren Anwendbarkeit auf die Nullität ebenfalls umstritten war, vgl. RA 1570 § 69 (NSRA III, S. 296), M o h i , II S. 120 ff. — unzulässige Berufung mit etwas Geschick in eine Nullitätsbesdiwerde verwandelt werden konnte, vgl. G a i l , S. 487 ff., ν. C r a m e r , W N 125, S. 124, N e u r o d e , S. 494, P e r e l s , S. 10. Überhaupt diente die zur Appellation bestehende Verbindung den Parteien oft dazu, sich Prozeßvorteile zu verschaffen, vgl. v. G ö n n e r , Handbuch III, S. 183 f. 31 ) So auf der Grundlage des Gutachtens der Reidisjustizdeputation 1644 — vgl. hierzu M o h i , II S. 114 — § 121 JRA (NSRA III, S. 662). Die Vorschrift ist erläutert bei N e u r o d e , S. 490 ff. 32 ) M o h l , II S. 112 ff. M ) NSRA, III S. 662; zur Entstehungsgeschichte vgl. M o h l , II S. 112 ff. unter Zugrundelegung von v. M e i e r n , Reidistagshandlungen, 2. Teil, S. 163, 203, 444, 641, 653, auch N e u r o d e , S. 490 ff.

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Verwandte Erscheinungen

Die heilbaren können nur innerhalb des für die Appellation bestimmten Decenniums — und damit auch nur incidenter 3 4 — geltend gemacht werden, für die unheilbaren bleibt es bei der 30jährigen Frist des gemeinen Rechts. Es liegt auf der Hand, daß sich der Streit jetzt darüber entspann, welche Fälle heilbar und welche unheilbar seien 3 5 . Die Stände setzten jetzt ihre Ansicht, daß die Appellationsprivilegien auch und schon immer die (heilbaren) Nichtigkeiten erfaßten, durch 3 6 . Insgesamt kann nach diesem Abriß festgehalten werden, daß die Nullität und ihr Verhältnis zur Appellation im Zeitraum der Tätigkeit des R K G keine allgemein anerkannte und überzeugende Lösung fanden, da es nicht gelang, die Nichtigkeit auf einige wenige, genau umschriebene Tatbestände einzuschränken 3 7 . Für die Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes kann damit festgestellt werden, daß mit Appellationsbeschränkungen notwendig Beeinträchtigungen der incidenter erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde verbunden waren. D a sich die Verknüpfung von Appellation und Nullitätsquerel nicht auf die principaliter erhobene Nichtigkeitsbeschwerde erstreckte, das R K G insoweit die Selbständigkeit des Rechtsmittels erhalten konnte, blieben Appellationsbeschränkungen und insbesondere Appellationsverbote jedoch ohne entscheidende praktische Auswirkung auf die Möglichkeit der Nullitätsbeschwerde insgesamt. 34) M o h l , II S. 112 sagt, die heilbare Nichtigkeit werde vom Gesetz zur Appellation „verwiesen", II S. 127 ff.: „wegen der heilbaren hat die Appellation statt", vgl. audi D a n z , S. 653, W i g g e n h o r n , S. 180, G i l l e s , S. 217, 221 f. 3 5 ) Die Unterscheidung stellt darauf ab, ob der Oberrichter, dem die Sache zur Entscheidung vorgelegt wird, in der Lage ist, den Mangel zu beheben, trotz des Mangels zu entscheiden, ihn zu ,heilen', vgl. M o h l , II S. 111, Oberl a n d e r s Lexikon, S. 490. Heilbar sollten die ex formalitate et subtilitate processus herrührenden Nichtigkeiten sein, vgl. Reidisgutachten vom 2 0 . 1 2 . 1 6 5 3 nach M o h l , II S. 115. Als unheilbar galten Verletzungen entscheidender Prozeßgrundsätze (defecta ex substantialibus processus: etwa Verletzung des rechtlichen Gehörs) und Verfahrensvoraussetzungen (Mängel in der Person des Richters und der Parteien, unzureichende Besetzung des Gerichtes, Bestechung), vgl. R o d i η g , S. 336, Ε s t o r , S. 395 ff., M o h l , II S. I l l f., E n g e l m a n n , Bd. 2 Heft 3, S. 161, D a n z , S. 653 ff., für die Beziehungen zum geltenden Prozeßrecht Gilles, S. 77. Manche versuchten auch, eine Abgrenzung auf die — gerade für Prozeßregeln wenig ergiebige — Unterscheidung zwischen ius naturale und ius positivum zu stützen, M o h l , II S. 116 ff.

) Vgl. S c h i c k , S. 99, Ρ e r e 1 s , S. 9 f. ) Entsprechend negative Urteile geben S e 11 e r t , R H R , S. 396 und G i l l e s , S. 211 ff., 223 ff. hinsichtlich der Abgrenzung auch der übrigen Rechtsmittel voneinander ab. 3e

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Das änderte sich erst nach 1654 insofern, als die neue Kategorie der heilbaren Nichtigkeiten mit der Zulässigkeit der Appellation stand und fiel. Ein Appellationsverbot bedeutet hier den Ausschluß auch der Rüge einer heilbaren Nichtigkeit. Da aufgrund der neuen Rechtslage die heilbare Nichtigkeit von Gesetzes wegen als ein Fall der Appellation behandelt wird, erscheint die Beeinträchtigung der Nichtigkeitsbeschwerde hier völlig unselbständig und als ein Teil des Appellationsverbotes selbst. So sind die Maßnahmen gegen die unselbständige/heilbare Nichtigkeit zwar terminologisch in das Thema der Arbeit einbezogen, treten aber nicht selbständig mit politischer Relevanz, mit eigenen praktischen Auswirkungen in Erscheinung. Die bei der skizzierten Einstellung der Stände sicherlich gerade gegen die selbständige Nichtigkeitsbeschwerde vorgetragenen Angriffe entsprechen zwar dem Kampf um die Appellation, sind aber dem Gegenstand der Untersuchung nicht mehr zuzuzählen.

D.DIE JUDIZIELLEN HILFSMITTEL DES R Κ G GEGEN UNZULÄSSIGE B E S C H R Ä N K U N G DER APPELLATION

Im aktuellen Kampf gegen appellationsbehindernde Maßnahmen standen dem R K G politische und judizielle Mittel zur Verfügung. Uber die politischen kann und muß hier noch nichts gesagt werden. Erforderlich erscheint jedoch eine grundsätzliche Skizzierung der großenteils in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Appellationsverfahren 1 stehenden Möglichkeiten judizieller Einflußnahme. Das Gericht bediente sich in der Auseinandersetzung mit den Landesherren der auch sonst üblichen Mandate 2 . Auf den Antrag des Appellanten ergingen vom R K G ohne Anhörung des Appellaten zur Sicherung der Appellation zusammen mit der Ladung die Inhibition (litterae inhibitoriales) und der Kompulsorialbrief (Gezwangbrief, litterae compulsoriales) — früher regelmäßig, später seltener — als übliche Befehle zur Sicherung der Durchführung des oberrichterlichen Verfahrens auch ohne daß ein konkreter Anlaß für eine Behinderung der Appellation vorgelegen hätte s . Die Inhibition ergeht als Gebot ' ) Eine neuere umfassende Darstellung des Appellationsverfahrens fehlt. Zur Information dienen die gesetzlichen Regelungen — vgl. oben S. 27 Anm. 8, S. 34 Anm. 36 — und die einschlägigen Abschnitte in der Kameralliteratur sowie den allgemeinen Darstellungen des gemeinen Zivilprozesses. Vgl. etwa v. G ö n n e r , Handbuch III, S. 233 ff., 241 ff., Ν e u r o d e , S. 245 ff., die S. 42 Anm. 1 Genannten; aus der neueren Literatur W i g g e n h o r n , S. 88 ff., 174 ff., W e i t z e l , Anm. 14, 15, 39; aus der praktischen Arbeit des RKG vgl. die Relation im Rechtsstreit Dietrich v. Elverfeldt/Dietridi v. Oldenbockum 1606, abgedruckt bei Κ 1 o c k , S. 1 ff. Rdnr. 1—94, die zu der bei A d e r s - R i c h t e r i n g I unter Nr. 1748 verzeichneten Prozeßakte StA Münster RKG E 236/968 gehört. 2 ) Zum Mandatsverfahren allgemein vgl. RKGO 1555 II Tit. 23 ( C J C S. 165 f.), C O C II Tit. 25 ( C J C S. 689 ff.), N e u r o d e , S. 289 ff., M o h l , I S. 223 ff., W i g g e n h o r n , S. 82 ff., neuestens ausführlich und unter Betonung der öffentlich-rechtlich-politischen Bedeutung dieser Verfahrensart M. H i n z , S. 1 ff., ders., Instrument, S. 1 ff. Das Mandatsverfahren ähnelt hinsichtlich der summarischen Behandlung der Angelegenheit zunächst ohne Anhörung des Beklagten dem einstweiligen Verfügungsverfahren, vgl. W i g g e n h o r n , S. 84, M. H i n z , S. 5, T h u d i c h u m , RKG, S. 213 f. 3 ) Mit zunehmender Anerkennung der mit der Appellation verbundenen Grundzüge des Reditsmittelverfahrens (Instanzenzug, Suspensiveffekt, keine Vollstreckung aus einem Urteil ohne Nachweis der Rechtskraft, oberrichterliche Zuständigkeits-

Judizielle Hilfsmittel

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an den Unterrichter und den Appellaten, sich in der durch das ,Erkennen der Prozesse' 4 am RKG anhängig gewordenen Sache jeglicher Handlung zum Nachteil der oberrichterlichen Zuständigkeit 5 zu enthalten, der Kompulsorialbrief als Gebot zur Herausgabe einer Abschrift der Akten an den Appellanten gegen Entrichtung einer angemessenen Gebühr 6 . Beide Befehle stellen in der Sache kaiserliche Mandate 7 (mandatum simplex) unter Androhung einer Geldstrafe für den Fall der Mißachtung des kaiserlichen Gebotes 8 dar. Hält sich der Unterrichter nicht an die Anweisungen des RKG, begeht er kompetenz) verloren die allgemein zum Zwecke der Sicherung der Appellation ergehenden Befehle des R K G entscheidend an Bedeutung. Die Verweigerung der Aktenherausgabe und Attentate (von attentare = erneuern, abändern; unzulässige Neuerungen des Unterrichters oder der Parteien in bezug auf den Streitgegenstand gegenüber der durch die Appellation begründeten Zuständigkeit des Oberrichters) wurden später als derart grundsätzliche Verstöße empfunden, daß ihre Unterlassung nur aus aktuellem Anlaß angeordnet wurde, vgl. E s t o r , S. 542, 548 f., G i l l e s , S. 208 f., 218 f. Zur Inhibition und zum Kompulsorialbrief vgl. R K G O 1521 Art. 24 § 3 ( C J C S. 50), R K G O 1555 II Tit. 30 § 5, Tit. 31 §§ 1, 10—12 (CJC S. 170 f.), III Tit. 31 §§ 1, 5, 6, 7, 9 ff. ( C J C S. 183 f.), R. Dep. Ab. 1600 §§ 101—104 (NSRA III, S. 490 f.), C O C II Tit. 32—34, III Tit. 35, 37 (CJC S. 697 ff., 734 ff.), J R A §§ 59, 60 (NSRA III, S. 652), und aus der Literatur G a i l , S. 479 ff., 519 ff., M e u r e r , S. 170, Β e s o l d , S. 316, V a h l k a m p f , I S. 155 ff., E s t o r , S. 541 ff., Μ o h l , II S. 86, 102 f., D a η ζ , S. 599 ff., Ν e u r o d e , S. 254 ff., Β u c h d a , H R G I, Sp. 199, T.Gönn e r , Handbuch III, S. 157 f., W i g g e n h o r n , S. 95 f., 175 f., M. H i n z , S. 37, 150 f., 320, ders., Instrument, S. 3 ff., F r a n k l i n , K K G , S. 41 f. 4 ) Zum .Erkennen der Prozesse' vgl. oben S. 15 f f . 5 ) Insbesondere die Vollstreckung des in der Vorinstanz ergangenen Urteils zu unterlassen. N a h m der Appellant selbst in Anerkennung des Urteils Handlungen vor, so ging er der Appellation verlustig. e ) Erst im 18. Jahrhundert wurde es üblich, die Originalakten zur Verfügung zu stellen, die dann audi unmittelbar an den Oberrichter herausgegeben wurden, vgl. E s t o r , S. 557, B u c h d a , H R G I, Sp. 199, W i g g e n h o r n , S. 176. 7 ) U n d zwar mandata sine clausula (justificatoria), da es keinen rechtlichen Gesichtspunkt gab, unter dem die Erschwerung einer legitim eingelegten Appellation zu rechtfertigen gewesen wäre, vgl. E s t o r , S. 556 f., Μ. H i n z , Instrument, S. 11. Das Verfahren zur Einleitung und Sicherung des Appellationsprozesses stellt sich — ebenso wie das allgemeine Ladungsverfahren (Extraiudicialstadium), vgl. oben S. 15 ff., S e l l e r t , R H R , S. 170 f. mit Anm. 549, S. 180 — entwicklungsgeschichtlich als Erscheinungsform eines allgemeinen Mandatsverfahrens dar. Im Prozeß des R K G leitet das Erkennen und Reproduzieren der Prozesse bereits ohne weiteres in das eigentliche Appellations- (bzw. Citations-)Verfahren ( = Iudicialverfahren) über. Es erscheint als unselbständiger Bestandteil der H a u p t verfahrensarten und wird vom eigentlichen Mandatsverfahren unterschieden, vgl. auch W i g g e n h o r n , S. 84 f., 96 f. Durch den J R A wurde die Selbständigkeit des Ladungsverfahrens völlig beseitigt, vgl. S e l l e r t , R H R , S. 146 f., 171 f., 180 f. 8

) Zur Strafdrohung im Mandatsprozeß vgl. M. H i n z , S. 436 f f .

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Grundlagen

also Attentate 9 oder verweigert die Herausgabe der Akten, so ergehen die Anordnungen erneut — bis zum Ende des 17. Jahrhunderts regelmäßig 10 — als sogenannte verschärfte Mandate (mandata arctiores) unter Androhung weitergehender Konsequenzen, etwa der Erklärung in die Reichsacht und den Verlust aller vom Kaiser verliehener Rechte und Privilegien u . In einzelnen Fällen ergingen — ein deutliches Zeichen der Schwäche des Gerichtes — noch mandata plus arctiores oder ulteriores 12 . Über alle angedrohten Strafen wurde durch Urteil erkannt. Hierzu bedurfte es jedoch zumeist eines Antrages des Reichsfiskals, die Parteien konnten nicht auf die Strafe antragen 13. Die Durchsetzung der Strafen folgte dem üblichen Gang der Vollstreckung reichskammergerichtlicher Erkenntnisse im Wege des Achtverfahrens und der Anleite durch Exekutionsauftrag u . Konnte der Unterrichter nicht zur Herausgabe der Akten veranlaßt werden, so verhandelte das RKG ») Vgl. oben Anm. 3. 10 ) An die Stelle der mandata arctiores treten im 18. Jahrhundert weitgehend die diplomatischeren sogenannten einfachen Paritionsurteile, vgl. M. H i n z , S. 451 f., 479. n ) Die Strafbarkeit des die Appellation behindernden Richters geht auf römischkanonisches Recht zurück (vgl. Codex 7.62.21). Reichsgesetzliche Regelungen finden sich in R K G O 1555 II Tit. 31 §§ 10, 12 (CJC S. 171), III Tit. 31 §§ 6, 7 (CJC S. 183). Die Strafdrohungen liegen bei Geldstrafen zwischen 10 und 30 Mark Goldes. Einfache und geschärfte Mandate unter den genannten Strafdrohungen ergingen aus Anlaß der Inhaftierung des Appellanten Wesemann 1521 gegen Bisdiof, Bürgermeister und Rat von Paderborn in dem Rechtsstreit Armbruster, Wesemann contra Bischof und Stadt Paderborn (StA Münster RKG 121 fol. 23, 39/40, 131/132 — v g l . A d e r s - R i c h t e r i n g , S. 20). Aus der Literatur vgl. R o d i η g , S. 322, Μ e u r e r , Practica, S. 170, G o b i e r , Bl. 131 Rückseite, E s t o r , S. 556, W e t z e l i , S. 726 f., 729, W e i t z e l , S. 239 mit Anm. 161. 12 ) Vgl. W i g g e n h o r n , S. 87, 200, der jedoch das mandatum arctius als schärfste Form nennt, ferner M. H i n z , S. 446 : besondere Form des mandatum arctius, ders., Instrument, S. 7 mit Anm. 3: Mandatsform des erstinstanzlichen Mandatsprozesses. 13 ) Entsprechende Anträge der Parteien werden entweder zurückgenommen oder vom RKG zurückgewiesen, nachdem sich die Betroffenen darauf berufen hatten, die Parteien seien nicht befugt, auf die Strafe anzutragen: vgl. Fall von der Over'Aachen (oben S. 19 Anm. 58) qdr. 2, 9, 16, Zwischenurteil im Protokoll; Fall Culmann StA Düsseldorf RKG C 2194 qdr. 29, 30 (Achtung: Doppelzählung unter diesen Nummern); Fall Armbruster, Wesemann'Paderborn (oben Anm. 11) qdr. 14, 15, 19, 23, 29, 32, 36 Punkte 18, 19, ferner W e i t z e l , S. 239 f. mit Anm. 161, 166. 14 ) Vgl. M. H i n z , S. 118 ff., 443 ff.

Judizielle Hilfsmittel

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ohne die Vorakten und verurteilte den Unterrichter in die Kosten, die der verursachte Mehraufwand mit sich brachte 15 . Gegen die bereits — möglicherweise schon vor Zustellung der Inhibition 1 6 — vorgenommenen Attentate gab es, soweit ihre Rechtswidrigkeit offenbar war, mandata attentatorum revocatorium 17 . War die Rechtsverletzung nicht offenbar, so blieb dem Appellanten die Möglichkeit einer Attentatenklage, über die gleichzeitig mit der Hauptsache verhandelt und vor deren Abschluß sobald als möglich befunden werden mußte 18 . Gegen sonstige tatsächliche Behinderungen der Appellationsmöglichkeit ging das R K G mit Mandaten de non impediendo prosequi litem v o r 1 9 . Weitere allgemeine Formen der Mandate wurden je nach Bedarf herangezogen. So mandata de relaxando captivo 2 0 , 15 )

Μ o h 1, II S. 88 f. Vgl. W e i t z e l , S. 223. — Zu den möglichen Formen der Einlegung der Appellation (vor dem Richter a quo oder vor einem Notar unter Weiterleitung des Appellationsinstrumentes direkt an den iudex ad quem), vgl. auch W i g g e η h o r n , S. 177 f., M. H i η ζ , S. 240. Sie wirken sich auf die Beurteilung einer Maßnahme als attentatum aus. 17 ) Vgl. RKGO 1555 III Tit. 31 § 14 ( C J C S. 184) und J R A § 59 (NSRA III, S. 652); am RKG galt der Satz „attentata offendunt legem, iudicem et partem', vgl. die Relation im Rechtsstreit Elverfeldt/Oldenbockum (oben Anm. 1) insbesondere Rdnr. 65, ferner die Relationen in Sachen Landau/Lösch und Konsorten 1610 bei K l o c k , S. 240 ff., in Sachen Wernitzstein/Ottingen um 1600 bei Κ 1 o c k , S. 407 ff. und in Sachen Bernhard v. Bönen/Philipp v. Bönens Gläubiger 1595/6 bei K l o c k , S. 646 ff.; aus der neueren Literatur vgl. M. H i n z , S. 37, 239 ff., 308 ff., ders., Instrument, S. 7 f., 10 ff. 18 ) Vgl. G a i l , S. 526 ff., E s t o r , S. 521, 551 ff., G o b i e r , Bl. III, C X X X I Rückseite f., Ν e u r o d e , S. 256 ff., M. H i n z , S. 241 f., 412, F r a n k l i n , KKG Urteil Nr. X X X I I I , S. 59 ff., 60. Bis 1555 war über die Attentate vor Eintritt in die Erörterung der Hauptsache zu entscheiden, was dann im Sinne einer Prozeßbeschleunigung geändert wurde. l e ) Mandata de administrando vel promovendo iustitiam und die Promotorialen gehören zur Justizverweigerung, vgl. M. H i n z , S. 317 ff. Urteilsbriefe (Abschiedsbriefe, litterae dimissoriales, Apostelbriefe, auch kurz Apostel) sind verschiedenartige Formen einer an den Oberriditer adressierten schriftlichen Äußerung des Unterrichters über die Beendigung des Verfahrens am Untergericht und die Zulässigkeit der Appellation, vgl. W i g g e n h o r n , S. 178, M e r z b a c h e r , Apostelbrief in H R G I, Sp. 195 f., E s t o r , S. 519, G o b i e r , Bl. C X X X I I Rückseite ff. Sie waren zumindest seit RKGO 1555 II Tit. X X X § 1 ( Z e u m e r , II S. 384) nidit mehr zwingender Bestandteil des Appellationsverfahrens am RKG. Vgl. hierzu G a i l , S. 498, 502 f., E s t o r , S. 518 f., v. C r a m e r , Systema, S. 326, F r a n k l i n , KKG, S. 41, L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 434 ff., M o h l , II S. 89, D a η ζ, S. 636 f., F ö r s t e m a η η , S. 15, der diesen Umstand übersieht. 2 ») Vgl. dazu M. H i n z , S. 114 ff., 246 ff. 1β )

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Grundlagen

wenn ein Appellant oder einer seiner Angehörigen oder Bekannten wegen der Appellation in H a f t genommen worden war, mandata cassatoria gegen die reichsgerichtlichen Erkenntnissen und Anordnungen entgegenstehenden Entscheidungen der Landesherren und ihrer Gerichte, mandata inhibitoria zur Verhinderung solcher Maßnahmen 21.

21

) Zur Vollstreckung und zur Effektivität der im Mandatsprozeß (vorwiegend des 18. Jahrhunderts) ergehenden paritorisdien Endentscheidungen — vgl. oben Anm. 10 — äußert sida M. H i n z , S. 505 f.

Zweiter Abschnitt

DIE

APPELLATIONSVERBOTE

Α.

SACHVERHALTE

I. Ö s t e r r e i c h 1. A l l g e m e i n e t e r r i t o r i a l e B e s c h r ä n k u n g E x e m t i o n (bis 1600)

der

Gestützt auf das Privilegium minus von 1156 1 und das gefälschte Privilegium maius aus der Zeit um 1361 2 nahm das Haus Habsburg vor und nach der Errichtung des RKG die umfassende Exemtion aller österreichischen Gebiete von den Reichsgerichten in Anspruch 3 . Man scheute sich dabei nie, die Freiheiten territorial und sachlich möglichst umfassend zur Anwendung zu bringen 4. Diese Tendenz stieß beim RKG alsbald auf Widerstand. Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen wegen der vom RKG für österreichisdie Gerichte und Besitzungen behaupteten Zuständigkeit. Der Streit bezog sich nicht allein auf die Appellation, sondern hatte als Folge des Angriffes gegen die Exemtion die Zuständigkeit des Reichsgerichtes überhaupt zum Gegenstand 5 . M o s e r schreibt: „Als aber das kaiserliche und Reichskammergericht errichtet worden, muß dasselbe davor gehalten haben, die österreichischen Freiheiten schließen desselben Zuständigkeit nicht a u s . . 6 . Die insbesondere im 16. Jahrhundert — anhand von Prozeßakten und mittelbaren Zeugnissen nachweisbar — ans RKG gebrachten und von ihm entschiedenen einschlägigen Appellationsprozesse sind in Vgl. L u s c h i n v o n E b e n g r e u t h , S. 23 ff., H e 11 b 1 i η g , S. 22 ff., M a 1 b 1 a η k , IV S. 3, S e 11 e r t , S. 23, Β a 1 1 1 , S. 79 ff. 2 ) Vgl. M a 1 b 1 a η k , IV S. 4, H e 11 b 1 i η g , S. 45 ff., W e g e 1 i η , II S. 307 ff., L h o t s k y , S. 12 ff. mit Abdruck der Urkunden S. 81 ff., B a i t i , S. 85 ff. 3 ) Vgl. M o s e r , 2. B. 3. K., S. 344 ff., S e 11 e r t , S. 22 und die dort in Anm. 48 Genannten. 4 ) Vgl. M a 1 b 1 a η k , IV S. 7. 5 ) Zu den Fällen der erstinstanziellen Zuständigkeit des RKG für Reichsmittelbare vgl. S e 11 e r t , S. 23, 47, 57 ff. sowie allgemein die Kameralliteratur. In bezug auf Österreich waren insbesondere Landfriedens- und Pfandschaftssachen streitig, vgl. F a h η e η b e r g , S. 10 f., 45 ff. «) 2. Β. 3. K., S. 346, vgl. auch M o h 1, II S. 314 ff., 319 ff.

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Appellationsverbote

zwei Gruppen zu unterteilen. Zum einen handelt es sich um solche vom Landgericht auf der Leutkircher Heide und in der Pirs 7 , die zahlreich erfolgten 8 . Die andere Gruppe ist zahlenmäßig nicht erfaßbar und betrifft Prozesse, die aus österreichischen Reichspfandschaften (die Landvogteien Schwaben und Ortenau) sowie von Gerichten der Grafschaft Tirol und aus dem vorübergehend (1519—1534) österreichischen Württemberg ans RKG gekommen sind 9. Man hat die Annahme von Appellationsprozessen aus österreichischen Landen durch das RKG damit zu erklären versucht, daß das RKG den Exemtionsprivilegien als Folge der Neuordnung des Ge-

7 ) Vgl. hierzu insbesondere W e g e l i n , F e i n e , S. 167 ff.

Biirckhle,

Gut,

a. a. O. und

' ) M o s e r , 6. B. 2. K., S. 987 f. nennt die Zahlen von 15 Appellationen 1509— 1523, eine 1528, 6 1554—1598. W e g e l i n , II S. 312 nennt namentlich 7 Fälle, in denen in den Jahren 1505, 1510, 1513, 1515, 1523 und 1542 von Reichsunmittelbaren an das RKG appelliert wurde. Κ 1 o c k , S. 522 ff. druckt die Voten des Prozesses Samuel Keck d. J. gegen die Gemeinde Hasenweiler (1578—1598) ab. In ihnen werden als Präjudizien die Fälle Sdiellenberg/Klock und Nippenburg/Brendeln genannt. G u t , S. 59, 70 f. berichtet von mehreren Appellationen, unter anderem auch, daß 1547 (vermutlich vom Landrichter) gegen die Gemeinde Kißlegg die Acht verhängt worden sei, weil sie nicht wie gewünscht nach Innsbrudc, sondern ans RKG appelliert hatte. M e i c h s η e r , III S. 933 ff., 935 druckt sein Votum zu einer Nichtigkeitsklage 1584 ab. Die Zuständigkeit des RKG wird entsprechend der Rechtslage bei Appellationen unter Berufung auf die ständige Übung des RKG (Präjudiz: Appellationsprozeß Hans Laux und Fugger/Jörg Bede und Österreich pro interesse 1550) bejaht (decisio X X V I no. 2). Die Namen der Parteien und auch der des Landgerichtes sind verfremdet. W e g e l i n , I S . 340: Im Fall Laux erging 1550 ein conclusum pieni dahin, daß Appellationen vom Landgericht Schwaben auch weiterhin angenommen werden sollen. Weitere Nachweise f ü r Appellationen im 16. und 17. Jahrhundert finden sich bei W e g e l i n , I S . 340 f. 9 ) Daß es hier zu einer Reihe umstrittener Appellationsprozesse gekommen sein muß, folgt aus den Interventionsschriften und Strafgeboten der Kaiser und Erzherzöge an das Gericht sowie aus älteren Darstellungen der Beziehungen Österreichs zum RKG, etwa F a h n e n b e r g , S. 6 ff. An bekanntem Prozeßmaterial liegt nur der von S e 11 e r t , S. 23 ff. anhand von Akten des Haus-, H o f - und Staatsarchivs Wien geschilderte Appellationsprozeß der Einwohner von Arch (Tirol) gegen eine Entscheidung des Innsbrucker Stadtgerichts 1523 vor.

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richtswesens 1495 die Anerkennung versagt habe, da sie zugunsten einer umfassenden Zuständigkeit des neuen Gerichtes beseitigt worden seien 10. Diese Ansicht begegnet erheblichen Bedenken. Schon F a h n e n b e r g wies darauf hin daß nicht die Exemtion Österreichs überhaupt, sondern nur ihre Erstreckung auf andere Gebiete als die Erblande, nämlich auf Neuerwerbungen und Reichspfandschaften (er nennt Schwaben, Hagenau, Ortenau, die vier Waldstädte 12, die Stadt Breisach und das Landgericht in Schwaben 13) sowie auf solche Teile der Erblande, deren Zugehörigkeit zu diesen wegen ihres Herkommens bestritten oder noch nicht gefestigt war, streitig gewesen sei. Mag F a h n e n b e r g s Darstellung auch nicht ganz objektiv sein 14, so wird sie doch erhärtet durch Entscheidungen des RKG, die die grundsätzliche Fortgeltung der Befreiungen nicht in Frage stellen 15. 10

) Vgl. S e l l e r t , S. 23 f., 27 ff., 37, ders., R H R , S. 179 Anm. 608 — vgl. audi oben S. 17 Anm. 53 —, M o h 1, II S. 320 ff., die sich allerdings nicht auf eine § 11 des Landfriedens von 1495 ( Z e u m e r , II S. 284) entsprechende Vorschrift berufen können. Von einer generellen Zuständigkeitsbehauptung geht offensichtlich audi M o s e r (vgl. oben Anm. 6) aus. Daß schon er die Zusammenhänge nicht mehr kannte, folgt daraus, daß er gleichwohl a. a. O., S. 343 behauptet, es finde sich keine Spur einer Gerichtsbarkeit der Reichsgerichte über die österreichischen Erblande. Wenn das RKG die Exemtion generell in Abrede gestellt hätte, dann müßte es doch auch hinsichtlich der Erblande in zahlreichen Prozessen tätig geworden sein. Der Hinweis S e l l e n s , S. 28 f. auf den Wortlaut der RKGO von 1555, die von .Universalem Caesaream iurisdictionem contra omnes Imperii Electores, Principes et ordines' spricht, beweist nichts. Es handelt sich hier um eine allgemeine Formel, die die Beachtung der Privilegien voraussetzt. 11 ) S. 6 ff., 51 ff., 63 ff. unter Berufung insbesondere auf conclusa pieni des RKG von 1550 (Fall Laux, vgl. oben Anm. 8) und 1566, vgl. W e g e l i n , I S. 340. 12 ) Diese sind: Waldshut, Säckingen, Laufenburg, Rheinfelden. 1S ) Auch hinsichtlich der an Österreich gelangten Markgrafschaft Burgau dürfte es zu einem Appellationsverbot gekommen sein, wie einer bei L a u f s , S. 203 vom Ulmer Kreistag 1544 zitierten Quelle und dem Votum des RKG-Assessors im Fall von Truchseß gegen das intervenierende Österreich 1587 — vgl. F a h n e n b e r g , S. 6 f. und G y l m a n n , I Teil 2, S. 321 f. — entnommen werden kann. In dem Votum wird Schwaben neben Burgau und Hagenau als Ausnahme von der Exemtion genannt. Die Abhandlung N e b i n g e r s , Entstehung und Entwicklung der Markgrafsdiaft Burgau, in: M e t z , Vorderösterreidi, S. 725—745 bietet allerdings keine Anhaltspunkte in dieser Richtung. " ) Die Arbeit F a h n e n b e r g s dient der Verteidigung österreichischer Reditspositionen. 15 ) So das oben in Anm. 13 genannte Votum zu der Frage, ob gegen Österreich Appellationsprozesse erkannt werden sollen. Von dieser Rechtslage gehen ferner die Voten im Fall Keck/Hasenweiler — vgl. oben Anm. 8 und F a h n e n b e r g , S. 47 mit Anm. s — sowie in dem von M e i c h s η e r , III S. 933 ff., 935 mitgeteilten Fall aus, vgl. audi hierzu W e g e l i n , I S. 340 und oben Anm. 8.

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Appellationsverbote

Ferner ist bekannt, daß Österreich auch im 16. und 17. Jahrhundert versuchte, „seine Herrschaft durch Zurechnung von Reichsland und Vogteibesitz zu den Erblanden auszudehnen" 16. Es war also nodi lange nicht jedes Gebiet als den Erblanden zugehörig anerkannt, das von Österreich als solches in Anspruch genommen wurde. Je nach dem Zeitpunkt des Gebrauchs und den Intentionen dessen, der den Begriff verwendet, muß mit Abweichungen gerechnet werden. Selbst das wichtigste Dokument der Auseinandersetzung, das Strafgebot Karls V. vom 28. Juni 1530 17 bestätigt zwar alle überkommenen Privilegien und stellt die Freiheit der Gerichte Österreichs von allem .Gerichtszwang des Reichs, aller Land und Leut halben, wie die an bemeltes Haus Oesterreich in Eigenthumb, Erbs, Leh- und Kauffs, Pfands, Obergabs oder einig ander weiß, mit Lieb oder dem Sdiwerd kommen sein oder kommen würd'

fest, beklagt sich aber dodi nur darüber, ,daß Ihr euch unterstehet, von Seiner Lieb Geridit der Fürstlichen Graffschaft Tyrol und dem Fürstenthum Wurtemberg, audi Seiner Lieb Landgerichten zu Schwaben und ander End Appellationes anzunehmen'. 1 8

Wie zur Bestätigung dessen, daß die hier dargestellten Kontroversen nicht auf eine Neubewertung der Exemtionsfreiheit infolge der Ereignisse von 1495 zurückgehen, sondern in Problemen territorialer Zugehörigkeit wurzeln, werden gleich anschließend das Kloster Reichenau und die Stadt Biberach als Gebiete genannt, für die das RKG zu Unrecht bereits in erster Instanz tätig geworden sei. Weder die Reichenau noch die Stadt Biberach sind aber zu dieser Zeit Gegenstand eines Rechtsstreites um ihre Reidisunmittelbarkeit 19 , so daß es sich bei dem österreichischen Anspruch um eine schlichte Behauptung handeln dürfte. le ) So H e l i b i i n g , .Erblande' in H R G I, Sp. 967; zur Erwerbspolitik Österreichs im deutschen Südwesten vgl. die Abhandlungen von F e i n e , insbesondere Territorialbildung und Entstehung, sowie B a d e r , Südwesten, S. 52, 60 ff., 85. 17 ) Abgedruckt bei M o s e r , 2. B. 3. K., S. 346 ff., vgl. ferner L ο η d o r ρ , IV S. 632 ff., M a 1 b 1 a η k , IV S. 6 f., W e g e 1 i η , I S. 330 ff., K n a p p , S. 78 f. Der Inhalt des Gebotes entspricht sachlich dem Privilegium maius, das Karl V. unter dem Datum des 8. September 1530 bestätigte, vgl. L h o t s k y , S. 35. 18 ) Μ o s e r , a. a. O., S. 347. 19 ) Zu den von Österreich generell und insbesondere aus dem Schwäbischen Kreis eximierten Gebieten vgl. F a h n e n b e r g , S. 24 ff., M o s e r , Ternsches Staats-Recht, 27. Teil, S. 3 ff.

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Auch die bei S e 11 e r t 20 abgedruckte Interventionsschrift Erzherzog Ferdinands gegen die Annahme der Appellation derer von Ardi 1536 21 stellt auf die Gültigkeit der Exemtionsfreiheit gerade für Neuerwerbungen des Hauses Habsburg ab 22. Ardi liegt in der im Strafgebot Karls V. als streitig genannten Grafschaft Tirol, die nach den Verwaltungsreformen Maximilians 23 zwar zu den oberösterreichischen Landen zählte, aber erst 1363 an einen Habsburger gekommen war, audi danach eigenständige Schicksale hatte 2 4 , weshalb das RKG wohl die Anwendung der Exemtionsfreiheit verweigert haben mag. Ganz offenbar wird der territoriale Zusammenhang hinsichtlich Württembergs. Das Gebot Karls V. fällt in die Zeit der Besetzung dieses Landes durch Österreich (1519—1534) und bezeugt, daß die Erstreckung der österreichischen Freiheiten auch auf dieses Besitztum vom RKG trotz mehrfacher kaiserlicher Erklärungen in dieser Richtung 25 nicht akzeptiert worden ist 2 β . H a r ρ ρ r e c h t 2 7 berichtet, das RKG habe sowohl bei der Visitationskommission 1531 als auch beim Reichstag 1532 seine Vorbehalte gegenüber einem ihm am 26. November 1530 insinuierten kaiserlichen Mandat 2 8 angezeigt 20

) S. 25 f. ) Vgl. oben Anm. 9. 22 ) Wie wenig die Behauptungen solcher Prozeßschriften den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen können, zeigt der Umstand, daß in der Interventionssdirift zu den Neuerwerbungen audi das Hofgericht Rottweil gezählt wird, von dem neuerlich an die oberösterreichische Regierung appelliert werde. Eine möglicherweise mit dem Erwerb Württembergs verbundene österreichische Wunschvorstellung, da nachweislich von Rottweil ans RKG appelliert worden ist, vgl. M o s e r , 6. B. 1. K., S. 936 f., den bei M e i c h s n e r , I S . 324 ff. behandelten Appellationsprozeß, L a u f s , Rottweil, S. 70, Κ o h 1 e r , S. 72, Τ h u d i c h u m , Rottweil, S. 81 ff., 85, G r u b e , S. 35, 81. 2S ) Vgl. dazu T h e o d o r M a y e r , Verwaltungsorganisationen Maximilians I., S. 5 ff., 27 ff., Β a 111, S. 106 ff. 24 ) Zur Stellung der Grafschaft Tirol seit dem Übergang an die Habsburger 1363 vgl. T e r r i t o r i e n — P l o e t z , I S. 736 ff., B a i t i , S. 88, 106, G u d i a η , Institutionen, S. 414 ff. 25 ) Zu dieser Episode in den Beziehungen Württembergs zum RKG vgl. Τ h. K n a p p , S. 78 f., der das Mandat Karls V. unter dem Datum des 7. November 1530 und noch einige andere kaiserliche Anweisungen in diesem Zusammenhang nennt. 2e ) Vgl. W e g e l i n , I S . 339 sowie das von L a u f s , S. 311 vom Kreistag 1557 angezogene, an Kaiser Ferdinand gerichtete Schreiben, in dem sich der Schwäbische Kreis zur Stütze seiner Position gegenüber dem Landgericht Schwaben darauf beruft, auch vom Württembergischen Hofgeridit seien damals die Appellationen nicht nach Innsbruck, sondern nach Speyer gegangen. " ) V S. 87 f., 92. M ) Vgl. oben Anm. 17, 25. 21

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Appellationsverbote

„vermög dessen keine Appellationen von denen Tyrolischen, Schwäbischen Land- audi Würtembergischen Gerichten angenommen, noch auch sonsten in erster Instanz bey dem Cammer-Gericht verhandelt werden sollen, sondern man hätte sich gegen Oesterreich und Dero Herrn Bruders Königs Ferdinands Landen und Leut allen Gerichtszwang gänzlich zu müßigen und zu entschlagen".

Aus den Reichstagsakten ergebe sich, daß die Stände wirklich in dieser Sache gegenüber dem Kaiser vorstellig geworden seien. Die kaiserliche Erklärung sei aber nicht günstig ausgefallen. Gestützt werden diese Ansätze zu einer differenzierenden Erklärung der Streitigkeiten Österreichs mit dem R K G vor allem aber durch den Umstand, daß — von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, die aber wohl auf Sonderregelungen zurückzuführen s i n d 2 9 — weder Appellations- nodi sonstige Prozesse aus den Erblanden unter den überkommenen RKG-Akten und Drucken reichsgerichtlicher Entscheidungen nachgewiesen werden können 3 0 . W ä r e die Exemtion generell beseitigt oder auch nur bestritten worden, so müßten zahlreiche Prozesse geführt worden sein. Den Mangel an solchen Verfahren allein mit dem auf die Untertanen ausgeübten Drude zu begründen, ist angesichts der sonst feststellbaren erheblichen Prozeßfreudigkeit der Bevölkerung in ähnlichen Situationen unrealistisch. D a die Behauptung der Aufhebung sämtlicher die Zuständigkeit des R K G beschränkender Privilegien im Jahre 1495 in ihrer Hauptstoßrichtung die Appellationsprivilegien der Goldenen Bulle zum Gegenstand hat, soll nicht hier, sondern im dortigen Zusammenhang die Auseinandersetzung über diese Fragen fortgeführt werden 3 1 . Be-

2 9 ) Ungeachtet des Burgundischen Vertrages wurde 1560 eine niederländische Sache am R K G angenommen, vgl. S e 11 e r t , S. 30 f. Die Abwehr der Tätigkeit des Reichsfiskals gegenüber niederländischen Untersassen wird das R K G in Ausführung des Vertrages als seine Aufgabe angesehen haben. — Eine Sonderregelung über die Zuständigkeit des R K G enthält ferner der auch im obigen Zusammenhang angezogene R A von 1548. Dort hat sich Österreich in § 68 hinsichtlich der von ihm zu führenden Exemtionsprozesse wegen beanspruchter Reichsgebiete — vgl. oben Anm. 19 — der Gerichtsbarkeit des R K G unterworfen, während alle anderen eximierenden Stände eo ipso dort zu beklagen waren ( R A 1548 § 49). Ein weiterer Beweis dafür, daß die Freiheit von den Reichsgerichten gewahrt blieb. Vgl. dazu ferner F a h n e n b e r g , S. 24 ff., 60 f. 8 0 ) So nach den Untersuchungen S e l l e n s , S. 27 f., 30, 40 betreffs der vorhandenen Prozeßakten. D i e Angaben über die Drucke beruhen auf eigener Einsichtnahme des Verfassers in die oben S. 14 Anm. 42 genannten Sammlungen, die ausschließlich Appellationen vom Landgericht Schwaben zutage förderte. Vgl. hierzu auch oben Anm. 8, 10. 3 1 ) Vgl. unten S. 92 ff.

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reits der Überblick anhand des bis jetzt genannten Quellenmaterials rechtfertigt jedoch eine Beurteilung der im 16. Jahrhundert bestehenden Rechtslage dahingehend, daß der Protest der Erzherzöge und Kaiser gegen die Annahme von Appellationen aus österreichischen Landen nicht auf die »Wiedereinführung der Exemtion' zielte, weil diese 1495 beseitigt worden wäre. Vielmehr muß das Verhalten des RKG differenzierend auf andere Gründe zurückgeführt werden, unter denen die Verwahrung gegen eine Erstreckung der Freiheit auf nicht zu den Erblanden gehörige Gebiete und Gerichte an erster Stelle zu nennen ist 3 2 . Was die Intensität und den Ausgang der Streitigkeiten im Teilbereich der Appellationsfreiheit betrifft, so soll hier zunächst nur zu den Differenzen Stellung genommen werden, die nicht das kaiserliche Landgericht auf der Leutkircher Heide betreffen. Die Akten im Fall derer von Arch enden ohne Urteil. Die Gründe hierfür sind nicht bekannt 3 3 . Der Fall Fugger 34 — der allerdings nicht die Zuständigkeit des RKG als Appellationsgericht zum Gegenstand hat — zeigt, daß Österreich keine Ausnahme machte, wenn es darum ging, wegen behaupteter Verletzung von Privilegien einen Strafprozeß anzustrengen und die Betroffenen deshalb bereits vor einer Entscheidung des RKG über seine Zuständigkeit gefangenzusetzen und sie so zum Verzicht auf ihre Klage zu veranlassen. Kammerboten wurden bei der Zustellung von Ladungen und Mandaten mit Gefängnis bedroht 3 S . 32 ) Die Gesichtspunkte, unter denen das RKG die Anerkennung der Exemtion verweigern konnte, sind im übrigen wie alle auf die Zuständigkeit Einfluß nehmenden Faktoren derart vielfältige, daß sie nur in einer Spezialuntersuchung der einschlägigen Prozesse abschließend geklärt werden können. Vgl. hierzu oben Anm. 29 sowie die Ausführungen von Fahnenberg, S. 10 ff., 45 ff. und S e 11 e r t , S. 22 ff. Audi die bedeutendsten Kameralisten und Staatsrechtslehrer erkannten die grundsätzliche Geltung der österreichischen Exemtion an. Die älteren gestehen allerdings aus den verschiedensten Gründen Ausnahmen zu, vgl. die von F a h n e n b e r g , S. 44 ff., 73 ff. in Auszügen wiedergegebenen Ansichten. 33 ) Vgl. S e 11 e r t , S. 25. Es scheint allerdings so, als sei der Prozeß bereits nach der Interventionsschrift des Erzherzogs nidit mehr fortgeführt worden. Eine gütliche Regelung kann nicht ausgeschlossen werden. 34 ) Vgl. dazu S e l l e r t , S. 27 ff., ders., Ladung, S. 221 f., 232 ff.; 1614—1623 streiten Georg Fugger einerseits und Erzherzog Maximilian und der Graf Trautsohn von Falkenstein andererseits um die Herrschaft ,Εηη und Kaldiv' in Tirol. 55 ) Vgl. S e l l e r t , S. 27 und allgemein in Zustellung, S. 222 ff., ferner S m e η d , S. 368 und die Supplik des Anwaltes im Fall Truchseß bei G y 1 m a η η, I Teil 2, S. 321.

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Appellationsverbote

Trotz der dürftigen Quellenlage kann festgestellt werden, daß jedenfalls das R K G an seiner Rechtsauffassung festgehalten und entsprechende Mandate gegen Österreich erkannt h a t 3 e . Davon, daß diese Beachtung gefunden hätten, kann nicht ausgegangen werden. Auch ist offen, ob sich die Bevölkerung der betroffenen Gebiete bei der von Österreich behaupteten Rechtslage beruhigen ließ. Angesichts fehlender Zeugnisse für den Fortgang der Auseinandersetzungen ist es fast anzunehmen. Ob sich darin allerdings die Erklärung dafür finden läßt, daß sich das R K G gegen Ende des 16. Jahrhunderts bewogen fühlte, die Differenzierungen zwischen Reichspfandschaften und Neuerwerb einerseits und den Erblanden andererseits jedenfalls für den um 1600 gegebenen Besitzstand aufzugeben 37 , muß bezweifelt werden. Interessant ist im übrigen, daß auch das Strafgebot Karls V. von 1530, das inhaltlich ja ein Privileg darstellt 3 8 , die Bedenken des R K G offenbar nicht ausräumen konnte 3 9 . Insgesamt wird man sagen müssen, daß bei einer noch mangelhaften Kenntnis der Details der Rechts- und Sachlage die Streitigkeiten dahin zu beurteilen sind, daß sich Österreich in bezug auf ihm längere Zeit zugehörige Reichspfandschaften und Neuerwerbungen durchgesetzt hat 4 0 . Die österreichischen Bestrebungen hinsichtlich der Appellationen vom württembergischen Hofgericht können dagegen nicht als erfolgreich angesehen werden 4 1 . Nach W e g e l i n 4 2 hat das R K G ungeachtet aller kaiserlicher Interventionen die aus Württemberg kom3 e ) D a v o n geht selbst der f ü r Österreich schreibende F a h n e n b e r g , S. 6 f f . aus. Vgl. audi S e 11 e r t , S. 26, W e g e l i n , I S . 339. 3 7 ) V o n diesem Zeitpunkt geht F a h η e η b e r g , S. 12, 53, 64 f f . aus. Seine Ansicht w i r d durch die A n g a b e n S e l l e n s , S. 28 f., 35 über Zuständigkeitskonflikte und den Zeitpunkt ihres F o r t f a l l s bestätigt. D a ß diese Ä n d e r u n g in der Einstellung allein auf E r m a h n u n g e n der Visitationen von 1570 und 1595 zurückgeführt werden kann, wie es F a h n e n b e r g , S. 12 darstellt, erscheint zu inhaltsleer. 3 e ) Vgl. W e g e l i n , I S. 338 f f . , 330 f. 38) D i e auf diese Freiheit abstellenden Argumente M o h i s , I I S. 319 f., 327 sind deshalb wohl nicht durchschlagend. 4 0 ) Wenn S e 11 e r t , S. 28 f. zu dem Ergebnis k o m m t , das R K G habe sidi „praktisch nicht durchsetzen" können, so stimmt dieses Urteil gleidiwohl mit dem obigen nidit überein, d a es auf anderen Voraussetzungen beruht. S e 11 e r t geht v o n einer Zuständigkeitsbehauptung des R K G f ü r ö s t e r r e i d i generell aus u n d bezieht so die schwäbischen Streitigkeiten mit ein. 4 1 ) Es bleibt jedoch vorerst o f f e n , inwieweit die österreichischen Bemühungen die Appellationsverhältnisse Württembergs nach 1534 beeinflußt haben mögen. Vgl. d a z u unten S. 205 f f . 4 2 ) I S. 339.

67

Österreich: Landgericht Schwaben

menden Appellationen angenommen. Auch die Ausführungen Κ η a ρ ρ s und die von L a u f s angezogene Quelle 4 3 lassen eine andere Annahme nicht zu.

2. V e r h ä l t n i s s e insbesondere

des L a n d g e r i c h t s ( 1 5 0 8 — 1 8 02)

Schwaben

Vom Landgericht auf der Leutkircher Heide und in der Pirs, dem Landgericht Schwaben, hat das RKG auch nach 1600 und trotz entschiedener Gegenwehr Österreichs Appellationen angenommen. Hierin kommt die Sonderstellung dieses Gerichtes als eines kaiserlichen Landgerichts 44 zum Ausdruck. Die Auseinandersetzung um die Appellation von seinen Urteilen hat deshalb nicht in erster Linie die Beschränkung der Rechte österreichischer Untertanen zum Gegenstand, sondern betrifft die Wahrung der Interessen der im Gerichtssprengel gelegenen Reichsstände, vornehmlich der Mitglieder des Schwäbischen Kreises, und ihrer Untertanen. Die alten kaiserlichen Landgerichte stellten unter der neuen Gerichtsverfassung und mit dem Erstarken der Territorien bereits im 16. Jahrhundert immer mehr ein Überbleibsel vergangener Zeiten dar 45 . Einige gingen einfach unter, andere wurden in die Gerichtsstruktur eines Territoriums eingegliedert, wie etwa das Fränkische Landgericht 46 und das der Baar 47 . Allein das Hofgericht zu Rott43

) Vgl. oben Anm. 25, 26. ) Zu den kaiserlichen Landgerichten allgemein vgl. C o n r a d , I S. 498, II S. 168 f., T h u d i c h u m , Rottweil, S. 62 ff., F e i n e , Die kaiserlichen Landgerichte, G r u b e , S. 8. " ) Vgl. G r u b e , S. 33 ff., 50 ff. 4e ) Vgl. M e r z b a c h e r , S. 14 ff., W e i t z e l , S. 242 Anm. 178. 47 ) Vgl. L e i b e r , S. 47ff., 407, L a u f s , S. 202. Die Eingliederung der Landgerichte in die territoriale Gerichtsverfassung beseitigte am wirksamsten ihre unmittelbaren Beziehungen zum Kaiser. Mit der Umgestaltung in territoriale Gerichte wurden die Landgerichte entweder anfänglich oder aber nachfolgend den neuen Gerichten (Hofgerichten, Kanzleien) untergeordnet. Sie waren nur noch dem Namen nach kaiserliche Gerichte. Insbesondere erwarben sie keinen über das Gebiet des neuen Gerichtsherrn hinausgehenden Gerichtssprengel oder verloren ihn wieder. Auch gingen die Rechtsmittel nicht mehr unmittelbar ans Reichsgericht. Gleichwohl hielten sich selbst in solchen Fällen teilweise Besonderheiten in bezug auf den Instanzenweg der Appellation — vgl. L e i b e r , S. 260 f., 406 f. (Fälle 1575 und 1791!), W e i t z e l , S. 242 Anm. 178. Diese Eingliederungen führten in aller Regel aber nicht zu Appellationsverboten, da die Appellation zumindest von den Entscheidungen des übergeordneten Gerichts zunächst in vollem 44

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weil 48 konnte eine weitgehend unabhängige Stellung behaupten. Im Laufe dieser Entwicklungen gerät das kaiserliche Landgericht Schwaben in die Abhängigkeit von Österreich 49 . Das Landgericht auf der Leutkircher Heide und in der Pirs, mit Malstätten in Leutkirch (statt dessen ab 1 5 1 2 in Isny), Wangen, Ravensburg und Lindau (statt dessen seit dem 16. Jahrhundert in Altdorf, genannt Weingarten) 5 0 war im 15. Jahrhundert aus einem Freiengericht auf der Leutkircher Heide und aus einem Pirschgericht zusammengewachsen, das sich seinerseits seit etwa 1350 aus dem kaiserlichen Landgericht der Reichslandvogtei Oberschwaben 51 entwickelt hatte. Es umfaßte zunächst das Gebiet um die genannten Reichsstädte und -dörfer nördlich des Bodensees 52 . Die Vogtei war nach dem Untergang der Staufer von Rudolf von Habsburg gebildet worden, um das Reichsgut in diesem Raum zusammenhalten zu können 5 3 . Für die Habsburger wurde sie Bestandteil ihrer Hausmachtpolitik, insbesondere nachdem Herzog Sigismund das ver-

Umfange, später unter Einschränkung durch Appellationsprivilegien erhalten blieb — vgl. hierzu H e i n r i c h O t t o M ü l l e r , Landgericht Hirschberg, S. 289 ff., L e i b e r , Landgericht der Baar, S. 259 f., 402 ff. 4β ) Vgl. G r u b e , S. 34 ff., 58 ff., 68 ff. 49 ) Zumindest mißverständlich ist es, wenn L a u f s , S. 202 meint, Österreich habe versucht, das Schwäbische Landgericht „endgültig und vollständig zu einer Territorialinstanz zu machen". Der Charakter des Gerichts als eines kaiserlichen mußte zunächst vielmehr gerade aufrechterhalten werden, um Österreich die Möglichkeit zu geben, über dessen Zuständigkeit im Sinne einer Erweiterung seiner landesherrlichen Befugnisse in Schwaben auf die umliegenden Reichsstände Einfluß zu nehmen. Die Umwandlung in ein territoriales Gericht — etwa mit einem dem des Fränkischen Landgerichts Würzburg entsprechenden Status — hätte erst dann angestrebt werden können, wenn es Österreich gelungen wäre, seine territorialen Ambitionen im deutschen Südwesten zu verwirklichen, vgl. oben S. 62 Anm. 16. — Auch G r u b e , S. 38, 40 führt aus, das Landgericht Schwaben sei 1486 endgültig österreichisch geworden. C o n r a d , II S. 169 spricht hingegen zutreffend nur von Pfandbesitz. 50 ) Zu den Malstätten vgl. Β ü r c k h 1 e , I S. 104 ff., G u t , S. 29 ff., L a u f s , S. 203 f., G ö n n e r - M i l l e r , S. 672. 51 ) Vgl. G ö n n e r - M i l l e r , Die Landvogtei Schwaben. 52 ) Zur älteren Geschichte des oberschwäbischen Landgerichts vgl. Bürckhle, I S. 4 ff. mit Urkunden, S. 297 ff., 373 ff., II S. 526 ff., W e g e 1 i η , I S. 24 ff., 221 ff. mit Urkunden in II S. I f f . , F e i n e , S. 171 ff., G u t , S. 1—27, zum schwäbischen Landgericht generell auch M o s e r , 6. B. 2. K., S. 941 ff., J ä η i c h e η , Oberschwäbisches Gericht, S. 222 ff. 53 ) Vgl. S c h i l t e r bei B ü r c k h l e , I S. 325 f., G u t , S. 15 f., F e i n e , S. 218 f., L a u f s , S. 81, 202 ff., G r u b e , S. 12, auch B a d e r , Südwesten, S. 47 ff., 71 f.

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pfändete Gebiet 5 4 1486 für Österreich eingelöst hatte 5 5 . Mit der Zeit wurde aus der Landvogtei ein fester Bestandteil der vorderösterreichischen Lande 56 . Das Landgericht selbst war etwa ab 1350 von der Vogtei völlig abgelöst 57 , es galt nicht als Gericht des Pfandhalters, sondern als kaiserliches 58. Seine Urteilssprecher waren freie Reichsbürger 59 , die Sitzungen fanden nur in Reichsstädten und an „offener frei kaiserlicher Reidisstraß" 60 statt, die Entscheidungen ergingen im Namen des Kaisers, so auch Acht und Anleite 61 . Allein der Landrichter wurde vom Landvogt im Namen des Kaisers ernannt, sein Vertreter war der Schreiber der Landvogtei ®2. Von den Kaisern etwa ab 1500 ähnlich stark wie das Rottweiler Hofgericht 63 gefördert, veränderte das Landgericht Schwaben unter Karl V. und Ferdinand I. zunehmend seinen ursprünglichen Charakter 64 . Die Zuständigkeit des Gerichtes wurde über weite Teile Schwa-

M

) Zu den einzelnen Pfandhaltern vgl. H a r p p r e c h t , I S . 77 ff., G u t , S. 20 f. 55 ) Vgl. F e i n e , S. 176, G u t , S. 21, L a u f s , S. 204, B a d e r , Südwesten, S. 80. M ) Vgl. G u t , S. 21, F e i n e , Entstehung, S. 301. Belege dafür, daß Österreich versuchte, die Pfandschaft zu Lehen zu erhalten oder doch unauslösbar zu machen, finden sich bei W e g e 1 i η , II S. 175 ff., vgl. auch G ö n n e r - M i l l e r , S. 672. " ) B ü r c k h l e , I S. 21 ff.: „iudicium mere imperiale", überzeugend dargelegt von W e g e l i n , I S . 266 ff., 329 f., S c h i l t e r bei B ü r c k h l e , I S. 300 ff., 321 f., so auch F e i n e , S. 175 f., G u t , S. 21 f., L a u f s , S. 311, a. A. die pro-österreichische Streitschrift Information 1658' bei Β ür c k h 1 e , I S . 343 ff., die neben dem Pfandtitel ein Rçdit aus Lehen für Vogtei und Landgericht behauptet. 5e ) Neben ihm war um 1490 ein eigenes Landvogteigeridit errichtet worden, insbesondere zu dem Zwecke, die Freien auf der Heide, die bislang im Landgericht eine Stütze ihrer Selbständigkeit gehabt hatten, dem österreichischen Einfluß stärker zu unterwerfen, vgl. G u t , S. 22 ff., auch W e g e l i n , I S. 270. 5β ) Vgl. B ü r c k h l e . I S . 91 ff., W e g e l i n , I S . 261, M o s e r , 6. Β. 2. Κ., S. 987, L a u f s , S. 204. M ) So G u t , S. 22. β1 ) Vgl. J ä η i c h e η , Oberschwäbisches Gericht, S. 221, G ö n n e r - M i l l e r , S. 672. β2 ) Vgl. G u t , S. 22, L a u f s , S. 204, G ö n n e r - M i l l e r , S. 672. M ) Die Ausgangspunkte für Vergleiche mit Rottweil finden sich bei F e i n e , S. 167, 170 f., 176, G r u b e , S. 12, 36, 58 f., J ä n i c h e n , Oberschwäbisdies Gericht, S. 221, L a u f s , S. 203; vgl. hierzu auch W e g e l i n , II S. 289 ff., 292 ff. M ) Vgl. W e g e l i n , I S . 267 f., 346 ff., insbesondere zu den dem Gericht in dieser Zeit erteilten Rechten.

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bens, fast allein mit der Ausnahme Württembergs, erstreckt 65 . Fast noch stärker als in Rottweil arbeiteten die habsburgischen Kaiser in den neu erlassenen Gerichtsordnungen mit der Aufstellung von Ehehaftsfällen 66, um die im Sprengel liegenden aufbegehrenden Reichsstände einerseits mit Befreiungen vom Landgericht zu beschwichtigen, die gegebenen Freiheiten dann aber durch Erweiterung der Ehehaftsfälle wieder auszuhöhlen. 1544 schließlich wurden alle gegen das Gericht und auch gegen seine Ehehaften erteilten Privilegien vom Kaiser kassiert 67 . Ein weiteres Mittel, das Gericht zu einem unbequemen Instrument in der Hand Österreichs werden zu lassen, bestand darin, österreichische Untertanen von der Vorladung als Beklagte zu eximieren, ihnen aber die Position eines Klägers gegenüber den Untertanen der andern Reichsstände zu gestatten ®8. Bestandteil des e5 ) Eine Grenzbeschreibung aus dem Jahre 1594 findet sidi bei W e g e l i n , II S. 148 ff., sonstige Beschreibungen bei Β ü r c k h 1 e , I S. 39 ff., II S. 288 f., W e g e 1 i η , I S. 291 ff., II S. 288 f., F e i n e , S. 169 f., M o s e r , 6. B. 2. K., S. 974, G ö n n e r - M i l l e r , S. 672, Gu t , S. 33 f. ββ ) Zum Begriff vgl. W e g e 1 i η , I S. 296 f. „. . . einen solchen Casum, in welchem die Landtgerichtlidie Jurisdiction rechtund gesetzmäßig gegründet ist, audi also hafftet, daß selbiger vom Landtgeridit nicht abgefordert, und an ein anders Gericht gezogen werden kan", und Β ü r c k h 1 e , II S. 3 ff. „ . . . casus reservati, Sc exemtione majores, qui ad avocationem statuum privilegiatorum non remittuntur" oder „ . . . Fälle, so auf der privilegirten Stände Abfordern nicht remittirt werden". Es handelt sich also um Ausnahmen von und Gegenrechte zu den Exemtionsprivilegien der Stände. Zu den einzelnen Fällen vgl. B i i r c k h l e , II S. 1 ff., W e g e l i n , I S. 296 ff., II S. 302 ff., ferner M o s e r , 6. B. 2. K., S. 945, G u t , S. 36 ff., L u d o l f , Commentatio, S. 238 ff. Speziell zu Rottweil vgl. G r u b e etwa S. 22 ff., 36, 41, 56 f. e7 ) Das entsprechende Privileg für das Gericht ist abgedruckt bei W e g e l i n , II S. 321 ff. Die Kassation wurde unter dem Vorwand ausgesprochen, die Befreiungen vom Geridit seien in Unwissen und versehentlich erfolgt. Die Aufhebung ihrer Freiheiten wurde von den betroffenen Ständen als Kapitel IV der Wahlkapitulation Karls V. zuwider nidit anerkannt, vgl. W e g e l i n , I S. 328 f., B ü r c k h l e , I I S . 269 ff., auch P r a t j e , S. 232 f., 238, K l e i n h e y e r , S. 64 ff. (zur Privilegien bestätigenden Wirkung der Wahlkapitulationen). — Zur Widerruflichkeit kaiserlicher Privilegien vgl. H e w i g , S. 44 ff., 104, Ζ e u m e r , Goldene Bulle, I S. 68 ff. ®8) Vgl. die Supplikation der Reichsstädte Lindau, Ravensburg, Wangen, Isny und Leutkirdi auf Aufhebung der den vier österreichischen Herrschaften im Vorarlberg samt Hoheneck und Neuburg am Rhein gewährten Befreiung vom Landgeridit und die kaiserliche Antwort darauf, abgedruckt bei W e g e l i n , II, S. 285 ff., vgl. audi G u t , S. 34, M o s e r , 6. Β. 2. Κ., S. 952, G r u b e , S. 40 f., 60 (hinsichtlich des Rottweiler Hofgerichts).

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österreichischen Programms war ferner der Versuch, über die Appellationen von den Entscheidungen des Landgerichtes in letzter Instanz nicht vom Reichsgericht, sondern von einem eigens zu diesem Zweck 1530 in Innsbruck errichteten landesfürstlichen Kammergericht befinden zu lassen 69 . Aus dieser Politik ergeben sich die über Jahrhunderte andauernden Streitigkeiten zwischen dem Schwäbischen Bund 70 , dem Schwäbischen Kreis sowie der freien Reichsritterschaft in Schwaben 71 und ihren Mitgliedern einerseits und Österreich andererseits, die von W e g e 1 i η 72 und B ü r c k h l e 7 3 ausführlich mit Quellenabdruck geschildert werden. Die Versuche Österreichs, sich des Gerichtes zur Sicherung einer eigenen geschlossenen Gerichtshoheit und zur Machtentfaltung gegenüber den benachbarten Reichsständen zu bedienen, ließen die Betroffenen fürchten, die nach Innsbruck gelenkte Appellation werde verbunden mit den übrigen Maßnahmen zum ersten Schritt auf dem Wege zur österreichischen Landsässigkeit 74 . Selbst die Darstellung nur der Appellationsfrage als ββ ) Die Genehmigung zur Errichtung erteilte Karl V. im Zusammenhang mit seinem Strafgebot 1530, vgl. W e g e l i n , I S. 330 f. mit Anm. 174, G u t , S. 70, L a u f s , S. 204. 70 ) Vgl. B o c k , S. 118, H a r p p r e c h t , V S . 48, L a u f s , S. 203. 71 ) Vgl. W e g e l i n , II S. 393 ff. (Beschwerden von 1613). ' 2 ) Teil I S. 266 ff., 279 ff., 291 ff., 329 ff. mit Quellen in Teil II Nr. 235 ff. ,3 ) II S. 478 ff.; ferner S c h i l t e r bei B ü r c k h l e , I S . 300 ff., I n f o r m a tion 1658' und .Gegeninformation 1666' bei Β ü r c k h 1 e , I S. 343 ff. und II S. 634 ff., G y l m a n n , V I S . 194, F a h n e n b e r g , S. 10 f., M o s e r , 6. B. 2. K., S. 942 ff., S c h e l h a ß , S. 100 ff., F e i n e , S. 167, 176, G u t , S. 34 ff., 70 f., L a u f s , S. 202 ff., 309 ff. 74 ) Daß die Stände diese Situation erkannten und deshalb gerade den Kampf gegen das Appellationsverbot so entschieden führten, ergibt sich aus verschiedenen Quellen, vgl. etwa die bei L a u f s , S. 203 zitierte Quelle vom Ulmer Kreistag 1544, dazu ferner W e g e l i n , I S . 338, II S. 360. In der 1577 bei den vier Malstätten insinuierten Protestation der Stände des Kreises heißt es: , . . . so dieser Kreyß und desselben Stände also von der Jurisdiction des Reichs und des Kays. Cammergerichts ausgezogen und mit den Appellationen unter die Oesterreich. Obergericht gezogen und das Remedium Appellationis an das Kays. Cammergericht nicht haben köndte, daß unter einem solchen Schein dieser löbl. Schwäb. Krayß zerrissen, die Stände, so ohne Mittel dem Reidi unterworffen unter die Jurisdiction des H a u ß Oe. gebracht und also Landsassen werden müssen'. (Nach W e g e l i n , I I S . 344 ff., 349). Noch aufschlußreicher erscheint die Beschwerde der Ritterschaft 1613, daß die Appellation „wie unbillich nichtig und unrecht jeweilens die ausgesprochene Urtheln seyn mögen, an die Rom. Kayserl. Maj. oder Dero und des Heil. Reichs Cammergericht wider alt herkommen nicht allein absolute verwaigert, sondern auch alle diejenige, so dergleichen fürnehmen, verfolgt, und wider sie via

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eines Ausschnittes dieses über Jahrhunderte geführten Kampfes bietet lediglich einen kurzen Einblick in das vielschichtige Problem. Berufungen vom Landgericht in Oberschwaben sollen während des 15. Jahrhunderts ans RHG, KKG, überwiegend aber nach Rottweil und seit der Errichtung des RKG an dieses gegangen sein 75 . Hiervon steht allein fest, daß vom Landgericht ans RKG appelliert worden ist 7 β . Die Verhältnisse vor 1495 sind völlig offen, können hier auch unberücksichtigt bleiben. Selbst wenn es eine Schelte oder die Appellation nach auswärts gegeben hat, sind Streitigkeiten hierüber nicht bekannt. Es gab keine Schwierigkeiten, weil die damaligen Inhaber der Pfandschaft bis 1486 nicht die späteren Ambitionen Österreichs hatten 77 . Zunächst blieb auch nach 1486 alles beim alten. Noch 1505 appellierte selbst der Landvogt Jakob von Landau nach Speyer, von wo Ladung auf den 2. Oktober 1505 erfolgte 78 . In eben diesem Jahre hat auch der Rechtsstreit seinen Anfang, in dem, soweit ersichtFacti procedirt, dardurch aber die Ritterschafft in Schwaben einer besdiwärlichen Servitut und Landsässerey (deren die Verweigerung der Appellation an den Römischen Kayser oder dessen Cammergericht nicht das geringste stück ist) zu unterwerffen gesucht wird", vgl. W e g e 1 i η , I I S . 393, auch S. 395, wo es heißt, daß die Ritterschaft mit fiskalischen Prozessen überzogen werde, wenn sie den Befehlen des Landgerichts nicht sofort nachkomme, sondern sich begründeter Weise mit erlaubten Rechtsmitteln dagegen zur Wehr setze. Die „thätigen V e r w a l tungen" seitens des Landrichters bedeuteten nichts anders „als dieses höchste Jus Regale interponendi ac recipiendi Appellationes Ihro Kayserl. Majestät und dem Reich zu entziehen". Zum politisdi im wesentlichen gleichwertigen, jedodi nicht die Appellationsfrage betreffenden Kampf der schwäbischen Stände gegen das Rottweiler Hofgericht vgl. G r u b e , S. 38 f., 58 f f . " ) Vgl. W e g e 1 i η , I S. 267 f., 330 und II S. 248 ff., unklar G u t , S. 70, schon in sich widersprüchlich F e i n e , S. 152, 154 f., 167, 170 f., 232 — wie sollen die Berufungen bis 1530 (!) nach Rottweil gegangen sein, wenn dieses gegenüber den Landgerichten keine Appellationszuständigkeit in Anspruch nahm. Den Vorgenannten folgen C o n r a d , II S. 169 f., H e i n r i c h O t t o Müller, S. 290, L a u f s , S. 203 f. 7 «) Vgl. M o s e r , 6. B. 2. K., S. 987 — Die Bedenken gegen die Ansicht der in Anm. 75 Genannten folgen zunächst aus der unzureichenden Trennung von Schelte und Appellation, wie sie vornehmlich im Gebrauch des Wortes .Berufung' zum Ausdruck kommt, im übrigen gründen sie sich auf die Untersuchungen G r u b e s , S. 16 ff., 35, 40 und L e i s e r s , S. 27 f. zur Stellung des Rottweiler Hofgerichtes gegenüber den anderen Landgerichten und dem R H G . Der von W e g e 1 i η , II S. 248 ff. mitgeteilte Urteilsbrief des Jahres 1480 erscheint nach Zeit und Inhalt — Streit um erstinstanzliche Zuständigkeit f ü r einen reichsunmittelbaren Ritter — als Ausnahme. " ) Vgl. G ö η η e r - M i 11 e r , S. 658 f f . 7β ) Vgl. W e g e 1 ί η , I S . 268, 330, 334, II S. 312.

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lidi erstmalig 79 , die Unzuständigkeit des RKG für Appellationen vom Landgericht geltend gemacht wird. In Sachen Anna Glatthaar gegen Jakob Hildebrand Eglin und Peter Hover 80 wegen eines von den Beklagten auf öffentlicher Straße an dem Ehemann der Klägerin verübten Totschlags 81 appellieren die in die Acht erklärten und nach dem Urteilsspruch flüchtigen Beklagten vor Notar und Zeugen ans RKG. Dieses erkennt Appellationsprozesse 82 . Der Landrichter Ulrich Wochner stellt 1505 einen Urteilsbrief 83 aus, und Johann Truchseß von Waldburg, ein Angehöriger der Familie, die bis 1486 die Landvogtei pfandweise innehatte 84 , wird vom RKG mit der Untersuchung der Angelegenheit beauftragt 8S. Bald darauf ergeht am 23. Oktober 1508 ein kaiserliches Reskript 86 ans RKG, in dem es heißt, daß von dem Urteil ,als einem malefitzigen Hanndel kain Appellation besdiehen, noch zugelassen werden mugen' 8T ,

dann aber kommt die Hauptsache .auch das anngezaygt Lanndtgericht mit sambt der Lannd-Vogtey Schwaben, unns und unnserm Haws Oesterreich brieflichen Gerechtigkaytten und Freyhayten zugestellt ist'. " ) G u t , S. 40, C o n r a d , II S. 169 und L a u f s , S. 204 stellen den Angaben und Quellen W e g e 1 i η s , I S . 330 f., dem Strafgebot Karls V. von 1530 und der Errichtung des Innsbrucker Kammergerichts folgend auf das Jahr 1530 für den Beginn der Streitigkeiten um die Appellation ab. 80 ) Dargestellt von H a r p p r e c h t , III S. 54—59 mit Auszügen aus den Akten S. 210—219. M ) Dem Landgericht kam zur Zeit dieses Prozesses eine Zuständigkeit für peinliche Verfahren nicht — nicht mehr — zu, vgl. F e i n e , S. 170, G r u b e , S. 8, L a u f s , S. 203, B ü r c k h l e , II S. 157ff. der in Ausführungen zu einer die Schadensersatzregelung nach Mord, Brand, Raub, Totschlag, Diebstahl, beschwerliche Bedrohung und anderen malefizischen Sachen betreffenden Ehehaften annimmt, das Gericht sei etwa noch bis zur ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch für Strafsachen zuständig gewesen. Demnach handelt es sich bei dem vorliegenden Rechtsstreit um ein Zivilverfahren, was audi die Darstellung bei H a r p p r e c h t bestätigt. Ob in diesem Prozeß allein über einen Schadensersatzanspruch verhandelt wurde oder ob es sich weitergehend um eine zivilrechtliche Mordachtsache handelt, die den Totschlag im Zivilverfahren sühnen soll — vgl. hierzu L e i b e r , S. 257, 396, G r u b e , S. 26, F e i η e , S. 153 f. —, muß hier offen bleiben. — Zu Totschlagssühneverträgen vgl. J ä n i c h e n , Totschlagssühnen, S. 128 ff. 82 ) Zum Begriff vgl. oben S. 15 ff. 8S ) Abgedruckt bei H a r p p r e c h t , III S. 210—213. 84 ) G u t , S. 21; zur Geschichte dieses Geschlechtes vgl. B a d e r , Südwesten, S. 131 ff. 85 ) Vgl. H a r p p r e c h t , III S. 58, 214. 8 «) Abgedruckt bei H a r p p r e c h t , II S. 213 f.

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Im Reskript heißt es weiter, man habe aus den genannten Gründen den Landrichter angewiesen, das Urteil zu vollziehen. Dem RKG wird im Ernst empfohlen, die ausgegangene Kommission und Inhibition aufzuheben und zu kassieren. Das RKG tut aber weder das eine noch das andere. Vielmehr ergeht auf die Beschwerde der Appellanten wegen drohender Attentate bei der zu befürchtenden Exekution die Entscheidung, daß die Parteien fortfahren sollen und ,ohnverhindert geschehener Einrede gehört werden' 8 8 . Zwei Tage später, am 8. November 1508, erläßt das RKG eine weitere Inhibition an das Landgericht 89 . In seiner Exceptio 90 beruft sich der Anwalt des Hauses Österreich erneut auf die Umstände, die das kaiserliche Reskript ins Feld geführt hatte: die Landvogtei sei den Erzherzögen ,mit aller oberkait, herrlichait und Appellation zugestellt worden und zugehörig',

das Landgericht sei in der Vogtei gelegen und dieser zugehörig, das Haus Österreich aber sei von allen Appellationen ans RKG befreit. Bei verpfändeten Gerichten entspreche es der Übung, von ihren Urteilen unmittelbar an den Pfandschafter zu appellieren. Damit waren die Positionen bezogen, die Österreich mit geringfügigen Veränderungen über Jahrhunderte in Anspruch genommen und verteidigt hat 9 1 . Die Replik der Appellanten 92 dagegen erkennt nicht an, daß mit der Verpfändung der Vogtei an Österreich den Erzherzögen auch die Appellationssachen zustünden, ,dann dieselb Landvogtey von dem Reich dem Hause Österreich nit anders versetzt, dann das sich Ertz Hertzog zu Österreich derselben glich dem Reich in Renten und Gefellen bruchen soll'. 87 ) Dieser Einwurf ist angesichts des Umstandes, daß es sich — vgl. Anm. 81 — um ein Zivilverfahren handelt, nur sdiwer zu verstehen. Entweder ignoriert der österreichische Prozeßvertreter dies oder aber der insbesondere später nach Erlaß der Carolina — vgl. oben S. 34 Anm. 38 — auch praktisch wieder gefestigte Grundsatz, daß bei Strafverfahren Rechtsmittel nicht zulässig seien, erstreckte sich auch auf diese „malefizischen", auf Straftaten zurückgehenden Zivilprozesse. Die Zuständigkeit des RKG wäre jedodi unter dem Gesichtspunkt des Landfriedensbruches gegeben. 88 ) Urteil vom 6. November 1508, abgedruckt bei S e y 1 e r - Β a r t h , I S. 239 und bei H a r ρ ρ r e c h t , III S. 58. 8β ) Vgl. Η a r ρ ρ r e c h t , III S. 58. 90 ) Auszugsweise wiedergegeben bei H a r p p r e c h t , III S. 215. 81 ) Vgl. die Darstellung der einzelnen Argumente Österreichs bei W e g e 1 i η , I S. 332 ff. • 2 ) Vgl. H a r p p r e c h t , III S. 215—217.

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Das Gericht sei immer als ein kaiserliches besetzt und gehalten worden, seine Urteile ergingen in seinem und des Reichs Namen. Die Vogtei gehöre nicht dem Hause Österreich, sei ihm nicht inkorporiert, wenn es sie auch pfandweise besitze. Die Vogtei sei Eigentum des Reiches, die österreichischen Freiheiten deshalb auf das kaiserliche Gericht nicht anwendbar. Dem entspreche die bisherige Übung, noch zur Stunde seien andere solche Prozesse unangefochten am RKG anhängig. Nach der erst später von W e g e 1 i η 93 wieder aufgedeckten wahren Rechtslage war das Landgericht durchaus nicht verpfändet. Es gehörte weder zu der Vogtei noch wurde es in den Verpfändungsurkunden genannt. Gleichwohl geht der Vertreter der Appellanten — wie auch die schwäbischen Stände in der Hauptzeit des Kampfes — davon aus, daß Österreich das Gericht pfandweise besitze. Trotz dieser Fehleinschätzung bestreitet er den Rechtsweg ans Innsbrucker Kammergericht. Mit der Duplik 94 kommt die Argumentation schließlich der — nach der damaligen Auffassung von der Verpfändung des Gerichts — entscheidenden Frage näher, ob nämlich der aus dem Pfand zu ziehende Nutzen die Gerichtshoheit in toto einschließe. Nicht allein auf Renten und Gülten — so führt der Anwalt der Appellatin aus — erstrecke sich das Pfand, das Recht zur Annahme der Appellation und andere ,Oberkeitten' gehörten auch dazu. Aus dem entgegenstehenden Brauch der Appellation ans RKG könne nicht auf seine Rechtmäßigkeit geschlossen werden. Im Ergebnis wird man — ausgehend von der Verpfändung des Gerichtes — der Ansicht der Stände den Vorzug geben müssen 95. es

) I S. 266 ff. — Vergleichbare Verhältnisse finden sich hinsichtlich des Ingelheimer Oberhofs im 14. und 15. Jahrhundert, vgl. G u d i a η , Oberhof Ingelheim, S. 270, 290 f. M ) Bei H a r p p r e c h t , III S. 217—219 auszugsweise wiedergegeben, vgl. auch die fragende Stellungnahme H a r p p r e c h t s , S. 59, der wohl dafür hielt, daß mit der Pfandschaft alle Redite übergegangen seien. Nach dem bei G y 1 m a n n , I Teil 2, S. 321 abgedruckten Votum aus dem Jahre 1587 (vgl. oben S. 61 Anm, 13) sah audi das RKG das Landgericht als verpfändet an. »5) So audi L a u f s , S. 311, ferner S c h i l t e r bei B ü r c k h l e , I S. 334 ff. und v. C r a m e r , Wetzl. Beiträge Teil I, S. 83 ff., der schreibt, dem folgten mit geringen Ausnahmen die Staatsrechtslehrer. Der Landrichter selbst habe entgegen der LGO von 1618 die Akten oft auf Kompulsoriale des RKG herausgegeben (S. 87). Anderer Ansicht sind die pro-österreidiisdie Streitschrift .Information' bei B ü r c k h l e , I S. 360 ff. und — redit unkritisch — B ü r c k h l e selbst in II S. 481 f.

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Appellationsverbote

Die eigentliche Problematik, ob nämlidi die üblichen Rechte des Pfandhalters auch gegenüber dem von einem Landesherrn und territorialen Bezügen unabhängigen kaiserlichen Landgericht in Anspruch genommen werden können, läßt eine andere Lösung nicht zu. Das gilt jedenfalls so lange, als Österreich auch für diese Verfahren seine Exemtion von den Reichsgerichten in Anspruch nimmt. Die Kombination beider Gesichtspunkte verbunden mit der Ausweitung der Zuständigkeit des Gerichtes führt zu einer Perversion dessen, was den Charakter eines kaiserlichen Gerichtes ausmacht. Insgesamt handelt es sich zwar um eine nicht alltägliche, politisch außerordentlich brisante Situation, die dadurch noch verschärft wird, daß in jener Zeit nach der Gründung des RKG der Fortbestand anderer wichtiger Befreiungen, nämlich der der Goldenen Bulle, auch am RKG in Zweifel geraten ist 9 e . Der Anwalt der Appellanten stellt denn auch die Geltung der österreichischen Exemtion überhaupt in Frage 97, der Vertreter der Appellatin erstreckt sie auf alle ,pfandts oder anderer weiß darzu kommen' 9 8 Lande. Die Auseinandersetzung um den Rechtszug bei verpfändetem Gericht wird über den eximierten Pfandschafter Österreich zum Kampf um die Appellation ans RKG. Daran ändert auch das mit dem Strafgebot Karls V. von 1530 verbundene Privileg 99 für alle, auch die nur pfandweise erlangten Gerichte nichts. Es wird von den Ständen als dem gemeinen Nutzen des Reiches und ihren überkommenen Rechten — die der Kaiser in der Wahlkapitulation von 1519 zu schützen versprochen hat — zuwider, nicht anerkannt 10°. Auf die Insinuation der genannten österreichischen Freiheit 1541 reagiert selbst das RKG hinsichtlich des Schwäbischen Landgerichts mit einem vielsagenden, hinhaltenden Schreiben vom 16. August 1543 101, in dem es dem König mitteilt: , . . . Nachdem aber etliche Partheyen von angezeigten Gerichten an das Kayserl. Cammergericht appellirt, und darauf umb Ladung und Proceß supplicirt und angehalten, und dann wir nichts wissen mögen, nodi bey dem Gericht notorium und offenbahr, daß man von solchem Gericht an Ew. Königl. Majestät RegieM ) Vgl. unten S. 94, 133 ff. " ) Vgl. H a r p p r e c h t , I I I S . 216; so auch die spätere offizielle Haltung des Schwäbischen Kreises, vgl. W e g e 1 i η , II S. 350. • 8 ) H a r p p r e c h t , III S. 217. M ) Vgl. oben S. 62, 66 mit Anm. 38, 70 mit Anm. 67. 10 °) Vgl. W e g e l i n , I S. 338 ff. — Das hier vorgebrachte Argument kann nicht auf die anderen oben S. 59 ff. geschilderten Konflikte übertragen werden, da an diesen Reichsstände nicht beteiligt sind. 101 ) Auszugsweise abgedruckt bei W e g e 1 i η , II S. 313, vgl. audi I S. 331.

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Österreich: Landgericht Schwaben

rung gen Ynnsprugg und nidit an das Cammergericht appelirt, und also sich Ew. Königl. Majestät Freyheiten auf soldie Sachen erstrecken, oder nodi darzu an

dem Cammergericht

auch von

alter

in Übung

herkommen,

auf

solcher

appellirenden Partheyen Ansuchen Proceß zu erkennen und ausgehen zu lassen. So haben Ew. Königl. Majestät aus hohem Verstand gnädigst zu

ermessen,

daß uns als Richtern nicht gebühren wollen, solche Proceß abzusdilagen, sondern

daß

wir

auf

der anruffenden

Partheyen

Fürbringen

aus

gegründeten

rechtmäßigen Ursachen, auch schuldigen Pflichten unserer Aempter mit einigem Fueg nicht umgehen könden, ihnen begehrter massen rechtliche H u e l f f mitzuthailen

und berührte

Proceß

ausgehen

zu lassen, dardurch

aber solche

be-

schehene Appellationes an dem Cammergericht nodi zur Zeit nicht angenommen, sondern ist den Appellanten

102

, wie auch Ew. Königl. Majestät oder derselben

Regierung für ihr Interesse ihre Einreden und Exception der Praevention halber fürgenommener Appellation, und ob durch dieselbe die Sache an das Cammergericht erwachsen und daran gehörig, oder gen Ynsprugg remittirt und gewiesen werden sollen, fürzubringen und darüber rechtliche Erkanntnuß zu erwarten, in allweg vorbehalten und zugelassen . . . ' .

Das R K G verwies den König also auf eine im konkreten Fall zu treffende Entscheidung und behielt sich die Anerkennung der Freiheit für das Landgericht vor 1 0 3 . Daß das rechtliche Erkenntnis gegen Österreich und zugunsten der Zuständigkeit des R K G ausgefallen ist, das zeigen nicht nur entsprechende conclusa pieni von 1550 und 1566, ,daß man von Cammergeridits wegen in recipiendis eiusmodi Appellationibus Sc desuper decernendis zu beharren gedenckhe* 1 0 4 ,

es ergibt sich auch aus dem Fortgang des Konfliktes.

) Wohl ein Druckfehler, richtig dürfte es .Appellaten' lauten. ) Wenn L a u f s , S. 2 0 4 mit Anm. 185 die Erklärung des R K G (es handelt sich nur um eine, und zwar von 1543) dahingehend interpretiert, das Gericht habe die Rechtslage ungeklärt und die Zulässigkeitsfrage in der Schwebe gelassen, so könnte dies allenfalls für den Zeitpunkt 1543 gelten. Selbst damals bedeutete das Schreiben angesidits des Voraufgegangenen aber eine klare — wenn audi höflich formulierte — Absage. D e r König wird damit beruhigt, mit dem Erkennen der Appellationsprozesse sei die Appellation j a nodi nicht angenommen — vgl. oben S. 15 f. — und er könne intervenierend seine Einreden vorbringen. Danach werde eine Entscheidung ergehen. Übrigens ist in der Quelle nach dem bei W e g e 1 i η wiedergegebenen Wortlaut nicht, wie L a u f s zitiert, von .Privilegien und Freyheiten de non appellando', sondern von einer .Exception der Praevention halber' die Rede, wobei Prävention wohl untechnisch als .Verhinderung, Zurückweisung' und nicht im technischen Sinne gebraucht ist. Für ein technisches Präventionsverhältnis zwischen R K G und Innsbrucker Kammergericht bestehen 1543 nodi keine Anhaltspunkte. 1 0 4 ) Vgl. Wegelin, I S. 340 f., M e i c h s n e r , I I I S. 935, auch oben S. 60 f. mit Anm. 8, 11, 15. 102 10s

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Appellations verböte

Nach ersten Anläufen ab 1544 105 wandte sich der Schwäbische Kreis verstärkt ab 1556 106 gegen das Landgericht. Es erfolgten Beschwerden, Vorstellungen und Proteste beim RKG, beim Kaiser, bei den vier Malstätten, beim Landgericht, beim Reichstag und bei der Visitationskommission für das Landgericht 107 . Die politischen Gremien verwiesen den Kreis ans RKG 108, dessen Entscheidungen Österreich jedoch nicht hinderten, in seiner Politik fortzufahren. Der Kreis traf nunmehr Maßnahmen auch nach innen, indem er seinen Angehörigen und deren Untertanen verbot, vom Landgericht nach Innsbruck zu appellieren. Sollte es doch einer tun, so war der Appellat gehalten, weder die Ladung anzunehmen noch dort zu erscheinen, nodi den Versäumnisurteilen Folge zu leisten. Die Stände verbanden sidi, Exekutionen nicht anzunehmen und dem Landrichter Vollstreckungshandlungen nicht zu gestatten. Der betroffene Stand sollte sie vielmehr mit Gewalt unterbinden. Die Stände sollten sich ferner nicht durch Druck von außen gefügig machen lassen, sondern sich an den Kreisobersten und die Zugeordneten halten. Gegen die gleichwohl von Kreisangehörigen ,aus vergeß unwissenhait und beredung' nach Innsbruck eingelegten Rechtsmittel verwahren sich die Stände als ihnen unschädlich. Dasselbe gilt so jemand ,sich an das Kayserl. Cammergericht . . . in was gefärbtem Schein das beschehen möcht, verzychen und davon absteen' würde 1 0 9 . Das einzige Ergebnis der ständischen Proteste bestand in einer Visitation des Landgerichts durch eine kaiserliche Kommission 1560 Auf ihrem Bericht beruht die erste LGO von 1562 m , die

105

) Vgl. L a u f s , S. 205. ) Vgl. L a u f s , S. 310 ff. 107 ) Vgl. G u t , S. 70, W e g e l i n , I S. 333 f., II S. 313 ff., M o s e r , 6. B. 2. K., S. 943. loe ) Auf dem Kreistag zu Ulm 1559 sind .diese Beschwerden zu rechtlichem Austrag und Erkandtnuß des Kayserl. Cammergerichts gewiesen worden', vgl. W e g e l i n , II S. 359; daß es jemals zu einem rechtlichen Entscheid des RKG allein und grundsätzlich zur Beilegung dieses Streites zwischen Österreich und dem Kreis gekommen ist, muß bezweifelt werden. 10e ) Vgl. den Kreistagsabschied von Ulm 1559 bei W e g e l i n , II S. 359 ff.; entsprechende Vorgänge hinsichtlich der erstinstanziellen Zuständigkeit des Rottweiler Hofgerichts schildert G r u b e , S. 59. 110 ) Vgl. M o s e r , 6. B. 2. K., S. 944 f., F e i n e , S. 168, G u t , S . 7 , 50, 70 f. ln ) Das Vorwort ist abgedruckt bei B ü r g e r m e i s t e r , Corpus Iuris II, S. 694 f. loe

Österreich: Landgericht Schwaben

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jedoch keine Abhilfe für die ständischen Beschwerden, sondern die Festschreibung der bisherigen Praxis bringt 1 1 2 . In ihr findet sich erstmals die schriftliche Bestätigung dafür, daß es maßgeblich die Person des vom Landvogt bestellten Landrichters 113 war, über die Österreich insbesondere in der Appellationsfrage Einfluß auf das Gericht genommen hat. Der Landrichter hat seinen Eid in die Hand des österreichischen Landvogtes zu leisten, leitet das Verfahren einschließlich der Vollstreckung, während die Urteilssprecher nach deutschem Gerichtsbrauch — bei dem es bis zum Ende des Gerichtes bleibt — das Redit zu finden haben 114. Deshalb ist es nur zu verständlich, daß die LGO 1562 hinsichtlich der Appellation lediglich bestimmt: ,Ain Landt Richter soll allein den Appellationen zu deferiren haben, aber kainer frevenlidier oder muthwilligen Appellation statt geben, und da die Haubtsadien geringfuegig, und nit viel antreffen, dest kürtzere Zeit zur Verfürung derselben Appellation benennen und ansetzen' 115 .

Daran, daß er ans RKG gerichtete Appellationen als frevelhaft und mutwillig anzusehen hatte, bestand kein Zweifel. Die Stände wenden sidh gegen diese Regelung 115 . Die Appellationen sollten, wenn der Landrichter sie nicht annehmen wolle, ,durch die Urthelsprecher... deferirt werden'. Daraus, daß ihnen dies nach der Ordnung nicht gestattet sei, folge, daß Österreich auch hinfort die Reichsgerichtsbarkeit über das Landgericht und die unter ihm sitzenden Stände zu schmälern beabsichtige. Hier schlägt die nach der alten Gerichtsverfassung bestehende prozeßleitende Aufgabe des Richters 117 unmittelbar gegen die Stände aus, indem die Rechtsfrage der Zulässigkeit eines Rechtsmittels zum Ordnungsproblem gemacht wird. Die Urteilssprecher waren nicht in der Lage, ein Gegengewicht zu bilden, wie es bei stärker romanisierten Rechtsvorstellungen der Fall hätte sein können 118. 112 ) Vgl. die zusammenfassende Beurteilung bei M o s e r , 6. B. 2. K., S. 945 und die Protestation der Stände des Schwäbischen Kreises bei W e g e 1 i η , II S. 362 ff. 113 ) Eine Zusammenstellung der Namen und Dienstzeiten der Landrichter von 1360 bis 1802 finden sich bei G u t , S. 40 f. 114 ) Vgl. G u t , S. 39 ff., 51 ff. U5 ) Vgl. W e g e l i n , I S. 341. " · ) Protesterklärung von 1562, vgl. W e g e l i n , II S. 364. 107 ) Vgl. W i e a c k e r , S. 103. 118 ) Am RKG ist audi die befehlende und ordnende Gewalt des deutschrechtlichen Richters zumindest teilweise auf die Senate übergegangen. Als weiteren

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Appellationsverbote

Bestätigt wird die Einflußnahme über den Landrichter, aber auch die Gegenwirkung des RKG dadurch, daß sich der Landriditer 1563 angesichts drohender Strafmandate eine Versicherung seines obersten Herrn zur Schadloshaltung geben ließ 119. Ferdinand I. erteilt sie im Mai 1563 und klagt darinnen, daß viele Appellationen ,durdi Unfleiß und Nadisehen etlicher vorher gewesener Landriditer an das Kayserliche Cammer-Gericht deferirt und daselbst ausgeführt worden'.

Um 1600 muß sich Österreich seiner Position sicherer gewesen sein als noch 1562. Es zögerte nämlich nicht mehr, seine Vorstellungen ausdrücklich in der auf einer Visitation von 1602 120 beruhenden LGO von 1618 121 festzulegen. In Teil I Tit. 8 122 (Von den Procuratoren an den vier Land-Geriditen Eyd, Amt und Besoldung, auch wie jede Parthey ihren Gewalt übergeben mag) steht zu lesen: ,Den Procuratoren soll auch von den am Land-Geridit ausfallenden Urtheilen keine Appellation, dann an Unser und Unserer Nachkommen, Ertzherzogen zu Oesterreich, ungemittelst Cammer-Gerichts Ober-Östreidiischer Landen nach Insprudc zu Erhaltung Unsers Hauß Oesterreichs treffliche Freyheiten zu interponiren, fürzunehmen . . . zu verschaffen, als verursachen, gäntzlich und bei ernstlicher unser großen Ungnade und Straf abgeschafft und verbotten seyn.'

Im 3. Teil Tit. 12 (Von Appellationen) 123 wird schließlich die Appellation ans RKG ausdrücklich verboten: ,§ 1 — Der Punct der Appellationen sten«: allein einem Land-Richter und gar mit nichten den Urthelsprediern Land-Geridits zu, der soll auch keine Appellation an das Kayserliche Cammer-Gericht, sondern allein für einen Regierenden Ertz-Hertzogen zu Österreich und desselben Fürstlich Cammer-Gericht gen Ynspruck als nedisten und immediatum Lands-Fürsten und des Freyen LandGerichts in Schwaben Ober-Richter von gemeinen Rechten, Gebrauchs und des Hauß Oesterreichs sonderlichen wohl hergebraditen Freyheiten, Kayserlichen Erklärungen, Verordnungen und Gebotten wegen, dahin audi solche Appellationes und sonst an kein Ort gehörig, remittiren und weisen. Ansatzpunkt zu einer entsprechenden entwicklungsgeschichtlichen Fragestellung vgl. M. H i n z , Instrument, S. 6. "») Abgedruckt bei W e g e l i n , II S. 319 f. und B ü r c k h l e , II S. 479 ff. 12 °) Vgl. F e i n e , S. 168, G u t , S. 7, 50, 71, W e g e l i n , II S. 371 ff. 121 ) Abgedruckt in C o l l e c t i o quorundam Statutorum, S. 305—416 und B ü r g e r m e i s t e r , Corpus Iuris, II S. 695 ff., vgl. audi M o s e r , 6. B. 2. K., S. 945, 988, Sc h e 1 h a ß , S. 99; F e i η e , S. 168 Anm. 52 meint, die Ordnungen stammten von 1582 und 1618 und seien nur archivalisdi erhalten. Die Protestschrift des Kreises zur LGO von 1618 findet sich bei W e g e l i n , II S. 396. 122 ) C o 11 e c t i ο , S. 321, B ü r g e r m e i s t e r , a.a.O., S. 707. 12S ) C o l l e c t i o , S. 394 ff., B ü r g e r m e i s t e r , a.a.O., S. 759 f., vgl. auch B ü r c k h l e , II S. 477 f., v. C r a m e r , Beiträge I, S. 82 ff., 83.

Österreich: Landgericht Schwaben

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§ 2 — Wir wollen, ordnen und setzen auch, daß ein jeder unser Land-Richter den Partheyen, so von des Schwäbischen Land-Geridits Urtheln an das Kayserliche Cammer-Gericht appelliren, die Acta und Apostolos nicht geben noch mittheilen solle, sondern soll er Land-Riditer, unverhindert solcher angezogenen Cammer-Gerichtlichen Proceßs auff Anruffen des Appellaten, und vorgehendes Citiren des Appellanten, fürter in angefangenen Rechten, was sidi zu thun gebühret, handeln und procediren'.

Diese Gebote stehen unter einer Strafdrohung von 1000 Mark lötigen Goldes 1 2 4 . Trotz der Forderung aller Reichsstände nach Abschaffung der kaiserlichen Landgerichte, der sich der Kaiser seit den Westfälischen Friedensverhandlungen verstärkt gegenübersah 125 , hatte es Ferdinand III. noch im Jahre 1656 gewagt, Kassationsmandate gegen das R K G zu erlassen 12e , weil dieses Appellationen vom Schwäbischen Landgericht angenommen hatte. Die Situation änderte sich aber alsbald nach seinem Tode 1657, als das R K G sich beim jetzt stattfindenden Wahlkonvent erneut über die Appellationsregelung am Landgericht beschwerte 1 2 7 . Bei der allgemeinen Mißstimmung gegen die Landgerichte konnte Kaiser Leopold I. nidit verhindern, daß in seine Wahlkapitulation vom 16. Juli 1658 der folgende Passus aufgenommen wurde: , . . . nächstdem soll jedem Gravierten freistehen, von mehrerwähnten Hof- und Landgerichten entweder ad aulam Caesaream oder an das Kaiserliche Reichskammergericht ohne einige Unsere Widerrede oder Hinderung zu appellieren' 128 .

Mit diesem Zugeständnis, das in die nachfolgenden kaiserlichen Wahlkapitulationen Eingang fand 1 2 9 , war jedoch für das R K G und die schwäbischen Stände nur ein halber Sieg errungen. Die Kaiser ) Vgl. das Ende des 12. Titels, B ü r g e r m e i s t e r , a.a.O., S. 762 f. ) Art. V § 56 Instrumentum Pacis Osnabrugense (Z e u m e r , II S. 414) sieht vor, daß auf dem nächsten Reichstag über die Aufhebung der kaiserlichen Hof- und Landgerichte verhandelt werden soll. Vgl. .Information' bei B ü r c k h l e , I S . 343, W e g e l i n , I S. 363 ff., E i s e n h a r d t , S. 78 f., G r u b e , S. 33, 51 ff., 61 ff., P r a t j e , S. 333 f. 1 2 ') Abgedruckt bei W e g e l i n , I I S. 320 f., vgl. auch Fahnenberg, S. 11 und .Information' bei Β ü r c k h 1 e , I S. 363, 378 ff. m ) S c h e l h a ß , S. 100; zu den gleichzeitigen Beschwerden über Rottweil vgl. G r u b e , S. 65. 1 2 8 ) Art. 18; abgedruckt bei W e g e l i n , I S. 367; vgl. auch S. 343, 345, II S. 467 Nr. 26, B ü r c k h l e , I I S. 482, 633, G r u b e , S. 67, F a h n e n b e r g , S. 11 f., E i s e η h a r d t , S. 78 f., S c h e 1 h a ß , S. 100, v. C r a m e r , Wetzl. Beiträge I, S. 85, M o s e r , 6. Β. 2. Κ., S. 988, oben S. 28 Anm. 13, zu Leopolds I. Kapitulation allgemein Κ 1 e i η h e y e r , S. 94 f. 1 M ) Vgl. die in Anm. 128 Genannten. 124 1M

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dachten weder ernsthaft daran, die Landgerichte zu beseitigen, noch ihre Zuständigkeit zu beschränken. Abstriche von der uneingeschränkten Erklärung der Wahlkapitulation erfolgten bezüglich des Schwäbischen Landgerichtes nach einer mit den betroffenen Ständen 1667 in Altdorf abgehaltenen Konferenz 130. Leopold I. erließ eine Resolution 1S1, die grundsätzlich die Prävention zwischen Speyer und Innsbruck eröffnet, jedoch alle Ehehaftsfälle und Streitigkeiten mit österreichischen Untertanen als Beklagten 132 von dieser Regelung ausnimmt und für Appellationen zum RKG eine Beschwerdesumme von 1000 fl. fordert. Ausgenommen sein sollten ferner alle Streitigkeiten um in Österreich belegene Güter und alle Besitzstreitigkeiten über Güter, unabhängig davon, wo sie gelegen seien. Der Grundsatz der Prävention wirkte sich zum Nachteil der reichsgerichtlichen Zuständigkeit aus, da der schnell handelnde Appellat die Ladung des Innsbrucker Gerichts in der Regel eher zustellen lassen konnte als sein Gegner die des RKG 1SS. m

) Vgl. W e g e l i n , I S. 370 f., II S. 408 ff. ) Abgedruckt in Auszügen bei B ü r c k h l e , II S. 627 ff., W e g e l i n , I S. 344, II S. 423 ff., 438 ff., 441, L u d o l f , Commentario, S. 232 ff., 241 ff. (zu Gravamen 26), vgl. ferner F a h n e n b e r g , S. 11 f. Die Resolution wurde bestätigt von Joseph I. 1690, Karl VI. 1711 und Franz I. 1745 — vgl. G u t , S. 71. 132 ) Zur Auslegung des einschlägigen Teils (zu Gravamen 26) der Resolution vgl. B ü r c k h l e , I I S . 478 ff. Wenn dort allerdings S. 493 die Formulierung, daß dem ,appellirenden beklagten Reichs-Stand' die Appellation alternativ möglich sein soll, dahingehend ausgelegt wird, daß Beklagter gleich Appellant sei, so kann dem nicht gefolgt werden. Beklagter ist der vor dem Landgericht in Anspruch Genommene. Es kann also gegen einen obsiegenden österreichischen Kläger ans RKG appelliert werden. Dagegen können die österreichischen Untertanen nie ans RKG appellieren, gleichgültig in welcher Parteirolle sie auftreten. Die Regelung sollte gewährleisten, daß ein Österreicher das RKG nicht aktiv entgegen der Exemtionsfreiheit anrief und sicherstellen, daß sich ein österreichischer Beklagter nicht zunächst vor dem Landgericht und anschließend vor dem RKG zu verantworten hatte. In den übrigen Fällen — Reichsunmittelbare und deren Untertanen untereinander sowie gegenüber österreichischen Klägern — mußte der Kaiser Zugeständnisse machen. Daß Österreicher hauptsächlich als Kläger auftraten, bezeugt M o s e r , 6. B. 2. K., S. 952: 1667 beschweren sich schwäbische Stände, daß man die im Gerichtsbezirk ansässigen österreichischen Untertanen vom Landgericht eximiere, durch dessen Jurisdiktion somit nur Superiorität über die Stände suche, da diese das Landgericht aktiv gegen die Eximierten nicht gebraudien könnten, es aber passiv gegen sich gebrauchen lassen müßten; vgl. auch W e g e l i n , I S. 270 f. und oben S. 70. 133 ) B ü r c k h l e , I I S . 496 ff. hält diese Regelung für rechtens und vorteilhaft, da einer alsbaldigen Entscheidung förderlich. Er berichtet anhand des Falles Baur/Zeller davon, daß wenn ein Teil an das Reichsgericht appelliere dem anderen 131

Österreich: Landgericht Schwaben

83

Die Differenzen konnten durch eine solche Regelung nicht beigelegt werden 134. Nach weiteren schweren Auseinandersetzungen wegen verschiedener Anmaßungen des Landgerichts 135, in deren Verlauf seine Gerichtsbarkeit 1741 vom Reichsvikariat vorübergehend suspendiert wurde 136 und in denen sogar der R H R gegen es Stellung genommen hat 1 3 7 , wurde das Geridit 1776 durch die oberste Justizstelle zu Wien 138 visitiert. Auf ihrem Bericht beruht die letzte LGO von 1784 139. Wiewohl nun das Landgericht im 18. Jahrhundert bei weitem nicht mehr die Bedeutung früherer Zeiten hatte 1 4 0 , wiewohl auch durch die Bestätigung der kaiserlichen Resolution von 1670 bis 1745 ein erträglicher Zustand eingetreten war, unter dessen Berücksichtigung v. C r a m e r 1 4 1 1763 die Frage, ,Ob die KayserlichSchwäbische Land-Gerichts-Ordnung Part. III Tit. XII pag. 128 annoch in Gebrauch seye?' verneint hatte, sorgte diese neue LGO von 1784, die nach G u t 1 4 2 schon gar nicht mehr zur Anwendung gekommen sein soll, dafür, daß die Streitigkeiten um die Appellation gegen Ende des Reiches noch einmal angefacht wurden. Sie bestimmte nämlich, auf dem Weg der Aushöhlung der Zusicherung der Wahlkapitulationen fortschreitend, daß die Appellation vom Landgericht nur dann ans RKG oder an den R H R gehen dürfe, wenn ,ad impediendam Jurisdictionem Cameralem die Appellationes leichter als sonsten erkennt werden', was im angezogenen Fall zur Zuständigkeit des Innsbrucker Gerichts führte. Vgl. dazu ferner M o s e r , 6. B. 2. K., S. 962, 988, S c h e 1 h a ß , S. 100 f. 134 ) Vgl. die bei Β ü r c k h 1 e , I I S . 627 ff., 741 ff. abgedruckten Einwände der Stände. 135 ) Vgl. W e g e l i n , II S. 446 ff. zu den Verhältnissen im 18. Jahrhundert. 13e ) Vgl. die bei W e g e l i n , I S . 385 f. erwähnten und II S. 488 ff. abgedruckten conclusa des Reidisvikariatshofgerichts vom 20. Juli 1741 und 22. Dezember 1741, vgl. ferner B ü r c k h l e , I S. 339, S c h e l h a ß , S. 101 f. Anm. 23, G u t , S. 27, 37, M o s e r , 6. Β. 2. Κ., S. 969 ff. " ' ) S c h e l h a ß , S. 93 ff., 101. ,3β ) Vgl. F e i n e , S. 168 Anm. 52, G u t , S. 50. 1S ») G u t , S. 50, 71. 140 ) Mit der Einrichtung des RKG und dem Erstarken der territorialen Gewalten verloren die Landgerichte ständig an Bedeutung und führten im 18. Jahrhundert ein glanzloses Dasein — vgl. G u t , S. 27, G r u b e , S. 2, 77 ff. 141 ) In Wetzl. Beiträge Teil I, S. 82—87. — Audi S e n c k e n b e r g , Kayserl. Gerichtsbarkeit, S. 99 schreibt ohne Bedenken, daß Appellationen vom Schwäbischen Landgericht an RKG und R H R gingen. Sein Werk erschien 1760, also in jener ,ruhigen Zeit' zwischen 1670 und 1784. 142 ) S. 50.

84

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weder ein österreichischer Stand noch ein österreichischer Untertan am Prozeß b e t e i l i g t sei und die Streitsache auch nicht in österreichischem Gebiet liege 143. Danach hätten Auswärtige in Rechtsstreitigkeiten mit Österreichern ihre letzte Instanz stets in Innsbruck gehabt. So kam es, daß sich selbst 1795 noch S c h e 1 h a ß 144 ausführlich mit dem „reichsverfassungswidrigen Verbot" auseinandersetzte. Für ihn ergibt sich die Rechtswidrigkeit des österreichischen Vorgehens daraus, daß die Appellation infolge der Unterordnung der Land- unter die Reichsgerichte nur an diese gehen könne 145 . Er berichtet auch, daß noch 1790 Beschwerden von Mitgliedern des Schwäbischen Reichskreises auf dem allgemeinen Reichskonvent vorgebracht worden seien 14e . 1802 schließlich wurde das kaiserliche Landgericht auf der Leutkircher Heide und in der Pirs in ein bayerisches Landgericht umgewandelt 147. So endet um das Jahr 1800 eine für den Kampf um die Appellation zum RKG zwar atypische 148, aber gerade deshalb nicht minder aufschlußreiche Konfrontation. Nicht dem Ausbau und der Verfestigung eines bereits bestehenden Territorialstaates dient der Angriff. Vielmehr erfolgt er im Interesse einer territorialen Erwerbspolitik. Er richtet sich deshalb auch nicht gegen die eigenen Untertanen und Landstände, sondern sucht, die Beziehung von Reichsständen zum Reich aufzulockern, ihre Unmittelbarkeit zu untergraben. Zwar ist die Gerichtshoheit nicht identisch mit der Landeshoheit, doch hat derjenige bereits ,einen Schimmer' von der Landeshoheit 149 , der die 143

) Vgl. G u t , S. 71, S c h e l h a ß ,

i«) 145

S-

S. 101.

99—104.

) S. 99, 101. ) S. 101 Anm. 21, 103 f. — Der von ihm S. 101 ff. geschilderte Rechtsstreit betrifft keine Appellationsverhältnisse. l " ) Vgl. G u t , S. 27 Anm. 75. 14e ) Vergleichbare Konflikte hat es offenbar nicht gegeben. Die Besonderheiten des Falles liegen in der Stellung und der Politik des eximierten Pfandhalters Österreich. Vgl. auch oben Anm. 47. Hätte Österreich seine Absichten im südwestdeutschen Raum weitergehend verwirklichen können, so wäre das Rottweiler Hofgeridit audi hinsichtlich der Appellation in entsprechende Verhältnisse verstrickt worden wie das Schwäbische Landgericht, vgl. oben Anm. 22. Die Tatsache, daß das Hofgericht selbst hin und wieder zur Erhaltung seines Ansehens versuchte, Appellationen ans RKG zu hintertreiben — vgl. G r u b e , S. 39, 66, H a r p p r e c h t , V S . 251 f. —, ist für den hier behandelten machtpolitischen Gegensatz zwischen Reich und Ständen wenig relevant. " · ) Vgl. oben S. 9 Anm. 27. 14e

Österreich: Landgericht Schwaben

85

letzte Instanz eines Territoriums kontrolliert. Beide Stoßrichtungen des Appellationsverbotes haben als entscheidenden gemeinsamen Hintergrund die Beeinträchtigung der Rechte von Kaiser, Reich und Reichsgericht zur Folge. Uber die Beurteilung der zwischen einem mächtigen, vom Kaiser unterstützten Territorium einerseits und einer Anzahl in einem Reichskreis zusammengefaßten kleineren Reichsständen und dem R K G andererseits bestehenden Machtverhältnisse hinaus bietet der geschilderte Konflikt Anhaltspunkte für Vergleichs- und Beurteilungskriterien hinsichtlich der Auseinandersetzungen innerhalb eines Territoriums. Beginnt man bei der Beurteilung der Wirksamkeit der österreichischen Maßnahmen mit den Details, so ergibt sich das übliche Bild, daß nur in wenigen der einschlägigen Prozesse eine den Streit beendende Entscheidung des R K G nachgewiesen werden kann 1 5 0 . Im übrigen wurden alle die Mittel eingesetzt, die im Kampf zwischen Ober- und Untergericht um die Appellation zu erwarten sind. Zu den bereits dargestellten Vorkommnissen sei ergänzend erwähnt, daß der Landrichter Parteien, die ans R K G appellierten, in die Acht erklärte, daß andererseits das R K G Inhibitionen drucken, publizieren, allen Reichsständen zustellen ließ und ihnen bei der Acht gebot, dem Landrichter bei seinen Vollstreckungsversuchen keine Hilfe zu leisten 151 .

1 5 0 ) Die Akten im Falle Hover und Eglin/Glatthaar schließen nach H a r ρ ρ r e c h t , II S. 59, 219 mit der Duplik 1512. Ob eine abschließende Entscheidung oder audi ein Annahmeurteil nicht ergangen sind oder ob Harpprecht sie nicht der Mitteilung für wert erachtete, muß hier offen bleiben. Möglicherweise kannte er sie selbst nicht. In dem bei M e i c h s η e r , I I I S. 933 ff. — vgl. oben S. 60 Anm. 8 — abgedruckten Fall ergeht am 26. Oktober 1584 eine sententia definitiva (S. 946), die sowohl die Annahme der Nullitätsklage als auch die Kassation der nichtigen Entscheidung ausspridit. Im Fall Keck/Hasenweiler — vgl. oben S. 60 Anm. 8 — wird der österreidiisdie Einspruch zurückgewiesen und nach sachlicher Erörterung der Rechtslage in Voten auf geschärfte Kompulsoriale erkannt. Im übrigen sprechen die conclusa pieni von 1550 und 1566 dafür, daß Endurteile nicht an der Zuständigkeitsfrage gescheitert sind. 1 5 1 ) Zu diesen Details der Auseinandersetzung vgl. M o s e r , 6. B. 2. K., S. 987 f., W e g e l i n , I S . 340 f., II S. 313, B ü r c k h l e , I S. 381ff., II S. 478 f., F a h n e n b e r g , S. 7 ff., 51, L a u f s , S. 311.

86

Appellationsverbote

Bei der Potenz sowohl Österreichs als auch des Schwäbischen Kreises kann nicht davon ausgegangen werden, daß Urteile des R K G bzw. des Landgerichtes oder des Innsbrucker Kammergerichts im Machtbereich des jeweiligen Gegners vollstreckt worden wären. Anhaltspunkte dafür, daß eine der Parteien über längere Zeit ernsthaft versucht hätte, von ihr anerkannte Urteile im Gebiet des Gegners oder unter Zugriff auf Güter des Gegners oder seiner Untertanen zu vollstrecken, sind nicht bekannt. Auf dieser Ebene kann die Beurteilung der Wirksamkeit des österreichischen Vorgehens nicht ansetzen. Die Appellationen vom Landgericht ans R K G waren nicht zu unterbinden. Das zeigt die Anzahl der geführten Prozesse und wird von Österreich — etwa in der Schadloserklärung für den Landrichter — auch nicht bestritten. Der Ausgang des Streites zugunsten der einen oder anderen Partei kann nicht an Details, sondern nur an der politischen Zielsetzung, mit der er geführt wurde, gemessen werden. Damit fließt selbstverständlich eine ganze Anzahl anderer politischer Faktoren mit in die Wertung ein, zu denen hier nichts gesagt werden kann. Auszugehen ist von der Zielsetzung Österreichs, das Landgericht als eines der Mittel zu handhaben, mit denen es seine Stellung im schwäbischen Gebiet verstärken und dort ein zusammenhängendes, möglichst umfassendes österreichisches Territorium schaffen wollte. Dieses Ziel hat es insgesamt nicht erreicht. Soweit das Landgericht eingesetzt wurde, erwies es sich zwar als eine gefährliche, im Ergebnis aber gleichwohl nicht durchschlagende Waffe. Die schwäbischen Stände sahen gerade die Appellationsauseinandersetzung als eine Lebensfrage an und betrieben die Abwehr des Angriffes mit Erfolg 1 5 2 . Politisch und rechtlich wurden sie unterstützt vom R K G und anderen Reichsständen, die dem eximierten Österreich die Sonderstellung neideten 1 5 3 und die Ubergriffe der kaiserlichen Landgerichte gemeinsam bekämpften. Insbesondere seit dem Westfälischen Frieden mußte Österreich unter dem Drude des allgemeinen Unwillens gegenüber den Landgerichten audi hinsichtlich des Schwäbischen Landgerichtes weitgehende Zugeständ1 5 2 ) Der Schwäbische Reichskreis ist unbestritten als der bestfunktionierende Kreis überhaupt anerkannt, vgl. G r u b e , S. 38, 59, L a u f s , S. 3 f., 459 f., B a d e r , Südwesten, S. 55 ff., 191 ff., 196. 1 5 3 ) Vgl. hierzu etwa L h o t s k γ , S. 5 ff., S e 11 e r t , S. 35 f., 40 mit Nachweisen einschlägiger Anfeindungen bis ins 18. Jahrhundert, auch Μ o h l , II S. 322 ff.

Sachsen und Brandenburg — Goldene Bulle

87

nisse machen. Spätestens seit dieser Zeit hat die Appellationsfrage ihre frühere Schärfe verloren. Bei dem gleichzeitigen Rückgang der Bedeutung des Gerichtes blieb sie trotz der ungünstigen Präventionsregelung nicht mehr lebensbedrohend. Den in der Literatur 154 bislang zu findenden Beurteilungen der Wirksamkeit der auf das Landgericht in Schwaben bezogenen Maßnahmen kann — insbesondere was das Appellationsverbot betrifft — somit nur unter Vorbehalt gefolgt werden, da sie teils zu hohe Anforderungen an den „Erfolg" der Gegenwehr stellen, teils von unzureichender Grundlage her getroffen sind. II.

Kurstaaten

1. S a c h s e n ( b i s 1 5 5 9 ) u n d B r a n d e n b u r g ( b i s 1 5 8 6 ) — F o r t g e l t u n g des A p p e l l a t i o n s p r i v i legs der Goldenen Bulle Die bedeutendsten unter den vor der Errichtung des RKG erteilten Appellationsprivilegien sind die in der Goldenen Bulle von 1356 enthaltenen Befreiungen der Kurfürsten 15S . Ihretwegen kam es alsbald nach 1495 zu Auseinandersetzungen des Reichsgerichts mit Brandenburg und Sachsen 156 . Auch im 17. und 18. Jahrhundert ist die Frage der Fortgeltung dieser Freiheiten in Streitigkeiten des Reiches mit Köln, Mainz und Trier rechtlich ungeklärt geblieben 157 und durch politische Arrangements in der Schwebe gehalten worden 158 . 154 ) G ö n n e r - M i l l e r , S. 672: „Die Gegenmaßnahmen der schwäbischen Stände gegen die österreichische Politik in Oberschwaben blieben ergebnislos". L a u f s , S. 205 : „Territorialpolitisches Ziel der Innsbrucker Regierung war und blieb die Arrondierung und Ausweitung der „zusammengestückten" Landeshoheit unter dem Rechtstitel landgerichtlicher Befugnisse. Der Kreis suchte dieser Politik — freilich mit nur begrenztem Erfolg — Widerstand zu leisten." Vgl. ferner S e 11 e r t , S. 28 f. und dazu oben S. 66 Anm. 40. 155 ) Kapitel VIII und X I (Text: Ζ e u m e r , I S. 192 ff., K o n r a d Müller, S. 47 ff., 53 ff.). ΐ5β) Wenn F e 11 e r , S. 59 f. — wohl im Anschluß an S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g , S. 934 und H ä r t u n g , Verfassungsgeschichte, S. 41 — meint, alle Kurfürsten hätten seit dem Bestehen des RKG an ihren Appellationsprivilegien aus der Goldenen Bulle festgehalten, so kann dies für die rheinischen Kurfürsten nur dem theoretischen Anspruch nach gelten. In praxi ist ohne Auseinandersetzungen appelliert worden. 157 ) Vgl. E i s e n h a r d t , insbesondere S. 94. 158 ) Vgl. die Formulierungen der Anträge und der Privilegienbriefe der Verleihungen an Trier 1562, Brandenburg 1586, Köln 1653 und erneut Trier 1721 bei E i s e η h a r d t , S. 85—92.

88

Appellationsverbote

Für Brandenburg sind rund ein Dutzend Prozesse bekannt, in denen — beginnend mit dem Jahre 1508 — bis zur Erteilung eines neuen, der Freiheit der Goldenen Bulle grundsätzlich 159 entsprechenden, unbeschränkten Privilegs 15 86 160 sich die Meinungsverschiedenheiten über den Fortbestand der Befreiung von der Appellation niederschlagen. Sie sind von S m e η d einzeln untersucht und knapp skizzierend dargestellt worden 1 β 1 . Er kommt zu dem Ergebnis, daß in keiner dieser Appellationssachen ein Urteil ergangen zu sein scheint 1β2 . Die Sicherung seiner Rechte betrieb Brandenburg mit Protesten beim Kaiser und beim Reichstag, mit Gesuchen an die Mitkurfürsten um Verwendung beim Kaiser, mit Bitten und Beschwerden ans R K G und an den Kammerrichter, mit Verwahrungen der brandenburgischen Assessoren beim Amtsantritt und mit der Drohung, die Unterhaltsbeiträge für das Gericht vollends zu sperren. Gleichwohl wurde appelliert, gleichwohl erließ das R K G Inhibitionen und Kompulsorialbriefe. Brandenburg gab die Akten nicht heraus, nahm die Appellanten — hin und wieder auch deren Verwandte — in H a f t und ließ sie Urfehde schwören, von den Appellationen Abstand zu nehmen. Das R K G erließ mandata de relaxando captivo und entband die Betroffenen von der geleisteten Urfehde, um ihnen die Prozeßführung möglich zu machen. Die rechtlichen Argumente im Streite sind insbesondere in den Interventionsschriften der einschlägigen Prozesse dargelegt. Zu ihnen gehört auch der Hinweis auf die wohlge-

159 ) Während sich die Freiheiten der Goldenen Bulle nach dem Verständnis der Zeit vor 1495 nur auf die kurfürstlichen Untertanen bezogen, untersagt das neue Privileg alle Appellationen von brandenburgischen Gerichten an die Reichsgerichte, vgl. S m e η d , S. 62, Br.-Pr. S. 165, 170, Ρ e r e 1 s , S. 26 ff., 31 f., Eberhard Schmidt, Rechtsentwicklung, S. 19, B r o ß , S. 22, a. A. E i s e n h a r d t , S. 84 mit Anm. 29. Diese Beschränkung folgt entgegen E i s e n h a r d t audi aus dem Wortlaut der Befreiungen, die stets aufzählen, wer — nämlidi kurfürstliche Untertanen aller Art — nicht appellieren dürfe. Sie ist aber vornehmlich Ausdruck des Verständnisses der Appellationsprivilegien als eines Teiles der den Kurfürsten zukommenden Immunität/Exemtion, wie dies S m e η d , S. 62 völlig zutreffend darlegt. Eindeutig belegt wird die hier vertretene Auffassung durch eine Entscheidung des K K G aus dem Jahre 1451, vgl. F r a n k l i n , K K G , S. 57 f. Vgl. dazu ferner unten S. 117 ff., 126 ff., 150, 334, 345. 1β0 ) Abgedruckt im C J C Anhang, S. 49 ff., ferner bei Ρ e r e 1 s , S. 129 ff. 1β1 ) Br.-Pr. S. 163 ff., vgl. audi Ρ e r e 1 s , S. 24 ff., S t ö 1 ζ e 1, II S. 595 ff., K G O S. 159 f. 1 M ) Br.-Pr. S. 163 mit Anm. 1, 168, R K G S. 62, vgl. auch S t ö 1 ζ e 1, KGO, S. 160

Sachsen und Brandenburg — Goldene Bulle

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ordnete Rechtspflege innerhalb des Landes, die eine Appellation ans RKG überflüssig erscheinen lasse 163. Mit denselben Mitteln ging — teilweise in abgesprochenem Zusammenwirken mit Brandenburg 164 — Sachsen gegen Appellationen von seinen Obergerichten vor. Zwar hatte sich der Kurfürst bereits 1495 seine Freiheiten gegenüber dem neuen Gericht gesondert bestätigen lassen 165 und 1503 sowohl die persönliche Unterwerfung als auch die der Landsassen des sächsischen Hauses unter das neue Gericht aufgesagt 1ββ, auch waren diese Rechte vom Kaiser 1505 167 und schließlich in dem oft zitierten Schreiben Maximilians vom 19. Februar 1512, daß die jVerwilligung der gemelten Ordnung des Cammer-Gerichts halb seiner Lieb und dem hauß Sachsen an Iren freyheiten, geprauch unnd herkommen unvergreiflidi und unsdiedlidi sein soll' 1 β β ,

bestätigt worden, doch erkannte das RKG bis zum unbeschränkten Privileg von 1559 169 gleichwohl Appellationsprozesse. Allerdings gehen gerade in Sachsen die Auseinandersetzungen um die Appellation zum RKG nicht ausschließlich auf die Frage der Fortgeltung der Goldenen Bulle zurück. Sie sind vielmehr — wie schon die Namen der zum RKG appellierenden Parteien in einigen Fällen anzeigen 170 — auch Bestandteil des Kampfes des Hauses Sachsen gegen die Selbständigkeit der mitteldeutschen Bischöfe, Stifter und Dynasten, der nach außen in der seit 1508 anhaltenden Auseinandersetzung Sachsens mit dem Reich über die den Bischöfen und Dynasten unmittelbar abgeforderten Reichsanschläge für Regiment und Reichs-

"») Vgl. S t ö 1 ζ e 1, KGO, S. 160, S m e η d , Br.-Pr, S. 170 Anm. 1 ; zu den innerterritorialen Verhältnissen vgl. unten S. 137 ff. 1M ) Vgl. S m e η d , Br.-Pr. S. 164 f., 169 f., S t ö 1 ζ e 1, II S. 596. U5 ) Nadi G ü n t h e r , S. 32, möglicherweise identisch mit den von S m e η d , S. 55 f. geschilderten Vorgängen. 1β ·) Vgl. S m e η d , S. 57. 1β ') Vgl. G ü n t h e r , S. 35. 1ββ ) So nach G ü n t h e r , Beilage No. 8, S. 110 f.; abgedruckt ferner im CJC Anhang, S. 42 f., vgl. audi G ü n t h e r , Beilage No. 9 und S t ö 1 ζ e 1, II S. 513, M o s e r , 4. Β. 8. Κ., S. 611, S c h w a n z , S. 130, H e l l f e l d , S. 105. 1ββ ) Abgedruckt im CJC Anhang, S. 33 ff. (36). 170 ) Zu nennen sind hier insbesondere die Grafen von Mansfeld und die von Stolberg, die sich auch im Kampf um die Freiheit der Harzgrafen hervortaten, vgl. G o e r l i t z , S. 245, sowie die Herren von Schönburg, vgl. S c h l e s i n g e r , S. 138f., 142 ff.

90

Appellationsverbote

gericht seinen Niederschlag findet m . Bei der inneren Auseinandersetzung ging es den betroffenen Ständen in judizieller Hinsicht insbesondere um die Freiheit vom sächsischen Oberhof und die Zulässigkeit der Appellation ans R K G . Vornehmlich in den Jahren 1542 bis 1557 kämpften die Grafen in dieser Angelegenheit gemeinsam 1 7 2 . Danach zersplittert die Front. Gleichwohl konnte Sachsen in einigen Fällen erst nach dem Westfälischen Frieden eine Regelung zu seinen Gunsten durchsetzen 1 7 3 . Vornehmlich die Besitzverhältnisse der Grafen sind zu verwickelt, um hier klären zu können, welche Appellationen mit welcher Berechtigung nicht auf die Privilegienfrage, sondern auf die Reichsunmittelbarkeit gestützt worden sind 1 7 4 . Die erste streitige Appellationssache aus Sachsen stammt offenbar aus dem Jahre 1525, weitere folgten unter anderem 1542, 1549, 1553 und 1556 1 7 5 . Das unmittelbare Vorspiel zum Privileg von 1559 beginnt mit der Appellation des Peter von Heimbach im Prozeß gegen Hieronymus Zinsern 1549 1 7 6 . Schon Kurfürst Moritz hatte in dieser Sache beim R K G interveniert und um Zurückweisung gebeten 1 7 7 . Sie war danach liegengeblieben, möglicherweise deshalb, weil der Kaiser das Gericht 1553 zur genaueren Beachtung der sächsischen Freiheiten aufgefordert hatte 1 7 8 . Als Heimbach angesichts der mittlerweile von anderen eingelegten Appellationen alsbald nach Regierungsantritt von Kurfürst August seinen Prozeß weiterführen wollte 1 7 9 , ließ der Kurfürst sich von seinen Räten und auch von den

m ) Vgl. etwa H a r p p r e c h t , III S. 33, 178 ff. und G ü n t h e r , S. 34 f., der als sächsischer Rat den Aspekt der Reichsunmittelbarkeit möglichst wenig ins Blickfeld rückt, ferner Β 1 o e m , S. 60. " η Vgl. S c h l e s i n g e r , S. 138. 1 7 3 ) So für das Stift Meissen, vgl. S c h u l t z e , S. 10, 13. 1 7 4 ) Vgl. insgesamt S c h l e s i n g e r , S. 138 ff., G o e r l i t z , S. 237 ff., S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g , S. 932 mit Anm. 7. — Auch für Brandenburg läßt sich nicht ausschließen, daß der eine oder andere Prozeß aus dem Kampf der Landesherrsdiaft gegen den Adel zu erklären ist, vgl. hierzu S m e η d , Br.-Pr. S. 165 f. mit Anm. 1, S. 166, S. 168 in bezug auf die von den Geschlechtern der v. Borke und v. Bredow eingelegten Appellationen. 1 7 5 ) Zu den einzelnen Verfahren vgl. G ü n t h e r , S. 40 ff. mit Dokumenten zu den ständigen Verwahrungen Sachsens in den Beilagen, S t ö 1 ζ e 1, II S. 513 f., S m e η d , Br.-Pr. S. 169 f. 1 7 β ) Vgl. G ü n t h e r , S. 41 f., S t ö 1 ζ e 1, II S. 513 f. 1 7 7 ) Der Schriftsatz ist abgedruckt bei G ü n t h e r , Beilage No. 14, S. 120 f. 1 7 β ) Das Reskript ist abgedruckt bei G ü n t h e r , S. 136 f., vgl. auch H e l l f e l d , S. 105, S t ö l z e l , II S. 513 f. 1 7 e ) Vgl. G ü η t h e r , S. 43.

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Kammergerichtsprokuratoren 180 berichten und betrieb danach verstärkt die Sicherung der sächsischen Rechte. Auch die sächsischen Herzöge, Johann Friedrich des Großmütigen Söhne, trafen Maßnahmen. Sie drohten 1556 in einer Polizei- und Landesordnung den appellierenden Parteien ,den Verlust ihrer Lehn- und Erbgüter oder in Mangel derselben Leibesstrafe' 181 an. Das RKG fuhr trotz eines erneuten Reskripts des Kaisers 182 zugunsten der sächsischen Freiheiten mit seinen Beeinträchtigungen fort 1 8 3 . Allerdings ist nach S m e η d 184 auch hier keine Entscheidung zu Lasten Sachsens ergangen. Daß sich Brandenburg und Sachsen 1559 beziehungsweise 1586 gegen die zugunsten des Reiches wirkenden Kräfte durchgesetzt haben und auch in den Jahren zuvor ihre Positionen — nicht nur was das Unterbleiben von Vollstreckungen angeht, sondern auch was den Mangel einer judiziellen Stellungnahme des RKG gegen ihre Rechte betrifft — behaupten konnten, unterliegt keinem Zweifel. Die Wertung dieser Geschehnisse setzt jedoch eine zumindest in ihren Ansätzen zutreffende Klärung der mit der Fortgeltung der Appellationsfreiheiten der Goldenen Bulle unter dem RKG verbundenen Rechtsfragen voraus. Das königliche Hofgericht und das Kammergericht sind nach allgemein anerkannter Beurteilung auch deshalb nicht zur erwünschten Wirksamkeit gekommen, weil zu viele Stände privilegiert waren 185. Sollten die Reformen von 1495 einen neuen Anfang bringen, so mußten sie sinnvollerweise darauf abstellen, die die Zuständigkeit des 180

) Unter den einkommenden Berichten der für Sachsen in Speyer Tätigen findet sich auch der des Prokurators Lic. Johann Helfmann vom 22. Januar 1554, daß zwar von den vier Kurfürsten am Rhein, nicht aber aus Brandenburg und Sachsen appelliert werde ,und wenn dies gesdiähe würden die Appellationen zum höchsten gefochten' — vgl. G ü n t h e r , S. 44 Anm. 30, S m e η d , S. 60, ders., Br.-Pr. S. 169. 181 ) Der einschlägige Art. XII ist abgedruckt bei H e 11 f e 1 d , S. 107 Anm. 9, vgl. audi G ü n t h e r , S. 45, S t ö l z e l , II S. 513 f. 182 ) In der Sache Albrecht von Mansfeld/Grafen von Stolberg 1556; abgedrudtt bei G ü n t h e r , S. 145 ff. 18s ) Vgl. Protestationssdirift des Kurfürsten August in der Mansfeldschen Sadie 1557 bei G ü n t h e r , S. 149 ff., ferner G ü n t h e r , S. 48, S t ö l z e l , I I S . 514, H e l l f e l d , S. 107 f. I8< ) S. 61 f. 185 ) Vgl. H a r p p r e c h t , I S. 54, F r a n k l i n , R H G I, S. 346 ff., II S. 6 ff., 11, M o l i t o r , S. 11 ff., S e e l i g e r , S. 115, Spangenberg, S. 277 ff., T o m a s c h e k , S. 561 f., 605 ff., G r u b e , S. 16, der zutreffend von einer Lähmung durdi ,Exemtionen' spricht.

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neuen Gerichtes beschränkenden Freiheiten der Stände auszuräumen. Aus dieser Überlegung heraus ist in der Literatur 186 und auch in der Praxis 187 im Laufe der Jahrhunderte immer wieder und bis in die jüngste Zeit mit den verschiedensten Begründungsversuchen die Beseitigung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle mit den Reformen von 1495 in Verbindung gebracht worden. Die wesentlichen der vorgetragenen Argumente gehen dahin: mit der Errichtung des RKG sei eine völlig neue Situation eingetreten, die die Anwendbarkeit der alten Privilegien ausgeschlossen habe 188, auf die Freiheiten sei Verzicht geleistet worden 189 , ihr Wegfall folge aus dem Übergang von der Urteilsschelte zur Appellation 190 , sie seien als Folge der Nichtausübung (usus contrarius) erloschen 191 . Während die ältere Literatur oft einen dieser Gründe als für alle Kurstaaten geltend behandelte 192 , haben sich S t ö 1 ζ e 1193 ,

19β ) Vgl. etwa S c h i c k , S. 58 ff., G ü n t h e r , Vorrede, S. 3, S. 26 ff., L u d e w i g , II S. 39 (Zusammenstellung zum Streitstand im 17. und 18. Jahrhundert zu Kurpfalz), v. G ö η η e r , III S. 21, S e 11 e r t , S. 23 bezüglich der österreichischen Exemtion, S. 37 hinsichtlich der Appellationsfreiheiten der Goldenen Bulle, P o e t s c h , S. 39, v. M o h l , II S. 320, T h u d i c h u m , RKG, S. 207, vgl. auch oben S. 59 ff. Anm. 6, 10. 187

) RHR-Gutaditen vom 30.6.1786 anläßlidi der Errichtung eines Oberappellationsgerichts in Köln, vgl. E i s e η h a r d t , S. 91 ff., anders noch ein Gutachten vom 23. April 1653 aus Anlaß des Kölner Appellationsprivilegs von diesem Jahre, vgl. M o s e r , 1. B. 6. K., S. 190 ff., E i s e n h a r d t , S. 87 ff., unrichtig in der Beurteilung Ρ e r e 1 s , S. 24 f. 1ββ ) So etwa S c h i c k , S. 58, RHR-Gutachten 1786 nach E i s e n h a r d t , S. 84, 92, Β r o ß , S. 22. 18i ) Vgl. S c h e l h a ß , S. 240 f., G ü n t h e r , a . a . O . , T h . Knapp, S. 80 mit Anm. 5, S. 90 Anm. 1 a. E. S m e η d , S. 62 Anm. 7 bezeichnet diese Ansicht als die in der älteren Literatur vorherrschende. Dabei wird der Verzicht teils aus der Nichtausübung des Rechtes gefolgert — R o d i η g , S. 365 f., 402, F a b r i c i u s , S. 733 — teils als ausdrückliche Erklärung verstanden, vgl. bei E i s e η h a r d t , S. 84 Anm. 30. 19 °) So insbesondere S t ö l z e l , II S. 116, 137, vgl. auch B u e h d a , H R G I, Sp. 200, Β r o ß , S. 21 ff. m ) Vgl. S m e η d , S. 59 ff., Β r o ß , S. 22. 1β2 ) Eine gewisse Ausnahmestellung hat stets Sachsen eingenommen, für das die Fortgeltung der Goldenen Bulle — abgesehen von einer Kontroverse zwischen G ü n t h e r und S p i t t l e r im 18. Jahrhundert, vgl. dazu S m e n d , S. 60 Anm. 3 — nie ernsthaft in der Literatur bestritten worden ist. Vgl. dazu auch L u d e w i g , II S. 40 f., S c h i c k , S. 61, P e r e i s , S. 24 f., H e l l f e l d , S. 99, v. G ö n n e r , III S. 21. "») II S. 115 f., 137 f.

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93

S m e η d 194 , Ρ e r e 1 s 195, Eisenhardt196 und neuestens 197 Β ro ß differenzierend geäußert. S m e η d hat sich mit der Frage der Fortgeltung der Freiheiten der Goldenen Bulle recht ausgiebig auseinandergesetzt. Sein Ergebnis verdient Zustimmung. Dies gilt, obwohl seine Begründung sich darin erschöpft nachzuweisen, daß ein ausdrücklicher Verzicht der Kurfürsten nicht erfolgt sei. Im übrigen stützt er sich allein auf den Wortlaut einer Vorschrift (RKGO 1495 § 31), ohne die in der Bedeutung und Entwicklung der Appellationsprivilegien liegenden Grundlagen aufzudecken. Die größeren Zusammenhänge werden nur angedeutet, die Argumentation bleibt letztlich zu vordergründig 198. S m e η d ist der Ansicht, daß die Appellationsprivilegien nach der in der RKGO 1495 enthaltenen salvatorischen Klausel ,Item, mit disen Ordnungen und Satzungen sol sunst niemand sein Oberkait, Privilegia, Freyhait benomen und abgesdiniten, sonder vorbehalten sein . . 1 9 9

unberührt geblieben seien 20°. Den Streit um ihren Fortbestand führt er zutreffend darauf zurück, daß die Freiheiten in den vier rheinischen Kurfürstentümern abweichend von der Übung in Brandenburg

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) S. 59 ff., ders., Br.-Pr, S. 162 ff. ) S. 24 f. 1M ) S. 79, 81, 93 f. 187 ) S. 21 ff. 1,e ) Vgl. die von B r o ß , S. 23 geübte Kritik. Freilich kann — entgegen B r o ß — die Lösung aus dieser einen Bestimmung der R K G O 1495 hergeleitet werden. Man muß sie dann jedodi zutreffend interpretieren, insbesondere das ihr zugrundeliegende Privilegienverständnis aufzeigen. Dies tut S m e η d nicht ausreichend. Aber auch B r o ß wird dieser Forderung nicht gerecht. 18e ) Abgedruckt bei Z e u m e r , II S. 291 als § 31, im C J C S. 6 als § 4 des XXVI. Titels. Die Klausel wird auf Drängen Sachsens und Brandenburgs audi in die R K G O 1555 II Tit. 28 § 1 (NSRA Bd. III, S. 103) aufgenommen, vgl. G ü n t h e r , S. 44, S c h i c k , S. 64, R o e n n b e r g , S. 144, S c h w a r t z , S. 130. 20 °) Damit spricht er sich implicite für den Fortbestand a l l e r Appellationsprivilegien aus. N u r aus anderen Gründen als der 1495 getroffenen Regelung können sie hinfällig geworden sein, so auch H ä r t u n g , Reichsreform, S. 193. Wie S m e η d für den Fortbestand der sächsischen u n d brandenburgischen Rechte G ü n t h e r , S. 28 ff., F ö r s t e m a n n , S. 5 ff., S c h o t t e , S. 41, P e r e l s , S. 24 ff., E i s e n h a r d t , S. 79 mit Anm. 17, nach anfänglich gegenteiliger Auffassung in KGO, S. 159 audi S t ö 1 ζ e 1, II S. 595 ff. Zu dem Umstand, daß gleichwohl Appellationsprozesse gegen die privilegierten Lande ergangen sind, vgl. oben S. 15 ff. 195

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Appellationsverbote

und Sachsen 201 bereits im Laufe des 15. Jahrhunderts gegenüber den Reidisgerichten nicht mehr in Gebrauch gewesen seien 202 . Sie hätten deshalb von Mainz, Köln, Trier und Kurpfalz auch gegenüber dem RKG nicht behauptet werden können. Dieser Umstand habe nun brandenburgische und sächsische Untertanen bewogen, die Unanwendbarkeit der Rechte der Goldenen Bulle auch für die Entscheidungen ihrer Gerichte zu vertreten 20S. Am RKG und audi am kaiserlichen Hofe habe angesichts dieser Sachlage Zweifel am Fortbestand der Rechte Brandenburgs und Sachsens bestanden 204 . Die mit dem Jahre 1495 eintretende Veränderung in der Gerichtsverfassung des Reiches steht der Fortgeltung der bereits verliehenen Privilegien nicht eo ipso entgegen. Zwar ist die Ansicht S m e η d s 205 , es handle sich bei der Errichtung des RKG „um einen Abschnitt in einer lediglich behördengeschichtlich-technischen, nicht verfassungsrechtlich zu verstehenden Entwicklung" mit durchschlagenden Argumenten in Frage gestellt worden 206 , doch betrifft die insbesondere von A n g e r m e i e r 207 unter dem Gesichtspunkt der Sicherung 201

) Zum Verhältnis Sachsens zur Reidisjustiz im 15. Jahrhundert vgl. H e l l f e 1 d , S. 97 ff., S m e η d , S. 59 mit Anm. 3, zu den Verhältnissen in Brandenburg vgl. L u d e w i g , II S. 45 ff., T o m a s c h e k , S. 534, S m e η d , S. 59 ff. und Br.-Pr. S. 162 f. Die von S t ö l z e l in KGO, S. 158 ff. im Anschluß an K ü h n s , IS. 80 ff. geäußerten Bedenken am Gebrauch der Goldenen Bulle in Brandenburg im 15. Jahrhundert hat er in II S. 568 ff. — wohl als Folge der Anmerkung S m e n d s im Br.-Pr. S. 169 — nicht aufrechterhalten. Die bei K ü h n s genannten Verfahren sind nicht geeignet, die grundsätzliche Wirksamkeit der Goldenen Bulle in diesem Zeitraum in Zweifel zu ziehen. 202 ) So auch L u d e w i g , II S. 10 ff., 38 f., S a l z m a n n , S. 17, G ü n t h e r , S. 59, 63, S t ö l z e l , KGO, S. 160, P e r e i s , S. 5, E i s e n h a r d t , S. 81, 84, O t t e , S. 137 f., L u d o l f , CJC, Vorrede zum Privilegienanhang, B r o ß , S. 22 mit Anm. 15 (unter Beschränkung auf die geistlichen Kurfürstentümer). 20S ) S m e η d , S. 61 und Br.-Pr. S. 166, vgl. auch S t ö l z e l , II S. 595 ff., 597, 600 f.; zum Verlust von Privilegienrechten infolge Nichtausübung vgl. Ρ r a t j e , S. 237. 2M ) S m e n d , S. 60, 62 und Br.-Pr. S. 164, 166, 168, vgl. auch F ö r s t e m a n n , S. 4, B u c h d a , H R G I, Sp. 200, S t ö l z e l , II S. 138, 595 ff., 597. 205 ) S. 47, auch S. 24 ff., 39 ff., vgl. ferner S c h i c k , S. 56 f. 20i ) Vgl. P o e t s c h , S. 58 ff., A n g e r m e i e r , Reichsreform, S. 197 f., 202 ff., T r u s e n , S. 207 f., M. H i n z , S. 133 ff., H ä r t u n g , Reichsreform, S. 24, 39, 199 ff. 20T ) Königtum und Landfriede, S. 549 f.; die im Hinblick auf die 1495 nachfolgende Entwicklung berechtigte Kritik schließt im übrigen nicht aus, daß zumindest bis zum Jahre 1521 der verfassungsrechtliche Gehalt der Neuerungen

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des Landfriedens vorgebrachte Kritik allein den Aspekt der grundsätzlichen Verschiebung der höchsten Gerichtsgewalt vom König auf ein von seiner Person losgelöst und unter ständischer Mitbestimmung handelndes Reichsgericht. Sie enthält keine Ansatzpunkte für eine weitergehende Schmälerung ständischer Rechte, wie sie mit der Aufgabe von Gerichtsprivilegien verbunden ist, macht vielmehr erst recht deutlich, daß eine Minderung ständischer Positionen im Zusammenhang mit der Reichsreform nicht zu erwarten ist 208 . Dies ergeben audi die der Reform von 1495 voraufgehenden Entwürfe und Erörterungen 209 . Allein der ständische Entwurf zur RKGO 1495 äußert sich zur Fortgeltung von Appellationsprivilegien, und zwar im Sinne einer Entscheidungszuständigkeit des RKG. Es heißt dort im Rahmen der Austragsregelung (§ 30): ,Vermeynt aber der churfurst fürst oder furstmessige vor die appellation fryheyt zu haben vor dieser ordenung ußgangen der soll solche fryheit der kommt Camergeridit furbringen dargegen audi der widerteyl in redit gehoert soll werden und besdieen waz recht ist.' 2 1 0

Das RKG soll also über den Bestand hergebrachter Privilegien befinden. Die Stände hätten diese Bestimmung gerne in der politisch besonders umstrittenen 211 Austragsregelung gesehen, nach der jeder die genannten Landesherren persönlich betreffende Rechtsstreit in des Gerichtswesens äußerst unklar und in seinem Bestand schon deshalb gefährdet war, weil die Bewilligungen des Gerichts sowohl hinsichtlich der Unterwerfung als audi hinsichtlich des Unterhalts immer nur für einige Jahre unter Vorbehalt erfolgten. Zu dieser ersten Phase der Konsolidierung vgl. S m e η d , S. 55 ff., 93 ff., H a r p p r e c h t , II S. 172 ff. (zu den Kurfürstentagen von Mainz und Frankfurt 1503), G ü n t h e r , S. 41, 43, M ü l l e r , Reichs-TagsStaat, S. 655 zum Kostnitzer Reichstag, S t ö 1 ζ e 1, II S. 597, A n g e r m e i e r , Königtum und Landfriede, S. 555, ders., Reichsregimenter, S. 268, L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 419 f. 208 ) Hierauf weisen insbesondere S t ö l z e l , II S. 134 f., B r o ß , S. 23, 25 f. und N e v e , S. 11 f. hin. 2 9 ° ) Vgl. S m e n d , S. 4 ff., F r a n k l i n , I S . 363 ff., M o l i t o r , S. 172 ff., 187, A n g e r m e i e r , Königtum und Landfriede, S. 533 ff. und Reichsregimenter, S. 265 ff., B a d e r , Reformgedanken, S. 74 ff., H ä r t u n g , Reidisreform, S. 26 f., 29 ff., 39, 45 f., 183 ff., 192 ff., L a u f s , Reichsstädte und Reichsreform, S. 187 ff., G r u b e , S. 33 unter Hinweis auf die schon damals vorhandenen starken Bestrebungen, die kaiserlichen Landgerichte zu entmachten, ferner die bei B r o ß , S. 23 Anm. 20 Genannten. 210 ) Nach S m e n d , S. 375 ff., 383 f., vgl. auch Β r o ß , S. 23. 2U ) Vgl. Reidistagsakten j. R. II, S. 244 ff., G ü n t h e r , S. 29 ff., Ρ ü 11 e r , Nova Epitome, S. 141, S m e n d , S. 19, 21, 55 ff., 61, ders., Br.-Pr. S. 162 f., M a l b l a n k , IV S. 427 f., M ü l l e r , Theatrum, I S. 420, M. H i n z , S. 163 ff.

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Appellationsverbote

zweiter Instanz abschließend vom RKG entschieden werden konnte und mit der diese nahezu ersatzlos auf das iudicium parium 212 verzichteten. Der Vorbehalt der Privilegien (RKGO 1495 § 31) galt jedoch nach der endgültigen Fassung ganz allgemein, ebenso die Zuständigkeit des RKG. Neben § 31 war der Vorschlag somit überflüssig und konnte wegfallen. Im übrigen sind KKG und RKG in organisatorischer und prozeßtechnischer Hinsicht nicht als zwei unverbunden hintereinander stehende Institutionen begriffen worden. Das KKG ging insoweit ohne wesentliche Änderungen in das RKG über 213 , zumindest prozeßtechnisch war die Errichtung des RKG nichts anderes als die ,Aufrichtung des Kammergerichts durch den König, ebenso wie Friedrich III. so oft sein Kammergeridit „aufgerichtet und zu halten beschlossen" hatte' 2 U . Die auf Zeugnisse H a r p p r e c h t s 2 1 5 und M ü l l e r s 2 1 8 von den Kurfürstentagen in Mainz und Frankfurt 1503 217 und dem Reichstag zu Worms 1521 218 gestützte Auffassung von einem Verzicht der Kurfürsten auf ihre Appellationsfreiheit hat bereits S m e η d 219 widerlegt. Wenn es an den angezogenen Stellen heißt, daß ,die Chur-Fürsten sich dem zuerst angeordneten Cammer-Geridit mit Nadilassung ihrer Chur-Fürstl. Freyheit unterworffen' hätten, .welche Maaß aber bisher nidit gehalten worden, gestallten das Cammer-Geridit nicht aufhöre, wider ihre Personen und Güther für und für zu procediren' 220,

212 ) Zum iudicium parium vgl. S e 11 e r t , H R G II, Sp. 465 ff., ferner F r a n k l i n , I S. 346, II S. 134 ff., T r u s e n , S. 167, T o m a s c h e k , S. 539, 552 ff., M a l b l a n k , IV S. 426, S m e n d , S. 63 f., L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 422, die aufzeigen, daß das Fürstengericht im 15. Jahrhundert nodi streng beachtet worden ist. *13) Vgl. H a r p p r e c h t , I I S . 54 ff., S m e n d , S. 67 ff., Τ r u s e η , S. 208, Ρ ο e t s c h , S. 54 ff., L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 419 f., 430 ff. !14 ) S m e n d , S. 45, der seine Formulierung allerdings audi staatsrechtlich versteht, L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 430 f. 216 ) II S. 172 f. » · ) Reidis-Tags-Staat Maximilians, Buch II, K. 7, S. 271 ff., K. 13, S. 332 f. 217 ) Das Schreiben der Kurfürsten aus Mainz an den Kaiser ist abgedruckt bei L o η d o r ρ , Acta publica, I S. 20 f. 218 ) Vgl. Reichstagsakten j. R. II, S. 250, H a r p p r e c h t , V S. 189 f., S m e n d , S. 57, G ü n t h e r , S. 30 f. 21í ) S. 55 ff., insbesondere S. 60 Anm. 2, S. 62 Anm. 7. 220 ) So nadi H a r p p r e c h t , I I S . 173.

Sachsen und Brandenburg — Goldene Bulle

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so betreffen diese Beschwerden der Kurfürsten allein die vor und nach 1495 äußerst streitige Frage des persönlichen Gerichtsstandes der Reichsunmittelbaren 221, stehen also im Zusammenhang mit der Austragsregelung 222, dem Verzicht der Fürsten auf das Fürstengericht 223 und insbesondere in Brandenburg und Sachsen vorhandenen Exemtionsbestrebungen 224. Erst später bezogen diese beiden Kurfürstentümer die bereits bei den Verhandlungen 149 5 225 und später 1503 226 im Sinne einer angestrebten Exemtion gemachten Vorbehalte gegen das RKG allein noch auf die Appellationsprivilegien der Goldenen Bulle 227. Die Richtigkeit der Auffassung S m e η d s wird durch Vorkommnisse auf dem Reichstag zu Augsburg 1518 bestätigt. Hier unternahm der Kaiser, nachdem sich vornehmlich die Haltung der beiden genannten Territorien zum RKG merklich verschlechtert hatte 228, den Versuch, sich mit den Ständen zu einigen. Die kaiserlichen Räte führten deshalb aus: ,Item, nachdem bisher vil Irrung erschienen sein, von wegen etlicher ChurFürsten und Fürsten Freiheiten und privilegien, In welcher crafft sie sich auch etlidi stend des Reichs, so unter Inen sitzen, von dem Cammergeridit exempt zu sein, desgleichen audi die Unterhaltung des Cammergerichts zu bezahlen nit vermeinen Darüber und wider, aber das Cammergericht bisher procedirt oder sie mit Mandaten angefochten hat, und dieweil Ine die Ordnung solches nit zugibt, mag die Kay. Maj. bisher billiche Inhibition, verpot und mandata darin ausgehn lassen haben . . . ' .

Um diesen Zustand zu beenden, sei es als notwendig angesehen worden, daß die vom Kammergericht anzeigten, welche Kurfürsten, Fürsten und Stände ,sidi zum Rechten oder In bezahlung der Unterhaltung des Cammergerichts sezen und widern', 221

) Vgl. oben Anm. 211. ) Vgl. R K G O 1495 Tit. X X V I (CJC S. 6, nach Z e u m e r , II S. 290 § 30); ferner R K G O 1521 Tit. X X X I V (CJC S. 54 f.), auch M ü l l e r , Theatrum I, S. 426, M a 1 b 1 a η k , IV S. 505 ff., S e 11 e r t , S. 50 ff., H ä r t u n g , Reidisreform, S. 192 ff. 223 ) Vgl. oben Anm. 212. 22< ) Vgl. S m e n d , S. 56 ff., 67, 93 f. und Br.-Pr. S. 162 f., unzutreffend S ρ i 111 e r , S. 72 und ihm folgend K n a p p , S. 80, ferner H ä r t u n g , Reichsreform, S. 192. Î2S ) S m e n d , S. 55. M «) S m e n d , S. 57. 2 ") S m e n d , S. 61 und Br.-Pr. S. 163 ff. 228 ) Vgl. oben S. 87 ff. 222

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

damit jeder seine Argumente vorbringen könne und Ordnung geschaffen werde 229. 15 1 8 konnte man sich aber noch nicht einigen. Die Standpunkte waren so gegensätzlich, daß der Kaiser die Angelegenheit auf den nächsten Reichstag in Worms 1521 verschob, ,dieweil die Chur-Fürsten wider die Ordnung des Cammergerichts, auf Mainung der Iren Freyheiten nach nit unterworffen zu sein, protestiert und dagegen die andern stend Ir Beschwerung auch angezeigt haben . . .' 230 .

Gestützt auf diesen Befund kann man davon ausgehen, daß alle 231 vor 1495 erteilten Appellationsprivilegien auch unter dem RKG fortbestanden, soweit nicht besondere Gründe (etwa Nichtgebrauch) das Gegenteil bewirkten. Wer sich auf diese Aussage beschränkt, bleibt jedoch mit S m e n d 232 auf richtigem, aber halbem Weg stehen. Er trägt nichts bei zur Lösung der Fragen, warum denn nun eigentlich die Appellationsprivilegien der Goldenen Bulle streitig geworden sind, warum keine entsprechenden Nachrichten über andere Appellationsprivilegien bekannt sind, ob die Freiheiten zunächst etwa die Urteilsschelte betrafen, welches Privilegienverständnis der Zeitgenosse von 1495 dem § 31 der RKGO zugrunde legte 233. Auf den Versuch einer Klärung kann man auch nicht mit der Begründung verzichten, die tiefere Bedeutung von Urteilsschelte und Appellation liege im Verfassungsrecht, nicht im prozessualen Bereich, was die Frage nach ihrem prozessualen Verhältnis zueinander als nicht entscheidend erscheinen lasse 234. Zwar stimmt hier der Ausgangspunkt, doch können gerade mit dem Übergang von der Urteilsschelte zur Appellation, vom deutschen zum römisch-kanonischen System der

22e

) Nadi H a r p p r e c h t , III S. 166, 401 f. (Reichstagsprotokoll 1518). ) Vgl. H a r p p r e c h t , III S. 424 ff. 231 ) Angesichts der Aufmerksamkeit, die die Auseinandersetzung um die Goldene Bulle gefunden hat, ist es erstaunlich, daß die allgemeine Problematik der Fortgeltung der Appellationsprivilegien auch anderer Stände bislang kaum erörtert worden ist. Nur G ü n t h e r , S. 31 f., 44 läßt erahnen, daß er allen Reidisständen die Fortgeltung ihrer Freiheiten zubilligt. Auch Β u c h d a , H R G I, Sp. 198 und E i s e n h a r d t , S. 79 dürften dahingehend zu verstehen sein, daß grundsätzlich alle (Appellations-)Privilegien wirksam blieben, da man sie behauptet hat oder zurückzugewinnen suchte. Erst Β r o ß , S. 21 ff. behandelt zwar vornehmlich die Goldene Bulle, erstreckt seine Überlegungen aber auf alle Appellationsfreiheiten. 232 ) Vgl. oben S. 93 f. 233 ) Vgl. oben Anm. 200. 2M ) So Β r o ß , S. 24. 230

Grundsatz der Einstufigkeit des Verfahrens

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Gerichtsverfassung Veränderungen der Gerichtshoheit verbunden sein, die Verschiebungen im Verhältnis von territorialer und Reichsgewalt bewirkten. Die entscheidenden Gesichtspunkte zur Deutung der mit der salvatorischen Klausel 1495 getroffenen Regelung ergeben sich aus dem an der Gerichtsverfassung vor und nadi 1495 ausgerichteten Verständnis der einschlägigen Gerichtsprivilegien 235 . Das Jahr 1495 steht dabei für den Unterschied zwischen deutscher und rezipierter Gerichtsverfassung. Der deutsche Rechtsgang und damit die gesamte Gerichtsverfassung sind bestimmt vom Grundsatz der Einstufigkeit des Verfahrens 236 . Die Vorstellung eines Instanzenzuges im Sinne einer übergeordneten Zuständigkeit in der am örtlichen Gericht an23ä ) Damit ist ein Forschungsgebiet angesprochen, das nodi intensiver Bearbeitung bedarf. Die bisherigen Versuche zur Einordnung der Gerichtsprivilegien in das Verfahrensrecht ihrer Zeit sowie zur Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander sind unzureichend. Der Gegenstand ist jedoch derart komplexer und weitläufiger Art, hat auch in den verschiedenartigsten Zusammenhängen unterschiedliche Ausdeutungen erfahren, mit denen sidi eine eingehende Erörterung auseinandersetzen müßte, daß im Rahmen dieser Arbeit nur die zum Verständnis der Appellations verböte des 16. Jahrhunderts unumgänglich erforderlichen Grundzüge dargestellt werden können. Die Ausführungen beruhen wesentlich auf P l a n c k , I S . 155 ff., 248 ff., ders., Beweisurteil, S. I f f . , S t o b b e , Rechtsquellen I, S. 274 ff., B r u n n e r - v . S c h w e r i n , II S. 435 ff., F r a n k l i n , II S. I f f . , 189 ff., 262 ff., S e e l m a n n , S. 2 ff., 99 ff., 174 ff., S i e g e l , S. 96 ff., R o s e n t h a l , I S . 1 ff., 49 f., sowie auf den Arbeiten S t ö 1 ζ e 1 s. Sie werden durch zumeist neuere Untersuchungen aus verschiedenen Rechtskreisen ergänzt und abgesichert, die die frühere Einseitigkeit der Darstellung des deutschen Gerichtsverfahrens allein anhand sächsischer Quellen vermeidbar werden lassen. Zu nennen sind insbesondere : für Sachsen die Arbeiten von Β o e h m und Β u c h d a , für den norddeutschen Raum die von M i c h e l s e n und E b e l , für das rheinisch-westfälische Gebiet die von S c h w a b e und F r e η s dorff, für den fränkisch-mittelrheinischen Rechtskreis die von T h o m a s , L o e r s c h , Mertz, Erler, Gudian, Bender, Otte, Merzbacher, für Südwestdeutsdiland die von T h . K n a p p , L e i b e r , L e i s e r , J ä nichen, Bastian, Grube, Feine, für die bayrischen Verhältnisse S c h l o s s e r , L i e b e r i c h , Broß, im übrigen T o m a s c h e k (Iglau) sowie W a r n k ö n i g und G a η s h o f (Flandern). Kritische Gedanken zur Vorstellung eines gemeindeutschen Privat-, Straf-, Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrechts im Mittelalter finden sich bei G u d i a n , Gemeindeutsches Recht?, S. 33 ff., ders., Oberhof Ingelheim, S. 276 f., E b e l , Lübisdies Redit, S. 10 f. 23 ·) Er ist abzuleiten aus Β r u η η e r - ν. S c h w e r i n , II S. 471 ff., 476, P l a n c k , I S . 280 ff., 297 f., L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 438, Β r o ß , S. 18 f., S c h 1 o s s e r , S. 436 ff., L e i s e r , S. 19 ff.

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

hängigen Sadie fehlt dem deutschen Recht völlig. Dies prägt den Charakter der Urteilsschelte 2 3 7 und ist ein Grundzug germanisdideutschen Rechtsdenkens. D a s Redit wurde von den Urteilssprechern des örtlich oder k r a f t sonstiger Zugehörigkeit des Beklagten zu einem bestimmten Reditskreis zuständigen Gerichts ,gefunden'. D a s bedeutet, selbst in anfänglich offenen und unklaren Rechtsfragen wurden die Urteile (Urteilsvorschläge) 2 3 8 nicht als Neuerung, als Rechtsfortbildung oder „Normgewinnung" im Rahmen oder unter Uberwindung eines materiell-objektiven Rechtssystems verstanden, sondern die Verfahrensergebnisse erschienen entsprechend dem grundsätzlich formal-(prozessual-)objektiven Charakter des deutschen Rechts stets selbst als das Recht 2 3 9 . Eine Legalordnung außerhalb der durch die 2 3 7 ) Zur Urteilssdielte allgemein und grundlegend J a k o b G r i m m im Vorwort zu T h o m a s , S. V I I ff. — Die Schelte und das ihr folgende Rechtszugsverfahren sind trotz aller zeitlich und örtlich bedingter Verschiedenheiten — zu denen noch Stellung zu nehmen sein wird — in Deutschland generell bis zum Beginn der Neuzeit nachzuweisen, vgl. die in Anm. 235 genannte Literatur. Die Auffassung B o e h m s , Bd. 60, S. 231 ff., die sächsische Urteilsschelte nach heutigem Verständnis sei eine „rechtsgeschichtliche Erfindung", ist von Β u c h d a , S. 274 ff., 312 ff. überzeugend widerlegt worden.

Andere Erscheinungen des spätmittelalterlidien Rechts bieten bei der Suche nach einem Instanzenzug im modernen Sinne von vornherein keine Ansatzpunkte. Dies gilt für das schlichte Einholen einer Reditsbelehrung ohne vorhergehende Schelte — vgl. Β u c h d a , S. 320, G u d i a η , Oberhof Ingelheim, S. 271 f., 287, K r o e s c h e l i , II S. 114, E b e l , Lübisches Recht, S. 104 ff., M i c h e l s e n , S. I f f . — ebenso wie für die Läuterung, die zumindest bis 1500 den Rechtsstreit beim Entscheidenden beließ — vgl. hierzu Β o e h m , Bd. 60, S. 231 ff., B u c h d a , S. 274 ff., 312 ff., W e t z e l l , S. 773 ff. (zu Sachsen), L e i s e r , S. 51, L e i b e r , S. 390 (Baden), B e n d e r , S. 62, H e n r y J . C o h n , S. 208 (Kurpfalz), S c h l o s s e r , S. 447 (Bayern), auch L o e r s c h , S. C L X L I I (Oberhof Ingelheim). 2 3 8 ) Der Urteilsbegriff des deutschen Rechts weicht vom heutigen, rezipierten grundlegend ab. Ursprünglich hatte jedes Urteil den Charakter eines Prozeßurteils. In seiner Entwicklung bis zur Neuzeit umfaßt der Urteilsbegriff nicht nur den Urteilsvorschlag und jedwede Verfahrensentscheidung, sondern oft auch belehrende Stellungnahmen eines Gerichtes, Reditssprüche, generalisierende Entscheidungen über abstrakte Rechtsfragen (Weistümer), ja sogar die durdi Verwillkürung oder fides facta geschaffene .Selbstverurteilung'. Vgl. hierzu Β o e h m , Bd. 59, S. 630 ff., Β u c h d a , S. 330 f., G u d i a η , Oberhof Ingelheim, S. 272 f., ders., Begründung in Schöffensprüchen, S. 21, 43, E b e l , Willkür, S. 19 ff., ders., Lübecker Ratsurteile I, S. V I I I ff., B e n d e r , S. 47 ff., P l a n c k , Beweisurteil, S. 38 ff., K r o e s c h e l l , II S. 124 f., ders., „Rechtsfindung", S. 511 ff. ΐ 3 β ) Hiermit folge ich K r o e s c h e l l , II S. 122 ff., ders., „Rechtsfindung", S. 498 ff., soweit er sich gegen die Inanspruchnahme des auf mittelalterliche Rechtsverhältnisse bezogenen Begriffs Rechtsfindung durch die Freirechtsschule wendet. Die das deutsche Recht betreffende Rechtsfindung ist geradezu das Gegenteil dessen, was die Freirechtsschule vertrat. Der mittelalterliche Schöffe war

Grundsatz der Einstufigkeit des Verfahrens

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Gemeinschaft verfahrensmäßig oder durch das sich selbst verpflichtende Individuum 2 4 0 gesetzten Rechtsfolgen kannte man ursprünglich nicht. Die Verfahrensergebnisse rechtfertigten sich grundsätzlich unmittelbar aus dem Prozeß, der sie hervorbrachte. Diese Legitimationswirkung oder nahezu unumstößliche Rechtsmäßigkeitsvermutung des Verfahrens und seiner Ergebnisse beruht im Ursprung auf der Beteiligung der gesamten Rechtsgemeinde am Prozeß, liegt „ i m Wesen des Rechts als eines allen Rechtsgenossen gleicherweise bekannten" — und von ihnen gleichberechtigt verfahrensmäßig geübten! — „Volksrechtes" 2 4 1 . Später ging diese Funktion der aus allgemein vorhandenem nach dem Reditsverständnis seiner Zeit ohne die geringste Lockerung an das Recht gebunden. N u r — nach ebendemselben Rechtsverständnis gab es ursprünglich keine materiell-objektive, vom Schöffensprudi losgelöste Rechtsordnung. Der Konflikt zwischen Gesetzesrecht und Richterrecht im modernen Verständnis konnte überhaupt nicht entstehen. Der Spruch der Schöffen war das Recht. In diesem Sinne fanden sie subjektiv das vorfindliche Recht. Objektiv bildeten sie es selbstverständlich fort, machten audi neues Recht, aus Mangel an gesetztem Recht sogar weitaus mehr als die moderne Richterschaft. Aus dem Vorlaufenden folgt, daß entgegen K r o e s c h e l l der Rechtsfindung ein fester Platz bei der Beschreibung deutschen Reditsdenkens zukommt. Er ist unabhängig davon, ob der Vorgang des Recht-Findens oder Recht-Machens nur durch ein Verb oder in Zusammensetzung mit einem Hauptwort beschrieben wird. Dieser Zug deutschen Reditsdenkens umfaßt auch alle sonstigen Wortformen: es ist nicht entscheidend, ob ein Urteil, ein Weistum oder Recht gefunden, gewiesen, gegeben, gesetzt, gesprodien, geteilt, gemeint oder gesühnt wird. Entscheidend ist allein, daß der Spruch der Schöffen das im Urteil gehobene, konkretisierte Redit war. „Was die Urteilsfinder auf Befragen wissen, d a s war die lex. Es e n t s p r a c h nicht nur der lex, es w a r die l e x ! " (So einschließlich der Hervorhebungen K r o e s c h e l l , „Rechtsfindung", S. 512). Genau das meint mittelalterliche Rechtsfindung. Hieraus ergibt sidi aber auch, daß' das Urteil in allen seinen Erscheinungsformen — vgl. oben Anm. 238 — nidit im Gegensatz zum Recht gesehen werden kann (so aber K r o e s c h e l l , „Rechtsfindung", S. 500 bis 511 Mitte), sondern selbst Redit ist (so im wesentlichen auch K r o e s c h e l l , a. a. O., S. 511 Mitte bis 516 Mitte). Gerade im mittelalterlichen Prozeß kann man das Verfahren nicht von seinen Ergebnissen trennen. Das Recht „bezeichnet eine Qualität des Urteilens" ( K r o e s c h e l l , a. a. O., S. 508), damit wird das Urteil die höchste Form des Rechts, der Sprachgebrauch ,Urteil finden' enthält die Rechtsfindung. Zum Verhältnis von objektivem und subjektivem Recht im Mittelalter hat neuestens S c h m e l z e i s e n Stellung genommen. Er betont zu Recht den Unterschied zwischen der objektiven Erscheinung und der Einsichtsfähigkeit des zeitgenössischen Reditsdenkens in ihr Vorhandensein. 2 4 0 ) Vgl. oben Anm. 238 und K r o e s c h e l l , „Rechtsfindung", S. 512, S c h w a r t z , S. 3 ff., 401 f f . 2 4 1 ) So nach B r u n n e r - v . S c h w e r i n , II S. 472, vgl. auch Schlosser, S. 428 f., G u d i a η , Ingelheimer Redit, S. 23 f., 30, Β u c h d a , S. 313 f. P l a n c k , Beweisurteil, S. 3, 11, S t o b b e , Rechtsquellen I, S. 278, S c h w a r t z , S. 3 ff., 399 ff., 412 ff., 426 f f .

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Rechtswissen objektiv Recht sdiaffenden, subjektiv jedoch das Recht findenden Volksgemeinde auf die Schöffen über und wurde durch das Beibehalten entsprechender Sanktionen gegen die Urteilsschelte sowie durch ein gesteigertes Ansehen der Schöffen abgesichert. Das Recht galt als jedermann übergeordnet, auch dem König. Nicht als Erzeugnis menschlicher Willkür oder demokratischer Mehrheitsverhältnisse war es verbindlich, sondern als vorgegebene und im Verfahren zu findende Ordnung. Das Institut der Urteilsschelte durchbricht jedoch den grundsätzlich formalen Charakter des älteren deutschen Rechts 242 . Sie ist Ausdruck einer Störung des auf dem Konsens der Rechtsgenossen beruhenden Rechtsfriedens und wird deshalb unter erhebliche Sanktionen (Zweikampf, sonstiges Ordal, Gewette) gestellt. Jedermann — nicht etwa nur die Partei — kann schelten 2 4 3 und erhebt damit gegenüber dem Finder des Urteils den Vorwurf der Rechtsverweigeung, -beugung, nicht etwa den einer unbewußt falschen Urteilsfindung 2 4 4 . Nun richtet sich zwar audi die Schelte nur gegen ein als unrichtig angesehenes Verfahrenselement, sie hat ferner allein ein erneutes Verfahren zur besseren Rechtsfindung zur Folge, doch muß in ihrem Gebrauch der erste Ansatz zu der Erkenntnis gesehen werden, daß „das Richtige" nicht allein am Einhalten eines bestimmten Verfahrens abgelesen werden kann. Der Spruch des Finders wurde letztlich nicht aus formalen Gründen angegriffen, sondern deshalb, weil er nicht akzeptierte Folgen nach sich gezogen hätte 2 4 S . 2 4 2 ) Ihn hat K r o e s c h e l l , „Rechtsfindung", S. 509 f f . überzeugend herausgearbeitet. Zu ihm tritt jedoch in der Urteilsschelte zumindest ansatzweise eine materielle Dimension. — Neben dem Aspekt der Struktur des deutschen Redits und sich teilweise mit ihm überschneidend steht die Frage nach der inhaltlichen Qualität dieses Rechtes. Sie wird seit der Arbeit F r i t z K e r n s , Recht und Verfassung im Mittelalter (erstmals 1919), überwiegend durch die Prädikate „ g u t " und „ a l t " umschrieben. Die dort — etwa S. 14 f., 25 f. — formulierte Vorstellung vom Wesen deutschen Redits ist nidit unangefochten geblieben. Hinsichtlich dieser Kritik sei zusammenfassend auf K r o e s c h e l l , II S. 253 ff., 122 ff., ders., „Rechtsfindung", S. 498 f f . und auch auf A. W o 1 f , Gesetzgebung, S. 522 f f . verwiesen. 2 4 3 ) Vgl. B r u n n e r - v . S c h w e r i n , II S. 476, P l a n c k , I S. 270, Β a s t i a η , S. 105, L e i s e r , S. 49 f., Τ h o m a s , S. 6, S c h w a r t ζ , S. 6, 427. 2 4 4 ) Dies ist die Konsequenz eines Volksrechts, dessen Regeln jeder Genösse kennt. Vgl. hierzu B r u n n e r - v . S c h w e r i n , II S. 472 ff., Planck, I S. 268, 283, S e e l m a n n , S. 92, B u c h d a . S . 300, 313 f f . 2 4 5 ) Die Ausgestaltung der ,Rechtsmittel' ist also offenbar auf das engste mit der jeweils herrschenden allgemeinen Reditsvorstellung verknüpft. Es dürfte eine lohnende Aufgabe sein, die Entwicklung des mittelalterlichen deutschen Rechts-

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Entsprechend der auf einen formal-prozessualen Aspekt reduzierten Angriffsmöglichkeit gegen ein als unrichtig empfundenes Urteil („Rechtsbeugung") war dieses auch nicht durch ein zweites Uberdenken des Prozeßstoffes materiell zu verbessern. Es konnte vielmehr nach der ursprünglichen Vorstellung der Beteiligten nur von .aufrichtiger', später von ,besser Wissenden' 246 mit dem vorgegebenen Inhalt gefunden werden. Mit der karolingischen Gerichtsreform traten die Schöffen an die Stelle der Volksgemeinde. Hinzu kam die sich verstärkende Entwicklung zu einem materiellen Rechtsverständnis. Der unmittelbare Konsens aller Rechtsunterworfenen fiel aus. Die ursprünglich den gemeindlichen Rechtsfrieden sichernden und klärenden Sanktionen gegen die Urteilsschelte wirkten sich jetzt zum Schutze der (auch materiell) das Recht findenden 247 Minderheit der Schöffen aus. Sie genossen ein hohes Ansehen, das sich bis zu Unfehlbarkeitsvorstellungen steigern konnte 248 . Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß die Einstufigkeit des deutschen Verfahrens nicht allein auf die so oft betonte Unwissenschaftlichkeit 249 des deutschen Rechts zurückgeführt werden kann. mittelwesens, insbesondere der Schelte vom Ordal bis zum revisionsähnlichen Rechtszug, zu der allgemeinen Entwicklung des Reditsbewußtseins vom formalobjektiven zum materiell-objektiven und zum subjektiven Recht in Beziehung zu setzen. Die obigen Ausführungen können nur eine Anregung in dieser Richtung sein. 24e ) Vgl. F r a n k l i n , II S. 280, P l a n c k , I S . 268, 281 ff., Β r u η η e r v. S c h w e r i n , II S. 479 f., B u c h d a , S. 319 f., ders., H R G I, Sp. 385, Β a s t i a η , S. 103 ff., S c h l o s s e r , S. 436. 247 ) Im Gegensatz zur bewußt rechtsetzenden Tätigkeit, vgl. S c h l o s s e r , S. 429 . . . „was Recht sein s o l l . . . " . 248 ) Vgl. E b e l , Lübisches Redit I, S. 113, 127 (,apud cónsules Lubicenses impossibilis est error') und S. 121 (zur Kürze der Tenorierung, die in älterer Zeit durchweg nicht die geringsten Anhaltspunkte zur Begründung des Spruches enthält). Vgl. hierzu ferner G u d i a η , Die Begründung in Schöffensprüchen, S. 9 ff., 21 ff., 125 ff. und Κ r o e s c h e 11, II S. 124. 24β ) Nach G u d i a η , Ingelheimer Recht, S. 2 ff. ergehen die Ingelheimer Schöffensprüche (des 14. und 15. Jahrhunderts) nach bewußt angewandten Regeln und müssen als „Produkt begrifflicher Gedankenarbeit" gelten. Entsprechendes kann zumindest für die Entscheidungen des Lübecker Oberhofes in Anspruch genommen werden und wird sich auch für andere Schöffensprüche des Spätmittelalters erweisen lassen. Eine recht verstandene Rechtsfindung — vgl. oben Anm. 239 — steht also ebensowenig wie die Autorität der Schöffen ersten Ansätzen einer wissenschaftlichen Behandlung des Rechts entgegen. Vgl. auch hierzu Κ r o e s c h e 11, II S. 122 ff., ders., „Rechtsfindung", S. 516 f. 250 ) Vgl. K r o e s c h e 11, „Rechtsfindung", S. 516, G u d i a n , Die Begründung in Schöffensprüchen, S. 43, auch oben Anm. 238.

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Sie beruht gleichwertig auf dem geschilderten formal-prozessualen Rechtsdenken, wobei allerdings beide Faktoren nur teilweise voneinander getrennt werden können. Das geschilderte Rechtsdenken erhält sich in seinen Grundzügen und Auswirkungen bis ins 15. Jahrhundert hinein 250. Im Rechtsmittelwesen wird es erst von der Appellation abgelöst. Da tatsächliche und materiell-reditlidie Fragen ursprünglich nicht Gegenstand der Schelte gewesen sind, hat das deutsche Verfahrensrecht die eigenständige Ausbildung eines umfassenden Berufungswesens oft gerade dort behindert, wo das materielle Recht in Ansätzen verwissenschaftlicht worden ist 251 . Die Urteilsschelte leitete somit ein vom Streitgegenstand des eigentlichen Prozesses unabhängiges Zwischen ver fahr en zur Wahrung des objektiven Rechts ein 252. Der Vorwurf der Rechtsbeugung blieb bei abgemilderten Konsequenzen für den Fall des Unterliegens des Scheltenden erhalten. Uber die vom Urteilsfinder zu verantwortende Abweichung vom objektiven Recht entscheidet das zweite Urteilergremium. Es ,gibt' damit zugleich dem zuständigen Gericht das vor ihm geltende Recht, so wie sich dieses ,sein' Recht bei der im Rechtszug angegangenen Stelle 253 ,holt' 254. Von dem der Überprüfung des Vorwurfs der Rechtsbeugung und dem Finden des richtigen Rechts dienenden Verfahren konnte schlechterdings nicht durdi Privileg befreit werden. Hier geht es nicht um Zuständigkeiten im heutigen Wortsinne. Angesprochen ist vielmehr ursprünglich die zugleich Recht findende und rechtsprechende Funktion des jeweiligen Gerichtsherrn und des bei ihm versammelten Urteilergremiums als ,Quelle des Rechts', letztlich also des Königs 251

) Für Lübeck vgl. E b e l , Lübisches Recht, I S. 117, allgemein B r o ß , S. 27, 38 ff. 252 ) Die abweichende Auffassung S e e l m a n n s , insbesondere S. 99 ff., es handle sich um die Anfechtung des .erstinstanzlichen' Urteils, hat keine Nachfolge gefunden. — Zum Gesichtspunkt der Wahrung objektiven Rechts vgl. bereits L e i s e r , S. 50, J ä n i c h e n , Rechtszug, S. 217, S c h w a r t z , S. 399, 426 f. 253 ) Diese neutrale Bezeichnung findet hier deshalb Verwendung, weil nicht jedes im Rechtszug angegangene Gremium selbst den Charakter eines Gerichtes haben und als solches entscheiden muß. Dies ist insbesondere bei den sächsischen Sdiöffenstühlen nicht der Fall, vgl. B u c h d a , S. 309, 326 Anm. 191, K r o e s c h e l i , II S. 114, M e r t z , S. 3 ff., B o e h m , Bd. 59, S. 630 ff. im Zusammenhang mit der Erörterung des schillernden Begriffs .Oberhof'. Bei allen Vorbehalten gegen einen solchen Vergleich ist als Denkhilfe der Hinweis auf das moderne Verfahren der konkreten Normenkontrolle zu rechtfertigen.

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und seines Gerichtes als reinster ,Quelle des Rechts' 2 5 5 . Die Entscheidung über die vorgelegten divergierenden Urteilsvorschläge ist als Rechtsweisung (Weistum) 2 5 6 zu verstehen. Sie wirkt natürlich audi auf den konkreten Rechtsstreit ein — dies jedoch im Wege einer Aussage über objektives Recht, die frei von der Vorstellung einer instanzgerichtlichen Zuständigkeit für den ursprünglichen Rechtsstreit ist. Zur Aussage über das objektive Recht sind dann allerdings zumeist bestimmte Gremien k r a f t Herkommen oder audi aufgrund landesherrlicher Anordnung berufen. Man kann insoweit von einer Stufenleiter oder einem Rechtszug sprechen 2 5 7 . Dieser beeinträchtigt jedoch die ausschließliche Zuständigkeit des örtlichen Richters zur Entscheidung des vor ihm anhängigen Prozesses nicht. Mit dem Einbringen der Rechtsweisung ist der Zwischenstreit beendet, der bislang ausgesetzte Prozeß kann fortgeführt/entschieden werden 2 5 8 . Dieses Bild einer klassischen landrechtlichen 2 5 9 Urteilsschelte erfuhr seit dem Ausgang des Hochmittelalters 2 6 0 zunehmend Veränderungen. Sie beruhen teils auf autonomen Gründen, teils sind sie auf die beginnende Rezeption zurückzuführen. Die eigenständige deutsche Entwicklung ist durch die Ausbildung von Oberhof- und Schöffen-

2 " ) Vgl. P l a n c k , Beweisurteil, S. 16, F r a n k l i n , II S. 280, S t o b b e , Rechtsquellen, I S. 275, L e i s e r , S. 20, 22, B r u n n e r - v . S c h w e r i n , II S. 479 Anm. 48, S e e l m a n n , S. 2 ff., 99 ff., 114 f f . Zum Verhältnis von Herrscher, Volk und Redit im Mittelalter äußert sich auch F r i t z K e r n , Recht und Verfassung, S. 76 ff., 78 mit Anm. 1. 2 5 e ) Vgl. F r a n k l i n , II S. 273 ff., ders., Sententiae curiae regiae, S. V I I I ff., S c h l o s s e r , S. 428 f., S t o b b e , Rechtsquellen I, S. 274 ff., 466 f., Κ r o e s c h e l l , „Rechtsfindung", S. 502 ff., 516 f., audi oben Anm. 238. 2 5 7 ) Sachsen- und Schwabenspiegel sowie der Richtsteig Landredits kennen einen bis zum König hin festgelegten Rechtszug, vgl. P l a n c k , I S . 271 ff., 281 ff., Κ ü h η s , II S. 531 f f . Zu diesem .Instanzenzug' vgl. ferner Franklin, II S. 280, B r u n n e r - v . S c h w e r i n , II S. 479 f., G u d i a n , Oberhof Ingelheim, S. 287 ff., M i c h e l s e n , S. 10 f., B r o ß , S. 28 f., der allerdings völlig unkritisch den „Instanzenzug" des Sachsen- und Sdiwabenspiegels mit dem modernen Wortsinne anfüllt, ebenso auf der Grundlage eines abweichenden Verständnisses des Rechtszuges — vgl. Anm. 252 — S e e l m a n n , S. 188 ff., 196 ff. 25β) P l a n c k , I S. 289 f., 297 f., L e i s e r , S. 23, S c hl o s s e r , S. 442 ff., K r o e s c h e l i , II S. 114 f. 258) f ü r die Mark Brandenburg geht K ü h n s , II S. 531 ff., 542 f f . bereits für das 13. Jahrhundert von einer land- und einer stadtrechtlichen Schelte aus. Vgl. ferner E b e l , Lübisches Redit, S. I l l , allgemein S c h w a r t z , S. 10 ff. zum Einfluß städtischer Übung auf das Verfahren. 2 e o ) Vgl. E b e l , Lübisches Recht, S. 12, G u d i a n , Oberhof Ingelheim, S. 293.

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stuhlsystemen gekennzeichnet 2 6 1 . Sie führt insbesondere in Lübeck zu einer stadtrechtlich geprägten Form der Urteilsschelte 2 6 2 . Allgemein verliert sich der Vorwurf der Rechtsbeugung mit seinen untragbaren Folgen 2 6 3 . Die Urteilsschelte bleibt jedoch ein den Schöffen, dem Gericht, dem R a t zugefügtes Unrecht, iniuria, eine Beleidigung, Störung des Stadtfriedens 2 6 4 , die im Falle des Unterliegens zumindest mit dem Verfall der Wette zu sühnen ist. Immerhin wird so das regelmäßige und förderliche Einholen von Oberhofentscheidungen ermöglicht. Es kommt andererseits aus denselben Gründen zu Rechtsfortbildungen, die außerhalb der starren Formen der Schelte die Korrektur eines Spruches ermöglichen sollen 2 6 5 . N i e aber wird die Ent2 e l ) Im Spätmittelalter bilden sich aufgrund nodi nidit abschließend geklärter Veränderungen der Gerichtsverfassung die Oberhofsbeziehungen aus. O f f e n ist insbesondere die Frage der Entstehung landrechtlidier Oberhöfe. Zum Problemkreis vgl. G u d i a n , Oberhof Ingelheim, S. 279 ff., 286 ff., B o e h m , Bd. 59, S. 630 ff., B a s t i a n , S. 103 ff., B u c h d a , S. 301, 309, A n d e r n a c h t , S. 161 ff., T h o m a s , S. 53 ff., Κ r o e s c h e 11, II S. 113 ff., M i c h e 1 s e η , S. I f f . , 11 ff., B r o ß , S. 21 Anm. 11, M e r t z , S. 4 ff. Eine gewisse Sonderstellung nimmt Bayern ein, wo sidi der Rechtszug bereits im Spätmittelalter territorialstaatlich reglementiert fortbildet. Vgl. hierzu S c h l o s s e r , S. 84 ff., 436 ff., ders., Einflüsse, S. 1 f f . 2 « 2 ) Vgl. E b e l , Lübisdies Recht, S. 111 f. 2 e 3 ) Sie werden von G u d i a n , Ingelheimer Recht, S. 23 f. anschaulich geschildert. Es ist allerdings die Frage, ob diese strenge Auffassung Ende des 14. und im 15. Jahrhundert wirklich noch herrschte. 2 M ) Vgl. E b e l , Lübisdies Recht, S. 114. 2 e 5 ) Hier ist zunächst die vornehmlich in Sachsen ausgebildete, offenbar aber audi in Südwestdeutschland und in Bayern nicht unbekannte Läuterung — vgl. oben Anm. 237 — zu nennen, ferner die badisdie Erscheinung des Widerwurfs, vgl. L e i s e r , S. 19 ff., 49 f. Aus dem Bemühen, die strenge Schelte zu umgehen, ist ferner das von L o e r s c h , S. C L V I f f . und G u d i a n , Oberhof Ingelheim, S. 272 ff., ders., Ingelheimer Recht, S. 23 f f . bezeugte Ausheisdien eines Urteils zu erklären. Es vermeidet die strafbare Rüge eines von den Schöffen gefundenen Urteils, indem diese das Urteil bedingt erlassen (,mit underdinge') oder aber gegenüber dem ,vor allem Urteil' Ausheisdienden eine nachteilige Entscheidung überhaupt unterlassen. Beide Erscheinungen sind insbesondere nach ihrer Herkunft, aber auch in ihrem Verhältnis zueinander, nodi nidit völlig geklärt. Sie wurzeln im deutschen Recht und geben keinen Anlaß dazu, die Geltung der Schelte als eines gemeindeutschen Institutes auch nodi im Spätmittelalter — natürlich nicht mehr in ihrer klassischen Form — in Frage zu stellen. Mit L o e r s c h , S. C L X f f . ist gegen G u d i a n , Oberhof Ingelheim, S. 275 ff., ders., Gemeindeutsches Recht?, S. 42 Anm. 34 zumindest das Ausheisdien bei einem Urteil ,mit underdinge' als Spätform der Schelte zu verstehen. Es lebt geradezu von der Einsicht in die Unzulänglichkeit der strengen Schelte. Völlig offen ist hingegen, wie es neben dem Urteil ,mit underdinge' zu der Möglichkeit des ,Ausheisdiens vor allem Urteil' kommt. L o e r s c h , S. C L X L V I ff.

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Scheidung nach Urteilsschelte im Rahmen dieser deutschrechtlichen Spätformen zum Instanzurteil im modernen Sinne 266 . Sie bleibt selbst dort ihrem Wesen nach ein auf freiwilliger Unterwerfung und Herkommen beruhendes Reditsbelehrungsverhältnis, wo sie sich — wie etwa in Lübeck 267 oder in Ingelheim 268 — weitgehend vom Ballast des klassischen Rechts befreit hat. „Die Verbindlichkeit der Lübecker Oberhofsprüche für die Tochterstädte beruhte ausschließlich auf ihrer inhaltlichen Autorität — und bestand auch nur in ihr —, nicht aber auf einer verfassungsrechtlichen Unterordnung der Tochterstadt. Der Rat von Lübeck war keine Instanz im heutigen Begriffe . . . ; sein Urteil bedurfte noch immer der Transformation in ein Ratsurteil der Tochterstadt 269 . Dabei blieb es aber audi trotz aller hat den gewagten Versuch unternommen, die Erscheinung auf das frühmittelalterliche Reklamationsrecht zurückzuführen. Die Bedenken hiergegen zeigt er selbst auf. Bislang ist jedoch kein anderer, geschweige denn ein besserer Ansatz zur Lösung geboten worden. Es müßte der Verbleib des Reklamationsredites untersucht werden. Ferner müßte geklärt werden, ob die Ingelheim benachbarten Oberhöfe Neustadt an der Weinstraße — vgl. hierzu E r 1 e r , Oberhof Neustadt, insbesondere Bd. I, S. 1 ff., 14 ff. —, Eltville — vgl. L o e r s c h , S. CLXLIV — und Speyer das Ausheischen ebenfalls kennen. Immerhin kann L o e r s c h für seine Theorie völlig zu Redit ins Feld führen, daß die Speierer Bürgerschaft 1191 von Heinrich VI. gerügt wurde, nicht sdion v o r gefundenem Urteil Sachen vom bischöflichen Gericht an ihn zu schelten (S. CC). Das Mandat ist abgedruckt bei Z e u m e r , I S. 27; zu seiner oft völlig unzutreffend auf die Appellation bezogenen Auslegung vgl. unten S. 114 mit Anm. 309. Auch sonst sind die Mittel, mit denen Ingelheim seine Stellung festigte, nicht ohne Beispiel. Die den rechtholenden Schöffen abgeforderte eidliche Verpflichtung, fernerhin selbst bei Kenntnis des Rechts das Ausheischen nach Ingelheim zuzulassen, erinnert an die vom Pfalzgrafen im 15. Jahrhundert mit Rittern und Städten abgeschlossenen Erbschirmverträge, vgl. dazu B e n d e r , S. 14 f. 2ββ ) So audi M e r t z , S. 18 ff., 87 ff., 126. — Die Frankfurter Gerichtsbücher bezeichnen die Erkenntnisse des als Oberhof tätig werdenden Schöffengerichts etwa bis 1530 als .Urteile', ab diesem Zeitpunkt bis ins 17. Jahrhundert hinein als .Unterweisungen'. M e r t z nimmt zu dieser Erscheinung nicht grundsätzlich Stellung, führt sie aber offenbar auf eine unterschiedliche rechtliche Qualität der vor und nach 1530 ergangenen Erkenntnisse zurück. Es dürfte sich hier jedoch um eine rezeptionsbedingte Verengung des Urteilsbegriffs — vgl. oben S. 100 Anm. 238 — handeln, die den Charakter der Rechtszugsbeziehungen deutlich werden läßt. 2β7 ) Vgl. E b e l , Lübisches Recht, S. 110 ff. 2ββ ) Vgl. L o e r s c h , S. CXLVII ff., C L V f f . , CLXXXIV, CLXXXVIII, CLXLII ff. 2β9 ) So E b e l , Lübisches Recht, S. 119, vgl. auch S. 121. — Es stiftet deshalb nur Verwirrung, die Urteilsschelte nach Lübeck als „Appellation (Schelte)" oder als eine „Art Appellation" — so E b e l , Lübisches Recht, S. 111 — oder gar als „schriftliche Appellation" — so E b e l , a. a. O., S. 120 — zu bezeichnen.

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Einwirkungen der Rezeption auf Formen und Verfahren bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts für die Übergangs- und Mischformen der Dies zeigt sich bereits bei K r o e s c h e 11, II S. 114 ff., wo zwischen den Magdeburger und den Lübecker Verhältnissen ein s o nicht bestehender Gegensatz gelehrt wird. Die Schelte nadi Lübeck ist vielmehr eine durch stadtrechtliche Verhältnisse und praktischen Kaufmannsgeist geformte Urteilsschelte. Zunächst muß der Auffassung E b e l s , a . a . O . , S. 111 f. entgegengetreten werden, das Urteil des Rates einer lübischen Tochterstadt habe nicht gescholten werden können, da der Rat sich nicht aus Richter und Urteilern zusammensetze. Hier ist E b e l negativ auf die sächsische Schelte fixiert. Mit der Beseitigung der Unterscheidung von Richter und Urteilern im stadtrechtlich geprägten Verfahren war selbstverständlich audi die Möglichkeit der Schelte eines Urteilsvorschlages beseitigt. Der Vorwurf der unrichtigen Rechtsprechung richtete sich jetzt gegen das als verbindlich erlassene Urteil. Dies ist in den Quellen — vgl. E b e l , a . a . O . , S. 111 Anm. 11, M i c h e l s e n , Beilagen I, S. 36, III S. 38, 40, Urteil Nr. 1, S. 83 — eindeutig bezeugt, weshalb das Institut nach wie vor als Schelte bezeichnet wird, nicht aber „trotz des dabei verwendeten Wortes ,Schelte' als eine Art Appellation" (so E b e l , a . a . O . , S. 111) zu verstehen ist. Dies hat M i c h e l s e n , S. 18, 21 ff. völlig richtig gesehen, obwohl auch er von ,appellieren' und .Appellationsgericht' spridit. Die Schelte des lübischen Rechts ist aus der landrechtlichen Sdielte hervorgegangen, vgl. E b e l selbst a . a . O . , S. 111, 115. Sie ruht völlig in deutsdireditlidien Formen: sie muß sofort und mündlich geschehen, kennt also nicht die 10-Tage-Frist, jedoch die Wette, sie erstreckt sich nicht auf eine zweite Untersuchung des Sachverhalts, kennt also insbesondere keine nova und keine neuen Beweise, sie behandelt ausschließlich die Rechtsfrage — auf diese Konsequenzen aus dem Charakter der Schelte weist insbesondere S c h w a r t z , S. 426 ff. nachdrücklich hin. Wie andere Rechtszugsverfahren — nur etwas später — wird sie seit dem späten 15. Jahrhundert gegen Lübecks Widerstand (!) romanisiert und nimmt die Formen der Appellation an — vgl. E b e l , Lübisdies Recht, S. 117, 124 ff., M i c h e l s e n , S. X ff., 26 ff. Zu echten Appellationsbeziehungen kommt es gleichwohl bezeichnenderweise nicht, da Lübeck die territorialherrsdiaftliche Beziehung zu seinen Tochterstädten fehlt. Die Oberhofsbeziehungen werden von den Landesherren abgeschnitten. Es bleiben als wesentliche Unterscheidungsmerkmale der lübischen von der sächsischen Schelte die Rüge des im übrigen verbindlichen Urteils des Rates der Tochterstadt und die Beschränkung der Zulässigkeit des Scheltens auf die Parteien. Auf ihre Erklärung aus stadtrechtlichen Prozeßformen und lübischem Geist sollte das Augenmerk gerichtet werden. Die innerstädtische Urteilsschelte Lübecks — vgl. M i c h e l s e n , S. 20 f., E b e l , a . a . O . , S. 352 ff., 368 ff. — entwickelt sich nicht umsonst ebenso wie der Rechtszug nach Lübeck. Audi hat neuestens S c h l o s s e r , S. 444 ff. — vgl. audi dens., Einflüsse, S. 1 ff. — für die weitgehend entsprechenden, wenn auch zeitlich später liegenden und stärker romanisierten Verhältnisse des bayrischen Gedings auf dessen „starke funktionelle Abhängigkeit . . . von der dem konkreten Streitfall jeweils zugrunde liegenden Form der Rechts- und Urteilsfindung" hingewiesen. Stadtreditliche Ansätze zeigt wohl auch das Verfahren des Oberhofs Neustadt, vgl. E r 1 e r , Oberhof Neustadt I, S. 14. So steht die lübisdie Sdielte der römisch-kanonischen Appellation zwar näher als die sächsische, hat aber mit ihr ebensowenig wie diese römisch-kanonischen Rechtsvorstellungen entstammende Gemeinsamkeiten. Man kann die lübisdie Schelte

Einschränkungen des Rechtszuges nach Schelte

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Urteilssdielte zur/mit der Appellation 270 , von denen später die Rede sein soll. Erst ab 1450 bildete das rezipierte Recht nach und nach edite Instanzverhältnisse aus. Dieser Einstufigkeit des Verfahrens folgt das System und die Wirkungsweise der vom deutschen Recht ausgebildeten Gerichtsprivilegien 2 7 1 . Der Befreiung von einer anderen als der anfänglichen und abschließenden örtlichen Zuständigkeit und damit einer anderen Privilegienart als der der Freiheit von .erstinstanzlich' 272 konkurrierenden auswärtigen Gerichten bedurfte es nicht. Insbesondere sind keine Privilegien gegen den Rechtszug an den Oberhof, an den Kaiser und an sein RHG ausgebildet worden. Die Urteilsschelte wurde niemals Gegenstand des Privilegienrechts. Gleichwohl wurde sie zumindest seit dem 13. Jahrhundert überall dort eingeschränkt und abgebaut, wo in sich festigenden Territorien der Reditszug an auswärtige Gerichte (an das Reich und an fremde Oberhöfe) ging 27S . Der Rechtszug blieb im örtlichen oder regionalen Rechtskreis 274 . Die Romanisierung des „Rechtsmittelwesens" vollzog

— wenn man sdion von den hier unbrauchbaren modernen Begriffen nicht lassen will — mit E b e l , a. a. O., S. 111 als eine der heutigen Revision ähnliche Einrichtung bezeichnen, sagt damit aber nichts zu den Besonderheiten der liibischen Schelte aus. Die Spät- und Ubergangsformen der Urteilssdielte sind alle revisionsähnlich — für Südwestdeutschland vgl. J ä n i c h e n , Rechtszug, S. 216 f., L e i b e r , S. 402 f., für Bayern S c h w a r t z , S. 221, S c h l o s s e r , S. 444 ff. Zu weldien Verwirrungen diese Ähnlichkeit führen kann, zeigt höchst anschaulich W e t ζ e l l , S. 781 f. 270 ) Vgl. P l a n c k , Beweisurteil, S. 24 ff., Β u c h d a , S. 321, J ä n i c h e n , Rechtszug, S. 217 f., M e r z b a c h e r , S. 123 f., A n d e r n a c h t , S. 162 ff., J. G r i m m , Vorrede zu Thomas S. X I f., T h o m a s , S. 4 ff., P l a n c k , I S. 289 f., 297 f., L e i s e r , S. 23, S c h l o s s e r , S. 442 ff., Κ r o e s c h e 11, II S. 114 f., M i c h e l s e n , S. 9 f., L e i b e r , S. 398, 402 f., B a s t i a n , S. 28 ff., N é v e , „Appellation, so fur dem urteil beschicht", S. 1 ff. 2 " ) Beispiele für den Wortlaut und die Wirkungsweise dieser Befreiungen (von auswärtigem Gericht, auch als Evokations- und Exemtionsprivilegien bezeichnet) finden sich in reidilidier Zahl bei L ü η i g , Pars spec. Cont. IV, Teile 1 und 2, T h . K n a p p , S. 74, 76 f., S c h l o s s e r , S. 28, R o s e n t h a l , I S. 10 mit Anmerkungen, F r a n k l i n , II S. 10 ff. ! 7 2 ) Die Rechtfertigung dieses Attributes folgt allein aus der Notwendigkeit, die Zusammenhänge auch im Sinne der nachfolgenden Entwicklung und des mit ihr verbundenen Sprachgebrauches anschaulich werden zu lassen. 27S ) Vgl. bereits oben S. 4 Anm. 11. Vgl. Β u c h d a , H R G I , Sp. 197, L e i s e r , S. 23 ff., K u h n s , II S. 200 ff.

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

sich vor dem endgültigen Durchbruch der Appellation um 1450 275 entscheidend in der Umbildung der Urteilsschelte unter dem Einfluß römisch-kanonischer (Appellations-)Vorstellungen. Wo der Rechtszug nach Urteilsschelte nicht mehr bestand, konnten sich zunächst auch geregelte Appellationsbeziehungen nicht durchsetzen. Die Ausbildung der Instanzen knüpfte zumindest teilweise an die bestehenden Rechtszug-Beziehungen an. Auf den weitgehenden Ausfall der Urteilsschelte zum Reich sind ganz wesentlich die Schwierigkeiten zurückzuführen, die das RKG anfänglich bei der Durchsetzung seiner Appellationszuständigkeit hatte. Ausdrückliche Verbote der Urteilsschelte nach auswärts 276 einschließlich des Rechtszuges an das Reich finden sich zunächst in aufstrebenden Städten: so in Hamburg (seit 1270), Bremen (Nachweis 1423) und Goslar 277 . Von größerer Tragweite ist es, daß städtische und andere Gremien, die als bedeutende Oberhöfe fungierten, eine Schelte der von ihnen in eigenen und fremden Angelegenheiten gefällten Entscheidungen nicht kannten oder zumindest sehr erschwerten. Dies gilt für Lübeck 278 , für Freiburg 279 , Aachen 280 , Dortmund 281 , 275 ) Wie neuere Untersuchungen ergeben haben, setzt sich die Appellation etwa seit 1450 auf breiter Ebene durch. Vgl. hierzu B u c h d a , H R G I, Sp. 197, L e i b e r , S. 395 ff., 402, L e i s e r , S. 19, 49 ff., G r u b e , S. 17, 35, A n d e r n a c h t , S. 167, L e f e b v r e , S. 195 ff., G u d i a n , Institutionen, S. 411, E i s e n h a r d t , privilegia, S. 11 ff., S c h l o s s e r , Einflüsse, S. 11 f., auch schon T o m a s c h e k , Iglau, S. 15. Die genannte Literatur stellt klar, daß die Verwendung der Worte ,appellatio, appellare' in deutschen Rechtsquellen bis ins 16. Jahrhundert hinein nicht den Gebrauch der Appellation verbürgt, sich vielmehr oft — in früherer Zeit zumeist — auf die Urteilsschelte bezieht. 27β ) Die Magdeburger Schöffen urteilten, daß diese in den städtischen Willküren enthaltenen Verbote unverbindlich seien, vgl. P l a n c k , I S . 271 mit Anm. 5. Audi die Weidibildglosse setzte sich mit Bestrebungen auseinander, die Urteilsschelte zu verbieten, vgl. B u c h d a , S. 315 f. 2 " ) So nach P l a n c k , I S. 271 ff., vgl. audi Β u eh d a , S. 315. " 8 ) Vgl. M i c h e l s e n , S. 12ff., 17f., P l a n c k , I S. 272, E b e l , Rechtszug, S. 1, ders., Lübisdies Recht I, S. 106 f. (1366 — für den Rechtszug von den Tochterstädten), S. 369 f. (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts — für die eigenen Prozesse). — Die von E b e l , Lübisdies Recht I, S. 370 Anm. 8 aufgezeigten Verhältnisse der Städte Wismar, Kiel, Greifswald, Anklam, Tondern, Greifenberg und Oldenburg — vgl. hierzu audi P l a n c k , I S . 272 — beziehen sidi auf das Verbot der .erstinstanzlichen' Anrufung auswärtiger Gerichte. Diese Städte hatten ja ihren Rechtszug nach Lübeck, wo er, wie der aller Städte, die ihren Oberhof dort hatten, endete. 279 ) Nicht überzeugend B a s t i a n , S. 38 ff., die zunächst einen entsprechenden Brauch urkundlich belegt, dann aber mit Beispielen zur Appellation wieder in Frage stellt.

Einschränkungen des Reditszuges nach Schelte

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Iglau 282 , Frankfurt a. M. 283 , Ingelheim 284 , Neustadt an der Weinstraße 285 . Gleichermaßen blieb es nadi neueren Untersuchungen über kaiserliche Landgerichte — Hofgericht Rottweil 286 , Landgericht der Baar 287 , Landgericht Würzburg 288 — bis zum Aufkommen der Appellation um 1450 bei den von den genannten Gerichten erlassenen Entscheidungen. Über Schelten gegen die Urteile anderer kaiserlicher Landgerichte ist bislang nichts bekannt 289 . Alles dies rechtfertigt — audi im Hin2β0 ) Vgl. S c h w a b e , S. 77 f., der berichtet, R H G / K K G seien von Aachen aus kaum angerufen worden. Beziehungen zum Reichsgericht seien erst unter dem RKG wieder entstanden. 281 ) Bei F r e η s d o r f f , S. LXI ff., C X X X V I I I ff., 233 ff. finden sich keine Anhaltspunkte für einen weitergehenden Zug. 282 ) Vgl. T o m a s c h e k , Iglau, S. 18 ff., 33 ff., wo sich kein Hinweis auf einen weitergehenden Zug findet. 28S ) Weder T h o m a s noch M e r t z nodi A n d e r n a c h t bieten einen Anhaltspunkt für eine weitergehende Schelte. 2M ) Vgl. insbesondere L o e r s c h , S. C L X X X V I I I f., CCVIII, C C X I f. mit einschlägigen Ingelheimer Entscheidungen S. 205 f., 457 ff. und 519 f. Die übrige Literatur zum Ingelheimer Oberhof — vgl. Anm. 235 — ergibt nichts hinsichtlich eines weitergehenden Rechtszuges. Das gilt sowohl für den ans Reich als audi für mögliche spätere (Appellations-) Beziehungen zum Heidelberger Hofgeridit, vgl. dazu B e n d e r , S. 38 f., G o t h e i n , S. 7, H e n r y J. C o h n , S. 204, L o e r s c h , S. CCVIII. 2M ) Vgl. E r l e r , Oberhof Neustadt I, S. 16, H e n r y J. C o h n , S. 203. Der Zug ging zunächst nach Speyer, ab 1445 an den kurfürstlidien Rat und ab 1462 — auch als Appellation — an das Hofgericht in Heidelberg. Von dort kann die Appellation zumindest theoretisch an das KKG gegangen sein, vgl. dazu unten S. 147 ff. die Ausführungen über Kurpfalz. 28e ) Vgl. G r u b e , S. 16 f., 35, M ü 11 e r - G 1 i t s c h , S. 55, a. Α. noch H e i n r i c h O t t o M ü l l e r , S. 290, eine Appellation 1472 belegt F r a n k l i n , KKG, S. 75 ff. 287 ) Vgl. L e i b e r , S. 396. 288) Vgl. M e r z b a c h e r , S. 124 ff., Appellationen von diesem Gericht ans KKG gibt es zumindest seit 1471, vgl. dazu W e i t z e l , S. 242 Anm. 178, F r a n k l i n , KKG, S. 83 f. 28e ) Dies gilt insbesondere für das Landgericht auf der Leutkirdier Heide. Die von mir zur Darstellung seiner Appellationsverhältnisse oben S. 67 ff. herangezogene Literatur bietet keine begründeten Anhaltspunkte für die Übung einer Schelte — vgl. bereits oben S. 72. Die dort in Anm. 75 genannte Literatur gibt keine Nachweise für ihre Auffassung. Vermutlich gründet sie sich auf die Vorstellung, daß es eine Berufung ja gegeben haben müsse sowie auf die Vermengung von Schelte und Appellation (.Berufung'). Appellationen sind von Rottweil ans KKG seit 1451 belegt — vgl. G r u b e , S. 17, L e c h η e r , S. 59 —, Reditsmittelentsdieidungen des R H G dagegen unbekannt. F e i n e , S. 155 teilt selbst mit, daß König Ruprecht (1400—1410) Appellationen (?) vom Rottweiler Hofgericht an den Kaiser untersagt habe. Vgl. dazu auch T h u d i c h u m , S. 75: eine Freiheit, daß es hei den in Rottweil gesprochenen Urteilen bleiben soll.

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

blick auf die Stellung des Rottweiler Hofgerichts zum R H G und gegenüber den anderen süddeutschen Landgerichten 2 9 0 — die Annahme, daß es einen Rechtszug von den Landgerichten zum Reichsgericht zumindest im Spätmittelalter grundsätzlich 2 9 1 nicht gegeben hat. Der Rechtszug ans Reich wurde ferner aus tatsächlichen und ihm innewohnenden verfahrenstechnischen Gründen erheblich eingeschränkt. Die Schwierigkeiten, am H o f e Recht zu finden, waren so groß, daß sich selbst Reichsstädte privilegieren ließen, ihren ordentlichen Gerichtsstand in Rottweil zu haben 2 9 2 . Angesichts der nur beschränkten Funktionsfähigkeit des R H G / K K G , der Gelder, die gezahlt werden mußten, um ein Verfahren überhaupt erst in Gang zu setzen 2 9 3 , kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Rechtszug ans Reich im 14. und 15. Jahrhundert allgemein verbreitet gewesen sei 2 9 4 . D a die Urteilsschelte über das in einem bestimmten Rechtskreis geltende Recht befindet, ist „Gemeinsamkeit des Redits zwischen den Genossen und Urtheilern der ersten und zweiten Gerichtsversammlung . . . die notwendige Vorbedingung, daß in der zweiten über ein

Audi die übrigen Angaben F e i n e s zu Berufungen gegen Entsdieidungen kaiserlicher Landgerichte — soweit er überhaupt welche macht — sind nur für Appellationsverhältnisse der im wesentlichen η adi 1450 liegenden Jahre überzeugend und insoweit audi von ihm begründet (Landgericht Heiligenberg, S. 211, Landgericht Hirschberg, S. 230 f., vgl. hierzu audi R o s e n t h a l , I S . 100 ff., S c h l o s s e r , S. 49 Anm. 44, 437 Anm. 4, 442 Anm. 27; H e i n r i c h Otto M ü l l e r , L G Hirsdiberg, S. 289 ff.). Die aufgeworfenen Fragen lassen sich hier nicht vertiefen. Es spridit aber einiges dafür, daß .Rechtsmittel' gegen Entsdieidungen der kaiserlichen Landgerichte überhaupt erst mit der Appellation üblich geworden sind und dann entweder an landesherrliche Gerichte (Hofgeridite) oder ans K K G / R K G gingen. 2 i 0 ) Vgl. hierzu G r u b e , S. 15 ff., 34 f., F e i n e , S. 154 f., Leiber, S. 396, Τ h u d i c h u m , S. 74. 2 β 1 ) Geht man mit F e i n e , S. 187, 231 davon aus, daß die kaiserlichen Landgerichte in dieser ihrer Form erst im Spätmittelalter entstanden sind, so haben sie einen deutsdireditlidien Rechtszug wohl nie gekannt. 2 » 2 ) Vgl. F r a n k l i n , I S . 348, G r u b e , S. 16. 2 9 S ) Die Verhältnisse werden anschaulich geschildert von F r a n k l i n , I S. 222 ff., 346 ff., II S. 4 f., ders., K K G , S. 43 ff., T h u d i c h u m , R K G , S. 155 f., vgl. ferner C o n r a d , I S. 501, B e n d e r , S. 12, F r e n s d o r f f , S. C L I I I ff., 244 ff., S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g , S. 594, L e c h n e r , S. 67, 100 ff., T r u s e n , S. 179, 181. t M ) So auch B u c h d a , H R G I, Sp. 197, P l a n c k , I S . 272, allerdings unter unzutreffender Einbeziehung der Appellationsprivilegien in seine Uberlegungen.

Einschränkungen des Rechtszuges nach Schelte

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in der ersten gescholtenes Urtheil gerichtet werden kann" 295. Aus diesem Grundsatz folgte, daß der König nur dann über Urteilsschelten aus Sachsen und Schwaben entschied, wenn er sich auf sächsischer oder schwäbischer Erde aufhielt 296. Gerichtsreisen des Königs kannte man aber schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nidit mehr 297. Kam der König über Jahrzehnte nicht in die genannten Gebiete, so war damit dieser Rechtsbehelf tot 298, mochte auch hin und wieder eine kommissarische Entscheidung ergehen. Die Arbeiten über das sächsische Gerichtsverfahren 299 enthalten denn auch keinerlei Hinweise auf einen neben dem oder über den Rechtszug zu den Schöffenstühlen hinaus praktizierten Zug ans Reich. Damit muß angenommen werden, daß auch der gesamte sächsische Rechtskreis im Spätmittelalter — wie schon für den lübischen, fränkischen und schwäbischen nachzuweisen versucht wurde — keine geregelte und geübte Rechtszugsbeziehung zum Reich hatte. Das Verbot des Rechtszuges in der thüringischen Landesordnung von 1446 300 bestätigt diese Annahme. Dasselbe gilt — trotz ihrer grundsätzlichen Mißverständnisse 301 — für die Darstellung der Gerichtsverfassung der Mark Brandenburg durch Κ ü h η s 302. Dort gelang es dem Markgrafen teilweise erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts, die Appellationszuständigkeit gegenüber Stadtgerichten in den Griff zu bekommen 303.

295 ) So P l a n c k , I S . 283, vgl. auch S t o b b e , Rechtsquellen I, S. 275, G u d i a η , Institutionen, S. 406. 2ίβ ) Vgl. P l a n c k , I S. 283 f., 289, F r a n k l i n , II S. 72 ff., auch Κ ü h η s , II S. 533. — In diesem Zusammenhang gewinnt ganz allgemein die von G u d i a η aufgeworfene Frage nach dem gemeindeutschen Recht im Mittelalter auch verfahrensrechtliche Relevanz. 2 ") Vgl. S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g . S . 594. F r a n k l i n , II S. 73 zieht den gegenteiligen Sdiluß: Der Grundsatz der Gemeinsamkeit des Rechts sei gegen Ende des 13. Jahrhunderts außer Geltung gekommen (!), da Sadisen den König seitdem kaum noch in seinen Grenzen gesehen habe. 28e ) Vgl. oben Anm. 235, auch oben S. 94 Anm. 201. 30 °) Vgl. oben S. 4 Anm. 11. 501 ) Κ ü h η s , II S. 521 ff., 542 vermengt landrechtliche Schelte und Appellation. Audi gelingt es ihm trotz Mitteilung entgegenstehender Fakten — S. 538, 540, 543 ff. — nicht, sich von der Theorie der Rechtsbücher über den Rechtszug an den König freizumachen. 502 ) I S. 79 ff., II S. 531 ff., 542 ff. 303 ) 148 3 beziehungsweise 1488 wird die fürstliche Obrigkeit' gegen Appellationsverbote der Städte Brandenburg und Stendal durchgesetzt.

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

Der aufgezeigte Verfall kaiserlicher Gerichtsfunktionen im Spätmittelalter wird weiterhin bestätigt durch die Feststellung S c h l o s s e r s , daß in Bayern der „Rechtszug vom landesherrlichen zum kaiserlichen Hofgericht nur noch als Leerformel bestand" 304 . Dieser „perfekte Abschluß Bayerns vom Reich" 305 ist allerdings nicht mit der Appellation in Zusammenhang zu bringen, wird audi nicht durch die ab 1450 verliehenen limitierten (!) Appellationsprivilegien bestätigt 306 , beruht vielmehr auf den vorhandenen Evokationsprivilegien und auf dem weitgehenden Ausfall der Urteilschelte und ihrer sich im 14. und 15. Jahrhundert wandelnden Formen 307 im Verhältnis zum Reich. Audi F r a n k l i n als bislang bester Kenner der Verhältnisse des RHG läßt offen, inwieweit das Rechtszugsverfahren, über das die Rechtsbücher so ausführlich berichten, (noch) der Praxis entsprochen habe. Er habe nur einen Prozeß gefunden, der auf dem Wege der Schelte 1150 ans R H G gekommen sei 308 . Es sind durchaus noch weitere Fälle bezeugt: zunächst durch ein Mandat Heinrichs VI. an die Stadt Speyer 1191 S09, ferner durch eine Entscheidung des RHG

3M

) So S. 453, vgl. audi S. 26 ff., 92, 404. ) So S. 27. — Seine neuerlich nahezu gegenteilige Einschätzung der bayrischen Verhältnisse — vgl. Einflüsse, S. 13 f. — stützt S c h l o s s e r auf noch nicht näher bezeichnete neu aufgefundene Quellen. Ihre Bedeutung kann noch nicht abgesehen werden. Erst die Kenntnis dieser Quellen läßt seine neuere Einschätzung der Auswirkungen der Verzichtspraxis einer Beurteilung zugänglich werden. Nicht völlig überzeugend ist die von ihm vorgenommene Einordnung des Geschehens in die allgemeinen rezeptionsbedingten Veränderungen der Gerichtsverfassung. Vgl. dazu audi unten S. 158 ff. 30e ) So aber S c h l o s s e r , S. 27 ff., 437 — die Appellationsprivilegien setzen dodi erst ab 1480 stufenweise ein und sind limitiert, vgl. S c h l o s s e r , S. 29, ders., Einflüsse, S. 14. 307 ) Gerade das Geding ist in seinen von S c h l o s s e r , S. 436 ff., 458, ders., Einflüsse, S. 1 ff. geschilderten verschiedenartigen Formen der typische Ausdruck der sidi unter römisch-kanonischen Reditsvorstellungen wandelnden Schelte. 308) vgl. F r a n k l i n , II S. 72, 206 f. — Bei dem angezogenen Fall handelt es sich um ein Verfahren aus der Zeit Konrads III., das F r a n k l i n , I S. 115 ff., II S. 206 mit Anm. 3 schildert. Im übrigen bringt er nur ,erstinstanzliche' Verfahren, vgl. II S. 19 ff. 30e ) Abgedruckt bei Ζ e u m e r , I S. 27 Nr. 22 — Dieser oft mißverstandene Befehl — vgl. F r a n k l i n , II S. 205 ff., 207, E b e l , Lübisches Recht I, S. 112 Anm. 13, L e i s e r , S. 19, K r a u s e , S. 80 mit Anm. 381 — betrifft nicht die Appellation, sondern wendet sich gegen das Anrufen des Königs vor erfolgter Schelte, vgl. T h o m a s , S. 10, L o e r s c h , S. CLXLVIII f. mit Anm. 2 und 1, v. M a u r e r , Städteverfassung III, S. 753 f., neuestens Β r o ß , S. 30 f. — Es 305

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über Eigenleute des Bischofs von Brixen 1282 31°. Es mag audi noch zu weiteren Schelten gekommen sein, doch war das Institut selbst derart geschwächt, daß es nicht auf breiter Grundlage im Sinne der Rezeptionsvorstellungen beeinflußt werden konnte. Alles dies 311 weist darauf hin, daß der Rechtszug deutscher Herkunft zum Reich seit dem 13. Jahrhundert in seinem Bestand nach und nach eingeschränkt wurde, bis er im 15. Jahrhundert schließlich keine praktische Bedeutung mehr hatte. Die Feststellung G r u b e s , „das Reichshofgericht war mithin nur mehr theoretisch Berufungsgericht für alle ordentlichen Gerichte' " 312 , kann nur unterstrichen werden. Anders verlief die Entwicklung innerhalb der Territorien. Hier wurden Urteilsschelte und Rechtszugssystem vom 14. bis zum 16. Jahrhundert von Appellation und Instanzenzug verdrängt, in sie umgewandelt 313 . Zu diesem Prozeß gehört das verstärkte Abschneiden der Beziehungen zu auswärtigen Oberhöfen 314 ebenso wie das Absterben oder die Umwandlung der Schöffengerichte, die für eine

stellt sich hier die interessante Frage, ob diese Rüge sich gegen ein frühes Beispiel des im übrigen für den Ingelheimer Oberhof bezeugten Ausheischens richtet, vgl. oben S. 106 Anm. 265. 310 ) Vgl. L. S a n t i f a l l e r , Die Urkunden der Brixner Hochstifts-Archive 843—1295, Innsbruck 1929, Nr. 229, K r o e s c h e l l , II S. 142 f., der das Verfahren unzutreffend als Appellation einordnet. 311 ) Die voraufgehende Zusammenstellung kann nicht den Anspruch der Vollständigkeit erheben. Bei gezielter Untersuchung werden sich noch weitere Belege finden lassen. Schließlich sind aber auch ein Teil der noch darzustellenden Appellationsverbote und die zu ihrer Begründung vorgebrachten Argumente der beste Beweis für den weitgehenden Ausfall der Urteilsschelte. ®12) G r u b e , S. 16 gegen S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g , S. 594, F r a n k l i n , II S. 205 ff. als Vertreter der älteren Lehre. Ihnen folgt noch G u d i a η , Institutionen, S. 405. Schon T h u d i c h u m , RKG, S. 153 sagt, Appellationen ans RHG, KKG seien „etwas ziemlich Ungewöhnliches" gewesen. Offenbar unterscheidet er dabei nicht zwischen Schelte und Appellation. So in etwa auch B u c h d a , H R G I, Sp. 197. Eine davon abweichende Ansicht vertritt im Sinne der älteren Lehre T o m a s c h e k , S. 534 f. ohne nähere Begründung. Die von ihm genannten Beispiele betreffen ausnahmslos Fälle der Befreiung von auswärtigem Gericht. 31S ) Vgl. B u c h d a , H R G I, Sp. 198, L e i b e r , S. 401, J ä n i c h e n , Rechtszug, S. 240. 314 ) Vgl. P l a n c k , I S. 257, 287, B a s t i a n , S. 12 f., 92 ff., L e i s e r , S. 23 ff., W i e a c k e r , S. 109, 113, 180, S c h w a b e , S. 18 ff., J ä n i c h e n , Rechtszug, S. 219 f., E b e l , Redhtszug, S. 36 ff., C o r t r e i u s , IV S. 214 f., S c o t t i , Cleve-Märkische Provincialgesetze I, S. 141, S t o b b e , Rechtsquellen II, S. 64 ff., M i c h e I s e n , S. 29 ff., L e f e b v r e , S. 197, N é v e , Appellation, S. 1 ff.

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Ubergangszeit nodi neben den gelehrten Gerichten zu finden sind 315 . Der Aufbau völlig neuer Instanzenzüge tritt neben die Umwandlung bestehender Rechtszugsbeziehungen. In Bayern wird der Ubergang von der Erscheinungsform des Gedings bestimmt 316 , im badischen Rechtskreis finden sidi verschiedenartige Ausgestaltungen des Zuges S17 , im Westen und Norden des Reiches zeigen sich Entwicklungstendenzen zum echten Rechtsmittel, bevor der Zug zu den Oberhöfen abgeschnitten wird 318 , in Sachsen geht die Urteilsschelte im 16. Jahrhundert vollends in die Appellation über 3 1 9 . Im Verhältnis zum Reich tut sich nichts Vergleichbares. Die Urteilsschelte ist aufgrund der Schwäche der Reichsinstitutionen bereits ausgeschaltet, als die Rezeption seit dem 13. Jahrhundert in den Territorien wirksam wird. In den Beziehungen zu Kaiser und Reich finden sich nur Einzelakte. Ob diese dann früher als in den Territorien den Charakter der technischen Appellation annehmen, kann hier offenbleiben 82 °. Ab 1495 schließlich mußte aufgrund dieser Ver-

315 ) Vgl. B u c h d a , HRG I, Sp. 197 f., T o m a s c h e k , Iglau, S. 15 ff., J ä η i c h e η , Rechtszug, S. 217 ff., L e i b e r , S. 401, B e n d e r , S. 41, 89. 316 ) Vgl. hierzu bereits S t ö l z e l , II S. 115 ff., 126 ff., 320 ff., 586 ff., ders., Geding und Appellation, S. I f f . , R o s e n t h a l , I S. 139 f., ders., ZRG GA 31 (1910), S. 526 ff., L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 435, 441, neuestens in zutreffender Betonung der konkret ausgebildeten Ubergangsformen S c h l o s s e r , S. 84 ff., 436 ff., ders., Einflüsse, S. I f f . , ihm folgend B r o ß , S. 15 ff. 317 ) Vgl. L e i s e r , S. 19 ff., 49 f., L e i b e r , S. 395 ff., Β a s t i a η , S. 14 ff., 26 ff., 33 ff., J ä n i c h e n , Reditszug, S. 217 ff., ders., Landtage, S. 117 f., 134, G r u b e , S. 18, auch oben S. 106 Anm. 265. Zu den Grundlagen der insbesondere in Süddeutschland anzutreffenden Unterscheidung zwischen Minder- und Mehrerurteil vgl. E l s e n e r , S. 80 ff., 560 ff. Seiner Behauptung, das Zugverfahren sei ursprüngliches kanonisches Recht — vgl. S. 563 ff. — kann allerdings nidit gefolgt werden; so bereits L e i s e r , S. 23. 3 l e ) Vgl. S c h w a b e , S. 53 ff., 76 f., P l a n c k , I S. 293 ff., M i c h e l s e n , S. 922 ff., B a s t i a n , S. 107 f., E b e l , Rechtszug, S. 34 ff., T h o m a s , S. 10, T o m a s c h e k , Iglau, S. 20, K r o e s c h e l l , II S. 115, auch oben Anm. 265, 269. 31 ») Vgl. B u c h d a , S. 301 ff., 307. 320 ) Anhaltspunkte hierfür bestehen. Sie müßten allerdings überprüft werden. Vgl. F r a n k l i n , II S. 205 ff., L e i s e r , S. 19, J ä n i c h e n , Rechtszug, S. 224 f., H a r p p r e c h t , I S. 81, 128 ff., 249 ff., S m e n d , S. 60 f. mit Anm. 3, S t ö l z e l , II S. 587, 593, T r u s e n , S. 171, 202 ff. mit Anm. 49, 52, A n g e r m e i e r , Königtum und Landfriede, S. 523 f., S c h l o s s e r , S. 437 mit Anm. 4, G u d i a η , Institutionen, S. 405 im Gegensatz zu S. 411, F r a n k l i n , KKG, S. 9 f., 37 ff., 48 ff., S c h w a r t ζ , S. 71 f. 321 ) Vgl. W i e a c k e r , S. 105, 177, 149.

Gerichtsprivilegien deutschen Rechts

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hältnisse der Instanzenzug im modernen Sinne weitgehend ohne die Möglichkeit der Anknüpfung an den Rechtszug neu durchgesetzt werden S21. Die frühen Verbote und Erschwerungen des Rechtszuges zum Reich richten sich im Rahmen des deutschen Systems gegen die Zuständigkeit zur Wahrung des objektiven Rechts. Als das Verfahren nach Urteilsschelte im Laufe der Rezeption mehr und mehr seinen ursprünglichen Charakter der Einholung einer Reditsweisung verliert und der Aspekt einer konkurrierenden Instanzgerichtsbarkeit im modernen Sinne aufkommt, ist der Rechtszug zum Reich bereits zusammengebrochen. Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert sind deshalb Maßnahmen gegen die Urteilsschelte von unterschiedlichen Rechtsvorstellungen getragen 322 , allerdings insgesamt von dem Streben nach „Erwerb und Ausbau der Landeshoheit" 323 motiviert, ebenso wie ab 1495 der Kampf um die Appellation 324 . Das Verständnis der vom deutschen Recht ausgebildeten Gerichtsprivilegien wird neben dem unzutreffenden Bezug zur Urteilsschelte 325 entscheidend von einer auf Fehlvorstellungen beruhenden und sie fördernden Terminologie erschwert. Zu ihr haben maßgeblich die Arbeiten von T o m a s c h e k 3 2 8 und F r a n k l i n 327 bei322 ) Vgl. A n d e r n a c h t , S. 161 ff., E b e l , Lübisches Recht, S. 107, 109, 112 f., G u d i a n , Oberhof Ingelheim, S. 288 ff., 293, die auf die Rolle des Gerichts- und Territorialherrn auch für die Entstehung von Oberhofsbeziehungen hinweisen. In Flandern wurde die Urteilsschelte selbst innerterritorial weitgehend von einer Regelungskompetenz des Grafen verdrängt, der auf Anrufen der Parteien ein anderes Gericht mit der Sache betrauen konnte, vgl. G a n s h o f , Etude, S. 115 ff., 135 ff., M i c h e 1 s e η , S. 1 f., 7, T h o m a s , S. 23, 67 f., Β u c h d a , S. 315 f. 323 ) So S c h 1 o s s e r , S. 26. 324 ) So im Ansatzpunkt zutreffend schon P l a n c k , I S. 272. Allerdings finden die Verbote der Schelte ihre Nachfolger sowohl in den Appellationsverboten als auch in den Appellationsprivilegien. Vornehmlich schränken aber die Appellationsprivilegien nicht die Möglichkeit der Urteilsschelte ans Reich ein. 325 ) Vgl. oben Anm. 324 und Β u c h d a , H R G I, Sp. 197, 200. 32e ) T o m a s c h e k , Höchste Gerichtsbarkeit, S. 605 f. — vgl. audi S. 527, 535 — definiert die Befreiung von auswärtigem Gericht wie folgt: „ . . .mit diesem Ausdrucke werden in der Sprachweise des Mittelalters die privilegia de non evocando und de non appellando zusammengefaßt...". Unklar auch schon T h u d i c h u m , S. 159. 327 ) R H G II, S. 3 ff., 204 ff. F r a n k l i n erkennt die Evokationsprivilegien als eine Art der Befreiung von auswärtigem Gericht und sondert davon die Appellationsfreiheiten. Aber auch er geht im Ergebnis von einer entwicklungsgeschichtlichen Gleichstellung aller dieser Privilegien aus. Daneben trägt er durch Unklarheiten in der Terminologie zu falschen Vorstellungen über die Wirkungsweise der

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

getragen, die auf ihr Privilegienverständnis bislang offenbar noch nie kritisch überprüft, sondern immer unbesehen anderen Untersuchungen zugrundegelegt worden sind 328 . In der Nachfolge F r a n k l i n s und T o m a s c h e k s ist der Begriff des Evokationsprivilegs 3 2 9 und seine Abgrenzung zum Appellationsprivileg in den Mittelpunkt der Vorstellungen getreten. Das Evokationsprivileg ist aber nur eine der Erscheinungsformen der allgemein als Befreiungen von auswärtigem Gericht zu charakterisierenden deutschen Gerichtsprivilegien. Die Verengung der Terminologie verdeckt die entscheidenden Zusammenhänge, indem sie eine nicht spezifische Form der Befreiung von auswärtigem Gericht zum Oberbegriff der gesamten Erscheinung macht, so Verschiedenartiges miteinander vermengt und eine in der bisher angenommenen Weise nicht bestehende Kontrastierung Appellations-/Evokationsprivileg bewirkt. Es ist nämlich nicht so, daß Appellations- und Evokationsprivileg auf einer Entwicklungs- und Wirksamkeitsstufe nebeneinander stehen, daß das Appellationsprivileg eben den Instanzenzug regelt, das Evokationsprivileg hingegen ,in Ergänzung' der Appellationsbefreiung ,nur' die erste Instanz betreffe. Vielmehr schaltet das Evokationsprivileg mit der Beseitigung der ,erstinstanzlichen' Zuständigkeit nach dem alten System der Gerichtsverfassung den konkurrierenden Richter generell, für das Verfahren überhaupt, aus 3 3 °. Die Appellationsprivilegien sind

alten Gerichtsprivilegien bei. Infolge der Anerkennung, die sein Werk über das R H G im übrigen zu Recht gefunden hat, schleppen sich die genannten Mängel bis in die Grundlagen neuester Literatur fort. 328) v g l . L e c h n e r , S. 62 ff., bei dem als erstem bedeutenden Nachfolger T o m a s c h e k s und F r a n k l i n s deren Zweifel wegen der Kürze seiner Arbeit nicht dargelegt werden, R o s e n t h a l , I S. 9 ff., ihm folgend S c h l o s s e r , S. 27 ff., 83 f., B r o ß , S. 15 ff., 20 ff., L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 434, 438, S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g , S. 594 f., C o n r a d , I S. 500 f., P l a n i t z - E c k h a r d t , S. 178, S c h w e r i η - Τ h i e m e , S. 179 f., H ä r t u n g , Reichsreform, S. 41, M e r ζ b a c h e r , S. 124 f., Β u c h d a , H R G II, Sp. 497, M i t t e i s , Staat, S. 349, T r u s e n , S. 180, 209, — richtig nach Terminologie und Inhalt G r u b e , S. 13, 16, 21 f. 3 2 9 ) Zum Begriff der Evokation vgl. F r a n k l i n , I I S . 3 ff., R o s e n t h a l , I S. 8 f., Β u c h d a , H R G II, Sp. 496 f f . 3 3 0 ) Es ist deshalb mehr Ausdruck politischer Schwäche als einer Bequemlichkeit — wie dies Β u c h d a , H R G II, Sp. 497 vermuten läßt —, daß die deutschen Könige seit dem Interregnum mehr und mehr Evokationsprivilegien gewährten. Die anscheinend gegenteilige Ansicht F r a n k l i n s , II S. 40 f. bezieht sich entscheidend auf das 15. Jahrhundert, insbesondere auf die Beseitigung der Evokation 1495. Vgl. auch V e r k e r k , Evokatie, insbesondere S. 19 (Resümee).

Gerichtsprivilegien deutschen Rechts

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also nicht eine Privilegiengattung gleichzeitig und gleichwertig neben den ,Evokationsprivilegien', sondern deren aus der Rezeption geborene Ablösung. Die Gerichtsprivilegien nach deutschem Recht schalten entsprechend der Einstufigkeit des Verfahrens einen ,auf gleicher Ebene' wie das landesherrliche Gericht mit diesem konkurrierenden Richter aus. Nach ihrer Befreiungsformel gebieten sie dem Kläger, den Beklagten nur bei seinem ordentlichen Richter, an den ,Enden und Gerichten dahin und in die er gehört und darin er gesessen ist' zu belangen. Sie verbieten den Untertanen des privilegierten Standes, sich unmittelbar an das ausgeschlossene Gericht zu wenden und untersagen dem betroffenen Richter, Ladungen an diese Untertanen ergehen zu lassen 3 S 1 . Sie werden b e g n a d e t . . . „also, daß wir sie freien vor unserm Hofgerichte, und vor allen weltlichen Gerichten und Richtern, also, daß sie sich nirgends verantworten s o l l e n , . . . , denn vor ihrem Richter in der Statt zu Schweinfurth . . . " 3 3 2 . Nach diesem Prinzip des Ausschlusses stets und nur erstinstanzlich' konkurrierender Richter arbeiten alle Privilegien der deutschen Gerichtsverfassung. Soweit die Befreiungsformel andere als kaiserliche auswärtige Gerichte betrifft, stellt sie klar, daß niemand vor einem schuldnerfremden Gericht belangt werden darf. D a dieser Grundsatz — abgesehen von den Fällen eines besonderen Gerichtsstandes (belegene Sache, Delikt, Schuldurkunde) 3 3 3 — allgemeine Anerkennung fand, steht dieser Aspekt privilegienrechtlich nicht im Vordergrund. Hier geht es wohl alsbald mehr um die Abwehr ohnehin unrechtmäßiger Eingriffe als um die Befreiung von einer rechtmäßig konkurrierenden Zuständigkeit 3 3 4 . Anderes 3 3 5 gilt, soweit die Privilegien das Gebiet ) Nachweise vgl. oben S. 109 Anm. 271. ) Privileg für die Reichsstadt Schweinfurth aus dem Jahre 1361, abgedruckt bei L ü η i g , Pars. spec. Cont. IV, Teil 2, S. 395 ff. 3 3 3 ) Die Frage, inwieweit sich die Befreiungen von auswärtigem Gericht auch gegen solche besonderen Gerichtsstände durchsetzten, muß hier offen bleiben. Zu einschlägigen städtischen Tendenzen in der Mark Brandenburg vgl. Κ ü h η s , II S. 200 f f . 3 3 4 ) Vgl. das Statutum in favorem pricipum, Ziffer 19 (Z e u m e r , I S. 55 f.), dazu K l i n g e l h ö f e r , S. 159, der von einer „allgemeinen Folgepflicht des Klägers zum Gericht des Angeklagten" spricht. Er schreibt ferner völlig richtig: „Inhaltlich sehr nahe verwandt mit der Folgepflidit des Klägers vor den Gerichtsstand des Beklagten ist das ius de non evocando". 3 3 5 ) Die beiden Bezugspunkte .kaiserliche Landgerichte' und ,fremde Territorialgerichte' werden schon von τ . W ä c h t e r , S. 54 f. klar getrennt. Ml

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

und die Untertanen eines bestimmten Landesherrn aus der Zuständigkeit eines rechtmäßig konkurrierenden Richters ausnahmen. Hier tragen sie in allen ihren Erscheinungsformen den Charakter von Exemtionen. Das Evokationsprivileg befreit von der generell konkurrierenden .erstinstanzlichen' Zuständigkeit des Kaisers und seines R H G . Damit stellt es sich nach dem ursprünglichen deutschrechtlichen Verständnis als eine vollwertige Grundform der Exemtion (von dieser Art kaiserlicher Zuständigkeit) dar, die nur dem heutigen, durch die Rezeption umgeformten Exemtionsverständnis als ,Evokationsprivileg', als eine mindere Exemtion erscheint (abzüglich der Rechtsverweigerung und der persönlichen Verantwortlichkeit des Landesherrn, nach völlig unzutreffenden Vorstellungen auch noch abzüglich der Appellation und deshalb gleichwertig neben diese gesetzt). Die Goldene Bulle spricht in den Überschriften der einschlägigen Kapitel V I I I und X I — die nach der heute gängigen Auffassung und Terminologie ja ein Evokations- und ein Appellationsprivileg verleihen — von jimmunitas', ein Begriff, der auch von modernen Autoren im Zusammenhang mit den Freiheiten der Goldenen Bulle gebraucht 3 3 6 und von anderen allgemein als Hintergrund der Evokationsprivilegien in Bezug genommen wird 337 . Das Reichsgrundgesetz von 1356 selbst versteht aber offenbar bereits die erste Freiheit als ,immunitas' und das Appellationsprivileg nur als deren Ergänzung und Abrundung (vgl. den Wortlaut: ,Adicientes expresse, quod . . . ' ) . Hieraus folgt, daß es das ,Evokationsprivileg' der Kurfürsten als Immunität, hier gleich Exemtion, wertet 338 . 3 3 ') Vgl. S m e η d , S. 62. — Anlaß und Vorbild für die kurfürstlichen Privilegien war nadi der Formulierung von W o l f , S. 17 „vermutlich der Entwurf eines Privilegs über die Landeshoheit des Königs von Böhmen, in dem Karl IV. seinem Stammland dessen alte Immunität, d. h. die Freiheit aller Böhmen, nie vor ein Gericht außerhalb ihres Landes gezogen zu werden, für ewige Zeiten bestätigte". Zur Sache vgl. auch Z e o m e i , Goldene Bulle I S. 51 ff., P e t e r s e n , S. 236 f. 337 ) Vgl. G e n g i e r , S. 41, T h o m a s , S. 23 ff., W i n f r i e d B e c k e r , S. 73, M e r z b a c h e r , S. 123, M i 11 e i s , Staat, S. 333. Zum Begriff der Immunität vgl. unter diesem Aspekt in erster Linie M i 11 e i s , Staat, S. 50 ff., aber audi sonst zu den Stidiworten Immunität, Exemption, Territorialisierung (Register), ferner C o n r a d , I S . 194 ff., 497, F e h r , S. 90 ff., 189, S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g , S. 188 ff., 213 ff., 614 ff., W i 11 o w e i t , H R G II, Sp. 313 ff., wo allerdings mit der Ausnahme von M i 11 e i s eine Beziehung zu den Befreiungen von auswärtigem Gericht nirgendwo aufgezeigt wird. 338 ) Zur Goldenen Bulle kann hier nodi nidit abschließend Stellung genommen werden. Vgl. dazu unten S. 126 ff.

Gerichtsprivilegien deutschen Rechts

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Die in der Literatur für deutschrechtliche Geriditsprivilegien verbreiteten verschiedenartigen Bezeichnungen (Evokations-, Exemtionsprivilegien, Freiheit von Ladungen vor auswärtige Gerichte) 389 beruhen neben der aufgezeigten inhaltlichen Fehlvorstellung, die sich bei den Evokationsprivilegien am stärksten bemerkbar macht, auf Besonderheiten in der Entwicklung und Einschätzung des Exemtionsverhältnisses zum jeweils ausgeschlossenen Richter. Mit dem örtlichen Gericht konkurrierten im gesamten Reichsgebiet der Kaiser selbst und das oberste Reichsgericht (RHG, K K G ) , beziehungsweise in besonderen Fällen vom Kaiser in Ausübung seines Evokationsrechtes mit der Erledigung eines Rechtsstreites beauftragte Territorialgerichte 340 , ferner in ihrem jeweiligen Sprengel die kaiserlichen Landgerichte. D a der Kaiser und das oberste Reichsgericht nur in den seltensten Fällen von ihrer Zuständigkeit Gebrauch machten 3 4 1 , setzte sich für diesen auf Einzelfälle beschränkten Zugriff der Begriff der Evokation durch. Die kaiserlichen Landgerichte übten ihre Zuständigkeit hingegen permanent in einem durch die Prävention geregelten Konkurrenzverhältnis zu den landesherrlichen Gerichten aus 342 . Hier blieb der Charakter eines Exemtionsverhältnisses stärker im Bewußtsein, weshalb die von der Zuständigkeit kaiserlicher Landgerichte befreienden Privilegien häufiger als Exemtionsprivilegien bezeichnet werden. Ebenso aber, wie oft in einer Urkunde sowohl von Ladungen an das oberste Reichsgericht und den Kaiser als auch von solchen an ein oder an mehrere Landgerichte oder generell an alle anderen Gerichte überhaupt Befreiung erteilt wurde 3 4 3 , hielten sich beide Vorstellungen, die der Evokation und die der Exemtion, nebeneinander und führten zur wechselweisen Bezeichnung der Gerichtsprivilegien. 3 3 e ) Die Privilegien selbst beschreiben die Freiheit inhaltlich mit der Freistellung von Ladungen, ohne die oben genannten Begriffe zu verwenden. In der älteren Literatur — vgl. etwa H a r ρ ρ r e c h t , I S. 54, L ü η i g , a. a. O., selbst nodi Tomaschek, S. 535, 605 f f . — findet sich überwiegend der Begriff des Exemtionsprivilegs. Der auf Evokationen verengte Sprachgebrauch ist wesentlich die Folge der auf die Verhältnisse von R H G / K K G allein abstellenden Untersuchungen F r a n k l i n s und T o m a s c h e k s , vgl. oben Anm. 326. S 4 0 ) Vgl. Β u c h d a , H R G II, Sp. 497. 3 4 1 ) Der Kaiser und das R H G evozierten allenfalls dann, wenn ein unmittelbares politisches Interesse an der Entscheidung eines bestimmten Rechtsstreites bestand, vgl. F r a n k l i n , I I S. 4, 40 f., S e e l m a n n , S. 48, 123, R o s e n t h a l , I S . 9, L e c h n e r , S. 62, B u c h d a , H R G II, Sp. 497. 3 " ) Vgl. Β ü r c k h 1 e , II S. 234 ff., G r u b e , S. 35. " ' ) F r a n k l i n , I I S . 15.

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Die bislang gesdiilderten exemtions-strukturierten Befreiungen von kaiserlicher Gerichtsbarkeit erstredeten sich weder auf die Fälle der Rechtsverweigerung noch ergriffen sie den Reichsunmittelbaren, der hinsichtlich seiner Untertanen privilegiert war, persönlich 344 . Für ihn blieb grundsätzlich das RHG ordentlicher Gerichtsstand. Die so beschränkten Befreiungen können zusammen mit denen, die die Sicherung des schuldnereigenen Gerichtsstandes bewirken, als die Grundformen der Befreiung von auswärtigem Gericht angesehen werden. Qualifizierte Formen der Befreiung von auswärtigem Gericht ergeben sich durch die Einbeziehung der Rechtsverweigerung und der Person des Reichsstandes in die Ladungsfreiheit. Hierauf beruhen die Exemtionen, die wir — wie die böhmische 345 und die österreichische 346 — bis heute als solche zu bezeichnen gewohnt sind. Diese Exemtionen gewannen infolge des umfassenden Ausschlusses der Reichsgerichtsbarkeit 347 eine besondere Qualität. Anders als bei den schlichten Befreiungen von auswärtigem Gericht verlor sich bei ihnen in der entscheidenden Rezeptionsphase das Bewußtsein, daß sie ursprünglich nur ,erstinstanzliche' Ladungsfreiheit bewirkt hatten 348 . Sie sind deshalb im Gegensatz zu den schlichten Befreiungen von S44

) Vgl. F r a n k l i n , II S. 12 ff., ders., KKG, S. 51 Urteil Nr. XV, T o m a s c h e k , Höchste Gerichtsbarkeit, S. 606 Anm. 2, R o s e n t h a l , I S. 16 f. S4ä ) Vgl. Kapitel X I der Goldenen Bulle, das im Gegensatz zu Kapitel VIII die Rechtsverweigerung ausdrücklich der Reichsgerichtsbarkeit vorbehält (Z e u m e r , I S. 201 ff.). 34β ) Die österreichischen Verhältnisse gestalten sich schwierig. Schon nach dem Privilegium minus durfte niemand im Gebiet des Herzogs ohne dessen Zustimmung Gerichtsbarkeit ausüben, vgl. den Text der Urkunde nach v. S c h w i n d D o p s c h , S. 8 ff., 9, ferner B a i t i , S. 79 ff. Das Privilegium maius befreit die Person des Herzogs von jedem übergeordneten Richter (Urkunde II § 6) und bestimmt, daß das, was er in seinem Herrschaftsbereich tut und anordnet, auch der Kaiser nicht ändern kann (Urkunde II § 8), vgl. v. S c h w i n d D ο ρ s c h , S. 10 ff., 12, Β a 111, S. 87, L h ο t s k y , S. 6, 22, 81 ff., 85. Ob dies auch für die Rechtsverweigerung gilt, ist zumindest fraglich. Jedenfalls nimmt das Österreich zu dieser Zeit bereits zustehende und 1361 bestätigte .Evokationsprivileg' die Rechtsverweigerung ausdrücklich aus, vgl. den Text bei v. S c h w i n d D o p s c h , S. 206 ff., ferner L h o t s k y , S. 31. Die Praxis zumindest des 15. Jahrhunderts dürfte jedoch den völligen Abschluß Österreichs gegenüber der Reichsgerichtsbarkeit gebracht haben. 347 ) Vgl. Ζ e u m e r , Goldene Bulle I, S. 52, auch oben S. 3, 43 f., 59 ff. 34e ) Diese Loslösung von der Reichsgerichtsbarkeit konnte sicherlich nur im Rahmen einer entsprechenden allgemeinen politischen Entwicklung erfolgen. Auch andere Reichsstände waren für ihre Person von Ladungen nach auswärts befreit, ohne diese Position nach 1495 als Exemtion fortführen zu können. Vgl. die in Anm. 344 Genannten.

Rechtspflege Verhältnisse 1495

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auswärtigem Gericht auch auf das neue Rechtsmittel der Appellation bezogen worden. Befreiungen von auswärtigem Gericht einschließlich der obersten Reichsgerichtsbarkeit (Kaiser und RHG) finden sich zumindest seit dem 12. Jahrhundert, verstärkt seit der Mitte des 13. Jahrhunderts 349 . Die erstinstanzlich konkurrierende Zuständigkeit des Kaisers selbst und des obersten Reichsgerichts (Evokation) wird durch RKGO 1495 § 16 allgemein beseitigt 350 . Eine kaum zu übersehende Verbreitung der Befreiungen von auswärtigem Gericht hatte der gesetzlichen Abschaffung vorgearbeitet 351 . Die Rechtspflegesituation insbesondere des 15. Jahrhunderts ist somit nicht allein durch den weitgehenden Ausfall der konkurrierenden erstinstanzliche Zuständigkeit des obersten Reichsgerichtes gekennzeichnet (Befreiungen von auswärtigem Gericht). Die Funktionseinbuße der Reichsjustiz beruht gleichwertig darauf, daß das Reich infolge politischer und organisatorischer Schwäche seines obersten Gerichtes die in eine instanzgerichtliche (Appellations-) Zuständigkeit transformierbaren Urteilsschelten nicht in hinreichendem Umfange wahrnehmen konnte. Als Folge dieser doppelten Beeinträchtigung des obersten Reichsgerichtes, die auch die vom Kaiser selbst 352 und 34 °) Vgl. F r a n k l i n , II S. 6 ff., T o m a s c h e k , S. 606 ff., T r u s e n , S. 179 f., G r u b e , S. 21 f., G u d i a n , Institutionen, S. 407, K l i n g e l h ö f e r , S. 159 f., ferner die oben Anm. 271 Genannten. 35 °) In der Literatur wird oft fälschlich das Jahr 1487 als Zeitpunkt der Aufhebung des Evokationsrechtes genannt, vgl. etwa S c h r ö d e r - v . K ü n ß b e r g , S. 594, C o n r a d , I S. 501 (1387 ist ein Druckfehler), B u c h d a , H R G II, Sp. 497. Wie bereits S m e η d , S. 54 Anm. 4 klargestellt hat, beruht dieses Datum auf einem MißVerständnis R. S c h r ö d e r s , der F r a n k l i n s Äußerung (II S. 11) zu dem Projekt einer K G O — vgl. F r a n k l i n , I I S . 12 Anm. 1 — als eine solche zu geltendem Recht aufgefaßt hat. 3M ) Vgl. oben S. 91 Anm. 185. 352 ) Die vorwiegend in der älteren Literatur — vgl. etwa T o m a s c h e k , S. 534 ff., F r a n k l i n , II, S. 41 ff., L e c h η e r , S. 24 f., auch T r u s e n , S. 183 ff., 190 ff. — herausgestellte persönliche Jurisdiktion ist weder nach ihrem Charakter nodi hinsichtlich ihres Umfanges abschließend geklärt. Aus allen Mitteilungen zu dieser Art der Reditspflege ergibt sich jedenfalls kein Hinweis, daß es sich um etwas anderes als die ordentliche Zuständigkeit für Reidisstände gehandelt habe — vgl. bereits oben S. 115 Anm. 312. Im übrigen beziehen die Befreiungen von auswärtigem Gericht die Person des Königs wohl öfter ein als dies T o m a s c h e k , S. 525, 606 und T r u s e n , S. 185, 194 annehmen. Dies geschieht entweder ausdrücklich (,Uns und Unser Hofgericht') oder folgt dort, wo das Privileg eine ausschließliche .erstinstanzliche' Zuständigkeit verleiht entgegen T o m a s c h e k aus dem Sinn der Regelung. T o m a s c h e k , S. 605 f. legt seinen Ausführungen über die Freiheit von fremden Gerichten im übrigen ein unzutreffendes Verständnis dieser Privilegierungen zugrunde. F r a n k l i n , II 1 ff. äußert sich in allen diesen Dingen weitaus vorsichtiger, vgl. oben S. 117 Anm. 326 ff.

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

durdi delegierte Richter 3 5 3 getroffenen Entscheidungen nicht ausgleichen konnten, waren weite Gebiete von einer reichsgerichtlichen Rechtsprechung de facto völlig frei 3 5 4 . Das oberste Tribunal des Reiches erschien als ein auswärtiges Gericht, zu dem man seit unvordenklicher Zeit keine Beziehungen mehr unterhielt. Vor diesem Hintergrund ist die Errichtung des R K G zu sehen. Insbesondere die Anerkennung als Appellationsgericht mußte sich das R K G erst erkämpfen. Der Gewinn der Appellationszuständigkeit gegen Ende des 15. Jahrhunderts erscheint angesichts der geschilderten Verhältnisse der obersten Reichsgerichtsbarkeit im Spätmittelalter fast wie eine Laune der Geschichte. Das Aufkommen eines aus rationalen Überlegungen bestehenden und deshalb nicht unbezweifelbaren, vielmehr bei gesteigertem Wissen und Denkvermögen — in einer übergeordneten Instanz — verbesserungsfähigen Prozesses bewahrte die Reichsjustiz vor weitgehender und anhaltender Funktionsunfähigkeit bereits zu Beginn der Neuzeit. Der Strukturwandel zum rationalen und deshalb in Instanzen denkenden Recht 3 5 5 verhalf dem Reich — von einigen Ausnahmesituationen abgesehen — zu einer neuen allgemeinen Zuständigkeit, zu einer Stunde null in der Auseinandersetzung mit der Gerichtshoheit der Landesherren: Mit der Appellation gewinnt das Reichsgericht die Zuständigkeit für grundsätzlich jeden vor den landesherrlichen Gerichten verhandelten Rechtsstreit, zwar nicht mehr in konkurrierender ,erster', wohl aber in einer späteren Instanz (zurück). Mit dem Aufkommen des gelehrten Rechts erfuhr das Reich unversehens eine bislang unterschätzte strukturelle Stabilisierung seiner Gerichtsbarkeit 356 . Die hierin liegende Chance wurde zunächst mit der Errichtung einer ständigen und infolge seiner Besetzung mit politisch relativ unabhängigen Mitgliedern des gelehrten Juristenstandes ) Vgl. T r u s e n , S. 188 ff. ) Als allgemeines Urteil ist dies ausgesprochen von M i 11 e i s , Staat, S. 333, S c h l o s s e r , S. 26, L e c h η e r , S. 64 f. unter Verkennung des Verhältnisses von Rechtszug und Appellationsprivileg, F r a n k l i n , II S. 10 f. unter Verkennung der Selbständigkeit der Urteilsschelte gegenüber der Evokation, vgl. ferner W i e a c k e r , S. 100, P i t z , S. 106 f., F r a n k l i n , II S. 41, 60 f., B a i t i , S. 132, T r u s e n , S. 154 f., 178 ff., 206, für Brandenburg S m e n d , S. 55 mit Anm. 3, ders., Br.-Pr. S. 162 f., für Bayern S c h l o s s e r , S. 27 ff., 83 f., 437, allerdings schief unter Verkennung des Verhältnisses von Evokationsund Appellationsprivilegien, einschränkend ders., Einflüsse, S. 13 f., unzutreffend aus dem vorgenannten Grunde auch R o s e n t h a l , I S . 12. 3 " ) Vgl. D i e s t e l k a m p , S. 373. 35β ) Ansatzweise verstanden bei T h u d i c h u m , RKG, S. 159. 35S

SM

Reditspflegeverhältnisse 1495

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auch eigenständigen Reichsgerichtes organisatorisch genutzt. Auf der anderen Seite wurde sie aber in der Vergabe von Appellationsprivilegien vertan. Diese Appellationsprivilegien finden sich — von vereinzelten Ausnahmen abgesehen 357 — entgegen der bislang herrschenden Vorstellung erst etwa ab 1450 S58. Erst als sich die Appellation zum Reichsgericht durchsetzte 359 konnte das Bedürfnis einer Befreiung von diesem Rechtsmittel überhaupt entstehen. Die ersten Appellationsprivilegien stellen nicht mehr auf die Ladung vor ein auswärtiges Gericht ab, sondern verbieten, ohne Eid und Kaution, hin und wieder auch bereits ohne Erreichen eines geringen Streitwertes (bis zu 20 fl.) zu appellieren, richten sich also an Details des technischen Appellationsverfahrens aus 36°. Diese wenigen 361 vor 1495 erteilten Appellationsprivilegien sowie die streitigen Freiheiten der Goldenen Bulle sind Gegenstand der in RKGO 1495 § 31 getroffenen Regelung. Die Befreiungen von auswärtigem Gericht sind in § 16 geregelt soweit sie das oberste Reichsgericht betreffen (Evokationsprivilegien). Im übrigen beziehen sie sich auf kaiserliche Landgerichte und stehen mit der in der RKGO 1495 getroffenen Regelung der Verhältnisse des obersten Reichsgerichtes nicht in Zusammenhang.

35T

) Hier ist zunächst die auf die Appellation abstellende Freiheit der Goldenen Bulle zu nennen. Andere Privilegien können sich auf die Verhältnisse Oberitaliens beziehen. Soweit in der Literatur sonst nodi von Appellationsprivilegien die Rede ist, liegen dem durchweg Mißverständnisse zugrunde. Vgl. hierzu etwa F r a n k l i n , II S. 16 Anm. 1 und L ü η i g , Pars spec. Cont. II, III. Fortsetzung ( = 10. Band, 2. Teil), S. 19; ferner L e i s e r , S. 19, B a s t i a n , S. 21, 33 ff., 60 f., 82 ff. — bei der dort behandelten Urkunde von 1275 handelt es sich nidit um ein Appellationsprivileg, sondern um eine Reditszugsregelung zum Freiburger Oberhof; zu Zweifelsfragen in bezug auf Trierer Privilegien vgl. E i s e n h a r d t , S. 82 f. mit Anm. 28, 28 a, ders., Privileg Trier, S. 278 f. mit Anm. 15, 16, 17. 358 ) Davon überzeugt bereits die Durchsicht von L ü η i g , Pars spec. Cont. IV, Teile 1 und 2. Appellationsprivilegien aus der Zeit zwischen 1464 und 1495 finden sich dort z. B. Teil I, S. 108 f., 363 f., Teil 2, S. 25 f., 126 ff., 139 ff., 228 ff., vgl. hierzu ferner R o s e n t h a l , I S. 13 und S c h l o s s e r , S. 29 hinsiditlidi bayrischer Appellationsprivilegien vor 1474 und 1480, L i e d 1, S. 50, der Augsburg unzutreffend ein unbeschränktes Privileg zuspricht, ferner E i s e n h a r d t , privilegia, S. 9 ff., 18, F r a n k l i n , KKG, S. 39 Anm. 159, S. 41 Anm. 167. 3M ) Vgl. oben S. 110 mit Anm. 275, 111 mit Anm. 289, 114 mit Anm. 304—307, 116 mit Anm. 320. M0 ) Vgl. Anm. 358. »·») Vgl. Anm. 358.

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In die kritische Anfangszeit des R K G fällt gerade auch die Auseinandersetzung um die Freiheiten der Goldenen Bulle. Sie enthält in den einschlägigen Kapiteln VIII und X I zunächst die Freiheit von auswärtigem Gericht (,Evokationsprivileg', Exemtion). Insoweit handelt es sidi um die Aufzeichnung eines bestehenden Rechtszustandes 362 . Es folgt, eingeleitet mit den Worten ,adicientes expresse . . die in technische Begriffe ( . . . a processibus, sentenciis interlocutoriis et diffinitivis sive preceptis...) gefaßte Befreiung von der Appellation. Dem bestehenden Recht der Befreiung von erstinstanzlichen auswärtigen Gerichten wird somit unter — bewußter oder aber unbewußt-intuitiver, letztlich auf ,Verwechslung' beruhender — Gleichsetzung von Urteilsschelte und Appellation die Freiheit auch von diesem Rechtsmittel an die Seite gestellt. Von dem zuvor nicht privilegienfähigen Verfahren nach Schelte kann infolge der Übertragung romanisierter Rechtsvorstellungen auf das deutsch-rechtliche Institut jetzt befreit werden. Die Immunität soll durch das aus den Verhältnissen Italiens 3 6 3 und des kanonischen Redits 3 6 4 gewonnene Appellationsprivileg auch gegenüber dem Rechtszug abgesichert werden. Die Möglichkeit der gedanklichen Verknüpfung von Schelte und Privileg setzt dabei ein — ob nun bewußt oder unbewußt — zumindest in den Grundzügen romanisiertes Verständnis des Rechtszuges voraus. Dies und audi der Umstand, daß es sich bei der Appellationsfreiheit um ein in konsequenter Fortführung der zwischen Reich und Kurfürstentümern bestehenden Rechtslage neues 3 6 5 Recht handelt, kommt

3 β 2 ) Zu dieser oft aufgeworfenen Frage vgl. L a u f s , Goldene Bulle in H R G I, Sp. 1740, Ei s e η h a r d t , S. 75 ff., 85, ders., Privileg Trier, S. 278, T r u s e n , S. 180, Z e u m e r , Goldene Bulle I, S. 51 ff., 226 ff., F r a n k l i n , II S. 9 f. mit Anm. 3, L e c h n e r , S. 64, Β e η d e r , S. 10, G u d i a η , Institutionen, S. 407. 3 β 3 ) Vgl. T r u s e n , S. 165 f f . 3 β 4 ) Vgl. T r u s e n , S. 6, 10 f., 12 ff., 35 ff., 168 ff., B u c h d a , H R G I, Sp. 196 f., L e i s e r , S. 19, D i e s t e l k a m p , S. 372, auch K r o e s c h e l l , II S. 231 ff., der entsprediend neueren Ansätzen die Verwissenschaftlichung des Redits „nicht" als „Phänomen der Rezeption, sondern vielmehr der Säkularisation" sieht. 3 e 5 ) Diese Feststellung besagt nicht, daß die Appellationsbefreiung allen Kurfürsten aus Anlaß der Goldenen Bulle als neues Recht verliehen worden ist. Sie stellt jedoch klar, daß es sich bei dem Appellationsprivileg in jedem Falle gegenüber der bestehenden Freiheit von auswärtigem Gericht um ein neueres Recht handelt. Teilweise gibt bereits der Wortlaut der Befreiungen — vgl. oben S. 87 Anm. 155 — eindeutig Auskunft. Die Befreiung von auswärtigem Gericht be-

Gerichtsprivilegien der Goldenen Bulle

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in der Wendung ,adicientes e x p r e s s e . . z u m Ausdruck. Sie läßt das Appellatiönsprivileg selbständig, aber doch gleichsam nur als Erläuterung und Ergänzung der Exemtion erscheinen. Da Appellationen an weltliche Gerichte noch um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu den Seltenheiten zählen, hat Β u c h d a die Ansicht vertreten, das Appellationsprivileg der Goldenen Bulle habe „im wesentlichen zunächst nur den Rechtszug an Kaiser und Hofgericht nach gescholtenem Urteil unterbinden wollen" 366 . Er kann sich dabei auf die zutreffende Feststellung stützen, daß die Quellen seit dem 11. Jahrhundert die Begriffe appellare, appellatio auch für die Urteilsschelte verwenden 367 . Es ist deshalb terminologisch unklar, wann die "Worte im technischen und wann sie im untechnischen Sinne gebraucht werden. Der Schluß, daß das Wort appellare gerade in der Goldenen Bulle im Sinne der Schelte gebraucht werde, bedarf jedoch einer näheren inhaltlichen Bestimmung. Sieht man nämlich die Urteilsschelte noch rein in ihrem Gegensatz zur Appellation, so beruht er auf der Unterstellung, daß es den Appellationsprivilegien entsprechende Freiheiten auch gegenüber der klassischen deutschen Urteilsschelte gegeben haben könne. Eine Annahme, die nach der stand danach für Böhmen, Mainz, Trier und Köln bereits. Dasselbe gilt für die Freiheit Böhmens von der Appellation, die 1356 möglicherweise bereits seit einigen wenigen Jahren privilegienmäßig ausgeformt war — vgl. Ζ e u m e r , Goldene Bulle I, S. 51 ff. Die Appellationsbefreiung für Köln, Mainz und Trier ist nach dem Wortlaut offen. Die klarstellenden Worte der böhmischen Freiheit fehlen hier. Für Sadisen, Brandenburg und Kurpfalz erscheinen alle Freiheiten als Erstreckung der den übrigen Kurfürsten bereits zugestandenen. Dies kann nach dem Stand der Verbreitung der Befreiungen von auswärtigem Gericht für diese nicht der Fall sein. Insoweit handelt es sidi um eine spraditedinisdie Zusammenziehung mit den neu erteilten Appellationsprivilegien der weltlichen Kurfürsten. Aber audi für die geistlichen Kurfürsten dürfte es sich bei dem Appellationsprivileg um ein in Übertragung der böhmischen Freiheit neu verliehenes Recht handeln. Der Fragestellung — vgl. Anm. 362 — kommt jedoch keine übermäßige Bedeutung zu, da sie den historischen Verhältnissen nicht gerecht wird. Die Freiheit von der im Reich noch kaum geübten Appellation mußte den Zeitgenossen als zwingende Folgerung aus der in der Befreiung von auswärtigem Gericht angelegten Immunität der Kurfürsten, ja als ihr Bestandteil erscheinen. Unzutreffend ist jedenfalls die bei Β r o ß , S. 23 letzter Absatz vertretene Ansidit, die Appellationsfreiheit habe für alle Kurfürsten bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bestanden. Im Ergebnis wie B r o ß , jedoch in der Argumentation etwas zurückhaltender E i s e n h a r d t , privilegia, S. 16 ff. 3ββ ) HRG I, Sp. 197, 200. ' " ) Vgl. J a k o b G r i m m , Vorrede zu T h o m a s , S. XI f., Β u c h d a , H R G I, Sp. 197, B r o ß , S. 22 mit Anm. 18, audi oben S. 110 Anm. 275, S. 114 Anm. 309.

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Funktion der Schelte im deutschen Rechtssystem 368 unzutreffend ist. Neben den bereits oben aus dem Wesen der deutschen Gerichtsverfassung hergeleiteten Gründen gegen die Annahme von Privilegierungen gegenüber der Urteilsschelte sollen hier noch einige in Besonderheit aus den Verhältnissen der Goldenen Bulle abgeleitete vorgetragen werden. Das Appellationsprivileg der Goldenen Bulle ist eine Einzelerscheinung. Richtete es sich gegen die Urteilsschelte, so ist nicht einsichtig, warum es bis 1356 keine entsprechenden Freiheiten von der Schelte ans Reich in Form von Privilegien gegeben hat. Schließlich war die Urteilsschelte wie die Evokation und mehr noch als die Zuständigkeit der kaiserlichen Landgerichte eine seit Jahrhunderten bekannte Erscheinung. Auch bleibt nach den bislang herrschenden Vorstellungen offen, warum die anderen Fürsten, Reichsstädte und sonstigen Landesherren sich nach 1356 noch einhundert Jahre zurückhielten und selbst dann nicht etwa mit einem iiiimitierten Privileg, sondern mit ganz geringfügigen Streitwerten begannen. Die fehlende Limitierung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle ist mit Ausdruck dessen, daß es als Annex und unter den Kategorien der Immunität/Exemtion gesehen wurde. Daß die Evokationsprivilegien (richtiger: Befreiungen von auswärtigem Gericht) nicht auch die Appelation erfassen, ist allgemein anerkannt S69. Sie beziehen sich nach den Grundsätzen der deutschen Gerichtsverfassung auch nicht auf die Urteilsschelte. Privilegien gegen diese hat es mithin nie gegeben 370. Erst ein romanisiertes Verständnis des Rechtszuges eröffnet die Möglichkeit, Privilegien auf ihn in Anwendung zu bringen. Das Fehlen von Privilegien gegen Urteilsschelte und Appellation bis 1450 zeigt, daß das Entstehen der neuen Privilegiengattung notwendigerweise die Vorstellung einer echten instanzgerichtlichen Zuständigkeit zur Voraussetzung hatte. Diese Vorstellung ist aber inhaltlich ,Appellation' selbst dann, wenn man sie formell und terminologisch nodi mit dem deutschen Rechtszug verknüpfte. ses

) Vgl. oben S. 99 ff., 104. ) Vgl. P e r e i s , S. I f . , B u c h d a , H R G II, Sp. 497, S c h r ö d e r - v . Κ ü η ß b e r g , S. 594 f., F r a η k 1 i η , II S. 16 Anm. 1. S70 ) So im Ergebnis audi E i s e n h a r d t , privilegia, S. 8 ff., 15 f., der allerdings nicht vom Charakter der Schelte, sondern von Einzelmerkmalen her argumentiert. Zu diesen Einzelheiten kann hier nidit Stellung genommen werden, vgl. oben S. 1 Anm. 2, S. 91. M9

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Das Appellationsprivileg der Goldenen Bulle ist eine aus böhmischen Verhältnissen gewonnene und auf die anderen Kurfürstentümer übertragene verfrühte Einzelerscheinung, der im Verhältnis zu den Reichsgerichten rund einhundert Jahre im wesentlichen eine nur theoretische Bedeutung zukommt, da die Appelation zum Reich noch auf sich warten läßt und romanisierte Formen der Urteilsschelte (der in Teilen romanisierte Rechtszug) infolge des breiten Ausfalles dieses Instituts im Verhältnis zum Reich nicht entstehen. Zwar hat sich die Appellation als allgemeines Rechtsmittel in Böhmen nicht wesentlich früher als sonst im Reich durchgesetzt 371 , doch kannte man in diesem Lande eine starke kirchliche Gerichtsbarkeit 3 7 2 und am Hofe herrschten seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im kanonischen Recht geschulte Ratgeber vor 3 7 S . Auf diesem Wege dürften die Appellationsvorstellungen in einer danach vorerst nicht wiederholten denkerischen Vorwegnahme späterer Entwicklungen auf Schelte und Rechtszug übertragen worden sein 3 7 4 . Der aktuelle Anlaß für die Erstreckung der Immunität auf den mit romanisierten Rechtsvorstellungen betrachteten Rechtszug muß dabei eher im Kampf gegen die auswärtigen Oberhöfe Magdeburg und Nürnberg als in einer Absicherung gegenüber dem Reich gesehen werden. Der Rechtszug ans Reich war ohnehin tot, zudem stellte das Haus Luxemburg den Kaiser. Gegen den Rechtszug an auswärtige Oberhöfe kämpfte man aber seit der Mitte des 14. Jahrhunderts auf die Dauer von rund zweihundert

8 7 1 ) Im Verhältnis zu Sachsen nehmen dies B u c h d a , S. 311 Anm. 156 und Boehm, Bd. 60, S. 231 an. Die Ausführungen O t t s , S. 114 ff., 174 ff. und weiter legen die Vollrezeption eindeutig in die Zeit von 1450 bis 1550. 3 7 2 ) Vgl. O t t , S. 4 ff., 15 ff., audi 126 ff. zum romanisierten Schiedsgerichtsverfahren seit dem 13. Jahrhundert. 3 7 3 ) Vgl. O t t , S. 63 ff., audi T r u s e n , S. 196 ff. 3 7 4 ) Vgl. oben S. 126 mit Anm. 364. — Insoweit ist der Ansicht Β u c h d a s, die Appellationsfreiheiten der Goldenen Bulle hätten sich auf den Reditszug bezogen, zuzustimmen. Im Prinzip ist aber auch die Erkenntnis von Eisenhardt, privilegia, S. 17 f. richtig, daß man in der Goldenen Bulle „schon mehr als nur Ansätze zur Entwicklung der privilegia de non appellando sehen" könne. Was den Zeitpunkt des Aufkommens dieser ersten Appellationsprivilegien betrifft, so spricht bislang nichts dafür, daß sie etwas anderes seien als ein Produkt der Kanzlei Karls IV. Die Erstreckung entsprechender Rechte 1355 auch auf die bayrische Oberpfalz — vgl. Ζ e u m e r , a. a. O., S. 54 — spricht im übrigen dafür, daß die Überlegungen zur Übertragung der Appellationsvorstellungen auf den Reditszug 1355/56 nidit völlig neu gewesen sind.

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Jahren mit Mühe an 375. Die Übertragung der römisch-kanonischen Appellationsvorstellungen auf Schelte und Rechtszug war e i n e der Möglichkeiten, diesen Kampf zu führen. Indem man sie in erster Linie gegenüber Magdeburg und Nürnberg ergriff, wurde die Freiheit auch von einem möglichen Rechtszug an Kaiser und Reich, von einer Appellation ans Reichsgericht, Bestandteil der böhmischen Immunität, diese wiederum Vorbild der in Kapitel X I der Goldenen Bulle niedergelegten kurfürstlichen Rechte 376. Die Beziehung der Appellationsbestimmung der Goldenen Bulle zum Kampf gegen auswärtige Oberhöfe gewann in den anderen Kurfürstentümern keine den böhmischen Verhältnissen entsprechende Bedeutung. Zumeist kannten sie keine einflußreichen Oberhöfe außerhalb ihres Gebietes. Man konnte sich des Rechtszuges nach auswärts aber auch einfach durch landesherrliche Anordnungen entledigen 377. Das Privileg hatte somit einen restringierten Anwendungsbereich und blieb ein unterbewerteter 378 vorbeugender Schutz gegen die aus einem möglicherweise aufkommenden Instanzenzug zum Reich für die Immunität der Kurfürstentümer entstehende Gefahr. Aus seinem partiellen Leerlauf erklärt sich, warum andere Landesherren nicht auch ein solches Privileg anstrebten. Erst mit dem Durchbruch der Appellation seit 1450 greift das Recht 379, wird aber nur von Brandenburg und Sadisen so aktiviert, daß es gegenüber dem RKG durchgesetzt werden kann. Der Umstand, daß bis 1450 keine weiteren Appellationsprivilegien vergeben wor375) Ygj O t t , S. 210 ff., der S. 213 f. einen unmittelbaren Bezug zwischen diesen Bemühungen und der Goldenen Bulle herstellt. In diesem Zusammenhang ist es ferner von Bedeutung, daß die Freiheit von .Appellationen' in Böhmen nicht erst aus Anlaß der Goldenen Bulle entwickelt worden ist, vgl. oben Anm. 365. Das Abschneiden auswärtiger Oberhofsbeziehungen setzt in Böhmen also bereits fünfzig bis einhundert Jahre früher als sonst üblich ein. 37e ) Die Zusammenhänge zwischen böhmischer Immunität und Goldener Bulle hat Ζ e u m e r , Goldene Bulle I, S. 51 ff. aufgedeckt. Zur Frage nach dem Verfasser der Bulle vgl. daselbst S. 178 ff. 377

) Vgl. oben S. 115 ff. mit Anm. 322. Das war der übliche Weg, den weniger Scharfsinnige ergreifen mochten. 378 ) Die Unterbewertung der Gerichtsprivilegien der Goldenen Bulle durch die Kurfürsten dürfte damit in Zusammenhang stehen, daß das Gesetz ganz allgemein als konservatives Grundgesetz zunächst weitaus weniger Beachtung gefunden hat, als dies später im 16. Jahrhundert angesichts veränderter Verhältnisse der Fall gewesen ist, vgl. L a u f s , H R G I, Sp. 1740, 1744, P e t e r s e n , S. 225 f., Ζ e u m e r , Goldene Bulle I, S. 2 ff., 226 ff. 379 ) Insoweit stimme ich voll mit Β u c h d a , H R G I, Sp. 195 ff., 200 überein.

RKG und Appellationsprivileg der Goldenen Bulle

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den sind, zeigt im übrigen, daß trotz aller römisch-kanonisch bedingter Umbildungen der Urteilsschelte und trotz des latinisierten Sprachgebrauchs bis zu diesem Zeitpunkt der Grundcharakter der Urteilsschelte erhalten geblieben ist. Erst das Bemühen um Befreiung von dem Rechtsmittel zeigt an, daß sich die Vorstellung eines im Instanzenzug verbindlich übergeordneten Gerichts gegen die des Einholens einer Rechtsweisung durchgesetzt hat. Den Zeitgenossen freilich wurde der Ubergang vom deutschen zum römisch-kanonischen System der Gerichtsverfassung nicht bewußt. Die Umbildung der Urteilsschelte hat Jahrhunderte in Anspruch genommen, sie wurde begleitet von einem die Unterschiede überdeckenden Sprachgebrauch. Dem RKG erschienen die Appellationsfreiheiten als seit rund 150 Jahren bestehende Redite gegen die Appellation, die derart unregelmäßig wahrgenommen worden waren, daß man an ihrem Bestand zweifeln mußte. Zudem waren sie der Zuständigkeit des Gerichtes abträglich, den im Interesse des Reiches wirkenden Kräften politisch unerwünscht. Vielleicht brachte man ihnen auch wegen ihrer einzigartigen Unbegrenztheit und der in den Einzelheiten ungewissen Herkunft Vorbehalte entgegen. Auf der im Gefolge unkontrollierter Rezeptionsvorgänge eintretenden weitgehenden Gleichsetzung von Urteilsschelte und Appellation beruhen letztlich die bis heute anhaltenden Verständnisschwierigkeiten. Kehrt man konkret zu der 1495 bestehenden Situation zurück, so bestanden rechtlich zwei große Lücken in der Appellationszuständigkeit des RKG: die österreichischen Exemtionen und die von Sachsen und Brandenburg aufgrund der Goldenen Bulle behauptete Appellationsbefreiung 380. Die Sonderstellung Österreichs wurde vom RKG grundsätzlich anerkannt 3 8 1 , die Fortgeltung der Freiheiten der Goldenen Bulle ließ das Gericht offen und unentschieden. Sie war zweifelhaft, jedoch nicht aus Überlegungen prinzipieller Art wegen der 3eo ) Darin kann — neben der Sonderstellung Württembergs, vgl. oben S. 39 Anm. 58 — der Inhalt dessen gesehen werden, was W i e a c k e r , S. 105, vgl. auch S. 149, nicht ganz zutreffend mit den Worten beschreibt, die Reichsreform habe „die schwächeren Reichsglieder mit Erfolg seiner (d. i. das RKG) Zuständigkeit" unterworfen. Die faktische Unterwerfung vieler — auch schwächerer — Reichsglieder erfolgte nämlich erst als Vollzug der Reichsreform durch das RKG während des 16. Jahrhunderts. Im übrigen mußten aber auch alle rheinischen Kurfürsten, Bayern sowie die mächtigen Reichs- und Hansestädte die Reichsgerichtsbarkeit anerkennen. 381 ) Vgl. dazu oben S. 59 ff.

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erfolgten Neuordnung, sondern allein aufgrund der Behauptung, daß der contrarius usus der rheinischen Kurfürsten sich auf die Rechte der übrigen Kurfürsten nachteilig auswirke 382. Die Unsicherheit der Rechtslage ist vornehmlich darauf zurückzuführen, daß 1495 wie in vielen anderen Angelegenheiten 383 auch hinsichtlich der Fortgeltung bestehender Appellationsprivilegien eine abschließende Regelung nicht erfolgt war, aus prinzipiellen Gründen auch nicht hatte erfolgen müssen. Die Schwierigkeiten lagen jedoch in konkreten Rechtsfragen der Geltung, sowie des territorialen, sachlichen und personellen Umfangs der Rechte. Diese sich aus der konkreten Anwendung der Privilegien ergebenden Meinungsverschiedenheiten hatte man mit einer allseits befriedigenden salvatorischen Klausel zugedeckt, die es dem Gericht überließ, sich in ihrem Rahmen mit den Ständen darüber auseinanderzusetzen, welche Freiheiten wo, für wen und in welchem Umfange gelten sollten. Auch in diesem Bereich findet sich also der die RKGO 1495 und ihre Nachfolgerinnen bis 1548 kennzeichnende Mangel einer detaillierten Zuständigkeits- und Verfahrensregelung 384, der sich daraus erklärt, daß die Reichsreform nicht vorrangig Fragen des Prozeßrechts und der technischen Gerichtsverfassung zum Gegenstand hatte 385. Neben der Fortbildung des Verfahrensrechts 386 kam dem RKG damit auch die Aufgabe der Bereinigung vieler staats- und reichsrechtlich unklar gewordener Verhältnisse zu S87. 382

) Soweit die Zusammenfassung des oben S. 93 f. entwickelten Sachstandes. ) Vgl. S t ö 1 ζ e 1, II S. 108 f., 115 ff. 384 ) Vgl. S t ö l z e l , II S. 96—170, 599, S m e n d , S. 54, v. G ö n n e r , III S. 21 f., E n g e l m a n n , S. 130 f., S t o b b e , II S. 192 ff., P o e t s c h , S. 44, L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 419 f.; bereits 1496 schlugen die Angehörigen des RKG eine umfangreiche Verbesserung der Ordnung vor, vgl. M ü l l e r , Reidistags-Theatrum II, S. 38 ff. 38ä ) Die R K G O 1495 ist das Ergebnis einer verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung, die sich nicht um Verfahrensrecht kümmerte, sondern bereits in praxi rezipiertes und altes Recht zur Anwendung brachte. Vgl. hierzu Trusen, S. 190 ff., 204 ff., 208 und neuestens B r o ß , S. 9 f. mit Anm. 1, 2. Fraglich erscheint unter diesen Voraussetzungen allerdings, inwieweit die „Rezeption 1495 die prozeßrechtliche Entwicklung zu einem gewissen Abschluß bringt". S8e ) Sie war dem Gericht auch später noch durch R K G O 1555 II Tit. 36 zur Aufgabe gemacht und wurde von ihm durch den Erlaß .Gemeiner Bescheide' wahrgenommen, vgl. W i g g e η h o r η , S. 78, Η e u s i η g e r , S. 7, für den R H R S e 11 e r t, R H R , S. 91 f. 387 ) Als weiteres Beispiel seien nur die sowohl mit dem Matrikelwesen (Steuern) als auch mit dem Rechtszug (Gradatim-Appellation) verbundenen Fragen der Reichsunmittelbarkeit oder Landsässigkeit vieler Gebiete genannt. Stichwort: Exem383

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Es kann hier nicht abschließend beurteilt werden, ob und inwieweit der Nichtgebrauch der Rechte der Goldenen Bulle durch die rheinischen Kurfürsten in der Sache wirklich eine hinreichende Handhabe dafür bot, die Anwendbarkeit für die übrigen Kurfürsten begründet in Zweifel zu ziehen. Es ist kaum einsichtig, weshalb der usus contrarius anderer Brandenburg und Sachsen präjudizieren sollte 388. Man muß deshalb annehmen, daß die Einwände der Untertanen Sachsens und Brandenburgs vom RKG bewußt aufgegriffen und hochgehalten worden sind, um nach Möglichkeit die in seiner Zuständigkeit als Appellationsgericht von vornherein bestehende Lücke zu schließen. In dieser Weise konnte man unter Berufung auf eine unklare Rechtslage zugunsten des eigenen Hauses und nach dem Motto ,amplianda est jurisdictio imperii' 389 mit geringem Aufwand Justizpolitik betreiben. Zwar geschah dies nicht derart, daß man Entscheidungen erlassen hätte, die die Geltung der Goldenen Bulle verneinten — das wäre sowohl rechtlich als auch politisch angesichts der salvatorischen Klausel wohl zu weit gegangen —, doch entschied man audi nicht zugunsten der beiden Kurfürsten, vermied vielmehr eine rechtliche Klärung. Das Gericht traf gewissermaßen vorbeugende Maßnahmen zur Sicherung seiner Zuständigkeit. Es erkannte Appellationsprozesse und zwang damit die Kurfürsten zur Intervention. Spätestens in diesem Stadium der Auseinandersetzung um die exceptio non devoluta oder de non appellando enden alle von S m e η d untersuchten tionsprozesse des Reichsfiskals, vgl. etwa Β 1 o e m , S. 59 f., auch oben S. 62 Anm. 19, S. 64 Anm. 29, S. 89 f. 388 ) Auf dieser Grundlage argumentieren die brandenburgisdien Interventionsschriften, vgl. S m e n d , Br.-Pr., S. 164 f. — Zum Erlöschen von Privilegienrechten infolge anhaltenden Nichtgebrauchs vgl. R o e n n b e r g , S. 154, F. E. P u f e n d o r f , S. 255 f., S a l z m a n n , S. 94 ff., 102 ff., L u d e w i g , II S. 10 ff., 38 ff., P e r e i s , S. 5, S m e n d , S. 59 ff., G ü n t h e r , S. 59, 63, S t ö l z e l , II S. 137 f., E i s e n h a r d t , S. 81, 84, 88 und 92 f. Es war als theoretische Möglichkeit anerkannt, stellte sich aber in praxi stets als eine politische Frage dar. 389

) F a h n e n b e r g , S. 64 spridit hinsichtlich der Einstellung der Assessoren des RKG von einem solchen „Lieblingssatz damaliger Zeiten". Die Wendung „pro amplianda iurisdictione Imperiali" findet sich wörtlich bei G a i l , S. 273 (Buch I Obs. LXXII), w o er die Lehre von den tres conformes für das RKG ablehnt. Eine entsprechende Haltung gestehen dem RKG auch S t ö l z e l , II S. 115 f., 600, G ü n t h e r , S. 35 und S c h w a r t z , S. 130 zu. Ganz konkret werden M y n s i n g e r und G a i l im 18. Jahrhundert von E s t o r verdächtigt, die Lehre vom Zusammenhang der Sachen zugunsten der Gerichtsbarkeit des RKG ausgeklügelt zu haben, vgl. S e i l e r t , R H R , S. 110, ders., Zuständigkeit, S. 122 f.

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Fortgeltung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle

Fälle seo . Es erging also nicht nur — darauf sei nochmals ausdrücklich hingewiesen 391 — keine Sachentscheidung, vielmehr fehlt es auch an einem Erkenntnis über die Zuständigkeit und damit an einer feststellbaren Rechtsauffassung des Gerichtes in der streitigen Frage. Die Prozesse erledigten sich durch anderweitige Maßnahmen der Parteien (Vergleiche), wurden infolge Zeitablaufs gegenstandslos oder blieben einfach liegen S92. Man hatte seine Zweifel. Zur Rechtfertigung seines Verhaltens bediente sich das Gericht mehr rechtstechnischer als in der Sache zwingender Argumente. Zum einen forderte es eine Stellungnahme des Kaisers, also eine authentische Erklärung 393 über die Anwendbarkeit des nunmehr rund 150 Jahre bestehenden und hinsichtlich seiner Wirksamkeit in Zweifel geratenen Gesetzes; offenbar blieb dies ohne Erfolg 394. Zum anderen war mit der Pflicht der Landesherren zur Intervention diesen auch die Beweislast für den Bestand der von ihnen in Anspruch genommenen Freiheit auferlegt. Dies ermöglichte die Verzögerung der Entscheidung unter Berufung auf die Unklarheit der Rechtslage und die fehlende Erklärung des Kaisers. Ob sich das RKG auch des Gedankens der Prorogation bediente, um die Appellation audi gegen den Widerspruch der Kurfürsten als wirksam eingelegt ansehen zu können, sofern sich nur keine der Parteien auf die Freiheit berief — wie dies S t ö 1 ζ e 1 395 meint —, erscheint fraglich. Eine solche Argumen39

°) Vgl. oben S. 88 Anm. 161, 162. ) Zum Erkennen der Prozesse und zur Interventionspflicht der Privilegierten vgl. oben S. 15 f f . 392 ) Vgl. S m e η d , Br.-Pr., S. 163 ff. 393 ) Als Folge seines Reservatrechtes zur Erteilung von Privilegien stand dem Kaiser das Recht verbindlicher Auslegung ebenso zu wie die Rechtsprechung in Privilegienangelegenheiten, die später aus diesem Grunde vom R H R und nicht vom RKG ausgeübt wurde, vgl. dazu B l o e m , S. 70 ff., S e 11 e r t , S. 107 ff., Ρ r a t j e , S. 123 ff., 296 f., 238f., Η o k e in H R G II, Sp. 480. Diese Zusammenhänge können das Verhalten des RKG bestimmt oder zumindest formell abgesichert haben. Es bestehen jedoch Bedenken. Entgegen der allgemeinen Regel zögerte das RKG sonst (und später) nicht, über Appellationsprivilegien im Rahmen eines Streites über seine Zuständigkeit zu befinden, wenn es sein mußte sogar gegen die Ansicht des Kaisers — vgl. etwa oben S. 63 f., 66, 76 f., auch W u 1 f f e η , S. 61. Ferner konnte man die Goldene Bulle mehr als allgemeines Gesetz denn als Privileg verstehen, und schließlich war das RKG zu dieser Zeit ohne wirksame Konkurrenz durch den RHR. — Allgemein zur authentischen Interpretation reichsrechtlicher Normen und zum richterlichen Prüfungsrecht gegenüber Reichsgesetzen vgl. W u 1 f f e η , S. 54 ff. 394 ) Ein entsprechendes Schreiben des RKG an den Kaiser blieb unbeantwortet, vgl. S m e η d , Br.-Pr., S. 166. 395 ) II S. 595 ff., 600 ff. S91

RKG und Appellationsprivileg der Goldenen Bulle

135

tation hätte, über die Wahrung der abwartenden Position des Gerichtes in unklarer Lage hinausgehend, einen rechtlich kaum haltbaren Angriff auf die Privilegien zum Inhalt, die als Rechte der Reichsstände nicht vom guten Willen der Untertanen abhängig gemacht werden konnten. Es scheint völlig ausgeschlossen, daß Reichsmittelbare mit der Prorogation des RKG ihre Territorialinstanzen ausschalteten 39e . Gleichwohl soll in diesem Zusammenhang ein Hinweis darauf nicht fehlen, daß das der Prorogation 397 nahestehende Institut des Kompromisses auf das RKG auch für Reichsmittelbare bis 1594 durchaus üblich gewesen ist 398, obwohl ein solcher Kompromiß eindeutig die Forderung der RKGO 1495 §§ 13, 16 auf Einhaltung des Instanzenzuges und insbesondere die Appellationsprivilegien umging 3 " . Das Gericht unternahm so trotz kurfürstlicher Interventionen bei unentschlossener Haltung des Kaisers nichts, was seine Zuständigkeit hätte präjudizieren können. Gestützt auf mehr rechtstechnische als inhaltliche Argumente vermied es eine rechtliche Entscheidung, die wohl zugunsten der Kurfürsten hätte ausfallen müssen und die Aussicht auf eine einheitliche Behandlung aller Kurfürsten entsprechend den rheinischen zugunsten des Reiches zunichte gemacht hätte. Ohne in der Form eines Erkenntnisses Stellung zu nehmen, wartete das RKG aufgrund einer letztlich eminent politischen Einstellung die Lösung des Konfliktes ab, die schließlich mit den Privilegien von 1559 und 1586 auch politisch getroffen wurde. Nachdem die Exemtionsbestrebungen Brandenburgs und Sachsens vom Kaiser und den Mit39»)~Vgl. S e 11 e r t , S. 123 f. 397

) Die Prorogation war als Rechtseinrichtung dem mittelalterlichen deutschen im Gegensatz zum römischen Recht unbekannt, vgl. S c h l o s s e r , S. 92 f. mit weiteren Nachweisen, ferner B e n d e r , S. 38. 398 ) Kompromisse auf das RKG waren im 16. Jahrhundert so häufig, daß Kammerrichter und Assessoren mehrfach aufgefordert wurden, die Bearbeitung der ordentlidien Sachen darüber nicht zu vernachlässigen, vgl. Visitationsrezeß 1531 § 30 ( N S R A II, S. 345 ff., 348), R K G O 1555 I Tit. 30 § 3 (NSRA III, S. 65), T a f i n g e r , S. 641 f., M a 1 b 1 a η k , IV S. 66 ff. Eine umfassende Neuregelung, die die Kompromisse reichsmittelbarer Personen untersagt, bringen §§ 65, 66 des Regensburger RA 1594 ( N S R A III, S. 431 f.). Bei der Unzulässigkeit der Kompromisse Reichsmittelbarer blieb es in der Folge, vgl. L u d e w i g , I S . 777 f., M o s e r , Justizsachen, S. 73, Τ a f i η g e r , S. 639 ff., M a 1 b 1 a η k , IV S. 75 ff., 666 ff. 3 ") C l a u d i u s C a n t i u n c u l a schließt denn auch in seinem Gutachten zum Nürnberger Stadtrecht 1545 von der Zulässigkeit des Kompromisses auf die Gültigkeit des zwischen Landesherrn und Ständen vereinbarten Appellationsverbotes, vgl. B r e m e r , S. 137.

136

Appellationsverbote

ständen erfolgreich zurückgewiesen worden waren 400, unternahm das Reichsgericht den Versuch, die Positionen nochmals zugunsten des Reiches zu verbessern. Auch ohne Unterstützung seitens des kaiserlichen Hofes brachte das Gericht für die Dauer von mehr als 60, beziehungsweise 90, Jahren beide Kurfürsten in die Lage, sich ihrer Rechte erwehren zu müssen. Allein schon dieser Aspekt ist sehr beachtenswert, zumal das Gericht angesichts der ja nur aus den Grundsätzen der Verwirkung streitig gewordenen Rechtslage nicht davon ausgehen konnte, die Reform von 1495 noch nachträglich zugunsten des Reiches auf die völlige Beseitigung unbeschränkter Appellationsprivilegien erstrecken zu können 401 . Immerhin bedurfte es des aktiven Protestes und des ständigen Widerspruchs der betroffenen Territorien, um schließlich eine Position unangefochten wieder einzunehmen, die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin zustand. Man darf dabei nicht vergessen, daß der Kaiser wie stets so auch hier die Erteilung des neuen Privilegs vom politischen und finanziellen Wohlverhalten abhängig machte. Nur aus solchen Zusammenhängen ist es zu erklären, daß Brandenburg trotz rechtlich gleicher Lage mit Sachsen für nur 500 fl. Taxe, jedoch 30 Jahre später als dieses illimitiert 402 befreit worden ist. Kurfürst Johann Georg von Brandenburg mußte sich nämlich erst die Gunst Kaiser Rudolfs dadurch erwerben, daß er Heinrich III. von Frankreich nicht mehr mit Subsidiengeldern und der Zulassung von Werbungen in Brandenburg gegen die Liga unterstützte 403. Hinsichtlich Sachsens dürften ähnliche Be-

400

) Vgl. S m e η d , Br.-Pr., S. 163, RKG, S. 59. ) Die auf den Nichtgebrauch der Rechte gestützte Auffassung, sie seien gänzlich erloschen, wäre gegenüber den Betroffenen faktisch nie durchsetzbar gewesen, vgl. E i s e n h a r d t , S. 94, O t t e , S. 137. 402 ) Ein auf 400 fl. limitiertes Privileg hat Brandenburg offenbar schon 1541 erlangt. Es wird in der Literatur oft übersehen und ist abgedruckt bei C o r t r e i u s , S. 238 f., vgl. auch E i s e n h a r d t , S. 81. 403 ) Vgl. S t ö 1 ζ e 1, Rechtsverwaltung, I S. 239 f. — Diese Zusammenhänge übersieht Ρ e r e 1 s , S. 26 ff. in einer für Brandenburg allzu positiven Darstellung. Es ist ferner angesichts der vor 1586 aus Brandenburg erfolgenden Appellationen nicht richtig, wenn Ρ e r e 1 s , S. 30 meint, nicht die Erneuerung, sondern die Erweiterung des Privilegs von 1356 — vgl. oben S. 88 Anm. 159 — sei des Brandenburgers Ziel gewesen. Zunächst mußte die Rechtslage hinsichtlich der Goldenen Bulle grundsätzlich klargestellt werden, bevor an — ebenfalls streitige — Erweiterungen gedacht werden konnte. 401

Brandenburg: Neumark

137

Ziehungen aufgrund des Religionskrieges jedoch auch die Selbständigkeit des sächsischen Redits eine Rolle spielen 404. Die Auseinandersetzung um die Freiheiten der Goldenen Bulle endet so zwar letztlich mit einer Niederlage der zugunsten des Reiches wirkenden Kräfte, der Kampf ging jedoch um Positionen, die das Reich eher beansprucht als besessen hatte.

2.

Brandenburg a) A n w e n d u n g d e r G o l d e n e n B u l l e a u f d i e N e u m a r k ( z u m i n d e s t b i s 1 5 8 6)

Für Brandenburg erstreckten sich die Freiheiten der Goldenen Bulle nur auf die Kurlande, nicht auf alle Besitzungen des Hauses Hohenzollern. Sie erfaßten deshalb nicht die erst 1455 angefallene Neumark 4 0 5 . Gleichwohl hatte der Markgraf während des 15. Jahrhunderts unangefochten audi aus diesem Gebiet Appellationen ans Reichsgericht nicht zugelassen. Gegen die Entscheidungen des Küstriner Hof- und Kammergerichts stand die Beschwerde (Supplik) an den Kurfürsten offen. Die als Folge der RKGO 1495 auch in Brandenburg einsetzende Neuordnung des Gerichtswesens stellte diesen Zustand in Frage. Bereits 1516 wandten sich die brandenburgischen Stände gegen die in der — auch für das Küstriner Gericht geltenden — Berliner KGO von 15 1 6 406 vorgesehene Supplik an den Kurfürsten. Sie verlangten das Rechtsmittel der Appellation 407, die nach

404 ) Das Zustandekommen des sächsischen Privilegs nach Verhandlungen in den Jahre 1558/9 schildert G ü n t h e r , S. 48—55. Nach dessen Darstellung spielten unmittelbare politische Vorleistungen keine Rolle. Kaiser Ferdinand erteilte das Privileg aufgrund einer n a c h seiner Wahl gegebenen und von der Zustimmung der Kurfürsten abhängig gemaditen Zusage, vgl. oben S. 28 Anm. 14. 405 ) Die folgende Darstellung beruht auf den im wesentlichen übereinstimmenden Angaben von S t ö 1 ζ e 1, KGO, S. 158—161, ders., Rechtsverwaltung I, S. 129—135, 214 f., 240, S m e η d , Br.-Pr. S. 168, Ρ e r e 1 s , S. 26 f., F ö r s t e m a η η , S. 5 ff. 40β ) Zu ihr vgl. S t ö l z e l , Reditsverwaltung I, S. 129 ff., Schotte, S. 46 ff., S c h w a r t ζ , S. 435 ff. 407 ) Zum Verhältnis von Supplik und Appellation vgl. S t ö l z e l , KGO, S. 159: „Die Supplikation dagegen war die persönlich an den Landesherrn gehende Beschwerde; sie führte also die schließliche Entscheidung dem Kurfürsten selbst oder den von ihm ad hoc erwählten Räten zu und entzog die Sache dem Reichskammer-

138

Appellationsverbote

der Privilegienlage zumindest für die Neumark in letzter Instanz eine Appellation ans RKG gewesen wäre 408. Die Stände konnten sich nicht durchsetzen, die Supplik wurde und blieb Gesetz. Eine entsprechende Regelung übernahm später die neumärkische Kammergerichtsordnung von 154 8 409. Gleichwohl kam es im Jahre 1551 in Sachen Franz und Max von Borke gegen von "Wedell zur offenbar ersten 410 Appellation vom Küstriner Kammergericht ans RKG. Die Gebrüder von Borke führten daneben auch Appellationsprozesse gegen den Markgrafen persönlich 411. In der Sache gegen von Wedell intervenierte der Kurfürst mit der Begründung, die Neumark sei in die Kurmark einverleibt und falle deshalb auch unter die Freiheit der Goldenen Bulle. Der Ausgang des Streites ist unbekannt, da die Akten ohne Urteil schließen. Der Markgraf dürfte — ganz abgesehen von den hinsichtlich der Fortgeltung der Goldenen Bulle überhaupt bestehenden Meinungsverschiedenheiten — mit seiner Intervention nicht durchgedrungen sein 412. Jedenfalls hielt er es für erforderlich, im Jahre 1553 mit den Ständen der Neumark im Soldiner Rezeß eine vergleichsmäßige Regelung dahingehend zu treffen, daß der aus dem 15. Jahrhundert überkommene Zustand „bei Verlust der Sache und 200 fl. Strafe" 418 beibehalten werden solle. Eine Änderung wurde nur insoweit vorgenommen als gegen die Entscheidungen des Markgrafen, sollte sich jemand durch sie in seinen Rechten verkürzt glauben oder die Entscheidung als übereilt dartun können, das gericht". Seiner Auffassung, es handle sich bei der Supplik um einen ,Verwaltungsspruch' — vgl. Reditsverwaltung I, S. 134 — kann allerdings nicht gefolgt werden, allgemein zur Bedeutung der Supplik vgl. W e i t z e l , S. 234 ff., S c h o t t e , S. 48 f., sowie unten S. 287 ff. 408) Wenn S t ö l z e l — vgl. Anm. 405 — meint, mit der Behauptung der Supplik gegen die Appellation habe der Markgraf die Zuständigkeit des RKG ohne Appellationsprivileg und für alle seine Lande abschütteln können, so beruht dies auf der von ihm später aufgegebenen Ansicht, die Rechte der Goldenen Bulle seien 1495 beseitigt worden. Im übrigen belegt er seine Unterstellung, die Stände hätten 1516 die Appellationsmöglichkeit a n s R K G erstrebt, nicht hinreichend. Angesidits der später in Soldin getroffenen Regelung und mangels anderer Anhaltspunkte ist es durchaus möglich, daß sie nur innerterritorial den Behelf der Supplik durch das ordentliche Rechtsmittel der Appellation ersetzt sehen wollten; vgl. S c h o t t e , S. 48 f. 409 ) Vgl. hierzu auch S c h w a r t z , S. 440 f. 41 ») Vgl. S m e η d , Br.-Pr., S. 168. 4U ) Vgl. S m e η d , Br.-Pr., S. 168. 412 ) So auch Ρ e r e 1 s und S m e η d , a. a. O. 413 ) S t ö l z e l , Rechtsverwaltung I, S. 214 f. zitiert die einschlägigen Teile des Rezesses, vgl. auch S c h w a r t z , S. 439.

Brandenburg: Ravensberg

139

„beneficium restitutionis bei Unserer Person" zulässig sein solle. Dabei dürfte es sich eher um eine abermalige Supplik als um das Rechtsmittel der Restitution im späteren technischen Sinne handeln i U . Dieselbe Einrichtung wird übrigens im Privileg von 1586 als Revision bezeichnet 415 . Zur Begründung der in Soldin getroffenen Regelung heißt es, „daß oftmals ein Geschlecht das andere mit solchem weitläufigen Rechtsgang ausgemergelt". In der Folge sind Appellationen aus der Neumark nicht mehr vorgekommen 41β . Die Bevölkerung akzeptierte offenbar die aus der Zeit vor der Errichtung des RKG überkommene Lage. Das Privileg von 1586 schließlich erstreckte sich — zumindest nach einiger Zeit gewohnheitsrechtlich — auch auf die Neumark 417.

b) R a v e n s b e r g ( 1 5 6 3 — 1 7 0 2 / 1 7 4 6 )

418

Das Privileg von 1586 schloß Appellationen nur nach dem damaligen Stand der brandenburgischen Besitzungen aus. Als die Hohenzollern 1647 die Grafschaft Ravensberg erwarben, stand dieser ein Appellationsprivileg nicht zu. Gleichwohl erreichte der Kurfürst in den Jahren nach 1653 in tatsächlicher Hinsicht den einer unbeschränkten Befreiung von der Appellation entsprechenden Zustand, indem die Stände gegen das Angebot eines besonderen Appellationsgerichtes in Cölln im Rezeß vom 29. April 1563 ,allen ulterioribus appellationibus ad Cameram Spirensem... in allen casibus, da sie unter einander streitig seynd . . . , unanimi consensu'

entsagten. Geheilt wurde diese unrechtmäßige Vereinbarung für Prozesse mit anfänglichem Streitwert bis zu 2500 fl. durch das Privileg

414 ) Nach We t ζ e 11, S. 779 Anm. 41 sahen „die älteren Juristen die Supplication nach c. 4, de in int. rest. (1, 41) als eine species restitutionis" an. Vgl. auch S e 11 e r t , RHR, S. 390 ff. 415 ) Vgl. S t ö 1 ζ e 1, Rechtsverwaltung I, S. 240; S c h w a r t z , a. a. O. spricht bereits für den Zeitpunkt des Soldiner Statuts von der Möglichkeit einer Aktenversendung an unverdächtige Universitäten. "«) Ρ e r e 1 s , S. 27. 4Π ) Vgl. Ρ e r e I s , S. 31 f., S m e n d , Br.-Pr., S. 170. 418 ) Die Darstellung folgt P e r e l s , S. 12 f., 33 f., 42 Anm. 7, S. 103; vgl. auch S t ö l z e l , Reditsverwaltung I, S. 370 f., F ö r s t e m a n n , S. 10 f.

Appellationsverbote

140

vom 16. Dezember 1702419, im übrigen durch die uneingeschränkte Befreiung vom 31. Mai 1746 420. Die Anträge Brandenburgs für die genannten Privilegien sowie die Privilegientexte selbst erstreckten sich im Bewußtsein der reichsrechtlichen Un Verbindlichkeit der 1653 getroffenen Absprache audi auf Ravensberg. Der Rezeß von 1653 hat weitgehend tatsächliche Beachtung gefunden. Als Angriffe auf ihn sind nur die Appellation Gräflich Lippescher Beamter zu Detmold (1673) und die eines Einheimischen (1670) gegen Urteile des Ravensberger Appellationsgerichts bekannt. In beiden Fällen ist eine Entscheidung des RKG nicht nachweisbar, was bei der geringen Anzahl von nur zwei Prozessen Schlüsse auf die Haltung des RKG nicht erlaubt. Bereits 1663 konnte der Kammerbote die Appellationsprozesse im kurfürstlichen Schloß nur mit Mühe zustellen 421.

c) V o r w e g g e n o m m e n e s ( 1 694 — 1 702)

Privileg

Den Vorgängen in Ravensberg entsprechende Bestrebungen scheiterten in Cleve-Mark, Magdeburg, Halberstadt und Hinterpommern am Widerstand der Stände, die sich das Appellationsrecht in den Jahren von 1647 bis 1660 in Landtagsrezessen und kurfürstlichen Erklärungen ausdrücklich bestätigen ließen 422. Im Kampf um die volle Justizhoheit begnügte man sich nunmehr für etwa drei Jahrzehnte mit der Einflußnahme auf die Parteien im einzelnen Rechtsstreit „bald durch gewaltsame Hinderung, bald durch freundliche Einwirkung" 423. Üblich waren wohl die Einräumung der Revision für den Fall des freiwilligen Verzichts auf das Rechtsmittel zum

4le ) Das Appellationsprivileg bringt Brandenburg für alle nicht zur Kur gehörenden Reichslande die Befreiung bei Streitwerten bis zu 2500 fl. Es ist abgedruckt bei Ρ e r e 1 s , S. 137 ff., vgl. auch F ö r s t e m a n n , S. 12 f. 420 ) Dieses Privileg und das für Ostfriesland vom 15. Februar 1750 befreien Brandenburg-Preußen völlig von der Appellation ans RKG. Die Freiheiten sind abgedruckt bei Ρ e r e 1 s , S. 143 ff., vgl. auch F ö r s t e m a η η , S. 19 ff. 421 ) Vgl. den von Ρ e r e 1 s , S. 95 f. wiedergegebenen Bericht des Kammerboten, audi S m e η d , S. 369 Anm. 5. 422 ) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 34—36, M o s e r , 2. Β. 14. Κ., S. 569.

423

) So Ρ e r e 1 s, S. 37.

Brandenburg 1 6 9 4 — 1 7 0 2

141

R K G und die Anweisung an die Gerichte, nach eingelegter Appellation möglichst den Beschwerdegrund zu beseitigen 4 2 4 . 1685 bemühte sich Brandenburg ohne Erfolg um ein einheitliches iiiimitiertes Privileg für die nicht zur Kur gehörenden Lande. In Wien schätzte insbesondere der Hofkanzler Baron von Straetmann die mit einem solchen Privileg verbundene kaiserliche Machteinbuße richtig ein 4 2 5 . Die im Jahre 1689 wieder aufgenommenen Verhandlungen führten zu einer Erklärung des Kaisers vom 29. November 169 0 4 2 6 , in Possessionsstreitigkeiten vorbehaltlich des Petitoriums ein unbeschränktes und in petitorio ein auf 2250 fl. erhöhtes Privileg gewähren zu wollen. Da man sich über die Berechnung des Streitwertes einschließlich oder ohne Nebenforderungen und über die Einbeziehung von Nullitätsklagen — wie sie Brandenburg forderte 4 2 7 — nicht einigen konnte, verzögerte sich die Erteilung der Freiheit. Ungeduldig geworden erließ Kurfürst Friedrich I I I . am 2. Juni 1694 unter Berufung auf die kaiserliche Zusage des Jahres 1690 ein Reskript 4 2 8 an alle seine reichsländischen Regierungen, hinfort Appellationen an die Reichsgerichte im Umfang der kaiserlichen Erklärung nicht mehr zuzulassen. Gleichwohl wurden die Verhandlungen in Wien fortgeführt, wobei Brandenburg sogar versuchte, die geschaffene Lage als Druckmittel ins Gespräch zu bringen. Der Hofrat setzte sich mit dem Rechtsbruch offenbar nicht auseinander 4 2 9 , vielmehr behandelte er die Angelegenheit verzögerlich, bis Interessen der habsburgischen Außenpolitik zu dem bekannten Privileg vom 16. Dezember 1702 führten. Die Verhandlungsposition Brandenburgs war durch das fait accompli des Jahres 1694 nicht gestärkt worden. Das R K G lehnte es ab, der geschaffenen Lage Beachtung zu schenken. 4 2 4 ) Beispiele bei Ρ e r e 1 s , S. 37 in Anm. 2 und 3 betreffend Cleve (Appellationsverzicht 1698) und Halberstadt (Beseitigung der Beschwer 1687); vgl. auch F ö r s t e m a n n , S. 11, 13. 4 2 5 ) Die Vorgänge bis zur Erteilung des Privilegs von 1702, zu denen auch das von 1694 bis 1702 bestehende Appellationsverbot gehört, werden ausführlicher dargestellt von Ρ e r e 1 s , S. 3 8 — 5 2 , S t ö 1 ζ e 1, Rechtsverwaltung I, S. 422 ff., II S. 3 ff., 12, F ö r s t e m a η η , S. 37 ff. 4 2 β ) Sie ist wiedergegeben bei Ρ e r e 1 s , S. 41. 4 2 7 ) Vgl. oben S. 49 Anm. 28. 4 2 β ) Es ist abgedruckt bei Ρ e r e 1 s , S. 43. 4 2 β ) Jede Maßnahme gegen die Appellation an die Reichsgerichte traf das (protestantische) R K G schwerer als den (katholischen) Reichshofrat, vgl. — allerdings in bezug auf die Vorgänge nach 1704 — S m e η d , S. 222 ff., ν. A r e t i η , I S. 100.

142

Appellationsverbote

In diesem Sinne berichteten 1700 sowohl der brandenburgische Kammergerichtsprokurator als auch die Regierungen von Magdeburg und Minden nach Berlin 4S0. Offenbar war aus diesen Landesteilen appelliert worden.

d) E n d g ü l t i g e A b k e h r v o m ( ( 1 704 —1 746)

RKG

Den Anlaß zum alsbaldigen Versudi Brandenburgs, den Einfluß des RKG auf sein Gebiet völlig zu unterbinden, bot der durch innere Streitigkeiten hervorgerufene Stillstand des Gerichts von 1704 bis 1711 431 . Als Folge dieser Situation erging am 4. Juli 1704 die Anweisung, auch die nach dem Privileg von 1702 noch in die Zuständigkeit des RKG fallenden Appellationen künftig am neu errichteten Oberappellationsgericht in Cölln 432 einzulegen. Bereits anhängige Verfahren sollten in Wetzlar abberufen und auf Betreiben einer Partei nach Berlin gebracht werden können. Die Regelung beanspruchte Geltung „vorerst, und bis es mit dem Kammergericht in einen andern Stand komme und von Uns alsdann weitere Bevorderung ergehen wird" 43S.

Als aber 1711 das RKG nach erfolgter Visitation seine Arbeit fortsetzte, dachte man in Berlin nicht daran, den früheren Zustand wiederherzustellen. Da bereits in den Jahren seit 1704 die Appellatio-

430 ) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 49. — Der von ihm S. 53 gegebene Überblick über die Anzahl der aus Cleve-Mark, Minden, Magdeburg, Halberstadt und Hinterpommern 1691—1700 einerseits und 1701—1750 andererseits beim RKG eingelegten Appellationen ist einer Auswertung jedenfalls für die Zeit von 1694 bis 1702 nicht zugänglich. Es fehlen sowohl Angaben über die Höhe des Streitwertes als auch solche über das genaue Jahr der Einlegung des Rechtsmittels. Angesichts der 1694—1702 und nach 1704 bestehenden tatsächlichen Behinderungen der reichsgerichtlichen Tätigkeit trägt die Aufstellung noch nicht einmal die Behauptung von Ρ e r e 1 s — S. 52 —, die praktische Wirkung des Privilegs von 1702 sei sehr erheblich gewesen. 431 ) Vgl. S m e n d , S. 217 ff., F ö r s t e m a n n , S. 15, T h u d i c h u m , RKG, S. 184 ff. 4S2 ) Errichtet 1703 als Folge des Appellationsprivilegs von 1702, vgl. E b e r h a r d S c h m i d t , Rechtsentwicklung, S. 20, G i e s e , S. 52. 4Μ ) Der entscheidende Teil der einschlägigen Verordnung findet sich bei P e r e i s , S. 55 f.

Brandenburgs endgültige Abkehr vom RKG

143

nen an den Reichshofrat zugenommen hatten 434, versuchte Friedrich Wilhelm I. nunmehr, den Landständen einen allgemeinen Verzicht auf Appellationen an die Reichsgerichte abzunötigen. Die unter Berufung auf die guten Beispiele der Neumark und Ravensbergs in den Jahren 1713 und 1714 angestellten Bemühungen blieben jedoch erfolglos. Die Stände im Herzogtum Magdeburg, in den Fürstentümern Halberstadt und Minden, in Cleve-Mark, Hinterpommern und in der Grafschaft Mörs dachten nicht daran, die Reste ihrer Appellationsrechte im Kampf zwischen dem Reich und Preußen dem absoluten Staat aufzuopfern. Sie brachten dies in ihren Stellungnahmen unter Berufung auf die „bei denen Publicisten und cameralischen Rechtslehrern" eingeführte und „am gewissesten bei den mehrgedachten Reichsgerichten" rezipierte Doktrin, daß die Stände nicht zum Nachteil der kammergerichtlichen Jurisdiktion auf die Appellation verzichten könnten, deutlich zum Ausdruck 435. Daran änderte auch die bekanntermaßen langwierige Rechtsprechung des Reichsgerichtes nichts. Als Folge der ständischen Absage entspann sich in den Jahren ab 1715 ein Machtkampf um die Appellationen an die Reichsgerichte, der in seinen Dimensionen mit dem Kampf um die Freiheiten der Goldenen Bulle im 16. Jahrhundert verglichen werden kann 436. Er unterscheidet sich von letzterem aber dadurch, daß er nicht mehr unter vermittelnder Einschaltung von Kaiser und Reichstag gegen das RKG geführt wird, sondern sich in völliger Konfrontation gegen Kaiser und Reichsgerichte wendet. Die nächstliegende Maßnahme bestand in der zentralen Erfassung und Kontrolle aller appellationsbezo434 ) D a ß Brandenburg durdi seine Politik gegen das RKG nur den R H R stärkte, bemerkte man in Berlin erst sehr spät, vgl. Ρ e r e 1 s , S. 56 f. und oben Anm. 429. 43t ) Die Verhandlungen mit den Ständen schildert Ρ e r e 1 s , S. 57—66. Die einschlägigen Erklärungen sind dort in den entscheidenden Teilen wörtlich wiedergegeben. 4M ) Der Konflikt wird aufgrund eigener Arbeit mit Quellen dargestellt von Ρ e r e 1 s , S. 66 ff., v. C r a m e r , W N 2, S. 91—95. Zusammenfassungen und Hinweise finden sich bei S m e η d , S. 222 f., H e r t ζ , S. 352, B a l e m a n n , S. 263, G s c h l i e ß e r , S. 348, 366, M o s e r , 1. Β. 4. Κ., S. 146 ff., 2. Β. 14. Κ., S. 569 f., F ö r s t e m a n n , S. 16 f., M. H i η ζ , S. 311 f., S t ö l ζ e l , Rechtsverwaltung II, S. 12. — In diesem großen Streit gehen kleinere Händel wie die über die Appellationsbefreiung des ehemals schwedischen Altvorpommerns (1720—1733) und über die Lage in Ostfriesland (1745—1750) unter. Vgl. hierzu F ö r s t e m a η η , S. 18 f., 21, Ρ e r e 1 s , S. 112 ff., 123 ff., 150 ff.

144

Appellationsverbote

genen Vorgänge in Berlin, teilweise bei Friedrich Wilhelm I. persönlich 437. Die unmittelbare Zustellung von Ladungen und sonstigen Gerichtsbefehlen an Untertanen und Gerichte durch Kammerboten wurde nach Möglichkeit unterbunden, man verlangte die Zustellung auf diplomatischem Wege 4S8. Die Argumentation der Interventionsschriften ans RKG ging dahin, das Berliner Oberappellationsgericht ersetze die Reichsgerichte auch in den Fällen der an sich noch zulässigen reichsrechtlichen Appellation, soweit sich nur eine der Parteien nach Berlin wende. Dort gebe es nämlich nur den brandenburgischen Kurfürsten, von dessen Gerichten nicht ans Reich appelliert werde 439. Daneben versucht man aber stets, die Unzulässigkeit der Appellation in concreto nachzuweisen. Das geschieht zum Teil unter Anmaßung einer Entscheidungsbefugnis über die Zulässigkeit der Appellationen: die Appellationssumme wird in Anwendung eines überhöhten Guldenfußes auf 5000 Reichstaler hochgeschraubt und die Einbeziehung der Früchte abgelehnt, ferner befinden die brandenburgischen Gerichte darüber, welche Sachen possessorisch sind und welche nicht 440. Auf diese einseitige gerichtliche Qualifizierung werden Strafdrohungen zwischen 200 und 1000 fl. sowie Arrestierungen 441 gestützt. Die den Appellanten so abgenötigten Verzichtserklärungen auf das eingelegte Rechtsmittel bringen die Prozesse am RKG zum Erliegen 442. Zumeist kommt es nicht zu einer Entscheidung des RKG über seine Zuständigkeit, ergeht eine, so bleibt sie ohne Auswirkungen 443. Bisweilen untersagte man auch dem Appellaten die Einlassung am

4

") Vgl. P e r e i s , S. 66—71. ) Vgl. P e r e i s , S. 93—98, 223 f., S m e η d , S. 369. 438

Hertz,

S. 352,

Sellert,

Ladung, S.

«a») vgl. ρ e r e 1 s ; s. 74 f. 440

) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 77—80. Für den innerterritorialen Instanzenzug vertritt die königlidie Regierung gerade entgegengesetzte Prozeßgrundsätze. 441 ) In dem Rechtsstreit v. Penning gegen v. Elberfeldt ergeht 1749 ein mandatum de relaxando arresto, vgl. v. C r a m e r , W N 2, S. 94. 442 ) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 80, 70 f. 44S ) In der Sache des Osnabrücker Kanzleirates v. Bigeleben ergeht am 18. Mai 1743 ein Conclusum Pieni, „daß vom Ober-Appellations-Gericht zu Berlin, in Sachen die nicht zum Churfürsthenthum, sondern zu den Herzogthümern, Fürstenthümern und Graffschafften gehören, anhero appelliert werden könne", vgl. v. C r a m e r , W N 2, S. 92. Prozesse, in denen selbst geschärfte Mandate und Kompulsorialien unbeachtet blieben, nennt Ρ e r e 1 s , S. 92 (Anm. 5).

Brandenburgs endgültige Abkehr vom R K G

145

R K G 4 4 4 , wogegen dieser bei einem ihm günstigen Vorurteil sicherlich nichts einzuwenden hatte. Die Versäumnisentscheidungen des R K G brachten ihm keine Nachteile, er konnte vielmehr nach Abschluß des innerterritorialen Instanzenzuges mit alsbaldiger Vollstreckung rechnen 4 4 5 . Was die Wirksamkeit der brandenburgischen Maßnahmen betrifft, so kann nicht davon ausgegangen werden, daß auch nur eine der reichsgerichtlichen Entscheidungen vollstreckt worden wäre, eines der Mandate Beachtung gefunden hätte. Das R K G machte offenbar auch nur einmal den Versuch, eine Entscheidung zur Exekution zu bringen, indem es am 17. Juli 1726 ein mandatum de exequendo cum declaratione in poenam obermeltem mandato attentatorum revocatorio auf den Erzbischof von Köln und den Pfalzgrafen bei Rhein erkannte. Diese erinnerten die betroffene Regierung in Cleve an ihre Pflichten und verlangten, als sie ohne Antwort blieben, vom König selbst die Vollziehung des Mandates. Sie erhielten zur Antwort: „Wir gestehen dem kaiserlidien Kammergericht propter notoriam incompetentiam et attentatam Privilegii Electoralis de non appellando contraventionem" keine Jurisdiktion zu, „es mag dasselbe audi darin weiter verordnen und erkennen, was es will"

44e

.

Damit hatte die Sache ihr Bewenden. Allerdings wurde der Streit über das Appellationsverbot erst durch das unbeschränkte Privileg von 1746 beigelegt, was sich vornehmlich daran zeigt, daß die Appellationsfrage bei der Wahl Karls VII. noch ein letztes Mal Gegenstand eines Wahlhandels geworden ist 4 4 7 . Die Auseinandersetzung wurde jedoch insoweit nicht für Brandenburg entschieden, als es seine Untertanen nicht bei der von ihm geschaffenen Lage beruhigen konnte 4 4 8 . 1724 waren 30 Appellationen

) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 71 Anm. 1. ) Beispiele für Vollstreckungen trotz eingelegter Appellation bei Ρ e r e 1 s , S. 9 2 (Anm. 6). 4 4 β ) Nach Ρ e r e 1 s , S. 93. 4 4 7 ) Vgl. P e r e l s , S. 101 ff., F ö r s t e m a n n S. 19 f., P r a t j e , S. 347 f. 4 4 8 ) Darauf stellt audi H e r t z , S. 352 entscheidend ab. Die Beobachtung von P e r e l s , S. 98, daß „die jetzt mächtig eintretende innere und äußere Konsolidierung des Staates einen ständigen Rückgang, ja nahezu das Verschwinden der Appellationen an die Reidisgerichte" bewirkt habe, ist insbesondere angesichts der weitgehenden Privilegierung Brandenburgs seit 1702 zu allgemein, um als Aussage über die Wirksamkeit des seit 1704 bestehenden Appellationsverbotes angesehen werden zu können. 444

445

146

Appellationsverbote

beim Reichshofrat anhängig 449 . Am R K G wurde bis zum Jahre 1749 um Appellationen vom Berliner Oberappellationsgericht gekämpft. Die von Ρ e r e 1 s tabellarisch mitgeteilten Appellationen 4 5 0 für die Zeit von 1701 bis 1750 nehmen sich für das R K G wie folgt aus: Cleve-Mark Minden Magdeburg Halberstadt Hinterpommern Vorpommern Mörs

37 8

8 6 4 1 3

(die letzte 1703) (1720) (alle 1702)

Wenn ab 1704 keine Appellationen ans R K G mehr erfolgen sollten, so kann davon ausgegangen werden, daß in der Mehrzahl dieser Fälle — Hinterpommern und Mörs ausgenommen — nach diesem Zeitpunkt appelliert wurde, womit allerdings noch nichts darüber gesagt ist, ob die Rechtsmittel nicht etwa gegen das Privileg von 1702 verstießen. Aus den bei Ρ e r e 1 s in den Anmerkungen 4 5 1 mitgeteilten Einzelheiten folgt, daß in den Jahren zwischen 1712 und 1749 — zeitlich gleichmäßig verteilt — zumindest 16 Appellationen am R K G streitig gewesen sind, von denen zwei als unzulässig verworfen wurden 452 . Über den Ausgang der übrigen Verfahren kann Ρ e r e 1 s keine Angaben machen 4 5 3 . Nimmt man alle Anhaltspunkte zusammen, so läßt sich die Behauptung wagen, daß rund 25 Appellationsverfahren „über dem bald aktiven, bald passiven Widerstand Preußens" 4 5 4 nicht beendet werden konnten. Am heftigsten dürfte die Auseinandersetzung zwischen Brandenburg und dem R K G in dem Rechtsstreit v. Penning gegen v. Elberfeld in den Jahren 1747 bis 1749 gewesen sein. Über ihn berichten unter teilweise wörtlicher Wiedergabe der einander widerstrebenden Entscheidungen des R K G und 4 4 9 ) So das Ergebnis einer der in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts üblidien Berliner Umfragen unter den Regierungen, vgl. Ρ e r e 1 s , S. 68. 450 ) S. 53; vgl. oben S. 142 Anm. 430. 451 ) S. 71 f f . — Ρ e r e 1 s führt dort einschlägige Appellationsprozesse teilweise unter Benennung der Parteien und immer unter Angabe der Signatur des ehemaligen Wetzlarisdien Staatsarchivs und einer genaueren Datierung auf. 4 5 2 ) Vgl. Ρ e r e 1 s , S. 80 Anm. 3. 4 5 3 ) S. 80. 4 ä 4 ) So nach Ρ e r e 1 s , S. 80.

Kurpfalz: Goldene Bulle

147

der Cleveschen Regierung v. C r a m e r 455 , M o s e r 456 und P e r e i s 457 . Auch in diesem Falle waren es Mitglieder des niederen Adels, die die mißliebigen Appellationen betrieben.

3. K u r p f a l z

(1 4 9 7 — 1 6 5 2 )

Die pfälzische H G O Kurfürst Philipps (1476—1508) von 1480 458 ließ Appellationen an die Reichsgerichte grundsätzlich zu. Unbeachtlich war die mutwillige Rechtsmitteleinlegung. Diese Verhältnisse dürften aufgrund einer früheren — vermutlich auf das Jahr 1462 zu datierenden 459 — H G O im wesentlichen die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts bestimmen. Im Jahre 1497 änderte Kurfürst Philipp seine H G O 46°. Betreffend die Appellation gegen Entscheidungen des Hofgerichtes heißt es nunmehr: ,Es soll audi hinfür unsern burgern büwern und andern unser pfaltz underthanen und verwarnen ußgesdieiden prelaten freyen comun und rittersdiaft von unsern hoffgerichts urteiln ferr zu appellirn nit gestatt sunder die under uns gehalten und gehanthabt lutt eins artickels in der ordenung zu worms verlibt zusampt das solichs in unserm furstenthum von alters audi nit gestatt ist/ und mit der execucion oder ferrern Processen volfarn und derselben appellacion keyner deferirt werden.'

Weitergehend als die Regelung von 1497 enthält die nächstfolgende H G O von 1582 in Tit. XLII 461 ein allgemeines Verbot der Appellation ans RKG von Entscheidungen, die in Prozessen pfälzischer Untertanen gegeneinander ergehen. Die Regelung wird auf die Freiheit der Goldenen Bulle gestützt, die man bisher

465) 45e

W N

2)

S. 93—95.

) 2. B. 14. K., S. 570. 4 ") S. 75 f. 45β ) Sie ist abgedruckt bei Κ. Β e η d e r , S. 71 ff. Die einschlägigen Bestimmungen finden sich S. 88. Zur Geschichte und zum Inhalt dieser frühen H G O vgl. B e n d e r , S. I f f . , H e n r y J. C o h n , S. 203, daselbst S. 202 ff. zur Geschichte des Hofgeridits. "») Vgl. B e n d e r , S. 3 f. 4e0 ) Vgl. B e n d e r , S. 62, 102 ff. (Abdruck der Änderung — die Appellationsregelung findet sich S. 105), auch H e n r y J. C o h n , S. 203, 208. ««») Die H G O 1582 ist abgedruckt bei S a u r , II S. 12 ff., Tit. XLII befindet sich auf Blatt 34.

148

Appellationsverbote

,. . . damit sich niemandt Verkürzung seines Rechtens zu beklagen . . .'

nicht angewandt habe, . . unser Churfürstlichen Freyheit und Gerechtigkeit damit doch gantz unbegeben' 4e2 .

Fremde und in Prozessen mit ihnen auch pfälzische Untertanen sollen unter den Voraussetzungen des bis zu 1000 fl. befreienden Privilegs vom 23. Oktober 15 7 8 463 ans RKG appellieren können. Zur Begründung der Neuregelung wird auf die langwierige und kostspielige Rechtsprechung des RKG und die fachlich gleichwertige Tätigkeit des Hofgerichts hingewiesen. Die genannten Vorschriften von 1497 und 1582 erscheinen nach ihrem Wortlaut geeignet, die allgemein herrschende Auffassung, aus der Pfalz sei „von 1495 an sofort im weitesten Umfange" 464 appelliert worden, zu erschüttern. Die Wirklichkeit dürfte den gesetzlichen Regelungen allerdings nicht entsprochen haben. Zunächst geht die H G O 1582 offenbar selbst davon aus, daß die 1497 getroffene Regelung nicht praktiziert worden ist, n i e m a n d sollte sich bislang wegen der Verkürzung seiner Rechte beklagen können. Zum anderen erhielt Kurpfalz seit 15 1 8 465 immer wieder erweiterte neue Appellationsprivilegien und es ist nichts bekannt, daß über deren Umfang hinaus Appellationen ans RKG untersagt worden sind. Es ergibt sich so eine merkwürdige Diskrepanz zwischen dem theoretisch aufrechterhaltenen Anspruch auf uneingeschränkte Appellationsbefreiung und einer abweichenden Praxis. Die Freiheiten der Goldenen Bulle wurden von Kurpfalz noch um die Mitte des 15. Jahrhunderts — zumindest in Einzelfällen — mit 4e2 ) Eine entsprechende Regelung enthält bereits die Mainzer H G O von 1516/21 in Tit. 33. Entgegen der Goldenen Bulle werden Appellationen bei einem Streitwert über 400 fl. — insoweit liegt ein neues Appellationsprivileg vor — zugelassen, „damit niemands sein Rechten unbilligerweise verkürzt werde". Die Vorbehaltsklausel ist mit der pfälzischen gleidilautend. Vgl. insgesamt O t t e , S. 137 f., daselbst S. 91 f. zu den Beziehungen zwischen beiden HGOen, S m e η d , S. 60 Anm. 2. 4M ) Abgedruckt bei S a u r , II S. 39 ff. und bei C o r t r e i u s , S. 346 f. 4e4 ) So S m e η d , S. 60 für alle vier rheinischen Kurfürstentümer, vgl. audi B e n d e r , S. 62 ff., ferner oben S. 87 Anm. 155, 91 Anm. 180, 92 Anm. 186, S. 94. 4β3 ) Das Kurfürstentum wurde unter anderem wie folgt privilegiert: 1518 bis zu 100 fl. ( B e n d e r , S. 64 Anm. 1), 1541 bis 500 fl. ( E i s e n h a r d t , S. 82), 1566 bis 600 fl. (narratio des Privilegs von 1578), 1578 bis 1000 fl. (vgl. Anm. 463), 1652 unbeschränkt (abgedruckt bei L u d o l f , CJC, Anhang S. 19 ff.).

Kurpfalz: Goldene Bulle

149

Erfolg in Anspruch genommen 466 . Der allgemeinen Praxis entsprach dies aber wohl damals schon nicht mehr 467 . So ist auch die Behauptung der Regelung 1497, daß Bürgern und Bauern seit alters her die Appellation nicht gestattet worden sei, unzutreffend. Für den Gebrauch der Appellation durch Bürger in der Zeit zwischen 1462 und 1497 entsprechend dem nicht einschränkenden Wortlaut der H G O von 1480 liegen Zeugnisse vor 468 . Die 1497 unter Berufung auf die salvatorische Klausel der RKGO 1495 ( . . . ,lutt eins artickels in der ordenung zu w o r m s ' . . . ) angestrebte Einschränkung der Appellationsfreiheit ist daher wohl als ein erster Versuch zur (Re-)Aktivierung des Appellationsprivilegs der Goldenen Bulle zu verstehen. Dank der Stellung des Kurfürsten als Reichsvikar mochte der pfälzische Hof die Konsequenzen der 1495 getroffenen Neuregelung eher als andere erkannt haben 469 . Nunmehr versuchte er, verlorenen Boden zurückzugewinnen 47°, für Bürger und Bauern erschien der Instanzenzug innerhalb des Landes ausreichend. Den Prälaten und Freien, den Gemeinden und der — großenteils nicht einmal landsässigen 4 7 1 — Ritterschaft, für die das Hofgericht in erster Instanz

4ββ ) Zum nicht zweifelhaften Evokationsrecht vgl. T o m a s c h e k , S. 534 f. Anm. 1 (1448), zur Appellationsfreiheit H a r ρ ρ r e c h t , I S. 154, F r a n k l i n , Königliches Kammergericht, S. 48 Nr. IV (Appellation und Läuterung durch KKG), S. 48 Nr. VI, S. 49 N r . VII, S. 52 f. Nr. XVI, S. 57 ff., Nr. X X X , B r o ß , S. 22, allgemein S m e η d , S. 59, 62 mit Anm. 6. 4 7 · ) Vgl. S m e η d , S. 59 mit Anm. 6. 468 ) Vgl. B e n d e r , S. 63; abweichend, jedoch ohne nähere Begründung und zu allgemein gehalten He n r y J. C o h n , S . 208 f., der die Appellationsmöglichkeit überhaupt nur für den Adel gelten läßt und selbst in diesem Bereich von Bemühungen Philipps berichtet, Appellationen nach Möglichkeit zu verhindern. Angesichts der 1497 getroffenen Regelung kann weiterhin seine Mitteilung, das RKG habe in den Jahren nach 1495 eine Reihe von Streitigkeiten wegen Unzuständigkeit an die Pfalz zurückverwiesen, nicht mit der Appellationsbefreiung der Goldenen Bulle in Zusammenhang gebracht werden. Sein Hinweis auf die Geschehnisse des Jahres 1503 — vgl. dazu oben S. 96 ff. — geht ebenfalls fehl. Seinem Ergebnis, die Pfalz sei in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts „immune from the intervention of all foreign courts" gewesen, kann nicht zugestimmt werden. 4 " ) Auf die mit dem Pfalzgrafenamt verbundenen richterlichen Traditionen weist auch B e n d e r , S. 8, 13 hin. 4T0 ) Unzutreffend insoweit B e n d e r , S. 63 f., der meint, die Pfalz sei nodi gar nicht privilegiert gewesen. 471 ) Vgl. B e n d e r , S. 12 ff., G o t h e i η , S. 10, audi oben S. 107 Anm. 265 am Ende.

150

Appellationsverbote

zuständig war 472, konnte man die Appellation ans RKG nicht abschneiden. Rücksichtnahme auf die Landstände dürfte hier, wie überhaupt für die eingeschränkte Wahrnehmung der Rechte der Goldenen Bulle durch die rheinischen Kurfürsten, eine entscheidende Rolle spielen 47S. Unser Interesse verdienen die kurpfälzischen Regelungen von 1497 und 1582 audi insofern, als sie ganz eindeutig die Appellationsbefreiung der Goldenen Bulle nur für die pfälzischen Untertanen in Anspruch nehmen. Die H G O 1582 unterscheidet in Tit. XLII klar die Appellation der Untertanen (§§ I—IV) von der allein nach Maßgabe des Privilegs von 1578 geregelten Einlegung des Rechtsmittels durch Auswärtige (§§ V und VI) 474. Die Vorschrift von 1497 bezieht sidi überhaupt nur auf pfälzische Untertanen. Die Einholung neuer Appellationsprivilegien seit 1518 richtete sich aber mit Sicherheit nicht nur gegen die Appellationen Auswärtiger, sondern diente auch und vornehmlich der schrittweisen Beschränkung der Appellationsfreiheit der eigenen Untertanen unabhängig von der zweifelhaften Grundlage der Goldenen Bulle. Wie sonst sollte man erklären, daß 1497 Bauern und Bürgern die Appellation gänzlich untersagt wird, Kurpfalz aber gleichwohl schon 1518 ein allgemeines — nicht etwa nur auf Auswärtige bezogenes — Privileg akzeptiert. In bezug auf die Appellation zum RKG 475 konnte Kurpfalz seine Rechte aus der

472

) Vgl. B e n d e r , S. 37 f. ) R o e n n b e r g , S. 158 ff. erklärt auf diese Weise nadi anderen Versuchen S. 155 ff. den Verlust der Freiheit für Kurpfalz. Zur Entwicklung der pfälzischen Landstände seit 1451 vgl. G o t h e i n , S. I f f . , H e n r y J. C o h n , S. 85 ff., 107 ff., 189 ff. Uber die im Laufe von Jahrhunderten angestellten Erklärungsversuche informiert Ludewig, II S. 11 ff., 39. Wenn S t ö l z e l , II S. 137 f. andeutet, die geistlichen Kurfürsten hätten als gelehrte Machthaber den Unterschied zwischen Urteilsschelte und Appellation erkannt und mit einem Verzicht durch Nichtausübung ihrer Rechte reagiert, so dürfte dies den Realitäten nicht ganz gerecht werden. Näher liegt es, auch hier Einwirkungen der Stände anzunehmen. Vgl. audi oben S. 31 f. Anm. 25, 26 L u d e w i g , II S. 11, M o s e r , 1. Β. 6. Κ., S. 189, C z i s c h k e , S. 26 ff., 47 ff. (zur Bedeutung der Stände in den geistlichen Kurfürstentümern), S m e η d , S. 60 Anm. 1. 474 ) Das Privileg von 1578 deckt nach seinem Wortlaut allerdings nicht die in der H G O Tit. XLIII f. verordnete Leistung eines Appellationseides. Das Recht hierzu kann der Pfalz aber möglicherweise bereits aufgrund eines der früheren Privilegien zustehen. 475 ) Nur über diese wird hier gehandelt. Inwieweit die Rechte der Goldenen Bulle gegenüber anderen Gerichten — insbesondere das Exemtionsprivileg gegen473

Kurköln: Goldene Bulle

151

Goldenen Bulle weder nach 1497 noch nach 1582 realisieren. Es blieb bei einem theoretischen Anspruch, der mit dem iiiimitierten Privileg von 1652 gegenstandslos wurde. Trotz dieses Anspruches ist es offensichtlich nie zu einem Kampf um das Rechtsmittel — entsprechend den Auseinandersetzungen in und mit Brandenburg und Sachsen — gekommen. Die Gründe dafür können hier nicht geklärt werden 47β.

4. K ö l n ( 1 7 8 6 ) Die für Sachsen und Brandenburg noch im 16. Jahrhundert entschiedene Frage der unbeschränkten Freiheit von der Appellation entsprechend den aus der Goldenen Bulle überkommenen Rechten stellte sich für die geistlichen Kurfürsten entscheidend erst im 18. Jahrhundert, am spätesten für Köln 1786. Zwar war dem Kurstaat bereits 1653 ein iiiimitiertes Privileg verliehen worden 477, dodi hatte Kurfürst Maximilian Heinrich unter dem Druck der Landstände 1655 erklärt, er werde auch hinfort bei einem Streitwert über 1000 fl. — nach einem Privileg von 1613 — dem Rechtsmittel seinen ungehinderten Lauf lassen 478. Die spätere offizielle kurkölnische Auslegung der Erklärung von 1655 ging dahin, sie enthalte „lediglich eine befristete Vergünstigung zugunsten der Landstände" 479. Hingegen sahen die Reichsgerichte in ihr offensichtlich eine verbindliche Beschränkung der Gewalt des Landesherrn, die nur mit der Zustimmung der Stände wieder aufgehoben werden konnte. Insbesondere seit 1741 sollen aufgrund der geschilderten Meinungsverschiedenheiten Appellanten auch bestraft worden sein 480. Gleichüber Rottweil, vgl. hierzu den differenzierten Wortlaut des Kurtrier 1562 verliehenen Privilegs bei H o n t h e i m , II S. 877 ff. — behauptet werden konnten, ist eine andere Frage. Die Goldene Bulle scheint jedodi selbst hinsichtlich dieser Exemtionsfreiheit in Zweifel gezogen worden zu sein. 47e ) Anhaltspunkte können Anm. 473 entnommen werden. 477 ) Zur Privilegiengeschichte des Kölner Kurstaates vgl. M o s e r , 1. B. 6. K., S. 190 ff., ferner bereits oben S. 31 f. Anm. 25, 26 und S. 92 Anm. 187, allgemein zur Gerichtsverfassung vgl. C z i s c h k e , S. 11 f., E i s e n h a r d t , Das kurkölnisdie Oberappellationsgericht, S. 31—36, R e u ß , Beiträge II, S. 418 ff. 47S ) Der Wortlaut findet sich im Auszug bei E i s e η h a r d t , a. a. O., S. 38. " ' ) So nach E i s e η h a r d t , a.a.O., S. 39. 480 ) Vgl. E i s e n h a r d t , a. a. O., S. 38 f. Seine allgemein gehaltenen Ausführungen lassen eine Nachprüfung der Gründe für die Bestrafungen nicht zu.

152

Appellationsverbote

wohl ist ohne Unterbrechungen appelliert worden. Zum offenen Konflikt 4 8 1 kam es erst, als Kurfürst Maximilian Franz 1786 unter Berufung auf die Goldene Bulle ein Oberappellationsgericht errichtete und mit der kurkölnischen Revisionsordnung alle Appellationen ans RKG abschnitt. Nun war zwar die im Jahre 1356 erteilte Freiheit den Zeitgenossen eine äußerst fragwürdige Grundlage für dieses Vorgehen, doch konnte die Neuregelung des Instanzenzuges nach der Zustimmung der Landstände auch auf das Privileg von 1653 gestützt werden. Trotz geringfügiger Vorbehalte des RKG gegen die Bestätigung einzelner Punkte der Revisionsordnung 482 kann der entstandene Konflikt deshalb nicht als Appellationsverbot angesehen werden.

5. T r i e r ( 1 7 1 9 — 1 7 2 1) Die den Kölner Verhältnissen von 1786 entsprechende Situation war in Trier bereits 1719 eingetreten, als Kurfürst Franz Ludwig unter Berufung auf die Goldene Bulle mit der Errichtung eines Revisionsgerichtes den Appellationen ans RKG ein Ende machte 48S. Hier kam es für rund 18 Monate zu einem Appellationsverbot, da Trier seine Neuerungen überhaupt nur auf die fragwürdigen Rechte aus der Goldenen Bulle stützen konnte 484. In seiner eigenen Haltung unsicher, ließ der Kurfürst beim Kaiser um die Erteilung eines rechtfertigenden Privilegs anhalten, das am 30. September 1721 erteilt

4el ) Zur Auseinandersetzung 1786 vgl. ausführlich E i s e n h a r d t , S. 91 ff., ders., Das kurkölnische Oberappellationsgeridit, S. 38 ff. 482 ) Vgl. S c h e l h a ß , S. 229, 259 ff. 4M ) Der Fall wird ausführlicher behandelt von E i s e η h a r d t , S. 89 f., ders., Privileg Trier, S. 280 f. — Es handelt sich um eine allgemeine Neuordnung der Justiz. Des Erzbischofs allgemeine Anordnung betreffend die weltlichen und geistlichen Gerichte der Erzdiözese Trier ergibt, daß Untergericht die Amtsleute, mittlere Instanz das Hofgericht, die ,dritt und letzte instanz' das Judicium revisorium sein sollte. Die Ordnung datiert vom 1. Januar 1719 und ist abgedruckt bei Hontheim, III S. 903—908 (906 f.). Die Revisionsgeriditsordnung datiert vom 27. Januar 1719 und findet sidi bei H o n t h e i m , III S. 909—915. 4M ) Zur Privilegiengeschichte Triers vgl. M o s e r , 1. B. 6. K., S. 189 f., E i s e η h a r d t , S. 82 f., 85, ders., Privileg Trier, S. 275 ff., H o n t h e i m , II S. 877 ff., zur Gerichtsverfassung auch C z i s c h k e , S. 9 f., W e n d , S. 15 ff.

153

Baden

wurde 4 8 5 . Zwar wies der Kaiser grollend auf seine Redite hin, die mit der eigenmächtigen Aufrichtung des Gerichtes verletzt seien, doch nahmen ihm die von Trier geschaffenen Fakten die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung.

III.

Sonstige

Reichsfürsten Grafen

einschließlich

1 . B a d e n (um 1 4 9 5 , 1 6 2 2 / 5 4 — 1 8 03 ) Die Markgrafsdiaft Baden hatte bis zur Erlangung der Kurwürde 1803 kein Appellationsprivileg 486. Zum Schutze insbesondere gegen die Gerichtsbarkeit des Rottweiler Hofgerichts 487 und die der anderen kaiserlichen Landgerichte im südwestdeutschen Raum ordnete bereits die Landesordnung von 1495 in § 27 488 — sicherlich nicht erstmalig — an, daß Landeszugehörige einander nicht vor fremden Gerichten belangen sollten: ,Uslendig Gericht zu gebrauchen. Item wir wollen, daß hinfür keiner der unsern den andern mit frembden Gerichten, geistlichen noch weltlichen, fürnemen solle, — die sachen werdent dan alweg zuvor von uns oder unserm hofmeister und unsern gelerten reeten verhöret und nach sollicher verhörung, ob man darin nit entscheidtung findet oder zuthun hat, fürter gewiest oder zugelassen, ferner redit oder entscheidung darumb zu suchen'.

Ein entsprechendes Verbot war auch in den Huldigungseid aufgenommen worden 489. Ob bereits diese Regelung vor und nach 1495 aktiv auch gegen die Appellationen an die Reichsgerichte eingesetzt worden ist, läßt

486 ) Abgedruckt bei H o n t h e i m , III S. 916—918, E i s e n h a r d t , Privileg Trier, S. 283 ff. " · ) Le η e 1, S. 89 f., F e d e r e r , S. 65, C a r 1 e b a c h , II S. 85, L e i s e r , S. 28. Zu den territorialen Verhältnissen der badischen Markgrafschaften vgl. B a d e r , Südwesten, S. 105 ff., ders., Entwicklung Badens, S. 11 ff. «") Vgl. C a r 1 e b a c h , II S. 85. 488 ) Abgedruckt bei L e i s e r , S. 25, C a r l e b a c h , I S . 93—118, 110 und — in Auszügen — bei S c h m e l z e i s e n , Quellen II 1 S. 141 ff. 4β ·) Vgl. C a r 1 e b a c h , I S. 27.

154

Appellationsverbote

sich nur schwer sagen. Einschlägige Streitigkeiten sind nicht bekanntgeworden. Andererseits stellt die Landesordnung von 1495 zwar vordergründig auf einen Zustand der Freiheit von Ladungen vor auswärtige, ist gleich ausländische, Gerichte ab, doch spricht sie audi von ,fürter gewiest' und von ,ferner recht'. Hiermit kann eine zweite Prüfung des Rechtsstreits angesprochen sein. Diese Annahme wird verstärkt durch die Ausführungen L e i s e r s 490, der der Vorschrift, gestützt auf eine entsprechende Regelung des Entwurfs eines Landrechts für die Markgrafsdiaft Hochberg um 1600 491, audi für „das Ziehen an andere Gerichte" Bedeutung beimißt. Denkt man an die um 1500 im badischen Rechtskreis bestehende Gemenglage zwischen verschiedenen Formen des Zuges und echter Appellation 492, so spricht einiges dafür, die genannte Bestimmung auch als Appellationsverbot zu werten 493. Läßt sich insoweit ein Appellationsverbot für das 16. Jahrhundert nicht eindeutig nadiweisen, so steht doch jedenfalls fest, daß die Appellation ans RKG nach Möglichkeit verschwiegen wurde. Die badische H G O von 1509 494 läßt sich breit über Appellationen zum Hofgericht aus, ohne das RKG als Oberinstanz zu erwähnen. Dasselbe gilt von dem Entwurf eines Landrechts für die Markgrafsdiaft Hochberg 495. Die unter Markgraf Georg Friedrich 1610 verfaßte H G O 496 enthält eine Bestimmung, daß genau zu prüfen sei, ob die Parteien sich .fernerer appellation begeben oder selbig reserviren'. Wie auch immer die Appellationsverhältnisse im 16. Jahrhundert gewesen sein mögen, so kann für Baden doch zumindest seit 1622 von einem Appellationsverbot in Streitigkeiten Landesangehöriger untereinander ausgegangen werden. In diesem Jahre war ein neues Landrecht fertiggestellt und gedruckt, jedoch nodi nicht eingeführt worden. Dies geschah wegen der Wirren des Dreißigjährigen Krieges

4S0

) S. 25 f. ) Vgl. L e i s e r , S. 25, 92 ff. Danadi sind weder die Zugehörigkeit des angesprochenen Landrechtsentwurfs zu Höchberg noch die Datierung gesichert. 492 ) Vgl. L e i s e r , S. 19 ff., auch oben S. 116 Anm. 317. 49S ) So L e i s e r , S. 28. 494 ) Abgedruckt bei C a r l e b a c h , I S. 118—134, vgl. auch Leiser, S. 72—78. 495 ) Vgl. dazu oben Anm. 491. 49β ) Es handelt sich hier möglicherweise nur um einen Entwurf, vgl. L e i s e r , S. 120. 4el

Baden

155

erst 1654. Das Landrecht von 1622/54 497 enthält nun dort, wo allgemein von Rechtszug und Appellation die Rede ist (Teil I — Von dem gerichtlichen Prozeß in bürgerlichen Sachen erster Instanz — Tit. 33 § 6) folgende Bestimmung: Schließlich wollen Wir allen Unseren Unthertanen und Angehörigen mit Ernst befohlen und aufferlegt haben, sidi allen unordentlichen Appellirens, sonderlidi an frembde ausländische Geridit, zu enthalten. Dann weldier hierwider handeln und dis Unser Gebott nicht in acht nemen würde, den gedenken Wir andern zum Exempel, mit sonderer Ungnad und ohnnachläßiger Straff anzusehen'

Das eigentliche Appellationsverbot hingegen findet sich in Teil II (enthaltend die HGO) in der Einleitung zu Tit. 36: ,Ob und welcher Gestalt von Urtheln so an Unserm Hoffgericht ergangen, appellirt werden möge. Nachdem die Partheyen wider welche die Urtheil ergangen zu mehrmalen von solcher Urthel allein auß fürsetzlidiem Muthwillen und bößlidiem Umbtrib des obsigenden Theils, nicht aber auß habendem Fug der Rechten an das Keys. Cammer-Gericht appelliren, so wollen und befehlen Wir hiemit, daß zur Befürderung der Execution fiirohin keiner Unserer Land- und Hindersassen welcher mit einem andern Unserm Underthanen, Land- und Hindersassen, an Unserm Hoffgericht zu Recht gestanden, von einiger End- und Beyurthel an das Keys. Cammer-Gericht appellire, sondern ein jeder bey der jenigen Urthel, so an Unserm Hoffgericht ergangen, endlich beharre und verbleibe und also weder ihme selbsten noch seinem Gegentheil großen unerschwinglichen Kosten, weldier gemeiniglidi neben langwüriger verdrießlicher Rechtfertigung an jetztermelten Keys. Cammer-Gericht auffgehet, verursachen thue' 4 " .

In den nachfolgenden Bestimmungen wird die Appellation von Fremden, soweit sie nicht Verzicht geleistet haben, unter der Voraussetzung, daß sie einen Kalumnieneid ablegen, in den das Versprechen der Schadloshaltung des badischen Appellaten aufgenommen ist, und der Hinterlegung eines Succumbenzgeldes von 3 fl. als zulässig angesehen. In den Fällen des Rechtsstreites mit einem Auswärtigen soll auch den badisdien Untertanen das Rechtsmittel ans RKG zustehen, um sie gegenüber den Fremden nicht zu benachteiligen. 487

) Zu seiner Entstehungsgeschichte vgl. C a r l e b a c h , I I S . 20 ff., L e i s e r , S. 125 ff., S c h w a r t z , S. 375. 4 8 » ) Druck des Landrechts S. 55. 4 " ) Druck des Landrechts S. 98 ff. — Zur Verbotssituation vgl. auch R e u ß , Staatskanzlei, 16. Teil, S. 2—6, L e i s e r , S. 129, L e n e l , S. 90, C a r l e b a c h , II S. 85 f., S c h i c k , S. 89.

156

Appellationsverbote

Die Entwicklung der einschlägigen badischen Vorschriften seit 1495 läßt wie kaum eine andere den Ubergang von der deutschen zur römisch-kanonischen Gerichtsverfassung deutlich werden. Sie zeigt aber auch eindeutig, wie schwer es den Zeitgenossen fiel, den Unterschied zwischen dem Angehen auswärtiger Gerichte in ,erster' Instanz und einer ebenfalls nach auswärts gehenden Appellation zu erkennen. Gegenüber dem vorrangigen Bedürfnis nach Schutzmaßnahmen im Verhältnis zu ,erstinstanzlich' konkurrierenden Geriditen vor und etwa bis 1495 war im Jahre 1622 das Verbot ,unordentlicher Appellation' in den Vordergrund getreten. Die erstinstanzliche Zuständigkeit der landesherrlichen Geridite hatte sich weiter gefestigt, alte Reditsbeziehungen nach auswärts drohten jedoch, sich in Appellationsbeziehungen zu verwandeln. Das Anrufen auswärtiger Geridite war nur noch im Rahmen des Instanzenzuges problematisch. Diese Veränderungen finden aber weder in den Formulierungen von 1622 noch in den hinter ihnen stehenden Rechtsvorstellungen entsprechenden Ausdruck. Aus der Gegenüberstellung von Landrecht I Tit. 33 § 6 und II Tit. 36 Einleitung läßt sieht die Vorstellung eines systematischen Zusammenhangs zwischen dem Verbot von 1495 und dem Verbot ,unordentlicher Appellation' 1622 ablesen. Sie folgt sowohl aus der Wortfassung (,ausländische Gerichte') als auch aus der Aufnahme des Verbotes unordentlicher Appellation in den ,allgemeinen Teil' des Prozesses erster Instanz. In beiden Fällen handelt es sich um die Abwehr konkurrierender Zuständigkeiten, wobei sida 1622 die Problematik infolge der Verfestigung landesherrlicher Gewalt und des Instanzenwesens auf das Rechtsmittel verlagert hat. Demgegenüber erweckt zumindest die Formulierung des Appellationsverbotes in Landrecht II Einleitung zu Titel 36 den Eindruck einer von der deutsdirechtlichen Vergangenheit abgelösten Maßnahme. Der Schein trügt jedoch. Ebenso wie man sich früher gegen die ,erstinstanzlich' konkurrierende Zuständigkeit des auswärtigen Reichsgerichtes gewandt hatte, bekämpfte man jetzt die Appellationszuständigkeit des .auswärtigen, ausländischen' RKG. Rein spekulativ kann in der auf die Begebung der Appellation abstellenden Fassung der H G O 1610 eine Ubergangsform zu der 1622 folgenden Regelung vermutet werden. Was die Wirksamkeit des seit 1654 als Landesrecht gesetzlich fixierten Appellationsverbotes betrifft, muß festgestellt werden, daß

Baden

157

es offenbar rund 130 Jahre unangefochten geblieben ist. Entgegenstehende Zeugnisse sind nicht bekanntgeworden 500. Da das Hofgericht ohnehin nur zweimal im Jahr zusammentrat 501 , wird man davon auszugehen haben, daß die Erledigung der Prozesse möglichst schon in den unteren Instanzen angestrebt wurde. Die Beurteilung L e η e 1 s 502, den Versuchen, die Gerichtsbarkeit des Reiches zu umgehen, sei ein voller Erfolg nicht beschieden gewesen, ist mangels konkreter Begründung nicht nachvollziehbar. Der Erfolg kann schließlich nicht daran gemessen werden, daß die Gerichtsbarkeit des Reiches gleichwohl fortbestand 503. Erst im Jahre 1786 — als nach L e n e l s erneut ohne Begründung getroffener Feststellung das Verbot „längst außer Übung gekommen war und der Weg zu den höchsten Reichsgerichten bei Vorliegen der Appellationserfordernisse jederman offenstand" — führte der Verstoß gegen das Reiclisrecht auf Betreiben des RKG zu einem Prozeß gegen den Markgrafen Karl Friedrich vor dem RKG. Diesem war das althergebrachte Verbot Anlaß zur Erinnerung des Reichsfiskals als es in Sachen Altettlinger Schifferhandlungs-Teilhaber contra Dürrischer Sdiifferhandels-Teilhaber aus den Akten entnehmen mußte, daß einer der Beteiligten den Appellationseid bereits in Judicio a quo geleistet hatte 504. So erließ es am 28. November 1786 das folgende Dekret: ,Ist Dri Bostell, daß derselbe sowohl Namens des Advocati causae als audi der Appellanten den Appellationseyd dahier, massen solches in Judicio a quo unbefugter Dingen geschehen, ablegen solle, sub poena desertionis anbefohlen. Dann wird der Kaiserl. Fiskal wegen der absque privilegio Caesareo im Baadischen Landrecht P. II tit. 36 § 1.5.6. angemaßten Aufgabe, die Solennien in Judicio a quo zu prästieren, ingleichen wegen des anstößigen Eingangs des besagten Tituls des Landredits seines Amtes hiemit erinnert. In Cons, 28. N o v . 1786' 5 0 S .

Das auf Kassation des anstößigen Titels gerichtete Verfahren des Reichsfiskals zog sich hin und wurde schließlich durch die Verleihung 500 ) Das Verbot findet sich auch im Badisdien Landrecht von 1710, Tit. 36, vgl. W u 1 f f e η , S. 82. !01 ) Vgl. C a r 1 e b a c h , II S. 83 f., 121. sot ) S. 90. SM ) In seiner die allgemeine Rechtsgeschichte Badens behandelnden Darstellung stellt L e η e 1 auf diesen Gesichtspunkt ab. t04 ) S c h i c k , S. 88 f., 201, W u 1 f f e η , S. 82. 5M ) S c h i c k S. 201, R e u ß , S. 10.

158

Appellationsverbote

der Kurwürde 1803 und das damit verbundene iiiimitierte Appellationsprivileg hinfällig 506.

2. B a y e r n

(um

1495)

Auch aus dem bayrischen Raum liegen Anhaltspunkte dafür vor, daß man in den beiden Herzogtümern, Landshut und München, eine aus dem 15. Jahrhundert überkommene, das Reichsgericht umfassende Freiheit von auswärtigem Gericht gegenüber der Appellationszuständigkeit des neuen Gerichts zu erhalten suchte 507. Das Bild ist allerdings uneinheitlich, da trotz nachweisbarer Appellationsverbote andere Appellationsprozesse ungehindert ans RKG gekommen und dort verhandelt worden sind, von einer allgemeinen Verbotssituation also nur schwerlich die Rede sein kann. Die feststellbaren Appellationsverbote liegen in der Zeit um 1500, während Bayern später 508 bis zum iiiimitierten Privileg von 1620 verfeinerte Methoden zur Unterdrückung des Rechtsmittels anwandte. Die Untertanen beider Herzogtümer waren schon seit dem 14. Jahrhundert von Ladungen an auswärtige Gerichte, einschließlich des Reichsgerichtes, befreit 509. Bayern-Landshut hatte möglicherweise schon vor 1474, jedenfalls aber seit 1480 ein Appellationsprivileg gegen interlocutiones vim definitivae non habentes 510. Zunächst teilen R o s e n t h a l 5 1 1 und ihm folgend S c h l o s s e r 5 1 2 Zeugnisse hofgerichtlicher Urkunden mit, die davon sprechen, daß es bei den Entscheidungen des Hofgerichtes ohne Appellation 5M

) L e η e 1, S. 90. ) L i e b e r i c h , S. 444 spridit zutreffend von Exemtion, vgl. auch oben S. 119 ff. 5 8 ® ) Vgl. unten S. 270 ff., 276 ff. 50e ) Vgl. R o s e n t h a l , I S . 9 ff., S c h l o s s e r , S. 27 f., differenzierend und leicht abweichend L i e b e r i c h , S. 438. 51 °) Vgl. S c h l o s s e r , S. 29, L i e b e r i c h , S. 422, ferner Bender, S. 2. Weitere Privilegierungen erfolgten 1517 bis 100 fl., 1521 bis 200 fl., 1559 bis 500 fl., 1620 iiiimitiert — vgl. S c h l o s s e r , S. 29 f., R o s e n t h a l , I S. 12 ff., S t ö 1 ζ e 1, II S. 429 f., CJC Anhang, S. 26 ff., 31 ff. 511 ) I S. 12 f. Anm. 2. 512 ) S. 29 Anm. 84, ders., Einflüsse, S. 13 f. Beide unter Berufung auf Monumenta Boica IV, S. 389 f. und Kgl. Hofgeridit f. d. Unterland zu Straubing, 1808, S. 30, 31. 507

Bayern

159

bleiben solle. Es handelt sich um einen Gerichtsbrief des Hofgerichts Landshut von 1476 51S, in dem es heißt: ,und was also durdi dy bemelten Rete oder deren mereren Tail aus in zw Recht gesprochen wirdet, dabei sol es an verer Waygrung, Auszug und Appellirung beleiben'.

Weiterhin liegen Einträge im Hofgerichtsbucli des Viztumamtes Straubing um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert vor: .angelobt Irer Irrung halbentlichs und ongewaigerts rechtens wie hofgeridits redits ist bey herren vicedom und Reten, was Sy zwuschen Irer sprechen, entlich zu beleiben'.

Aus beiden Zeugnissen kann jedodi entgegen S c h l o s s e r 5 1 4 nicht auf eine bereits im 15. Jahrhundert allgemein verbreitete Praxis geschlossen werden, den Parteien einen Verzicht auf das Rechtsmittel ans Reichsgericht abzunötigen. Dafür fehlt es an weiteren Anhaltspunkten, die eine Verknüpfung mit den späteren Vorschriften der RKGOen rechtfertigten, insbesondere auch an Hinweisen auf mögliche Strafsanktionen, wie sie Bestandteil des zur gleichen Zeit gegen die Feme geführten Kampfes 515 gewesen sind. Eine solche Verzichtspraxis erscheint insbesondere aber auch deshalb fraglich, weil sich aus der Untersuchung L i e b e r i c h s über die frühen RKGProzesse Bayerns ergibt, daß — wenn auch teilweise unter Beschwernissen — in den Jahren vor 1495 und von 1495 bis 1501 aus den Herzogtümern Landshut und München, also gegen die Entscheidungen der Hofgerichte in Landshut, Neuburg a. D., München und Straubing regelmäßig und in mehreren Dutzend Fällen ans Reichsgericht appelliert worden ist 516 . Die Untersuchungen S c h l o s s e r s und L i e b e r i chs treffen sidi jedoch in Beobachtungen hinsichtlich der Appellation von erstinstanzlichen Hofgerichtsurteilen. Die „Anfechtung erstinstanzieller sls

) R o s e n t h a l datiert unzutreffend 1470. ) S. 29 Anm. 84, S. 453. — R o s e η t h a 1, a. a. O., verallgemeinert die beiden Zeugnisse nicht so stark. Die neusten Mitteilungen S c h l o s s e r s (Einflüsse, S. 13 f.) zu diesem Problemkreis können eine Änderung in dieser Einschätzung herbeiführen, sind derzeit jedodi nodi zu unbestimmt. 515 ) S c h l o s s e r , S. 33 f. si·) Vgl. ) I Buch I, S. 63, Budi V, S. 255. e71 ) Vgl. oben S. 117 ff., 128 auch W e i t z e l , S. 244 ff. e72 ) Ein unbeschränktes Privileg erhielt das dann preußisdie Ostfriesland erst 1750, vgl. K ö n i g , S. 235 f., W i a r d a , II S. 90, auch oben S. 143 Anm. 436. β73 ) Auch G y l m a n n , VI S. 99, 108 scheint noch an dieses Sprichwort zu glauben.

Ostfriesland

191

Wie wenig Aussicht auf Erfolg die Grafen ihrem Bemühen zumessen konnten, wie uferlos aber audi die Rechtsverdrehungen der Landesherren im Kampf um die Freiheit von der Appellation gewöhnlich gewesen sind 674, das zeigt die Stellungnahme des Advokaten Dr. G e o r g B r u n n e r gelangend fürgewendt Privilegium sive potius consuetudinem de non appellando ad iudicium camerae Imperialis' 675, die dieser von den Grafen in die Bemühungen um das Privileg eingeschaltete, am RKG tätige Jurist abgab, als er von seinen Auftraggebern 1566 aufgefordert worden war, das friesische Herkommen geeigneten Orts stärker in den Vordergrund zu stellen. Β r u η η e r führt aus, die behauptete Gewohnheit sei nicht zu halten. Privilegia de non appellando würden nur in specie erteilt, seien aber nicht in generellen Bestätigungen hergebrachter Freiheiten 676 enthalten. Dies sei aus den Reichskonstitutionen, ,insonderheit aber des heil. Reichs aufgerichteten Cammer-Gerichts-Ordnung klärlich zu ersehen und zu vernehmen, daselbst ausdrücklich statuirei und versehen, daß außerhalb der in Rechten specificirten Fällen sonst nicht, dann vermög eines rechtmäßigen Privilegii, jus appellandi benommen werden möge noch könne'.

Bei Rechtspositionen wie dem Anspruch auf Appellation, die jedermann ungehindert zustünden, könne aus der kaiserlichen Bestätigung der allgemeinen Rechtsverhältnisse des Landesherrn keine neue Position hergeleitet werden, da hier die Unterlassung der Untertanen ,zu keiner Zeit eine Gewohnheit, daß dürfte, mit sich bringen und einführen'

auch hinfiirter niemand

appelliren

könne. Die Regel, daß das, was per Privilegium zugestanden werde auch durch Gewohnheit erlangt werden könne, erleide dann eine Ausnahme, wenn das Gesetz ausdrücklich der Ersitzung und Gewohnheit zuwider sei. Was durch spezielle Verleihung als Privilegienrecht erworben werde, könne eben nicht durch Statut oder Gewohnheit erlangt werden. Überdies sei ihm berichtet worden, 674

) Vgl. etwa die Ausführungen des Würzburger Vertreters im Rechtsstreit Sailer, der 15 Jahre zuvor entschieden worden ist — W e i t z e l , S. 226 ff., 242 f. β75 ) Gutachten vom 7. Mai 1566, abgedruckt bei B r e n n e y s e n , I S. 252 ff. ί7β ) Eine soldie war 1457 durdi Friedrich III. erfolgt, vgl. W i a r d a , III S. 89.

192

Appellationsverbote

,daß vor vielen Jahren etliche praejudicia an Kays. Cam. ergangen seyn sollen, dadurch erörtert und geurtheilt worden sey, quod ius appellandi consuetudine tolli non possit' · 7 7 .

Die Grafen sollten daher mit dem Vortrag, seit vielen Jahrhunderten sei unter Zustimmung des Volkes aus Ostfriesland nicht appelliert worden, eine Supplik an den Kaiser richten. Diese könnten aber der Kanzler und die heimischen Räte besser abfassen als er, der die besonderen Ursachen der Gewohnheit nicht kenne. Übrigens könnten sich die Grafen darauf verlassen, daß die friesischen Rechte am R K G bei entsprechendem Vorbringen beachtet würden. Die gänzliche Beseitigung der Appellation bringe den Herren mit Wahrscheinlichkeit nur Unruhe in der Bevölkerung und Prozesse wegen Nullität und Justizverweigerung. Neben dem typischen Bild der Abwehrhaltung gegenüber dem neuen Rechtsmittel verdient auch das Gutachten B r u n n e r s insoweit besonderes Interesse als er mit keinem Wort auf den Ubergang von der Urteilsschelte zur Appellation eingeht, vielmehr meint, es sei seit Jahrhunderten nicht appelliert worden. Wohl infolge der Randlage der Grafschaft tritt der Konflikt mit dem Reich relativ spät auf und wird auch von allen Beteiligten offenbar nicht als erstrangig angesehen. Mit der Errichtung des Hofgerichts 1590 wird die Romanisierung des Gerichtswesens audi im Verhältnis zum R K G akzeptiert. Neben der Appellation ans R K G kennt die H G O alternativ die Möglichkeit der Supplik 6 7 8 an den Landesherrn ®79. Die Sadie soll dann nochmals am Hofgericht verhandelt und, falls erforderlich, an eine unverdächtige Juristenfakultät verschickt werden. Wenn B r e n n e y s e n 6 8 0 diese Möglichkeit als einen Effekt des ehemals im Lande üblich gewesenen ,Appellationsprivilegs' bezeichnet, so ist diese Folgerung völlig unzutreffend. In der Einräumung der alternativen Supplik kann auch kein Appellationsverbot gesehen werden 6 8 1 . In den Jahren nach 1590 ist aus Ostfriesland oft ans R K G appelliert worden ®82. Zu häufig wohl selbst nach e 7 7 ) Zur Präjudizienbedeutung der Entscheidungen in Sachen Hagedorn/Kleytz 1535 und Sailer/Sailers Gläubiger 1551 vgl. W e i t z e l , S. 217. " 8 ) B r e n n e y s e n , I Buch V, S. 255 spricht schon von revisio. • 7 e ) H G O Tit. X L I V . «β») Vgl. Anm. 678. β β 1 ) Vgl. oben S. 168 f f . und unten S. 287 ff., 293 f. e 8 2 ) Vgl. K ö n i g , S. 235 f. Die Behauptung B r e n n e y s e n s in E m m i u s - B r e n n e y s e n , Vorrede § 6, daß die Polizeiordnung von 1545 hin-

Paderborn

193

der Auffassung der Landstände, die im 17. Jahrhundert hin und wieder durch Vereinbarungen mit den Landesherren zumindest für besondere Fallgruppen die Beseitigung des Suspensiveffektes und damit die sofortige Vollstreckung der Urteile des Hofgerichtes zu erreichen suchten e8S .

8. P a d e r b o r n

(1521/22, 1566—1583)

In den Jahren 1515/16 wurde der Paderborner Goldschmied Jakob Wesemann 684 von den Amtsleuten des Bischofs zunächst vor dem Stadtgericht, dann vor Bürgermeister und Rat sowie vor dem Freienstuhl, der aber auch überwiegend mit Ratsherren besetzt war 685 , peinlich angeklagt, weil er ein Goldstück, auf das der Bischof Ansprüche geltend machte e86 , verschmolzen und verringert haben sollte. Über fünf Jahre hin entzog sich Wesemann durch Flucht und Ausflüchte der Regelung der Angelegenheit. Er gelobte mehrfach, sich mit dem Bischof gütlich einigen zu wollen, tat dies aber nidit, erschien nicht zu angesetzten Gerichtsterminen 687 . Endlich entschloß er sich im Jahre 1521 zu Recht zu stehen und wurde verurteilt. Von diesem Urteil appellierte er zunächst mündlich ans sichtlich des Appellationsverbotes audi noch nach 1590 Beachtung gefunden habe, wird von ihm nicht belegt. Auch C o n r i n g , auf den er sich beruft, läßt sich ein Nachweis dieser Auffassung nicht entnehmen. e83 ) Vgl. unten S. 264 ff. ββ4 ) Es handelt sich um den Rechtsstreit des Jakob Wesemann, vertreten durch seinen Verwandten Johann Armbruster, gegen Bischof Erich von Paderborn und Münster, Bürgermeister und Rat zu Paderborn sowie Landtrost und ,gwelt' daselbst — Akten RKG A 1101 = StA Münster, Aders-Richtering, I S. 20 Nr. 121 und RKG A 1102 = StA Münster, Aders-Richter i n g , I S. 20 Nr. 122. Beide Verfahren sind seit 1521/22 am RKG anhängig. A 1101 enthält die Appellation vom peinlichen Vorverfahren, A 1102 den Mandatsprozeß. Abweichend von der sonst üblichen Verzeichnung werden die Verfahren unter dem Namen des Vertreters Armbruster geführt. * e5 ) Daraus entstehen die Streitigkeiten um die Bezeichnung der Vordergerichte, die für die Frage, wer zur Herausgabe der Akten verpflichtet sei, relevant werden, vgl. A 1102 qdr. 30, 32, 28, 44. βββ ) Anlaß des peinlichen Verfahrens ist nicht ein Diebstahl oder die Unterschlagung des Goldes, sondern ein Verstoß Wesemanns gegen ein Hoheitsrecht (Regal) des Bischofs hinsichtlich des (gefundenen und von Wesemann angekauften) Metalles, vgl. A d e r s - R i c h t e r i n g , Verzeichnung zu Nr. 121. ®87) Vgl. A 1102 qdr. 5, 8 (letztere Ziffer in Doppelbezeichnung mit einer Vollmacht).

194

Appellationsverbote

RKG 688 . Das Einreichen der Appellationsschrift am 1. Februar 1521 brachte Wesemann eine Ladung auf das Rathaus der Stadt ein. Dort wurde er in Haft genommen und trotz seiner siebzig Jahre und zweier Mandate des RKG 689 , das letzte unter Androhung von Acht und Aberacht und des Verlustes aller vom Kaiser erlangten Freiheiten, etwas mehr als ein Jahr im Gefängnis festgehalten 690 . Schließlich einigte man sich dahingehend, daß ihm die Appellation vom Freienstuhl zu Paderborn an den Kölner Erzbischof gestattet wird. Der Appellant wird freigelassen, der Mandatsprozeß am RKG aber wegen der von den Appellaten verwirkten Strafe fortgeführt e91 . Wesemann behauptet, all dies sei ihm widerfahren, weil er es gewagt habe, sich ans RKG zu berufen. Als er seine Appellation Bürgermeister und Rat der Stadt mitgeteilt habe, ,haben sie Ime fürgehalten, sie wollen die Appellation von Ime keins wegs haben oder annemen, sondern soll die fallen lassen, sich deren vertzeyhen und gentzlich davon abstehen' e92 .

Es sei in Paderborn bekannt, ,das man mit armen leutten dermassen sol handeln. Bürgermeister und Rat haben sich hoeren lassen, sie wollten also mit Wesemann halten, daß keinem nidite solt gelüsten, zu appelliren an das K a y . Cammergericht, welches ein offenbares ist zu Badabornen' e9S .

Er habe die Appellation weder verwirkt noch habe er auf sie verzichtet. Im Gefängnis habe man ihn mehrfach, immer nachdem die Mandate des RKG eingegangen seien, von Amtspersonen zum Verzicht auffordern lassen und ihn sogar peinlich vernommen. Die Akten des Hauptverfahrens seien ihm trotz Anforderung nicht herausgegeben worden 694 . *88) Der Adressat der Appellation bleibt zunächst offen, weil das R K G erst im Dezember 1521 seine Tätigkeit nach längerer Unterbrechung wieder aufnimmt, vgl. A 1102 qdr. 19, 29, 41, 54. β8β ) Vgl. A 1 1 0 2 qdr. 6 vom 8. März 1521 und das verschärfte Mandat vom 2. Mai 1521, S. 132 f. der Akte, ferner das Exekutionsmandat vom 22. Januar 1522, zugestellt am 19. Februar 1522 — qdr. 11 mit Zustellungsnotiz des R K G Boten. A m 22. Februar 1522 wurde Wesemann freigelassen. ° 90 ) A 453 qdr. 36, 41, 54. e 9 1 ) Vgl. oben S. 54 Anm. 13. β92 ) A 1 1 0 2 qdr. 6 (Doppelbezeichnung mit dem Mandat vom 8. März 1521). β93 ) A 1 1 0 2 qdr. 9. β94 ) A 1 1 0 2 qdr. 9, 15, 22.

Paderborn

195

Bischof, Bürgermeister und Rat bestreiten die gegnerische Darstellung 695. Wesemann sei deshalb in H a f t gekommen, weil er meineidig sei. Er habe mehrfach gelobt, sich mit dem Bischof wegen des Goldes zu vergleichen. Ferner habe er, nachdem die Freischöffen seine Appellation als frivol verworfen hatten, gelobt, nach dem ergangenen Urteil zu leben. Es sei ihr gutes Recht als Obrigkeit, ihn im Turm zu halten. Die Herausgabe der Akten sei nicht verweigert worden. Vielmehr habe Wesemann nicht darum angehalten oder er habe zumindest die Abschrift nicht bezahlen wollen. Noch im Jahre 1525 wird über die Zusammensetzung einer Kommission zur Beweiserhebung verhandelt 696, daneben betreibt der Vertreter Wesemanns eine Beweissicherung durch Zeugenvernehmung vorab, da einige Zeugen des Ursprungs der Auseinandersetzung 1512 alt seien und die endgültige Beweiserhebung nicht mehr erleben könnten 697. Bei der Beurteilung des Falles kann von einer Parallelität zu den etwa gleichzeitig in Münster bestehenden Verhältnissen 698 ausgegangen werden. Da sich die Obrigkeit in Paderborn nicht ausdrücklich auf ein die Appellation verbietendes Herkommen beruft, bleibt offen, ob ein solches bestand oder ob man das neue Rechtsmittel ohne diesen Rechtfertigungsversuch zu hintertreiben gedachte. Hervorgehoben werden muß jedenfalls die Hartnäckigkeit, mit der man Wesemann zum Verzicht auf das Rechtsmittel zwang. Entweder fühlte man sich im Recht oder aber man war sich darüber klar, daß die Unwahrheit der von der Stadt über den Verlauf der Auseinandersetzung und den angeblichen Verzicht Wesemanns aufgestellten Behauptungen nur schwer zu erweisen sein würde. Offen bleibt ferner — wie auch in Münster —, ob der Rechtsstreit unmittelbar Veränderungen in der Einstellung zur Appellation bewirkt h a t 6 " . Hierüber gibt auch der Rechtsstreit Boett, uxorio nomine/ Honichmann und Frau, Paderborn, 1566 bis 1583, keine Aus-

ββ5

) A 1102 qdr. 5, 13, 28. ) A 1102 qdr. 53, 62. ββ7 ) A 1102 qdr. 54, 55. βββ ) Vgl. oben S. 186 ff. ββι> ) Eine Entscheidung über die von Bischof und Stadt verwirkte Strafe kann der Akte A 1102 nidit entnommen werden. Sie endet inmitten der Auseinandersetzungen über die Kommission zur Beweiserhebung. βββ

196

Appellationsverbote

kunft 700. Das in dieser Sache von Bürgermeister und Rai ausgesprochene Appellationsverbot scheint allein in der Absicht aufgestellt worden zu sein, der Klägerin, die als Minderjährige bei einer Erbauseinandersetzung böswillig benachteiligt worden war, alsbald zu ihrem Recht zu verhelfen. Dem stand die Appellation der Beklagten gegen ein Ratsurteil sowohl an den Fürstbischof als auch ans RKG entgegen. Der Rat bestritt vor dem RKG sowohl dessen Appellationszuständigkeit als auch die des Fürstbischofs. Er versicherte, „seit Menschengedenken sei von keiner Sentenz an den Bisdiof, als ihr nächstes Oberhaupt, oder an das Kammergericht, sondern lediglich an den Rath zu Dortmund appellirt worden" 7 0 1 . Bürgermeister und Rat beriefen sich dafür auf ein den Rechtszug regelndes Privileg 702, das Bischof Bernhard der Stadt 1327 verliehen hatte. Dem stand entgegen, daß die Stadt selbst 1558 zur Abwehr eines Eingriffes des Freigrafen von Arnsberg in ihre Rechte am RKG vorgebracht hatte, sie und ihre Bürger seien von Ladungen an ausländische Gerichte befreit und die Appellation gehe nur an den Bischof oder das RKG 7 0 S . Die Sache Boett gelangte schließlich doch an das RKG, wurde dort bis 1583 verhandelt und blieb schließlich liegen. Die Rechtsverzögerung hat also wohl kaum abgewendet werden können. Weitere einschlägige Prozesse um die Appellationszuständigkeit des RKG haben sich nicht finden lassen, obwohl die Paderborner Akten bei A d e r s - R i c h t e r i n g verzeichnet sind. Zu einer allgemeinen Verbotssituation kann man die Prozesse von 1521 und 1566 trotz der Entsprechungen zu Münster derzeit nicht verbinden.

700 ) Diesen Fall behandelt W i g a n d , Denkwürdigkeiten, S. 215—220. Er schildert sehr anschaulich die „verworrenen" Verhältnisse des 16. Jahrhunderts und interpretiert sie, wenn audi nicht mit letzter Klarheit, im wesentlichen zutreffend. Hinsichtlich der Details des Falles wird auf diese Ausarbeitung verwiesen. 701 ) So nach W i g a n d , S. 218. 702 ) Es ist auszugsweise abgedruckt bei W i g a n d , S. 217 und bei F r e n s d o r f f , S. 237 f. Bei ihm finden sidi nodi weitere Zeugnisse für den Rechtszug von Paderborn nach Dortmund. 70S ) Ein entsprechendes Privileg war der Stadt 1475 von Friedrich III. verliehen worden. W i g a n d druckt es S. 123 ff. ab.

Pommern

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9. P o m m e r n (1640—1648) Mit den Appellationsverhältnissen Pommerns hat sich in jüngster Zeit Kjell Μ o d é e r beschäftigt. Seine Arbeit über die Gerichtsbarkeit der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium 1 6 3 0 — 1657 enthält in Kapitel 5 detaillierte Ausführungen zu diesem Gegenstand, auf die hiermit verwiesen wird. Um den Kenntnisstand über das Vorkommen von Appellationsverboten möglichst aktuell zu halten sei hier aus den Studien Μ o d è e r s mitgeteilt, daß Schweden in den Jahren 1640 bis 1648 Appellationen aus Pommern vorläufig auch ohne ein entsprechendes Appellationsprivileg untersagte. Man stützte diese Maßnahme vornehmlich auf die Überlegung, daß ein schwedischer König zumindest die Rechte in Anspruch nehmen könne, die den Kurfürsten zustanden. Die Verhältnisse wurden schließlich durch das im Westfälischen Frieden eingeräumte uneingeschränkte Appellationsprivileg 7 0 4 bereinigt.

10. W e i f i s c h e

Herzogtümer

Schwierigkeiten bei der Anpassung an die reichsgesetzliche Appellationsregelung lassen sich in der Zeit der Errichtung der Hofgerichte 7 0 5 auch in den weifischen Landen beobachten. a) Calenberg (bis 1544) Um 1500 7 0 6 errichtete Herzog Erich I. (der Ältere) von Calenberg 7 0 7 sein Hofgericht zu Münden, indem er den hessischen Stiftsamtmann Ruland Rulandi als Rat annahm und ihn in Münden alle Quatember als verordneten Kommissarius und gesatzten Richter in ) Vgl. oben S. 40 Anm. 61. ) Zur Umstellung des Gerichtswesens in diesen Gebieten vgl. allgemein M e r k e l , S. 32 f., H a v e m a n n , II S. 507 ff., S t o b b e , II S. 98 f., S c h w a n z , S. 337 ff. 70β ) Das genaue Datum ist nicht bekannt. Die erste Ladung stammt aus dem Jahre 1501. Die neue Einriditung hatte wohl auch Kanzleifunktionen. Vgl. S t ö l z e l , II S. 152, M e r k e l , S. 33, G r u p e n , S. 594 ff., Havem a n n , II S. 510 f. 7 0 7 ) Zur Entstehung des Fürstentums Calenberg vgl. v. M e i e r , S. 75 ff., S a m s e , S. 3 ff., zur Geschichte der braunschweigisdien Territorien insgesamt H a v e m a n n , I S. 652 ff., II S. 209 ff. 704

706

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Appellationsverbote

allen und jeden Appellationssachen' verordnete 708. Ruland erkannte als Vorsitzender des mit fürstlichen Räten oder auch mit Stadträten aus der Umgebung besetzten Gerichtes ,anstatt des Herzogs' 709. Die Einrichtung des Hofgerichtes ließ Erich sich vom Kaiser bestätigen 710. Eine H G O erging n i c h t m . Der von den Untergerichten an das Hofgericht gelangte Prozeß konnte nach dessen beschwerender Entscheidung im Wege der Supplik an den Herzog selbst gebracht werden. Ein zweites Hofgericht organisierte Herzog Erich I. für das Land zwischen Deister und Leine im Wege einer ,Reformatio iustitiae' des bislang nach deutschem Recht judizierenden Ronneberger Landgerichtes 1527 7 U . Das Hofgericht behielt die Bezeichnung nach dem alten Tagungsort bei, hatte seinen Sitz aber in Hannover, später in Pattensen. Die Appellation ans RKG wird in der Reformation ebensowenig erwähnt wie sie in den Schilderungen der Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen des Mündener Hofgerichtes eine Rolle spielt. Dies allein muß nodi nicht zwingend auf ein Appellationsverbot hinweisen, da Gerichtsordnungen dieser Zeit die Appellation ans RKG des öfteren nicht ausdrücklich erwähnen, ohne daß damit ein Verbot ausgesprochen sein soll 71S. Die Reformation des Jahres 1527 kennt als erste Gerichtsordnung des Landes 714 (noch) die Möglichkeit der Aktenversendung zum Zwecke der Herbeiführung einer Entscheidung und bei der ,soll es gesteen in der gude, unwiderruflich ahne jenige appellation blieven' 7 1 5 .

Aus dem Datum 1527 sowie aus dem Zusammenhang mit der ausführlicheren Regelung der Angelegenheit in der nachfolgenden H G O von 1544 716 ergibt sich, daß die hier angesprochene Akten708 ) Vgl. S t ö l z e l , II S. 152, M e r k e l , S. 34 f. — Die Aufgaben Rulands werden dort nicht richtig klar. Zum einen erscheint er als Hofrichter, zum anderen aber auch als Kommissarius für die nach der Entscheidung des Hofgerichtes an den Herzog selbst gerichteten .Appellationen'. 709 ) Vgl. S t ö l z e l , II S. 152 f. Vgl. M e r k e l , S. 33 f. 7U ) Vgl. M e r k e l , S. 37 f. — erst 1544 erhielt audi dieses Gericht eine schriftlidie Ordnung. 712 ) Vgl. M e r k e l , S. 37 f., G r u p e n , S. 559 f., 570 ff., H a v e m a n n , II S. 510, S t ö l z e l , II S. 154 f. 713 ) Vgl. oben S. 167 f., 184. 714 ) Vgl. M e r k e l , S. 37 f. 7 ") Nach M e r k e l , S. 38, vgl. audi S t ö l z e l , II S. 154 f. 7le ) Vgl. unten S. 201.

Calenberg

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Versendung nicht als außerordentliches Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Hofgerichtes im Sinne der später verbreiteten Revision 717 zu verstehen ist, sondern die Funktion einer Oberhofsbeziehung hat, also ein Urteil nicht angreift, sondern vielmehr in der Instanz, von der die Aktenversendung durchgeführt wird, erst ermöglichen soll. Das Abschneiden jeglicher Appellation nach dieser Aktenversendung kann deshalb nicht mit der Überlegung gerechtfertigt werden, es handle sich hier um den Gebrauch eines außerordentlichen Rechtsbehelfes, der den — freiwilligen, oft stillschweigend erfolgenden — Verzicht auf den ordentlichen Instanzenweg der Appellation bis zum RKG impliziere 718 . Hier haben wir es vielmehr mit einem Überbleibsel deutschen Verfahrensrechtes zu tun, auf das ein in bekannter Art und Weise entstandenes und überkommenes Appellationsverbot bezogen wird 719. Ein Rechtsstreit aus den Jahren nach 1535 läßt die Situation eindeutig im Lichte eines auf Herkommen gegründeten Verbotes der Appellation erscheinen 720. Ein Bauer aus Elliehausen appellierte 1535 vom Göttinger Stadtgericht, vor dem er einen Göttinger Bürger auf Herausgabe eines Grundstückes in Anspruch genommen hatte, nach Münden und obsiegte dort 1539. Von dem Urteil des Hofgerichts berief sich sein Gegner an den Herzog, für den Rulandi die Berufung als verspätet zurückwies. Der Göttinger appellierte nunmehr ans RKG, wo die Sache noch 1550 anhängig war. In den Jahren 1539 bis 1544 verwandten sich Herzog Erich und seine Frau Elisabeth in mehreren Schreiben an einen RKG-Prokurator — die zu den RKG-Akten gelangten — für den Appellaten. Neben der Verzögerung der Entscheidung griffen sie vornehmlich die Zulässigkeit der Appellation als solche an. Der Herzog vertrat die Auffassung, daß nach Herkommen ihm die letzte Entscheidung in seinem Lande gebühre. Der Bauer aus Elliehausen und andere an seiner Stelle würden mit Zulassung der Appellation zum RKG 717

) Vgl. W e i t z e l , S. 234 f., 241 und unten S. 289 ff. ) Vgl. W e i t z e l , S. 235 ff. und oben S. 137 f., 168 ff. 719 ) M e r k e l , S. 36 erwähnt einen streitigen „Berufungsfall" aus dem Jahre 1517. Vgl. auch K u p s c h , S. 114 ff. 72 °) Der Fall ist ausführlich geschildert bei M e r k e l , S. 36 f., S t ö 1 ζ e 1, II S. 152 f. Dem folgt die Darstellung des tatsächlichen Geschehens. Wenn S t ö 1 ζ e 1 andeutet, es handle sich hier möglicherweise um einen Fall von Justizverweigerung, so kann dem nidit beigetreten werden. Der Rechtsstreit wurde ja entschieden, nämlidi durch Prozeßurteil abgewiesen. 71β

200

Appellationsverbote

jiiber unsern alten hergebrachten Braunschweigisdien Gebrauch gedrängt und getrieben'.

Wer sich vom Hofgericht an ihn, den Herzog, berufen habe, dem sei noch immer Recht geworden. Eine solche mutwillige Appellation und ,Verachtung' sei ihm nodi nicht begegnet. Es sei ihm deshalb ,nicht leidenlich' nachzugeben. Anders als in Hessen, wo die Supplik an den Landesherrn wahlweise neben der Appellation ans RKG zulässig war 721, wandte sich Herzog Erich generell und nach seinen Vorstellungen mit Verbindlichkeit für seine Untertanen gegen die Appellation nach auswärts. Die Berufung an ihn erscheint in seinem Territorium als dritte und letzte Instanz. Der Ausgang des geschilderten Rechtsstreites ist unbekannt, desgleichen unbeantwortet ist die Frage, ob und welche konkreten Maßnahmen zur Unterdrückung der Appellation getroffen worden sind. Herzog Erich starb bereits 1540. Da weitere Zeugnisse über Appellationsverbote nicht vorliegen, auch nirgendwo von Gewaltanwendung berichtet wird, kann angenommen werden, daß die Calenberger Regierung 722 sidi in die Neuerungen gefügt hat. Anzeichen dafür finden sich auch in der weiteren Entwicklung des Gerichtswesens des Landes. In der Auseinandersetzung mit der Stadt Göttingen um den Instanzenzug argumentiert der Calenberger Kanzler 1551, die Stadt habe den Inhibitionen des Mündener Hofgerichts ebenso Folge zu leisten wie dieses dem RKG gegenüber hierzu verpflichtet sei 723. Eine Änderung in den auf überkommene Gewohnheiten gegründeten Anschauungen der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts legt auch die von Elisabeth — wohl unter maßgeblicher Beteiligung ihres Mündener Hofrichters Justin Gobier 724 — im 721

) Vgl. oben S. 166 ff. — S t ö l z e l , II S. 154 scheint im Gegensatz zu seiner sonstigen Interpretationstendenz — vgl. oben Anm. 550 — davon auszugehen, daß in Calenberg die Berufung an den Herzog neben der Appellation ans RKG gestanden habe. Seiner — auch im übrigen nidit immer überzeugenden — Deutung des Geschehens kann angesichts der klaren Aussage des Schreibens Eridis I. nicht gefolgt werden. Dort ist keine Rede davon, daß die Appellation deshalb unzulässig sei, weil zuvor suppliziert worden ist. 7S2 ) Nach dem Tode Erichs des Älteren führte seine Frau Elisabeth, eine geborene Markgräfin von Brandenburg, bis 1546 die Vormundschaft über Erich den Jüngeren (1546—1568) — vgl. S a m s e , S. 4 f. 7 ") Vgl. M e r k e l , S. 55, S t ö l z e l , II S. 154, audi oben Anm. 721. 724 ) Ein — etwas unrühmliches — Porträt dieses Juristen zeichnet S t o b b e , II S. 174 ff. Eine neue Würdigung der Person und des Werkes Gobiers gibt T r o j e in H R G I, Sp. 1726 ff. In seinem vornehmlich an die bei den Untergeriditen tätigen ungelehrten Prokuratoren geriditeten Werk .Gerichtlicher

Lüneburg

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Jahre 1544 für beide Hofgerichte erlassene ,Reformation und Satzung der Ober- und Hoff-Gerichte' 725 nahe. Diese H G O ist für das Hofgericht zu Münden die erste schriftliche Gerichtsordnung, für das Hofgericht zu Pattensen stellt sie die Nachfolgerin der Reformation von 1527 dar, die zumindest nach erfolgter Aktenversendung eine weitere Appellation ausdrücklich untersagt hatte. Nun kennt die H G O von 1544 unter dem Titel ,Von Fassung der Urtheil' 7 2 6 auch die Vorschrift, daß die Akten von den Hofrichtern dann an einen unparteiischen Ort oder eine Juristenfakultät um Belehrung verschickt werden können, ,wo sie sich einer Sentenz untereinander nicht vergleichen könnten und ihnen der Handel zu wichtig wäre'.

Im Gegensatz zur Reformation 1527 wird aber hier nicht mehr zu einer nachfolgenden Appellation Stellung genommen. Audi im übrigen schweigt sich die neue H G O zur reichsrechtlichen Appellation aus. Aufgrund der aufgezeigten Zusammenhänge läßt sich die Folgerung vertreten, daß man in Calenberg zumindest stillschweigend die Möglichkeit einer Appellation ans R K G zugestanden hatte.

b) Lüneburg (1535) In Lüneburg hat Herzog Ernst der Bekenner 1535 das alte Landgericht Ulzen in ein Hofgericht reformiert und nach Celle verlegt 7 2 7 . Nach S t ö 1 ζ e 1 7 2 8 bewirkte die in der .Reformation und Gerichtsordnung' 153 5 7 2 9 festgelegte Regelung, daß Appellationen von Untergeriditen, die nicht unmittelbar dem Landesherrn unterstanden, zunächst an den Patrimonialgerichtsherrn und erst dann an das Hofgericht gehen sollten, zumindest in tatsächlicher Hinsicht viel-

Proceß' (erstmals 1549) weist G o b 1 e r darauf hin, „ein jeder der von seinem Richter mit unrecht beschwert wirt, der mag appelliren" — vgl. sein Wort an den Leser sowie Blätter 125 und 127 jeweils Vorderseite. 7 2 5 ) Abgedruckt bei G r u ρ e η , S. 603—624. " « ) Vgl. G r u ρ e η , S. 620 f. 7 " ) Vgl. Merkel, S. 40 f., v. d. O h e , S. 18 f., 27 ff., Grupen, S. 629 f f . 7 2 8 ) II S. 157 f., vgl. auch H a ν e m a η η , II S. 511 f. 7 2 β ) Die Einleitung des Rezesses von 1535, der die H G O enthielt, ist abgedruckt bei G r u p e n , S. 635, vgl. ferner v. d. O h e , S. 18 f. Anm. 9.

202

Appellationsverbote

fach einen Ausschluß des R K G . Denn war erst das Hofgericht dritte Instanz, so waren die Parteien möglicherweise weniger geneigt, eine vierte " zu beschreiten, „wenn sie auch dazu berechtigt gewesen wä~

ren . Es handelt sich hier um einen Tatbestand, der als Instanzenvermehrung noch unsere nähere Aufmerksamkeit finden wird, aber nicht als Appellationsverbot angesprochen werden kann. V o n der O h e 7 3 0 geht ohne Bedenken davon aus, daß das Hofgericht „sich als Unterinstanz an das Reichskammergericht in Speyer anschloß". Die H G O von 1564 spricht selbst von ,End- oder audi Beyurteiln, davon die keiserliehe Recht zu appelliren gestatten' 7 3 1 .

c) Wolfenbüttel (1559—1562) In Braunschweig-Wolfenbüttel 7 3 2 hatte sich seit 1523 die herzogliche Kanzlei als oberste Instanz des Landes herausgebildet 73S . Ihre Tätigkeit regelte die Kanzleiordnung von 154 5 7 3 4 . Uber Appellationen ist nichts bekannt. 1535 löste sich von der Kanzlei das sogenannte ,Hofgericht auf dem Moßhause bei Braunschweig' ab 7 3 5 . Nach S t ö 1 ζ e 1 7 3 6 hat man sich hinsichtlich der Appellationen gegen Urteile dieses Hofgeridites darauf berufen, daß sie wegen eines entgegenstehenden Herkommens nicht zulässig seien. Diese Auffassung kann zutreffend sein. Neben der Mitteilung S t ö 1 ζ e 1 s und der Äußerung Herzog Erichs I. von Calenberg haben sich hierzu jedoch keine weiteren Anhaltspunkte finden lassen. Die H G O vom 1. November 15 5 6 7 3 7 — verfaßt von Joachim Mynsinger von Frundeck, den Herzog Heinrich d. Jüngere vom

™») S. 19. ' « ) Nach v. d. O h e , S. 29. " 2 ) Zur allgemeinen Gesdiidite vgl. S a m s e , S. 3 ff. 7 M ) Vgl. M e r k e l , S. 42, S t ö l z e l , II S. 155 ff. K r u s c h , S. 265 ff., O h η s o r g e , S. 12 f. " 4 ) Nach den neueren Forschungen O h η s o r g e s — S. 10 ff. — ist die von K r u s c h herrührende Datierung auf 1535 unzutreffend. 735) Vgl Κ r u s c h , S. 295. Das Gericht wurde nicht ständig gehalten. " « ) II S. 161; vgl. auch oben S. 199 f. die Ansicht Herzog Erichs I. 7 3 7 ) Vgl. dazu M e r k e l , S. 42 ff., S t ö l z e l , II S. 160 ff., Krusch, S. 290 ff., H e r s e , S. 3, zum Hofgericht Wolfenbüttel auch G r u p e n , S. 643 ff., 652, H a v e m a n n , I I S . 512.

Wolfenbüttel

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RKG als Kanzler nach Wolfenbüttel geholt hatte 738 — kennt allerdings die Appellation von den Entscheidungen des seit Januar 1557 neu organisierten Hofgerichtes Wolfenbüttel ans RKG 739. Bei Appellationssummen über 50 fl. konnte unter vorheriger Leistung des Kalumnieneides appelliert werden. Diese Anordnung kann für die damalige Zeit nicht als reichsgesetzwidrige Einschränkung der Appellationsfreiheit angesehen werden. Wohl kannte Mynsinger die Probelematik dieser Eide, doch hat er ihre Zulässigkeit nicht nur hier praktisch, sondern auch schon zuvor in seinen Observationen theoretisch anerkannt 740. Insoweit kann ein Appellationsverbot nicht festgestellt werden. Die H G O des Jahres 1556 ließ sich Heinrich der Jüngere 1559 vom Kaiser bestätigen, obwohl er dies anfänglich nicht angestrebt hatte 7 4 1 . Gleichzeitig — jedenfalls noch im Jahre 1559 — ließ er sie in vielen Punkten neu fassen. Unter den abweichenden Regelungen findet sidi auch die, daß vom Hofgericht nurmehr bei einem Beschwerdewert von 100 fl. sollte appelliert werden können 742. Um 50 fl. überschritt Mynsinger damit die in der RKGO 1521 festgelegte reichsrechtliche Appellationssumme. In der Folge wurde nun die kaiserliche Bestätigung der H G O nicht auf die alte, sondern auf die neue Fassung bezogen 74S . Diese Vorgänge erfahren eine unterschiedliche Beurteilung. Κ r u s c h 744 führt den Umstand, daß der Herzog nach anfänglicher Weigerung die H G O dodi noch dem Kaiser zur Bestätigung vorlegen ließ, darauf zurück, daß er Sorge gehabt habe, sein Werk könnte sonst leichter wieder zerstört werden. Anlaß hierzu habe die Weigerung der Stadt Braunschweig gegeben, Beisitzer zum Hofgericht abzustellen 745. Das von Κ r u s c h angegebene Motiv entspricht der offiziellen Begründung des Bestätigungsbegehrens Herzog Heinrichs d. J. gegenüber Kaiser Fer738

) Vgl. Κ r u s c h , S. 289, H e r s e , S. 2 f. "») Vgl. K r u s c h , S. 293. 740 ) Zur Zulässigkeit der von den Landesherren angeordneten Kalumnieneide vgl. unten S. 256 ff. Anderer Ansicht ist wohl S t ö 1 ζ e 1, II S. 162, der den Eid als „Fessel der Appellation ans Reichsgericht" bezeichnet. 741 ) Vgl. S t ö l z e l , II S. 165, K r u s c h , S. 295, 297, H e w i g , S. 99. 742 ) Vgl. K r u s c h , S. 299 f., S t ö l z e l , II S. 164 ff.; nach G y l m a n n , VI S. 79 handelt es sidi um den dort abgedruckten Tit. 65 der HGO. 743 ) Vgl. G r u ρ e η , S. 593, 652, audi Η a ν e m a η η , II S. 512. 744 ) S. 295, 297. 745 ) Vgl. dazu H e r s e , S. 7, S p i e ß , S. 72 f., G r u p e n , S. 647 ff.

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dinand 74β. S t ö 1 ζ e 1 747 sieht in dem Vorgehen des Herzogs einen „landespolitischen Kunstgriff" gegen die ans RKG gerichtete Appellation. Obwohl der kaiserlichen Bestätigung im Verhältnis zu den eigenen Ständen durchaus Bedeutung zukam 748, ist die Annahme berechtigt, daß dieses Appellationsverbot mit der kurz zuvor eingeholten kaiserlichen Bestätigung der H G O kaschiert werden sollte. Niemand würde im Laufe der Zeit noch in der Lage sein, die Reihenfolge von Bestätigung und Neufassung auseinanderzuhalten. Die Wahrheit dürfte folglich in der Mitte liegen: Bestätigung zwar nicht zum Zwecke des Appellationsverbotes, wohl aber dieses „bei Gelegenheit" der Bestätigung. Mynsinger hat also wohl als der verantwortliche Mann im Dienste eines Landesherrn Angriffe auf die reichsrechtliche Appellation geführt, die er als RKG-Beisitzer und in seinen Observationen 749 als unzulässig gekennzeichnet hatte. Konkrete Streitfälle aus Anlaß dieses Appellationsverbotes sind nicht bekanntgeworden. Der reichsgesetzwidrige Zustand hielt nur 3 Jahre an, 1562 erhielt BraunschweigWolfenbüttel ein Appellationsprivileg bis zu 300 fl. 750. Gewohnheitsrechtlich abgestützte (Calenberg bis 1544, Wolfenbüttel allenfalls um 1500) und reditstechnisch verbrämte (Wolfenbüttel 1559—1562) Appellationsverbote lassen sich in den braunschweigischen Herzogtümern ausmachen. In allen Fällen haben die Landesherren ihre Positionen nicht halten können. Für Wolfenbüttel zeigt die Einholung des Privilegs über 300 fl. 3 Jahre nach der verbieten-

74β ) .Damit . . . solche . . . arbeit . . . etwa durch diejenigen, so gleich und recht nit wol duelden und leiden kuendten, angefochten und calumniert, oder vielleicht gar umbgestossen und zurück gelegt werden moechte . . . " — nach H e w i g , S. 117. ' « ) Vgl. Anm. 742. 74β ) Zu den verschiedenen mit der Bestätigungspraxis verfolgten Zwecken vgl. H e w i g , S. 38 ff. (Sicherung gegen Eingriffe des Bestätigenden), 54 ff. (Schutz gegen Beeinträchtigungen seitens Dritter), 71 ff. (Mittel zur Erweiterung des Privilegienrechts), 75 f f . (Vorteile beweisrechtlicher Art), S. 113 ff. (Verstärkung der Durchsetzbarkeit von Statuten im Innern, Schutz des überkommenen Rechts gegenüber dem gemeinen Recht, Durchsetzung des neuen Rechts gegenüber dem Herkommen, Gewährleistung der Anwendung bei auswärtigen und höheren Gerichten). 749 ) Vgl. oben S. 1 Anm. 3. 75 °) Abgedruckt bei G y 1 m a η η , VI S. 78 f., vgl. auch H e r s e , S. 4, S t ö l z e l , S. 167, K r u s c h , S. 300, v o n B ü l o w , S. I, Ohnsorge, S. 25.

Württemberg

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den Änderung der HGO, daß man zu einer reichsrechtlich einwandfreien Lösung zurückkehren wollte 7S1.

11. W ü r t t e m b e r g (bis 1571, 1730—1803) Das allgemeine Verhältnis Württembergs zum RKG ist durch einige grundlegende Arbeiten 752 nahezu erschöpfend behandelt, so daß es hier genügt, unter dem Gesichtspunkt Appellationsverbot die entsprechenden Akzente zu setzen. Es kann davon ausgegangen werden, daß bereits die H G O von 1475 für ein Hofgericht im Sinne der neuen Zeit bestimmt gewesen ist 75 *. Für württembergische Untertanen waren nach dieser Ordnung Berufungen gegen die Entscheidungen des Hofgerichts generell unzulässig 754. Dieses Verbot ist sowohl in seiner Beschränkung auf die Landesangehörigen als auch in seiner fehlenden Limitierung gegenständlicher oder summenmäßiger Art Ausdruck der Anwendung einer unbeschränkten Freiheit von auswärtigem Gericht auf das neue Rechtsmittel 755. Die vom deutschen Recht geprägte Vorstellung richtete sich zunächst wesentlich gegen den sich zur Appellation umgestaltenden Rechtszug an auswärtige Oberhöfe, insbesondere den zu Freiburg 75β. Die H G O 1475 war bis 1514 in Geltung. Ihre Nachfolgerin ließ Berufungen und Appellationen nach auswärts völlig unerwähnt 757. Dies geschah wohl weniger unter dem Eindruck der Errichtung des 751

) So in der Bewertung audi S t ö l z e l , II S. 167, K r u s c h , S. 300, T h . K n a p p , S. 82 Anm. 1. 752) Vgl. die Untersuchungen von v. S p i t t l e r , Th. Knapp und G r a η e r. 7 ") Vgl. K n a p p , S. 4 ff., G r a n e r , S. 37 f., S t o b b e , II S. 97, J ä η i c h e η , Reditszug, S. 219 f., B a s t i a n , S. 99, B e n d e r , S. 2, 19, S c h w a r t z , S. 183. 7M ) So nach T h . K n a p p , S. 80; zum gleichzeitigen Abschneiden des Rechtszuges nach auswärts und der Umformung inländischer Oberhöfe in Appellationsgerichte vgl. J ä η i c h e η , Reditszug, S. 219 f., 240 f., B a s t i a n , S. 92 ff., 97 ff. 766 ) Nach v. W ä c h t e r , I S. 53 ff., 286 f. hatte Württemberg Evokationsprivilegien aus den Jahren 1316 und 1361. Es war also zumindest seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts generell von der Zuständigkeit auswärtiger Gerichte befreit. Vgl. dazu audi F e i n e , S. 153, T h u d i c h u m , Rottweil, S. 77, audi oben S. 39 Anm. 58. 7M ) Vgl. B a s t i a n , S. 98. — Appellationen ans KKG kamen, wenn überhaupt, so nur äußerst selten vor und dürften keine Rolle gespielt haben. 7 ") Vgl. T h . K n a p p , S. 80, G r a n e r , S. 43, S c h w a r t z , S. 183 ff.

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Appellationsverbote

RKG 758, als vielmehr deshalb, weil der Rechtszug nach auswärts (Freiburg) inzwischen erfolgreich bekämpft worden war 759. Deshalb war das Verbot der Berufung gegen Erkenntnisse des Hofgerichts überflüssig geworden. Appellationen ans RKG dürfte zu dieser Zeit noch nicht die spätere Bedeutung zugekommen sein. So kam es, daß sich erst Österreich (1519—1534) während der Besetzung des Landes spezifisch gegen die Appellationen ans RKG wandte 7β0. In diesem Zeitraum ist also mit Sicherheit vom Hofgericht appelliert worden. Uber die zwei nachfolgenden Jahrzehnte ist nichts bekannt. Erst das Landrecht von 1555 7β1 verbot den Untertanen wieder ausdrücklich die Berufung an auswärtige Gerichte. Dieser Regelung hatten die Landstände zugestimmt und so — reichsrechtlich allerdings ohne Bedeutung 762 — auf die Appellation verzichtet. In den Verhandlungen mit den Ständen berief sich der Herzog auf eine für das Land bestehende Freiheit und auf die Landesordnung 7es . Er sprach damit die im Privileg vom 20. August 1495 764 bestätigte Rechtslage an, nach der Württemberger von Ladungen vor auswärtige Gerichte befreit waren 7β5. Die zumindest seit 1475 praktizierte Übertragung der Befreiung von auswärtigem Gericht auf die Appellation wird jetzt in bezug auf das RKG fortgesetzt. Ob die Landstände dieser reditsirrigen Argumentation mehr in Unkenntnis der wahren Verhältnisse 7ββ oder mehr in dem Bestreben folg"") So Κ π a ρ ρ , S. 80. ™·) Vgl. B a s t i a n , S. 98. 7Μ ) Vgl. dazu oben S. 60 ff. 7β1 ) Abgedruckt in Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte I, 2, S. 79 ff. Die einschlägige Bestimmung findet sich in Teil I, Kap. 2 ,Von Appellationen und Proceß der andern Instanz', § 4 ,Wenn an fremde Gericht möge adpelliret werden', vgl. Quellen, a.a.O., S. 87, auch B a s t i a n , S. 98 und S p i t t l e r , S. 45 f., zum Landrecht allgemein S c h w a r t z , S. 188 ff. *>2) Vgl. oben S. 32. ' " ) Vgl. T h . K n a p p , S. 81. 7M ) Vgl. oben S. 39 Anm. 58. 7,s ) Das Privileg von 1495 ist fälschlich immer wieder als Appellationsprivileg in Anspruch genommen worden, so etwa von H a r ρ ρ r e c h t , III S. 42 f. und ihm folgend noch neuestens Β r o ß , S. 25 Anm. 30. S ρ i 111 e r , S. 60 ff. und T h . K n a p p , S. 75 ff., 101 ff. haben in neuerer Zeit eindeutig den Nachweis geführt, daß es sich um ein .Evokationsprivileg' (richtiger: eine Befreiung von allem auswärtigen Gericht) handelt. Vgl. hierzu ferner W i η 11 e r l i n , I S. 23, G r a η e r , S. 86, audi oben Anm. 755. ' " ) Die Unkenntnis des 16. Jahrhunderts über die deutschrechtlichen Grundlagen und Fortwirkungen seines Geriditsverfassungs- und Verfahrensrechts konnte

Württemberg

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ten, mit der Beschränkung des Instanzenzuges die Landesbewohner vor unnötigen Kosten und Prozeßverschleppung zu bewahren, läßt sich heute schwer sagen 767 . Ebensowenig läßt sich auf Anhieb klären, warum das im Landrecht enthaltene Appellationsverbot unbeanstandet in die kaiserliche Genehmigung des Gesetzes 768 einbezogen worden ist. Ob man in Wien die Bestimmung übersehen hat, ob man sie für zweitrangig hielt, ob die kaiserlichen Juristen selbst an ein württembergisches Appellationsprivileg glaubten, ob Österreich seine Bestrebungen der Jahre 1519 bis 1534 nachträglich zu rechtfertigen suchte oder ob es sogar für den Fall eines erneuten Erwerbes des Landes Vorsorgen wollte — bislang kann keine dieser Möglichkeiten überzeugend ausgeschlossen werden 769 . Jedenfalls kam Württemberg durch die Bestätigung, zu einer Zeit als nodi Sachsen und Brandenburg um den Bestand ihrer Rechte aus der Goldenen Bulle kämpften, für seine Untertanen zu einer unbeschränkten Freiheit von der Appellation ans RKG 770 . Diese Rechtsstellung wurde völlig unangreifbar als das RKG 1571 die Insinuation der einschlägigen Bestimmung des Landrechts akzeptierte 771 . Seitdem gehen sämtliche württembergischen Landrechte 772 und Hofgerichtsordnungen 773 davon aus, daß sich Landesangehörige nur dann appellievorlaufend schon mehrfach belegt werden. Vgl. dazu audi die wohl etwas überspitzte Darstellung bei W i g a n d , Denkwürdigkeiten, S. 215 ff. 7 " ) Vgl. Τ h. K n a p p , S. 80 f., S ρ i 111 e r , S. 87. 7β8 ) Vgl. oben S. 39 Anm. 58, audi T h . K n a p p , S. 82, S ρ i 111 e r , S. 83, G r a η e r , S. 86. ™9) Die Darstellungen bei K n a p p , S. 77 ff., 85 Anm. 5, 86 und S p i t t l e r , S. 79 ff. klären die Umstände nicht. Es geht aus ihnen jedoch hervor, daß man sich im 17. und 18. Jahrhundert stärker als früher des Privilegs von 1495 bediente, um die württembergischen Redite zu begründen. Dasselbe gilt von dem Versuch, den Ausschluß der Appellation als ein Nachwirken aus der Zeit zu verstehen, in der das Land zu Österreich gehörte. — Zu den Möglichkeiten eines Versehens bei der Bestätigung kaiserlicher Privilegien vgl. H e w i g , S. 50 ff. 770 ) Nach H e w i g , S. 78 ff., 104 f. heilt die Konfirmation in der Regel solche Erteilungen nicht, die vom König in Unkenntnis der wahren Rechtslage, auf falsche Unterweisung der Antragsteller hin oder in Bestätigung nicht bestehender Rechte vorgenommen wurden. Hier bestand nach H e w i g ein Widerrufsrecht des Königs. Im Fall des württembergischen Appellationsprivilegs ist der frühere Mangel jedodi erst im 18. Jahrhundert allgemein bewußt geworden. 771 ) Vgl. G r a η e r , S. 86, T h . K n a p p , S. 84 f., 90. 772 ) Zu nennen sind die von 1567 und 1610, vgl. T h . K n a p p , S. 80, S ρ i 111 e r , S. 51 ff., S c h w a r t ζ , S. 197 f., 206 ff. 77S ) 1557, 1587 und 1654, vgl. G r a η e r , S. 45, Τ h. K n a p p , S. 83, S ρ i 11 1 e r , S. 50, 56, S c h w a n z , S. 196, 201 f., 212 ff.

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Appellationsverbote

rend ans RKG -wenden dürfen, wenn ihr Gegner ein Auswärtiger ist, der seinerseits nicht auf die Appellation ans Reichsgericht verzichtet hat. Der auf dunklen Wegen erlangte Besitzstand ist hinfort nicht mehr angefochten worden 774 und muß seit 1571 als endgültig rechtmäßig angesehen werden. Der subjektive Hintergrund, von dem aus die herzoglich württembergisdie Seite die geschilderten Vorgänge betrieb, läßt sich derzeit nicht klären. Es ist zu wenig darüber bekannt, ob und seit wann das Privileg von 1495 bewußt falsch ausgelegt worden ist. Hinsichtlich des Bestätigungsbegehrens 1555 besteht ein schwacher Anhaltspunkt dafür, daß es nicht zum Zwecke der Rechtfertigung des Appellationsverbotes vorgebracht wurde 775. Geht man einmal von einer bewußten Verdrehung der Rechtslage aus, so zeigt sich dodi erneut, daß der Landesherr bemüht war und es auch sein mußte, seine Maßnahmen reditlich zu begründen und nicht allein anzuordnen. Große politische Bedeutung kommt im übrigen der Haltung der Landstände zu, die das Verbot doch offenbar in der Vorstellung, es diene dem Wohle des Landes, ohne Zögern akzeptierten. Auf diese Einstellung der Bevölkerung dürfte auch der Mangel an Beschwerden über den bestehenden Zustand zurückzuführen sein. Die Erklärung S p i t t l e r s 776, der Herzog habe die Vereinbarung mit den Ständen deshalb getroffen, um Reibereien des protestantischen Landes mit dem katholischen RKG zu vermeiden, kann nur einen äußerst schmalen Teilaspekt der Angelegenheit treffen. Auch das württembergisdie Appellationsverbot dieser Zeit ist nicht einem aktuellen politischen Bedürfnis entsprungen, sondern in eine grundlegende über Jahrhunderte andauernde Entwicklung eingebettet.

774

) Vgl. die bei Τ h. K n a p p , S. 88 Anm. 2 genannte Literatur mit der einschränkenden Bemerkung M y n s i n g e r s : „de facto tarnen". Sie kennzeichnet wohl die zwischen 1555 und 1571 noch unklare Rechtslage. Die Bemerkungen Κ η a ρ ρ s hierzu treffen die Sadie n i â t . 7 ") V o n W ä c h t e r , I S . 239 Anm. 17a teilt dazu mit: „Der Herzog forderte vom Kanzler und zwei Räten Bericht über die Notwendigkeit der kaiserlichen Bestätigung. Diese halten sie für ,nutz und nothwendig'. Denn, sagen sie, das Landgericht werde ,vielen Ein- und Ausländischen, sonderlich in Erbfällen, Nahmhaftiges entziehen und allerhand Rechtfertigung, auch vielleicht der Fremden halber Appellationen ans Reidiskammergeridit erwecken"'. Vgl. dazu audi H e w i g , S. 116. ™) S. 85 f f .

Württemberg

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Bis zum Jahre 1730 konnten Auswärtige von Entscheidungen des Hofgerichtes in Tübingen ungehindert ans RKG appellieren 777. Unter Berufung auf die bereits mehrfach erwähnte, von Kaiser Maximilian 1495 gewährte Befreiung von auswärtigem Gericht erließ Herzog Eberhard Ludwig am 8. Februar 1730 ein Generalreskript, das den Ausländern, ,wes Standes und Condition sie immer sein mögen', die Appellation vom Hofgericht an die Reichsgerichte abschnitt 778. Das Bestreben, die letzten der Landeshoheit angelegten Fesseln zu beseitigen, führte zusammen mit einem falsch verstandenen Patriotismus zu dem Versuch, den bei Kaiser und Reich hinsichtlich dieses Privilegs möglicherweise bestehenden Irrtum noch weiter auszunutzen. Als aber die Auswärtigen entgegen der Vorschrift appellierten, als die Reichsgerichte sich ebensowenig wie diese um das Verbot kümmerten, sondern die Prozesse annahmen und entschieden, sah sich der Herzog gezwungen, den Kaiser um eine authentische Interpretation der Freiheit dahingehend zu bitten, daß sie audi Auswärtige erfasse 779 . Die zu diesem Zwecke vorgelegten Beweismittel waren jedoch untauglich. Das vom Kaiser bestätigte Landrecht von 1555 nahm Auswärtige gerade aus, man hatte sich deshalb gar nicht erst darauf berufen. Auf die Vorlage des Privilegs von 1495 und seiner Bestätigungen durch spätere Kaiser erging — als der R H R nach gründlicher Untersuchung festgestellt hatte, daß von einem Appellationsprivileg keine Rede sein konnte — am 4. Dezember 1732 der Bescheid: ,Da aus den vom Herzog produzierten Privilegiis de non appellando nicht einmal zu ersehen sei, daß die selbigen auf Appellationes, so an die höchsten Reichsgerichte gehen, zu ziehen und zu verstehen seien, finde des Herrn

777

) Der Konflikt wird ausführlich dargestellt von Τ h. K n a p p , S. 93— 109. Dem folgt der Tatsachenbericht. — Freilich hatte man stets versucht, die Auswärtigen zu einem Verzicht auf das Rechtsmittel zu bewegen, vgl. G r a n e r , S. 86 f. 7,e ) Der Wortlaut nach G r a n e r , S. 87: , . . . es werde Landrecht und H o f gerichtsordnung und deren hier einschlagender Passus im Weg der authentischen Auslegung mit Gesetzeskraft dahin erklärt und abgeändert, daß fernerhin den Ausländern, auch allen Offizialen die reservatio appellationis nicht mehr gestattet werde, sondern sie gleich den Inländern zu behandeln sein'. Vgl. ferner Τ h. K n a p p , S. 93 f., ν. W ä c h t e r , I S. 287 Anm. 19, 658, S c h w a n z , S. 220. 77i ) Vgl. Τ h. K n a p p , S. 95 f. — das RKG nahm bereits am 5. Februar 1731 eine Tübinger Appellation an.

210

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Herzogs Gesuch um Deklaration und Extension derselben um desto weniger statt' 780 .

Nach diesem Mißerfolg wurde nicht etwa das Reskript von 1730 zurückgenommen, sondern Herzog Karl Alexander bemühte sich 1735 um eine ihm günstige Entscheidung „aus kaiserlicher Gnade ohne Mitwirkung des Reichshofrates" 781, mit anderen Worten: man hatte audi den Schein eines Rechtsanspruches fallen lassen. In Württemberg selbst galt aber noch über die kritische Anmerkung S ρ i 111 e r s 782 von 1783 hinaus die amtliche Auffassung, daß das Land ein in jeder Hinsicht iiiimitiertes Privileg habe 78S . Im Verhältnis zu betroffenen Auswärtigen steckte man im Zweifel aber lieber zurück. Dies ergibt sich eindeutig aus einem von G r a η e r 784 mitgeteilten Gutachten des Geheimen Rates, das dieser 1799 in der Appellationsangelegenheit erstattete. Dort heißt es, daß sich von 1732 bis 1782 nur ein oder zwei Fälle 785 ereigneten, in denen Ausländer appellieren wollten. Sie seien zum Verzicht bewegt worden. In den Jahren nach 1782 sei es jedoch zu Schwierigkeiten gekommen. Insbesondere habe in der Sache der Marie Rosine Kellermann gegen den Oberamtmann Lang von Möckmühle das von der Appellantin an den R H R eingelegte Rechtsmittel nur dadurch rückgängig gemacht werden können, daß „man auf herrschaftliche Kosten im Stillen einen Vergleich stiftete". Andere Fälle nach 1788 seien ebenfalls vom Hofgericht verglichen worden oder aber man habe in der Hoffnung auf das erstrebte Privileg das schriftliche Verfahren mutwillig verzögert. Großen Einfluß auf die geschilderte Haltung der württembergischen Herzöge gewannen schlechte landesherrliche Ratgeber, die im 7Ö0

) Vgl. Τ h. K n a p p , S. 96 f. ) Vgl. Τ h. K n a p p , S. 98. 78 -) Auf S. 62 seiner Württembergischen Geschichte ( = Sämtliche Werke V, S. 258) bemerkte S p i t t l e r eher beiläufig, daß Württemberg kein unbeschränktes Privileg zukomme. Die einschlägige Stelle ist von ihm in der Untersuchung über das württembergische Appellationsprivileg, S. 41 wiedergegeben. Sie löste einen Sturm der Empörung aus und gab S ρ i 111 e r Veranlassung zu der genannten Untersuchung, die er allerdings zu Lebzeiten nicht zu veröffentlidien wagte. Vgl. Τ h. K n a p p , S. 100 f. 783) Ygj τ h K n a p p , S. 99 f. mit der in Anm. 2 genannten Literatur. 784 ) S. 87 f., vgl. audi T h . K n a p p , S. 106 f. 765 ) Dafür, daß nur selten von Auswärtigen überhaupt der Versuch unternommen worden ist, ans RKG zu appellieren, vgl. Τ h. K n a p p , S. 88 Anm. 3 am Ende unter Berufung auf H ä b e r 1 i n. 781

Württemberg

211

Interesse eigener Vorteile ad maioram gloriam domini Scheinwahrheiten produzierten und sich nicht scheuten, entgegenstehende Urkunden 786 in Archiven verschwinden zu lassen, um ihre Produkte aufrechterhalten zu können 787. Erst ein 1788 vom Regierungsrat Weckherlin erstattetes Gutachten 788 brachte der bereits 1783 von v. Spittler geäußerten historisch zutreffenden Auffassung auch offizielle Anerkennung. Das Dokument wurde allerdings nicht veröffentlicht. Es folgten in den Jahren 1788 und 1799 erfolglose Versuche, ein Auswärtige einbeziehendes Privileg zu erhalten 789. Schließlich erhob der Reichsdeputationshauptschluß das Land zum Kurfürstentum 790 . Hiermit war ein unbeschränktes Appellationsprivileg 791 verbunden. Der Traum war in Erfüllung gegangen — drei Jahre bevor die Reichsgerichte endgültig ihre Pforten schlossen. Die Geschehnisse in Württemberg nach 1730 sind ein äußerst aufschlußreiches Anschauungsmaterial dafür, daß das Reich und seine Institutionen auch noch im 18. Jahrhundert in mittleren Territorien — insbesondere des deutschen Südwestens — Anerkennung gefunden haben. Die seit 1730 von schlechten Juristen gestützte reichswidrige Auffassung konnte sich in praxi nicht durchsetzen. Um den der Theorie entsprechenden Anspruch auch nur einigermaßen halten zu können, griff der Landesherr selbst in die Tasche und machte so den Vergleich möglich. Die Episode zeigt zugleich in erschreckender Weise, welch ungesunde und kleingeistige Formen die Auseinandersetzung um Reste einer noch nidit völlig erlangten Landeshoheit im Zeichen des Patriotismus' annehmen konnte. Es dauerte 60 Jahre, bis man sich von diesem kleinformatigen Denken löste. Das Gutachten W e c k h e r l i n s von 1788 wird vom Präsidenten des Regierungsrates auch deshalb gelobt, weil es frei von ,einem übel verstandenen und unter uns nur zu allgemeinen Patriotismus ... eine seit Jahrhunderten im Streit gelegene Sache erst jetzt in ein wahres 7ββ ) Es ist dies vornehmlich ein weiterer Freiheitsbrief vom 23. Juli 1495, der nadi seiner präzisen Formulierung keinen Zweifel daran läßt, daß es sich audi bei der Urkunde vom 20. August 1495 um eine Freiheit von auswärtigem Gericht handelt. Vgl. Τ h. Κ η a ρ ρ , S. 102 ff., 107. *») Vgl. T h . K n a p p , S. 93 ff., 98 f., 102 ff. 78β ) Vgl. T h . K n a p p , S. 107, G r a n e r , S. 88. Es datiert vom 26. April 1788. 78 ·) Vgl. T h . K n a p p , S. 107 f., G r a n e r , S. 87 Anm. 4, 88. 7, °) Vgl. Τ h. K n a p p , S. 108, W i η 11 e r 1 i η , I S. 174. 7 " ) Vgl. W i n t t e r l i n , I S. 174 f., G r a n e r , S. 88, T h . Knapp, S. 109, v. W ä c h t e r , I S. 666.

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Appellationsverbote

Licht gesetzt' 792. Nach dem Gutachten des Geheimen Rates von 1799 schließlich sind die Bemühungen seit 1730 , . . . ein seltener Versuch gegen die Gerichtsbarkeit des höchsten Reichsgerichts' und durch Scheingründe unterstützt 793.

12. W ü r z b u r g (bis 1551) In Würzburg bestand für das Stadtgericht bis zum Jahre 1551 ein auf Herkommen gegründetes Verbot der Appellation ans RKG. Auch diese Verbotssituation kann auf die infolge der schlechten Rechtspflegeverhältnisse des 14. und 15. Jahrhunderts abgestorbenen Beziehungen des Stadtgerichts zum RHG/KKG zurückgeführt werden und ist Ausdruck dessen, daß die Befreiung von auswärtigem Gericht auf das neue Rechtsmittel der Appellation bezogen wurde. Spätestens um die Mitte des 16. Jahrhunderts bekämpften die Bürger diese Verhältnisse, die sie zuvor — wohl in den ersten Jahrzehnten des Übergangs zur neuen Gerichtsverfassung — als wohltuend empfunden hatten. In dem Prozeß Anna Sailer gegen Sailers Gläubiger 794 verwarf das RKG am 17. Juni 1551 die Würzburger Intervention und erklärte sich für zuständig. Noch während des seit 1549 anhängigen Verfahrens bemühte sich der Bischof bei Karl V. um ein entsprechendes unbeschränktes Appellationsprivileg für das Stadtgericht. Nach Beratung im R H R wurde das Stadtgericht durch eine auf den 12. November 1550 datierte Urkunde jedodi nur in Streitigkeiten bis zu 400 fl. Hauptsumme von der Appellation ans RKG befreit. Es ist nidits bekannt, was auf das Fortbestehen des allgemeinen Appellationsverbotes nach 1551 schließen ließe. Die Entwicklung in Würzburg zeigt insbesondere im Verhalten der am Konfliktsfall Sailer Beteiligten, daß zu dieser Zeit die Reichsinstitutionen (Kaiser, R H R , RKG) erfolgreich zur Durchsetzung einer allgemeinen Instanzgerichtsbarkeit des Reiches zusammenarbeiteten. Dem Würzburger Bischof blieb offenbar keine andere Möglichkeit als sich dem koordinierten Reichswillen zu fügen. 7 2

' ) Votum des Präsidenten nadi Τ h. K n a p p , S. 107. ) Vgl. Τ h. K n a p p , S. 108. 794 ) Die Würzburger Verhältnisse sind anhand des Falles Sailer — HStA München R K G 111 84 ( = Gesamtrepertorium Bundesarchiv Außenstelle Frankfurt S 147) ausführlich behandelt von W e i t ζ e 1, S. 213 ff. 793

Reichsstädte

213

IV. R e i c h s s t ä d t e Die Städte standen dem RKG nach 1495 in einer abwartenden bis ablehnenden Haltung gegenüber795. Für sie war das Gericht im wesentlichen ein Produkt der Fürsten, die sie von den Reformverhandlungen ausgeschlossen hatten, gleichwohl aber ihren Unterhaltsbeitrag in unverhältnismäßiger Höhe forderten 796 . Zwar nahm das RKG alsbald im Wormser Verfassungsstreit 797 für die Stadt und gegen den Bischof Stellung, doch behinderte seine teils zu langsame, teils Statuten und Gebräuche nicht hinreichend beachtende Rechtsprechung den Handel der Städte. Vornehmlich aber waren es die Versuche des RKG, Urteile gegen mächtige Handelsstädte zu vollstrecken, die die Handelsbeziehungen empfindlich beeinträchtigten. So brachte ein Vollstreckungsversuch gegen Danzig in den Jahren nach 1497 nicht nur diese Stadt, sondern auch die unwilligen Exekutoren Leipzig, Augsburg, Nürnberg, Frankfurt a.M. und Lübeck in die Reichsacht. Die Angelegenheit mußte schließlich 1518 durch eine Intervention des Kaiser beigelegt werden, da sie den Handel im Reich lahmzulegen dohte 798 . Ähnliche Folgen hatte die vom RKG 1509 gegen Venedig ausgesprochene Acht für die schwäbischen Handelsstädte. Der Kaiser hob hier die Acht auf soweit der Handel betroffen war 799 . Neben diesen Vorbehalten aufgrund mangelnder Beteiligung an der Reichsreform, den Beeinträchtigungen des Handels und dem Interesse an der Ausbildung einer unabhängigen Landeshoheit sind auch in den Städten Erscheinungen zu verzeichnen, die als Folge der Umstellung auf das romanisierte System der Gerichtsverfassung verstanden werden müssen. Selbst in den Reichsstädten wurde die vom RKG in Anspruch genommene allgemeine Appellationszustän-

785

) Vgl. S m e n d , S. 110 ff. ) Zur Stellung der Städte im Reformgeschehen vgl. A n g e r m e i e r , Reichsreform, S. 199 f., L a u f s , Reichsstädte und Reichsreform, S. 187 ff., J a n s s e n , II S. 873. m ) Vgl. H a r p p r e c h t , II S. 35, 136, 335 f., 391, III S. 67 ff., 99 f., 237 ff., H e w i g , S. 115 Anm. 6, W u 1 f f e η , S. 62, Β 1 o e m , S. 27 ff. 7βΒ ) Vgl. H a r p p r e c h t , III S. 141 ff., 326 ff., P o e t s c h , Reichsacht, S. 225 f., Τ h u d i c h u m , RKG, S. 166 f., Β 1 o e m , S. 25 ff. 7M ) Vgl. H a r ρ ρ r e c h t , III S. 67, 88 f., 261, Β 1 o e m , S. 25. 7ββ

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Appellationsverbote

digkeit unter Berufung auf die gewohnheitsrechtliche Befreiung von auswärtiger Gerichtsbarkeit bekämpft 800 . Die Städte drängten sich nicht zum neuen Reichsgericht801. Anlaufschwierigkeiten mit dem neuen Rechtsmittel nach 1495 konnten nicht festgestellt werden in Lübeck802, Augsburg, Frankfurt a.M., Nürnberg 803 , Eßlingen, Regensburg804 und Worms 805 . Nach L i e d 1 806 verbot der Augsburger Rat seinen Bürgern 1458 jegliche Appellation an auswärtige Gerichte. Die übrigen Ausführungen L i e d 1 s in dieser Angelegenheit sind unklar 807 und lassen vermuten, daß das Verbot — falls es sich tatsächlich um ein Appellationsverbot handelte — bereits mit Entgegennahme des ersten Appellationsprivilegs 1482 808 nicht mehr aufrechterhalten worden ist. Da jedenfalls im Verhältnis zum RKG keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbot der Appellation bestehen, kann die Sache hier auf sich beruhen.

800

) Vgl. B u c h d a , H R G I, Sp. 198. ) So tritt etwa die Stadt Hamburg erstmals 1554 als Kläger vor dem RKG in Erscheinung; vgl. Klägerregister zum Generalrepertorium der RKG-Akten im Bundesarchiv Außenstelle Frankfurt/M. 802 ) Lübeck erhielt bereits 1504 das erste Appellationsprivileg (bis zu 40 fl.) und forderte vom RKG entschieden die Anwendung lübischen und nicht kaiserlidien Rechts; vgl. E b e l , Rechtszug, S. 34, M i c h e l s e n , S. XI, auch oben S. 36 Anm. 43, S. 105 ff., 110. Offenbar hängt die Zulassung der Appellation trotz des früheren Verbotes der Urteilsschelte damit zusammen, daß der Rat seine in Zivilsachen zunächst rein schiedsrichterliche Position im Verhältnis zum Vogt-/Niedergericht — vgl. dazu E b e l , Lübisches Recht I, S. 367 f. — durch die Anerkennung des RKG als Appellationsgericht abschließend festigen konnte, da sie ihm die reichsrechtliche Anerkennung als oberstes Gericht der Stadt brachte. 803 ) Das 1544 in eine angestrebte Neufassung des Nürnberger Stadtrechts aufgenommene Appellationsverbot ist nicht Gesetz geworden. Vgl. hierzu das Gutachten C a n t i u n c u l a s zu diesem Entwurf bei B r e m e r , S. 127 ff., 136 ff., ferner S t o b b e , Rechtsquellen II, S. 297 ff., 303 ff., S c h w a r t z , S. 24. 804 ) Zu Regensburg vgl. L i e b e r i c h , Frühe RK-Prozesse, S. 423 f. βοδ ) Diese Städte erhielten durchweg als erste Appellationsprivilegien, vgl. oben S. 36 Anm. 43. 80e ) S. 50, 95 f. 807 ) Er bringt die verschiedenen Arten von Gerichtsprivilegien durcheinander und stellt das Privileg von 1482 als unbeschränkte Befreiung von der Appellation dar. 808 ) Vgl. oben S. 125 Anm. 358. 801

Aachen

215

Zu Unrecht nimmt S t ö 1 ζ e 1 809 den XI. Titel des ersten Traktats des Freiburger Stadtrechts von 1520810 als Appellations verbot in Anspruch. Das Werk des Zasius genügt den reichsgesetzlichen Anforderungen, da Freiburg österreichische Landstadt war, der infolge der Erstreckung der österreichischen Exemtion auf alle Lande und Untertanen 811 Beziehungen zum RKG nicht zukamen 812 .

1. A a c h e n (1530/32, 1592/95) Aus Aachen sind zwei Prozesse des 16. Jahrhunderts bekannt, in denen je ein Appellationsverbot mit Gegenstand der Auseinandersetzung gewesen ist. Sie werden nachgewiesen durch die im Stadtarchiv Aachen aufbewahrten RKG-Prozeßakten 813. Am 13. August 1530 erging vom RKG ein Pönalmandat mit Ladung 814 an Bürgermeister, Schöffen und Meier zu Aachen, die seit dem 30. Juli des Jahres im Gefängnis gehaltene siebzigjährige Agathe von der Over (audi: von Oven) unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Der Rat kam dem am 26. August 1530 zugestellten Befehl unverzüglich nach 815 . Ihren Anfang hatte die Sache darin, daß ein gewisser Colin Neuten die Mandatsklägerin vor Meier und Schöffen zu Aachen wegen einer Geldschuld in Anspruch nahm. Sie wurde verurteilt und appellierte von dieser Entscheidung viva voce ans RKG.

»»») II S. 135 f. M 0 ) Text bei K u n k e l , Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte I, 1, S. 241 ff. Vgl. auch S t o b b e , Rechtsquellen II, S. 306 ff., K n o c h e , S. 44 f., 69 ff., S c h w a r t ζ , S. 34 ff. 8 " ) Vgl. oben S. 59 ff. 8 1 i ) Vgl. T h i e m e , Stadtredit 1520, S. 98, K n o c h e , S. 70 f., M o s e r , 2. B. 3. K., S. 344 ff., H e l l b l i n g , S. 224 f., S p i t t i e r , S. 49 f., 80, Κ η a ρ ρ , S. 80 Anm. 1, S e 11 e r t , S. 22 ff. β1 ') Es handelt sich um den Prozeß des Mauritius von der Over und seiner Ehefrau Agathe/Magistrat und Schöffen zu Aachen 1530—32 (RKG O 1586, vgl. auch G o e c k e , S. 31 und das Generalrepertorium) und um die des Heinrich Adam Pastor und Konsorten/Bürgermeister Bonifatius Colin und den Rat der Stadt Aachen 1592—95 (RKG Ρ 538 — Mandatsverfahren — und RKG Ρ 537 — zugehöriges Appellationsverfahren — vgl. auch G o e c k e , S. 48). Im Rechtsstreit von der Over scheint der Appellationsprozeß zwar ans RKG gelangt — vgl. O 1586 qdr. 9 —, jedoch nicht erhalten zu sein. β14 ) O 1586 qdr. 1. β15 ) Zustellungsinstrument qdr. 11, vgl. auch qdr. 3.

216

Appellationsverbote

Die von der Over trägt vor, sie sei erst nach eingelegter Appellation auf offenem Markt zu Aachen deshalb verhaftet worden, weil sie von dem ergangenen Urteil appelliert habe. Sie klagt auf die .verwirkte peen des Rechtens so ein Richter die appellationes nit z u l ä ß t ' 8 l e ,

die 30 Mark lötigen Goldes beträgt und hälftig an den Fiskal und die Klägerin zu zahlen wäre. Daneben trägt sie auf eine Bestrafung wegen Bruchs kaiserlichen Geleits 8 1 7 an. In der Verletzung von Appellationsrecht und Geleit erblickt sie eine ihr zugefügte Iniurie und beantragt, die Beklagten zu einer Schadensersatzleistung in Höhe von 5000 fl. zu verurteilen 8 1 8 . Der Vertreter der Stadt behauptet 8 1 9 , die Verhaftung sei nicht wegen der Appellation erfolgt, beruhe vielmehr auf dem in Aachen geltenden Kummerrecht 8 2 0 . Die Klägerin sei als Fremde von ihrem Gläubiger im Wege des Personalarrestes ,bekümmert' worden. Im Auftrag des Gläubigers habe der vom Jülicher Herzog als kaiserlichem Obervogt der Stadt bestellte Amtmann die Frau in H a f t genommen. Sie habe daraus nicht entlassen werden können, weil die Forderung im Rechtfertigungsverfahren bestätigt worden und die Arrestierte weder Befriedigung noch Kaution (Bürgschaft) zu leisten in der Lage gewesen sei 8 2 1 . Was die Appellation betreffe, so sei sie deshalb zurückgewiesen worden, weil die Schuld nur 30 fl. betrage, die Wormser Ordnung aber 50 fl. Beschwer fordere. Ferner sei die Schuld offenkundig, der Brief anerkannt und deshalb frivol appelliert. Von dem kaiserlichen Geleitsbrief habe man nichts gewußt. Ein Riditer könne von einer Partei nicht actione iniuriarum beklagt werden, solange nicht die Beleidigungsabsicht erwiesen sei, selbst unter dieser Voraussetzung aber erst finito officio. Auf die Fiskalstrafe wegen des Appellationsverbotes könne eine Privatperson nicht antragen. ) Q d r . 2. ) Vgl. qdr. 3—5; die Klägerin beruft sich auf ein allen appellierenden Parteien zustehendes Geleit sowie auf einen ihr insonderheit ausgestellten Geleits- und Schutzbrief. 8 1 8 ) Q d r . 3. 8 1 9 ) Q d r . 8—10. 8 2 °) Kummer-besatz, besäte = gerichtlicher Arrest, vgl. H ü b η e r , S. 373, P a u l i , III, S. 81—85. 8 2 1 ) Zum deutschen Arrestprozeß, insbesondere zum Personal-Fremden-Arrest vgl. Κ i s c h , Arrestprozeß, S. 12 ff., 24 ff., P l a n i t z , Grundlagen, S. 25 ff. und Studien, S. 49 ff. β1β

817

Aachen

217

Der Vertreter der Mandatsklägerin repliziert 822 , es handle sich mitnichten um einen Arrestprozeß, da seine Mandantin Aachener Bürgerin und dort mit Haus, Hof und Renten gesessen sei. Sie sei erstmals nach gesprochenem Urteil und getaner Appellation verhaftet worden, damit sie nadi dem Befehl der Sdiöffen dem Urteil ,ain genügen thet'. Selbst wenn man aber einen Arrestprozeß unterstelle, so bleibe es bei dem Ausspruch des Gerichts nur dann, wenn die Partei nidit appelliere, sonst sei ,alsdann dem Richter erster Instantz sein Handt beschlossen'. Im übrigen habe die Klägerin angesichts der drohenden Verhaftung Befriedigung der 95 fl. und nicht 30 fl. betragenden Schuld angeboten, was man zurückgewiesen habe, da ,sie ihres Hauswirts nicht mechtig sei'. Äußerst interessant erscheinen die Ausführungen in puncto verwirkter peen. Wenn die Klägerin nicht auf Bestrafung antragen dürfe, so solle doch der Fiskal seines Amtes erinnert werden, .dann gnediger Her, wo E. G. in dißem zusehen solt, das die unnderrichter die partheyen, so ann Key. Mjt. appellirten, in die thurme gewurffen werden solten, were ir Key. Mjt. hocheit unnd jurisdiction gare uß, dann niemant forcht halb appelliren durfft, so nun die Recht ein straff widder die Richter so appellationen verhindern gesetzt, soll die selbig auch einpracht werden, uff das sich die andereren dannadi wissen zu riditenn' 8 2 3 .

Durch Urteil vom 23. August 153 1 8 2 4 wird die litis contestado in den Punkten Iniuria und Geleit angeordnet. Von dem das Appellationsverbot betreffenden Antrag auf Bestrafung werden die Aachener losgesprochen, die Gerechtigkeit des Fiskals bleibt unbenommen. Insgesamt gesehen stellt dies einen Erfolg der Klägerin dar, die nunmehr durch ihren Anwalt die Frageartikel 8 2 3 vorlegen läßt. Mit deren Beantwortung durch Schriftsatz vom 26. Juni 1532 826 schließt die Akte, ohne daß Anhaltspunkte für den Nachweis der einen oder anderen Tatsache bestünden. Angesidits einander widersprechender Behauptungen ist die Einordnung des Falles in gewisser Weise offen. Legt man den Vortrag der Klägerin zugrunde, so spricht dieser für ein in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts bestehendes allgemeines Appellations) ) 824) 825) 82e) 822 82S

Q d r . 14—16. Q d r . 16. Protokoll, auch qdr. 20. Q d r . 20. Q d r . 23.

218

Appellationsverbote

verbot, das in der Konfliktsituation mit einem Arrestverfahren verschleiert werden soll. Auffällig erscheint allerdings, daß die Klägerin sich nicht allgemeiner zu diesem Verbot äußert. Selbst wenn man aber die Richtigkeit des offiziellen Vorbringens der Stadt Aachen unterstellt, ist der Fall von der Over gleichwohl mit einiger Wahrscheinlichkeit Ausdruck eines Appellationsverbotes, das auf der Spannung zwischen (noch) deutschem Arrestverfahren und römisch-kanonisdier Appellation beruht. Die Einlegung des Rechtsmittels gegen das im Rechtfertigungsverfahren ergangene Urteil mußte die Aachener Schöffen in Bedrängnis bringen, da das deutsche Redit die Rechtfertigung der Arrestanlage nicht von der Entscheidung zur Hauptsache trennte, vielmehr die gesamte Angelegenheit in einem beschleunigten Verfahren durchzog 827. Solange die Aachener als oberste Richter entschieden, konnten daraus keine Schwierigkeiten erwachsen. Wogegen richtete sich aber die Appellation mit ihrem Suspensiveffekt? Gegen die Arrestierung, gegen die Entscheidung in der Hauptsache, gegen beides — das deutsche Recht war auf diese Möglichkeit der Anfechtung einer Entscheidung nicht eingestellt. Erst die spätere Entwicklung brachte die Trennung von Arrestprozeß und Hauptsache in selbständige Verfahren 828. Solange diese Trennung noch nicht vollzogen war — und nichts in den Akten des Falles von der Over spricht dafür — konnte die von dem neuen Rechtsmittel ausgehende Herausforderung aus Gründen der Effektivität des Arrestverfahrens nur mit dem Verbot der Appellation beantwortet werden. In bezug auf den Arrest konnte die ,Hand des Richters erster Instantz nicht beschlossen' bleiben. Auch hier ist das Appellationsverbot die Folge einer — nunmehr speziellen — Unangepaßtheit von Landes- und Reichsrecht, von deutschem und rezipiertem Verfahren. Der zweite Fall 829 einer unmittelbaren Beeinträchtigung der Appellation aus der Aachener Geschichte dürfte nach allen Anhaltspunkten weniger allgemeine rechtliche oder historische als vielmehr stark persönliche und situationsgeprägte Hintergründe haben. Im Jahre 1589 verstirbt Arnold Colin unter Hinterlassung mehrerer Häu827 ) Vgl. Κ i s c h , Arrestprozeß, S. 26 ff., 37 ff., 40, S. 50. β2β ) Vgl. Κ i s c h , Arrestprozeß, S. 125 f. 82») Vgl. oben Anm. 813.

Planitz,

Studien,

Aachen

219

ser, Ländereien, Erbzinsansprüdien und Pachten 830. Um den Nachlaß geraten die miteinander verschwägerten 831 Familien Colin und Pastor/Wimmer in Streit. Die Wortführer auf der einen Seite sind die Brüder Johann und Bonifatius Colin, auf der anderen Seite Heinrich Adam Pastor. Bonifatius Colin spielt in jener Zeit des protestantischen Stadtregiments in Aachen (1581—1598) eine bedeutsame und letztlich recht unrühmliche Rolle 832. 1581 ist er Abgesandter der protestantischen Partei am kaiserlichen Hoflager 833 , 1585 Schöffenbürgermeister 834. Die Pastors sind ebenfalls eine angesehene Aachener Patrizierfamilie 835. Sie hatten 1589 den Nadilaß Arnold Colins in Besitz genommen. Da die Familie Colin sich des Rechts zur Erbschaft berühmte, klagten die Pastors im Juni 1591 vor Richter und Schöffen zu Aachen ex lege diffamari. Der Prozeß ging zu ihrem Nachteil aus, die Colins wurden in den Besitz eingewiesen. Am 22. Juni 1591 appellierte Heinrich Adam Pastor zugleich im Namen seiner Verwandten nach Speyer. Sie bringen vor, das Urteil sei nichtig oder zumindest unrichtig und beruhe darauf, daß das Gericht mit untauglichen und dem Bonifatius Colin verbundenen Schöffen besetzt gewesen sei 836. Als dieser im Februar 15 9 2 837 vom Kammerboten erfährt, daß der Appellationsprozeß erkannt und die Ladung insinuiert sei 838, läßt er seinen Gegenspieler Heinrich Adam Pastor im Beisein des Kammerboten festnehmen 839. Der Gefangene wird so gehalten, daß kei830

) Ρ 537 qdr. 2. ) Ρ 537 qdr. 8. 8S2 ) Colin war als Katholik einer der Anführer der protestantischen Partei und wurde 1602 mit der höchsten Entsdiädigungsleistung von 7000 fl. belegt. Bis zum Jahre 1598 war er Bürgermeister der Stadt. Erst 1602 durfte er, der beim Umsturz 1598 geflohen war, die Stadt wieder betreten und stand bis zu seinem Tode 1608 unter scharfer Bewachung — vgl. dazu F e y , S. 56, 63, M e y e r , I S. 502 f., 511, H a a g e η , II S. 202 f. M ») Vgl. H a a g e n , II S. 173 f. β34 ) Vgl. F e y , S. 63. eS5 ) Zu Trägern dieses Namens vgl. H a a g e η , II S. 197, F ü r t h , II S. 132 ff. — weder aus diesen personellen Verflechtungen noch aus den Prozeßakten selbst lassen sich übrigens Ansätze einer konfessionellen Färbung des Rechtsstreites herleiten. β3β ) Ρ 537 qdr. 1, 2. 8S7 ) Auch zu dieser Zeit war er Bürgermeister, was Ρ 537 qdr. 1 und Ρ 538 qdr. A 1 erkennen lassen. ωβ ) Ρ 537 qdr. 1 läßt nicht klar werden, um welche Insinuation es sich hierbei handelt. M ») Ρ 538 qdr. A 1. ωι

220

Appellationsverbote

ner seiner Konsorten mit ihm sprechen kann. Auf ihr Betreiben ergeht am 9. März 1592 zu Speyer ein mandatum de relaxando captivo et non amplius impediendo prosequi litem cum citatione 840 . Der Gefangene soll bei Strafe ohne Verzug und Entgelt freigelassen und nicht in der Verfolgung der Appellation behindert werden. Der Befehl wird am 29. Mai 1592 zugestellt und Pastor am nachfolgenden Tag gegen das Bekenntnis, es sei alles nicht so gewesen wie im Mandat geschildert, auch habe er gar nicht gewollt, daß ein Mandat ergehe, freigelassen 841 . Die Angelegenheit nimmt aber auch jetzt nicht ihren ordentlichen Verlauf. Colin setzt durch, daß das Verfahren in Aachen trotz anhängiger Appellation weiter betrieben wird. Unter dem Datum des 15. Juni 1592 reicht der Vertreter der Appellanten deshalb im Appellationsverfahren eine supplicatio pro inhibitione 8 4 2 ein, mit dem Antrag, den Schöffen und Colin zu verbieten, den Prozeß ,gegen die Ordnung der Rechten und praejudicio der hangenden Appellation'

fortzuführen, damit sie über die Attentate nicht den Appellationsprozeß ,per indirectum abstritkenn'.

Obwohl ein solches Mandat offenbar nicht ergeht, zieht sich der Appellationsprozeß bis zum Jahre 1596 hin 8 4 3 . Die Entscheidung des Gerichts ist unbekannt. In der Mandatssache hat sich 1595 — nachdem über Jahre hinweg nur darum gestritten worden war, ob die Vertreter der Stadt Aachen ausreichend legitimiert seien 8 4 4 — eine Bereinigung dahin ergeben, daß Pastor darauf verzichtete, den Rat der Stadt noch zu belangen 845 . Durch Entscheidung vom 20. August 1595 ließ es das R K G deshalb bei der erfolgten Freilassung bewenden 8 4 β .

») ) 842) M3) 844) vgl. Ρ 845) Me) M

β41

Ρ 538 qdr. A 1. Ρ 538 qdr. Β 1. Ρ 537 qdr. 4. Ρ 537 qdr. 15. Hier handelt es sich wohl um eine Folge der Religionsstreitigkeiten 538 qdr. 5—7, 11, 14, 16—18, Ρ 537 qdr. A 2, 4—9, 13, 14. Ρ 538 qdr. 13 und 14, auch im Protokoll. Protokoll.



Bremen

221

2. Β r e m e η (bis 1541) Erst nach der auf einige neu erlangte kaiserliche Gerichtsprivilegien abstellenden Gerichtsreform von 1541 erkannte der Bremer Rat Appellationen gegen seine Entscheidungen ans R K G grundsätzlich als zulässig an 847 . Vereinzelte Appellationen finden sich gleichwohl schon aus früheren Jahren, die erste vermutlich aus dem Jahre 1532 848 . Nach 1541 besserte sich die Lage rasch, obwohl noch 1554 Karl V. die Stadt auf ihre Pflicht zur Anerkennung des R K G hinweisen mußte 849 . In Konkurrenz zur landesherrlichen Gerichtsbarkeit des Erzbischofs war die Zuständigkeit des Rates im 13. Jahrhundert als die einer Kompromißinstanz begründet worden 850 . Zwar verlor sich dieser Charakter der Entscheidungen des Rates mit dessen wachsender faktischer Durchsetzung mehr und mehr, doch war die Stellung des Rates als des ordentlichen Gerichtes der Stadt im Verhältnis zum Erzbischof noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht völlig unangefochten 851 . In dieser Lage festigte der Rat 1541 seine Position durch eine Hinwendung zu Kaiser und Reich. Auf dem Regensburger Reichstag ließ er sich von Karl V. Privilegien ausstellen, die seine Gerichtsbarkeit als eine nunmehr auch rechtlich ordentliche anerkannten, die Einrichtung eines Niedergerichts gestatteten und die Appellationsfreiheit bis zu 600 fl. begründeten 8 5 2 . Damit war das Verhältnis zur Reichsjustiz grundsätzlich bereinigt. Nodi 1538 hatte sich der Rat in der Appellationssache der Geschwister Klaus und Lütke Dorn/Johann Gerdes 8 5 3 in einem Schreiben ans R K G dagegen verwahrt, daß die Herausgabe der Akten als Verzicht auf die Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes gedeutet werde:

) Vgl. K ü h t m a n n , S. 88, P i t z , S. 109. ) Vgl. K ü h t m a n n , S. 44. M ») Vgl. K ü h t m a n n , S. 45, audi A c h e 1 i s , S. 213. 850 ) Vgl. K ü h t m a n n , S. 5 ff., 12, 29 f., A c h e l i s , S. 181, für Lübeck E b e l , Lübisches Recht, S. 367 f. s s l ) Vgl. K ü h t m a n n wie in Anm. 850 sowie S. 46. ®52) Vgl. hierzu A c h e l i s , S. 182 ff., v. B i p p e n , II S. 112—116; das Privileg ist abgedruckt bei G y 1 m a η η , VI S. 119 ff. β53 ) Generalrepertorium der RKG-Akten in der Außenstelle Frankfurt'M. des Bundesardiivs : G 1091, vgl. audi K ü h t m a n n , S. 88. 847 M8

222

Appellationsverbote

,Und aber unser stadtrecht und Statuten auf langhergebrachter gebrauch ausdrücklich vermögen, dass keinem urteil so von uns zu jeder zeit ausgesprochen von einigem teil soll oder m a g widersprochen werden auch sonderliche und ansehnliche poen solcher statutenübertreters darin aufgesetzet . . . so ist auch der gleichen allbereits der vorgewandten appellation und derselben devolution in s. Gerhard Steding und Heinr. Louwen wyder Heinrich Trupen von uns hiervor genugsam und aus beständigen Ursachen widerfochten, welcher sachpunkt noch vor Eurem Kaiserl. Löbl. Kammergeridit noch unentschieden hanget — demnach so protestiren und bedingen wir uns, dass durch solche edition und Überschickung dieser gerichtsacten von obangeregtem recht, Statuten und althergebrachte gewonheit keineswegs wollen abgewichen s e i n ' 8 S 4 .

Immerhin hatten sich die Bremer im Unterschied zu anderen zur Herausgabe der Akten bereit gefunden. Sie gingen zunächst einmal den Weg des Rechts und nicht den der Gewalt, wenn auch offen bleiben muß, inwieweit sie die Zuständigkeit des R K G zur Entscheidung des Konfliktes anerkannten. Alsbald danach muß sich der Rat darüber klar geworden sein, daß sich die Zeiten geändert hatten, daß sein Streben nach Unabhängigkeit sowohl vom Landesherrn als auch vom R K G keine Aussicht auf Erfolg bot. Es galt somit, die Bereinigung im Verhältnis zur Reichsjustiz als Absage an die erzbischöflichen Jurisdiktionsansprüdie auszugestalten. Für die Anerkennung des R K G , insbesondere auch seiner Appellationszuständigkeit, handelt sich der Rat mit den Privilegien von 1541 die Sicherung seiner Stellung gegenüber dem Erzbischof ein. Erleichtert wurde dieser Schritt durch die Verleihung der mit 600 fl. für die damalige Zeit recht beachtlichen Appellationsbefreiung. Als der Erzbischof schließlich eines der Privilegien als erschlichen nicht anerkennen wollte, erging am 22. November 1554 eine kaiserliche Bestätigung zugunsten der Stadt, die zusätzlich das Recht zur Abnahme eines Eides und für den Fall frivoler Appellation eine Geldstrafe von 50 fl. brachte 8 5 5 . Der größere Zusammenhang, in den auch das Bremer Verbot eingeordnet werden muß, bestätigt nicht die von P i t z 8 5 6 im An-

8 5 4 ) Nach Kühtmann, S. 88; der Prozeß Steding und Louwen/Trupen ist im Generalrepertorium nicht verzeichnet, die Signatur S 4803 bezeichnet eine andere Akte. Hinsichtlich des langhergebrachten Brauchs des fehlenden Widerspruchs ( = U r teilsschelte) gegen Ratsentscheidungen vgl. oben S. 110. 8 5 5 ) Vgl. A c h e i i s , S . 184. « · ) S. 107 ff., 109.

Dortmund

223

sdiluß an Κ ü h t m a η η 857 geäußerte Vermutung, der Rat habe die Appellation allein deshalb untersagt, weil gegen Kompromißentscheidungen Rechtsmittel nicht zulässig gewesen seien. In den einschlägigen Quellen findet sich kein Hinweis auf diese besondere Situation der städtischen Gerichtsbarkeit. Dem Rat mußte auch alles daran gelegen sein, die Vorstellung einer bloßen Kompromißzuständigkeit zurückzudrängen. Das gilt sowohl im Verhältnis zum eigenen Bürger als auch gegenüber dem konkurrierenden Fürsten 858 und der sich neu festigenden Reichsgerichtsbarkeit. Nur als Träger ordentlicher Gerichtsbarkeit konnte man einen Anspruch auf ausschließliche Zuständigkeit — und dies bereits lange vor 1495 859 — überhaupt erheben. Die Vorstellungen einer bürgerlichen Schwurgemeinde und einer auf Kompromiß beruhenden Ratszuständigkeit sind im 16. Jahrhundert nicht mehr wirklich lebendig 860 . Nur als Träger ordentlicher Zuständigkeit konnte man das RKG gegen den Fürsten ausspielen.

3. D o r t m u n d

(1621/22)

Ohne Parallele und bislang ohne die Möglichkeit der Einbettung in größere Zusammenhänge 861 steht ein Appellationsverbot in der Geschichte der Reichsstadt Dortmund. In der Mandatssache des

«") S. 5, 12, 29, 44, 88, vgl. audi E b e l , Lübecker Ratsurteile I, S. X und oben Anm. 802. 858 ) Die spärlichen Ausführungen K ü h t m a n n s zur Kompromißreditsprechung lassen nur erkennen, daß man sich im Verhältnis zum Erzbischof noch hin und wieder des Arguments der Kompromißzuständigkeit bediente, um dessen Ansprüche rechtlich argumentierend abzuwehren. Im Verhältnis zu den Bürgern lagen die Dinge schon längst anders. ω> ) Vgl. oben S. 110, auch unten S. 225 ff. zu den Hamburger Verhältnissen. ββ0 ) Vgl. P i t z , S. 108, E b e l , Bürgereid, S. 27 ff., 32 ff., ders., Zum Ende der bürgerlichen coniuratio reiterata. βί1 ) Die von A d e r s zusammengestellten Dortmunder Prozesse des StA Münster, rund 450 Aktenstücke, lassen nur diesen einen Fall erkennen. Auch die Ausführungen M a l l i n c k r o d t s , S. 200 f. und R ü b e 1 s , Gerichtsverfassung, S. 266 ff. ergeben keine Anhaltspunkte für weitere Appellationsverbote. Bei den Prozessen des Johann Brandhof gegen Bürgermeister und Rat (1592— 1606) — vgl. A d e r s - R i c h t e r i n g , I S . 98 f., A d e r s , S. 36 f. — handelt es sich um Fälle von Rechtsverweigerung. Beschwerden hierüber gibt es immer wieder in der Geschichte Dortmunds, die wegen der Verzeichnung der Prozesse der Stadt insoweit besonders gut einzusehen ist.

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Appellationsverbote

Detmar Mülher/Bürgermeister und Rat der Stadt Dortmund 862 ergeht am 21. Mai 1622 — zugestellt am 16. Oktober desselben Jahres — an die Beklagten der Befehl 863, den Mülher weder auf dem beklagten noch auf einem anderen Wege von seiner Appellation abzuhalten, ganz gleich, wie dieser erdacht werden möge und unter welchem Vorwand man vorgehe. Mülher hatte in der Supplik für das Mandat vorgetragen, der Rat habe am 25. Mai und am 2. Juni 1621 an ihn — den Mandatskläger — gerichtete Schreiben des für ihn in zwei Appellationsprozessen 864 tätigen Anwaltes angehalten und erbrochen. Als daraus zu ersehen gewesen sei, daß in der Sache wegen seiner Kinder aus erster Ehe der Prozeß erkannt worden war, habe man ihn verhaftet und unter dem Vorwand, er habe die Bestellung eines Pfandes verweigert und plane, seine Kinder in die Luft zu sprengen, zwei Tage lang festgehalten 86S. Als Mülher nach dem 2. Juni 1621 die Zustellung von Kompulsorialen (in einem oder beiden der am RKG anhängigen Prozesse) durch einen ortsansässigen Notar vornehmen lassen will, schlägt ihm dieser den Auftrag ab mit dem Bemerken, ihm sei erst kürzlich vom Rat anläßlidi einer Zustellung in der Streitsache der Witwe Nises contra Huck bedeutet worden, es gebe genug Notare außerhalb der Stadt und er solle sich bei seinen bürgerlichen Pflichten und seinem Eid solcher Zustellungen in unbegründeten Fällen enthalten. Über einen anderen Notar, der zunächst versucht hatte, die Zustellung bis über den Ablauf der Fristen hinaus zu verzögern, gelangten die Kompulsorialen dann doch noch an den Rat 866. Mülher beklagt sich ferner darüber, daß er nach wie vor in der Gefahr lebe, erneut verhaftet zu werden. Nicht genug, daß man ihm angedroht habe, man werde all seine ,Erb und Güter pfänden' und ihn verstoßen', man habe ihn auch aus seinem Amt als Prokurator 867 ent8e2 ) StA Münster, A d e r s - R i c h t e r i η g , II S. 97 Nr. 3714, A d e r s , S. 114 = Generalrepertorium R K G M 4094. 8 M ) Qdr. 2. 8 M ) StA Münster, A d e r s - R i c h t e r i η g , II S. 96 f. Nr. 3712, 3713 = Generalrepertorium R K G M 3931 und M 3932. Es handelt sich um Streitigkeiten mit den Vormündern seiner Kinder aus erster Ehe wegen Redinungslegung und Vermögensauseinandersetzung. 8e5 ) Vgl. qdr. 2 und 4. 8 M ) Vgl. qdr. 2, 3, 5. 8β7 ) Bei A d e r s - R i c h t e r i n g , II S. 97 Nr. 3717 ist Detmar Mülher als Notar bezeichnet. Jedenfalls war er Jurist und ist Verfasser einer .Historischen

Hamburg

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lassen und ihm damit den Unterhalt und das Geld für die Fortführung der Prozesse beschnitten. Dazu stachle man seine Gläubiger gegen ihn auf, verzögere aber seine eigenen Prozesse vor dem Rat. Bürgermeister und Rat der Stadt bestreiten die Zuständigkeit des RKG und bezeichnen das klägerische Vorbringen als erdichtet, ohne eine eigene Darstellung zu geben 868 . Das Mandat sei im übrigen gegenstandslos, da die Appellationsprozesse schon vor Jahresfrist geschlossen seien und zur Entscheidung anstünden. Mit diesem letzten Schriftsatz vom 12. Dezember 1622 endet die Akte mit den üblichen Schlußvermerken 869 . Die Hintergründe des Falles sowie des Vorgehens gegen die Notare bleiben im dunkeln 87Θ. Das Mandat, erst ein Jahr nach den schärfsten Maßnahmen des Rates ergangen, scheint dadurch gerechtfertigt, daß der Kläger offenbar immer nodi wirtschaftlich und sozial diskriminierenden Maßnahmen des Rates ausgesetzt war.

4. H a m b u r g

(bis 1554)

Im Wege einer Schaukelpolitik zwischen Landsässigkeit und Reichsunmittelbar keit versuchte die Stadt Hamburg um 1500 soviel Unabhängigkeit und sowenig Lasten als möglich für sich in Anspruch zu nehmen 8 7 1 . Die Entwicklung der Appellationsfrage ist stark mit dieser Politik verknüpft. Schelten vom Rat nach auswärts waren schon im 13. Jahrhundert untersagt 872 . Das Proömium des Stadtrechts von 1270 läßt allein die Berufung auf das Rechtsbuch der Stadt zu: ,In deme namen des vaders unde des sohnes unde des hilligen geistes sind dessen ordele besereven van der menen stad willen unde van den wittegesten rade van Hambordi. Unde se ne mach ode nen men bescheiden by

Beschreibung Dortmunds' (1612) — vgl. F r e n s d o r f f , Einleitung, S. II, der Mülher (d. h. wohl seine Arbeit) als „von sehr zweifelhafter Zuverlässigkeit" bezeichnet. βββ ) Vgl. qdr. 7 und 9. 8 M ) Vgl. Protokoll — .Completum 18. Juni' (1623) und .Visum 10. Juli' (1623). 870 ) Für die Jahre zwischen 1601 und 1631 gibt es kein Urteilsbudi. 8 7 1 ) Vgl. R e i n c k e , Hamburg, S. 36 f. 872 ) Vgl. Westphalen, I S. 253, P l a n c k , I S. 271 f., Ebel, Lübisches Redit I, S. 369 Anm. 7, audi oben S. 110.

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Appellationsverbote

syner wonynge, de he hevet in der stad. Wil se over jenidi man bescheiden, de schal untberen synes erves unde syner wonynge sunder weder in dyt bock'8™.

Diese Regelung ist sinngemäß in die Stadtrechte von 1292 (Art. IX) und von 1497 (Art. XIX) übernommen worden 874. Vom Reiche her, das die Stadt bereits unter Kaiser Sigismund für sich in Anspruch genommen hat, lag zumindest seit 1421, wahrscheinlich aber schon früher ein Evokationsprivileg 875 vor. Seit dem 13. Jahrhundert kannte man also in Hamburg allein die Berufung auf das Rechtsbuch der Stadt. Ein Rechtsmittel nach auswärts war nicht mehr üblidi. Der Rat anerkannte keine Instanz über sich — weder Kaiser und Reich noch die Holsteiner, noch etwa Lübeck 87e . Daran änderte auch die Errichtung des RKG zunächst nichts, wie schon der Fortbestand der Beschränkung der Rechtsmittel 1497 zeigt. Unter den veränderten Verhältnissen berief sich die Stadt gegenüber dem Reiche auf ihren Charakter als Landstadt und erkannte die Zuständigkeit des RKG nicht an. Eine Entscheidung des RKG in Hamburger Angelegenheiten aus dem Jahre 1503 877 wurde ebenso ignoriert wie ein Dekret des Reichstages von 15 1 0 878, daß Hamburg von uralten Zeiten her eine Reichsstadt sei. Es kam daraufhin zu einem Prozeß des Reichsfiskals gegen Holstein und die Stadt. Neben der Zuständigkeit des RKG ging es insbesondere um die Beiträge zu den Reichslasten, die die Hamburger unter Berufung auf ihre Freiheit nunmehr auch gegenüber den zuvor als Landesherren bezeichneten holsteinischen Herzögen verweigerten. Kaiser Maximilian soll in diesen Jahren geäußert haben, die Hamburger wollten wohl einen Waldesel aus ihm machen, da sie weder reichsunmittelbar noch Landsasse zu sein behaupteten 879.

8

") Nadi Westphalen, I S. 253. ) Vgl. W e s t p h a l e n , a.a.O., R e i n c k e , Hamburg, S. 38. 875 ) Das Privileg ist abgedruckt bei L ü η i g , Pars spec. Cont. IV, Teil I, S. 947 f., vgl. auch R e i n c k e , Unmittelbarkeit, S. 22 f. L ü η i g bezeichnet die Urkunde als Privilegium fori. Der entscheidende Textteil lautet: , . . . daß hievon niemand . . . für uns und des heiligen Reichs Hof-Geridite sollen geladen und geheischen werden . . . ' , wobei sich ,hievon* auf Bürgermeister, Rat und Bürger zu Hamburg bezieht. β7β ) Vgl. P i t z , S. 48. 877 ) Vgl. R e i n c k e , Hamburg, S. 36 und Unmittelbarkeit, S. 25 f. 87β ) Abgedruckt bei L ü η i g , a.a.O., S. 965. 87 ») Vgl. R e i n c k e , Unmittelbarkeit, S. 26. 8M

Hamburg

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Trotz, aber auch gerade infolge ihrer ablehnenden Haltung war die Stadt fortwährend als Beklagte in Rechtsstreitigkeiten am RKG verwickelt, sei es wegen der Frage der Reichsunmittelbarkeit, sei es wegen des Streites mit dem Domkapitel 880. Obwohl das Verbot der Appellation noch in dem ,Receß, welcher zwischen Ε. E. Rath und gesamter Bürgerschafft zu Hamburg zu Beförderung der bürgerlichen Eintracht, Handhabung der heilsamen Gerechtigkeit und vernünfftiger Policey im Jahre 1529 aufgerichtet worden' 8 8 1 .

enthalten ist, kam es bereits in diesen Jahren auch zu Appellationen ans RKG 882. Der Rat ging hart dagegen vor. R e i η c k e 883 schildert die Situation wie folgt: „Als die ersten Hamburger tatsächlich an das Gericht appellierten, wurden sie vom Rat in strenge Strafe genommen und von ihren Mitbürgern aus der Stadt geprügelt, als seien sie Verräter. Die Anwälte des Rats beim KG erklärten im Namen der Stadt, die Herrn von Holstein seien die rechten Oberherren, Landesfürsten und oberste Richter für Hamburg, man erbiete sich vor diesen zu Recht". Trotz des unablässigen Widerspruchs der Hamburger Vertreter hielt aber das RKG an der Reichsunmittelbarkeit der Stadt und an seiner Zuständigkeit fest. Daß Bürger, die trotz des Verbotes appellierten, Gefahr liefen, ihr Erbe und ihre Güter in der Stadt zu verlieren, Fremde aber Kaution und Versicherung leisten mußten, sich gemäß dem Ausspruch des Rates zu verhalten, ergibt noch eine Quelle aus dem Jahre 1603. In den Verhandlungen über die Revision 884 des Rezesses von 1529 führt der Rat am 23. September 1603 zu dem Vorschlag der deputierten Hundert Bürger, den Art. 17 des alten Rezesses beizubehalten, folgendes aus: ,Alß denn die Deputine den Art. 17 haben behalten, so erfurdert die Nohtdurfft, bestendige und wohlbegründete Uhrsachen anzuzeigen, worumb E. E. Raht denselben ausgelassen und noch billig auszulassen ist. Und obwohl die-

ββ0

) Vgl. R e i η c k e , Hamburg, S. 49 f., 52 f. und Unmittelbarkeit, S. 25 f. ) Abgedruckt bei L ü η i g , Pars spec. Cont. IV, Teil I, S. 965 ff. Einschlägig sind die Art. 17—19 (S. 969). 882 ) Anhaltspunkte dafür, daß der Hamburger Rat bereits 1521 geneigt gewesen sein könnte, Appellationen ans RKG zuzulassen, ergeben sidi anhand des von P i t z geschilderten Prozesses (S. 49, 109). 88S ) Unmittelbarkeit, S. 25 f. 884 ) Die Verhandlungen führen zum Abschluß eines neuen Rezesses 1603 — abgedruckt bei L ü n i g , a.a.O., S. 1080 ff. —, der den seit mehr als einem halben Jahrhundert obsoleten Art. 17 nicht mehr enthält. 881

228

Appellationsverbote

ser Articul zwey unterschiedliche Puncten in sich hält, alß der erste von Appellation uff das Stadt-Buch, der ander, wenn kein Urtheil im Stadtbuch, Recessen oder Burspracke beschrieben, und die Sache großwichtig, und Jemandt sich befürchtede, daß ihme zugegen ein beschwerlich Urtheil mügte abgesprochen werden, wie es alßdenn auf der Partheyen Begehren soll gehalten werden: so beruhen sie doch beyde mehrerentheils auf einem Fundament, daß nemblich Anno 1529, alß dieser Articul des Recesses verfasset, wie denn auch zuvor und von der Zeit hero, alß das Stadt-Buch verordent, Niemandt, weder Bürger noch Frembder, von E. E. Rahts Urtheil an andere frembde Gerichte hat appelliren können noch mügen, sondern ist allein die Appellation uff das StadtBuch zugelassen, und da ein Bürger demselben zuwider gehandelt, ist er seines Erbes und dieser Stadt Wohnung verlustig geworden, alß der Articul 19 sub lit. Α. ausweiset und mit vielen Exempeln kan bescheinet werden. Ein Frembder aber hat vorher Caution und Versicherung thun müssen, daß er sich an deme, was Ε. E. Raht dieser Stadt vor Recht aussprechen würde, gentzlich wolle begnügen lassen, inmaaßen der Art. 5 sub lit. C. austrücklich vermeldet. Dahero denn die Bürgere Anno 1529 seyn veruhrsachet, den vorangedeuteten Punct, wie es in demselben, wann kein Urtheil im Stadt-Buch, Receß und Buhrspracke zu finden, solte gehalten werden, in den Art. 17 des Recesses zu setzen. Dieweil aber folgens die Appellationes, vorangezogenem Statuto zuwider, von E. E. Rahts Urtheilen an das Cammer-Gericht ungescheuet vorgenommen und E. E. Rahte bey schwerer Poen inhibiret und gebotten worden, mit der Execution in Ruhe zu stehen, und der Raht bey ihrem Statuto nicht länger schützen können, in Erwegung, daß solche und dergleichen Statuta, alß den gemeinen Rechten und der Kayserlichen Majestät Hochheit zuwider verordenet, krafftlos und unbündig am Kayserlichen Cammer-Gericht seyn geachtet, wie Mynsingerus Cent. 1. Obs. 14 bezeuget, und E. E. Raht dahero ist veruhrsachet, umb ein Kayserlich Privilegium de non appellando in gewissen Fällen anzuhalten, wie Sie denn auch dasselbe erlanget, daß nunmehr, außerhalb denen in dem Kayserlichen Privilegio specificirten Fällen, einem Jeden von des Rahts Urtheilen an das Kayserliche Cammer-Gericht zu appelliren freystehet: so ist auch das Fundament dieses Articuls in beyden Puncten auffgehoben und gefallen, inmaßen dann nach der Zeit, alß vorgedachtes Privilegium de non appellando erlanget, die Appellationes nicht mehr auf das Stadt-Buch geschehen, sondern Menniglich, der durch des Rahts Urtheil sich beschweret zu seyn vermeynet, an das Kayserlidie Cammer-Gericht appellirt hat' 885.

Der Fortgang der Dinge in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ergibt sich bereits in etwa aus der angezogenen Quelle. Der Rat sieht sich eines Tages gezwungen, ,mit der Execution in Ruhe zu stehen' und um ein Privilegium de non appellando nadizusudien. Die Gründe hierfür lagen nicht darin, daß Hamburg seine Reichs-

8M

) Nach W e s t ρ h a 1 e η , I S. 253 f. in der Anm.

229

Hamburg

unmittelbarkeit generell anerkannt hätte 8 8 e , audi nur zum Teil darin — wie es der Rat 1603 darstellt —, daß die Position der Stadt aufgrund der unbeugsamen Haltung des R K G unhaltbar geworden wäre oder die Ratsherren die Unrechtmäßigkeit des Verbotes eingesehen hätten. Die entscheidende Ursache ist vielmehr darin zu sehen, daß sich der Rat — ähnlich wie auch in Bremen — im Interesse der Sicherung seiner Position gegenüber dem möglichen Landesherrn (nunmehr Dänemark) zu einer Hinwendung zum Reidi gezwungen sah 8 8 7 . Das genaue Datum des Umschwungs in Hamburg ist bislang nicht ermittelt 8 8 8 . Es dürfte aber schon einige Jahre vor der Erteilung des Privilegs von 15 5 4 8 8 9 liegen. Diese Freiheit bis zu 600 fl. sowie in Sadien bekannter Schulden, Iniurien und Gebäude der Stadt belangend, enthält in der Darstellung des Hamburger Antrages — ebenso wie die Erklärung des Rates von 1603 — rechtsgeschichtliche Ungenauigkeiten, die darauf beruhen, daß der Ubergang von einem System der Gerichtsverfassung zum anderen nicht bekannt ist. Die Hamburger tragen vor, daß . . wiewohl sie und ihre Vorfahren, vor 2 0 0 oder mehr Jahren, mit sonderlichen Privilegien, Exemptionen, Freyheiten, Statuten und praescribierten

Ge-

wohnheiten,

von

oder

andern

dermasssen

versehen,

daß

von

ihren,

deren

Hamburgk, Urtheilen nicht weiter noch ander gestalt, dann auff ihr StadtBuch appelliret oder beruffen werden soll, wie sie denn bey solcher Freyheit von obberürter Zeit an, biß daher ruhig und unverhindert gelassen und darwider nicht beschwert worden . .

neuerlich ihre Bürger ohne Notwendigkeit und allein mit dem Ziel der Rechtsverzögerung zu ihrem und ihrer Mitbürger Schaden ans R K G appellierten. Die Urkunde anerkennt — ebenso wie viele andere Appellationsprivilegien — dieses Vorbringen mit als Grundlage für die Erteilung der Freiheit.

8 8 e ) Nach dem Prozeß von 1510 gab diese Frage, der 1618 mit einem Urteil R e i n c k e , Hamburg, S. 59, L i i n i g , 8 8 7 ) Vgl. R e i n c k e , S. 59. 8 8 8 ) Vgl. auch Pi t ζ , S. 108 f. "O") Abgedruckt bei L ü η i g , a.a.O., S.

es erneut 1547 einen Rechtsstreit um zugunsten des Reiches endete — vgl. Pars spec. Cont. IV, Teil I, S. 1106 f.

996 ff., bei G y 1 m a η η , V I S. 142 ff.

230

Appellationsverbote

5. R o t t w e i l (bis 1565) In der Reichsstadt Rottweil, dem Sitz des bedeutenden kaiserlichen Hofgerichts, bestand zumindest bis zum Jahre 1546, mit großer Wahrscheinlichkeit aber noch etwa 20 Jahre darüber hinaus ein allgemeines Verbot der Appellation gegen Entscheidungen des Stadtgerichts, soweit diese in Streitigkeiten unter Bürgern ergangen waren 890. Der bereits im Jahre 1480 zustande gekommene Beschluß des großen Rates 891 , daß mit einer Appellation das Bürgerrecht verwirkt sein solle, wurde auch in das Erneuerte Stadtrecht von 1546 892 aufgenommen. Bei dieser Regelung verblieb es zunächst. Jedoch muß schon geraume Zeit vor dem Jahre 1599, in dem die ,Newe appellation Ordnung' 893 zur Regelung des Rechtsmittels in Zivilsachen bis zum RKG geschaffen und dem Erneuerten Stadtrecht eingefügt wurde, eine Sinneswandlung erfolgt sein. Aus den Jahren 1565/66 stammt der erste urkundlich nachweisbare Prozeßgang von einem örtlichen Vogtgericht über den Schultheißen und das Stadtgericht in zweiter und den Rat in dritter Instanz zum RKG 894. Es handelt sich um einen Rechtsstreit des Klosters Rottenmünster, für das die Instanzen der Stadt Rottweil höheres Gericht waren, gegen die Meierschaft von Frittlingen. Nicht als Ausdruck der Anerkennung der Appellation zum RKG kann es hingegen angesehen werden, daß das Stadtgericht die nach 8β

°) Vgl. L e i s t , S. 183 f. ) Der Besdiluß von 1480 lautet im Roten Budi (nach G r e i n e r , S. 202): .Anno domini 1480 uff mittwoch in den heiligen ostern ist ein gros samenthafftiger raut mit der gemaind überkommen also: welcher unnser burger oder burgerin allhie gegen dem anndern appellierte, das alsdann der oder dieselben ir burgrecht verlorn haben und von stund an iren abzog on gnad zu geben verfallen sin sollen, ditz gesatzt haben von rauts wegen angeben Herr Lienhart Schappel der burgermaister, Lienhart ö r i redman, Dietrich Bletz von den richtern und Conrad Voest von Bern redman, und Cunrat Vischern von den zwenundzwaintzig und der gemaind'. Dabei kann es hier dahinstehen, ob dem Beschluß ein auf ein einstimmig gefaßtes Urteil beschränkter Appellationsbegriff — zu dieser Erscheinung im Übergang von der Urteilsschelte zur Appellation vgl. L e i s t , S. 136, 183 mit Anm. 31, 185, B a s t i a n , S. 14 ff., auch oben S. 116 Anm. 317 — zugrunde liegt. 892 ) Genaue Bezeichnung: .Statuten, Reformation, Ordnung und Rechtbuch bürgerlicher Polizei des h. Reichs Stadt Rotwil' — vgl. T h u d i c h u m , S. 3, L a u f s , Rottweil, S. 21, 136 f., v. W ä c h t e r , I S. 784, L e i s t , S. 184. 893 ) Teilweise abgedruckt bei L a u f s , Rottweil, S. 136 f., vgl. audi L e i s t , S. 184. 8M ) Vgl. L e i s t , S. 184. ββ1

Rottweil

231

dem Freispruch des Bauernführers Matern Feuerbacher vom Ankläger des Schwäbischen Bundes angekündigte Appellation gegen die Entscheidung nicht ausdrüdklich verworfen hat 8 9 5 . Der Prozeß gegen Feuerbacher 1527 war derart stark politisch beeinflußt 8 9 6 , daß das Stadtgericht gegenüber dem Begehren des Anklägers allein auf die — damals allerdings gelockerte 8 9 7 — Beschränkung der Rechtsmittel in Strafsachen hinwies und Feuerbacher freiließ. In der Zeit nach 1599 sind in Rottweil Maßnahmen gegen die Appellation ans R K G nicht mehr erfolgt 8 9 8 . Was die Neue Appellationsordnung betrifft, so kann angenommen werden, daß die dort festgelegten Bedingungen der Appellationszulässigkeit (Eid, Bürgschaft, Streitwert von zumindest 200 fl. 8 " ) auf einem entsprechenden Privileg beruhen 9 0 0 . Was die Rottweiler nach rund siebzig Jahren der Abwehr des neuen Rechtsmittels zum Ubergang auf die reichsrechtlich bedenkenfreie Regelung bewogen hat, läßt sich nur vermuten. Die Zeit hatte sich geändert, das R K G seine Stellung gefestigt und sich vom Ruf eines ,auswärtigen' Gerichtes befreit. Möglicherweise hat das Beispiel des Hofgerichts, von dessen Entscheidungen die Appellation ungehindert nach Speyer ging 9 0 1 und dessen Beisitzer Rottweiler Bürger (zumeist Angehörige des Rates) waren 9 0 2 , Anlaß zu dieser Entwicklung gegeben. Andererseits ist es beachtenswert, daß sich die Appellation vom Stadtgericht trotz entgegenstehender Praxis des Hofgerichtes so lange nicht durchsetzen konnte. 8 9 5 ) Ausführlich zum Prozeß Feuerbachers M a y e r , S. 47 ff., 51 ff. Der Prozeß fand allerdings nicht vor dem Hofgericht, sondern vor dem Stadtgericht statt — vgl. L e i s t , S. 144 f., 176, G r u b e , S. 45. 8 9 β ) Darauf weisen insbesondere P i e t s c h , S. 287 und L e i s t , S. 145 hin. 8 9 7 ) Die Appellation in Strafsachen war grundsätzlich nur bei besonders eklatanten Verfahrensmängeln, die dann zumeist zur Nichtigkeit führten, zulässig. Im Fall Feuerbacher war die angekündigte Appellation ein rein politischer Akt. Vgl. oben S. 34 Anm. 38, S. 74 Anm. 87 und L e i s t , S. 176. 8 9 8 ) Vgl. L a u f s , Rottweil, S. 84 f., 90, ν. Η o f e r , S. 22, 70. 8 " ) Vgl. L a u f s , Rottweil, S. 137, 84. 9 0 °) Die einschlägige Zusammenstellung Rottweiler Privilegien bei L ü η i g , Pars spec. Cont. IV, Teil II, S. 363 ff. enthält ein solches allerdings nicht. Das C J C und G y l m a n n , V I enthalten gar kein Rottweiler Appellationsprivileg. 9 0 1 ) Vgl. Mayer, S. 50 f., 66 f., R u c k g a b e r, II S. 25 ff., 79, H a r p p r e c h t , II S. 289 ff. und Vorbericht, G r u b e , S. 17, 49, 39, 6 6 ; K ö h l e r , S. 72, auch oben S. 63 Anm. 22 und S. 84 Anm. 148. 9 0 S ) Vgl. R u c k g a b e r , II S. 27.

232

Appellationsverbote

V. S o n s t i g e 1. D e u t s c h e r

Orden

(1606—1768)

Als der ehemalige Komtur der Deutschordens-Ballei Franken, Friedrich Karl Freiherr von Eyb, in seinen Händeln mit dem Orden in den Jahren nach 1764 an die römische Kurie appellierte, wandte sich der Deutschmeister an den RHR, der gegen von Eyb wegen des unerlaubten Recurses vorging 9 0 s . Im Rahmen dieses Verfahrens erging am 11. April 1768 der folgende Verweis an den Orden: ,Ihro Kayserl. Maj. hätten bei Gelegenheit gegenwärtiger Sache nicht nur aus dem extractive bey gebrachten XIV. Capitul des Anno 1606 erneuerten Statuten-Buch mißfälligst wahrgenommen, daß durch den Art. 8 der Ternsche Orden sich ganz ohnbefugt und nichtiglidi angemaßet, alle Appellationes und Recursus von denen Aussprüchen eines Groß-Capituls zu einem solchen Verbrechen zu machen, welches die dritte und höhere Ordens-Strafe nach sich ziehen solle, sondern, daß audi bey ereignenden Fällen der Ternsche Orden kein Bedencken trage, dieses ganz nichtige Principium selbst gegen Kayserl. Maj. und Allerhöchst dero Reichs-Gerichte in der Anwendung geltend zu machen: Wie nun aber Allerhöchst dieselbe diese Ohngebiihr keineswegs hingehen lassen, noch zugeben könnten; Als wollten Kayserl. Maj. mit Cassation dieses Articuls, so viel solche Allerhödist dieselbe betrifft, auch dessen Anwendung, auf das schärfste geahndet und für das künfftige auf das nachdrucksamste hiermit verbotten haben' , 0 4 .

Beaditenswert an diesem Geschehen ist, daß das Verbot 160 Jahre offenbar unangefochten bestehen konnte, um dann in einer Zeit, der man gern einen Niedergang der Reichsgewalt auf breiter Ebene unterstellt, aufgegriffen und mit scharfen Worten gerügt zu werden.

2. R e i c h s r i t t e r s c h a f t

(bis 1653)

Ebenso wie die Städte waren auch die Reichsritter an der Neuordnung des Gerichtswesens 1495 nicht hinreichend beteiligt worden. Bei der Langwierigkeit des Prozeßganges hatte der niedere Adel gegenüber den mächtigen Fürsten kaum eine Chance. Die Fürsten schufen nach wie vor mit Gewalt die ihnen gelegenen TatM3

) Zu den Eyb'sdien Händeln vgl. M o s e r , 1. B. 7. K., S. 280 ff., v. C r a m e r , Observationes Nr. 1339, Bd. V, S. 159. >M ) Vgl. M o s e r , a.a.O., S. 282, auch S c h e l h a ß , S. 228.

Reidisrittersdiaft

233

sachen und verzogen die in letzter Instanz immer am RKG anhängigen Prozesse 905. Schon 1507 versuchte deshalb die fränkische Ritterschaft, mit dem Kitzinger Austragsprojekt die Appellation zum RKG zu unterbinden. Der Versuch scheiterte aber ebenso wie ein kaiserlicher Vorschlag zur Errichtung eines besonderen Ritteraustragsgerichtes 1517, von dem die rechtsverzögerliche Appellation ans RKG nur beschränkt zulässig sein sollte, am Widerstand der interessierten Fürsten 906. Der Wormser Reichstag 1521 brachte zwar schließlich eine günstigere Regelung der Austragsrechtsprechung zwischen Rittern und Fürsten, doch konnte die Ritterschaft die von ihr gewünschte Einschränkung der Appellation zum RKG nicht durchsetzen °07. Unter dem zweiten Reichsregiment verschärfte sich die Lage erneut. Eine Beschwerdeschrift der Grafen, Herren und gemeinen Ritterschaft (Nürnberg 1523) beklagt, „daß Berufungen gegen die Urteile niederer Gerichte mit allerlei Vorrechten und sogar Gewalt verhindert würden; der Versuch, die Sache an das Kammergericht zu bringen werde dadurch vereitelt, daß sich kaum ein Notar fände, der sich dazu getraue. Das Reichsregiment endlich stehe parteilich auf seiten der Mächtigen, wenn es gelte, die Vollstrekkung ergangener Urteile zu befördern . . 9 0 8 . Die Beschwerden hielten auch später an. Die Ritter bauten eine eigene Gerichtsbarkeit auf und trachteten, die Entscheidungen ihrer obersten Instanzen unangreifbar zu machen. Zunächst suchte man, die untereinander bestehenden Rechtshändel nach Möglichkeit fremder Zuständigkeit zu entziehen. Die Ritter übertrugen in Ausübung ihres auch insoweit bestehenden Austragsrechtes 909 ihren Direktorien die Gerichtsbarkeit in untereinander auszutragenden Rechtsstreitigkeiten 910. Als ständige Austrägalinstanzen hatten diese Gerichte den Vorzug des bündischen Chrakters, der eine funktionierende Rechtspflege hätte garantieren können. Die Di805

) S m e n d , S. 108 f., K e r n e r , II S. 404. ) S m e n d , a.a.O., Κ e r η e r , a.a.O., S. 404 f., Β 1 o e m , S. 24. · 07 ) Vgl. hierzu H a r ρ ρ r e c h t , III S. 161, 372. β08 ) So nadi Β l o e m , S. 24; zur politisch-gesellsdiaftlidien Lage der Reidisrittersdiaft und des niederen Adels um 1500 vgl. etwa B l o e m , S. 22 f., S t a m m , S. 137, B a d e r , Südwesten, S. 160 ff. β0 ») Vgl. RKGO 1555 II Tit. 3—5, M o s e r , Reichsstände, S. 1467. 8I °) Vgl. S c h i c k , S. 148 ff., M a 1 b 1 a η k , IV S. 463 ff., Τ a f i η g e r bei M a d e r , Selecta Equestria II, S. 206 ff., K e r n e r , II S. 404 ff., 411, 416 ff., wo die verschiedenen Ritterordnungen aufgeführt sind. — Zur Verfassung der Reidisrittersdiaft vgl. M o s e r , Reidisstände, S. 1302 ff. 9011

234

Appellationsverbote

rektorien wurden als Gerichte in erster Instanz tätig, von ihren Entscheidungen ging die Appellation ans RKG. Die Kaiser bestätigten und förderten diese Einrichtungen 911 . Im Laufe der Entwicklung blieb es nicht allein bei der erstinstanzlichen Gerichtsbarkeit der Ortsdirektorien. Man organisierte über ihnen die Kreisdirektorien als Appellationsgerichte 912 . So konnte nach der Schwäbischen Ritterordnung bereits 1561 von , . . . jedes vierteis ausschuß und Rath . . . für aller viertel gemeine und unpartheyische Ausschuß und Räth . . . '

appelliert werden. Dann sollte es ,. . . bey derselben entsdiidt und sprüch, ohn all weygerung, ein- und widerredt bleiben, dem audi bede thail stracks nachkommen, und sollen ermelte sachen, so also für die Ausschuß gepracht, erster und anderer Instants, auffs lengst um Jarsfrist erörtert, und darüber nit verzogen werden, Es beschee dann durch kundtlidie unmuglichkeit oder mit ihr der partheyen gutten wissen und willen' 913.

Fränkische und rheinische Ritterordnungen des 16. Jahrhunderts enthalten entsprechende Regelungen 914 . Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde einigen Ritterordnungen die kaiserliche Bestätigung insoweit versagt, als sie die Appellation ans RKG von einer über der allgemeinen reichsgesetzlichen liegenden Mindestbeschwer abhängig machen wollten. Es handelt sich um eine fränkische Ritterordnung von 1652 915 und um eine projektierte schwäbische Ordnung von 1653, die eine Beschwer von 1000 Talern forderte 916 . en

) Vgl. B ü r g e r m e i s t e r , Codex I, S. 191 f. betreffend Art. 12 und 13 der projektierten Schwäbischen Ritterordnung von 1653 sowie die in Anm. 910 Genannten. Davon, daß man versuchte, auch eigene und fremde Reichsmittelbare vor diese Austragsgerichte zu ziehen, berichten v. C r a m e r , Observañones Nr. 212 Bd. I, S. 496 f., K e r n e r , II S. 410 und M a l b l a n k , IV S. 467 ff. Zu dieser Erscheinung vgl. unten S. 305 ff. " 2 ) Vgl. K e r n e r , S. 411 f. 913 ) Die Schwäbische Ritterordnung von 1561 ist abgedruckt bei B ü r g e r m e i s t e r , Codex I, S. 158 ff. und bei L ü n i g , Pars spec. Cont. III, S. 34— 39. Hier ist aus der einschlägigen Bestimmung des Art. 20 zitiert. Vgl. ferner S t o b b e , II S. 277. »") Vgl. K e r n e r , I I S . 407, W u l f f e n , S. 82. β15 ) Vgl. M o s e r , Ritterschaft I, S. 205, K e r n e r , II S. 399. β1β ) Sie ist abgedruckt bei B ü r g e r m e i s t e r , Codex I, S. 186 ff. — die einschlägige Vorsdirift ,Zum Zwölften* S. 191 f. sieht wie die Ordnung von 1561 zwei ritterschaftliche Instanzen vor, läßt die Appellation ans RKG jedoch bei Besdiwerdewerten über 1000 Talern zu. — Vgl. dazu audi Κ e r η e r , II S. 416.

Privatverträge

235

Schon der Vergleich der beiden schwäbischen Ritterordnungen von 1561 und von 1653 läßt deutlich werden, daß die Ritterschaft das gänzliche Verbot der Appellation zum RKG im 17. Jahrhundert nicht mehr durchzusetzen versuchte. Man hatte sich auf eine Beschränkung des Rechtsmittels über eine Beschwerdesumme zurückgezogen. Selbst dieser Versuch scheiterte an der Wachsamkeit des bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts die kaiserlichen Rechte verstärkt überwachenden RHR. Uber das Schicksal der unbeschränkten Apellationsverbote des 16. Jahrhunderts ist wenig bekannt. Die allgemeine Entwicklung der ritterlichen Austragsgerichte ist gekennzeichnet durch finanzielle Schwierigkeiten bei der Besoldung der Hauptleute und Räte, persönliche Vorbehalte einer Vielzahl von Beteiligten gegen die Rechtsprechung ihrer Standesgenossen und die fehlende Kraft der Ritterdirektorien zur Durchsetzung ihrer Sprüche. Hinzu kommt, daß die Reichsritterschaft — im Gegensatz zu den Landesherren im engeren Sinne — nicht in einer kompromißlosen Auseinandersetzung mit der Reichsgewalt begriffen war. Aus diesen Gründen sind einzelne Ortsdirektorien als Gerichte wieder völlig außer Tätigkeit gekommen, die Ritter wandten sich bereits in erster Instanz ans RKG 9 1 7 . Unter diesen Umständen war an die Beibehaltung einer den Rechtsweg abschließenden Kreisinstanz nicht zu denken. Trotz der grundsätzlichen Tendenz gegen die Rechtsprechung des RKG sind so konkrete Konflikte aufgrund der Ordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts nicht bekanntgeworden. Die Bemühungen der Reichsritter waren nicht prinzipiell gegen Kaiser und Reich gerichtet, sondern erstrebten eine gut funktionierende, rasche Rechtspflege. Als die Ritter diese nicht selbst zu schaffen vermochten, orientierten sie sich wieder am Reich.

3. E x k u r s : P r i v a t - , i n s b e s o n d e r e träge

Familienver-

Wie sehr der Kaiser und sein R H R zeitweise um die Erhaltung des Reservatrechtes der obersten Gerichtsbarkeit besorgt waren, zeigt 917

) Zur allgemeinen Entwidmung der Austragsreditsprechung der Reichsritter vgl. K e r n e r , II S. 407 f., 414 ff., M a l b l a n k , IV S. 464 ff., S c h η e i d t , Diss., S. 23—25.

236

Appellationsverbote

die Erstreckung der Abwehrmaßnahmen auf appellationsbeschränkende Bestimmungen in Privatverträgen. Sie findet sich mit ihrem Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vornehmlich solche Regelungen, die in Familienverträgen das Rechtsmittel an die Reichsgerichte völlig ausschlossen, wurden vom Kaiser beanstandet und fanden vor Gericht keine Anerkennung. Da diese Vorgänge nicht das spezifische Verhältnis von Reich und Landesherrschaft betreffen, scheidet ihre nähere Untersuchung hier aus. Andererseits unterstreichen sie als Extremfälle eine im 18. Jahrhundert verstärkt wahrnehmbare Entwicklung zur stärkeren Beachtung der kaiserlichen Rechte gegenüber kleinen und mittleren Gewalten 918 . Es sollen deshalb einige Beispiele kurz dargestellt werden. M o s e r 9 1 9 berichtet: „Als die Statt Emden Anno 1720 eine Handlungs-Gesellsdiaft errichtete, in deren Articuln unter andern enthalten war, daß in denen unter denen Societäts-Verwandten über ihre Negotien kiinfftig vorfallenden Streitigkeiten keine Appellationen gestattet werden sollten, wurde solches in einem Kayserlichen Decret an die Statt Anno 1721 18. Aug. starck geahndet, als eine kühne, nicht nur dem Landesherrn nachtheilige, sondern auch denen Kayserlichen Resolutionen abbrüchige, audi des Kaysers und Reichs Obrigkeit, Gewalt und Gerechtsame selbst, per consequentiam ohnumgänglidi hoch berührende, und den Recursum ad suprema Imperii Dicasteria benehmende Anordnung."

Das Privileg der Stadt Emden für die Handelskompagnie wird vom R H R kassiert. In dem Fall der Grafen von Friedberg und Trauchberg 920 handelt es sich um die vom R H R verweigerte Bestätigung eines Erstgeburtsvertrages. Verworfen wurde durch Beschluß vom 15. Dezember 1724 Artikel 10 des Vertrages ,woselbst die Beilegung derer künftighin in Familia hervorgehenden Irrungen und Mißhelligkeiten auf decision gewisser Agnaten und andern Ausspruch unabweidilidi gebunden wurde'.

Der Rekurs an die höchsten Reichsgerichte wurde in dem R H R Beschluß . . besage derer heilsamen Reichsatzungen . . . " ausdrücklich aufrechterhalten.

· " ) Vgl. hierzu bereits oben S. 157 f., 209 f. und S. 232. >19 ) 2. B. 14. K., S. 575 f., vgl. audi E m m i u s - B r e n n e y s e n , 458—466. • 20 ) Vgl. S c h e 1 h a ß , S. 227.

S.

Privatverträge

237

Einen Familienvertrag hat auch der von v. Cr a m e r 921 unter dem Titel: „Ob ein Pactum oder Statutum Familiae, welches die Appellationes an die hödisten Reichs-Gerichte in sempiterna sécula verbietet zu recht beständig seye?"

untersuchte Rechtsstreit des Johann Karl Ludwig, Wild- und Rheingraf zu Stein, gegen Karl Wallrad Wilhelm, den Wild- und Rheingrafen zu Grumbach, zum Gegenstand. Die verschiedenen Linien angehörenden Mitglieder des Wildund rheingräflichen Hauses hatten im Jahre 1595 für sich und ihre Nachkommen einen Vergleich ,wegen gütlich und rechtlichen Austrags' geschlossen, der nach 1700 im Rahmen der Auseinandersetzung um die Kirburger Erbschaft zwischen den genannten Parteien streitig wurde. Der Vergleich sah vor, daß nach vergeblichen Versuchen gütlicher Beilegung ein Schiedsgericht ,rechtlichen Spruch und Urthel' zu geben hatte. Bei den mit Mehrheit ergangenen Entscheidungen .sollte es ohne ferneres Suchen, appelliren, suppliciren, reduciren oder revidiren endlich verbleiben und bewenden'.

Bei Gleichstimmigkeit sollte die Sache an den jeweils regierenden Grafen von Nassau-Saarbrücken zu endlichem Entscheid gehen. Das RKG durfte nur zur Erlangung von Exekutorial-Mandaten in Anspruch genommen werden. Klagte einer der Beteiligten gleichwohl dort, so war dem Beklagten die exceptio fori declinatoriam et incompetentiae zugestanden. Eben diese Einrede verwarf der R H R 1731 als unerheblich, , . . . weilen selbiges zum Praejudiz Kay. Maj. und Dero höchsten Reichs-Gerichten Jurisdiktion errichtet, weldierley Pacta absque Confirmatione Caesarea null und nichtig seyen . . . ' i 2 2 .

Mit gleichlautender Begründung wurde schließlich 1742 die auf Anerkennung der Verbindlichkeit der Vergleichsbestimmungen von 1595 antragende Klage des Wildgrafen zu Stein am RKG abgewiesen 92S. »") W N 85, S. 7 7 f f . , audi W N 57, S. 1—5; vgl. ferner Roennberg, S. 150. ,22 ) So nach v. C r a m e r , a.a.O., S. 85 f. *23) Vgl. v. C r a m e r , a.a.O., S. 92 f. — Der Rechtsstreit um die Kirburger Sukzession war unter den verschiedensten rechtlichen Gesichtspunkten sowohl am R H R als auch am RKG anhängig, vgl. v. C r a m e r , a.a.O. Die Akten befinden sich zumindest teilweise im StA Koblenz, vgl. Looz-Corsw a r e m , S c h e i d t , S. 463 ff.

Β.

REICHSGESETZLICHE GEGENMASSNAHMEN

I. Z u s t a n d e k o m m e n e i n e r Sondervors c h r i f t bis 1548/55 1. R K G O

1495

Die R K G O 1495 setzt die Appellation als bekanntes und anerkanntes Rechtsmittel — in §§ 13, 22, 24, 28 und 30 1 wörtlich — voraus 2 . Eine geschlossene reditstechnische Regelung des seit 1450 die Urteilsschelte und ihre römisch-kanonisch beeinflußten Ubergangsund Mischformen auf breiter Ebene verdrängenden Instituts findet sich nicht. Desgleichen fehlt es an einer ausdrücklichen und detaillierten Beschreibung des Verhältnisses von Territorial- und Reichsgerichtsbarkeit unter dem Gesichtspunkt der Appellationszulässigkeit3. In §§ 13, 16, 29 und 31 ist gleichwohl eine grundsätzliche Regelung enthalten 4 , Einzelfragen bleiben offen und stehen zur Entscheidung des R K G 5 . §§ 13 und 16 machen das Kernstück der neuen Justizverfassung aus 6 . Die erstinstanzliche Zuständigkeit für Reichsmittelbare liegt grundsätzlich bei den Territorialgerichten. Die Evoka-

' ) Hier und im folgenden sind die Bestimmungen der R K G O 1495 nach Ζ e u m e r , I I S. 284 ff. zitiert. 2 ) Vgl. S t ö I ζ e 1, I I S. 108 ff., Β r ο ß, S. 10, audi oben S. 132 Anm. 385. 3 ) Vgl. oben S. 131 f. 4 ) S t ö 1 ζ e 1, a.a.O. kompliziert die Dinge unnötig — vgl. bereits oben S. 32 Anm. 30 — indem er es — bewußt — unterläßt, die Ordnung systematisch auszulegen und in die Auslegung ungeschriebene Voraussetzungen des Systems, die aus jedem Lehrbuch des Kameralrechts zu ersehen sind, einzubeziehen. 5 ) Vgl. oben S. 97, 132, 134 mit Anm. 393. e ) Eine grundlegende Aussage zum Verhältnis von Urteilsschelte und Appellation ist ohne Stellungnahme zur .Evokation' und ihrem Verhältnis zur Urteilsschelte, eine Beurteilung der Appellationsprivilegien nicht ohne Abgrenzung zum ,Evokations'-Privileg möglich — vgl. oben S. 98 ff. Indem B r o ß § 16 nicht in seine Untersuchungen einbezieht — vgl. S. 11 — begibt er sich von vornherein der Chance, mehr als im wesentlichen rechtstechnische Veränderungen des Ubergangs von einem Institut zum anderen zu beschreiben.

R K G O 1495

239

tion von Seiten des Reichsgerichts ist beseitigt 7 . Der Instanzenzug der Territorien wird gegen Umgehungen abgesichert 8 , im übrigen ist die Appellation ans RKG ohne Einschränkung zulässig. Ausgenommen sind Appellationen gegen Beiurteile (§ 24) sowie gegen solche Entscheidungen, die unter die in § 31 ausdrücklich vorbehaltenen Privilegien und Freiheiten fallen. Daß diese Bestimmung in dem untersuchten Problemkreis der Zulässigkeit der Appellation nur für die wenigen Appellationsprivilegien, nicht aber für die bereits durch § 1 6 anerkannten und zugleich aufgehobenen Befreiungen von der Evokation des höchsten Reichsgerichtes relevant wird, ist bereits dargelegt worden 9 . § 31 regelt den Vorbehalt der Sonderrechte gegenüber dem Reich. § 29 anerkennt allgemein in Ergänzung und mit den Einschränkungen der § § 1 3 und 16 die ausschließliche Jurisdiktionsgewalt der Landesherren für ihr Gebiet und ihre Befugnis zur Regelung des Justizwesens nach innen. Er sichert also zumindest audi die Zuständigkeit des ordentlichen Richters und steht insoweit mit § 16 in Zusammenhang 10. Unter diesen Voraussetzungen findet sich — fast überflüssig, es zu sagen — keine Bestimmung gegen Appellationsverbote. Umdeutungen von Evokations- in Appellationsprivilegien waren nicht zu erwarten 11 ; daß die herkömmliche Freiheit von R H G und KKG 12 auf die Appellation zum RKG übertragen werden würde, das hatte man zumindest in der aufgezeigten Breite der Erscheinung nicht bedacht, im übrigen bewußt in der salvatorischen Klausel neutralisiert. 7

) Vgl. oben S. 123 mit Anm. 350. ) Das Verbot der Sprungappellation (§ 13 — gradatim) hat weder etwas mit der Beseitigung der Evokation nodi mit der Rechtsverweigerung zu tun — vgl. L i e b e r i c h , RK-Prozesse, S. 434 — nodi bewirkt e s den Aussdiluß der Appellation ans RKG für Untertanen privilegierter Stände, wie dies Β r o ß , S. 20, 28 und öfter meint. Seine Berufung auf Schlosser, L i e b e r i c h und E i s e n h a r d t — vgl. Anm. 3 — beruht wohl auf einem Mißverständnis. Die Vorschrift dient allein dem Sdiutz des bereits vorhandenen oder nodi aufzubauenden Instanzenzuges gegen Sprungappellationen und gegen Appellationen an auswärtige Gerichte. ») Vgl. oben S. 125. 10 ) Übersteigert kritisch äußert sich S t ö l z e l , II S. 110 ff. Die oben vertretene Auffassung wird klar gestützt durch die entsprediende Vorschrift RKGO 1521 Tit. X X X — N S R A II, S. 189 —, die S t ö l z e l , a.a.O., S. 112 f. selbst zitiert. " ) Vgl. oben S. 109, 117 ff., 127 f., 205 ff., audi R K G O 1495 §§ 13 und 31. 12 ) Das ist die Freiheit von Evokation und Urteilsschelte — vgl. oben S. 123 f. —, was den Zeitgenossen hinsiditlidi der Urteilssdielte nicht bewußt war. 8

240

Gesetzliche Gegenmaßnahmen

Dieser rechtlich und politisch schwierige Aspekt der Neuregelung blieb besser einer gerichtlichen Entscheidung anhand des Einzelfalles vorbehalten. Eines ausdrücklichen Schutzes bedurfte angesichts der umstrittenen Zuständigkeit des RKG für Reichsunmittelbare 13 nur die Appellation von den Austrägen. Hier heißt es: , . . . und sol yedem Tail zugelassen sein, ob er sich mit gesprochen Urtailen beswert bedeutchte, das er sich an Unser Königliches oder Kaiserliches Camergeridit beriiffen und appelliern mag, laut des Artickels von den Appellacion vorgemelt, das Clagers halb on Ungnad und on Verhinderung des Churfürsten, Fürsten oder Fürstenmässigen und menigklichs von seinen Wegen' (§ 30) u .

2. V i s i t a t i o n

1526

Erste Äußerungen des RKG zu Schwierigkeiten mit der allgemeinen Appellationszulässigkeit finden sich in den der Visitationskommission 1526 übergebenen dubia camerale. Das Gericht forderte , . . . daß die Stände den Artikel der Ordnung in Capite Wie in Appellations-Sachen in dem erläutern, wann der Richter in erster Instanz dem Appellanten kein Zeit zur Vollführung der Appellation angesetzt hat, und daß dieser Artikel insonderheit publiciret und im Reich ausgekundt werde, in Ansehung, daß sich die Parteien hiebevor zum öftermahl ihr Unwissenheit mit dem Eid zu beteuern erboten.'

Die Revisionskommission hielt es für gut, daß in den genannten Fällen 6 Monate Zeit zur Durchführung der Appellation gegeben und dies im Reich bekanntgemacht werde 15. Das RKG rügte ferner: ,Item, dieweil etliche Chur- und andere Fürsten der Appellation nit statt geben, aber im Fall, wann eine Partei vermeint, demselben Gerichtszwang nidit zugehörig noch unterworfen, und deshalb a competentia appelliert, daß sie sich des der Gebühr nach nicht beschweren, dann Cammerrichter und Beisitzer wissen ihren Pflichten nadi solche Appellationen ohne rechtliche Erkenntnis nicht abzuschlagen*.

Die Kommission billigte die vertretene Rechtsauffassung 1β. 13

) Vgl. oben S. 25, 95 ff. ) R K G O 1555 II Tit. VI § 1 — N S R A III, S. 90 — enthält die entsprechende Regelung für die verbesserte Austragsordnung. — Eine in der Sache gleiche Formel ist auch in RKGO 1495 § 28 enthalten. Sie entspricht R K G O 1555 II Tit. II § 2, der oben S. 25 zitiert ist. 15 ) H a r ρ ρ r e c h t , V S. 209 ff., 213. 1β ) Η a r ρ ρ r e c h t , V S. 209 ff., 219, auch oben S. 14 ff., 76 f. u

Visitation und Reichsabschied 1531/32

241

Noch geht es trotz bereits nachweisbar bekannter Appellationsverbote 17 nur um die fehlende Information der Parteien zu den Formalien des Rechtsmittels 18 und um die Anerkennung der Zuständigkeit des RKG in Kompetenzstreitigkeiten. Die Visitation von 1526 wird ebenso wie die von 1529 vorzeitig abgebrochen. Die Dubia dieser Jahre finden erst 1531 eine abschließende Bearbeitung 19.

3.

Visitation

1531

und

R eich sa b sch ied

1532

Inzwischen war neben anderen Appellationsverboten 20 insbesondere der Fall der Eheleute Culmann 21 zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen RKG und Territorialgewalt geworden 22. Bei der Antwort auf die Intervention des Jülicher Rates von Dockum bei der Visitationskommission 1531 läßt es das RKG nicht bewenden. Es wendet sich nunmehr gegen den allgemeinen Mißstand. Unter den diesmaligen dubia camerale 23 , deren Klärung auf dem Wege über die Visitationskommission durch Gesetz oder aber durch Bescheid an Kammerrichter und Beisitzer erreicht werden soll, findet sich auch folgende Anregung: ,Etliche Stände zwingen die Untertanen zum Eid, von ihren gesprochenen Urteilen nicht zu appelliren, und so darüber appelliret, werden die Armen als meineidig gestraft. War gut, alle und jede dergleichen Eide mit einer gemeinen Satzung (als der Oberkeit abbrüchig) einmal aufzuheben und abzutun'.

Es folgt dann erneut die Beschwerde über die Unwissenheit der Parteien in Sachen Appellationsformalien. Die Visitation von 1531 stand unter einem günstigen Stern und brachte zusammen mit dem nachfolgenden Reichstag zu Regensburg 1532 einen Fortschritt für das Justizwesen des Reiches 24 . Zunächst » ) Vgl. oben S. 59 ff., 67 ff. (Österreich), 80 ff. (Brandenburg, Sachsen), 158 ff. (Bayern), 176 ff. (Jülich-Berg), 193 ff. (Paderborn), 225 ff. (Hamburg), wohl auch S. 221 ff. (Bremen). J8 ) Vgl. oben S. 182, auch W i g a n d , Denkwürdigkeiten, S. 218 ff., 221 ff. ") H a r ρ ρ r e c h t , V S. 64, 80. 2 °) Vgl. oben S. 186 ff. (Münster), 215 ff. (Aachen). 21 ) Vgl. oben S. 177 ff. B ) H a r p p r e c h t , V S . 85—87 sieht in dem Fall Culmann den aktuellen Anlaß zur Initiative des RKG im Jahre 1531. !S ) Sie sind abgedruckt bei H a r p p r e c h t , V S . 250—255. 24 ) Vgl. H a r p p r e c h t , V S. 87, 91. Nach ihm führte unter anderem die Beschwerde von Dockums im Fall Culmann über § 22 des Visitationsab-

242

Gesetzliche Gegenmaßnahmen

erstattete die Visitationskommission dem Reichstag Relation über ihre Arbeit 25 . Zu den dubia camerale führen die Visitatoren aus, sie überantworteten diese den Kurfürsten, Fürsten und Ständen, weil es nicht ihr Auftrag gewesen sei, etwas neu zu setzen, sondern allein zu reformieren. Die Reichsversammlung erstattete dem Kaiser umgehend ein Gutachten 26 über die 1531 vorgenommene Visitation und legte es zur Genehmigung vor. Auf die hier interessierende Anregung des RKG geht es wie folgt ein: ,Auf den vierten 2 7 , welcher anhebt: Etliche Stände zwingen die Untertanen ist bedacht, mit einer Konstitution zu versehen, daß hinfort keiner gezwungen werde, sich des Appellierens zu enthalten oder von getaner Appellation abzustehen, es wäre denn Sach, daß sich einer vorhin der Appellation begeben, oder aber, daß er vermög eines rechtmäßigen Privilegs seines Richters oder sonst von Rechts wegen nicht appellieren könnte oder möchte'.

Der Kaiser stimmte dem Reichsgutachten zu, der Reichsschluß wurde dem Abschied von 1532 einverleibt und als § 12 des III. Titels 28 wie folgt formuliert: .Nachdem auch etliche Stände ihre Untertanen mit dem Eid zwingen, von ihren gesprochenen Urtheilen nicht zu appelliren, und so die Partheyen darüber appelliren, daß sie als Meineidig gestrafft werden sollen, welches den gemeinen Rechten zuwider, und Unserm Kayserl. Cammer-Gericht, und desselben Oberkeiten abbrüchig: Derhalben ordnen und setzen Wir, daß hinfüro keiner gezwungen werden soll, sich des Appellirens zu enthalten, oder von gethaner Appellation abzustehen, es wäre denn Sach, daß sich einer vorhin der Appellation begeben, oder aber, daß er Vermög eines rechtmäßigen Privilegien seiner Oberkeit oder Richters auch sonst von Rechtswegen nicht appelliren könt oder möcht'.

schieds dazu, daß in Angelegenheiten begehrter Relaxation ad effectum agendi sowie in Mandatssachen hinfort vor einer Entscheidung ein Bericht der Obrigkeit angefordert werden mußte, vgl. § 24 der Reformation des Kaiserl. Cammer-Gerichts durch die Visitation 1531' in NSRA II, S. 345 ff., 349 auch C i s η e r , KGO, S. 324 ff. Eine entsprechende Regelung kennt jedoch bereits RA 1530 § 92 (NSRA II, S. 320) für die von .aufrührerischen' Bauern (zumindest teilweise wegen Nichtbeachtung der während des Bauernkrieges abgeschlossenen Verträge) gegen ihre Obrigkeit geführten Prozesse. Vgl. hierzu B a l e m a n n , S. 377, F r a η ζ , S. 296 mit Anm. 5, W a a s , S. 467 ff., L a u ρ p e , S. 99, S e 11 e r t , R H R , S. 181ff., 184 mit Anm. 638. " ) Vgl. H a r p p r e c h t , V S . 262—268, 264. 2 ·) Abgedruckt bei H a r p p r e c h t , V S. 281—287. 27 ) Zu ergänzen: Artikel. 28 ) Text: NSRA II, S. 358, C J C S. 81 f., vgl. ferner S t ö l z e l , II S. 116 f., S c h i c k , S. 87.

R K G O 1548/55

243

Bezüglich der vom R K G angeregten erneuten Publizierung von Formerfordernissen der Appellation wurde in § 13 befunden, daß sich niemand mit Unwissenheit entschuldigen könne, da die R K G O auf dem Reichstag zu Worms öffentlich verlesen und publiziert worden sei. Das R K G solle sich unangesehen der Parteien Unwissenheit an die aufgerichtete Ordnung halten.

4. R K G O

1548/55

Die R K G O 1548/55 2 9 übernimmt im wesentlichen die Regelung aus R A 1532 Tit. I I I § 12. Sie fügt in R K G O 1555 I I Tit. 28 § 2 3 0 zwei Ergänzungen ein. Hinter dem Wort ,abzustehen' klärt sie, daß eine erzwungene Verpflichtung zum Verzicht auf die Appellation ,an ihr selbst unbündig sein' und die Parteien bei der Verfolgung ihrer Redite nicht behindern soll. Damit beseitigt sie das Erfordernis der relaxatio ad affectum agendi jeweils im Einzelfall. Die genannte Formel stellt das Vorgehen der Landesherren so weit außer Recht und Billigkeit, daß die unmittelbare Nichtigkeit der getroffenen Maßnahmen die einzig adäquate Folge ist 3 1 . Ferner fügt die Neuformulierung an den Schluß der Bestimmung die Versicherung an, daß das R K G in den Fällen der rechtmäßigen Appellationsbeschränkung (Begebung, Privileg) , . . . jederzeit . . .

erkennen und geschehen soll, was sich vermöge der Recht

und dieser Reichsordnung zu tun gebührt'.

Diese Ergänzung enthält entgegen S t ö 1 ζ e 1 3 2 keine neue oder verbesserte Zuständigkeitsregelung, sondern sichert auf bewährter Zuständigkeitsgrundlage 33 die Beachtung der Privilegien durch das Gericht zu. Bei beiden 1548 3 4 formulierten Zusätzen dürfte es 2 9 ) Zum Verhältnis der RKGOen von 1548 und 1555 zueinander vgl. Laufs, Die Kammergerichtsordnung von 1555, S. I f f . , in den Grundzügen W e i t z e l , S. 232 Anm. 122, zu den einschlägigen Beratungen des Augsburger Reichstages 1547/48 neuestens R a b e , S. 303 ff. 3 °) Vgl. oben S. 26. " ) Vgl. oben S. 30. 3 2 ) II S. 120. 3 3 ) Vgl. oben Anm. 5. 8 4 ) Vgl. R K G O 1548 II ,Von wellidien Richtern in was Sachen und von welchen Urtheylen an das Keyserlich Cammergericht appellirt werden soll' nach dem von I v o S c h ö f f e r 1548 besorgten Druck Bl. 114.

244

Gesetzliche Gegenmaßnahmen

sich im übrigen um rein juristische Fortbildungen ohne aktuellen tatsächlichen Bezug handeln.

II. K r i t i k a n R K G O 1 5 5 5 I I T i t . 2 8 § 2 35 1. Z u e n g e F a s s u n g d e s T a t b e s t a n d e s s t r e c k u n g auf Behinderungen



Er-

Die Stellungnahme des Reiches zur Erscheinung des Appellationsverbotes steht von Anfang an in enger Beziehung zur Entbindung von einem geleisteten Eide (relaxatio ad effectum agendi). Im Prozeß der Eheleute Culmann ging es um diese Frage 3β, der Abschied der Visitationskommission von 1531 ordnet an, daß in diesen Fällen vor einer Entscheidung der Bericht der Obrigkeit einzuholen sei 37 . Ganz einseitig stellt das vom RKG 1531 übergebene dubium auf den Zwang der Untertanen zum Eid ab. Bei dem Gewicht, das der Eidesleistung zukam, angesichts der Schwierigkeit, unzulässigen Zwang nachzuweisen und so die Entbindung vom Eid zu rechtfertigen, erschien eine Regelung dieses Punktes offenbar vordringlich. Anderen, faktischen Beeinträchtigungen der Freiheit zur Appellation schien man eher begegnen zu können. Eine inhaltliche Klärung der mit den Appellationsverboten zusammenhängenden Rechtsfragen dürfte vom RKG angesichts der Vielfalt der Rechtfertigungsversuche und auch mangels Aussicht auf politische Durchsetzbarkeit nicht angestrebt worden sein. Weniger noch als bei der aus einer grundsätzlichen Auseinandersetzung hervorgegangenen RKGO 1495 war jetzt eine Lösung der schwierigen Detailfragen durch einen Visitations- oder Reichstagsbeschluß zu erwarten. Man kann dem Gericht schwerlich unterstellen, es habe über den Aspekt der abgezwungenen Eidesleistung hinaus nicht den Zusammenhang der Appellationsverbote mit dem ungeklärten Verhältnis zwischen gewohnheitsmäßig/ -rechtlich überkommener Freiheit einerseits und neuem Appellations-

35

) Mit dieser Materie setzen sidi bereits S t ö l z e l , II S. 108 ff. und W e i t z e l , S. 234 in Grundzügen auseinander. 3e ) Vgl. RKG C 2192 Protokoll und qdr. 53, C 2194 Protokoll und qdr. 8, audi H a r p p r e c h t , V S . 85—87. ") Vgl. oben Anm. 24.

Kritik an RKGO 1555 II Tit. 28 § 2

245

anspruch andererseits gesehen S8. Es kann allerdings bezweifelt werden, daß die die ,Evokation' und die Urteilsschelte betreffenden geschichtlichen Zusammenhänge dem Gericht gegenwärtig gewesen sind s e . In den einschlägigen Schriftsätzen und Voten 4 0 wird immer nur von der Appellation gesprochen, die bereits seit unvordenklicher Zeit bestehende Freiheit vom Reichsgericht allein auf dieses Institut bezogen. Dies ist ein Beweis mehr dafür, daß der Ubergang von der Urteilsschelte zur Appellation im Laufe von Jahrhunderten derart minutiös vor sich gegangen ist, daß er selbst den besten Juristen des Reformzeitalters nicht bewußt wurde. Insbesondere die Formalien der Schelte erschienen ihnen als ein alter unvernünftiger Gebrauch der Appellation. Gleidiwohl hätte man am RKG angesichts einer so breiten Erscheinung wie dem Vorbringen überkommener Freiheiten zu einer allgemeineren Fassung der der Visitationskommission 1531 vorgetragenen Anregung kommen sollen. Sie mußte jegliche Maßnahmen gegen den Appellanten ungeachtet der Erweislichkeit des behaupteten Rechtfertigungsgrundes verbieten, für unbeachtlich erklären und die alleinige Kompetenz des RKG zur Entscheidung über seine Zuständigkeit und zu Sanktionen gegen mutwillig und frivol Appellierende ausdrücklich anordnen 41 . Das Abstellen auf die unrechtmäßig erzwungene Eidesleistung allein ist unzulänglich, da es dem Landesherrn die Behauptung beläßt, der Zwang könne gerechtfertigt werden 4 2 . Nur das Verbot jedweder Einflußnahme konnte Abhilfe schaffen. Dies gilt insbesondere dann, wenn man bedenkt, daß verschiedene Formen des Eides im Spiele sind. Zum einen der ad hoc — oft als Urfehde — abgenommene, zum anderen der allgemeine Untertanen- und Bürgereid 4S . Sollte letzterer, der ja umfassend die Beachtung des in der Gemeinschaft geltenden Rechtes sicherte, insoweit unwirksam sein, als er sich auf

38 ) Es mußte sidi ja gerade mit der Frage nach dem Verhältnis von Gewohnheitsrecht und neuem gesetztem Redit in den einschlägigen Prozessen auseinandersetzen. Vgl. oben S. 186 ff., 199 f., 212, 221 ff., 225 ff., 230 ff. und W e i t ζ e 1, S. 224 ff. 3> ) Vgl. oben S. 131, 188, 206 f. mit Anm. 766. 4 °) Vgl. oben S. 27 Anm. 10, S. 60 ff. Anm. 8, 9, 15 und W e i t ζ e 1, S. 239 f. 41 ) Vgl. oben S. 243 f. mit Anm. 32, 33. 42 Vgl. S t ö l z e l , II S. 117. 4S ) Vgl. E b e l , Bürgereid, S. 1 ff., D i e s t e l k a m p , Huldigung in HRG II, Sp. 262 ff.

246

Gesetzliche Gegenmaßnahmen

einen die Appellation verbietenden Rechtssatz erstreckte, so mußte dies doch weitaus deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Im übrigen konnte es zu einer Beruhigung der tatsächlichen Verhältnisse so lange nicht kommen, als nicht die ausschließliche Kompetenz des RKG zur Entscheidung über seine Appellationszuständigkeit anerkannt war. Solange sich der Unterrichter auch nur mit dem Schein der Rechtmäßigkeit darauf berufen konnte, daß e r in Fällen .offensichtlicher Unzulässigkeit' a b s c h l i e ß e n d über das eingelegte Rechtsmittel zu befinden habe 44, konnte er immer wieder im Interesse seines Landesherrn tätig werden. Bereits die Anregung des RKG zur Klärung der Vorkommnisse erging somit unter einem viel zu engen Blickwinkel. Von den im Reichstag versammelten Ständen konnte man nicht erwarten, daß sie das Verbot der Appellationsbeeinträchtigung auf breiterer Grundlage formulierten. So blieb es in den nachfolgenden gesetzlichen Bestimmungen beim Abstellen auf den Eid — zumindest in der Einleitung, da das eigentliche Gebot allgemein dahin geht, , . . . daß hinführo keiner gezwungen werden soll, sich des Appellirens enthalten, oder von gethaner Appellation abzustehen . .

zu

Der Zusammenhang zu der vorgehend erwähnten Übung des eidlichen Zwanges bleibt so locker, daß der Befehl auch auf andere Maßnahmen bezogen werden kann. Dies ist dann in praxi auch durchweg der Fall gewesen. Die Bestimmung ist stets allgemein als Ausdruck des kaiserlichen Reservatrechtes und nicht mit einer Beschränkung auf unrechtmäßig abgenommene Eide verstanden worden. Sie enthält für die Zeitgenossen ein allgemeines Verbot der Beeinträchtigung der Appellation zum RKG, mit dem selbst dort argumentiert wird, wo es um äußerst verfeinerte Formen der Appellationsbehinderung geht 4 5 .

44 ) Die ausschließliche Kompetenz des Oberrichters zur Entscheidung über die Zulässigkeit des zu ihm eingelegten Rechtsmittels war im gemeinen Recht keineswegs allgemein anerkannt. Insbesondere in Fällen .offenbarer' Unzulässigkeit (etwa Fehlen der Appellationssumme, Formalien, Rechtzeitigkeit) wurde dem Unterrichter teilweise ein abschließendes Prüfungsredit zugestanden. Vgl. E s t o r , S. 529 f., 554, W e i t z e l , S. 223, 228 mit Anm. 52, 87, O p e t , S. 12: Wortlaut einer Denkschrift kaiserlicher Räte zur Einführung einer Appellationssumme 1518, B e n d e r , S. 39 ff., 86, G i l l e s , S. 218 f., auch oben S. 33 mit Anm. 32, S. 52 f. mit Anm. 3. « ) Vgl. unten S. 251 ff.

247

Kritik an R K G O 1555 II Tit. 28 § 2

2. U n k l a r h e i t e n

hinsichtlich

der

Ausnahmen

Als die Appellationen zum R K G nach 1495 in einem die Landesherren und oft audi die Landstände beunruhigenden Maße anstiegen, konnten die Territorialherren in der salvatorischen Klausel von RKGO 1495 § 31 die Verbürgung ihrer überkommenen Freiheit vom Reichsgericht im Hinblick auf das neue Rechtsmittel sehen. Hier war das Einfallstor zur Beschneidung der unerwünschten Zuständigkeit des RKG. Dieses Tor konnte auch mit der 1532/55 gegen Appellationsverbote geschaffenen Spezialvorschrift nicht verschlossen werden. Die entscheidenden Ausnahmen zum Verbot der Beeinträchtigung der Appellationsfreiheit bleiben erhalten: ,...

es wäre

dann,

daß

einer

sich freiwillig und ungedrungen

vorhin

der

Appellation begeben, oder aber daß er Vermög eines rechtmässigen Privilegien seiner Oberkeit oder Richters,

audi sonst von Rechtswegen nicht

appelliren

könte . . . ' .

Da in diesen Fällen der vom Landesherrn nach Belieben ausgeübte Zwang nicht eo ipso für unzulässig erklärt wurde, hatte die Vorschrift im Tatsächlichen keinerlei Auswirkungen. Jeder unliebsame Appellant wurde nach wie vor unter Druck gesetzt. D a n a c h konnte sich das R K G mit den Landesherren darüber auseinandersetzen, ob sich der Betroffene freiwillig begeben hatte und was unter Rechtmäßigen Privilegien' zu verstehen sei. So blieb RKGO 1555 II Tit. 28 § 2 eine rhetorische Ausformung des ohnehin geltenden kaiserlichen Reservatrechtes. Die Sondervorschrift ermöglichte aber auch die theoretisch-wissenschaftliche Lösung der anstehenden Streitfragen nicht 4 e . Die einzelnen kritischen Punkte sollen im folgenden kurz aufgezeigt werden. Zu Auseinandersetzungen über die rechtliche Wirkung der Appellationsbegebung kam es insbesondere in den Fällen der renunciatio universalis. Mit den Landständen abgesprochene Appellationsverbote 4 7 und in Familienverträgen unter Erstreckung auf die Nachkommen erklärte Appellationsverzichte 48 wurden von den Beteiligten oft als zulässige Begebungen hingestellt. Diese Auffassung konnte sidi jedoch weder beim R K G 4 9 noch bei der Mehrheit der Auto«) ") «) *»)

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Stö oben oben oben

lz S. S. S.

e l , II S. 116 f., L u d o l f , S. 81 f. 32, 138 ff., 206 f. 237. 32, 138 ff., 206 f. und W e i t z e l , S. 239.

248

Gesetzliche Gegenmaßnahmen

ren 50 durchsetzen. Man erkannte in ihnen zutreffend die Beschneidung des kaiserlichen Reservatrechtes und der Entscheidungsfreiheit der nicht unmittelbar am Verzicht Beteiligten. Als juristische Spitzfindigkeit kann es aber wohl angesehen werden, wenn in Schriftsätzen ans R K G eine der Appellation entgegenstehende Gewohnheit als Verzicht der Landschaft auf dieses Redit gedeutet wird 51 . Begebungen der Appellation konnten auch stillschweigend erfolgen 5 2 . M o s e r 5 3 schreibt: „Der Appellation sich freywillig und ungedrungen begeben sind unbestimmte Worte, und dahin zu erklären: Sive expresse sive tacite id fiat, actum nimirum suscipiendo Appellationi contrarium, ex quo Renunciatio concludenter colligi potest, als, wann einer declarirt, er submittire sich der Urthel, er erkenne nun seine Ungerechtigkeit, oder wann er was thut in Gefolg der Urthel."

Keine Schwierigkeiten gab es offenbar mit der Bedeutung des Wortes ,vorhin', das nicht etwa so verstanden wurde, daß der Verzicht nur v o r gefälltem Urteil des Vorderrichters zulässig sei 5 4 . Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Reichseinheit und Partikularismus ist dort anzusiedeln, wo es um die inhaltliche Bestimmung des Rechtmäßigen Privilegien' geht, das ein Verbot der Appellation rechtfertigen soll. Der Begriff des Privilegs wird hier unstreitig nicht im engen Sinne der spezialgesetzlichen, auf bestimmte Urkundenformen bezogenen Freiheit gebraucht. Er umfaßt vielmehr auch alle anderen Formen der kaiserlichen Bestätigung und des Einverständnisses 5 5 . Die Geister pro und contra Reichsidee schieden sich erst dort, wo es um die auf Gewohnheit beruhende Freiheit von der Zuständigkeit des Reichsgerichtes ging. Die landesherrlichen Juristen achteten diese Gewohnheiten einer durch Privileg erfolgten Befreiung zumindest gleich. Die K r a f t des gewachsenen Rechtes sei sogar größer als die des gesetzten Rechtes und verdränge über das Institut der akquisitiven Verjährung selbst das kaiserliche

50) M o s e r , 2. B. 14. K., S. 561, 573 ff., v. C r a m e r , Systema, S. 300 f. und W N 2, 76, R o e η η b e r g , S. 148 f., auch oben S. 32 Anm. 28. Vgl. ferner E i s e n h a r d t , S. 81 mit Anm. 22, 23 und S. 96. 5 1 ) So im Prozeß Sailer 1550, vgl. W e i t z e l , S. 233, aber auch R o e η η b e r g , S. 147 f., der altes Herkommen als stillschweigenden Verzicht akzeptiert. 5 2 ) Fälle streitiger Begebungen vgl. oben S. 158 ff., 177 f., 181 ff., 194 f. 5 S ) 2. B. 14. K., S. 558. " ) Vgl. M o s e r , 2. B. 14. K., S. 573, B l u m e , Proc. cam., S. 347, 6 t ) Vgl. oben S. 35 ff., 39 f. v. G ö n n e r , Handbuch III, S. 187 f.

Kritik an R K G O 1555 II Tit. 28 § 2

249

Reservatrecht 56 . Der die Verjährung der kaiserlichen Rechte begründende Zeitablauf wird stets auf die Appellation bezogen, auch von den Gegnern 57 der privilegierenden Wirkung der Gewohnheit und vom R K G 5 8 . Diese berufen sich darauf, daß es gerade der Sinn der 1532/55 getroffenen Regelung gewesen sei, die der Appellationszuständigkeit des 1495 geschaffenen neuen Reichsgerichtes entgegenstehenden Gewohnheiten zu beseitigen. Wo das Gesetz ausdrücklich der Bildung und Anerkennung von Gewohnheitsrecht entgegenstehe, könne sich solches weder bilden noch könne es beibehalten werden. Diese Argumentation geht von der Einheit von Appellation und Urteilsschelte aus. Sie ist am RKG seit den Leitentscheidungen Kleytz/Hagedorn (Münster 1530/32) 59 und Sailer/Sailers Gläubiger (Würzburg 1551) 60 gefestigte Rechtsprechung, deren man sich auch bei den landesherrlichen Juristen teils aufgrund mündlicher Überlieferung 61, teils aus der Literatur ( M y n s i n g e r , G a i l , R o d i η g , Gebrüder K o c h 6 2 ) bewußt ist. Gesetzlich ungeklärt blieb aber auch die Frage nach der Fortgeltung der Appellationsprivilegien der Goldenen Bulle es , ferner die nach dem Verhältnis von alten landesherrlichen Privilegien, die ausschließliche Gerichtsstände ihrer Untertanen anerkannten 64, zu der Neuregelung 65 . Letztere konnten nur — ebenso wie Gewohnheiten — unbeachtlich sein. Neben dem freiwilligen Verzicht und dem rechtmäßigen Privileg erkennt die RKGO keine weiteren Rechtfertigungsgründe an. Die Wendung , . . . auch sonst von Rechts wegen . . b e s c h r e i b t nur die bei-

5e ) Zu diesen Rechtsfragen vgl. des Näheren W e i t z e l , S. 226 ff., 239 f. anhand des Falles Sailer und eines weiteren von M e i c h s η e r , III S. 950 ff. übermittelten Falles aus dem Jahre 1585. " ) Vgl. W e i t z e l , a.a.O. anhand des Falles Sailer sowie das von dem ostfriesischen RKG-Advokaten G e o r g Brunner 1566 den Grafen von Ostfriesland erstattete .Rechtlich Bedendcen über die Frage: Ob die Herrn Grafen zu Ost-Friessland das Privilegium haben, daß von Ihren Urtheilen an das Kayserliche Cammer-Geridit nicht appelliret werden könne?', abgedruckt bei B r e n n e y s e n , I S . 252 ff., dazu audi oben S. 191 f. 5e ) Vgl. oben S. 245. 5 ») Vgl. oben S. 186 ff. »») Vgl. oben S. 212 und W e i t z e l , S. 217 f. el ) So etwa B r u n n e r in § 6 seines Gutachtens, vgl. oben S. 191. e " ) Vgl. W e i t z e l , S. 217 Anm. 20. ») Vgl. oben S. 87 ff., 135. M ) Vgl. S t ö 1 ζ e 1, II S. 178, 253 f., auch oben S. 164 f. (Bayern und S. 180 f. (Jülich-Berg). ·«) So bereits S t ö 1 ζ e 1, II S. 117 f.

250

Gesetzliche Gegenmaßnahmen

den voraufgehend genannten Ausnahmen ββ . In bezug auf eine generalklauselartige Umschreibung auch anderer Rechtfertigungsgründe finden sich äußerlich geringfügig erscheinende, sachlich aber recht bedeutsame Varianten in der Formulierung der Vorschrift. Das (ständische) Reichsgutachten stellte andere unbeschriebene Rechtsgründe gleichwertig neben das Privileg und den Verzicht ( , . . . o d e r sonst von Rechts wegen . . . ' ) 6 7 . Daraus machte die endgültige (wohl kaiserlidie) Fassung von 1532 das auf Privileg und Verzicht bezogene . . a u c h sonst von Rechts wegen . . D i e s e s wiederum verändert seinen Sinn je nachdem wie man in dem die Ausnahmen regelnden Satz (,Es wäre denn . . . , daß . . . ' ) die Beistriche setzt 68 .

··) Für ein gegenteiliges Verständnis habe idi keine Anhaltspunkte finden können. Selbst im Fall Sailer wird das Gewohnheitsrecht nicht als eine dritte Möglichkeit, sondern als ein Unterfall der Privilegierung verstanden. Vgl. hierzu S c h w a r t ζ , S. 90, W e i t ζ e 1, S. 228 f., auch oben S. 39. •7) Vgl. oben S. 242. ®8) Die Fassung 1532, vgl. oben S. 242, setzt vor .auch sonst' keinen Beistrich, die von 1555, vgl. oben S. 26, tut es (Text jeweils nadi NSRA).

Dritter Absdinitt

DIE

APPELLATIONSBEHINDERUNGEN

Α. M I S S B R A U C H D E S A P P E L L A T I O N S VERFAHRENS

I. E i n s e i t i g e s E i n f ü h r e n und B e r e c h n e n d e r Α ρ ρ e 11 a t i ο η s s u m m e Appellationssummen 1 von zumeist 20 fi. finden sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in territorialen Gerichtsordnungen 2 . Sie regeln die Zulässigkeit der Appellation an die Hofgerichte und schneiden damit zugleich den Instanzenweg zum Reichsgericht ab. Diese Regelungen blieben auch nach 1495 bestehen und enthielten, da die RKG bis 1521 Appellationen ohne Beschränkung nach der Höhe der Beschwer zuließ 3 , der Sache nach Appellationsverbote. Sie sind jedoch nicht als solche verstanden worden, da bei diesen geringen Beträgen „die Rechtswohltat die Rechtsbeschränkung überwog" 4. Diese Rechtsauffassung änderte sich erst mit der Einführung einer allgemeinen reichsrechtlichen Appellationssumme. Das Fehlen einer Appellationssumme in der RKGO 1495 zeigt, wie wenig zutreffend die Zeitgenossen die Auswirkungen einer überwiegend von gelehrten Juristen getragenen, institutionalisierten und beständig arbeitenden Reichsgerichtsbarkeit einzuschätzen vermochten. Nicht wenige der Fürsten dürften auch darauf vertraut haben, daß es dem neuen Gericht nicht besser ergehen werde, als es dem alten ergangen war. Als die Klagen über den mutwilligen und übermäßigen Gebrauch des Rechtsmittels nicht mehr abrissen 5, setzten sich nicht Vgl. oben S. 34 mit Anm. 37. ή Vgl. B e n d e r , S. 40 ff., 89, 99 (Kurpfalz, auch Worms und Württemberg), O t t e , S. 115 ff. (Kurmainz), audi S c h l o s s e r , S. 30 mit Anm. 87 und Ο ρ e t , S. 1 ff., 15 zur unklaren Entstehungsgeschichte des Instituts. ») Vgl. oben S. 34 Anm. 37. *) So B e n d e r , S. 117 f., vgl. aber audi O t t e , S. 115. «) Vgl. G a i l , S. 461 f., 558, RKGO 1555 II Tit. XXVIII § 3 (CJC S. 167), Ρ e r e 1 s , S. 132 f. (Klagen des Kurfürsten von Brandenburg im Antrag für das Privileg von 1586), H a r ρ ρ r e c h t , VI S. 33, L ο η d o r ρ , VI S. 946 f., VII S. 410 ff., 666 ff., ν. M e i e r n , II Buch 9, S. 150 f., 230 ff., Buch 10, S. 189 ff. (Gutachten in Vorbereitung des Reidistages von 1654), RA 1654 § 120 (NSRA III, S. 662). Diese Klagen sind sicherlich zu einem guten Teil reine Zweckpropaganda, dodi kann ihnen zumindest angesichts verschiedener Mißstände

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Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbrauch

nur die Landesherren und Landstände, sondern auch die Visitationskommissionen und das RKG selbst für die Einführung und schrittweise Erhöhung einer allgemeinen Appellationssumme ein 6. Angesichts der ohnehin bestehenden Überlastung des RKG handelte es sidi hierbei um sinnvolle und angemessene Bemühungen. Das RKG stellte bei der Berechnung der Appellations- und Privilegiensummen auf den Münzfuß des jeweils betroffenen Territoriums ab 7 . Damit trug es dem Fehlen einer einheitlichen Reichswährung Rechnung. Zweifelsfragen ergaben sich immer wieder daraus, ob Nebenansprüche (Zinsen, Nutzungen und ähnliches) noch zur Appellationssumme zu rechnen seien 8 . Streitigkeiten über solche Berechnungsmodalitäten waren deshalb nicht selten, dodi bestehen keine Anhaltspunkte 9 für einen gezielten und generellen Einsatz unzutreffender Berechnungen gegen das Institut der Appellation ans RKG 10. Eine Klage der Landstände von Jülich, Cleve und Berg 1654 und Anweisungen zur Handhabung des brandenburg-preußischen Privilegs von 1702 1 1 können sehr wohl als Ausnahmeerscheinungen verstanden werden. In den rheinischen Besitzungen war Brandenburg dazu übergegangen, einheitliche Prozesse in mehrere Verfahren aufzuspalten, um so den Streitwert zu senken. Die Landstände fordern nämlich, „ . . . daß hinführe in fraudem desselben 12 die Hauptsache nit mehr gefährlicher Weiß vertheilt" des 16. Jahrhunderts — vgl. etwa oben S. 174 f. — eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden. ·) Vgl. H a r p p r e c h t , V I S . 108, 421 f., H e r m a n n B e c k e r , S. 86, audi oben S. 34 mit Anm. 37, S. 36 f. 7 ) Vgl. B a l e m a n n , S. 259, 455 f., Ρ e r e 1 s , S. 6. 8 ) R o e n n b e r g , S. 23 ff., P e r e l s , S. 3 Anm. 1 und S. 42, M o s e r , 2. Β. 14. Κ., S. 558 f., Β a 1 e m a η η , S. 83. Vgl. audi ZPO §§ 1 ff. sowie die einschlägigen Bestimmungen im GVG. ·) Dieses Urteil beruht auf dem allgemeinen Einblick in Literatur und Quellen des Kameralrechtes, nidit auf gezielten Nachforschungen zu diesem sicherlich zweitrangigen Aspekt. Konkrete Aussagen zu solchen Sachverhalten lassen sich in der Literatur nicht finden. Allgemein zum Mißbrauch des Verfahrens äußert sich v. G ö n n e r , Handbudi III, S. 33 f. 10 ) Zu Einzelfällen vgl. P e r e l s , S. 6 mit Beispielen aus den Jahren 1658 und 1693, ferner A d e r s - R i c h t e r i η g , II S. 297 Nr. 5115 (Paderborn 1701) und S. 367 Nr. 5602 (Münster 1617). " ) Vgl. oben S. 139 f. 12 ) Das ist ein von Maximilian II. 1566 bis zu 600 fl. erteiltes Appellationsprivileg.

Appellationssolemnien

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werden solle 1S . Die Anweisungen zum Appellationsprivileg von 1702 gingen dahin, die vom Privileg geforderte Hauptsumme ( = anfänglicher Streitwert) durch die Beschwer zu ersetzen und den Wert nichtvermögensrechtlicher Streitigkeiten generell als inappellabel anzusehen 14. Uberhaupt sollte der Streitwert möglichst gedrückt werden 15.

II. E i n s e i t i g e s E i n f ü h r e n u n d M i ß b r a u c h von Appellationssolemnien In den Bemühungen um die Eindämmung der ans RKG gerichteten Appellation spielen die sogenannten Appellationssolemnien (Eid, Kaution und Succumbenzgeld) 16 eine bedeutsame Rolle. Die zur Sicherung des Appellaten dienende Kaution ordnet sich dabei noch am leichtesten in unsere Vorstellungen ein. Appellationseid und Succumbenzgeld hingegen werden nur auf dem allgemeineren Hintergrund der Einstellung insbesondere des 16. Jahrhunderts zum Rechtsmittel, vor allem zur Appellation, voll verständlich. Man war weit davon entfernt, das Einlegen eines Rechtsmittels als das selbstverständliche Recht eines jeden Beschwerten anzusehen. Der wohl von G a i 1 1 7 formulierte Satz: „appellatio enim non est inventa, ut sit iniquitatis defensio, sed innocentiae remedium" findet sich mit leichten Abwandlungen allenthalben in der älteren Kameralliteratur 1 8 . Er gibt die Einstellung der Zeitgenossen zur Appellation treffend wieder, die als ein besonderer und nicht zu mißbrauchender Gnadenerweis angesehen wurde. Auf diesem Hintergrund gewinnt die Unzahl an Strafdrohungen gegen frivole Appellationen 19 eben-

13

) So nach M o s e r , 1. B. 6. K., S. 201, vgl. audi oben S. 139 f. ) Zu den das Privileg von 1702 betreffenden Anordnungen vgl. F ö r s t e m a n n , S. 13 ff. 1S ) Hinsichtlich der Chancen und Bedingungen einer soldien Justizpolitik vgl. auch oben S. 246 mit Anm. 44. '·) Vgl. dazu bereits oben S. 37 f. mit Anm. 52—55. ") S. 558 (observatio CLII Ziff. 1—9). ") Vgl. M e u r e r , Practica Bl. 171 Rückseite, G y l m a n n , IV S. 8, 317, B l u m e , Processus, S. 345, G o b i e r , Bl. LXVI, K. S c h m i d , S. 178 f. im Zusammenhang mit Ausführungen zum Begriff der frevelhaften Appellation. ") Vgl. H a r p p r e c h t , VI S. 33; RKGO 1555 II Tit. 28 § 3 (NSRA III, S. 104); COC II Tit. 31 § 2 (bei B l u m e , Concept, S. 193, audi CJC ,4

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Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbraudi

so die notwendige Anschaulichkeit wie die vielen Klagen über das allzu häufige Einlegen des Rechtsmittels 20. Kennzeichnend ist auch die weitere Bemerkung G a i 1 s , daß dem Richter durch das Einlegen der Appellation kein Unrecht (iniuria) geschehe 21 . Man hing im Innersten offenbar noch stark an deutschen Rechtsvorstellungen, die den Angriff auf ein Urteil als ehrenrührige Ausnahmeerscheinung abgestempelt hatten. Vor dem iudex a quo abzuleistende Appellationssolemnien werden in Privilegien, Gerichtsordnungen und Statuten, mit und ohne kaiserliche Genehmigung angeordnet 22 . Gerade Appellationsprivilegien der Frühzeit enthalten ausschließlich die Genehmigung zur Abnahme von Eid und Kaution 23 . Gleichwohl ist die Anordnung ebenderselben Maßnahmen audi durch die Landesherren dem 16. und 17. Jahrhundert nicht zum Problem geworden. RKGO 1555 II Tit. X X I X §6 24 stellt Privilegien sowie ,andere Gebräuch und Gewohnheiten' insoweit ohne Unterschied nebeneinander. Die Vorschrift sieht vielmehr das Wissen um die Privilegien und Gebräuche

S. 694); F a b r i c i u s , S. 1282; J R A §§ 119, 120 (NSRA III, S. 662); E s t o r , S. 533 f.; audi oben S. 33 mit Anm. 32, S. 256 mit Anm. 2. Entsprechend wurden aber auch die Prozeßkosten gegeneinander aufgehoben, wenn der Kläger eine iusta causa litigandi gehabt hatte und gleichwohl unterlegen war. Als iusta causa galt es etwa, wenn die Partei die Gutachten zweier bekannter Doktoren oder ein zusprechendes Vorurteil für sich hatte. Vgl. hierzu G a i l , S. 556 ff. (observatio CLII Ziff. 3 und 6), K. S c h m i d , S. 178 f. 20 ) Vgl. oben Anm. 5. 21 ) S. 522; dem ähneln nodi die das 18. Jahrhundert betreffenden Ausführungen S c h i c k s , S. 87 verblüffend. 22 ) Vgl. etwa das Privileg für Kurtrier vom 23. November 1562 ( H o n t h e i m , II S. 877 ff., 879), die H G O Wolfenbüttel von 1556 ( S t ö l z e l , II S. 162), das Lübecker Stadtredit von 1586 (Der Kayserlidien Stadt Lübeck Statuta, S. 189), das Badische Landredit von 1622/1654 II Tit. 36 §§ 4 und 5 ( R e u ß , Staatskanzlei XVI. Teil, S. 5), sowie E s t o r , S. 527 ff., B l u m e , Processus, S. 349 f. 23 Vgl. oben S. 36 Anm. 43, S. 37f., S. 125 mit Anm. 358. E i s e n h a r d t , privilegia, S. 3 will diese Freiheiten nicht zu „den eigentlichen Appellationsprivilegien" zählen, da sie den Rechtszug nicht „überhaupt ausschlossen". Das ändert jedoch nichts daran, daß sie als Appellationsprivilegien verstanden und auch vergeben worden sind. Entscheidend ist allein die spezialgesetzliche Erschwerung über die an eine Appellation allgemein gestellten Anforderungen hinaus. Nodi in dem der Stadt Bremen 1554 für die Abnahme von Eid und Kaution in Sachen über 600 fl. erteilten Privileg ( G y 1 m a η η , VI S. 121 f.) heißt es, der Kaiser habe „besondere Gnad gethan und Freyheit gegeben". Vgl. ferner v. C r a m e r , W N 2, S. 73. 24 ) NSRA III, S. 105, audi S c h w a r t ζ , S. 91.

Appellationssolemnien

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als entscheidend an. Bei Unkenntnis der Parteien sollen ,dieselbige ihnen an ihren Appellationen keine Verhinderung bringen' 25 . Entsprechend bejaht M y n s i n g e r die Zulässigkeit einschlägiger Anordnungen der Landesherren 26. Andere zeitgenössische Autoren konstatieren den Sachverhalt, ohne auf die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen einzugehen 27 . Die RKGOen kennen den Kalumnieneid als eine Formalie des Verfahrens am Reichsgericht von Anfang an, jedoch immer nur für besondere Fälle sowie auf Begehren einer Partei 28 . Erst JRA §§ 43, 117, 118 29 führen den Appellationseid als allgemeine Formalie am RKG ein. Im wesentlichen sind es diese Vorschriften s0 , auf die sich die insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts völlig herrschende Meinung 31 von der Unrechtmäßigkeit landesherrlich verordneter Appellationsformalien stützt. Selbst der JRA ist aber anfänglich nicht in diesem Sinne verstanden worden, obwohl §§ 117, 118 ausschließlich von Privilegien sprechen. Zu der durch Gemeinen Bescheid vom 25. August 1656 vorgeschriebenen formula mandati specialis ad praestandum Juramentum calumniae de non frivole appellando wurde erläuternd hinzugefügt, der Eid sei vor dem RKG zu leisten, ,wofern nicht ein Privilegium,

25 ) Welche Anforderungen dabei an das Wissen um die Freiheiten gestellt wurden, ist aus der Vorschrift selbst nicht ersichtlich. Zur Materie der Appellationsformalien einschlägige RKG-Voten aus den Jahren 1594/95 finden sich bei Κ 1 o c k , S. 646 ff. R o d i η g , S. 428 dürfte die Rechtslage für das 16. Jahrhundert im Sinne einer späteren Auffassung mißverstehen, wenn er schreibt, „olim quidem Juramenta de non appellando frivole Appellantibus non incumbebant, nisi forte ex privilegio loci, a quo appellabatur". se ) S. 220 (cent. III obs. LVI), entsprechend noch (besser: wieder) T h o rn a s i u s , De . . . potestate, S. 30 f. (§§ 48 und 49). " ) Vgl. G a i l , S. 451, M e u r e r , Bl. C X X X I I I . îe ) Vgl. R K G O 1495 § 10 ( Z e u m e r , II S. 286), RKG 1555 III Tit. X X X I I § 6 (NSRA III, S. 123). !Q ) NSRA III, S. 649 f. — Zu den vorbereitenden Überlegungen der Frankfurter Reichsjustizdeputation von 1643/44 vgl. v. M e i e r n , II 9. Buch, S. 150, 234 f. ">) Daneben werden noch RA 1532 III § 12 und RA 1570 § 70 genannt, die als Ausdruck des allgemeinen kaiserlichen Reservatrechtes für die spezielle Frage der Appellationsformalien gegenüber R K G O 1555 II Tit. X X I X § 6 zurückstehen müssen. 31 ) Vgl. S c h i c k , S. 90 ff., 94 ff., R e u ß , Staatskanzley, XVI. Teil, S. 10 ff., E s t o r , S. 528, B l u m e , Processus, S. 395, M o s e r , 2. B. 14. K., S. 586, v. C r a m e r , Systema, S. 292, 327 f., ders., W N 2, S. 73, v. L u d o l f , Commentatio, S. 170 f., R o d i n g , S. 408, 428 f., J ä g e r , S. 105 ff. — Die Beratungen der Frankfurter Reichsjustizdeputation — vgl. oben Anm.

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Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbrauch

Statutum oder Herbringen, daß vor dem Richter a quo es besdiehen solle, erfordert' 32. Erst die zunehmende Neigung kleiner und mittlerer Territorialherren zur Behinderung der Appellation ließ die Reichsjustiz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem geschärften Abwehrkampf auch gegen einseitig festgesetzte Appellationsformalien antreten. Die aufgezeigte Entwicklung soll anhand einiger konkreter Ereignisse belegt und veranschaulicht werden. Der von Paul de Schamps, Bürger zu Münster, in den Jahren 1590 bis 1595 am RKG gegen Bürgermeister und Rat dieser Stadt geführte Reichtsstreit 33 zeigt, daß zumindest landesherrlich verordnete Succumbenzgelder schon im 16. Jahrhundert als Appellationsbehinderungen empfunden werden konnten. De Schamps hatte in den Jahren 1565 zusammen mit anderen Teilhabern, darunter einem weiteren Münsteraner namens Johann Grüter, zu Antwerpen eine Handelsgesellschaft betrieben 34 . Als Grüter starb, kam es ab 1574 im Rahmen der Liquidation der Gesellschaft zu Prozessen unter anderem mit Grüters Erben S5. Sie fanden vor dem Rat zu Münster statt. In einer Sache mit einem Streitwert von rund 1000 fl. appellierte de Schamps, nachdem er in Münster unterlegen war, ans R K G 3 e . Von dort ergingen Ladung und Kompulsoriale, doch wurde die Appellation nach einiger Zeit als desert abgewiesen. Der Appellant hatte die Akten des Vorprozesses nicht beigebracht. Nach seinem späteren Vorbringen hatte man die Herausgabe abgelehnt, weil er sich weigerte, das in Münster übliche Succumbenzgeld zu hinterlegen 27 . Nach der Zurückweisung der Appellation am RKG lassen Bürgermeister und Rat de Schamps durdi den Stadtkämmerer auffordern, den zehnten Pfennig der Streitsumme, also 100 fl., wegen frivoler Appellation zu zahlen 38 . Sie

29 — erwähnen die Möglichkeiten der Anordnung eines Appellationseides durch Statut nicht. 32 ) Der Gemeine Bescheid ist abgedruckt bei Z w i r l e i n , Concept, S. 345 als Anhang zu C O C III Tit. 38 § 16, ferner im CJC S. 741. s3 ) StA Münster RKG S 1097 = A d e r s - R i c h t e r i η g , II S. 282 Nr. 5010. 34 ) Vgl. A d e r s - R i c h t e r i n g , II S. 282 f. zu Nr. 5007, 5008, 5009, 5011, audi S 1097 qdr. 3. 35 ) Vgl. die in Anm. 34 genannten Prozesse. se ) Es handelt sich um das Verfahren StA Münster RKG S 1102 = A d e r s R i c h t e r i η g , II S. 282 Nr. 5009. « ) S 1097 qdr. 5. se ) S 1097 qdr. 3.

Appellationssolemnien

259

berufen sich dabei auf die Polizeiordnung der Stadt, die im Abschnitt ,Von Testamenten und letzten Willen' in Kapitel 6 wie folgt lautet: ,Wu anerst die guettere mehr dan anderthalb hundert Gulden werdt, so sol dat vortheill der Appellation niemandt abgeschnitten sein, dodi mit dem anhange und besdieide, daß so vernen sich in außdradit der sachen erfinden werde, und das ohne weiter mere inbringendt und beweis, dat von uns wol erkandt, und ubell appellert, daß Er, der Appellant, Uns zu behelffen dieser Stadt, alsdann von jedem hundert gulden werdet der strittigen guetter zehen gulden zu geben pflichtig seyn sol, und daß aus des Ursachen, damit die moitwillige und unnottige appellationes und gult sdilitterunge so viel megelidi verhuetet werden mugen, und die Armen in weitläuffige Reditsläufte ohne begründete Ursadie nicht getragen und umb das Irige gebracht werden' s i . ,Da aber Jemandt unserer Burgere . . . vonn Unseren endtlidien erkenntnissen, dar die haubt-Summa zwei hundert und mehr goldtgulden werdt, ahn das Kay. Cammergericht appellieren und folgentz solcher Appellation halb unterliggen und nicht bestehen wurde, so soll es damit gehalten werden wie oben ihn dieser Unser Ordnungh davon gemeldet' 4 0 .

De S champs zeigt daraufhin dem Rat schriftlich an, daß jedermann zu appellieren zugelassen sei und er deshalb nicht gestraft werden könne. Gleichwohl läßt der Rat das Succumbenzgeld mit einer Pfändung beitreiben. Hiergegen beruft sich de Schamps de nullitate 1590 ans RKG « . Obwohl gegen niemand ohne richterlidie Erkenntnis vollstreckt werden dürfe, hätten die von Münster doch den zehnten Pfennig gepfändet. Die Polizeiordnung sei auch ,niemall in iuridi observantia gewesen, cum statutum prohibens Appellationem vel per impositionem poenae eam coarctans non subsitat ex eo quod contra ius superioris disponat' 42 .

Schließlich greife die Vorschrift nur dann ein, wenn am RKG der Ausspruch ,bene iudicatum, male appellatum' ergehe. In seinem Fall sei dies aber nicht festgestellt worden, weil die Appellation als desert zurückgewiesen worden sei. Audi dafür treffe im übrigen den Rat die Schuld, da er ihm die Akten nicht herausgegeben habe 43. *») S 1097 qdr. 5 und 8. 40 ) Beilage 1 zu S 1097 qdr. 10. — Zum Verständnis der Regelung: die Summe von 150 fl. ist die allgemeine Appellationssumme, die von 200 fl. ist der Streitwert nadi einem Münster 1561 erteilten Appellationsprivileg, vgl. dazu A d e r s - R i c h t e r i η g , II S. 114, oben S. 37 mit Anm. 49. 41 ) S 1097 qdr. 3. 42 ) S 1097 qdr. 1. 4S ) S 1097 qdr. 1, 3, 7.

260

Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbrauch

De Schamps will damit bereits 1590 die Grundsätze der ausschließlich kaiserlichen Verfügungsmacht über die Appellation ans R K G auch auf die Appellationssolemnien angewandt sehen 4 4 . Er beruft sich auf M y n s i n g e r cent. I obs. X I V 4 5 . Die Stadt widerspricht. Was „ex M y n s i n g e r " zitiert werde, sei nicht erheblich, ,weil sich nit

findet,

daß mens statuentium

gewesen,

contra

ius

superioris

ettwaß zu statuiren, sondern viel mehr, daß sie in uffrichtung des Statuts allein dahin gesehen, ut malitia temere li-appellantium refrenaretur et metu poenae temeritas adversarium malitiose nexandi cohiberetur'

Die Tendenz gegen frivole Appellationen sei aus der Ordnung klar zu erkennen. Deren Verbindlichkeit für den Appellanten ergebe sich aber daraus, daß er mit dem Bürgereid gelobt habe, die Statuten, Gesetze, Verordnungen, Ge- und Verbote der Stadt zu achten 4 7 . Das im Rechtsstreit de Schamps gegen Münster möglicherweise ergangene Endurteil ist nicht bekannt 4 8 . Der Fall ist, soweit ersichtlich, der einzige, in dem vor der Mitte des 18. Jahrhunderts die Unverbindlidikeit des landesherrlich festgesetzten Succumbenzgeldes behauptet worden ist. De Schamps dürfte mit seiner Auffassung auch am R K G nicht durchgedrungen sein. Offenbar stellten landesherrlich verordnete Solemnien nach den Vorstellungen einer Zeit, die sich fortwährend über mutwillige und frivole Appellationen beschwerte, keine ungebührliche Beeinträchtigung des kaiserlichen Reservatrechtes dar. Der Rat von Münster befindet sich mit seiner Argumentation im Einklang mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein seiner Z e i t 4 9 . In einem weiteren aus den Liquidationsprozessen der Antwerpener Handelsgesellschaft entstandenen Rechtsstreit

4 4 ) Das ist der entscheidende Gesichtspunkt, unter dem er die Zahlung de» Succumbenzgeldes ablehnt. Alle anderen Argumente stehen auf sdiwadien Füßen. 4 ä ) Vgl. oben S. 1 Anm. 3. Cent. III obs. L V I — vgl. oben Anm. 26 — bleibt unerwähnt. 4 «) S 1097 qdr. 5, 10. 4 7 ) Der Wortlaut des Bürgereides wird als Beilage 2 zu qdr. 10 dem R K G eingereidit. 4 e ) In dem Urteilsbuch Johann Adam Mörders — vgl. oben S. 19 Anm. 59 — sind die Prozesse de Schamps nicht verzeidmet. 4 β ) Dieses schätzt audi M o s e r , 1. B. 6. K., S. 233 betreffend pommersdie Maßnahmen des Jahres 1614 entsprechend ein.

Appellationssolemnien

261

ist dies allerdings nicht mehr der Fall. Der Ratssekretär der Stadt behauptete in einem gegen de Schamps geführten Iniurienprozeß noch 159 1 50, die Appellation ans RKG könne durch städtische Statuten aufgehoben werden. De Schamps hatte den Sekretär, einen Magister Johann Pagenstecher, der Parteilichkeit in seinen Prozessen gegen Grüters Erben bezichtigt und war in dem gegen ihn angestrengten Iniurienverfahren unterlegen. Er appellierte ans R K G 5 1 . Pagenstecher bestritt die Zuständigkeit des Reichsgerichtes für Schmähund Iniuriensachen nicht nur mit dem Hinweis auf einschlägige Bestimmungen der bereits erwähnten Polizeiordnung 52, die sich ihrerseits auf das Privileg von 1561 bezieht, und auf RKGO 1555 II Tit. 28 53, sondern auch mit der Behauptung, ,quod omnis Appello statuto possit removeri' 54. Der Fall Hagedorn 5 5 hatte also kaum zu einer grundlegenden Verbesserung der Verhältnisse geführt. Leider kann auch in der Appellationssache de Schamps gegen Pagenstecher eine Entscheidung des RKG nicht nachgewiesen werden. Den gezielten Einsatz der Appellationssolemnien nicht gegen frivole Appellationen, sondern gegen die Reichsjustiz belegen für Brandenburg Ausführungen eines Gutachtens der Räte vom 26. Februar 1687: „Wollte nun jemand spretis hisce remediis 5 6 dennoch lieber nadi Speyer oder an den Reichshofrat appelliren, der müßte vorher einen wohlgeschärften Appellationseid nebenst seinem Advokaten ablegen, auch in casum succumbentiae mit einer ansehnlidien Summe caviren, so etwa decima litis sein könnte, welches also einzuführen Sr. Kurf. Durdil. . . . von niemand verwehret werden mag" 67 .

Voraufgegangen war im Jahre 1685 der vergebliche Versuch Brandenburgs, für alle nicht zur Kur gehörenden Lande ein iiiimitiertes Privileg zu erlangen 58. 50

) Vgl. oben S. 186 ff., 188 f. ) Akte StA Münster RKG S 1098 = A d e r s - R i c h t e r i n g , II S. 283 Nr. 5012. 62 ) S 1098 qdr. 5 zitiert Kapitel 6 § 16 des Titels ,Von Testamenten und letzten Willen'. " ) Danach sind Iniuriensadien allerdings appellabel (§ 4). Pagenstedier meinte wohl, es handele sich um eine peinliche Sache, die nach § 5 nicht zur Appellation tauge. " ) S 1098 qdr. 5 unter Berufung auf Β a 1 d u s und D e c i u s. 55 ) Vgl. oben S. 186 ff. M ) Gemeint sind die Revision, die Oberleuteratio und die Aktenversendung. " ) So nach Ρ e r e 1 s , S. 39 mit Anm. 1. 58 ) Vgl. oben S. 141. 51

262

Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbraudi

Aus der Vielzahl der nach 1750 zu verzeichnenden Beanstandungen einseitig festgesetzter Appellationssolemnien können nur einige erwähnt werden. Um 1770 ging der Reichsfiskal gegen NassauSiegen wegen neuerlich eingeführter Succumbenzgelder v o r 5 9 . Ein kaiserliches Reskript in Sachen von der Lühe gegen Boge rügte den Herzog von Mecklenburg, daß sich seine Justizkanzlei angemaßt habe, in ,casum succumbentiae' eine Strafe vorzubehalten. Dies sei ,contra libertatem provocandi ad summa Imperii Tribunalia', weshalb er diesen Mißstand abstellen solle e o . Ein weiteres Glied in dieser Kette stellt die Auseinandersetzung um das Badische Landrecht von 1622/1654 dar. Es wurde nach rund einhundertundfünfzigjähriger Geltung 1786 auch deshalb zum Gegenstand eines Fiskalprozesses gegen den Markgrafen, weil es in Appellationsstreitigkeiten zwischen Auswärtigen und Landesangehörigen Kalumnieneid, Kaution und ein Succumbenzgeld von 3 fl. vorschrieb β 1 . Aus den Jahren 1798/1800 stammen die von S c h i c k überlieferten Vorstellungen des R K G gegenüber den Reichsrittern von Gemmingen wegen Appellationseides und Kaution in Höhe von 25 fl. 6 2 sowie gegenüber den Grafen von Bentheim-Steinfurth wegen Einführung eines Succumbenzgeldes 6 3 . Das R K G forderte in diesen Fällen Bericht an und drohte mit fiskalischer Ahndung, sofern die mißbilligten Anordnungen nicht zurückgenommen würden. Offenbar geschah dies — wie auch in den anderen Fällen — durchweg mit Erfolg. Audi der Mißbrauch kaiserlich genehmigter Appellationssolemnien spielte ein Rolle. „Ob Status Imperii eine gewisse geraume Zeit ad praestandum Solemnia Appellationis in Privilegio Caesareo Requisita per Ordinationem Generalem festsetzen können?"

untersucht v. C r a m e r 6 4 . In der Sadie von der Planitz gegen Streithorst war von den Richtern der Vorinstanz, der Herzoglich Wolfenbütteischen Regierung, beim R K G die ,Exceptio Desertionis ) Vgl. v. C r a m e r , W N 2, S. 73. ) M o s e r , 2. B. 14. K., S. 295. e l ) Vgl. dazu R e u ß , Staatskanzley X V I . Teil, S. 10 ff., S c h i c k , S. 90 ff., Badisdies Landredn, Druck Durladi 1710, S. 99 f. ( = II Tit. 36 §§ 2 und 3), ferner oben S. 155 ff. • 2 ) S. 92 f. Anm. b, S. 202 f. e s ) S. 92 f. Anm. b, S. 203 f. ° 4 ) Wetzlarisdie Beyträge II, S. 10—14. 59 60

Appellationssolemnien

263

ac neglectus praestationis Solennium' eingewendet worden. Da es unstreitig war, daß das wolfenbüttelsche Appellationsprivileg Eid und Kaution vorsah, kam es darauf an, ob die appellantische Partei oder die Richter die Schuld an der Nichtleistung des Eides trügen. Die Appellantin behauptete, sie habe sich zum Ableisten des Eides gemeldet, sei aber nicht vorgeladen worden. Es ergab sich, daß die wolfenbüttelsche Regierung eine Frist von vier Wochen festgesetzt hatte, binnen deren der Eid in einem vom Gericht auf Antrag des Anwalts des Appellanten hin festzusetzenden Termin zu leisten war. Diesen Antrag hatte der Anwalt nicht gestellt. Die Appellation war desert, da das RKG die Ausgestaltung des Verfahrens, in dem der Eid zu erbringen war, als rechtens anerkannte. Einen Fall nicht nur streitiger, sondern vom RKG als rechtswidrig qualifizierter Erschwerung der Appellation im Zusammenhang mit dem Ableisten des Appellationseides teilt v. C r a m e r 6 5 aus der Zeit um 1750 unter der Uberschrift „Wie mandimalen Unter-Richter, an die von den Höchsten Reichs-Gerichten Schreiben um Bericht ergangen occasione solemnium Appellationis, und derentwegen erstatteten Vorberichts denen Partheien das Appelliren zu erschwehren trachten, und was für Mittel dagegen zu gebrauchen?"

mit. Der Magistrat von Reutlingen hatte am RKG vortragen lassen, der Appellant habe sich trotz Vorladung geweigert, den Appellationseid und eine Kaution zu leisten. In Wahrheit war der Appellant erst kurz vor Ablauf der Frist geladen worden und hatte den Eid in einer dem Privileg nicht entsprechenden Fassung erbringen sollen, nach der er mit seinem gesamten Vermögen Kaution geleistet hätte. Gegen diese Zumutung gab er eine Deklaration ein und stellte die Entscheidung dem RKG anheim. Der Magistrat entschuldigte sich damit, er sei davon ausgegangen, der Appellant könne den Eid ohnehin nicht guten Gewissen schwören. Das RKG erkannte in contumaciam non informantis den Prozeß (der Rat war den Bericht in der Hauptsache schuldig geblieben), nahm die solennia ad salvandum Privilegium pro praestitis an und erstreckte die Fristen auf zwei Monate. Damit war der Taktik der Rechtsverzögerung durch schleppende Berichtsschreiben jeweils zu einem anderen streitigen Punkt der Boden entzogen. Die Gründe für das bedenkliche Vorgehen des Maeä ) Wetzlarische Beyträge I, S. 12—17 (Vogelwaid/Rentzen und Stadt Reutlingen).

264

Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbrauch

gistrates der Stadt Reutlingen formuliert v. C r a m e r wie folgt: „Wie diese seine Intention in substrato casu wahrscheinlich darab sich ergäbe, daß er seine Unzufriedenheit darüber bezeigte, daß gegenwärtiger Appellant der erste seye, der nach Verlegung der Cammer nach Wetzlar sidi durdi seiner ordentlichen Obrigkeit Rechts-Sprüche nicht ersättigen lassen möge".

III.

M i ß a c h t u n g von SuspensivDevolutiveffekt

und

Die einfachste Art und Weise, einer eingelegten Appellation jede Wirkung zu nehmen, bestand darin, unter Mißachtung von Devolutivund Suspensiveffekt 66 die Vollstreckung des vorinstanzlichen Urteils zu betreiben. Im Zusammenhang mit Appellationsverboten finden sich deshalb regelmäßig Attentate 67 als Nebenwirkungen. Unzulässige Veränderungen des Streitstandes können aber auch selbständig als Appellationsbehinderung in Erscheinung treten. In diesen Fällen wird lediglich der Suspensiveffekt des Rechtsmittels beseitigt, um die aus der Langwierigkeit des reichsgerichtlichen Verfahrens entstehenden Unzuträglichkeiten 68 auszuschließen. Gegenstand solcher Maßnahmen sind zumeist Streitigkeiten um Besitzverhältnisse, Iniurienprozesse, Arreste und sogenannte offenbare Schuldsachen, bei denen sich die Rechtsverzögerung besonders nachteilig auswirkte. Nicht umsonst sind diese und ähnliche Materien auch des öfteren in Privilegien von der Appellation sowie in Reichsgesetzen vom Suspensiveffekt ausgenommen ®9. Konnte ein Reichsstand ein einschlägiges Privileg nicht erlangen, so mochte er wohl auf Maßnahmen sinnen, die die vorläufige Vollstreckbarkeit der letzten landesinterenen Entscheidung zur Folge hatten.

" ) Zu diesen Wirkungen von Rechtsmitteln vgl. allgemein W e t ζ e 11, S. 720 ff., 729 ff., G i l l e s , S. 158 ff., 168 Anm. 37, 180 ff., 218 ff., 224, auch unten S. 285 ff. ®7) Zum Begriff und zum sachlichen Zusammenhang vgl. oben S. 52 f f . mit Anm. 3, 5, 16, 17, 18, ferner M. H i n z , Instrument, S. 1 f f . e8 ) Vgl. etwa oben S. 174 f. «9) Vgl. oben S. 37 f.

Suspensiv- und Devolutiveffekt

265

Als ein Beispiel für sicherlich nicht wenige Maßnahmen dieser Art 7 0 soll die Entwicklung in Ostfriesland dargestellt werden. Dort hatte man Ende des 16. Jahrhunderts die Zulässigkeit der Appellation ans RKG anerkannt 71 . Im 17. Jahrhundert kam es dann verschiedentlich zu Appellationsbehinderungen durch Beseitigung des Suspensiveffektes. Sie wurden zwischen den Grafen und ihren Landständen vereinbart. Eine erste einschlägige Vorschrift findet sich im Osterhusischen Vergleich aus dem Jahre 1611 72 . Dort heißt es in Artikel 26: .Niemand soll aus seiner Possession ausser form Rechtens gesetzet werden; Und dasjenige, was in causis possessoriis bey dem Hoff-Geridit ausgesprochen und geurtheilet seyn wird, soll etiam non obstante revisione vel appellatione ad Cameram, exequiret werden'.

Diese Regelung erstreckte der Nordische Landtagssdiluß vom 6. Juli 1620 73 in § 5 auf alle ,Schuld-Forderungen, die I. G. zu den Ständen oder jemand Ihrer thanen oder dieselbe so wol zu I. G. als unter sich gewinnen möchten'.

Unter-

Der ans RKG appellierende verurteilte Schuldner sollte mit der Bezahlung der Schuld ein ,Ius hypothecae in seines Gegentheils Güter' haben. Obwohl die Bestimmung sehr ausgewogen erscheint, wurde angeordnet, daß sie ,dem Kayserl. Cammer-Gericht der Gebühr intimiret und wissend gemacht werde, damit Herrn Hoff-Richter und Assessoren in solchen Sachen deme zuwider mit Inhibitionibus nicht bemühet oder verhindert werden.'

Noch eindeutiger ergeben sich die Bedenken hinsichtlich der Reaktion des RKG aus den vorbereitenden Verhandlungen zu Art. 20 der Staatischen Decision vom 3. Februar 1626 74 . Die Stände, allen voran die Stadt Emden, hielten an der Beseitigung des Suspensiveffektes fest. 70

) S t ö l z e l , II S. 185 weist auf eine allgemeine Tendenz zur Beschränkung des Suspensiveffektes bereits im 16. Jahrhundert hin; vgl. audi oben S. 185 f. (Mecklenburg 1755). 71 ) Vgl. oben S. 189. " ) Abgedruckt bei B r e n n e y s e n , II Buch I, S. 344 ff., 359, vgl. audi C o η r i η g , S. 630 ff. 73 ) Abgedruckt bei B r e n n e y s e n , II Buch II S. 579 ff., 581 f. Nach W i a r d a , IV S. 132 erfolgte der Abschied am 6. Juni 1620. M ) Abgedruckt bei B r e n n e y s e n , II Buch III, S. 599 ff., 609, vgl. ferner M o s e r , 2. B. 14. K., S. 574 f. — Der Osterhusisdie Vergleich und der Landtagsabsdiied von Norden regeln Streitigkeiten zwischen den ostfriesisdien

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Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbrauch

.Falls dennoch in causis possessionis oder liquiden Schuld-Sachen inhibitiones ausgebradit würden, oder in causis possessionis allbereit ausgebracht wären', sollten, ,iis non obstantibus, Hoff-Richter und Assessores mit der Exekution fortfahren lassen und die Landschafft ihnen desfalls Versicherung und Indemnisation praestiren'.

Der Graf bemerkte hierzu, mit dem Vorschlag sei er wohl zufrieden, ,wie aber derselbe zum Effect zu bringen, und es in die Wege zu richten, daß das kayserliche Kammer-Gericht sich auch darnach ridite, keine Inhibitiones ertheile und Hoff-Richter und Assessores nicht zuerst in Geld-Straffe und hernach in Poenam banni fällig erkläre, hoc opus, hie labor est, und stehet zu S. G. und der Stände näherer B e r a t s c h l a g u n g ' 7 5 .

Der genaue Verlauf und die Auswirkungen all dieser Bemühungen ließen sich im Detail nicht feststellen. Insgesamt und auch hinsichtlich der Interventionen des R K G scheinen die Ostfriesen jedoch keine allzu schlechten Erfahrungen gemacht zu haben. Entsprechende Regelungen finden sich nämlich auch in dem großen ostfriesischen Vertragswerk von 1662/63 76 . Sie betreffen insonderheit Besitzstreitigkeiten um Nachlässe 77 und um Moräste 78 . Der Versuch einer umfassenden Beurteilung der sicherlich über Jahrhunderte hin recht häufigen 79 Attentate stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Zunächst läßt sich die Intensität der Erscheinung nur anGrafen und ihren Landständen. Die Staatische Decision ist ein von den Generalstaaten erarbeiteter Vermittlungsvorschlag zu den inneren Streitigkeiten Ostfrieslands. Er ist nur von der Stadt Emden anerkannt worden, entfaltete aber zumindest interimistisch und hinsichtlich einzelner Bestimmungen audi endgültig Wirkungen — vgl. hierzu B r e n n e y s e n , a . a . O . , S. 617, Wiarda, IV S. 240 ff., K ö n i g , S. 477. Ob die hier interessierenden Appellationsregelungen zu den wirksamen Teilen gehörten, mag dahinstehen, da insoweit nur bereits bestehende Bestimmungen wiederholt worden sind. 7S ) Vgl. B r e n n e y s e n , a.a.O., S. 610, audi M o s e r , a.a.O., S. 575. 7C ) Diese Vereinbarung zwischen dem Landesherrn und den Ständen setzt sich aus dem Haagischen Vergleich vom 19. Juni 1662, dem Emder Vergleich vom 18. November 1662 und dem Finalrezeß vom 4. Oktober 1663 zusammen. Vgl. hierzu B r e n n e y s e n , II Buch IV, S. 750—912, W i a r d a , VS. 244 ff., K l o p p , II S. 362 ff., M o s e r , 2. B., S. 569, 575. 7 7 ) Vgl. B r e n n e y s e n , a.a.O., S. 769 f. 7β ) Vgl. B r e n n e y s e n , a.a.O., S. 811, unklar J ä g e r , S. 61. 7 e ) Schon Gobier (1562) Bl. C X X X I Rückseite spricht davon, daß oftmals Attentate vorkommen. Weitere entsprechende Eindrücke vermitteln alle Darstellungen des Kameralprozesses, aber auch die Verzeichnungen von RKGAkten. Schließlich enthalten sowohl die RKGO 1555 II Tit. 31 und III Tit. 31 als auch das C O C II Tit. 34 ( C J C S. 700 ff.) nicht umsonst ausführliche Regelungen der Materie.

Suspensiv- und Devolutiveffekt

267

nähernd abschätzen, zum anderen wurden Attentate durch die verschiedenartigsten Faktoren ausgelöst. Sieht man einmal von den Appellationsverboten ab, so ist ein großer Teil unzulässiger Neuerungen darauf zurückzuführen, daß bei der Fülle der Gerichte und Zuständigkeiten die Instanzbeziehungen unzureichend verfestigt, organisiert und anerkannt waren. Man setzte auch alles daran, diesen Zustand aus politischen Erwägungen beizubehalten. Dies gilt sowohl für einschlägige Auseinandersetzungen innerhalb der Territorien als auch im Verhältnis zur Reichsgerichtsbarkeit 80 . Zwar galt der Satz „appellatone interposita, huius virtute & effectu constituitür provocans in protectione Judicis ad quem, a Jurisdictione Judicis a quo eximitur" 81 , doch konnte der Unterrichter bei gegenteiligem Verhalten nur allzu oft mit dem Einverständnis und nicht mit dispziplinarischen Maßnahmen seines Gerichtsherrn rechnen. Streitigkeiten um Suspensiv- und Devolutiveffekt entstanden ferner aus der komplizierenden Undurchdachtheit des Appellationsverfahrens, das geradezu einlud, dem Appellanten das Rechtsmittel zu vergällen. Erst dann, wenn der Unterrichter Kenntnis davon hatte, daß die Appellation eingelegt worden war, konnten seine Neuerungen als Attentate behandelt werden. D a die Parteien aber gerade dann das Rechtsmittel auswärts einlegten, wenn sie mit Schwierigkeiten rechnen mußten, kam die reichsgerichtliche Inhibition oft zu spät 8 2 . Darüber hinaus war der Suspensiveffekt auch reidisrechtlich in Sonderfällen derart kompliziert eingeschränkt und von besonderen Voraussetzungen abhängig, daß Attentate kaum ausbleiben konnten 8 S . Wie bei den Appellationssolemnien, so sind es auch hinsichtlich der Verstöße gegen Suspensiv- und Devolutiveffekt etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vornehmlich und zahlreich die Entscheidungen der kleinen Gerichtsherren, die vom R K G beanstandet und aufgehoben werden 84 .

eo ) Vgl. oben S. 4 Anm. 11, S. 172 f., 179 f., 186 mit Anm. 647, S. 200, 203, 205, 221 f., 228 f.

) So nach Β e s o 1 d, S. 3Qß.

81

) Vgl. hierzu v. G ö n n e r , Handbuch III, S. 157 f., E s t o r , S. 548 f., W e t ζ e 11, S. 725, audi oben S. 55. 83 ) Vgl. G a i l , S. 523 ff., E s t o r , S. 554 ff., M. H i n z , Instrument, S. 8, auch oben S. 265 mit Anm. 70. M) M o s e r , 2. Β. 14. Κ., S. 589—593 nennt sieben Fälle aus den Jahren 1742 bis 1771. 82

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Appellationsbehinderung durch Verfahrensmißbrauch

IV. T a t s ä c h l i c h e

Erschwerungen

Nidit nur im Fall Sailer 85 dürfte die Durchführung des Appellationsprozesses daran gescheitert sein, daß der Appellant die Abschrift der untergerichtlichen Verfahrensakten nicht bezahlen konnte 86. Eine entsprechende Ergänzung des Armenredits sieht erst die RKGO 1555 I, Tit. 41, § 1 87 vor. Daneben bezeugen aber audi mehrere einschlägige Bestimmungen, daß die Parteien aus Anlaß der Edition der Akten kräftig ausgenommen worden sind. Diesem Mißstand tritt bereits die RKGO 1521 88 in Tit. 29 entgegen: ,Und nachdem etliche Partheyen in untern Gerichten zu Ausbringung der Gerichts-Händel wider die Billigkeit beschwert werden mit übermäßiger Bezahlung . .

soll durch die Landesherren Abhilfe geschaffen werden. Eine entsprechende Vorschrift enthält der RA 1532 Tit III § 11 89. Die RKGO 1555 schließlich gibt Auskunft über einen der Gründe für die teilweise ein Vermögen ausmachenden Kosten der Aktenabschriften. Sie verbietet, daß die Abschriften auf Pergament erfolgen, ,daher sidi oftmals begeben, daß die Partheyen zwey, drey oder vierhundert und darüber um die Acta zu geben getrungen worden, so dodi die HauptSadi etwan nodi nicht so viel angetroffen' e o .

Hinfort sollen die Akten auf Papier geschrieben oder jedenfalls so taxiert werden. Noch das C O C II Tit. 34 §§ 5 ff. 91 setzt sich mit den für die Abschrift der Akten zu zahlenden Taxen umfangreich auseinander. Sicherlich dürfte es sich bei diesen Dingen im Schwerpunkt um Machenschaften aus finanziellem Interesse handeln. Gleichwohl wird jedermann bewußt gewesen sein, daß damit die Rechtsverfolgung behindert wurde. Schließlich hatte audi das RKG, das bei der Visitationskommission 1531 wegen der zu hohen Gebühren vorstellig geworden war 9 2 , nicht die finanziellen Interessen der Parteien im Auge. 65

) Vgl. W e i t ζ e 1, S. 223 f. ) Dies vermutet bereits S c h i c k , S. 91.