Der grüne Drache. Das Herz der Sufi-Lehre
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Der grüne Drache Das Herz der Sufi-Lehre Gespräche mit J.G. Bennett in Beshara Mit einer Einführung von Rashid Hornsby

Verlag Bruno Martin

Reihe: »Klassiker der Esoterik« l

Originaltitel: Intimations Talks with J.G. Bennett in Beshara © The Estate of J.G. Bennett, 1993 © Deutschsprachige Rechte: Verlag Bruno Martin GmbH D-21394 Südergellersen Übersetzt aus dem Englischen von der Gruppe "Lebende Schule" unter Leitung von Agnes Nagy Umschlaggestaltung: Nana Nauwald DTP-Satz: Plejaden Verlag, Boltersen Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda l. Auflage 1993 Alle Rechte beim Verlag. Kein Teil des Buches darf auf irgend­ eine Weise ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder nachgedruckt werden. ISBN 3-921786-80-0 Scan& OCR Bearbeitung:

OLBOGMEK 2013

Inhalt

Einführung ............................................................................... 7 Die Weltsituation ................................................................... 14 Selbsterinnerung und die Transformation von Energien . 35 Die sieben Linien der Arbeit .................................................. 47 Meditation und Wille ............................................................. 57 Leiden...................................................................................... 66 Kreative Imagination und Absicht.......................................... 75 Baraqah - Der Heilige Georg und der Drache........................ 86 Khidr - Die vier Welten - Bedürfnisse ................................... 98 Jenseits des Schleiers des Bewußtseins ............................... 111

Hu .................................................................................... 126 Wortverzeichnis

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Komm, komm, wer immer du bist, Wanderer, Götzenanbeter, du, der du den Abschied liebst, es spielt keine Rolle. Dies ist keine Karawane der Verzweiflung. Komm, auch wenn du deinen Schwur tausendfach gebrochen hast. Komm, und noch einmal, komm, komm. Grabinschrift von Mevlana Jelaluddin Rumi 1207-1273

Einführung

John G. Bennett [1897-1974] war ohne Zweifel einer der wahrhaft herausragenden Männer unserer Zeit. Es gibt und gab sehr wenige Menschen, die sich vollständig dem Kampf für die Selbstvervollkommnung verschrieben haben und auch die Entschlossenheit hatten, dieses selbstgesetzte Ziel zu errei­ chen. J.G. Bennett widmete sein Leben diesem Kampf um die Selbstvervollkommnung und wurde dadurch für alle Menschen, die mit ihm in Kontakt kamen, zum Vorbild. Ich bin sicher, daß es keinen mit Offenheit Suchenden auf diesem Weg geben konnte, der in einer Begegnung mit ihm nicht seine außeror­ dentlichen Qualitäten wahrgenommen hätte, die ein Zeichen seines eigenen inneren Entwicklungsstandes waren. Im Gegen­ satz zu vielen anderen fand er und war in Kontakt mit der eigent­ lichen lebenden Quelle, aus welcher heraus es den Lehren, denen er folgte, möglich war, sich den Bedürfnissen der sich verän­ dernden Weltsituation anzupassen und diese neu zu formulie­ ren. Er fand und verstand nicht nur den Schlüssel zum allge­ meinen Zustand der Menschheit, sondern war auch imstande, dieses Wissen speziell auf die gegenwärtige Weltsituation zu beziehen. Überzeugt von der dringenden Notwendigkeit einer wahrhaftigen Veränderung gerade zu dieser Zeit lehrte er, daß nur ein grundsätzlich anderer Wertmaßstab und eine andere Motivation die Menschen aus ihrer gegenwärtigen Zwangslage retten könne. Sein ganzes Leben war auf dieses Ziel ausgerich­ tet. Er wollte zeigen, daß es einen anderen Standpunkt dem Leben gegenüber gibt als denjenigen, den wir üblicherweise

akzeptieren, und daß dieser andere Standpunkt unsere Hoff­ nung für die Zukunft ist. Seine letzten Jahre, die er als Leiter der "International Academy for Continuous Education" in Sherborne House verbrachte (1971-1974), bildeten den Höhepunkt dieser Arbeit. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Men­ schen, der die Pflicht auf sich nimmt, die innere Einstellung von Menschen zu verändern, der also aus einer persönlichen Besorg­ nis über den Zustand der Welt heraus handelt, und demjenigen, der nur einen objektiven Auftrag wahrnimmt und danach han­ delt. Ich glaube, daß allen, die J.G. Bennett wirklich kannten, klar war, daß er einen wichtigen Auftrag in dieser Welt hatte. Er selbst hielt sich niemals für etwas Besonderes, vielmehr war es so, daß er nur in vollkommener Abhängigkeit von einer höhe­ ren Kraft handeln und arbeiten konnte. Genau diese Fähigkeit, aus der Abhängigkeit von einer höheren Kraft zu handeln, unter­ schied ihn von den meisten Menschen. In seinen letzten Jahren sprach er oft von der Zusammenarbeit und der Hilfe, die er für diese Arbeit erhielt, insbesondere von seiner starken Verbin­ dung zu den Sufis von Zentralasien, den "Meistern der Weis­ heit", den Haja Gan (Hadschegan). Damit meinte er nicht das russische Zentralasien von heute, sondern er bezog sich auf den Geist und die Heimat dieser "Meister der Weisheit", die in jenem Gebiet zwischen dem neunten und fünfzehnten Jahrhundert wirkten. Ihre Welt schließt nicht nur unsere materielle, physi­ sche Welt mit ein, sondern auch die Welten der "geistigen Wirk­ lichkeiten". Sein umfassendes Verständnis dieser anderen Wel­ ten und deren geistigen Dimensionen, erlaubte es ihm, während er völlig mit seiner Arbeit in Sherborne House beschäftigt war, zu behaupten, er fühle, Beshara sei ergänzend zu seiner Lehr­ tätigkeit in Sherborne. Bennett war bereits injungen Jahren mit G.I. Gurdjieff [siehe Glossar] in Kontakt gekommen und wurde wahrscheinlich einer seiner engsten und geschätzten Schüler. Er benutzte das, was er von Gurdjieff gelernt hatte, als Basis für den Großteil seiner späteren Arbeit. Es hat den Anschein, daß nach Gurdjieffs Tod viele seiner früheren Schüler und Nachfolger zur Überzeugung gekommen sind, daß sie etwas Spezielles wüßten oder eine

besondere Ausgangsposition gegenüber Gurdjieffs Werk hätten oder eine spezielle Verantwortlichkeit, es zu fördern. Als Folge davon entstanden viele Splittergruppen und Widersprüche, die beinahe Bedeutung und Wert von Gurdjieffs Lehre zerstörten. J.G. Bennett war sich darüber im klaren, wie gefährlich und irre­ führend es ist, Sekten zu gründen und darauf zu bestehen, daß es tatsächliche Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Des­ halb versuchte er, so unabhängig als möglich gegenüber irgend­ welchen Splittergruppen zu bleiben. Es ist wahrscheinlich diese Haltung, die ihm beträchtliche Feindseligkeiten einbrachte, und er war der erste, der eingestand, mehr Feinde zu haben als Freunde. Er blieb nicht bei dem stehen, was er von Gurdjieff gelernt hatte, sondern er benützte dieses Wissen als ein Werk­ zeug für seine eigene Entwicklung, blieb weiterhin auf der Suche, traf andere Menschen und kam in Kontakt mit den ver­ schiedensten Ideen. Erst am Ende seines Lebens wurde ihm die größte Verant­ wortung übertragen, nämlich offen zu verbreiten, was er im Laufe seines Lebens erfahren hatte, und zwar unter so vielen Menschen als möglich. Er war überzeugt davon, daß das alte System von Lehrer und Schüler nicht in der Form, wie dies in der Vergangenheit geschehen war, fortgesetzt werden könne. Er erkannte, daß es für den gegenwärtigen Zustand der Welt nicht mehr möglich oder wünschenswert war, sondern daß die Not­ wendigkeit bestand, das esoterische Wissen in globalem Umfange zu verbreiten, wenn es sich als wirksam erweisen sollte. Das ist der Grund, warum er sich in seinen letzten Jah­ ren nicht darauf beschränkte, nur eine kleine Gruppe von Schülern zu unterrichten, sondern sich darauf konzentrierte, die Botschaft einer richtigen spirituellen Haltung dem Leben gegenüber so weit als möglich zugänglich zu machen. Ich weiß, daß er immer mehr davon überzeugt war, die Hoffnung für die Zukunft liege in den jungen Menschen, und sein Verständnis und seine Sorge für junge Menschen, insbesondere während sei­ ner Zeit in Sherborne, waren bemerkenswert. Er war überzeugt, daß es diese Generation sei, die einer Welt, welche in ernsthaf­ ter Gefahr ist, sich selbst zu vernichten, eine neue Vision brin­ gen könne. Die meisten Menschen müssen erkennen, daß es sehr

leicht ist, über den "Zustand der Menschen" zu reden und dar­ über, wie die Menschheit sich bewußt bessern sollte, daß es aber eine ganz andere Sache ist, über die Verwirklichung dieses Vor­ habens auch nur nachzudenken. Es ist genau dieser Prozeß des "Werdens" was man sein sollte, der uns alle besorgt machen muß, wie uns in den Gesprächen, welche den Inhalt dieses Buches bilden, deutlich aufgezeigt wird. J.G. Bennett war immer durchaus vorsichtig, über Dinge zu sprechen, von denen er fühlte, daß sie zu tief, zu schwerwie­ gend und darum möglicherweise gefährlich für den Durch­ schnittsmenschen sind. Aber ich weiß, daß seine Erfahrung in Sherborne ihn zur Überzeugung brachte, die Nachkriegsgene­ rationen seien von Natur aus in der Lage, gewisse spirituelle Wirklichkeiten in beschleunigtem Tempo aufzunehmen. In die­ sem Sinne schrieb er im Vorwort zu "Witness", seiner Auto­ biographie2: Unsere Zukunft hängt von denen ab, die sehen und anderen helfen können zu sehen. Die älteren Generationen mit wenigen Ausnahmen - sind blind. Die Hoffnung liegt bei den Jungen; aber auch sie müssen kurzfristige eigennützige Ziele beiseite stellen und für die Zukunft arbeiten. Es sieht so aus, daß die Möglichkeit, das zu verstehen, was früher verborgen und esoterisch war, aus der Notwendigkeit heraus für sie ver­ einfacht worden sei. Von der Notwendigkeit überzeugt, so frei und offen als möglich über Dinge zu reden, die man in der Ver­ gangenheit eher geheimgehalten hätte, schockierte er manch­ mal jene, die auf althergebrachte Weise zu denken gewohnt waren. Es gibt Menschen, die glauben, daß in diesen Dingen mehr Zurückhaltung geübt werden sollte, jedoch nur deshalb, weil sie noch nicht verstanden haben, welche Veränderungen kommen müssen und worauf wir uns vorbereiten. Wenn sie ver­ stehen würden, worauf die Menschheit zusteuert und welche notwendigen Schritte gemacht werden müssen, würde diese Kri­ tik als sehr beschränkt erscheinen. Es besteht ein sehr dringen­ des Bedürfnis nach Veränderung, und dazu braucht es Men­ schen, die bereit sind, dafür vieles zu opfern. Es war außerordentlich, wie sehr J.G. Bennett in jeder erdenklichen Weise bereit war, trotz der großen Arbeitslast in Sherborne House, die Entwicklung von Beshara zu fördern. Er 10

hatte immer Zeit für Gespräche, und ich weiß, daß all jene, die Gelegenheit hatten, ihn in Beshara zu hören und von ihm zu ler­ nen, dafür dankbar sind und sich bevorzugt fühlen. Ich kann mich auch genau an seinen Ausspruch erinnern, es könne kein Zufall sein, daß Sherborne House nur wenige Meilen von der Swyre-Farm, dem ersten großen Besharazentrum, entfernt liege, und daß er fühle, sein Auftrag sei im Grunde genau der gleiche wie in Beshara. Wir waren uns auch einig, daß es zu dieser Zeit zwingend sei, kleine unabhängige Zentren rund um die Welt zu etablieren, wohin Leute kommen können, nicht um einer Sekte beizutreten oder einem besonderen Guru oder Lehrer zuzuhören, sondern wo jeder motiviert sein sollte, die eigene persönliche Entwicklung anzustreben und herauszufinden, was die Verantwortung, Mensch zu sein, mit sich bringt. Er war sich der Tatsache schmerzlich bewußt, daß im allgemeinen diejeni­ gen, die auf der Suche nach einem Guru oder Lehrer sind, nur ein Identifikationsobjekt für ihre eigene Persönlichkeit suchen. Die Gespräche in diesem Buch verdeutlichen die Tiefe und Allgemeingültigkeit dieser Vision, und doch behalten sie eine Klarheit und Einfachheit im Ausdruck, die sonst kaum je erreicht wird. Das Wissen, das uns hier nahegebracht wird, nimmt in allen Fällen Bezug auf die einzigartige Vorrangstel­ lung des Menschen mit seinen Fähigkeiten des Selbst-Bewußt­ seins und der Selbst-Vervollkommnung. Es weist auch auf das noch größere Mysterium hin, das in den Worten von Giordano Bruno ausgedrückt wird, der mit all seinen Werken verbrannt worden ist, weil er gesagt hatte: "Am Kreuzungspunkt des Hori­ zontes steht der Mensch." Aufgrund dieser allumfassenden Weltsicht war J.G. Bennett in der Lage, sich bei allen Menschen wohl zu fühlen, und er beschränkte sich selbst niemals darauf, einer bestimmten Ausdrucksweise nahe zu stehen oder sich nach ihr zu orientieren. Das ist der Standpunkt der Liebe und des Mitgefühls für alle Dinge, der Standpunkt des wahren Wissens, denn in dieser Vision ist das ganze Dasein und die ganze Schöp­ fung in der "einen einzigen Realität" enthalten. Diese Vision der spirituellen Welt, uneingeschränkt von Dogma und Sektierer­ tum, ist so wichtig für jeden, der eine vereinigte Welt zu sehen wünscht, die sich ihrer Bestimmung bewußt und auf geistigen 11

Werten begründet ist und nicht auf persönlicher Gier. Denn wie es der andalusische Heilige Ibn al-'Arabi treffend formulierte: "Der Mann von Weisheit wird, was immer auch geschehen mag, nie gestatten, sich in einer bestimmten Ansicht oder einem bestimmten Glauben zu verfangen, denn er ist weise in sich selbst." In einer Zeit voller Schwierigkeiten und Streß, in der vieles auf dem Spiele steht, scheint es keine Möglichkeit zu geben, daß der Mensch handeln und etwas zur Verbesserung dieser Welt tun kann, wenn er nicht das erreicht, was J.G. Bennett das "objektive Mitgefühl" genannt hat. Mit seinen eigenen Worten: "Worauf es ankommt ist, dieses objektive Mitgefühl zu haben, zu sagen: Ich muß selbst etwas tun, das, obwohl klein in seinen materiellen Auswirkungen, sehr groß sein kann in seinen gei­ stigen Auswirkungen." Diese Gespräche sind Beispiele einer Lebenseinstellung und weisen auf einen Weg hin, der offen ist für alle, die einerseits etwas aus sich selbst machen und ande­ rerseits den künftigen Generationen etwas optimistischere Aus­ sichten mitgeben wollen. Wenn der Mensch lernen kann, eine Haltung zu seinem Dasein anzunehmen, die wirklich die Idee einer gegenseitigen Verantwortlichkeit gegenüber seinem Schöpfer beinhaltet, dann wird eine derartige Veränderung kommen, sowohl im Individuum als auch in der Gemeinschaft, und Leben wird das werden, was es sein könnte, wie J.G. Bennett es Zeit seines Lebens darzustellen versuchte. Aber das ist ein sehr großer Schritt, obwohl man leicht darüber sprechen kann, und es gibt eine Menge anderer Überlegungen, die einem in den Sinn kommen. Wir stehen jetzt erst am Anfang und kön­ nen vielleicht nur einen vagen Umriß dessen wahrnehmen, was diese andere Perspektive bedeuten könnte. Und das ist der Grund, warum diesem Buch ursprünglich der Titel "Andeutun­ gen" gegeben wurde, denn was Worte ausdrücken können, ist sehr begrenzt, und doch kann uns durch sie und durch unser eigenes In-Beziehung-setzen und unser Verständnis ein Leitfa­ den gegeben werden, nach dem wir unsere Taten und unser Leben ausrichten können. Solches Wissen sollte nie unterschätzt werden, weder seine Kraft noch seine Auswirkung auf alles, was es berührt. Jeder 12

Mensch, der zu diesem Wissen gelangt, überragt den Horizont dieser Welt, lange noch nachdem er von uns gegangen ist. Das ist der Fall bei J.G. Bennett, der uns einen Eindruck, eine Andeu­ tung von einer Wirklichkeit hinterlassen hat, von der wir alle profitieren können. Rashid Hornsby Bitez Yalisi, 1975 Anmerkungen 1) Beshara war ein Sufi-Zentrum, das 1969 von Reshad Feild begründet wor­ den war. 1975 wurde ein größeres Zentrum in Chisholm, Schottland, eröffnet, das bis heute existiert. Die Vorträge in diesem Buch wurden 1972 bis 1973 gehalten. 2) J.G. Bennett: Witness, London 1975, dt.; Das Durchqueren des Großen Was­ sers, Oberbrunn 1984, Ahorn Verlag

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Die Weltsituation

ch möchte mit Ihnen über den Zustand dieser Welt sprechen und darüber, wie wir in die Zukunft schauen sollten. Jede Frau und jeder Mann wissen, daß wir in einem Zustand des Überganges leben, in dem wir von einer Art Welt zu einer ande­ ren gehen. Aber ist das alles, was wir darüber wissen können? Es ist heute üblich, vom "New Age" zu sprechen oder vom "Was­ sermann-Zeitalter", was ganz einfach eine astrologische Inter­ pretation ist für die Zyklen, durch die die Menschheit geht. Soweit ich aus meinen Untersuchungen über die Veränderun­ gen im Leben der Menschheit in der Vergangenheit erkennen konnte, entsprechen diese Zyklen nicht genau den astrologi­ schen Zeitabschnitten. Studien über die Eiszeit bezeugen, daß die Menge Sonnenlicht, die die Erde erreichte, aufgrund der all­ gemeinen Konfiguration des Sonnensystems nicht so viel Ein­ fluß auf das Klima hatte wie man erwarten könnte. Sie hatte zwar einen Einfluß, aber nicht den entscheidenden. Ähnlich ist es, wenn wir die Zyklen des Tierkreises über die letzten zehn­ oder zwölftausend Jahre hinweg anschauen: zeitlich herrscht keine genaue Übereinstimmung, und doch haben sie ihren berechtigten Platz. Ich bin zum Schluß gekommen, daß wohl ein gewisser Einfluß der allgemeinen Konfiguration des Son­ nensystems für das Geschehen auf der Erde verantwortlich ist, daß man aber auch noch andere Faktoren berücksichtigen muß, welche einer anderen Ordnung angehören - möglicherweise einer höheren Ordnung, weil schließlich die Einflüsse der Pla­ netenkonfiguration dieser materiellen Welt angehören.

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So wie ich es sehe, gibt es ein Zusammenwirken von beein­ flussenden Faktoren, von denen einige durch Kräfte innerhalb des Sonnensystems vorbestimmt, einige von höheren Einflüs­ sen abhängig sind, Einflüssen von jenseits des Sonnensystems. Ich wurde bestärkt in dieser Anschauung durch das, was ich vom Menschen weiß. Wir Menschen unterstehen auch zwei ver­ schiedenen Arten von Einflüssen, die den Ablauf unseres Lebens bestimmen. Die eine Art hat zu tun mit den Einflüssen, unter denen wir empfangen und geboren wurden, unserer Erbanlage also, die wiederum das Lebensmuster bestimmt, das uns offen steht. Wir nennen es Schicksal, und jeder weiß, was sich alles in Übereinstimmung mit diesem Muster herausschält, wenn es von seriösen Astrologen ermittelt wird. Aber da ist noch etwas ganz anderes in uns, das nicht auf diese Art festgelegt ist, etwas, das außerhalb der Einflüsse des Sonnensystems liegt - unsere Bestimmung. Unsere Bestimmung ist, das zu finden, wozu wir gedacht sind; wenn notwendig sogar im Kampf gegen unser eige­ nes Schicksal. Es gibt gewisse Kräfte, die zwangsläufig Veränderungen für die Bedingungen des Lebens auf dieser Erde mit sich bringen, aber sie werden uns nicht unausweichlich auferlegt, denn es gibt auch eine höhere Bestimmung der gesamten Menschheit, wel­ che davon abhängt, ob wir fähig sind, auf Einflüsse, die nicht aus der materiellen Welt und nicht aus dem Sonnensystems kom­ men, anzusprechen. Vielleicht finden Sie, daß solche Bilder, die sich in mir im Laufe vieler Jahre des Studiums dieser Dinge geformt haben, sehr wenig aussagen, weil andere Leute es wagen, viel mehr als das über das Muster der Welt auszusagen. Ich sage nur das, was ich durch meine Forschungen gelernt habe und aus meinen Lebenserfahrungen mit diesen Dingen - und auch aus gewissen, sozusagen intuitiven Wahrnehmungen. Aber all dieses zusammen und jede Art der Interpretation deuten auf dieselbe Schlußfolgerung hin: wir sind in einen neuen Zyklus im Leben der Menschheit eingetreten. Deshalb gibt es nichts wirklich Wichtigeres für jeden von uns, als den Versuch zu unter­ nehmen, die Bedeutung dieser neuen Situation zu verstehen. Der Gedanke, daß wir ins Wassermann-Zeitalter eintreten, stimmt viele Leute sehr optimistisch, weil sie eine Anzahl 15

vorteilhafter Einflüsse damit verbinden. Aber sie übersehen, daß mit eben dieser Konstellation auch sehr drohende Einflüsse ver­ bunden sind. Es ist ganz und gar nicht sicher, daß das Wasser­ mann-Grundmuster an und für sich der Menschheit eine gün­ stige Zukunft sichert. Nein, man muß tiefer schauen. Die größeren Einflüsse, die mit der Bestimmung des Menschen auf dieser Erde zu tun haben, geschehen in sehr großen Zyklen. Schließlich lebt der Mensch schon seit sehr langer Zeit auf die­ ser Erde. Verglichen mit dieser langen Zeit sind die astrologi­ schen Zyklen von zwei- bis dreitausend Jahren fast nichts. Es gab auch sehr große Veränderungen im Leben des Menschen, nicht nur Veränderungen in der Umgebung und in den Rassen, sondern geradezu in der Spezies Mensch als solcher. Es ist zum Beispiel ziemlich unwahrscheinlich, daß eine fruchtbare Kreuzung möglich wäre zwischen einem Neander­ taler und dem neuen Menschen, der auf der Erde entstanden ist. Über diese Idee und alle mit ihr verbundenen Spekulationen haben Sie sicher schon gelesen. Betrachten wir diese Sache ein­ mal ernsthaft - und ich glaube, wir sollten das auch wirklich tun: Wir müssen uns diese Welt wirklich anschauen, nicht nur hinsichtlich der sichtbaren Kräfte und Trends, sondern auch hinsichtlich jener Faktoren, die viel schwieriger wahrzunehmen und zu erkennen sind, weil sie Einflüsse darstellen, deren wir uns gegenwärtig nicht bewußt sind. Wir sind noch nicht einmal fähig, uns dieser Einflüsse bewußt zu sein, da wir die entspre­ chende Wahrnehmungsfähigkeit oder die erforderlichen Wahr­ nehmungsorgane nicht haben. Vielleicht wäre es besser, zu sagen, daß sehr, sehr wenige Menschen auf der Erde momentan diese Wahrnehmungsfähigkeit haben. Aber vielleicht wird im Verlauf von nicht allzulanger Zeit eine neue Art von Menschen auf diese Erde kommen, Menschen mit sehr andersartigen Wahrneh­ mungsfähigkeiten als die meisten heutigen Menschen sie haben. Dies wirft die Frage auf: Wie werden diese Menschen leben? Werden sie mit unseren Einrichtungen zufrieden sein? Werden sie fähig sein, auf ganz andere Art miteinander zu leben als wir es jetzt können? Denn wir leben heute so sehr im Äußerlichen und sind so sehr abhängig von unseren Sinnen, von dem was wir sehen und hören und berühren können. 16

Ich spreche mit Ihnen, und Sie sind auf den Ton angewie­ sen, vielleicht sogar darauf, mich anzublicken und zu sehen, was ich sage. Wenn ich jetzt gar nicht gesprochen hätte, wenn ich gesagt hätte: Es tut mir leid, heute Abend werde ich nicht spre­ chen, Sie werden meine Gedanken lesen müssen, dann hätten Sie wahrscheinlich geantwortet: Nun, das ist ein wenig schwie­ rig, wir sind noch nicht so weit. Und doch ist es wahr: Wenn ich hier mit Ihnen eine halbe Stunde im Schweigen gesessen hätte, wäre vieles geschehen. Wir hätten etwas wahrgenommen, das zwischen uns geschieht und nicht erkannt wird, wenn Worte gebraucht werden. Diese anderen Formen der Wahrnehmung sind nicht so unerreichbar, daß sie nicht erweckt werden könn­ ten, wenn man etwas darüber weiß. Wenn Sie zusammen medi­ tieren, wenn Sie in Stille meditieren, entsteht ein Austausch zwi­ schen Ihnen. Wenn Sie beschließen, einen, zwei oder mehrere Tage in absoluter Stille miteinander zu verbringen, werden Sie feststellen, daß sich durch die Stille eine Nähe einstellt, die durch Worte nicht erreicht werden kann. Es ist nicht so, als ob die Möglichkeit einer anderen Gesellschaftsform, die nicht so sehr auf äußerer Kommunikation basiert, sondern auf einer Art inne­ rer Wahrnehmung, eine so weithergeholte, wunderliche Idee wäre. Können wir jedoch irgend etwas darüber hinaus sagen? Blicken wir einmal zurück über die Weltgeschichte - und es ist merkwürdig, daß wir heute die Geschichte der Welt bis zu vierzig- oder sogar fünfzigtausend Jahren rekonstruieren kön­ nen, mit abnehmender Genauigkeit natürlich, je weiter zurück es geht. Wir haben jedoch immer noch klar bestimmbare Kenn­ zeichen oder Markierungspunkte, was sowohl den neuen Datie­ rungsmethoden zuzuschreiben ist, als auch der Entdeckung von immer mehr Spuren aus früheren Kulturen. Bei diesem Rück­ blick können wir sehen, daß sich nicht nur eine ständige Ver­ änderung durch das Leben der Menschheit zieht, sondern zwei ganz verschiedene Dinge, zwei sehr verschiedenartige Ent­ wicklungsrichtungen feststellbar sind, und beide sind für uns sehr aufschlußreich. Einer dieser Trends ist jener der beschleu­ nigten Veränderung. Diese beschleunigte Veränderung oder "beschleunigte Entwicklung" ist eine Gesetzmäßigkeit, seit Leben auf dieser Erde existiert. Bei den großen Veränderungen 17

- vom nicht-lebenden zum primitiv lebenden Stadium, vom lebenden zum zellularen Stadium, von dort zu den primitiven Pflanzen und Tieren bis hin zu den Säugetieren, zum Menschen und so weiter - hat jedes Stadium viel weniger Zeit erfordert als das vorhergehende. Alles geht also schneller und schneller, bis heute, wo die Bewegung tatsächlich sehr rasch ist, so rasch, daß tiefgreifende Veränderungen im Leben des Menschen und im Leben dieses Planeten selbst stattfinden - also nicht nur in der Spezies Mensch, sondern auf dem ganzen Planeten - und das innerhalb eines einzelnen Menschenlebens. Während der Planet vor hundert Jahren noch fähig war, alle menschlichen Aktivitäten mühelos aufzufangen, ohne dabei wahrnehmbar Schaden zu nehmen, richten die heutigen menschlichen Akti­ vitäten sichtbare Schäden an. Das ist eine gewaltige Veränderung. Was wir vor erst hundert Jahren auf dieser Erde taten, war für den Planeten noch gut erträglich. Das ist das Außergewöhnliche, daß in einer so kurzen Zeitspanne eine so große Veränderung einge­ treten ist. Eines müssen wir in Betracht ziehen: Wir leben momen­ tan in einer Situation, in der sich die Veränderungen im Leben die­ ses Planeten dermaßen rasch vollziehen, daß es ohne einen völligen Zusammenbruch nicht so weitergehen kann wie bisher. Es wird allgemein akzeptiert und erkannt, daß diese Beschleunigung der Veränderung auf die eine oder andere Weise zu einem Ende kommen muß. Noch bis vor kurzer Zeit tauchte diese Frage gar nicht auf, jetzt aber muß sie berücksichtigt wer­ den. Welche Zukunftsgedanken wir auch haben, sie müssen die Tatsache berücksichtigen, daß wir in einem Zeitalter nicht nur rascher, sondern beschleunigter Veränderung leben. Wir kön­ nen nur eine von zwei Möglichkeiten voraussagen - entweder die totale Katastrophe, oder eine Änderung im Gesetz, dem die Entwicklung dieses Planeten unterstellt ist. Mit anderen Wor­ ten, diese Beschleunigung muß aufhören. Es ist wie ein Flug­ zeug im Sturzflug. Einem Flugzeug im Sturzflug können nur zweierlei Dinge geschehen - entweder muß der Sturzflug auf­ gefangen werden oder das Flugzeug wird zerschellen. Das ist das erste, was die Geschichte uns lehrt. Das zweite ist die Gewißheit, daß es auch Zyklen gibt, daß sich nicht immer alles gleich abspielt. Es gab Zeiten sehr rascher 18

Veränderungen, gefolgt von Zeiten des Stillstandes und von Zei­ ten der Erneuerung. Diese Zyklen überlagern den allgemeinen Beschleunigungsprozeß, so wie die Wellen des Meeres die Bewegung der Gezeiten überlagern. Wir sehen das Steigen und Fallen der Wellen und wir sehen das Ansteigen der Flut. Aber wir wissen, daß das Meer irgendwann aufhören muß zu steigen, weil der Impuls der Flut irgendwann erschöpft ist. Genau so sehen wir im Leben des Menschen dieses Ansteigen der Flut sei­ ner Aktivitäten auf der Oberfläche dieses Planeten, und etwas muß sich verändern. Trotzdem muß man - da wir so klein sind und unser Leben so kurz ist - berücksichtigen, daß es Zyklen gibt. Mit anderen Worten, wir sind wie Kinder, die am Strand spielen und für die Wellen sehr wichtig sind - es ist sehr beäng­ stigend, wenn man von einer Welle überspült wird! Diese Wel­ len sind vergleichbar mit den kurzen Lebenszyklen. Sie dauern vielleicht zweitausend Jahre. Aber es gibt größere Wellen. Ich nehme an. Sie haben alle schon an der Meeresküste geses­ sen und die Wellen beobachtet, um zu sehen, ob es wahr ist, daß jede siebte eine besonders große ist. Als mir das als Kind erzählt wurde, war ich so fasziniert, daß ich entschlossen war herauszufinden, ob das stimmte oder nicht. Und so gibt es etwas Ähnliches, daß von Zeit zu Zeit die Wellen größer werden, das heißt, die Zyklen nicht die gewöhnlichen Zyklen von Aufstieg und Fall von Zivilisationen und Kulturen sind, sondern etwas Größeres im Menschenleben. Die letzte sehr große Verände­ rung im Leben der Menschheit geschah am Ende der Eiszeit, vor ca. zehntausend Jahren, als sich die ganzen Lebensbedin­ gungen auf dieser Erde grundlegend änderten. Ein sehr großer Teil der Spuren aus früheren Kulturen wurde ausgelöscht. Irgendwelche Katastrophen, die aufzudecken wir noch keine Mittel kennen, müssen geschehen sein - denn frühere Kulturen hinterließen viel größere Spuren. So haben wir viel mehr Spu­ ren vom Geschehen vor achtzehn-, zwanzig-, dreißigtausend Jahren, als von der Zeit kurz vor dem Ende der Eiszeit, als sehr viele Tiere verschwanden und auch ein großer Teil der mensch­ lichen Spezies. Nach den Überlieferungen ereignen sich solche großen Veränderungen jeweils über lange Zeitabschnitte. Es müssen einige sehr alte Erinnerungen vorhanden sein, welche 19

die Menschen dazu veranlaßten, entsprechende Traditionen oder Legenden zu hinterlassen. Heute, mit unserem viel genaue­ ren Wissen - wie dem Datieren und dem Untersuchen riesiger Mengen aufgezeichneten Materials - können wir sehen, daß ein Zyklus von 10-12.000 Jahren auf dieser Erde zutreffend ist. Zumindest können wir zurückverfolgen, daß vor 12.000, viel­ leicht vor25.000.sicherabervor37.000 Jahren sehr große Ver­ änderungen stattfanden. Die allergrößte war vor 37.000 Jahren, als unsere moderne Menschenrasse (Homo sapiens) erschien und der Neandertaler verschwand. Ein anderes wichtiges Ereig­ nis geschah vor 25.000 Jahren, auf dem Höhepunkt der soge­ nannten Rentier-Kultur, als die menschliche Zivilisation eine noch nie dagewesene hohe Ebene erreicht hatte und in Kunst, Industrie und Entdeckung sehr fortgeschritten gewesen sein muß. Trotz der sehr wenigen hinterlassenen Spuren sind noch genug da, um uns zu zeigen, daß damals ein Wissen vorhanden war, das von der Menschheit bis vor sehr kurzer Zeit nicht wie­ der erreicht wurde. Wenn die letzte große Veränderung zehn­ tausend Jahre vor Christus stattfand - also vor zwölftausend Jah­ ren, dem Zeitalter der zu Ende gehenden Eiszeit und dem Beginn der großen Bewegungen hin zu unseren modernen Sprachen, Kulturen und Religionen -, dann ist es vielleicht Zeit für eine neue, ebenso große Veränderung in der menschlichen Lebens­ weise auf dieser Erde. Oder vielleicht ist es Zeit für etwas noch Größeres: für die Ankunft einer neuen Menschenrasse. Wir soll­ ten das ernst nehmen. Wir sollten es ernst nehmen, weil es nicht nur den Aussagen aus der Überlieferung und den Aussagen aus dem Studium der Zyklen entspricht, sondern ganz einfach auch dem, was unsere Augen sehen, wenn wir uns umschauen. Diese Welt kann, so wie sie ist, nicht weiterbestehen. In Sherborne haben wir darüber gesprochen, was wir tun sollen, wenn der jetzige Kurs beendet ist und worauf sich die Menschen in Zukunft ausrichten sollten. Jemand gab einen besonders guten Vergleich, der mir so gut gefällt, daß ich ihn Ihnen erzählen möchte. Wir sprachen über die großen Institutionen, welche momentan die Welt kontrollieren und beherrschen - Regierun­ gen, große Industrie- und Finanzinstitute, Kirchen und inter­ nationale Körperschaften, die allmählich das Leben auf der Erde 20

beherrschen und mehr und mehr Macht an sich raffen. Wie sieht die Zukunft aus für diese großen Institutionen? Einige sind wirk­ lich sehr groß geworden - wir nennen sie Supermächte -, andere sind zu großen internationalen Gesellschaften gewachsen. Es besteht kein Zweifel, daß es auf dieser Erde sehr große Institu­ tionen gibt. Der folgende Vergleich wurde gemacht: Sie sind wie die Dinosaurier, die vor hundertachtzig Millionen Jahren die Erde beherrschten und dann von der Erde verschwanden, weil sie sich nicht dem Klimawechsel anpassen konnten; zum Teil deshalb, weil sie keinen Mechanismus zur Aufrechterhaltung ihrer Körpertemperatur hatten und zum Teil auch deshalb, weil sie sehr kleine Gehirne hatten. Etwas, das jeder beim Anblick der heutigen großen Institutionen der Welt sehen kann, ist, daß sie sehr kleine Gehirne haben. Ich erinnere mich, wie P.D. Ouspensky vor vielen, vielen Jahren sagte: Wenn du das Verhalten der Nationen verstehen willst, mußt du nicht Tiere studieren, sondern du mußt Amöben studieren. Die Amöbe weiß nur eines: fressen oder aufgefressen werden. Sie hat nur eines - ein System, das alles für sie tut: Verdauung, Ausscheidung oder Wahrneh­ mung sind ein- und dasselbe; sie öffnet sich nur, um zu ver­ schlingen, was sie verschlingen kann. Genauso sind Nationen. Ich denke, das ist wahrscheinlich ein bißchen hart, sie haben ein wenig mehr Intelligenz als das, und vielleicht können wir sie zur Ebene der Dinosaurier befördern. Nun, man kann dies als Tragödie betrachten. Müssen diese Schönheiten sterben? Wird man in hundert Millionen Jahren nur noch ihre Skelette finden? Einige Leute werden sagen: Es wäre an der Zeit! Es geschah, als die großen Reptilien feststell­ ten, daß sie nicht überlebensfähig waren, daß eine neue, sehr bescheidene, unbedeutende Lebensform erschien - die Säuge­ tiere. Sie fingen sehr klein an, etwa in der Größe von Mäusen, nehme ich an; aber sie hatten eine Eigenschaft, die die Reptilien nicht hatten, nämlich die Fähigkeit, ihre eigenen internen Ver­ hältnisse zu regulieren. Claude Bernard sagte: Einen stabilen inneren Zustand zu haben, ist die Voraussetzung für ein freies Leben. Das stimmte für die Säugetiere; weil sie in ihrem Orga­ nismus einen stabilen inneren Zustand aufrechterhalten konn­ ten, waren sie fähig, die großen klimatischen Veränderungen, 21

durch welche die Dinosaurier ausgerottet wurden, zu überle­ ben. Es scheint, daß dieser Vergleich sehr gut ist für Voraussa­ gen und Prophezeiungen. Etwas wie die Säugetiere muß jetzt unter uns sein, welches, obwohl sehr klein und unbedeutend, vielleicht dazu bestimmt ist, die Erde zu erben. Die Frage ist, was wohl der Klimawechsel ist, der die großen Institutionen aus­ rotten und ihr Überleben unmöglich machen wird? Was sind die Säugetiere der Zukunft? Was ist die vorgesehene herr­ schende Gesellschaftsform? Unsere menschliche Welt hat seit sehr, sehr langer Zeit nach dem Grundsatz von Wachstum und Ausdehnung gelebt. Das war in den letzten zwei- bis dreitausend Jahren besonders gut festzustellen, aber in früheren Zeiten war das nicht so. Es ist noch heute nicht so bei gewissen isolierten und, von unserem Standpunkt aus gesehen, unbedeutenden Gruppen. Bis vor kurzem hatten Nomaden, nomadische Hirten in Zentralasien und anderswo, keinen Drang nach Wachstum. Sie waren gewillt, immer gleich groß zu bleiben und während hunderten, tausen­ den von Jahren auf die gleiche Art und Weise zu leben und von einem Ort zum anderen zu ziehen. Sie konnten sich nicht ver­ größern wegen der Begrenzung des Weidelandes und so fort. Und sie wurden abgelöst. Sie wurden von den seßhaften Völ­ kern sogar abgelehnt und verurteilt, und sehr bald, nachdem die Menschen seßhaft geworden waren, begann sich die Lehre des Wachstums in der Welt durchzusetzen. Die erste wirklich große Stadt auf der Welt war Babylon, wo der Grundsatz des Wachs­ tums wirklich geheiligt war. Es war die erste Stadt, und über zweitausend Jahre lang die einzige mit mehr als einer Million Einwohnern. Es ist etwas Unvergeßliches, die Ruinen von Babylon, die sich über dreißig bis vierzig Meilen am Euphrat entlang erstrecken, zu besuchen und die riesige Größe dieser altertüm­ lichen Stadt zu sehen. Wenn man vergleicht - und ich habe sehr viele altertümliche Städte gesehen -, macht nichts den gleichen Eindruck wie Babylon. Babylon war die erste Stadt, die nach dem Grundsatz von Ausdehnung und Wachstum lebte. Seltsa­ merweise übernahmen die Israeliten diese Doktrin, als sie in Babylon in Gefangenschaft lebten. Sie nahmen sie sogar auf in 22

ihre eigenen Heiligen Bücher, in die Genesis, und legten sie sogar Gott in den Mund, so daß von Ihm gesagt wird, Er befahl dem Menschen zu wachsen, sich zu vermehren und sich die Erde Untertan zu machen. Dies ist kein wirklich hebräischer Gedanke, es ist vielmehr ein babylonischer Gedanke. Aber er verbreitete sich über die ganze Welt. Bis in die heutige Zeit - zwei- oder dreitausend Jahre später - sind Wachstum, Ausdehnung, Zunahme, Größe, Menge, die wirklichen Kriterien für Erfolg, selbst für Rechtschaffenheit und Verdienst. Dies ist das Klima, in dem wir die ganze Zeit gelebt haben: Daß mehr besser ist. Dieses "Mehr-ist-besser-Credo" ist wirklich das grundlegende Credo der Menschheit - nicht der Glaube an Gott, nicht der Glaube an Religion oder an irgend etwas Höheres. Es hat uns zu dieser Welt gebracht, in der wir jetzt leben. Es ist ein Dino­ saurier-Credo. Je größer du bist, desto besser bist du. Dies hat nun die Sättigung erreicht. Es ist der Menschheit nun nicht mehr möglich, nach diesem Credo zu leben. Genau das ist es, was die großen Institutionen töten wird, denn diese können ohne Wachstum nicht leben. Jedermann kann das sehen. Es braucht kein okkultes Wissen, um zu sehen, daß diese großen Körperschaften in Schwierigkeiten geraten, sobald das Wachstum aufhört. Sogar wenn Wachstum Selbstmord bedeutet, so müssen sie sich doch ständig ausdehnen, weil sie keine andere Lebensweise kennen. Wir alle sind sehr stark geprägt vom Glauben, daß mehr besser ist: Je mehr Besitztümer man hat, umso besser ist man, je mehr man weiß, desto besser ist man, je mehr man reisen kann, desto besser ist man. Wir sind davon so angefüllt, daß es uns schwer fällt, uns einer anderen Denkart anzupassen. Man sagt uns, und zweifellos ist es wahr, daß sich das menschliche Wissen nun alle zehn Jahre verdop­ pelt, und daß die Geschwindigkeit des Verdoppelns zunimmt. Das gilt als wunderbar, ebenso wie die Tatsache, daß wir inner­ halb von zwanzig Jahren mehr Ressourcen dieser Erde ver­ brauchen als in der ganzen vorherigen Weltgeschichte. Ich bin nicht sicher, ob das immer noch als Erfolg betrachtet wird, denn die Menschen können gewisse Schwachstellen darin sehen. Aber wenn das alles unmöglich wird - es ist schon unmöglich und wird offensichtlich unmöglich sein, völlig und sichtbar unmöglich, 23

noch während unserer Lebenszeit was wird mit diesen Insti­ tutionen geschehen, die nur noch die "Doktrin des Mehr" ver­ folgen? Sie werden nicht überleben können. Wie können wir uns von dieser "Doktrin des Mehr" weg und einer wirklichen Doktrin des Besseren zuwenden, von Quan­ tität zu Qualität? Das ist wirklich der Unterschied zwischen den Säugetieren und den Dinosauriern. Säugetiere sind viel quali­ tativer. Die Gattung der Säugetiere ist viel mehr auf Qualität des Lebens angelegt als die Gattung der Reptilien. Es gibt einen großen Lehrsatz über angemessene Größe - ich glaube, Julian Huxley stellte ihn auf: Wir sollten von der Natur lernen, daß man die richtige Größe haben muß, wenn man überleben will. Ein sechs Meter großer Mensch könnte nicht überleben, weil seine Oberfläche in einem Mißverhältnis zu seinem Volumen stehen würde, er könnte sich nicht aufrecht halten. Aber diese Lehre, diese einfache Lehre der richtigen Größe, an welche die Säugetiere sich so schön halten, geriet bei den großen Reptilien, den Sauriern, irgendwie außer Takt. Dasselbe geschieht mit den Organisationen. Heutzutage denkt keine Institution darüber nach, was es bedeuten könnte, die richtige, angemessene Größe zu haben. Sie will einfach immer größer sein. Wie können wir auf etwas anderes achten? Der ganze bisherige Vortrag will uns wirklich zu dieser Frage führen. Wenn wir sagen, daß große Institutionen dem Untergang geweiht sind, sieht es zuerst so aus, daß die einzige Möglichkeit hieße, sich auf die individuelle Ebene zurückzuziehen und mit­ ten in alledem uns selbst zu retten. Aber es stimmt ebensowe­ nig, daß man von den großen Institutionen zurück zum Indivi­ duum kann, wie das, daß auf der Suche nach Sicherheit und Überleben direkt vom Dinosaurier zur Amöbe gegangen wer­ den kann. Schließlich sind wir als Individuen nicht mehr als Zel­ len im Leben dieser Welt. Es muß etwas Klareres, Organische­ res geben als das, besonders in der heutigen Welt. Das führt uns offensichtlich zur Vermutung, daß mit Säugetieren kleine Gemeinschaften gemeint sind, Gemeinschaften von der richti­ gen Größe. Ich glaube, daß es die bestmögliche Vermutung ist, und diese Vermutung kann auch von Menschen kommen, die nicht all das durchdacht haben, was ich Ihnen eben vorlegte. 24

Die Leute suchen Gemeinschaften. Vor ein paar Tagen erhielt ich einen Brief von einem meiner Verleger in Amerika, der sagt, er möchte ein bestimmtes Buch von mir in den USA vertreiben, besonders in Gemeinschaften. Er sagte, es gebe jetzt zwischen ein bis zwei Millionen Menschen in Amerika, die in kleinen Gemeinschaften leben, und man schätzt, daß es ca. zehntausend Gemeinschaften in verschiedenen Teilen der Welt gibt, in der Größe zwischen zehn bis zu gar einigen tausend Menschen. Die Suche nach Gemeinschaften ist also schon im Gange. Die Men­ schen experimentieren auf sehr viele verschiedene Arten mit einer neuen Gesellschaftsform, wie kleine Siedlungen oder Gemeinschaften. Jedoch, was ist dazu erforderlich? Wie kön­ nen sie überleben? Wie sollen sie überleben können, falls es einen großen Klimawechsel gibt? Eine Möglichkeit ist es, als Parasiten einer anderen Kultur zu überleben, so wie die ersten Säugetiere von den Kadavern der Dinosaurier lebten. Aber der­ artige Dinge können nur von kurzer Dauer sein. Gemeinschaften können nicht auf Dauer als Parasiten der großen Institutionen der Welt leben, weil diese Institutionen selbst verrotten werden. Können die Gemeinschaften selbsttra­ gend sein? Wahrscheinlich nicht. Aber was ist es wirklich, das den Eigenschaften des Säugetieres entspricht, mit deren Hilfe es die Konstanz seiner inneren Welt aufrechterhält? Das ist die eigentliche Frage, die wir uns stellen müssen, wenn wir wissen möchten, wie eine Gemeinschaft leben kann unter Bedingun­ gen, die nicht vom alten Gesetz des Wachstums getragen sind. Wenn alles wächst und alles im Überfluß vorhanden ist, ist es sehr einfach, in dieser Atmosphäre des Überflusses zu leben. Aber nehmen wir an, daß es nicht so ist. Wenn wir zu dem Punkt kommen, wo der unweigerliche Zusammenbruch des Wachs­ tums stattfindet - und diese Zeiten können kaum vermieden werden-, dann werden jene, die Macht haben, sicher alles ergrei­ fen und festhalten, was sie können. Es ist schwer vorstellbar, daß diese Welt in den nächsten fünfzehn oder zwanzig Jahren nicht durch ernsthafte Krisen gehen wird. Aber wie die Selbst­ disziplin erlangen, die, wie ich meine, zu unserer Zukunft gehören wird? Wie den anderen Teil der Immer-mehr-Doktrin aufgeben, nämlich die Doktrin der Macht, den Wunsch zu dominieren? 25

Wie kann eine Gemeinschaft eine andere akzeptieren, ohne den Wunsch, sie zu dominieren? Wie können die Mitglieder einer Gemeinschaft frei sein vom Wunsch, andere Mitglieder zu dominieren? Bisher war die Welt tatsächlich vom Grundsatz der Macht ebenso gefärbt wie von jenem des Mehr. Wenn wir nun sagen, daß die wirkliche Gesellschaft der Zukunft solchermaßen cha­ rakterisiert sein wird: Die Ablehnung von Macht und von Mehr, das Anerkennen der Tatsache, daß wir uns gegenseitig brauchen und Anerkennung dessen, daß das Problem im wesentlichen darin besteht, das zur Verfügung zu stellen, was gebraucht wird, und nicht was gewünscht wird. Das alles ist leicht gesagt, und jeder sagt es. Wir kommen nun aber in eine Zeit, in der es nicht mehr genügt, über diese Dinge zu reden und sie zu wünschen. Wir werden gezwungen sein, auf diese Weise zu leben, oder wir werden zugrunde gehen; denn dies wird die einzige Lebensweise sein, die auf dieser Erde noch möglich sein wird. Was die Geschichte aufzeigt und auch die rund fünfzig Jahre meines Lebens, in denen ich verschiedene Arten von Gemeinschaften in verschiedenen Ländern gesehen habe, überzeugen mich davon, daß eine Gemeinschaft, deren einziges Ziel das Überle­ ben ist, nur so lange zusammenhält, als diesem Überleben Gefahr droht. Sogar jede Gemeinschaft, die kein anderes Ziel hat als befriedigende Bedingungen zu schaffen, scheitert; denn sobald die Bedingungen befriedigend sind, werden die zerstö­ rerischen Kräfte viel stärker als die zusammenhaltenden. Aber wenn wir sagen, daß Gemeinschaften nur unter Bedrohung überleben können, daß Bedrohung oder Gefahr von Verlust und Zerstörung der einzige Schlüssel zur Einheit einer Gemeinschaft sind, so ist das ein trostloser Gedanke. Was ist notwendig? Ich denke, wir hier wissen es alle, und wir müssen es genau anschauen. Die einzige Möglichkeit ist die bedingungslose Anerkennung eines höheren Ziels als das des eigenen Überlebens, der Aner­ kennung unseres tiefen Bedürfnisses, in Beziehung zu sein mit einer Macht, die höher ist als wir selbst. Meiner Meinung nach muß das von alten religiösen Vorstellungen befreit geschehen, denn religiöse Ideen haben gewisse Verfälschungen hineingebracht. 26

Diese Beziehung zu einer höheren Macht muß direkter sein, muß viel mehr mit den Auswirkungen unserer tatsächlichen Erfah­ rung übereinstimmen. Was ist es, das reguliert? Was ist es, das ein Säugetier befähigt, seinen besonderen inneren Zustand auf­ rechtzuerhalten - seine gleichbleibende Bluttemperatur, die gleichbleibende chemische Zusammensetzung seines Bluts, die Spannkraft seines Nervensystems -, der so verschieden ist von dem anderer Lebensformen? Es ist eine organische Prägung in einem Säugetier. Es gibt eine organische Struktur in einem Säu­ getier. Die Lebenskraft entspricht dieser organischen Struktur, und so muß es auch in einer Gemeinschaft sein. Man muß wissen und wirklich akzeptieren, daß die mensch­ liche Natur nicht fähig ist, dies ohne Hilfe zu tun. Wir müssen uns von der Illusion befreien, daß der Mensch allein diese zer­ störerischen Kräfte in seiner eigenen Natur überwinden kann. Keine Gemeinschaft, die einfach eine menschliche Gemein­ schaft ist, kann jemals länger überleben als der Einfluß des Drucks andauert, der dazu zwingt, Kooperation zu akzeptieren: sobald der Druck nachläßt, beginnt der Zerfall. Das ist das menschliche Gesetz. Soviel ich weiß, hat es niemals Gegenbei­ spiele gegeben. Die Menschen werden einander nie akzeptieren, es sei denn, sie stehen unter äußerem Druck oder unter Bedrohung. Erst dann ist es möglich, wenn sie ihren Blick über das Menschsein hinaus richten, und wenn sie akzeptieren, daß der eigentliche Sinn ihrer individuellen Existenz und der Existenz der Gemein­ schaft, die sie schaffen möchten und in der sie zu leben versu­ chen, nicht das Überleben ist - oder daß das Überleben nur Nebenprodukt ist. Auch in der menschlichen Befriedigung liegt nicht der eigentliche Sinn, auch sie ist nur ein Nebenbei. Es geht darum, daß die Entwicklung dieser Erde dies verlangt. Und weil das verlangt wird, werden die großen Intelligenzen, die die Ent­ wicklung der Erde lenken, jenen Gemeinschaften helfen, die diese Aufgabe annehmen. Deshalb ist es auch richtig, daß jede Gemeinschaft, die zu überleben wünscht, sich umsehen und schauen sollte, was sie für ihre Umgebung tun kann, und nicht nur für sich selbst: für ihre natürliche Umgebung und für ihre mensch­ liche Umgebung. Sie sollte aber auch darüber hinausblicken und 27

Zweck und Sinn des Lebens auf der Erde zu verstehen versu­ chen und nie zufrieden sein mit dem, was schon verstanden wird, sondern ständig versuchen, immer mehr zu verstehen. Denn nur, indem diesem Sinn gedient wird, kann jene Qualität einer inneren Stabilität entstehen, durch welche eine Gemeinschaft fähig wird zu überleben. Wir müssen wirklich lernen, nicht uns selbst zu vertrauen, nichts Menschlichem zu vertrauen. Wir müssen Illusionen aufgeben, von Grund auf alle Illusionen über den Menschen, und lernen, daß wir unser Vertrauen nur in eine höhere Macht setzen können, eine Macht, die über dem Men­ schen steht. Wenn wir das zustande bringen, wenn ein kleiner Anfang möglich ist, dann werden diese kleinen Geschöpfe, diese kleinen Gemeinschaften, die fähig sind, in dieser neuen Weise zu leben, im Laufe der Zeit aus ihren Höhlen hervorkriechen und auf der Erdoberfläche zu erscheinen beginnen. Sie werden fähig sein, Zuversicht zu verbreiten. Die Leute werden sehen, daß eine neue Lebensform möglich ist. Sie wird sehr, sehr ver­ schieden sein von dem, was wir gegenwärtig kennen; denn was ich am Anfang sagte, denke ich, ist auch hier wichtig, nämlich daß es neue Wahrnehmungsmöglichkeiten geben wird jenseits von Worten, neue Möglichkeiten, einander zu erreichen und eine neue Sensibilität einander gegenüber, ein neues Bewußt­ sein darüber, was das Leben ist und was es von uns verlangt; direkte Wahrnehmungen, so daß es nicht gesagt werden muß. Das sind die Eigenschaften der neuen Art von Menschen, aber es sind auch Eigenschaften, die in uns drin sind, denn diese neue Art von Menschen wird von uns kommen, von unseren Kindern oder unseren Kindeskindern. Sie wird nicht eine plötzliche Erschaffung sein. Sie wird von jenen kommen, die fähig sind, Kinder zur Welt zu bringen, die diese Eigenschaften haben, und sie wird von uns kommen, wenn wir mit wirklicher Entschlos­ senheit alles daran setzen, der Zukunft zu dienen und in uns die Möglichkeit zu öffnen, dies zu tun.

Denken Sie, daß gegenwärtig alle Menschen diese Fähigkeit haben, sich zu ändern, sich zu entwickeln, oder ist es ein all­ mählicher, schrittweiser Prozeß? 28

Beides. Wir haben die Fähigkeit dazu und es ist auch ein schritt­ weiser Prozeß. Nehmen wir als Beispiel ein Organ, das in der nächsten Art von Mensch vorhanden sein sollte und wahr­ scheinlich auch vorhanden sein wird, es wird manchmal "Drit­ tes Auge" genannt, die "höhere" Wahrnehmung oder die "form­ lose" Wahrnehmung. Diese Möglichkeit besteht in allen Menschen, aber sie ist meistens so verkümmert, daß es schwie­ rig wäre, sie zu entwickeln. Sehr wenige Menschen würden den Wunsch haben oder die Notwendigkeit sehen, diese Art der Wahrnehmung zu entwickeln. Der Prozeß wäre also ein all­ mählicher, schrittweiser. Nehmen wir an, daß eine recht große Anzahl Menschen eine andere Wahrnehmungsart entwickeln und es offensichtlich würde, daß sie einander damit auf ganz verschiedene Art ver­ stehen könnten als alle anderen Menschen. Dann würden sich vielleicht viel mehr Leute fragen: Können wir das nicht auch? Man kann es auch so betrachten - und vielleicht könnte es dann zu einer schnelleren Veränderung kommen; aber auch unter sol­ chen Bedingungen glaube ich, daß beim gegenwärtigen Stand der Menschheitsentwicklung, die noch ziemlich am Anfang ist, noch lange Zeit nur ein kleiner Teil der Menschen diese Fähig­ keit entwickeln wird. Ich habe dieses Beispiel genommen, um ein konkretes Bild davon zu geben, wie man die Sache betrachten kann. Wichtig ist, daß Leute, in denen diese Möglichkeit stärker, sogar viel stärker vorhanden ist als in anderen, schon bevor sie entwickelt wird, sich gegenseitig leichter erkennen und sich gegenseitig anziehen, auch ohne zu wissen, wie das passiert. Dadurch neh­ men auch ihre Möglichkeiten zu; aber andere nehmen leider auch ab, denn bis sie in der Lage sind, andere Menschen davon zu überzeugen, daß eine solche Möglichkeit besteht, werden sie wahrscheinlich als Freaks und Außenseiter angeschaut.

Sie sprachen von diesen großen Institutionen, die es heute gibt, mit ihrer Dinosaurier-Eigenschaft von 'Mehr ist besser' und ihrem sich beschleunigendem Wachstum. Könnte man nicht auch sagen, daß die menschliche Spezies selbst diese Dinosaurier29

Eigenschaft hat, mit diesem enormen, noch nie dagewesenen Bevölkerungswachstum, das seine Richtung nicht zu ändern scheint, sondern immer schneller wird? Ich glaube nicht. Ich denke, daß der Mensch hinter seinen zer­ störerischen und egoistischen Impulsen noch andere hat, tie­ fere, und ich denke, daß diese berührt und geweckt werden kön­ nen. Ich denke nicht, daß die oberflächlichen Impulse wirklich zur menschlichen Natur gehören. Es gibt Menschen, die zufrie­ den leben mit dem, was sie haben, und wenn sie dieses Geheim­ nis entdeckt haben, sind dies wirklich die glücklichen Leute. Vielleicht beantwortet das nicht Ihre Frage, aber ich denke, wir sollten diese Sache sorgfältig untersuchen. Einige von Ihnen waren sicher schon in verschiedenen Ländern. War jemand von Ihnen in Nepal vor der Eröffnung der Straße nach Indien? Nie­ mand von Ihnen war dort. Es hat sich sehr verändert in letzter Zeit. Bevor diese Straße bestand und Nepal noch ganz wenig Kontakt nach außen hatte, war es ein wirklich interessantes Land. Die Dorfbewohner lebten mit sehr, sehr wenig, aber sie waren zufrieden. Es gab keinen Wunsch nach Ausdehnung, und auch die Bevölkerung nahm nicht zu. Es ist bemerkenswert, daß, während Indiens Bevölkerung sprunghaft anwuchs, die Bevöl­ kerung von Nepal ziemlich unverändert blieb. Es ist eine sehr bemerkenswerte Tatsache - wenn ich mich richtig erinnere -, daß die Bevölkerungszahl von Burma trotz allem, einschließlich einer recht guten Lebensmittelversorgung, auffallend unverän­ dert geblieben ist. Sie werden sich fragen, ob das etwas mit bud­ dhistischen Ländern zu tun hat. Ich glaube nicht. Ich denke, daß hier die Erkenntnis erhalten geblieben ist, daß es nicht nötig ist, mehr zu haben, um glücklich zu sein. Sie könnten nun sagen: Nepal war so arm, daß seine Bevölkerung nicht zunehmen konnte und es keine Möglichkeit gab, mehr zu beschaffen. Ich war jedoch in einigen Gebieten Afrikas. Ich erinnere mich an einen großen Stamm - gut, vielleicht nicht sehr groß, aber unge­ fähr fünf oder sechs Dörfer mit zusammen etwa zweitausend Menschen -, der ausgewandert war, um von den Weißen weg­ zukommen. Etwa vor hundert Jahren zog er von Südafrika in ein entlegenes Tal. Dort, denke ich, sah ich die glücklichsten 30

Menschen, die mir je begegneten, sie lebten ohne irgendwelchen Drang nach "Mehr". Das war 1947 oder 1948, gleich nach dem Krieg, und dieses Gefühl der Erleichterung, einfach hier unter diesen Leuten zu sein, nachdem ich unter Europäern gewesen war, ist etwas, das ich nicht vergessen werde. Ich kann sagen, daß ich selber recht stabile und alte Gemeinschaften gesehen habe, in vielen verschiedenen Gebieten der Welt, sicher auch in Europa, in einigen Gebieten Mazedoniens, in Asien, in einigen Gebieten Afrikas. Ich habe Gemeinschaften gesehen, die nicht vom Wunsch nach "Mehr" beherrscht waren. Sie könnten nun sagen: Ja, dies sind die rückständigen Völker, es sind jene Völ­ ker, die wir verachten. Vielleicht sehen wir die Dinge verkehrt. Wir haben diese Völker so lange und beharrlich als "rückstän­ dig" bezeichnet, daß sie schließlich selbst beginnen, an unsere Abwertung zu glauben.

Könnten Sie uns sagen, wie diese neue Wahrnehmungsart Ihrer Meinung nach aussieht, und wie sie sich möglicherweise äußern könnte? Sie wissen, wenn zwei Menschen einander sehr nahe sind - und dies kann besonders bei einem Mann und einer Frau der Fall sein -, können sie zu einem Punkt kommen, wo sie wissen, was der andere eben denkt und wo sie zur selben Zeit den gleichen Einfall haben, was sie tun könnten, was sich erst zeigt, sobald sie darüber sprechen. Diese Ideen wurden nicht auf gewöhnli­ chem Wege übermittelt. Sie wissen, daß solche Dinge vorkom­ men. Das ist eine Art der Wahrnehmung, zu der wir alle fähig sind, auch in noch größerem Ausmaß. Aber das ist erst eine Art. Wirklich noch wichtiger als die Fähigkeit, sich ohne Worte ver­ ständigen zu können, ist die Möglichkeit, sich mit höheren Ebe­ nen des Seins in Verbindung setzen zu können, wo Worte ohnehin nutzlos sind. Es ist unbestritten, daß es Fähigkeiten zur Kommunikation gibt, die nicht von außen kommen, sondern von innen her, durch höhere Seinsebenen. Besonders die Fähig­ keit einer gegenseitigen Verbindung gehört dazu: Zu wissen, daß uns nicht nur etwas gesagt werden kann, sondern daß wir 51

auch fragen, uns genauer erkundigen können, um ein breiteres Verständnis zu erlangen. Es gibt sicher Methoden, mit welchen diese Fähigkeiten der Kommunikation gemehrt werden, zuerst einmal erweckt und dann wirksam gemacht werden können. Es ist wie bei einem Kind. Zuerst ist alles, was es sieht, daß es sieht. Es vergeht einige Zeit, bis es Formen erkennen kann. So ist es möglich, daß bei einigen Menschen diese andere Wahrnehmung erwacht ist. Aber weil es nichts Erkennbares gibt, weil es viel­ leicht nicht die Form irgendeiner gewohnten Wahrnehmung annimmt, erkennen diese Leute nicht die Bedeutung von dem, was ihnen geschieht. Sie tun nicht den nächsten Schritt, um die Kraft zu erlangen, womit sie fähig wären, das Bild scharf zu stel­ len. Ohne es zu wissen, bleiben diese Menschen hinsichtlich die­ ser Fähigkeit wie neugeborene Kinder. Sie ist vorhanden, aber die Leute haben keine Ahnung, wie man sie gebraucht; niemand lehrt sie, und niemand sagt ihnen, wie wichtig es ist, diese Fähig­ keit zu haben.

Darf ich Sie um eine Stellungnahme bitten zu etwas, das ich schrecklich finde - daß die größte Wachstumsbedrohung heute das Wachstum der Weltbevölkerung ist. Daß dieses Bevölke­ rungswachstum durch die Anwendung christlicher Prinzipien entstand; mit anderen Worten, wir sind in die rückständigen Länder gegangen und haben Hygiene eingeführt, haben Seu­ chen ausgerottet und Malaria vernichtet und viele tödliche Krankheiten. Wir haben auch bis zu einem gewissen Grad und versuchen es mehr denn je - Kriege beendet, durch welche die Bevölkerung a auch klein gehalten wurde. Nehmen wir ein­ mal ein wirklich übervölkertes Gebiet in der Welt wie Indien, wo die Menschen hungern. Wenn wir morgen hörten, daß dort eine schreckliche Seuche ausgebrochen sei und eine Million Menschen vernichtet habe, würden wir zuerst sagen: wie furcht­ bar! Aber in unserem innersten Herzen würden wir eigentlich sagen, das ist gut für uns alle, eine große Anzahl Menschen ist weg, und es ist besser für die Menschheit. Ich denke, durch die­ ses Bevölkerungswachstum werden wir mit einer ganz anderen Wertung von Mitgefühl konfrontiert. Während wir früher mehr 32

Menschen wollten, das Leben für mehr Menschen erleichtern wollten, kommen wir heute zu dem. Punkt, wo wir uns das Abnehmen der Bevölkerung wünschen. Ich sehe eine große Gefahr darin, daß unser Sinn für Mitgefühl abstumpfen und eine Zeit kommen wird, in der wir sagen: "Wie gut, daß diese Kata­ strophe geschah und jetzt weniger Menschen auf der Erde sind. " Was ist hier die Antwort? Es gibt subjektives und objektives Mitgefühl. Das subjektive Mitgefühl, der Schmerz, wenn wir von Leiden hören oder Lei­ den sehen, wenn wir uns sogar wünschen, dieses Leiden erleichtern zu können, weil es schmerzhaft mitanzusehen ist - diese Art Mitgefühl hilft der Welt nicht wirklich, auch nicht uns oder denjenigen, für welche wir Mitleid empfinden. Es gibt ein objek­ tives Mitgefühl, das viel schwieriger zu erlangen ist, und das ist das Mitgefühl, welches fähig ist wahrzunehmen, was wirklich notwendig, möglich und zum Besten ist. Das heißt auf keinen Fall, daß es das Beste wäre, wenn Millionen von Menschen an einer Seuche sterben würden oder bei einer Katastrophe, aber es kann sein, daß diese Dinge geschehen, ohne daß wir sie wün­ schen. Wenn man das Leiden der Welt vor sich sieht - und die­ ses Leiden ist dermaßen, daß das Sterben von einer Million Men­ schen nicht einen großen Teil allen Leidens der Welt ausmachen würde -, so sollte es in uns eine zentrale Stellung einnehmen. Was zentral sein sollte für uns, ist die ganze heutige Situation der Menschheit und die klare Einsicht unserer Ohnmacht, etwas daran zu ändern. Nicht nur wir können sie nicht ändern, son­ dern es steht in gar keiner menschlichen Macht, sie zu ändern. Ich denke, ich habe hier schon früher darüber gesprochen. Es ist wichtig, das Gesetz zu verstehen, daß jede absichtliche und bewußte Änderung Zeit braucht. Diese Art von Ideen, worüber wir hier gesprochen haben, diese Art von Ideen, die wichtig sind für Sie hier in Beshara, sind sehr wichtig für die Welt, aber sie können nicht schnell durchdringen. Nichts anderes als Ideen werden diese Welt verändern, aber sie können das nur in ihrem eigenen Tempo, wenn sie assimiliert sind und die Leute anfan­ gen, anders zu denken. Hier beginnt das objektive Mitgefühl. Wir sollten auf solche Art leben, die dem entspricht, was für die 33

Welt am besten ist. Wir sollten Versuchskaninchen sein und zei­ gen, daß es möglich ist, auf diese Art zu leben, daß es möglich ist, so wirklich glücklich zu sein und diese Art von Opfer zu bringen. Es ist nichts Einfaches - so sehr wir auch ja, ja sagen mögen zu all dem -, wenn man tatsächlich vor der Entschei­ dung steht, auf etwas zu verzichten, obwohl man die Macht hätte, mehr davon zu bekommen. Das ist dann die Prüfung unse­ res objektiven Mitgefühls. Es ist nicht so, daß, wenn wir weni­ ger essen oder ein bestimmtes Auto aufgeben oder nicht nach London hineinfahren, wenn wir andere Möglichkeiten haben, die weniger Verschmutzung verursachen - daß wir dann, wenn wir all das aufgeben, etwas tun, das zu einer besseren Welt führen könnte. Was aber wirklich wichtig ist: wenn diese Hal­ tung ganz tief in uns verankert ist, werden wir ansteckend. Denn ebenso wie Krankheiten sich durch Kontakt ausbreiten, so ver­ breitet sich ein neuer Standpunkt durch Kontakt. Wir brauchen eine Epidemie, aber es muß die Epidemie einer neuen Haltung sein, die von jenen aufgenommen wird, die sie haben. Man muß objektiv hinschauen. Besorgt zu sein über den Zustand der Welt und besorgt bleiben, wie sehr man auch besorgt ist, das ist ganz einfach der eigene subjektive Zustand. Es kann sogar befriedi­ gend sein für uns, zu spüren, wie feinfühlig wir sind und fähig, besorgt zu sein und so weiter. Worauf es ankommt ist, dieses objektive Mitgefühl zu haben und zu sagen: Ich selbst muß etwas tun, und das kann, obwohl klein in seinen materiellen Auswir­ kungen, sehr, sehr groß sein in seinen geistigen Auswirkungen.

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Selbsterinnerung und die Transformation von Energien

ch wurde gebeten, zu Ihnen über die Selbsterinnerung zu sprechen, in Beziehung zur Transformation von Energien. Eigenartigerweise habe ich eben Gurdjieffs dritte Serie ["Das Leben ist nur dann wirklich, wenn Ich bin"] redigiert', in wel­ cher er davon spricht, wie nach der Schließung der Prieure [das Schulungshaus in Fontainebleau] Gruppen entstanden und sich in Europa und Amerika verbreiteten. Er erzählte, wie Leute in einer Gruppe in Rußland an der Idee festhielten, der Mensch habe drei voneinander getrennte spirituelle "Ich's", so daß jedes einer separaten Entwicklung und Bildung bedürfe, aber eine andere Gruppe in Rußland an der Idee festhielt, daß der Mensch, der nicht an sich selbst arbeite, weder eine Seele noch einen Geist habe. In einer Gruppe, die sich im Norden Griechenlands formiert hatte, griff man die Idee der Dreifaltigkeit jedes kos­ mischen Phänomens auf und konzentrierte alles Interesse aus­ schließlich darauf. Aber eine Gruppe in Bayern griff wieder etwas Anderes auf, und er ging die verschiedenen Orte durch, wohin die Menschen sich verteilt hatten - und dann sagte er, daß die Gruppe, die sich in England zusammenfand, an der Idee festhielt, der Mensch müsse sich seiner selbst erinnern, während eine Gruppe in Nordamerika an der Idee der Selbstbeobach­ tung, des Selbst-Studiums und der Selbst-Erkenntnis festhielt; und wie jede losgelöste Idee einen Zusammenbruch des Gleich­ gewichtes bewirke. Nachdem er sich erholt hatte, besuchte er alle diese Orte und setzte sich mit diesen Menschen wieder in

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Verbindung, und er sah bei einem nach dem anderen auf der Stirn geschrieben: "Kandidat für das Irrenhaus". Das heißt, obwohl diese Sache mit der Selbsterinnerung und der Trans­ formation von Energien sehr wichtig ist, und man sagen kann, daß sie nur eines der 49 notwendigen Elemente in der ganz­ heitlichen Entwicklung des Menschen ist. Das ist nur der sie­ bente Teil eines Siebentels von dem was notwendig ist. Wenn ich also hier darüber spreche, dürft Ihr nicht vergessen, es ist der siebente Teil eines Siebentels. Zuerst einmal gibt es zwei völlig verschiedene Prozesse der Transformation von Energien. Ein Prozeß ist abhängig von unse­ rer eigenen Initiative und Anstrengung, und ein anderer ist abhängig von einem Wirken von außerhalb, einem Wirken von einer höheren, mehr spirituellen Quelle. So kann man sagen, daß unter diesen 49 verschiedenen Prozessen, die für eine umfas sende Transformation des Menschen notwendig sind, es eine Gruppe von Prozessen gibt, die mit Bewußtsein und Wahrneh­ mung in Verbindung stehen, und andere Gruppen von Prozes­ sen, die sich mit Reinigung befassen, dem Ausscheiden von Tumoren und so weiter. Man muß wissen, daß der Mensch gemäß dieser fundierten und ausgewogenen Tradition für seine ganzheitliche Vervollkommnung 49 verschiedene Prozesse durchmachen muß. An der Arbeit der Selbsterinnerung sind drei Energien beteiligt. Eine Energie ist mit dem Körper, eine mit den Gefühlen und eine mit dem Denkvermögen des Menschen verbunden. Dies sind alles natürliche Energien. Sie gehören alle zu seiner menschlichen inkarnierten Natur. Sie sind Folgen sei­ ner Verkörperung, nicht nur in irgendeinen tierischen Körper, sondern in einer besonderen Art von Körper, dem menschlichen Körper. In der Tat ist Selbsterinnerung ein Zustand, in welchem diese Energien miteinander verschmolzen werden, und während ihrer Verschmelzung geben sie dem Menschen einen Zugang zur Welt der Geistwesen, der 'alemi ervah oder der 'alemijehberut. Die Welt der Geister bedeutet nicht eine geistige Welt, das müssen Sie verstehen. Die Wurzel von ervah. Ruh, kann man übersetzen mit Geist oder Seele, kann aber auch Gespenst oder Erscheinung sein. Es ist erst die nächste Welt nach der kör­ perlichen. Manchmal heißt sie auch 'alemi nehati, Pflanzenwelt, 36

Welt der Pflanzen-Essenzen. Dazu müssen wir verstehen, daß der Prozeß der Selbsterinnerung zu unserem natürlichen Sein gehört. Man kann sogar sagen, daß erst, wenn dieser Prozeß stattfindet, der Mensch anfängt Mensch zu sein. Er ist mit kei­ nem kosmischen Test vom Tier unterscheidbar, solange er das nicht in sich hat. Wenn er mit einem kosmischen Maßstab beur­ teilt würde, wäre es nicht möglich, anhand seiner Schwingun­ gen zu sagen, daß er kein Tier sei, außer er hätte den Zustand der Selbsterinnerung in sich. Die Schwingungen eines Men­ schen, der sich restlos verändert hat, werden wirkliche mensch­ liche Schwingungen, insani, wenn er in diesem Zustand ist. Genaugenommen bedeutet das, obwohl er Energien in sich hat, die ein Tier nicht besitzt, diese, solange sie nicht miteinander verschmolzen sind, nicht die Art Schwingung oder Ausstrah­ lung erzeugen, die echt menschlich sind. Wenn wir von Selbsterinnerung sprechen, meinen wir nicht einfach einen mentalen Zustand. Es ist nicht eine Art Denk­ prozeß, obwohl es ein Prozeß in unserem Gefühlsleben ist. Es ist weder eine Ekstase noch ein Zustand des "Aus-der-Welt-Tretens". Es ist ein Zustand, in dem man sich direkt und unmittel­ bar bewußt ist, ein Mensch zu sein, mit der ganzen Würde und Größe, die zum menschlichen Wesen gehört. Zu spüren, daß Ihnen dies fehlt, sollte in Ihnen einen Zustand der Reue oder mindestens Bedauern auslösen, nicht das Wesen zu sein, zu dem Sie erschaffen wurden. Aber erst wenn Sie fähig werden, in einem Zustand des Gleichgewichts zwischen Ihrem Körper, Ihren Gefühlen und mentalen Prozessen zu sein, und diese nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verschmolzen sind, können Sie von Transformation von Energien sprechen. Denn erst wenn Energien miteinander verschmolzen sind, haben sie Zugang zu einer anderen Welt. Aus dem Rohmaterial unserer ganz natürlichen Energien, unserem Körperempfinden und unse­ ren Instinkten, unseren Gefühlen und Emotionen, Wünschen, Interessen, und unserer ganzen Fähigkeit des Denkens und der inneren Bilder, können wir etwas erschaffen, das uns einen Zugang gibt, einen Schlüssel oder eine Plattform, von der aus wir einen Stand und Halt haben, um diese nächste Welt zu betreten. Wenn Sie das nicht befriedigt, müssen Sie mehr Fragen stellen. 37

Könnten Sie etwas über das Essen, der Bedeutung dieser Art von Nahrung sagen. Wenn ich hier so sitze, stellen Sie mir Fragen, an die ich eben denke. Gestern sprach ich über das Thema Nahrung, als wir ein bestimmtes Kapitel in Gurdjieffs Buch [Beelzebubs Erzählun­ gen] lasen. Ich versuchte genau auf das aufmerksam zu machen, was er über die Nahrung sagt, was sehr schwer zu verstehen ist. Nahrung muß durch eine ganze Reihe von Umwandlungen gehen. Es ist wie die ganze Evolution, von der Pflanzenwelt bis hin zur menschlichen Welt, alles geschieht in unseren eigenen Körpern, Schritt für Schritt. Das Essen ist keine spirituelle Nahrung, bevor sie das Blut erreicht hat, und auch dann nur, wenn sie anfängt, sich mit der Luft zu verbinden, die wir einatmen. Bis dahin ist die Nahrung, die wir zu uns nehmen, keine spirituelle Nahrung, sondern ein­ fach Nahrung für unseren Organismus. Aber wenn die Nahrung gereinigt wurde, das Grobe vom Feinen getrennt, und das Feine nun frei verteilt wird ins Blut, wird sie fähig, sich mit den höhe­ ren Energien zu verbinden, den vorhandenen Substanzen in der Luft, die wir einatmen. An diesem Punkt erst beginnt die Nah­ rung spirituell zu werden, und mit der Zeit öffnen sich dafür zwei Wege. Sie kann sich entweder weiter entwickeln, um ein Bestandteil des Materials unserer geistigen Natur zu werden, oder sie kann in Material verwandelt werden, für Aufregung, Genuß und "Verhaftet-Sein", um uns an diese Welt zu binden. Der Ort, wo diese Trennung des Weges stattfindet, ist im Klein­ hirn, dem Nervenknotenpunkt an der Schädelbasis. Hier kön­ nen wir durch die Nahrung, die wir essen, entweder mehr an diese Erde gebunden werden oder wir können sie als Mittel zur Befreiung gebrauchen. Bis dahin haben wir keine Wahl, es ist einfach ein organischer Prozeß, den wir in unserem physischen, organischen oder psychischen Leben für die verschiedenen Arten von Erfahrungen, die uns offen sind, brauchen. Doch zu einem bestimmten Zeitpunkt haben wir die Möglichkeit zu wählen, einen Teil der Substanz der Nahrung, die wir zu uns nehmen, nicht sofort für unsere Psyche, dem auf Erleben aus­ gerichteten Teil in uns, zu verbrauchen, sondern diese Energie 38

einer höheren Vernunft oder einer der Psyche übergeordneten Stelle in uns zuzuführen. Das ist das Geheimnis, das mit der Nahrung verbunden ist. Fasten repräsentiert das auf eine symbolische Weise. Fasten an sich ist bereits ein wirksamer Weg ist, diese Teilung herbeizu­ führen, so daß die Nahrung ihr ganzes Potential für uns entfalten kann. Aber es gibt einen Ausspruch von Mohammed, der hier rele­ vant ist. Ich glaube, es ist eins der hadith [gesammelte Aussprüche des Propheten]. Es könnte vielleicht auch eine erfundene Geschichte sein. Sie wissen, daß der Erst-Bekehrte aus der zarathustrischen Religion, Selman der Perser, ein vertrauter Begleiter des Propheten wurde und hoch angesehen war in Persien. Zu jener Zeit sandte der König von Persien, der noch immer sehr hohe geistige Kräfte besaß, zwei seiner Ärzte und sagte: "Ihr lebt da unten unter sehr schwierigen Umständen und viel härteren Lebensbedingungen als wir, und Euer Auftrag ist sehr wichtig. Ich sende Euch meine zwei besten tahbib, um die Gesundheit und Energie Eurer Jünger zu erhalten." Die Zwei kamen, und nach einem Jahr besuchten sie den Propheten wie­ der und sagten: "Wir kamen zu Euch, wir sind bereit zu dienen, aber niemand hat nach unseren Diensten gefragt. Wie kommt es, daß Eure Leute nie Schwierigkeiten haben? Wir in Persien haben immer Schwierigkeiten mit den Leuten. Wir müssen ihre Energien ausgleichen, und die Menschen bei Euch haben es nicht nötig, daß man ihre Energien ausgleicht?" Der Prophet ant­ wortete: "Es ist eine einfache Regel, die wir befolgen. Jeder mei­ ner Gefährten geht vom Tisch, wenn er noch hungrig ist, und keiner ißt mit mir, bis er satt ist. Aus diesem Grund haben wir nie Schwierigkeiten mit der Gesundheit oder mit unseren Ener­ gien." Der Prophet hielt sehr viel von dieser Art der Kontrolle über das Essen. Er fastete immer mehr als seine eigenen Jünger. Er hatte immer eine Fastenzeit mehr, als die Religion es vorschrieb. Es ist kein Leichtes zu wissen, wie man diesen Rat befolgt. Aber wenn wir lernen, unser inneres Selbst zu bitten, für uns darüber zu wachen, beginnen wir eine bestimmte Art von Sen­ sibilität zu entwickeln, die uns jeden Moment sagen kann, ob es der richtige Moment ist, mit dem Essen aufzuhören. Nachdem wir gegessen haben, können wir erspüren, was für eine Art 39

Aktivität die passende ist, damit die Energien, die aus der Nah­ rung kommen, zur richtigen Stelle hingehen oder ob es wün­ schenswert ist, sehr aktiv zu sein und den physischen Körper anzustrengen, oder ob es notwendig ist, still und ruhig zu sein. Dieses innere Wissen muß erworben werden und ist keinen Regeln unterworfen. Es ist eigentlich nicht möglich, den Leu­ ten zu sagen, jeder sollte so und soviel essen, oder jeder sollte nach dem Essen ruhen, oder jeder sollte nach dem Essen eine Zeit lang intensive körperliche Übungen machen, denn das Gleichgewicht der Energien sieht in jedem Menschen anders aus. Aber jeder Mensch hat wirklich an der Schädelbasis diesen Punkt der Trennung der zwei Wege. Wenn wir beginnen, uns dafür zu sensibilisieren und wissen, wann wir unseren Energien erlauben können, nach außen zu fließen und wann wir sie nach innen richten müssen, können wir ein Gleichgewicht herstellen zwischen äußerer und innerer Aktivität. Äußere Aktivität besteht in der Erfüllung unserer Pflichten als inkamierte Men­ schen und innere Aktivität bezieht sich auf die Vervollkomm­ nung unserer eigenen Natur, unser Weg der Befreiung, unser Weg aus dieser Welt hinaus, und die Vorbereitung für unsere weitere Bestimmung nach diesem Leben. Der ausgleichende Punkt für all das liegt an der Schädelbasis.

Wenn alles hier und jetzt ist, scheint mir eines der großen Pro­ bleme für Menschen, die diesen Weg anstreben, die Frage zu sein, wie wir dazu kommen, das Konzept des nächsten Lebens oder die kommende Welt zu begreifen - da alles hier und jetzt ist. Es kommt darauf an, wie stark wir innerlich gefestigt sind. Jemand der innerlich gefestigt ist, sieht Vergangenheit und die Zukunft als khayal, als Traum. Er kümmert sich nicht darum. Er weiß, daß alles jetzt hier ist und für ihn ist alles schon, was es ist. Innere Festigkeit, mutma'in, gilt für die, die es sind. Es ist sinnlos zu sagen: "Ich habe mich nun entschlossen zu leben, ohne mich um Vergangenheit und Zukunft zu kümmern." Denn dafür muß man befreit sein von Angst, von Wünschen und Hun­ ger nach Leben. Wenn man das ist, so ist man es. Wenn man es 40

nicht ist, kann man es nicht vortäuschen. Wo stehen nun diejenigen, die noch nicht zu diesem inner­ lich gefestigten Zustand gelangt sind? Für sie sind Vergangen­ heit und Zukunft keine Illusion, denn sie gehören zu der Welt, in welcher es Vergangenheit und Zukunft gibt. Wenn man in einer von der Zeit bestimmten Welt lebt, ist man selbst der Zeit unterworfen und man muß so leben. Zum Beispiel sind wir in erster Linie verkörperte Wesen. Dieser Zustand des Inkarniert­ seins in einem Körper macht es unumgänglich. Wir müssen mit dem Zeitlichen verbunden sein. Als ich gebeten wurde, bei Ihnen zu sprechen, mußte ich herausfinden, ob es noch etwas ande­ res gab, das ich zur gleichen Zeit tun sollte. Aber da mein Kör­ per nicht das gleiche tun kann wie vielleicht mein Inneres, näm­ lich hier zu Ihnen, und gleichzeitig in Sherbome zu anderen Leuten zu sprechen, mußte ich herausfinden, ob ich, bevor ich zu Ihnen fahre, erst noch mit jemand anderem zu sprechen hatte. Das ist eine der Grenzen der Inkarnation in einem Körper, und das gleiche gilt für unsere Psyche. Die Psyche des Menschen, seine persönliche Identität, ist auch eine Art zeitlicher Zustand, und es ist nutzlos zu glauben, daß unsere persönliche Identität die gleiche Freiheit haben kann, die zu einem völlig befreiten Menschen gehört. Doch man kann sagen, daß dabei mindestens drei verschiedene Dinge berücksichtigt werden müssen: Erstens gibt es den Zustand der körperlichen Inkarnation. Dann gibt es den Zustand der Psyche, des Lebens der bewuß­ ten Erfahrung des Menschen; das kann man nicht außer acht lassen. Für das inkarnierte Wesen gibt es einen Prozeß, einen Tod, der die Trennung vom physischen Körper bewirkt und das Ende des spirituellen Lebens des physischen Körpers ist. Danach wird dieser wieder ein Ding wie andere Dinge, und seine Ele­ mente verbinden sich wieder mit dem Planeten, von dem er kam. Der zweite Teil im Menschen ist, auch wenn er vom Körper getrennt ist, immer noch der Zeit unterworfen, und da liegt ein Problem. Man kann vom Leben nach dem Tod sprechen, nur muß man ganz klar wissen, daß dies nur deshalb möglich ist, weil man von dieser Art Existenz, nämlich einer psychischen Existenz gehalten wird. Löst sich diese auf, läßt man sie los oder läßt man sich nicht mehr halten davon, ist die Zukunft keine 41

Frage mehr und nicht von Belang, kein "nach dem Leben" und kein Vorher oder Nachher. Wie auch immer, es nützt uns nichts, zu sagen, "weil es unser Ziel ist, diese zeitlose Freiheit oder die­ sen Zustand der Einheit anzustreben, wir deshalb so leben sol­ len, wie wenn die Situation jetzt so wäre", denn wir sind nicht frei. Das gilt nicht nur für unseren physischen Körper und die Umstände hier, sondern auch für unsere psychische Natur, die nicht fähig, ist frei zu sein. Das, was frei sein kann von Zeit, von Vergangenheit und Zukunft, liegt in einer anderen Dimension, es ist die göttliche Natur in uns. Zuerst scheint es paradox zu sagen, die Realität sei zeitlos, also hier und jetzt, kümmern wir uns demnach nur um das. Aber nein, denn wir sind auch erschaffen worden als "in der Zeit lebende" Kreaturen. Dies wurde über uns bestimmt und ist nicht unsere Wahl. Vielleicht war es unsere Wahl, aber niemand kann sich wirklich in den Moment zurückversetzen, in dem er erschaf­ fen wurde, und fragen, ob es im frei gestellt wurde zu wählen oder zu gehorchen. Wie auch immer, jetzt sind wir hier und in diesem Zustand, und dazu gehören Teile in uns, die nicht an unseren physischen Körper gebunden oder nicht völlig von ihm abhängig sind. Dieser zweite Teil in uns muß lernen, sich zu befreien, um frei sein zu können von der materiellen Welt, das heißt aber nicht frei von Zeit, aber frei von allen Begrenzungen. Ich gebe Ihnen eine vereinfachte Version, wenn ich sage, daß es einen inkarnierten materiellen Zustand gibt, einen psychi­ schen oder diskarnierten, aber doch zeitgebundenen Zustand, und einen Zustand der Befreiung, in dem es keinen Körper, keine Psyche, keine Zeit, keine Vergangenheit und folglich keine Zukunft, keine Abhängigkeit von irgend etwas, keinen Unter­ schied zwischen dem Einen und dem Vielen, und deshalb kei­ nen Unterschied zwischen Gott und der Kreatur gibt. Obwohl es stimmt, daß dieser letztgenannte Zustand auch da ist, sind wir in eine Situation gestellt, daß wir arbeiten müssen, wenn wir es in uns haben, und falls dies unsere Bestimmung ist, wer­ den wir das auch tun, um zu diesem Zustand der reinen Frei­ heit zurückzukehren, so frei wie Gott.

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Was hat der Versucher für eine Funktion?

Warum kann ein Tier die Freiheit, von der wir sprechen, nicht erreichen, solange es in dieser Existenzform bleibt? Sicher ken­ nen Sie die Antwort. Ist es, weil ein Tier nicht versucht und auch nicht verführt werden kann? Dies wurde uns gegeben, um uns die Möglichkeit zu eröffnen, aus unserem menschlichen Zustand verwandelt zu werden; aber auch, damit wir weniger als ein Tier werden können, was der Preis dafür ist, auch mehr als ein Mensch werden zu können. Als die Ordnung der Welt erschaf­ fen wurde, sah man, daß diese Welt niemals ihren Zweck erfül­ len konnte, und so wurde ihr die Unordnung hinzugefügt.

Ich verstehe nicht, was Sie mit 'weniger als ein Tier' meinen, denn wenn man versucht wird, merkt man oft nicht, daß es geschieht. Ist das wirklich der Zustand 'Weniger als ein Tier' zu sein?

Ich beantwortete diese Sache bereits bei der ersten Frage über die Selbsterinnerung [Was ist der Zweck der Selbsterinne­ rung?]: Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch den Zustand der Selbsterinnerung. Es ist die innere Qualität, die uns befähigt, die Geister zu unterscheiden. Ich glaube, es war der heilige Jakob, der sagte, daß diese Unterscheidung nicht im Zustand des tierischen Bewusstseins entstehen kann. Für uns ist es möglich, eine solche Verschmelzung unserer Zustände zu haben, daß wir empfänglich sein, unterscheiden und erkennen können; das ist der Anfang, wäre da nicht dieses wiswas - eines der schönsten arabischen Worte -, denn man sieht, er ist es doch nicht. Es ist nicht, wie wenn uns ein klares Ding vorgesetzt wird - hier dieser Apfel. Sie essen ihn, sie wissen, Gott sagte, tue es nicht, aber Sie tun es trotzdem. Wenn es nur so einfach wäre! Aber es funktioniert nicht so. Es ist wiswas. Kennen Sie diese Sure [Kapitel des Koran]? Es ist eine der sehr kurzen Suren am Ende des nach Suralängen eingeteilten Korans. Dieser Abschnitt ist sehr interessant, denn man bittet um Unterscheidungskraft gegenüber diesem Geist der Verwirrung und des Zweifels, wie er sich in den Dschinnen (Geistwesen) und dem Menschen mani43

testiert, in den unsichtbaren Kräften, die in uns und auch im Verhalten der Menschen wirken. Es ist eine für die Rezitation empfohlene Sure, die vor dem namaz [Gebet] rezitiert wird.

Könnten Sie etwas über das Wesen des Glaubens sagen? Jede Frage, die Sie mir heute gestellt haben, ist mir in den letz­ ten achtundvierzig Stunden gestellt worden. Eigentlich ging es bei dieser Frage um die Hoffnung. Hoffnung ist das wachsende Bewußtsein, daß die schöpferische Kraft wohlwollend ist. Über­ legen Sie sich das mal, und meditieren Sie darüber. Das ist unsere Hoffnung. Wenn sie uns gegenüber gleichgültig oder feindlich wäre, gäbe es keine Hoffnung. Glaube - darüber sage ich fol­ gendes: Zuerst müssen wir richtig erfassen, was ich über die Hoffnung sagte, nämlich, daß der Prozeß unserer eigenen Umwandlung nicht in einer gleichgültigen Umgebung stattfin­ det, und sicher nicht in einer feindlichen. Aber das heißt nicht, daß es keine Feindlichkeit gibt. Natürlich gibt es die. Aber das Großartige ist, daß sich die schöpferische Kraft mit unserer Erschaffung beschäftigt, die jetzt in diesem Moment im Gange ist. Es ist nicht eine Angelegenheit kosmischer Gleichgültigkeit, daß Sie und ich göttliche Wesen werden können. Wenn wir uns daran halten, beginnen wir auch eine andere Aussage zu ver­ stehen. Ich glaube, es ist ein hadith das sagt: Wer einen Schritt auf mich zukommt, dem komme ich zehn Schritte entgegen. Wenn das in Ihnen anfängt zu wirken, beginnen Sie zu erfah­ ren und selbst zu sehen, wieviel mehr Sie erhalten als Sie geben, wie die Früchte Ihrer eigenen winzigen Opfer weit über das hin­ ausgehen, wozu Sie in einem Moment der Aufrichtigkeit je berechtigt wären. Das führt dann zu etwas anderem. Ihre inneren Ängste, das Gefühl der Unsicherheit beginnen sich aufzulösen - all das kommt von dem tiefen und richtigen Bewußtsein, daß Sie nichts sind, daß Sie nichts haben, das Sie diesem täuschenden Geist, diesen Kräften, die nun mal in dieser Welt sind, entge­ gensetzen können - und trotzdem wissen Sie, daß etwas da ist, und dieses Wissen, dieses Bewußtsein, dieses eigentliche Bewußtsein beginnt in Ihnen zu wachsen. Es verändert sich dann 44

von dem Bewußtsein, daß die schöpferische Kraft uns wohl­ wollend und gut gesinnt ist, in das Bewußtsein, daß die schöp­ ferische Kraft recht eigentlich am Werk ist in uns. Dann beginnt es Glauben zu sein.

Wie kann ein Mensch ein Kanal für das Heilen sein? Sie erinnern sich, daß ich sagte, daß von den neunundvierzig verschiedenen Dingen, die am Werk sein müssen, um Vollen­ dung und Perfektion des Menschen zu erreichen, einige von uns und unserem positiven Handeln abhängig sind. Einige sind von unserer eigenen Initiative abhängig. Einige sind abhängig von unserer Bereitschaft Opfer zu bringen, sich hinzugeben und auf­ zugeben. Andere wiederum sind einfach abhängig von unserer Fähigkeit zu akzeptieren und offen zu reagieren, und da alle diese Dinge notwendig sind, haben sie bei jedem Weg, der sich auf eines davon beschränkt - und der zum Beispiel sagt, die große Heilkraft werde die ganze Arbeit tun, man müsse nur offen sein dafür -, eine der neunundvierzig Wahrheiten gesagt, aber nicht die restlichen achtundvierzig. Wenn Sie sagen, man muß sich seiner selbst erinnern - muß der Mensch das tun, weil er die Macht hat dazu, aufmerksam und wach zu sein, "achtsam" wie Buddha sagt -, haben Sie damit eine der 49 Wahrheiten gesagt. Wenn Sie sagen, das sei die einzige Wahrheit, so haben Sie zu etwa 2 Prozent recht. Wenn Sie sagen, es gebe eine Heil­ kraft, die zur gleichen Zeit uns selber reinigen werde, stimmt das, aber nur verbunden mit noch vielen anderen Dingen. Es kommt immer wieder auf dasselbe heraus. Was geschieht? Wie ist eine Person ein Kanal zum Heilen? Es ist so, daß es eine ganze Reihe von heilenden Energien gibt, die auf verschiedene Arten wirken. Es gibt heilende Energien, die einfach die Energien in unserem Organismus freisetzen, die ihm die Selbstheilung ermöglichen. Wiederum gibt es andere, höchste Energien, die direkt und fast augenblicklich wirken - Wunder also. Wenn Sie jedoch über Heilen sprechen, müssen Sie verstehen, daß Sie über eine Vielfalt von Dingen sprechen. Es gibt ein Heilen, das die Einwilligung und den Glauben der zu heilenden Person braucht. 45

Es gibt andere Arten von Heilen, bei denen die Person nichts davon wissen kann, das Ganze ablehnen oder ihnen sogar feind­ lich gesinnt sein kann, und trotzdem wird in ihr etwas bewirkt. All dies müssen Sie wissen. Die Erfahrung zeigt, daß es alle diese verschiedenen Arten von Heilen gibt. Aber es gibt eine heilende Handlung, die eine Reinigung mit sich bringt, dafür aber braucht es einen bestimmten Zustand der Einwilligung. Wenn diese besondere Handlung erbittet wird ohne uneingeschränktes Annehmen der Notwendigkeit, seine eigenen Fehler und Schwä­ chen zu opfern, Eigenliebe und Egoismus und so weiter, wenn das nicht geschieht, mag die Heilung wohl stattfinden, aber das Resultat ist sehr schlecht, weil dann das Resultat auf die Person zurückfällt. Deshalb ist es sehr gefährlich, sich einer Heilung zu unterziehen oder an Heilhandlungen teilzunehmen, wenn man nicht weiß, um welche Art der Heilung es geht, und ob - wenn es sich um eine bestimmte Art des Heilens handelt -, die Leute selber im richtigen Zustand sind. Wenn es eine andere Art des Heilens ist, spielt es keine Rolle, ob Sie im richtigen Zustand sind oder nicht. Es ist eine gute Sache, was ich Ihnen über diese neunundvierzig Dinge sagte. Es sind sieben mal sieben. Selbst wenn Sie sie nicht kennen, ist es ein sehr großer Schutz, sich daran zu erinnern: "Ich weiß das, und ich weiß, daß diese Dinge gut sind, aber wieviele Dinge gibt es, die ich nicht weiß? Und für wieviele Dinge kann ich folglich nur beten?" Da, wo wir nicht wissen, bleibt uns nichts anderes, als zu beten. Wenn wir wissen, können wir handeln. Wenn wir nicht wissen, müssen wir beten. Darum müssen wir immer sagen: "Was ich weiß, will ich tun. Das, was in mir wirkt, will ich unterstützen und dem will ich helfen. All das, was ich nicht weiß, und auf was ich aus Unwissenheit zu antworten nicht fähig bin, laß das in mir gesche­ hen wie es soll, trotz meiner Unwissenheit; eine solche Art Gebet braucht es. Anmerkung: l) Privatdruck E.P. Dutton & Co., Inc., für Triangle Editions, Inc., New York, 1975, dt.: Das Leben ist nur dann wirklich, wenn "Ich bin", Basel 1987, Sphinx

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Die sieben Linien der Arbeit

Inwieweit können wir voneinander lernen? Unsere Beziehung zu Gott wird nur dann direkt, wenn ein bestimmter Grad an Reinheit erreicht worden ist. Wenn wir dies mit den Begriffen fand und baqa ausdrücken wollen, dann ist es nicht nach dem ersten fana, daß man sich seiner Beziehung zu Gott bewußt wird. Gott bleibt uns immer noch verborgen. Wir müssen uns deshalb vor Augen halten, daß dies eine Reise ist, eine Pilgerfahrt. Es stellt sich die Frage, ob wir diese Pilger­ fahrt allein machen können, oder ob es besser ist, die Reise in der Gesellschaft anderer zu machen; und wenn ja, wieso? Es gibt so viel darüber zu sagen, daß ich viel Zeit brauchte, um es mir selbst deutlich zu machen. Erstens, wie Sie sagten, können wir uns nicht leicht selbst sehen. Es gibt ein hadith - "seid Spiegel zueinander" - und die­ ses "sich selbst im anderen sehen" wird in allen Religionen als Weg vorgeschrieben; viele dieser Facetten werden in Bildern ausgedrückt. In Attars "Vogelgesprächen" zum Beispiel, brauchten die Vögel sich gegenseitig. Man kann viele Erklärun­ gen geben, aber ich würde sagen, daß es einen anderen Weg gibt und der ist direkt. Ich kann Ihnen sagen, wie es für mich ist ich zweifle nie daran, daß ich andere brauche. Ich erinnere mich, dies vor langer Zeit gesagt zu haben, und jemand sagte zu mir: Ja, aber Sie leiten Gruppen und Sie arbeiten mit Menschen natürlich ist es dann so; aber angenommen, Sie hätten keine Gruppen und arbeiteten nicht mit Menschen; was würden Sie 47

tun? Und ich sagte: Also, ich ginge auf die Straße und holte mir den Erstbesten, weil ich nie das Gefühl gehabt habe, ich schaffte es allein, ohne die Kameradschaft anderer Menschen. Als ich meine Antwort zu Ihrer Frage überlegte, dachte ich, also, die Antwort heißt, daß keine Erklärung notwendig ist - es sollte uns allen klar sein, daß wir einander brauchen und daß wir uns zudem noch erinnern sollten (und das möchte ich in diesem Zusammenhang besonders betonen), daß wir noch nicht etwas Besonderes in Gottes Augen sind. Wir mögen in irgendeiner Weise besonders scheinen, aber für Gott sind wir nichts Beson­ deres. Am letzten Dienstag, St. Georgstag, als wir das Fest fei­ erten, habe ich in Sherborne darüber gesprochen und auch dar­ über, daß es nötig ist, sich von jeglichem Gefühl "besonders zu sein", zu befreien. Wenn man sagt: Ich möchte meinen eigenen Weg zu Gott finden, dann ist es sehr schwierig, sich nicht anders als die ande­ ren zu fühlen. Ich habe auch schon darüber gesprochen, aber für mich ist es so wichtig, daß ich es immer erwähnen muß, wenn sich die Gelegenheit bietet. Es ist viel wichtiger, daß wir Menschen sind, als daß wir dieser spezielle Mensch sind. Sich als gewöhnlich zu fühlen ist die einzige Rettung vor vielen ver­ schiedenen Feinden, die unserem eigenen Egoismus entsprin­ gen. Wer sich wirklich als gewöhnlich fühlt und es wirklich echt fühlt, wird vor vielen Feinden geschützt. Ein Weg, sich als gewöhnlich zu fühlen, ist, sich dessen bewußt zu sein, daß wir alle im gleichen Boot sitzen. Schauen Sie, wir sprechen von unserer Beziehung zu Gott. Natürlich sollte dies der stärkste Beweggrund über allen ande­ ren Beweggründen sein. Aber schaut z.B. die christlichen Selig­ preisungen an, die den Anfang der Bergpredigt bilden. Es ist die sechste, welche besagt: "Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen"; die Seligpreisungen beginnen nicht mit dieser. Viel muß vorher geschehen. Sie fangen an mit "Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr." Dies heißt: selig sind die, die keine Vorstellungen über sich selbst herumtragen, sie seien etwas Besonderes. Das ist genau, was ich sage, selig sind die gewöhnlichen Leute, die nämlich, die sich als gewöhnlich empfinden; das sind die bedeutenden 48

Menschen. Die nächste Seligpreisung besagt, daß man den Preis des Leidens bezahlen muß - "Selig sind, die da Leid tragen" -, man muß bereit sein, durch das Leiden hindurchzugehen und es als Notwendigkeit auf dem Weg zu akzeptieren. Dann folgt "Selig sind die Sanftmütigen"; dies bedeutet etwas sehr Wich­ tiges, nämlich 'versuche nicht, etwas mit Macht herbeizu­ führen', und spricht von denen, die frei sind von Gewalt. Des­ halb heißt es "Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen." Diese Seligpreisung sollte wirklich verstan­ den werden; sie ist enorm wichtig für unsere Zeit, in der man versucht, alles durch Kraft, Macht und Gewalt zu tun. Die Leute sind immer überrascht, wenn sie dies lesen - wieso sollen es die Sanftmütigen sein, die die Erde erben? Die Antwort dazu ist, daß dies der einzige Weg ist, durch den die Erde eine spirituelle Heimat für den Menschen werden kann. So lange die Gewalt­ tätigen oder die Machthabenden und Machtausübenden herr­ schen, kann es nicht sein. Dann folgt: "Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden." Das meint, daß ein starkes Verlangen da sein muß, einfach sein eigenes Wesen in Ordnung zu haben, frei zu sein von allem Negativen, und die nötige Kraft zu haben. Dann folgt unsere Einstellung anderen Leuten gegenüber: "Selig sind die Barmherzigen, denn sie wer­ den Barmherzigkeit erlangen." Etwas sehr wichtiges und sehr Merkwürdiges an dieser Seligpreisung ist, daß in ihr als einzi­ ger das, was man bekommt und das, was man schenkt, das glei­ che ist. Wenn man sie anschaut, fällt sie eigentlich mit jener hadith des heiligen Propheten zusammen - "seid Spiegel für­ einander". Hier ist wirklich der Zusammenhang zu dem, wovon wir sprachen. Und dann, wenn diese fünf Bedingungen erfüllt sind, sind wir angekommen bei der Reinheit des Herzens, die einem ein direktes Bewußtsein der Gegenwart Gottes schenkt. So wird es in den Seligpreisungen dargestellt. Aus diesem Bewußtsein kommt die Manifestation: "Selig sind die Friedfer­ tigen"; -wenn es mit Gottes Gegenwart geschieht, ist die Mani­ festation möglich. Zu welchem Zweck? Um Frieden zu stiften.' Die Seligpreisungen sind ein überaus wundervolles Bild der Pilgerfahrt. Zu allen Fragen, die Sie stellen, ist da eine Antwort 49

enthalten. Aus dieser Sicht ist es nicht das Ziel, das Endziel, Gott zu sehen. Wenn man Gott gesehen hat, wird die Fähigkeit, Frieden zu stiften und der Menschheit Frieden zu bringen, zum Ziel. Am Schluß kommt das letzte Stück über bewußte Arbeit und absichtliches Leiden: "Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr"; das Ganze führt wieder zurück zum Anfang. Diese und die erste Seligpreisung sprechen beide von der Beschaffenheit der Men­ schen, denen das Himmelreich gehört. Man kann nicht eine der Seligpreisungen herauslösen und sagen: Auf diese werde ich mein Leben aufbauen, auf die anderen nicht.

Ist es notwendig, verschiedene Werke während dieser Arbeit zu studieren, oder wird daraufzu viel Gewicht gelegt? Schauen Sie, wenn das Wissen und das Sein eins werden, ist es anders. Man nennt es das alemi imkan, die dritte Welt. Dann ist es nicht notwendig zu erkennen, weil man erkannt worden ist. Dies ist aber das dritte Stadium. Viel muß getan werden, bis wir diese Welt erreichen. Man muß ein mentales Bild des Weges haben. Sicher, je weni­ ger man sich auf Worte verlassen muß, desto besser, und doch muß man so anfangen; aber besser als Worte sind Bilder, bes­ ser als Bilder sind Erfahrungen, besser als Erfahrungen ist die direkte Wahrnehmung. Aber eben, man muß dem Weg folgen. Schauen Sie, wir haben eine sehr verzerrte Vorstellung von der Welt, nicht nur darin, wie wir über die Welt denken, son­ dern auch darin, was hinter unserem Denken eingebettet ist, dessen wir uns gar nicht bewußt sind. Wir brauchen eine Neu­ einrichtung - wir kommen nicht darum herum. Unsere Erzie­ hungsmethode und unser ganzes Erziehungssystem zielen fast ausschließlich auf die materielle Welt oder auf die Welt der Kör­ per - das alemi edjsam, die mit den Sinnen erfaßbare Welt, die Welt der Trennung- die man kennen muß, weil man sonst nicht teilnehmen kann, da man nicht direkt in sie eintreten kann. Seit unserer Geburt wurden wir dahin konditioniert, diese Welt als die Wirklichkeit anzunehmen, daß etwas getan werden muß, 50

um neue Formen des Denkens zu entwickeln. Darauf kommt es wirklich an. Ich könnte hierher kommen, um nichts anderes zu tun als Ihnen spezielle Techniken zu vermitteln, um dies oder das zu tun, um diese oder jene Tür der Wahrnehmung zu öff­ nen, aber in Wirklichkeit komme ich, um über solche Dinge zu sprechen, nach denen Sie mich am Anfang gefragt haben. Nur, diese Art Studium sollte man so präsentieren, wie es z.B. Ibn 'Arabi tut, durch viele Bilder. Er macht das meiste durch Bilder und sehr wenig durch abstrakte Darstellung. Sie sollten sich vor­ nehmen, die ersten zwei Stufen zu verbinden - ich meine die erste Stufe, Ideen zu übermitteln durch Worte, und die zweite Stufe, sie zu übermitteln durch Bilder -, und sie dann weiter zu verbinden mit der eigenen Erfahrung. Damit wird es ganz natür­ lich, Beispiele aus der eigenen Erfahrung zu suchen, sogar für sehr erhabene Ideen; weil alles auch auf einfache Art verstan­ den werden kann, auch wenn es noch so tief ist. Wenn Sie mir von einer Idee erzählen, mit der die Leute Mühe haben, in Kon­ takt zu kommen, weil sie das Gefühl haben, sie sei entweder zu abstrakt oder aber nicht genug mit den Problemen des täglichen Lebens oder mit dem Problem der Arbeit an sich selbst und der Stärkung seines eigenen Wesens verbunden, dann bin ich sicher, ich kann Ihnen zeigen, daß ein Zusammenhang besteht. Haben Sie etwas, irgendwelche abstrakten Ideen, die Sie schwierig fin­ den, mit der eigenen Erfahrung zu verbinden?

Wenn wir schon von Ibn 'Arabi reden: Was bedeutet "a'yan al thabitah"? Lassen Sie mich Ihnen einfach eine Frage stellen. Angenommen jemand würde Ihnen zehntausend im Jahr anbieten, um auszu­ ziehen, ein großartiges Geschäft zu führen, mit der einzigen Bedingung, Sie würden nie wieder über diese Art Ideen nach­ denken, was würden Sie tun?

Ich wäre nicht imstande, es zu tun.

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Also, das ist das a'yan al thabitah. Weil Sie in sich selbst wis­ sen, daß Sie es nicht könnten. Jene unerschütterliche Erkennt­ nis, die Sie nicht aufgeben könnten - das ist das a´-yan al thabitah. Wohl bemerkt, es kann noch viel weiter führen, aber das ist grundsätzlich, was es heißt. So steht es auch in der Bergpre­ digt: "Kein Mann kann zwei Herren dienen, sonst wird er zum einen fliehen und den anderen verachten, oder er wird einen lie­ ben und den anderen hassen." So wird es aus gedrückt. Es ist ein Bild. Es wird Ihnen bewußt, daß es etwas in Ihnen gibt, das Sie nicht aufgeben können, was Ihnen auch angeboten wird, und gleichzeitig mag es Ihnen ganz bewußt sein, daß es schon gut ist, wenn es Ihnen während fünf Minuten im Tag gelingt, die­ ser Idee zu dienen: es ist Ihnen klar, wie wenig Sie dafür tun, aulhören können Sie jedoch nicht. Verstehen Sie? Ich kann mich erinnern, als mir gleich nach dem Krieg ein solches Angebot gemacht wurde. Ich wurde eingeladen, in den Süden von Wales zu gehen, um möglicherweise schließlich der Geschäftsführer einer der größten industriellen Gruppen Eng­ lands zu werden; und ich wußte, wenn ich dies annehmen würde, würde das heißen, mich selbst zu geben; und der Verwaltungs­ rat, der mir diese Stelle anbot, wußte auch, daß ich diese Wahl treffen mußte. Entweder mußte ich dieser Gruppe dienen - ganz dienen, oder eben nicht - und ich erinnere mich, wie einfach es war.

Könnten Sie uns mehr über das Dienen sagen? Ich habe mit Ihnen schon über die "sieben Methoden der Arbeit" gesprochen, oder nicht? Diese Arbeit geht das Innere und das Äußere an, und es gibt darin einen aktiven Zustand und einen empfangenden Zustand. Eine Linie der Arbeit enthält die aktive Suche nach dem, was wir brauchen - dort sind wir aktiv, um etwas von draußen zu holen. Das Studium gehört strengge­ nommen zu dieser Linie. Man kann es die Suche nennen, aber es ist mehr als Suche, weil es wirklich ein Aufnehmen und Assi­ milieren ist, durch eigene Aktivität und Absicht. Es ist diese erste Richtung der Arbeit, die einen dazu treibt, einen Lehrer, 52

eine Quelle zu suchen. Es beginnt vielleicht mit Lesen. Eine ziemliche Vielfalt von Dingen gehört zu dieser Linie, aber sie haben alle die gemeinsame Eigenschaft, die Hilfe, die wir brau­ chen, mit unserem aktiven Streben zu holen: die mentale Nah­ rung, die geistige Nahrung, die wir brauchen, von denen zu holen, die sie besitzen; oder in einigen Fällen von der Natur. Die zweite Art Arbeit ist die, die in uns selbst geschieht. Es ist die Interaktion zwischen einem Teil unserer Natur und einem anderen. Wir nennen dies innere Arbeit. Wenn wir versuchen, in uns selbst Groll und Habgier, Eigenliebe und so weiter zu überwinden, dann ist das der Kampf eines Teiles von uns mit einem anderen; eine sehr notwendige Arbeit. Hier ist die Arbeit sehr oft schmerzhaft. Sie bringt vielleicht Selbstverleugnung mit sich. Eigentlich ist es immer Selbstverleugnung in irgendeiner Form, weil ein Teil in uns bejaht gegen einen anderen, der ver­ neint. Diese Arbeit an sich selbst, die innere Arbeit, hat, wie Sie sehen, viele verschiedene Aspekte. Die dritte Linie ist dort, wo die Arbeit geschieht, von innen nach außen. Dies ist das Dienen, dort geben wir von dem, was wir haben. Dies ist auch notwendig für uns, und es kann keine Selbst-Vervollkommnung geben ohne Dienen. Das Prinzip des Dienens ist immer und in allem, mehr zu geben, als wir neh­ men, und unsere Kräfte dazu zu benützen, um zum spirituellen Fortschritt der Welt beizutragen, aus uns heraus und aus dem, was wir tun können mit den Mitteln, die wir zur Verfügung haben. Das ist die dritte Linie der Arbeit. Die vierte Linie überspringe ich im Moment, weil es etwas Besonderes ist, das erst am Schluß zur Sprache kommt. In jedem einzelnen Fall hängen die Linien, die ich beschrieben habe, von etwas Aktivem unsererseits ab. Wir müssen uns auf den Weg machen und suchen - sucht das Wissen, sogar in China, sagte der heilige Prophet. Dann gibt es den Kampf mit sich selbst, in dem wir uns selbst gegenüber aktiv sein müssen, uns nicht erlau­ ben dürfen, schwach, träge zu sein, voller Selbstschonung, Selbstliebe oder Groll. Und es gibt die aktive Arbeit, anderen zu helfen, der Welt und der Natur zu dienen. Dann kommt die fünfte Linie, wo wir empfangend sein müs­ sen. Beispielhaft dafür ist der Salik, der zum Lehrer geht und 53

sagt: Bist du gewillt, mich zu lehren? Rezeptiv sein, zulassen, daß einem geholfen wird, ist nicht so leicht; das heißt, wissen, wann man nichts von sich aus tun soll, zulassen, daß man geführt wird; zulassen, daß einem gezeigt wird. Hier ist Vertrauen, Annehmen nötig. Dies ermöglicht, daß uns etwas gegeben wird, was wir uns selbst nicht holen könnten. Gurdjieff erzählt eine hübsche Geschichte, um dies zu beschreiben, über den "sich windenden Idioten", wie er ihn nennt. Er sagt, er sei wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ein Fisch liegt am Ufer und kann allein nicht zurück, und er weiß, wenn er nicht ins Wasser zurückkommt, wird er sterben. Und ein barmherziger Mensch kommt vorbei und möchte diesen Fisch retten; und er nimmt den Fisch auf, aber der Fisch zappelt sich los von seinen Hän­ den, und er kann ihn nicht zurückwerfen, und er probiert und kann es nicht, bis der Fisch nicht mehr zu retten ist. Ruhig genug sein können, empfangend genug sein können, zulassen, daß uns geholfen wird, ist auch Arbeit, und für einige Menschen ist diese Linie besonders schwer zu befolgen. Es ist auch ein Teil der Gruppenarbeit, daß man akzeptiert, wenn man in einer Gruppe ist, wirklich ein Teil der Gruppe zu sein. Ich glaube, daß das, was ich am Anfang über das Nicht-besonders-sein sagte, auch hier hineinpaßt. Die Idee, daß man jemand etwas Besonderes ist, aufgeben zu können, öffnet einem manche Türen, die man nie durch eigene Aktivität oder eigene Kraft öffnen kann. Das gehört zur fünften Linie. Die sechste Linie kommt von innen. Es ist die wirklich spi­ rituelle Aktivität. Dies ist der Kern der Meditation. Eigentlich ist die Essenz der Meditation das Zulassen, daß der Geist einem in einen anderen Zustand bringt. Es ist anders. Das ist nicht Hilfe, die von außen kommt. Es geschieht völlig im Innern. In diesem Sinne gibt es niemanden anders als sich selbst und den Geist oder das Licht des Geistes, kann man sagen, oder was für Worte man dafür verwenden möchte. Was zählt ist, lernen, sich dem Geist zu ergeben und sich selbst beiseite zu stellen. Man sagt: Widerstehe dem Geist nicht. Diese Art innerer Empfäng­ lichkeit, wirklich zu wissen, wie man sich selbst einem spiritu­ ellen Prozeß hingibt und jede Idee des Selbsttuns beiseite legt, gehört zur sechsten Linie. 54

Die siebente ist die Linie der Gnade, des Geschehens, zu dem kein "warum" gehört. Etwas kommt zu uns, das wir nicht ver­ dient haben, das wir nicht selbst hätten hervorbringen können, für das wir uns nicht einmal vorbereitet haben, und eine Tür geht auf. Diese siebente Linie ist notwendig - ohne sie hätten wir keine Chance, weil es gewisse Dinge gibt, die niemals ver­ dient werden können. Dies ist die göttliche Aktivität in der Seele. Was diese Aktivität betrifft, ist jeder Teil von uns draußen - des­ halb ist es in diesem Fall eigentlich ein Akt von innen nach außen, von Gott zur Seele. Dies geschieht manchmal ohne unseren Wunsch, manchmal sogar gegen unseren Wunsch. Manchmal geschehen Dinge mit uns, die wir als Unglück bezeichnen, von denen wir wünschen, daß sie nicht geschehen wären; und spä­ ter merken wir, daß das die einzige Wohltat war, die uns etwas ermöglichte, und wir werden dankbar, aber nicht zur Zeit des Geschehens. Deshalb ist diese Linie ganz anders als die sechste -weil in der sechsten Linie unsere eigene Empfänglichkeit, unser eigenes innerliches Sich-selber-öffnen verlangt wird. Die Meditation drängt sich uns nicht auf, bezwingt unseren Willen nicht, aber die Gnade tut es. Sie offenbart sich uns in den aller einfachsten Dingen, dann etwa, wenn uns völlig unge­ beten Gedanken kommen, wie z.B. sich an den Sinn des Lebens erinnern. Da sind wir und denken ganz andere Arten von Gedan­ ken, und dann mahnt uns etwas; plötzlich erinnern wir uns daran, daß wir nicht zu diesem Zweck da sind. Eine solch ein­ fache Wandlung in unserem Innern gibt uns die Gelegenheit, die Dinge anders zu betrachten. Wir wissen, daß sie nicht ver­ dient ist und nicht verdient werden könnte, weil wir nicht dazu in der Lage waren, nicht in einem Zustand in dem wir sie hät­ ten verdienen können - wir waren in Träumen, oder in einem Zustand, einem emotionalen Zustand vielleicht, verloren. Alles das, vom Einfachsten bis zum Allertiefgründigsten, diese ganze Wirkung, unabhängig von unserem Verdienst, die Gnade Gottes, ist der siebente Aspekt der Arbeit. Und es stimmt, ohne diese Linie gäbe es keine andere. Alles fängt eigentlich hier an. Was ist nun die vierte Linie, die ich bis zum Schluß aufge­ spart habe? In der vierten Linie sind wir weder aktiv noch pas­ siv. Es ist Manifestation. Sie geschieht dann, wenn es durch uns 55

fließt, wenn wir alle unsere Kräfte brauchen können, aber wir sie nicht in unserem Namen brauchen. Deshalb unterscheidet es sich vom Dienen. Manifestation ist wirklich und wahrhaftig ein Zustand der Besessenheit. Der Geist bemächtigt sich unser, und was wir sagen und tun, sind nicht wir. Wir sind weder aktiv noch passiv. In der einfachsten Form geschieht es, wenn wir eine Rolle zu spielen haben. Jetzt, zum Beispiel, spiele ich die Rolle, Sie zu lehren - aber weder bin ich berechtigt. Sie zu lehren, noch lehre ich Sie aus mir selbst. Was ich Ihnen sage, kam nicht von mir. Es ist so, daß es von keiner Person kommt. Vor einiger Zeit, als ich eines Tages sprach, kam das alles - es war die Manife­ station einer spirituellen Macht oder einer spirituellen Präsenz. Das kommt dann, wenn wir eine Rolle zu erfüllen haben und nicht versuchen, etwas zu tun, wenn wir weder aktiv noch pas­ siv sind, sondern einfach mitgehen. Dies wird am besten im Tao ausgedrückt. Die weisen Männer aus der alten Zeit taten nichts, weder aktiv noch passiv, und doch, durch ihre Gegenwart wurde alles getan - die Gegenwart eines solchen Mannes sicherte das Wohlergehen eines Staates. Das ist eine ganz hohe Warte, die Manifestation anzuschauen, aber wir müssen es auch auf ganz einfache Art tun: wenn wir vor einer zu spielenden Rolle stehen und wir uns nicht um uns sorgen und uns nicht vorstellen, daß wir es sind, die etwas tun. Ich spiele im Moment die Rolle des Lehrers und Sie die des Zuhörers. Ihre Rolle ist genau so wich­ tig und genau so notwendig. Alle diese Linien sind wichtig. Es ist nicht möglich, ein ausgewogenes Leben zu haben, außer alle Linien seien in uns gegenwärtig. Wenn alle gegen­ wärtig sind, ist es der richtige Zustand. Wenn Sie fragen, wie­ viel Zeit auf einer Linie und wieviel auf einer anderen verwen­ det werden muß, gibt es keine einfache Antwort. Die echte innere Arbeit ist zeitlos. Es ist nur die dazu notwendige Vorbe­ reitung, die Zeit erfordert.

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Meditation und Wille

/s Sie über die Stadien der Entspannung sprachen, spra­ chen Sie nur über die ersten drei, und ich fragte mich in Verbindung damit, wie man richtig schlafen lernt, ob es mit diesen Stadien der Entspannung zusammenhängt, und was einbezogen werden muß, beim Lernen richtig zu schlafen?

A

Was geschieht, wenn Sie nicht schlafen? Beschäftigen sich Ihre Gedanken einfach mit dem Tagesgeschehen?

Im Bett liegend, habe ich versucht zu entspannen und mit mei­ nem Atem zu arbeiten; des Atems bewußt zu sein, ihn zu beob­ achten, und ich begann festzustellen, daß selbst, wenn eine gewisse Stille eintritt und die Gedanken nicht mehr im Kreis herum drehen, mich nur das Bewußtsein des Atmens wach hält. Es ist eine sehr eigenartige Sache mit dem Schlafen, daß der Versuch einzuschlafen, einen aufweckt. Wie wäre es umgekehrt, mit dem Versuch aufzuwachen? Wenn Sie in das Stadium kom­ men, in dem sich lauter kleine Räder in Ihnen drehen, Gedan­ ken die sich im Kreise drehen, und wenn Sie, wie Sie sagen, damit beschäftigt sind zu atmen, und mit dem Versuch sich zu entspannen, wenn Sie diesen Zustand wirklich betrachten, kön­ nen Sie sehen, daß man davon nicht erwarten kann, daß es einem den Schlaf bringt. Angenommen, Sie suchen sich einen zikr (dhikr), nehmen sich vor, diesen zikr ganz ehrlich zu machen, 57

sagen wir den ism-i-azam, und Sie wiederholen diesen zikr für sich selbst und versuchen, mit Ihrer Aufmerksamkeit dabei zu bleiben und so viel Bedeutung wie möglich daraus zu erhalten. Dabei, das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, schlafe ich immer ein. Versuche ich den zikr eine Viertelstunde lang zu tun ohne einzuschlafen, schaffe ich es nie. Wenn ich versuche, innerhalb einer Viertelstunde einzuschlafen, werde ich zwei Stunden später immer noch wach sein. Das hat mit Energien zu tun. Sie haben eine gewisse aktive Energie in sich und versuchen, sie zu umgehen; Sie versuchen, in einen Zustand der Entspannung zu kommen, in dem Sie diese aktive Energie nicht stört, aber sie ist immer noch da. Deshalb muß diese aktive Energie für etwas Positives genutzt werden. Manchmal wird Sie das sogar weiterbringen, denn die Zeit zwi­ schen Wachen und Schlafen, besonders mitten in der Nacht, ist eine Zeit, in der wir 'alemi ervah - der Welt der 'Geister' (Geist­ formen bzw. Geistwesen) - näher sind, und wir können aus ihr Erleuchtungen erhalten. Es ist also möglich zu sich selbst zu sagen: Da ich jetzt nicht schlafe oder da ich jetzt nicht schlafen kann, will ich diese Zeit ausnützen; ich werde diesen zikr tun, in dem ich den Namen Gottes anrufe, und bitten, daß mir etwas Nützliches gezeigt werde. Aus meiner Erfahrung geschieht dann eines von zwei Dingen. Entweder schlafe ich doch ein oder es wird mir etwas Nützliches gezeigt. Der zikr muß nicht in ara­ bisch sein. Sie können das Vaterunser wiederholen, oder Sie können irgend eine Anrufung wiederholen, irgend etwas, das den Namen Gottes anruft. Allah Hu oder einfach Allah; oder "Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner", oder irgend etwas. Sie haben alle die gleiche Absicht, uns Gott zuzuwenden und uns zu öffnen, um anzunehmen, was immer uns Gott für ein Geschenk geben möge, und vielleicht gibt Er uns das Geschenk des Schlafes. Wenn Sie sich entspannen, befreit Sie das von Ihrem Körper, um aktiv zu sein. Sie entspannen sich nicht wirklich, um passiv zu sein. Der höchste Zustand der Ent­ spannung ist fana-i-afal, es ist das Aufgeben der Vorstellung, selbst der Handelnde zu sein. Dann kommt fana-i-sifat, und dam fana-i-dhat, welches das letzte, das sechste ist; und dann der endgültige und letzte Zustand der Entspannung ist der des 58

Hu, huwiyet, der endgültigen Einheit. Es sind auch die höheren Stadien noch Entspannung, wenn Sie das Wort fana verstehen: fana heißt Entspannung, heißt loslassen. Wenn ich ein Wort wie fana gebrauche und es Ihnen nicht klar ist, bitte unterbrechen Sie mich und sagen Sie: Was mei­ nen Sie mit fana? Und ich werde es Ihnen erklären, sowohl in der gewohnten Art, als auch was ich darunter verstehe. Zuerst einmal bedeutet fana das Eintreten in die Nicht-Existenz oder das Verschwinden oder die Auflösung, und baqa ist die Aufer­ stehung oder die Erneuerung und Wiederherstellung. Es wird gesagt, daß die Entwicklung der Seele von fana zu baqa geht; zu einem frischen, höheren fana und so weiter. Es ist die Hin­ gabe oder Aufgabe. "Loslassen" (letting go) ist wahrscheinlich eine gute englische Wiedergabe, wenn Sie verstehen, wie sehr viel das Wort "loslassen" bedeuten kann. Wenn wir nun sagen fana-i-afal, afal ist die Mehrzahl des arabischen Wortes von fi'l, welches Tun oder Tat bedeutet, ist es das Loslassen des Tuns. Nicht verhaftet sein ist eine Art, das zu übersetzen. Aber im Sufismus bedeutet es etwas Besonderes. Es bedeutet das Los­ lassen der Illusion, daß ich der Handelnde bin, und zu verste­ hen, daß ich das empfangende Prinzip bin, und Gott der Han­ delnde ist; daß Er aktiv ist und ich "antwortend". Ich gebe die Idee auf, der Aktive zu sein, und ich höre auf, mit der Hand­ lung verhaftet zu ein. Im Hinduismus, in der Bhagavadgita, ist dies wirklich das älteste Yoga. "Nicht verhaftet sein" ist in einem der frühen Kapi­ tel der Gita. Sie nennen es Untätigkeit in der Tat, Tat in der Untätigkeit, und so weiter. Dies alles stellt einen sehr großen Schritt dar und ist das erste wahre fana. Wer fähig war, durch dieses fana zu gehen, kommt direkt unter den Willen Gottes. Sein Leben ist nicht abgetrennt, deshalb betritt er, was 'alemi imkan genannt wird. 'Alem bedeutet Welt, das ist die Welt, die direkt dem Willen Gottes unterstellt ist, die Welt der Hingabe, taslim. Es ist dort, wo wir uns für die Einheit vorbereiten kön­ nen, für die Hingabe unseres eigenen Seins, nicht nur unserer eigenen Taten. All das ist angedeutet in diesem Wort fana-ia f a l , und dies stellt einen großen Schritt dar. Davor gibt es etwas anderes, und das ist der Zustand der Desillusionierung 59

mit der Welt, man nennt ibnfana-i-ahkam, wo Sie sich bewußt werden, daß diese materielle Welt, diese sichtbare Welt, Ihnen nicht geben kann, was Sie brauchen, wo Sie aufhören, ihr zu vertrauen, und aufhören. Ihre eigene Existenz mit Besitztum zu identifizieren, mit Leistungen und mit der Meinung der Welt. All das ist möglich, dieses fana-i-ahkam. Das Aufhören, sich auf diese sichtbare Welt zu verlassen, ohne die eigene Natur wirklich verändert zu haben, nennt man darum ein falsches fana. Es ist einfach eine Veränderung seiner Werte und Einstellun­ gen. Das erste echte fana ist etwas viel Tieferes, denn anstatt aufzuhören, sich auf die Welt zu verlassen und von der Welt unterstützt zu sein, hört man auf, sich auf sich selbst zu verlas­ sen, und man fühlt nicht mehr, daß es wichtig ist, daß Ich der Handelnde sein soll, und man ist fähig, dieses Bedürfnis, etwas zu sein, aufzugeben. Man akzeptiert, daß man ein Empfänger ist, und es die Göttliche Gnade ist, die einem zu irgend etwas macht. Diese Veränderung ist eine sehr große Veränderung.

Ibn 'Arabi beschreibt zwei mystische Zustände. Er beschreibt acht und unterteilt sie in zwei. Ich dachte, daß es das fana und baqa war, und ich dachte, daß er sagte, fana sei ein Zustand, in dem man sich in nichts bewußt wäre, während baqa ein Zustand sei, in dem man völlig bewußt sei, als ob man sich in fana, zurückziehen würde. Er spricht vom vollständigen Ster­ ben des Selbst... Ich denke, Ibn 'Arabi erkennt verschiedene Stadien von fana, worüber ich eben sprach. Fana und baqa kann man mit "Tod" und "Leben" übersetzen, fana als Tod und baqa als Leben. Baqa bedeutet existent sein, und fana bedeutet nicht-existent, aber das ist eigentlich unser eigener Zustand. Sich seiner Nichtigkeit bewußt zu sein, heißt nicht unbewußt zu sein. Er spricht nie von fana als einem Zustand des Unbewußtseins.

Könnten Sie etwas mehr sagen über die Stadien der Entspan­ nung? 60

Wenn Sie wollen, können wir es tun, statt es zu erklären und mit Worten zu beschreiben. Bevor man irgend etwas beginnt, sollte man den Namen Gottes anrufen. Ich werde nicht mehr sagen als bismillah er rahman er rahim. Sie verstehen, indem man das sagt, oder etwas von dieser Art, bekennt man, daß man nicht im eigenen Namen handelt, sondern im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gnä­ digen. Was ich tue, tue ich nicht aus eigener Vollmacht, son­ dern in Seinem Namen. Wir haben ein Instrument, das uns gege­ ben ist und dieses Instrument macht uns zu wakil; das heißt zu Stellvertretern Gottes. Es ist uns eine gewisse Macht anvertraut, auf diese materielle Welt einzuwirken und über sie zu herrschen, nicht nur über das Tote, auch über das Lebendige. Diese Kraft ist die der freiwilligen Aufmerksamkeit, die Kraft, eine gewisse kreative Energie mit unserem freien Willen zu lenken. Das ist etwas, das den Tieren nicht gegeben ist. Nachdem wir nun den Namen Gottes angerufen und uns innerlich in diese Haltung ver­ setzt haben, daß nicht wir tun, sondern Gott der ist, der tut; daß nicht wir die Ermächtigten sind, sondern wir im Namen Gottes handeln, müssen wir nun den Mut haben, nicht nur im Namen Gottes, sondern auch wie Gott zu handeln. Dieses, "Sei, und es war", dies ist das kreative Wort im Koran. Mit diesem Wort bringen wir in uns selbst die Zustände hervor, die wir brauchen. Nun, weil die Teile in unserem Körper die sich um die Aufrechterhaltung des Lebensrhythmus kümmern, ihre eigene Organisation in uns haben, sollten wir nicht auf diese Organe einwirken, bis uns gezeigt wird, wie sie funktionieren und was sie brauchen. Aus diesem Grund arbeiten wir mit ande­ ren Teilen des Körpers; mit den Organen, durch die wir an der äußeren Welt arbeiten, besonders unseren vier Gliedmaßen. Deshalb werden so viele spirituelle Übungen in und durch Arme und Beine gelenkt. Wenn wir unsere Arme und Beine tief genug entspannen können, werden sie die Spannung aus den Organen ziehen, auf die wir noch nicht direkt einwirken sollten. Wir brin­ gen also unsere Aufmerksamkeit zu dem Befehl zu entspannen. Zuerst müssen wir diesen Befehl den Muskeln in unserem Kör­ per geben. Dies können wir sehr einfach tun. Wenn wir zum Beispiel mit unserer rechten Hand eine Faust machen, können 61

wir ihr genau so gut sagen, sie solle sich entspannen. Sie wird es tun, weil der Befehl, von unserer Aufmerksamkeit getragen wird. Und so machen wir weiter.

Sollte man besorgt sein, wenn man beim Meditieren einschläft? Es schadet nicht, wenn man bei der Meditation einschläft. Ich sage Ihnen ernsthaft, argem Sie sich nicht, wenn Sie bei der Meditation einschlafen. Es könnte sein, daß Sie in 'alemi erwah eingetreten sind. Es ist möglich, daß Sie wirklich auf diesem Weg in die Welt der Geister eintreten. Dieser Zustand, welchen die Hindus sushupti nennen, ist ein sehr wünschenswerter Zustand. Das, was mit uns in der Meditation geschieht, ist nicht abhängig von unserem Bewußtsein. Es ist tiefer als das Bewußt­ sein, und deshalb besteht nicht die geringste Notwendigkeit, darum zu ringen, bewußt zu sein oder bewußt zu bleiben, son­ dern man macht die Meditation. Meditieren Sie mit einem mantram oder in welcher Form meditieren Sie?

Nicht mit einem mantram. Es könnte wünschenswert sein, etwas mehr Spezifisches hin­ einzubringen, weil es möglich ist, daß Sie einfach in einen gewöhnlichen Schlaf fallen. Aber ich sage Ihnen trotzdem, selbst wenn Sie in einen gewöhnlichen Schlaf fallen und nicht in sushupti, ist es immer noch gut vereinbar mit der Meditation. Sie sollten die Meditation immer mit einem Akt der Absicht begin­ nen. Sie tun das, nicht wahr?

Wir haben eine Anrufung. Ich sage Ihnen, seien Sie deswegen nicht beunruhigt, denn der Schlaf ist nicht verloren. Die Wirkung der Meditation, die spi­ rituelle Wirkung, ist jenseits von Bewußtsein. Es ist wirklich wahr, daß, wenn man die richtige Körperhaltung hat, es sehr 62

oft geschieht, daß es eine Unterbrechung gibt, einen Stillstand des Bewußtseins, und man nicht weiß, wie lange dieser Still­ stand gedauert hat. Was wirklich geschieht, ist dies: Sie spüren manchmal, daß Sie eine lange Zeit geschlafen haben oder eine lange Zeit unbewußt waren, und es ist nur ein Moment. Eine von Ibn 'Arabi's Geschichten über Khidr zeigt diese Verände­ rung. Sie gehen aus der Zeit heraus und eine ganze Ewigkeit von Ereignissen geschieht, und doch entdecken Sie, daß nur vor einem Moment Ihr Kopf ins Wasser getaucht wurde. Ich denke insbesondere an diese Pause des Bewußtseins, bei dem Sie sich für eine Zeitlang selbst nicht messen können, weil Sie jeden Kon­ takt mit der Zeit verlieren. Sie waren unbewußt. Das führt manchmal in den Schlaf, und man erwacht einige Minuten lang nicht, aber ich denke, daß es im großen und ganzen wahr­ scheinlich ratsam wäre, einen zikr oder ein mantram oder so etwas zu haben, einfach ein Hilfsmittel, das unsere Aufmerk­ samkeit aufrecht erhält. So oder so, wenn dies in den Schlaf führt, ist wirklich nichts verloren. Über das Umfallen, - sitzen Sie mit gekreuzten Beinen oder auf Ihren Fersen?

Wir benutzen Meditationsschemel. Ich denke, daß der Meditationsschemel in Ordnung ist, bis Ihre Muskeln genügend entspannt sind, aber ich konnte nicht ver­ stehen, wie Sie umgefallen sind, doch jetzt sehe ich es. Manch­ mal verwenden die Leute gerne eine Art Hocker. Ich hindere Sie nicht, wenn ich sehe, daß Sie sich einen kleinen Schemel oder etwas in dieser Art bauen, aber es ist nicht wirklich not­ wendig. Man kann dazu kommen, sich absolut wohl zu fühlen, wenn man einfach auf seinen Fersen sitzt, obwohl es gewisse Leute gibt, denen es unbequem ist oder denen es aus gesund­ heitlichen Gründen schwerfällt, so zu sitzen. Aber es gibt Leute, die vom Meditationsschemel behaupten: Oh, dieser Schemel hilft mir aber, daß ich wach bleibe; wenn ich Angst habe umzu­ fallen, hält er mich wach. Das ist das schlimmste: Sie geben sich der Meditation nicht hin. Bei der Meditation sollte vollkomme­ nes taslim sein, vollkommenes Aufgeben von sich selbst, taw63

akkul. Es bedeutet die Verantwortung Gott zu übergeben. Wakil, das wissen Sie, bedeutet ein Stellvertreter oder ein Han­ delnder, und tawakkul bedeutet, sich jemandem zuwenden, sich Gott zuzuwenden. Es ist der eigentliche Sinn der Meditation, Gottes Kraft zu erlauben, in uns zu arbeiten. Wenn ein Teil unse­ rer Aufmerksamkeit gegeben werden muß, um unser Gleichge­ wicht zu halten, geben wir dem nicht wirklich eine Möglichkeit. Ich zum Beispiel - und wahrscheinlich auch viele von Ihnen habe die Transzendentale Meditation (TM) von Maharishi Mahesh Yogi praktiziert. Er hält dabei gar nichts von der Hal­ tung. Sie können in irgend einem bequemen Stuhl sitzen und tun, wie es Ihnen beliebt. Ich selbst denke, daß das übertrieben ist. Da meditierte eine große Anzahl von Menschen an einem Treffen in Rom, und die Hälfte davon war in einem tiefen Schlaf. Ich dachte, das ginge zu weit, weil sie alle mit hochgelagerten Füßen in bequemen Lehnstühlen saßen. Als ich in Asien mit Derwischen meditierte, hatten sie dort die Stellung, in der sie ein Knie umfaßten. Aber meiner Mei­ nung nach ist es nicht sehr weise, in der Meditation eine Hal­ tung einzunehmen, die Aufmerksamkeit erfordert, die einen T eil unserer Aufmerksamkeit braucht, um sie beizubehalten. Die Yogis haben eine gute stabile und einfache Haltung, und das ist der Lotossitz, beide Füße übereinander gekreuzt. Ich sage sta­ bil und einfach - das heißt, stabil und einfach für mich vor dreißig Jahren!

Könnten Sie uns etwas über Khidr sagen? Ich würde eher vorsichtig sein, wie ich über Khidr spreche. Das ist vollständig abhängig von Khidr. Ich würde nicht hinter sei­ nem Rücken über ihn sprechen. Wenn er mir die Erlaubnis gäbe, über ihn zu sprechen, würde ich es tun.

Manchmal, wie gestern, wollte ich wirklich nicht zur Medita­ tion gehen. Ich spürte, daß es für mich nicht das Richtige war und so geschah es, daß ich während fast der ganzen Meditation 64

innerlich mehr und mehr gereckt wurde. In einem Fall wie die­ sem ist das eigene Urteil oft falsch und es kommt von der falschen Motivation. Sollte man diesen Wunsch, etwas nicht zu tun, auf­ geben oder sollte man diesem Gefühl folgen? Ich erinnere mich an Pat Terry Thomas, als sie bei Shivapuri Baba war und fragte: Wie können wir wissen, ob das, was uns bewegt, unser eigener Wille oder Gottes Wille ist? Er sagte: Immer eigener Wille - keine Schwierigkeit. Denke nie, daß es Gottes Wille ist. Der springende Punkt dafür ist, daß Gottes Wille Sie nur bewegen kann, wenn Sie das eben gerade nicht denken. Bei dieser Frage geht es darum, ob man sich selbst dazu bringen soll, eine bestimmte Handlung zu tun, die man nicht zu tun gewillt ist. Das ist vollkommen verschieden, je nach der Handlung. Für seine eigene Pflichterfüllung, muß man sich dazu bringen, wie immer der eigene Zustand auch sei. Meditation sollte nichts Erzwungenes in sich haben. Wenn ich etwas mehr sage, müssen Sie verstehen, daß dies mein eigener Rat ist und kein allgemeingültiger Rat. Ich sage den Leuten in Sherborne, daß es im Tag eine Sache gibt, bei der sie absolut frei sind und wofür sie keinerlei Gefühl von Verpflichtung zu haben brau­ chen: Und das ist die Abendmeditation. Kommen Sie nicht; außer Sie fühlen sich hingezogen und wünschen es. Meditieren ist ein Privileg. Es ist ein Geschenk, das uns wohlwollend dar­ geboten wird. Widerwillig hinzugehen, könnte man sagen, wäre das dargebotene Geschenk verschmähen. Man sollte die Medita­ tion immer auf diese Art betrachten und manchmal, wenn man denkt: "Ich möchte nicht zur Meditation gehen, ich mag das jetzt nicht tun, ich bin nicht in der richtigen Stimmung dazu", dann könnte man zu sich selber sagen: Aber werde ich diese Chance verpassen, daß mir vielleicht etwas gegeben wird heute Nacht und ich mir dies vielleicht entgleiten ließe?"

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Leiden

Wir haben kürzlich in Gruppenstudien das apokryphe Johannes-Evangelium gelesen, und da ist ein Ab­ schnitt, über den wir vielleicht sprechen könnten: Wenn du gewußt hättest, wie zu leiden, wärest du fähig gewe­ sen, nicht zu leiden. Lerne zu leiden, und du wirst fähig sein, nicht zu leiden. In der Bergpredigt wird uns gesagt: Liebet eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen; segnet die, die euch verfluchen, und betet für alle, die euch schlecht behandeln und verfolgen. Übli­ cherweise wird das als Voraussetzung zu Demut, zum Akzep­ tieren von Ungerechtigkeit, zu Barmherzigkeit und Liebens­ würdigkeit den Leuten gegenüber und zu verschiedenen Tugenden, die damit zusammenhängen, gehalten. Aber in Wirk­ lichkeit ist es, wie alles in der Bergpredigt, ein praktischer Rat fürs Leben. Ohne Feinde würden wir keine Chance haben. Die vielleicht wichtigste Erfindung war der Teufel. Wie hätte das Universum je die Chance gehabt, zur Quelle zurückzufin­ den, wenn da kein Versucher gewesen wäre? Fragen Sie sich das selbst. Warum sollte man kämpfen und versuchen, etwas zu erreichen, wenn es nichts gäbe, wogegen man ankämpfen müßte? Deshalb sind unsere Feinde notwendig für uns. Wir müssen sie sehr schätzen. Und das schließt unsere eigenen inne­ ren Feinde mit ein. Wenn wir nicht egoistisch wären, würden wir wie Engel sein, die zur Transformation nicht fähig sind. Sie können nicht transformiert werden, weil sie kein verneinendes 66

Prinzip kennen. Das gleiche geschieht mit dem Leiden. Ohne Leiden gibt es keine Möglichkeit zur Transformation. Doch die Art und Weise, wie Leiden uns dient, ist nicht einfach sich etwas aufzuerlegen, das es zu überwinden gilt, um damit Geduld zu üben, um gut zu sein. In Wahrheit ermöglicht das Leiden einen Prozeß, in unsere Tiefen zu gelangen, hinter die Oberfläche, sogar hinter die gewöhnlichen Tiefen zu kommen, die Stelle zu finden, wo es kein Leiden gibt. In jedem gibt es eine Stelle, die frei ist von Leiden. Diesen Ort müssen wir finden. Um dahin zu gelangen, müssen wir lernen, wie man leidet und den Akt des Leidens in uns annehmen, so vollständig, daß das Akzeptieren vollendet ist, wenn der Durchbruch kommt und wir die Stelle in uns finden, die frei ist. Es heißt: "Wenn du wüß­ test, wie man leidet, dann würdest du wissen, wie man nicht lei­ det." Nicht-Leiden bedeutet nicht, ohne Feinde oder ohne ver­ letzende Aktionen zu sein. Nicht-Leiden heißt, einen speziellen Ort betreten zu haben, den heiligen Ort in uns, wo kein Leiden existiert, weil es ein göttlicher Ort ist. Den Weg dahin zu fin­ den ist etwas ganz Großes. Dort kommen wir zu der Schwelle der Einheit. Das ist eine wichtige Aussage.

Ich bemerkte in den letzten paar Tagen, daß ich ohne Grund sehr müde war, in keinem Verhältnis zu der Menge an Energie, die ich aufwendete. Wenn man sich so fühlt - denken Sie, daß es besser ist, erst mal schlafen zu gehen, wenn man wirklich schlafen will, oder sollte man sich davon zurückhalten? Und wissen Sie auch, dank Ihrer Erfahrung, wie es kommt, daß man manchmal, ohne erkennbaren persönlichen Grund, einfach sehr müde ist? Das kommt vor, wenn Sie keinen bestimmbaren Grund haben; wissen Sie nicht, ob Sie zu schwere körperliche Arbeit geleistet oder irgendein emotionales Durcheinander hatten?

Es gibt da einige Dinge, die ich verfolgen kann. Was ich wirk­ lich wissen möchte, ist, wie sehr man sich diesem Gefühl hin­ geben und es so belassen soll. 67

Sie werden verstehen, daß ich Ihnen darauf keinen generellen Rat geben kann, der immer zutrifft. Es gibt zwei, drei Dinge, die ich dazu sagen kann. Erstens, vor allem wenn Sie in der Küche arbeiten, mag es sein, daß es Ihren Atem beeinflußt, ohne daß Sie sich dessen bewußt sind. Sie atmen nicht richtig. Dann könnte es vorteilhafter für Sie sein, einen Spaziergang in der fri­ schen Luft zu machen, anstatt schlafen zu gehen. Sie werden bemerken, daß diese Müdigkeit von selbst vergeht, indem Sie ihrem gewöhnlichen natürlichen Atem eine Chance geben; denn sehen Sie, Gehen fördert die natürliche Atmung. Das sollten Sie ausprobieren. Ich weiß von mir selbst, daß ich manchmal sehr müde bin und mich für eine halbe Stunde hinlegen möchte, und dann betrachte ich mich selbst und sage: "Benötige ich wirklich Ruhe, oder ist es dieses Mal eine Veränderung?" Aber ich kenne mich selbst gut genug, um dies zu beantworten, und ich kann sagen: Gut, ich möchte mich hinlegen, aber eigentlich ist es bes­ ser für mich, eine halbe Stunde spazieren zu gehen. Und ich weiß, daß am Ende dieses halbstündigen Spaziergangs das Gefühl von Schwere und Müdigkeit und Unfähigkeit, den Kör­ per zu bewegen, wegist. Dies herauszufinden lohnt sich immer. Wir sind an unsere Körper gebunden, und wir müssen lernen, daß sie im Bereich unseres Wissens liegen. Sie kennen sicher den Ausspruch: "Du kannst alles über ein Pferd wissen, aber du weißt nichts über den Menschen." Auf dieselbe Weise können Sie Wissen über Ihren Körper haben, auch wenn Sie sich selbst nicht kennen können. Das ist etwas, was Gurdj ieff sagt. Ich las gerade letzte Nacht aus den Gesprächen mit ihm. Er sprach davon, daß in seinen Lehren die erste Pflicht darin besteht, den eigenen Körper kennenzulernen. Allem voran zu wissen, was er braucht und zu wissen, wann er die Wahrheit sagt und wann nicht; ob es stimmt oder ob es nicht stimmt, wenn er sagt: Ich bin krank, ich bin müde. Wenn Sie sich mit Pferden gut aus­ kennen, dann wissen Sie über alles Körperliche, über jeden tie­ rischen Körper Bescheid. Doch Pferde sind besonders geeignet, um den Menschen verstehen zu lernen. Sie müssen auf Ihren Körper in derselben Weise achten: seinen Geschmack kennen, seine Vorlieben und Abneigungen, seine Bedürfnisse, wieviel Übung er braucht, welche Nahrung er erfordert, wie weit Sie 68

ihn bringen können und wann Sie aufhören müssen, ihn anzu­ treiben und so weiter. Wir nehmen eine Menge Schwierigkei­ ten auf uns, dies alles über Pferde zu lernen, aber viel weniger Schwierigkeiten, dasselbe über unseren eigenen Körper zu ler­ nen. Dies ist ein Teil der Antwort. Ich bin nicht sicher, ob da bei Ihnen nicht etwas anderes mit­ spielt. Ich denke, daß es teilweise die psychische Energie ist, die erschöpft ist, und nicht nur die physische. Die psychische Ener­ gie wird hauptsächlich durch die Atmung wieder aufgeladen.

In Zusammenhang mit der vorangehenden Frage interessiert es mich, ob Sie etwas sagen könnten über die Art der Arbeit, die wir tun, und die Weise, wie wir sie tun. Ob es zum Beispiel bes­ ser ist, eine Arbeit, die man gerne und oft tut, zu unterbrechen, um etwas zu tun, was man nicht so gerne mag, dafür aber voll­ kommen? In einem Kloster, wohin ich ab und zu gehe, war ein sehr alter Mönch, der die Aufsicht über die Küche hatte. Das Essen dort war ein Traum. Alles war so gut. Er hatte einen Schlaganfall, und der Vater Abt setzte vorübergehend einen anderen Mönch ein, der das Kochen übernahm - ich glaube, das war vor unge­ fähr fünf Jahren. Für diesen war das eher eine Übung, weil er die Küche nicht mochte, und vielleicht die Tendenz hatte zu meinen, er sei etwas zu spirituell, um sich um das Essen zu küm­ mern. Jedenfalls wurde er in die Küche gestellt, und für eine lange Zeit war das Essen nicht mehr so gut, wie es vorher war. Ich machte dieses Jahr dort einen Besuch am Dreikönigstag, und der Mönch kochte immer noch, kochte seit fünf Jahren. Mit großem Interesse stellte ich fest, daß dies eine enorme Verän­ derung in ihm bewirkt hatte, eine Veränderung zum Guten. Es mußte sehr schwer für ihn gewesen sein, dies zu tun, aber er tat es aus Gehorsam und akzeptierte diese Anstellung. Während dieser Zeit gab der Vater Abt, der ihn in die Küche geschickt hatte, sein Amt auf und zog nach Martinique. Ich denke, alle erwarteten, daß der neue Abt ihn von dieser Aufgabe befreien würde, aber er tat es nicht - der Mönch kocht noch immer. 69

Das ist ein außergewöhnlicher Fall - fünf Jahre lang durch etwas hindurchgehen, bis es tatsächlich abgefallen ist; doch darin liegt ein gewisses Etwas, das Sie, ich bin sicher, erkennen können, auch wenn es sich nicht in Worte fassen läßt. Zuerst kochte er aus Gehorsam, dann kochte er, weil er erkannte, daß es ein Kampf war mit seinem eigenen Widerwillen gegen diese Arbeit; dann begann das Kochen ihm Freude zu machen, weil er merkte, daß er ein guter Koch geworden war. Schließlich ver­ lor er das Interesse am Kochen, und tat es rein als Aufgabe, ohne Gefühl dafür, und es machte ihn frei für seine eigene Medita­ tion und Kontemplation. Es spielt für ihn keine Rolle mehr, das kann ich wirklich sagen, ob er kocht oder nicht. So wird er wahr­ scheinlich vom Kochen entlassen werden. Dies ist eine Art, es zu betrachten, daß man durch etwas hin­ durchgeht aus einem bestimmten Grund, für einen selbst. Auch wenn es nicht so ist, glaube ich doch, daß es sehr gut ist, sich zu verändern. Während der letzten fünfzehn - fast zwanzig Jahre habe ich das Leben in diesem Kloster beobachtet. Natür­ lich ist es sehr interessant zu beobachten, weil dieselben Leute für zehn, zwanzig, dreißig Jahre dort leben und auch dort ster­ ben; und man kann sehen, was mit ihnen in einer vollkommen stabilen Umgebung und mit einer sehr weisen Belehrung geschieht. Ich habe auch Zustände in völlig unstabilen Ver­ hältnissen oder mit halbstabilen Bedingungen, wie wir sie in Sherborne haben, gesehen. Meinem Gefühl entsprechend ist es wichtig, daß Menschen eine Arbeit nicht nur deshalb tun, weil sie darin gut sind. Wenn sie eine Arbeit über längere Zeit hin­ aus verrichten, sollte diese einen ganz bestimmten Nutzen für sie haben, und es ist sogar besser, daß die Gemeinschaft leidet, als daß Menschen eine Arbeit tun, nur weil sie die geeignetste Person dafür sind.

Mr. Bennett, Sie haben oft gesagt, daß das Leiden notwendig sei, und Sie haben auch vom bewußten Leiden gesprochen im Sinne von sich wirklich in etwas hineingeben. Ist das gleich am Anfang des Weges notwendig oder in einem bestimmten Sta­ dium und unter Führung? Könnten Sie etwas darüber sagen? 70

Sicher. Gurdjieff machte einen ganz klaren Unterschied zwi­ schen freiwilligem Leiden und absichtlichem Leiden. Es gibt unfreiwilliges Leiden, das wir nicht umgehen können - das aber gebraucht werden kann - das Leiden jedoch, das durch unsere eigenen Aktionen entsteht, ist ganz verschieden in diesen zwei Fällen, und das wird gewöhnlich nicht verstanden. Freiwilliges Leiden ist Leiden, das man sich auferlegt für einen bestimmten Zweck, wie ein Athlet, der Diät einhält, an sich arbeitet und jeglichem Vergnügen entsagt. Er macht sich sein Leben übertrieben schwer und begibt sich unter die Auf­ sicht eines Trainers - einfach weil er gewinnen oder etwas errei­ chen will. Das ist das Grundgesetz des freiwilligen, selbstauferlegten Leidens. Man kann freiwillig leiden mit der Absicht, Fortschritte zu machen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Ich möchte meine Unpünktlichkeit oder das Nicht-aufstehen-wollen oder irgend etwas Ähnliches überwinden, etwas, wovon ich weiß, daß es kuriert werden muß oder das ich gerne kurieren möchte. Und ich sage mir: Gut, wenn immer ich verspätet bin, will ich fasten, auf das Essen verzichten oder irgend etwas ande­ res tun, bis ich es schaffe aufzustehen oder nicht zu spät zu sein. All das ist freiwilliges Leiden, weil es getan wird im Hinblick auf ein Ziel, das man sich gesteckt hat. Nach Gurdjieffs Mei­ nung hat diese Art von Leiden relativ wenig Wert - die Beloh­ nung ist sein Wert. Der Athlet, der einen hohen Grad von Kön­ nen erreicht, hat dies als Belohnung erhalten, und er wird bewundert und bekommt Preise. Er selbst hat daraus nichts gewonnen für sein eigenes Sein, für seine Vervollkommnung. Selbst wenn es zu dem Zweck geschieht, einen Fehler zu über­ winden, bewirkt diese Art von selbstauferlegtem Leiden nicht mehr, als daß der Fehler überwunden wird, und der Schuß könnte sogar daneben gehen. Denn die Person, die mit gewal­ tiger Anstrengung und persönlichem Schmerz Faulheit oder Unpünktlichkeit überwindet, beginnt während des Prozesses sich besser zu wähnen als andere Leute und wird dadurch into­ lerant. Der zweite Zustand ist schlimmer als der erste, muß man sagen. So sollte man das freiwillige Leiden in der Relation von Gewinn und Verlust betrachten. Ist das Ziel, das ich erreichen möchte, es wert, all die Schwierigkeiten auf mich zu nehmen? 71

Aber absichtliches Leiden ist etwas völlig anderes. Absichtliches Leiden entsteht ausschließlich durch Hand­ lungen für das Wohl anderer. Das einfache Prinzip oder Grund­ gesetz des absichtlichen Leidens ist, jemand anderem Gutes tun zu wollen und dabei festzustellen, daß das immer mit viel mehr Schwierigkeiten als vorgesehen verbunden ist, und so darf man es nie um der Belohnung willen tun, sondern für das Wohl des Nachbarn durch bewußtes Opfer des eigenen Wohls. Das ist wirklich das grundlegende, einfache Beispiel für absichtliches Leiden. Es setzt voraus, daß man das Gesetz versteht. Gutes zu tun ist ein Privileg, für das man bezahlen muß, und nicht, wofür man belohnt wird. Wenn man etwas richtig tun will, muß man dafür leiden - nicht nur daß es hart ist, es hat sogar irgendwel­ che schmerzvollen Konsequenzen. Eine Möglichkeit ist, daß es Undankbarkeit bringen und einen in weit größere Schwierig­ keiten hineinziehen kann, als man erwartet hat, daß "einer denkt, er müsse eine Meile gehen und merkt, daß er zwei gehen muß", wie die Bergpredigt es ausdrückt. Oder du gibst jeman­ dem deinen Mantel, und er erwartet auch deine Jacke. Wir alle müssen für die Zukunft arbeiten, jetzt, in diesem Moment. Mehr als zu den meisten Zeiten in der Weltgeschichte haben wir eine Verpflichtung, der Zukunft zu dienen. Die Welt tritt in eine Zeit voller Schwierigkeiten, und es muß ihr gedient werden. Nicht nur unserer eigenen persönlichen Zukunft, son­ dern der Zukunft der Welt. Wenn wir uns entscheiden, dies zu tun, werden Schwierigkeiten heraufbeschwört. Es kann sein, daß wir dafür im voraus bezahlen müssen - oder auch hinter­ her. Wir können nicht für die Zukunft arbeiten und erwarten, daß das Leben einfach ist. Das ist das Prinzip des absichtlichen Leidens. Ob Sie es akzeptieren oder nicht, ist eine andere Sache, aber ich selbst bin überzeugt, daß es so ist. Man kann es im Leben großer Persönlichkeiten sehen. Buddha, der durch äußerst harte Zeiten gegangen war und endlich all die Ein­ schränkungen aufgab, die er sich auferlegt hatte wie freiwilliges Leiden, ein hartes Leben mit seinen sieben Begleitern, die während vieler Jahre mit ihm gingen - mit der Vorstellung, daß er durch diese Askese Freiheit von Tod und Leiden erlangen würde - sah endlich, daß dies ihm nicht das Resultat brachte, 72

das er wollte. Er zog sich zurück und ging den Weg der Kon­ templation, bis er endlich die Erleuchtung erlangte. Dann wollte er das, was er bekommen hatte, teilen, wollte es sogleich wei­ tergeben - und sofort kehrten sich alle gegen ihn. Sie dachten alle, daß er ein Abtrünniger sei, und wiesen ihn zurück. Das ist charakteristisch für das sogenannte absichtliche Leiden. Sobald Mohammed die Offenbarung am Berg Hira empfan­ gen hatte, verlor er sogleich seine Position. Er war der höchst respektierte Mohammed El Amin, der zuverlässige, der ver­ trauenswürdige Mohammed gewesen. Sogar seine eigene Fami­ lie kehrte sich gegen ihn. Er mußte fliehen. Er mußte über das Rote Meer gehen und Zuflucht suchen. Jahrelang kehrte sich alles gegen ihn. Die Menschen, die ihm am nächsten standen und ihm am liebsten waren, wiesen ihn zurück. Man neigt zu glauben, daß das Ende seines Lebens ein Triumph war. Ja, es war ein Triumph, aber er dauerte nur drei Jahre, das ist alles. Man muß kaum über Christus sprechen, weil sein absichtliches Leiden der Kern des Evangeliums ist. Wenn wir also sehen, daß die Beispiele immer wieder dasselbe aussagen, sollten wir uns fragen, ob dies nicht ein allgemeines Gesetz ist. Ich glaube, daß es so ist. Wenn man sich darauf einläßt, der Menschheit zu die­ nen, sollte man wissen, daß das einen in Schwierigkeiten bringt. Manchmal ist es eine äußerliche Schwierigkeit, und manchmal muß man innerlich sehr viel leiden, ohne daß jemand davon weiß. Natürlich gibt es den Ausspruch, daß dem Gerechten kein Übel geschieht - was auch dem Propheten zugeschrieben wird, aber das heißt nicht, daß das Leiden nicht kommt; es heißt, daß dem Gerechten seine Bestimmung nicht genommen wird. Was ihm geschieht, ist richtig für ihn. Nehmen Sie die Geschichte im Evangelium vom jungen Mann mit den großen Besitztümern. Alles hatte er im positiven Sinne getan - hatte das Gesetz erfüllt, war gut und freigebig gewesen und so weiter. Dann wurde ihm gesagt: Wenn du mir nachfolgen willst, dann verkaufe alles und gib es den Armen. Sie mögen sagen, das sei freiwilliges Leiden. Nein, das ist es nicht; denn wenn du mir folgen willst, wenn du vollkommen sein willst, so hat das seinen Preis, du mußt alles weggeben. Hier geht es nicht darum, ein spezifisches Resultat 73

zu erlangen, irgendetwas zu erreichen - dies ist der springende Punkt, wo es sich vom freiwilligen Leiden unterscheidet.

Könnte es sein, daß Abdul Qadir Gilani eine Ausnahme ist?

Nun, Halladsch war keine Ausnahme, würde ich sagen. Betrach­ ten wir Abdul Qadir Gilani. Wieviele Kinder hatte er? Waren es zweiunddreißig Söhne? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihm kein Leiden verursachten. Sie alle waren Missionare. Die Kinder und Großkinder von Gilani verbreiteten den Islam in einer außerordentlichen Weise. Ich weiß nicht. Ich vermute, ich könnte mich selbst in jene Zeit nach Bagdad versetzen und Ihnen etwas über die Geschichte erzählen. Nein, es ist nicht so, daß Abdul Qadir Gilani nicht litt. Er war zwar in erstaunlicher Weise erfolgreich und wurde nicht zurückgewiesen wie der Prophet, aber er hatte ein sehr schwere Last zu tragen.

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Kreative Imagination und Absicht

s hat sich eine Frage in mir festgesetzt, aber ich bin nicht wirklich sicher, warum ich diese Frage stellen will; sie hat etwas mit Imagination zu tun. Sie neigt dazu, herunter­ gespielt zu werden als etwas Unwirkliches, das uns verwirren könnte, und ich fragte mich, ob Sie etwas über kreative Imagi­ nation im spirituellen Sinn sagen könnten.

E

Das ist eine sehr gute Frage, eine sehr wichtige, und wie es so oft mit diesen Dingen geschieht, sprach ich über gerade diese Sache heute morgen. In der Transformation von Energien in uns gibt es verschiedene Stadien. Wenn Sie je irgendwelche Bücher von Ouspensky oder Gurdjieff gelesen haben, werden Sie sich erinnern, daß er von der Energie spricht, die von unserer Nah­ rung kommt, welche durch verschiedene Stadien soweit hoch­ transformiert wird bis zum Einfluß der Luft im Transforma­ tionsprozeß. Dies läßt sich auch im Sufismus finden - in der Tat ist es eine Sufi-Lehre. Beim sechsten Stadium kommt es zur Sex­ Energie. Eines vorher, das fünfte (oder, was Gurdjieff Piandschoächary nennt), ist dasselbe, was die Alchemisten als Quint­ essenz bezeichnen, der fünfte Grad der Verfeinerung der Energie, die wir von unserer Nahrung erhalten. Diese Energie ist die Energie der Imagination. Sie ist immer aktiv - es ist nie­ mals möglich sie anzuhalten, also benützen wir sie entweder auf positive Art oder sie benützt sich selbst. Wenn sie sich selbst 75

überlassen wird, erzeugt sie in uns Tagträumerei, Fantasie, Luft­ schlösser usw. Sie ist immer da, und eines der wichtigen Dinge, die wir zu lernen haben, ist, wie wir diese Energie kontrollieren können. Wenn wir weiterfahren mit diesen Zusammenkünften, werde ich darauf zurückkommen, aber Sie werden es nicht tun können, bevor Sie nicht gelernt haben, wie die vierte Energie, welche vorher kommt, zu kontrollieren ist. Wichtig zu verstehen ist, daß die Sache zweischneidig ist. Die fünfte Energie kann entweder unsere Kräfte vergeuden und uns zu Träumern machen, oder sie kann, wie Sie sagen, kreativ sein. Die Lehre über diese Quintessenz war immer, daß du sie beherrschen mußt - oder sie wird dich beherrschen. Dies ist eine Art, es darzustellen. Es ist die Kraft, mit welcher kreative Arbeit getan wird. Sie kann in Gedankenformen oder mentale Bilder, die Macht haben, verwandelt werden - deshalb ist sie das essentielle Element in der Magie. Wenn Sie lernen, diese Energie unter Kontrolle zu bringen, dann haben Sie Macht; aber als erstes müssen Sie Macht über sich selbst haben. Wenn dies bei Ihnen Gestalt annimmt, ist das eine merkwürdige Sache, denn Sie realisieren, daß es etwas völlig anderes ist als Selbst­ kontrolle, weil man die Macht hat, über sich selbst zu herrschen, ohne kämpfen zu müssen, und das kommt von dieser besonde­ ren Energie. Sie kann spontan kreative Bilder erzeugen. Es geschieht, wenn man sich sehr intensiv mit irgendeinem Pro­ blem auseinandergesetzt hat und sich die niederen Energien erschöpft haben - dann hat diese Energie die Möglichkeit her­ vorzubrechen, und plötzlich fällt Ihnen die Lösung des Problems ein, ohne jegliche ersichtliche Anstrengung. Es geschieht sehr oft, wenn Sie gerade aufgegeben haben, sich zu bemühen. Wenn man über kreative Imagination spricht, müssen Sie sich vergegenwärtigen, daß die Leute das Wort Kreativität auf verschiedene Arten gebrauchen - manchmal für die niedrigere Energie, welche Erfindungsgabe oder Scharfsinn ist. Wenn die fünfte Energie besonders gut in Menschen arbeitet, dann haben sie sogenannte kreative Gaben, ähnlich denjenigen von Kom­ ponisten, Künstlern und Mathematikern. Das einzig Wahre ist zu lernen, dies positiv anzuwenden, doch dann muß man sehr vorsichtig sein, es nur auf die rechte Weise zu gebrauchen. 76

Das ist mit ein Grund, warum in den Schulen, die dieses Wis­ sen haben, die Leute nicht eher darin eingeweiht werden, als bis sie nicht einen sehr guten Charakter haben - bis ihr Charakter gereinigt ist. Hat die Herrschaft darüber etwas zu tun mit dem Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Kunst? Ja es hat. Jene Dinge, die Sie beschrieben, scheinen eher unsere kreati­ ven, nach außen gerichteten Aktivitäten zu sein, aber können sie auch gewissermaßen in uns selbst gebraucht werden? Ja, das können sie. In den Entscheidungsübungen, die ich eini­ gen der Leute, die hier sind, gezeigt habe, ist diese Energie am Werk. Wenn Sie zum vierten Stadium der Entscheidung kom­ men, ist es diese Energie, die Sie dazu befähigt, die Handlung zu erschaffen, die Sie dann ausführen werden. Und dann ist die Verbindung mit den höheren Zentren hergestellt. Das ist Ima­ gination im richtigen Sinn - man macht sich ein Bild von der Handlung, die man ausführen wird, und indem wir dieses Bild machen, müssen wir uns dieser Energie bedienen. Das Zentrum dieser Energie ist dieses Chakra hier (Stirnchakra, Ajna). In einigen der allgemein bekannten Übungen der Sufi-Wkas, zum Beispiel sich ein Bild vom Scheich machen, geschieht dies auf die gleiche Weise. Nicht eigentlich, um ein Bild des Scheichs zu erzeugen, sondern um zu lernen, wie man mit die­ ser Energie umgeht. Später zeigt es sich, daß es einen in eine andere Welt bringen kann. In den Sufi-Schulen kommen sie zu der Stufe, wo sie den Gründer ihres Ordens vor sich sehen kön­ nen. Wenn es Mevlevis sind, sehen sie Jelaluddin Rumi vor sich; oder wenn es Naqshbandis sind, dann sehen sie Baha'uddin Naqshband vor sich. Dies ist ein Hinweis für ihre eigenen Leh­ rer, daß sie das Stadium erreicht haben, wo eine bestimmte wich­ tige Einweihung für sie möglich ist. Der Grund dafür ist, daß es beweist, daß diese Energie in ihnen nun auf eine Weise arbei­ tet, die sie mit einer tiefen Realität verbinden kann. 77

In erster Linie sprechen Sie von der Geringschätzung der Imagination. Dies ist durchaus richtig, denn wenn man der Ima­ gination ohne Kontrolle freien Lauf erlaubt, ist es ganz einfach ein Vergeuden dieser sehr wertvollen Energie und ein Entzie­ hen der Handlungsfähigkeit. Folglich wird man ein Träumer, baut Luftschlösser, und man schaut der Realität nicht ins Gesicht. Diese Art Dinge geschehen durch Wirkenlassen dieser Energie ohne jegliche Kontrolle, und es entsteht so etwas wie Genußsucht - wie bei der sexuellen Genußsucht ist es Vergeu­ dung einer sehr wertvollen Energie. Die andere negative Seite davon ist ihr falscher Gebrauch - nicht deren Vergeudung, son­ dern deren Anwendung zum Erringen von Macht, wofür sie gebraucht werden kann, und die Leute tun das eben. Sie wissen es möglicherweise nicht, aber wenn sie sehr große Entschlos­ senheit haben, ihr eigenes Ziel zu erreichen und alles für ihren Ehrgeiz opfern, beginnen sie diese Energie zu benutzen. Sie fan­ gen an. Macht über Menschen auszuüben, und das ist ein Grund, warum all das von Leuten, die darüber wissen, mit Vorsicht gebraucht wird. Die Energien von Gedanke und Gefühl und Empfindung dringen in unser alltägliches Leben ein. Es sind die Energien, durch welche wir etwas über die Welt wissen, mit denen wir unsere Meinungen und Haltungen bilden. Diese Energien sind sehr gewohnheitsbildend, und die Leute entwickeln verschie­ dene gewohnheitsmäßige Arten von Denken und Fühlen usw., und weil diese Energien keine Autorität oder Macht an sich haben, können sie sehr leicht Instrumente sein für den Egois­ mus. Demzufolge muß man die Notwendigkeit der Reinigung der negativen Kräfte in uns akzeptieren, wenigstens bis zu einem Punkt, wo sie nicht gefährlich werden könnten, wenn sie Macht gewinnen würden. Wenn zum Beispiel jemand, der von Groll beherrscht wird, allmählich über Gedanken Macht bekommt, kann er Menschen Schaden zufügen, wenn sein Groll nicht nur privat ist, und sein Groll kann sich leicht projizieren, um andere Leute zu verletzen. Man sollte nicht eine höhere Macht ent­ wickeln, wenn die Gefahr besteht, daß sie solchermaßen falsch angewendet wird. Denn es geht nicht nur darum, daß es für andere schädlich sein kann, wie im Falle von Groll, es kann auch 78

schädlich sein für einen selbst. Wenn man kein Vertrauen hat, wenn man nicht glaubt, daß wir die Diener Gottes sind, dann glauben wir, daß wir berechtigt sind, Macht zu gebrauchen, wenn wir sie haben. Das kann tatsächlich das Auftreten von Macht verstärken, weil es uns spüren lassen kann, daß wir Gott nicht brauchen - daß wir es selbst tun können. Wenn man also wirklich wünscht, ein vervollkommnetes Wesen zu werden, muß man einen sehr starken Wunsch haben, rein zu sein, nicht ein Wesen mit Kraft zu sein, und fähig, ver­ schiedene okkulte oder höhere Energien anzuwenden, mit der Möglichkeit, sie auf die falsche Art auszuüben, aus dem eige­ nen Egoismus heraus. Es genügt nicht zu denken, daß man es auf eine gute Art tun sollte - man kann sich leicht selbst täu­ schen. Viele Leute, die Kräfte erlangt haben, mißbrauchen sie im vollen Glauben, Gutes zu tun. Wenn jemand - sagen wir wie Adolf Hitler, der gewiß große Macht über Menschen erlangte besessen wird durch diese Macht und immer noch denkt, er tue Gutes, und fähig ist, diese Macht im großen Stil auszuüben, dann entsteht etwas sehr Gefährliches und Schreckliches. Ich sage nicht, daß es in diesem Ausmaß oft geschieht, aber es gibt Leute, die Kräfte haben und sie mißbrauchen. Ein sehr wichtiger Punkt ist die Verpflichtung für entweder eine positive oder eine negative Richtung ... Wenn es so einfach wäre, dann ginge es in Ordnung. Aber unglücklicherweise denkt jeder, daß er das Gute wählt. £s scheint, daß man mit dem Anwenden der Vorstellungskraft alles beeinflussen kann, einschließlich der eigenen Träume und der eigenen Gefühlserlebnisse und sonst allem möglichen. Ist es besser, es ganz zu lassen, bis man weiß, wie man es positiv anwenden kann, um sich selbst zu formen? Es gibt da zwei Dinge. Erstens ist es viel besser, es zu lassen. Es ist eine Sache, sich selbst zu überzeugen, daß etwas möglich ist. Nehmen wir das Beispiel von LSD. Es setzt diese Energie tatsächlich frei. Es kann die Kraft der Imagination - wirklich 79

außergewöhnliche Dinge - freisetzen, aber es kann auch Macht über einen selbst freisetzen, und das kann sehr irreführend sein, denn die Leute werden denken: Ich kann fliegen, also kann ich vom Hausdach herunterspringen, und manchmal tun sie es. Dies ist ganz einfach eine leichte Art und Weise zu sehen, wie gefähr­ lich es ist, diese Energie freizusetzen, wenn man nicht weiß, was man tut; aus dem gleichen Grund können auch die sexuellen Funktionen gestört werden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten außer dem Gebrauch von LSD oder etwas Gleichartigem, mit welchen man diese Energie künstlich freisetzen kann. Es gibt verschiedene Arten von Tricks, es zu tun, und all das ist wirklich gefährlich. Man sollte immer auf der Hut sein, wenn man interessiert ist oder sich angezogen fühlt von irgendwelchen Schulen oder Lehren, die etwas versprechen. Sie müssen auf der Hut sein, ob sie diese Art von Macht anbieten. Ich kenne einige, die das tun. Es gibt da eine ganz bestimmte, die kürzlich in den Vordergrund getre­ ten ist, die tut dies auf eine ganz einfache, aber unheimlich gefährliche Weise. Eine andere Frage ist natürlich die der Anwendung für die eigene Vervollkommnung. ... wenn man immer mit Menschen konfrontiert ist, die auf eine sehr einfache Art voneinander lernen können... Was voneinander lernen? Einfach die eigenen Unvollkommenheiten zu sehen durch den Austausch mit anderen Menschen. Ist es wirklich notwendig, über alle diese Dinge Bescheid zu wissen? Es ist notwendig zu tun. Was wir von anderen Leuten über unsere Unvollkommenheiten lernen können, ist ziemlich begrenzt, und wenn wir doch lernen und uns zu verändern wün­ schen, werden wir früher oder später eine bestimmte "Energie" benötigen. Wir müssen sie nicht benennen können, aber sie muß hineinfließen. Versuchen wir, auf den Grund dessen zu kom­ men, wovon Sie sprechen. Die Frage ist: Sollten wir nicht fähig 80

sein, einfach durch das Teilen unserer Erfahrung, wie sie gerade ist, uns mit allem zu versorgen, was notwendig ist? Es sollte möglich sein, und es wäre möglich, wenn da nicht bei uns allen unter dieser Oberfläche unerwünschte Dinge verborgen wären, die wir nicht hochkommen lassen, und über die es sehr schwie­ rig ist zu sprechen. Sie wissen, daß ich darin eine lange Erfah­ rung habe. Ich weiß, wie schwierig es ist, wenn jemand mit sehr aufrichtiger Absicht kommt und mich bittet, mit ihm über seine Probleme, seine Schwächen, oder was Sie wollen, zu sprechen - wie schwierig es für ihn ist, es sehen zu können. Es ist sehr schwierig, einen Weg zu finden, zuerst einmal zu sehen, was das Problem wirklich ist und nachher mit den Betreffenden darü­ ber zu reden. Gurdjieff, mein Lehrer, war ein Mensch mit außergewöhn­ licher Kenntnis der menschlichen Natur - wirklich außerge­ wöhnlich. Ich beobachtete ihn mit Hunderten von Menschen. Wenn Leute aufrichtig zu ihm kamen, damit er ihnen helfe, beobachtete er sie. Er brachte sie in verschiedene Situationen, und es konnte vielleicht zwei, drei, sechs Monate dauern, bevor er ihnen irgendeinen Ratschlag gab. Denn selbst mit einer sol­ chen Einsicht wie der seinen mußte er die Richtigkeit überprü­ fen - daß er wirklich sah, was das Problem war. Ich weiß selbst, wie überrascht ich war, daß er so lange Zeit wartete, bis er mir sagte, was für mich notwendig war zu tun. Ich dachte, er müßte das auf einen Blick sehen. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, wie schwer es ist, Menschen zu helfen, wenn in ihnen die­ ses innere Auge nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grad geweckt ist und sie fähig sind, Dinge selbst zu sehen. Nun, das Wecken dieses inneren Auges, dieses "dritten Auges" oder, wie Gurdjieff es nennt, des höheren emotionalen Zentrums - darüber sprach ich auf verschiedene Art und Weise. Jede Lehre weiß, daß es eine Art innerer Wahrnehmung im Menschen gibt, die es ihm ermöglicht, Dinge zu sehen, die er mit seinen Augen nicht sehen oder mit seinem Verstand erfas­ sen kann - die jenseits des Bewußtseins sind. Meiner eigenen Erfahrung nach brauchen die Leute Hilfe, um dieses in ihnen aufzuwecken, aber danach ist es sehr anders; dann ist es wirk­ lich möglich, auf den Grund ihrer Probleme zu kommen. Dort 81

müssen Sie Ihrem eigenen Egoismus begegnen. Das ist Ihre eigentliche Schwierigkeit. Wenn Sie nicht in diese Tiefe Vor­ dringen können, mögen Sie etwas an der Oberfläche tun, das wie ein Ordnen und Zurechtrücken aussieht, und eines Tages erleben Sie einen fürchterlichen Schock: Sie sehen, daß sich eigentlich nichts Verändert hat. Einen solchen Schock erleben Sie manchmal, wenn Sie meinen, wirklich Fortschritte gemacht oder wirklich etwas erreicht zu haben, tatsächlich fähig zu sein, sich zu kontrollieren; und dann kommt dieser wahre Schock, wo Sie sehen, daß alles nur an der Oberfläche war und daß alles immer noch so ist, wie es die ganze Zeit über war. Deshalb sage ich Ihnen, es wäre ja gut und schön, einander zu helfen, wür­ den nicht so viele unserer Probleme derart tief sitzen. Und ich denke, jeder hat irgendwelche tiefliegenden Schwierigkeiten, an die er nicht einfach durch Nachdenken oder Beobachtungen anderer Leute herankommen kann. Beim einen ist es eine sehr tiefsitzende Angst, die so verborgen ist, daß er nicht einmal darum weiß. Beim anderen ist es eine Habsucht, ein Besitzan­ spruch, den er so geschickt vor anderen und vor sich selbst ver­ bergen kann, daß man nicht darauf kommen könnte, daß er so ist, weil sein Verhalten ganz anders sein mag. Wie können Sie am besten feststellen, ob Sie sich nicht selbst täuschen, in der Meinung, keinen Groll gegen jemanden zu haben? Ich denke, Sie können das; ich denke, es ist möglich, sich diese Art von Frage selbst zu stellen: Herr X, mit dem ich eine schlechte Erfahrung gemacht habe - wenn ich richtig hinschaue, kann ich dann sagen, daß ich dieser Person ganz ehrlich nur das Beste wünsche? Und Sie fragen sich wirklich. Ich meine, daß das etwas ist, was Sie spüren können. Sie können es nicht im allgemeinen, Sie können nicht verallgemeinernd fragen: Bin ich frei von Groll? Sie betrachten bestimmte Situationen und fra­ gen sich selbst: Akzeptiere ich diese Person vollständig, spüre ich irgendeine Ablehnung gegenüber dieser Person, kann ich wahrhaftig sagen, daß ich diese Person liebe? Sicherlich erfor­ dert es etwas Übung, weil man sich irren, ja sich darüber gar 82

etwas vormachen kann. Ich denke, es lohnt sich, sich von Zeit zu Zeit auf diese Art zu prüfen - nicht zu oft, sonst könnte es zur Nabelschau werden. Aber wenn Sie sich diese Frage stellen und Sie wissen, daß es irgendwo ein ablehnendes Element gibt... Das ist gut, weil Sie dann ehrlich sind. Aber tun Sie dann immer noch weiter, was Sie gerade tun woll­ ten, weil Sie meinen. Sie müßten, oder warum auch immer, oder tun Sie es nicht? Ich neige dazu, dies immerzu tun. Ja, das ist richtig. Wenn es darum geht, von Ihrem Groll loszu­ kommen, dann ist es durch Handlung, durch freundliches Ver­ halten einer Person gegenüber. Sie sagten, das sei nicht ehrlich, daß ich nicht das wirklich fühle, was ich tue? Nun, es mag zu 95 Prozent... Aber angenommen, es wäre zu Null-Prozent, angenommen. Sie würden diese Person am liebsten tot sehen. Immer noch kön­ nen Sie so tun, als ob Sie diese Person liebten. Das zu verste­ hen ist eines der schwierigsten Dinge, aber vielleicht ist es gerade durch dieses Gespräch heute möglich. Eine Art Regel ist, daß dann, wenn Sie Groll gegenüber einer Person empfinden, Sie sich freundlich verhalten; doch wenn Sie wissen, daß Sie frei von Groll sind, Sie manchmal unfreundlich sein können. Sie eine Person kritisieren können, wenn Sie wirk­ lich sicher sind, daß Sie sie lieben. Doch an diesem Punkt der Art Unehrlichkeit angekommen, müssen Sie erkennen, daß die Feindseligkeit, die Sie gegenüber einer Person hegen mögen, in Wirklichkeit aber oberflächlich ist. Tief drin, ganz im Inneren Ihrer selbst, ist nichts davon - wenn dieser Person plötzlich ein schrecklicher Unfall oder ein Unglück zustieße, würden Sie nicht wirklich frohlocken. Doch laßt uns davon ausgehen, daß da immer noch etwas zurückbleibt - tiefer im Innern ist die Stelle, wo all das ver­ 83

schwinden würde. Feindseligkeit kann niemals in unsere tiefste Tiefe dringen; sie kann bei unserem Egoismus beginnen, aber Egoismus ist nicht das Tiefste in unserer Natur, Gott sei Dank gibt es etwas dahinter. Demzufolge können Sie sich immer sagen, daß es in der Tiefe diesen Groll gar nicht gibt. Ich kann mir vorstellen, daß ich diese Person aus meinem wirklichen Sein in mir betrachte. Hier kann die Macht der Imagination tatsäch­ lich sehr segensreich sein. Man kann sagen, daß ich diese Per­ son betrachten werde, als ob ich Christus wäre oder ein Heili­ ger. Ich stelle mir vor, wie Christus diese Person betrachten würde. Ich kann sagen, nun, das ist wohl möglich, es ist nicht jenseits unserer Macht, dies zu tun, weil wir diese Imagination haben. Dies ist es, was sie uns befähigt zu tun. Wenn wir zu ler­ nen beginnen, sie anzuwenden, dann kann sie wunderbare Dinge für uns erwirken. Es stimmt natürlich, daß wir uns fernhalten - die meisten Leute halten sich fern - von Menschen, die wir nicht mögen oder die irgendwelche unangenehmen Reaktionen in uns her­ vorrufen; und hier würde ich sagen, daß das Wort "sollte" benutzt werden kann, man sollte das überwinden, man sollte sich nicht von Leuten zurückziehen, die einem unangenehm sind. Man sollte lernen, wie man fähig wird, mit allen Menschen alles zu sein. Und tatsächlich ist es ein Teil der eigenen Freiheit. Wenn ich mich nur mit einigen Menschen entspannt fühlen kann und mit anderen verschlossen und zurückgezogen, ist das Skla­ verei, es ist Schwäche. Ich muß fähig sein, freundlich und offen mit jedermann zu sein oder mich, wenn nötig, von Leuten zurückzuziehen, mit denen ich sehr gerne Zusammensein möchte, wenn es einen Grund gibt, weshalb ich mich zurück­ ziehen sollte. Wir benötigen diese Macht, weil es notwendig ist für uns, frei zu sein, und manchmal können Sie es auf diese Art betrachten. Dort drüben ist eine Person - es gibt keinen spezi­ ellen Grund, warum ich hingehen und sie freundlich grüßen sollte, ich weiß ich könnte, oder ich könnte auch mit meiner Strickarbeit oder was immer fortfahren. Aber Sie stellen sich selbst die Frage: "Bin ich darin wirklich frei, laufe ich nicht ein­ fach davon? Möglicherweise umgehe ich etwas, was mir genauso viel Schwierigkeiten bringen wird." Nach einer Weile wächst in 84

Ihnen eine neue Art von Befriedigung, und Sie fangen an zu sehen, wie viel besser es sich leben läßt, wenn Sie mit jedermann offen sein können, ob Sie sie nun mögen oder nicht. Ich meine fähig zu sein, sie zu akzeptieren und gut gesinnt zu sein. Und nicht einfach nur gut gesinnt zu sein, sondern gut zu handeln. Genügt es denn, einfach in der Ecke zu sitzen und sich gut zu fühlen?

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Baraqah - Der Heilige Georg und der Drache

Sie sagten gegen Ende des Gesprächs letzte Woche, daß die normale Beziehung zwischen Schüler und Lehrer nicht mehr möglich ist. Dies bedeutet, daß der normale Prozeß der spirituellen Gnade durch einen Menschen möglicherweise nicht mehr nötig ist. Nein, ich meinte nicht, daß diese persönliche Beziehung zwi­ schen einem Lehrer und einem Schüler nicht mehr möglich ist, sondern sie genügt nicht mehr. Die Welt ist gewachsen, und ihre spirituellen Bedürfnisse sind so groß, daß diese beschränkte Methode des Weitergebens nicht mehr genügt. Sicher geht sie weiter und wird immer weitergehen. Es gibt das universale baraqah [auch Baraka geschrieben]. Es gibt das baraqah einer bestimmten Tradition und das persönliche baraqah. Es gibt gewisse Menschen, die die Kraft des Segnens durch ihr eigenes Verdienst selbst erwerben. Es gibt auch Menschen, die eine bestimmte Rolle in gewissen rituellen Umständen spielen und die dadurch den Segen weitergeben können. In diesem Fall ist es nicht eine Beziehung von eins zu eins, sondern oft eine von eins zu vielen, obwohl beide Situationen entstehen können. Das Dritte ist universales baraqah, das die Welt durchdringt und für das die Menschen ohne Mittler empfänglich werden können, wenn ihr innerer Feind zum Schweigen gebracht worden ist. Dieser innere Feind, den wir in uns haben, steht an der Tür und 86

hindert das baraqah am Hereinkommen. Etwas steht an der Tür und fängt das ab, was für den echten Menschen (insan) im Inne­ ren bestimmt ist, und kann es mißbrauchen - und ein Schutz dagegen ist erforderlich. Deswegen kann nicht jeder willentlich aus dem universalen baraqah und aus der spirituellen Macht, die allgegenwärtig ist, schöpfen. Es erfordert also etwas, und dies kommt sozusagen durch die Fähigkeit sich einzustimmen, mitzuschwingen. Wenn man selbst nicht harmonisch ist, wenn man von den eigenen nafs ammara, vom eigenen persönlichen Ego dominiert wird, dann ist dies nicht möglich. Dieses universale baraqah wirkt auf ver­ schiedene Weise. Aber jeden, dessen innerer Feind friedlich und ruhig gemacht worden ist, kann das baraqah erreichen. Eins müssen wir über unsere heutige Zeit verstehen: Es gibt eine Intensivierung dieser Wirkung, und deshalb werden viele Men­ schen davon berührt. Es ist aber etwas Gefahrvolles, weil jemand ganz echt diesen Segen empfangen kann und die Kraft, die dazu gehört, und nachher wieder von seinem eigenen Ego­ ismus gefangen werden und das, was er empfangen hat, mißbrauchen kann. Es gibt darum verschiedene Wege, dies zu neutralisieren, damit keine ernsthaften Folgen entstehen. Aber das universale baraqah wird derart breit verfügbar gemacht, weil es für die Welt in dieser Zeit ein so großes Bedürfnis ist. Es gibt gewisse Voraussetzungen, die den Empfang des univer­ salen baraqah begünstigen. Zum Beispiel, als wir zusammen standen und unsere Aufmerksamkeit dem heiligen Propheten zuwendeten, diesem sehr reinen Wesen. Was die Jungfrau Maria für die Christenheit, ist Mohammed für den Islam - das heißt, das Bild des perfekten, reinen Wesens, völlig und ganz dem Wil­ len Gottes gehorchend. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit die­ sem perfekten reinen Wesen schenken, können wir uns in einen Zustand versetzen, der dieser segnenden Kraft oder baraqah erlaubt, in uns einzugehen. Aber wenn wir nicht tief beruhigt, in tiefem Frieden sind, wird dies schnell wieder gestört und seine Wirkung ist vorübergehend. Wirklich wichtig ist für uns, daß wir stabil genug in unserem inneren Frieden sein sollten, damit es unaufhörlich in uns weilt und unaufhörlich in uns wirkt. Folg­ lich ist eine gewisse Vorbereitung notwendig. 87

Im Prinzip, wenn es Initiation gibt, gibt es auch eine Probe­ zeit oder Vorbereitung. Es ist notwendig, daß diejenigen, wel­ che die Macht haben einzuweihen, auch die Verantwortung tra­ gen und aufpassen, daß sie das Heilige nicht den Hunden vorwerfen. Der Grund, warum ich gerne hierher komme und ganz frei mit Ihnen spreche, ist, daß ich keine Unstimmigkeiten spüre. Ich fühle, daß ich sprechen kann. Wirkt dieses universale baraqah stärker an gewissen Orten als an anderen?

Ja. Und wie verhält sich das zu den besonderen Energien eines Ortes oder zum Bewußtsein der Menschen an diesem Ort? Es gibt Orte, die die richtige Konstellation haben oder die rich­ tige Struktur ihrer natürlichen Energien, und diese Orte wer­ den zu heiligen Orten. Die Menschen spüren, daß es so ist, und dann kommen sie dorthin; vielleicht bleibt eine besondere Tra­ dition eine gewisse Zeit dort und stirbt dann, aber eine andere Tradition wird vom gleichen Ort angezogen. Ich erinnere mich an einen Ort in Kurdistan - Mar Behman. Er ist sehr merk­ würdig. So weit man zurückverfolgen kann, bis vor die assyri­ sche Zeit, bis zur sumerischen Zeit, wurde dieser Ort als heilig angesehen. Er ist sehr nah bei Ninive. Ich kann mich nicht erin­ nern, wie nah, aber auf jeden Fall zu Fuß erreichbar. Als ich da war - das war erst vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren -, war er ein heiliger Ort für Christen, Mohammedaner, Yezidis und auch für die assyrischen Christen. Es gab auch westliche christ­ liche Mönche dort, Franziskaner. Alle spürten, daß dies ein hei­ liger Ort war und ich spürte es auch. Als wir hinunter gingen, unter die Erde, wo das Heiligtum war, konnte man nicht umhin, es zu spüren, und es bildete einen starken Gegensatz zu Ninive, das immer einen schmerzlichen Eindruck macht. Dieser Ort war sehr heilig. Mar Behman ist der Name eines Heiligen, der unge­ fähr im dritten Jahrhundert lebte. Das Merkwürdige ist, daß Hulagu, der Enkel Dschingis Khans, auf dem Weg, Bagdad zu 88

erobern und zu vernichten, dort anhielt und um einen Segen bat für diesen Ort. Der eingravierte Stein steht immer noch da, mit den Befehlen Hulagus, niemals etwas in Beschlag zu nehmen, und niemandem in diesem Dorf ein Haar zu krümmen. Gemäß ihrer Tradition - aber ich habe sie nie verifizieren können - schrieb Hulagu seine Eroberung Arabiens dem Segen zu, den er von Mar Behman erhielt. Alles, was ich von meinem persönlichen Gefühl an diesem Ort weiß, ist, daß er ganz außergewöhnlich heilig war. Ich könnte ein halbes Dutzend Orte dieser Art nennen, die jetzt kaum bekannt sind, weil niemand in der Nähe wohnt. Ist das universale baraqah in der Natur aufgeteilt, so daß es ein baraqah aus dem Tierreich und aus der Pflanzenwelt gibt? Nein, das ist etwas anderes. Das ist nicht baraqah. Das Wort baraqah wird nicht in diesem Sinne gebraucht. Es ist etwas rein Spirituelles, und Tiere sind naturhaft. Das heißt nicht, daß es keine naturhafte Kraft gäbe, die auch universal ist, aber sie ist anders. Es gibt eine Lebenskraft, die allem Leben gemeinsam ist, jede atmende Kreatur nimmt daran teil, aber sie wird eigent­ lich durch die Luft übertragen. Das, worüber ich spreche, liegt außerhalb der Natur. Es scheint, daß wir an einem Punkt in der Weltgeschichte ste­ hen, wo viele der geschlossenen kulturellen Systeme und ihre dazugehörenden Traditionen, die baraqah übermittelten, g e ö f f ­ net oder zerstört werden. Steht dies in Zusammenhang mit dem, was Sie sagten, daß wir in einem Stadium sind, wo einzelne Tra­ ditionen für die Lehrer-Schüler-Beziehung nicht mehr durch­ führbar sind? Ich habe nicht gesagt, daß sie nicht mehr durchführbar sind. Ich habe gesagt, daß sie nicht mehr genügen. Natürlich existieren sie noch, und jeder, der kann, muß einen Lehrer finden. Es ist sehr schwierig, einen Lehrer zu finden, aber gerade weil es so schwierig ist und weil so überaus viel getan werden muß, wer­ den andere Methoden eingeführt. Wenn die Erlösung der Welt von den Menschen abhängig wäre, die von Lehrern persönlich 89

eingeweiht wurden, gäbe es kein Fundament, auf das man bauen könnte. Das nötige Fundament stünde nicht zur Verfügung, wenn es keine anderen Methoden und keine anderen Wege gäbe. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist eine sehr erhabene Sache. Man kann nur in eine solche Beziehung echt eintreten, wenn man nah an der Perfektion ist. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist, und war immer, sehr außergewöhnlich. Man liest von der Lehrer-Schüler-Beziehung; man liest von Jelaluddin Rumi und Shamsi Tabriz und solche Dinge. Diese Dinge geben einen Ein­ druck, wie es sein könnte, aber es ist sehr selten. Ich möchte damit sagen, daß es diese Beziehung gibt, es gibt Quellen ech­ ter Einweihung, aber die Menschen brauchen sehr viel Vorbe­ reitung, bevor sie dahin kommen können. Die Menschen, die fähig sind, diese Stufe zu erreichen und deren Aufgabe es ist, der Welt zu helfen, müssen viele Menschen haben, durch die sie vermitteln können, und das Fundament muß durch diese brei­ tere und umfassendere Aktion gelegt werden. Sie haben bestimmt von der Aussage gehört, daß zweihundert bewußte Menschen die Welt retten könnten. Es gibt etwas Ähnliches in der jüdischen Überlieferung, wo es heißt, daß neununddreißig rechtschaffene Menschen die Welt vor einer Katastrophe behü­ ten könnten. Sie sollten die Implikationen dieser Vorstellungen verstehen. Eine Sufi-Überlieferung spricht von den vierzig abdal und dem qutb al zaman oder dem mutasarrifal zaman. Doch diese sind sehr außergewöhnlich. Es gibt nur wenige Menschen dieser Entwicklungsstufe auf der Welt. Die Welt könnte sich glücklich schätzen, wenn es wirklich vierzig abdal gäbe mit der Fähigkeit, direkt aus der Quelle zu empfangen und die die höch­ ste Lehre weitergeben könnten. Aber wenn es einen Menschen gibt, der einen hohen Grad an Vollkommenheit erlangt hat und wünscht, anderen zu helfen, kann er dies auf zwei Weisen durch­ führen. Die eine Weise ist im Verborgenen durch das, was er innerlich bewirkt. Die andere ist die äußere Verbreitung. Doch um etwas zu verbreiten, müssen Menschen da sein, die es emp­ fangen können. Darum sagte ich, daß es nicht genug Grundla­ gen dafür gäbe, wenn keine universale Aktion wirken würde, und deshalb geschieht es heute, daß Millionen von Menschen davon berührt werden. Besonders junge Menschen; insbesondere 90

jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, aber mindestens nach 1950, als die Sünden der ersten Jahrhun­ derthälfte getilgt worden waren. Nach 1950 geboren worden zu sein, hat wirklich große Vor­ teile. Ich sage das, weil von dieser Zeit an aus verschiedenen Gründen eine neue Entwicklung begann. Manche Leute mögen mir bei der Jahreszahl nicht zustimmen. Manche sagen 1952, andere nennen wiederum andere Daten. Aber viele Menschen, die wissen, was heute in der Welt geschieht, wissen, daß es eine entscheidende Periode war, als eine große Katastrophe abge­ wendet werden konnte. Seit dieser Zeit gab es eine große Öff­ nung für dieses universale baraqah, und viele Menschen wur­ den davon berührt, sprichwörtlich Millionen. Von diesen werden eine bestimmte Anzahl zur spirituellen Suche bewegt, und es geschehen bestimmte Veränderungen mit ihnen. Sie fan­ gen an, neue Beziehungen zu finden, sie beginnen sogar wahr­ zunehmen, daß es andere Menschen gibt, die die Welt auf die­ selbe Weise betrachten. Sie können die Welt nicht mehr auf die Weise sehen, wie sie es in der Schule, der Gesellschaft oder von ihren Eltern oder Lehrern beigebracht bekommen haben. Dadurch entsteht in ihnen ein großer Hunger. Das hat nichts mit ihnen selbst zu tun. Es geschieht, weil die universale Kraft in ihnen wirkt und sie fähig sind, auf sie zu reagieren. Das ist das Feld der Ernte, wo die Saat gesät wurde. Verschiedene Mög­ lichkeiten werden bekannt. Die Menschen haben besondere Hoffnungen. Aber dann werden sie erwachsen, wie in dem Gleichnis des Sämanns. Die Saat ist gesät und das Getreide wächst gut. Aber dann entsteht das Problem, das in den Wor­ ten ausgedrückt wird: "Die Ernte ist reich, aber wenige können sie ernten." Die echte Schwierigkeit kommt dann, wenn die Übertragungsmöglichkeiten zwischen einer großen Zahl von Menschen, die empfänglich wären, und den überaus wenigen, die die Hüter des baraqah sind, fehlen. Das Problem der Welt heute besteht darin, diese zwei zusammenzubringen und diese Lücke zu schließen; Wege zu erschließen, durch die die Leute in die Lücke eingefügt werden können, um sie auszufüllen. Die, die es können, legen einen weiten Weg zurück und kommen in Verbindung mit einer direkten Lehre, die von oben organisiert 91

wird. Es ist ein Teil der Vorsehungskraft, die im jetzigen Moment auf die Welt einwirkt; aber was uns überlassen wird, ist wirk­ lich das Füllen dieser Lücke. Sie kennen das Bild vom Heiligen Georg und dem Drachen. Eine traditionelle Behandlung dieses Themas ist, daß die Dame, die die Seele repräsentiert, da ist, und daß der Heilige Georg da ist, und er schaut den Drachen nur an, und solange der Speer ihn nur berührt, ist der Drache folgsam, und die Dame kann ihn führen. Der Drache steht natürlich für die nafs ammara. Wie können wir diesen Drachen in uns selber meistern? Der Drache ist ein unentbehrlicher Teil dieses Dramas. Ewige Wachsamkeit ist notwendig; dies wird ausgedrückt durch den Heiligen Georg auf seinem Pferd, mit seinem Speer, der den Hals des Drachens nur berührt. Nur soviel ist notwendig. Solange der Drache weiß, daß er beobachtet wird, ist er ruhig und friedlich. Dann kann ihn die Seele, die ruh, von der Dame dargestellt, an einem Sei­ denfaden führen. Diesen Zustand müssen wir in uns herzustel­ len lernen. Solange der Drache in der Höhle war, war er eine Bedrohung. Man konnte ihn nicht sehen, seine nächste Tat war nicht vorauszusehen. Als er aus der Höhle gebracht und sicht­ bar gemacht wurde, seine ganze Gestalt zu sehen war, entstand die Situation, daß der Heilige Georg ihn kontrollieren konnte. Er konnte ihn friedlich und ruhig stimmen. Wie läßt sich diese Allegorie in unserem eigenen spirituel­ len Leben anwenden? Der normale Zustand des Menschen besteht darin, mit diesem Drachen identifiziert zu sein. Sein Drache ist "Ich". Die Wünsche seines Drachens sind seine Wün­ sche. Das ist der Zustand, wenn der Drache in der Höhle steckt. Es gibt nicht einmal die Möglichkeit, mit ihm zu kämpfen. Der Drache steckt in uns und wir sind der Drache, das ist das nafs ammara. Dieser Drache gehorcht niemandem. Er übernimmt alles; alles wird von ihm getan, er befiehlt - er hat sich der Posi­ tion des rechtmäßigen Herrschers bemächtigt. Wie erkennt man das? Wie kommt man so weit, daß man erkennt, daß man seinen Drachen nicht als sich selber sieht? Wie kommt man zu seinem eigenen Heiligen Georg? Verstehen Sie, der Heilige Georg erschien in dieser Szene nicht als Anfänger im Umgang mit Drachen; wahrscheinlich war er schon auf einer Drachenzähmungsschule 92

gewesen. Wir müssen nach und nach lernen, wie das zu mei­ stern ist, was wir in uns sehen, wie unsere destruktiven und negativen Impulse zu meistern sind; unsere selbstliebenden Impulse. Der Drache wird schwach vor dem Heiligen Georg. Dann kann etwas Schlimmes geschehen: Es kann geschehen, daß der Heilige Georg selber zu einem Drachen wird. Sie müs­ sen wissen, daß dies ein schreckliches Risiko ist, das eingegan­ gen wird. Wenn er jemals denkt, daß er der echte Nutznießer der Drachenzähmung ist, daß der Drache sein Haustier gewor­ den ist, dann ist er in großer Gefahr. Deshalb steht die Dame da, die die Seele darstellt, ruh, ruhani, das höchste Prinzip im Menschen. Warum ist es weiblich? Weil es folgsam ist, es ist lie­ bend; es ist empfangend, es sucht nicht nach Macht. Sie hält den Drachen nur an einem seidenen Faden. Man kann über die­ ses Bild meditieren. Wenn man dies in sich selbst sehen kann, daß die Aufgabe, seinen eigenen negativen Teil zu meistern, nicht deshalb da ist, um das Kommando zu bekommen, son­ dern um diesen Teil folgsam zu machen, nicht sich selbst, son­ dern etwas anderem gegenüber. Diese dreifache Situation ist wirklich der Schlüssel zum Verständnis der nafs ammara. Sie haben von den nafs ammara gehört und ich sehe, daß Sie alle darüber Bescheid wissen. Sehr gut. Wenn Sie nur wirklich dar­ über Bescheid wüßten! Mr. Bennett, dürfte ich Sie bitten zu erklären, was Sie meinten, als Sie sagten, es könnte Gefahr in der Verwandlung des Heili­ gen Georgs in einen Drachen bestehen? Es ist nicht leicht, wenn man einen Drachen besiegt hat, nicht ein wenig zu prahlen. Der echte Sinn besteht darin, daß man die Macht haben muß, wie wenn man sie nicht hätte. Man darf keine Genugtuung empfinden, daß man der Meister seiner selbst ist. Manche Leute erlangen die Kontrolle über sich selbst; sie meistern Angst, Wut oder eine andere Schwäche in sich selbst, und dann schreiben sie es dem eigenen Verdienst zu. Sie begin­ nen zu meinen, sie seien etwas, weil sie diese Dinge in sich selbst besiegt haben. Auf diese Art erwächst die Gefahr, und es kann sein, daß dies ein schlimmerer Drache wird als der andere. 93

Sie sprachen letzte Woche über Groll in Bezug auf die Reini­ gung des Herzens. Könnten Sie etwas über die drei anderen Dinge sagen ? Die fünf Hindernisse oder fünf Behinderungen, vechas nennt man sie im Buddhismus. Sie müssen verstehen, daß man vor dem Sammeln, vor dem Hamstern sozusagen, auf der Hut sein muß. Ich habe Ihnen von zwei erzählt; Sie meinen Sie seien noch besser dran, wenn ich Ihnen über fünf berichte! Groll und Zweifel. Groll ist etwas, womit man umgehen kann. Es ist uns möglich, damit umzugehen, wenn wir sehen, daß es die Tür verschließt - daß es etwas ist, wovon wir frei sein sollten. Wir müssen erkennen, daß man gegenüber allen Wesen wohlwollend sein muß; weder Haß gegenüber jemandem, noch Groll, noch irgendeine Art innerer Abweisung hegen soll. Zuerst muß man erkennen, daß es kompromißlos sein muß. Es nützt nichts, zu sagen: Ich werde niemandem grollen, außer dem oder der. Dieses Freisein von Groll muß unpersönlich sein, damit es eine automatische innere Haltung des Wohlwollens zu allen Wesen gibt. Ich hatte daran gedacht vorzuschlagen, Bhante [Dharmaveera, der Ehrwürdige, ein buddhistischer Mönch] ein­ zuladen, hierher zu kommen, aber er reist am Sonntag ab. Er hat uns in buddhistischer Meditation geführt, und er beginnt immer damit, wie jede buddhistische Meditation immer beginnt, allen Wesen Wohlergehen zu wünschen. Das ist richtig: man sollte das tun. Aber, wer sendet Wohlwollen? Ist man selber frei von Groll? Wie kann ich allen Wesen Wohlwollen senden, wenn es irgendwo in mir Groll gegen jemanden gibt? Also ist es not­ wendig, sehr wachsam zu sein und eine sehr große Entschlos­ senheit zu haben, sich vom Groll zu befreien, und nach und nach wird man es erreichen. Man muß mit gesundem Menschenver­ stand erkennen, daß Groll für niemanden gut ist, für sich selbst am wenigsten, und dann müssen wir auf diese Art unsere Her­ zen öffnen, damit wir einen ganz großen Wunsch hegen, ein Wohlwollen gegenüber allen Wesen zu haben, das unerschüt­ terlich ist, besonders gegenüber Wesen wie wir, zu Menschen. Und manchmal ist es gut, sich darin zu üben. Wenn man einen 94

Impuls der Kritik oder der Abneigung gegenüber jemandem hat, sollte man versuchen, diesen beiseite zu stellen und sich verge­ wissern, daß man dieser Person gegenüber Wohlwollen spürt. Es ist eine Sache der Übung, des Bewußtseins der Notwendig­ keit, von Groll frei zu sein, und nach und nach wird es kom­ men. Es ist das gleiche mit dem Zweifel. Der Zweifel muß von der Unterscheidungsfähigkeit auseinandergehalten werden. Die Unterscheidungsfähigkeit ist notwendig. Frei sein von Zweifel heißt nicht, frei sein von Unterscheidungsfähigkeit oder der Fähigkeit, das Annehmbare und das Unannehmbare zu erken­ nen. Der Zweifel ist etwas anderes. Er basiert auf einer falschen, egoistischen Forderung, daß man ein Recht hat, Beweise zu bekommen; daß man ein Recht hat, daß einem alles bewiesen wird. Wenn man erkennt, wie der Zweifel seine Wurzel im Ego­ ismus hat, dann kann man erkennen, daß Zweifel weglegen heißt, eine Forderung auf die Seite zu legen. Wir können den Weg vor uns sehen. Zum Beispiel Sie, der Sie mich gefragt haben, ob man Groll und Zweifel wirklich überwinden oder überhaupt vermindern kann: Sie erinnern sich, ich machte doch die Unterscheidung zwischen der Befreiung von der Dominanz dieser Dinge und deren völliger Ausmerzung. Sie gehören zu ganz verschiedenen Stadien unserer Selbstvervollkommnung. Wir können diese Dinge stark vermindern, aber immer noch Spuren davon, immer noch die Möglichkeit ihrer Regung haben. An dem Punkt anzukommen, wo es keine Möglichkeit gibt, daß Zweifel oder Groll in einem hochkommen, ist schon der Zustand eines wall, schon der Zustand eines Heiligen. Für ein solches Wesen ist ein völlig anderes Schicksal schon offen. Aber ich rede nur vom Vermindern, wie man weniger von diesen Dingen haben kann. Weniger haben heißt, daß wir bereit sein müssen, die Forderung, alles sollte uns bewiesen werden, aufzugeben. Zum Beispiel: Wenn dies stimmt, beweise es mir. Jesus sagt: Die böse und falsche Generation sucht nach einem Zeichen, aber es wird ihnen kein Zeichen gegeben werden, außer das Zeichen des Propheten Jonas. Wenn Sie diese Antwort verstehen, ver­ stehen Sie, wie man gegen Zweifel arbeitet. Hatten sie ein Recht, um ein Zeichen zu bitten? Gab Er nicht Zeichen in Hülle und Fülle? Andererseits, warum gab er überall Zeichen, um dann 95

die Leute zu tadeln, weil sie kamen und ihn um ein Zeichen baten? Sie müssen erkennen, was es in Ihnen ist, das um ein Zeichen bittet, das sagt: Beweise es mir; gib mir Beweise dafür. Wenn Sie das in sich selbst erkennen, können Sie es tatsächlich loslassen und annehmen, was vor Ihnen steht. Ich kann den Schritt vor mir sehen, mehr brauche ich nicht; ich vertraue dar­ auf, daß es eine gütige Macht in diesem Universum, in dieser Schöpfung gibt. Ich will nichts wissen, wofür ich nicht vorbe­ reitet bin. Ich bitte nicht um Zeichen, um Beweise für irgend­ etwas. Das ist schwierig. Es ist nicht einfacher, sich vom Zwei­ fel zu befreien als von Groll, aber man muß erkennen, daß, obwohl er auf den ersten Blick nicht entsprechend oder ähnlich aussieht, der Zweifel genauso eine Frucht des Egoismus ist wie der Groll. Der Zweifel ist in Wirklichkeit eine unrechtmäßige Forderung. Denken Sie immer daran, mit Zweifel meine ich das, was ein Zeichen fordert, Beweise fordert. Nicht die Unter­ scheidungsfähigkeit, die ist völlig anders, die ist etwas Positi­ ves. Wenn Sie unter die Oberfläche schauen, erkennen Sie, daß vieles, was die Menschen als ganz vernünftig und annehmbar betrachten, nur deshalb so ist, weil wir alle annehmen, daß Ego­ ismus ein legitimer Teil der menschlichen Natur ist. Wie heißt die Übersetzung der Worte nafs ammara? Nafs heißt Geist, Seele oder Selbst. N a f s heißt "sich selbst". Ich selber habe die Worte nafs ammara als das "materielle Selbst" übersetzt. Ammarah kommt von der arabischen Wurzel, die "befehlen" heißt. Es ist buchstäblich "das befehlende Selbst". Es ist der Drache in herrschender Position. Es heißt manchmal die ungehorsame Seele, der Zustand des Ungehorsams. Das Wort nafs kommt von der gleichen Wurzel wie nefes, von der gleichen selbstverständlich wie das hebräische Wort nefech, das Seele oder Geist bedeutet. Es gibt nafs und es gibt ruh. Ruh und auch roh - die gleichen zwei Worte existieren im Arabischen wie im Hebräischen - bedeuten wirklich das, was uns an diese Welt bindet. Wenn man darüber Herr geworden ist, ist es ver­ wandelt, es ist verändert. Es ist immer noch da, aber es dient einem anderen Meister. In der Sufi-Literatur gibt es eine derart 96

verwirrende Vielfalt in der Terminologie, daß es sehr schwierig ist, alle Ausdrücke und ihre Verwendung zu kennen und zu wis­ sen, wie sie miteinander verbunden sind. Es gibt das, was man nasut, jebberut, melekut nennt - das wissen Sie sowieso von Ibn 'Arabi. Das nafs ammara hält uns im nasut fest. Es scheint, daß das, was Sie bisher sagten, die Wichtigkeit unter­ streicht, sowohl des Glaubens an etwas außerhalb seiner selbst, wie auch des richtigen Verständnisses der Art wie man sich damit identifizieren kann. Sogar indem man anderen hilft, läuft man Gefahr, baraqah sich selbst zuzuschreiben. Es sind nicht wir, die sprechen, sondern "der Geist Gottes, der in uns spricht". Man darf das nie vergessen. Wenn ich zu Ihnen spreche und mir der Verantwortung dieser Rolle, Ihnen eine Lehre zu übermitteln, bewußt bin, dann spreche nicht ich selbst, und ich denke nicht, daß das, was ich sage, von mir kommt. Doch wenn wir das Gespräch änderten und auf andere Art sprächen, und ich erfüllte diese Rolle nicht, dann wäre ich genau so dumm und machte genauso viele Fehler wie jedermann und wäre genauso schwach wie die anderen. Man bekommt diese Hilfe nur, wenn man eine bestimmte Rolle erfüllt. Sie bekom­ men die Hilfe, weil Sie die Rolle der Zuhörer erfüllen. Wir befin­ den uns zusammen in einem bestimmten Ritual. Es ist etwas Heiliges, wenn sich sohbat ereignet. Kennen Sie sohbat? Es ist ein technischer Ausdruck im Sufismus für diese Art Ereignis, das jetzt geschieht, das heißt wo ein Gespräch stattfindet über geistige Angelegenheiten, und jemand die Rolle des Vermittlers an andere übernimmt. Alle beteiligen sich an der Schaffung die­ ser Art Situation, damit wir so miteinander sprechen können. Was Sie sagen, ist sehr wichtig. Man muß immer aufpassen, nichts sich selber zuzuschreiben. Wenn der Gedanke "ich sage das, ich weiß" im Verstand auftauchen kann, dann muß man wieder den Speer in den Nacken des Drachens drücken.

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Khidr - Die vier Welten Bedürfnisse

as ich über Khidr sagen würde, hängt davon ab, mit wem ich spreche. Eine Möglichkeit, darüber zu reden, ist, daß es Kräfte gibt, die von der spirituellen Welt in diese Welt hineinwirken und Formen annehmen, die nicht immer sichtbar sind. Manchmal nehmen diese Kräfte Formen von Mythen oder von irgendeinem Bild an. Eng verbunden mit Khidr ist die Idee des Elia (Elijah), einem besonderen Prophe­ ten, der verehrt wird von Menschen aller Religionen im Nahen und Mittleren Osten. Es spielt keine Rolle, ob Sie Muslim, Jude, Christ oder Yezidi sind, die Idee des Elia ist da, des Propheten, der fähig ist, in irgendeiner Form vom Himmel herabzukom­ men. Die gleichen Dinge, die man über Elia sagt, kann man über Khidr sagen. Aber Sie müssen verstehen, daß das den Menschen vermittelt wird, um in ihnen eine Vorstellung zu erzeugen von etwas, das eigentlich nicht vorstellbar oder beschreibbar ist. Also wird diese Art Bild erschaffen; aber es ist von oben erschaf­ fen, es ist nicht von Menschen erschaffen. Deshalb sage ich, es komme darauf an, mit wem ich darüber spreche. Spreche ich zu Menschen, die Bilder brauchen, oder zu Menschen, die keine Bilder brauchen?

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Warum wird Khidr mit der Farbe grün in Zusammenhang gebracht? 98

Deshalb bringe ich es mit Elia in Zusammenhang. Darin ent­ halten ist die Idee der Auferstehung, der Himmelfahrt, verbun­ den mit Erneuerung und demzufolge mit Grün. Es ist etwas anderes, wenn Sie wirklich verstehen, daß Grün von nirgend­ woher kommt - es gibt in Wirklichkeit kein "grünes Licht". Was wir im Regenbogen als Grün sehen, entsteht einfach aufgrund der Überschneidung bzw. Vermischung der Farben. Manchmal teilt sich der Regenbogen in einer Weise, daß Sie sehen, daß kein Grün drin ist. Grün wird nur als reflektiertes Licht gese­ hen, in Blättern und so weiter. Obwohl es doch die reelle Farbe unserer Erde ist und Grün für uns so viel darstellt, gibt es den­ noch kein grünes Licht. Das ist sehr merkwürdig, denn die Kraft von Khidr ist in der Manifestation - er ist kein unabhängiges Wesen. Wie dem auch sei, ich finde, daß das, was ich Ihnen über Khidr sagen sollte, übersetzt und angepaßt werden müßte. Ich kann nicht direkt darüber sprechen. Ich habe dieses Gefühl, wenn Sie über Khidr sprechen - ich sage mir: Aber Khidr gehört nicht zu dieser Welt, weshalb also sprechen wir darüber? Da er doch für diese Welt nur ein Mythos oder ein Bild ist. Wenn Sie also über Khidr sprechen, müssen Sie über diese ganz bestimmte Welt sprechen, wo Khidr viel reeller ist als wir - melekut. Aber hier in dieser Welt sind wir reell und Khidr bloß ein Mythos. Was ist gemeint mit der nächsten Welt? Melekut ist eigentlich die übernächste Welt. Khidr ist jenseits der nächsten Welt. Können Sie etwas über die zwei nächsten Welten sagen? Sehen Sie, eine der Schwierigkeiten im Sufismus ist die wuchernde Ausbreitung von Fachausdrücken. Eine jede Schule hat eine andere Art, über die gleiche Sache zu sprechen. Ich kann mich nicht zurückerinnern und sagen: "So spricht Ibn 'Arabi darüber" - und doch folgen Sie seiner Linie. All dies sage ich, um nicht Verwirrung zu stiften, wenn ich über fachliche Dinge rede. Also denke ich, wenn Sie wollen, daß ich darüber spreche, werde ich besser nicht die arabischen Begriffe gebrau­ 99

chen für den Fall, daß es sich nicht um die gleichen Worte han­ deln sollte. Mit Ausdrücken wie melekut und jebberut sind Sie natürlich vertraut, und nasut. Nasut meint eigentlich die menschliche Welt - diese Welt unserer menschlichen Angelegenheiten. Es ist nicht eigentlich eine Welt - es ist eine Art des Wahrnehmens - es ist unsere menschliche Umgebung, in der wir im Zustand der Trennung voneinander leben, ein jeder in sein eigenes Leben eingeschlos­ sen, ohne zu merken, wie wir miteinander verbunden sind. Die andere Möglichkeit, darüber zu sprechen - und das ist die Art, wie ich hier darüber sprechen möchte -, bezieht sich auf die Form dieser Existenz. Darüber kann ich mit Ihnen sprechen. (Jemand fragt wieder nach Khidr.) Nun, es wäre besser Sie zu fragen, was Khidr für Sie bedeutet. Es gibt viele beliebte Geschichten über Khidr und Moses und so weiter, aber das ist bloß Mythologie. Ihre Frage ist, wie Sie hinter die Vorstellung von Khidr gelangen können, zur objekti­ ven Vision beispielsweise, die Khidr zugeschrieben wird. Dies steht natürlich im Koran und ist nicht nur Literatur. "Und sie fanden einen unserer Diener, den wir mit unserer Gnade und Weisheit ausgerüstet hatten. Da sagte Moses zu ihm: Soll ich dir wohl folgen, damit du mich, zu meiner Leitung, einen Teil der Weisheit lehrst, die du gelernt hast?" "Khidr (der andere) erwiderte: Du wirst bei mir nicht gedul­ dig ausharren können; denn wie solltest du bei Dingen, die du nicht begreifen kannst, geduldig ausharren?" "Moses antwortete: Du wirst mich, wenn Allah will, gedul­ dig finden, und ich werde dir in keiner Hinsicht ungehorsam sein." "Darauf sagte jener: Nun, wenn du mir denn folgen willst, so darfst du mich über nichts fragen, bis ich dir von selbst die Deutung geben werde." "Und so gingen sie denn beide, bis sie an ein Schiff kamen, in welches jener ein Loch schlug. Da sagte Moses: Hast du etwa deshalb ein Loch hineingebohrt, damit seine Mannschaft ertrinkt? Was du da getan hast, das erscheint mir furchtbar!" 100

"Jener aber erwiderte: Habe ich dir nicht im voraus gesagt, du würdest nicht in Geduld bei mir ausharren können?" "Moses antwortete: Mach mir keine Vorwürfe, daß ich das vergessen habe, und mach' mir die Befolgung des Gehorsams nicht so schwer." "Als sie weitergingen, da trafen sie einen Jüngling, den jener erschlug. Da sagte Moses: Du hast einen unschuldigen Men­ schen erschlagen, der keinen Mord begangen hat. Wahrlich, du hast eine ungerechte Handlung ausgeübt." "Jener erwiderte: Habe ich dir nicht im voraus gesagt, du würdest nicht in Geduld bei mir ausharren können?" "Darauf antwortete Moses: Wenn ich dich ferner noch über etwas befragen sollte, dann dulde mich nicht mehr in deiner Gesellschaft. Nimm dies jetzt als letzte Entschuldigung an." "Sie gingen nun weiter, bis sie zu den Bewohnern einer gewis­ sen Stadt kamen, von welchen sie Speise erbaten. Diese wei­ gerten sich aber, sie zu speisen. Sie fanden dort eine Mauer, wel­ cher der Einsturz drohte. Jener aber richtete sie auf. Da sagte Moses zu ihm: Wenn du nur wolltest, so würdest du gewiß dafür eine Belohnung finden." "Jener erwiderte: Hier scheiden wir voneinander. Doch will ich dir zuvor die Deutung der Dinge, welche du nicht mit Geduld erwarten konntest, mitteilen: Jenes Schiff gehörte armen Leuten, die auf dem Meer ihr Leben erarbeiteten, und ich beschädigte es deshalb, weil ein see­ räuberischer Fürst hinter ihnen her war, der jedes Schiff gewalt­ tätig raubte. Was jenen Jüngling betrifft, so sind seine Eltern gläubige Menschen, und wir fürchteten, er möchte sie mit seinen Irrtümern und mit seinem Unglauben anstecken, darum wünschten wir, daß ihnen der Herr zum Tausch einen besseren, frömme­ ren und liebevolleren Sohn geben möchte. Jene Mauer gehört zwei Jünglingen in der Stadt, die Waisen sind. Unter ihr liegt ein Schatz für sie, und da ihr Vater ein recht­ schaffener Mann war, ist es der Wille deines Herrn, daß sie selbst, erst wenn sie volljährig geworden sind, durch die Gnade deines Herrn den Schatz haben sollen. Ich habe also nicht nach Willkür gehandelt. Siehe, dies ist die Erklärung dessen, was du 101

nicht in Geduld zu ertragen vermochtest. (Koran; Sure XVIII, 65-82.) Sie verstehen, daß diese Geschichte hier im Koran klar als Lehre erzählt wird. Sie ist ein Vehikel, um etwas auszudrücken, und soll nicht als eine historische Geschichte verstanden wer­ den. Deshalb sage ich, daß in dieser Welt Khidr nur ein Mythos oder eine Fabel ist. Aber das heißt nicht, daß es dabei keine Rea­ lität gibt. Da gibt es eine Quelle, eine Möglichkeit der Über­ mittlung, ein Weg, durch den Offenbarung fließt, die nicht durch sichtbare Propheten geht. Schauen Sie, die Schwierigkeit liegt darin, daß ich nur über Dinge sprechen kann, die geschrieben sind. Natürlich haben sehr viele Sufi-Schriftsteller diese Geschichte aufgegriffen und sie in all ihren verschiedenen Wei­ sen dargelegt, und dafür waren sie auch bestimmt. Aber gleich­ zeitig würde sie nicht im Koran stehen, wenn es nur darum ginge, denn der Koran ist ein heiliges Buch, und es steckt etwas mehr dahinter. Demzufolge können wir sicher sein, daß eine Quelle der Weisheit jenseits dieser Welt existiert, die von der gleichen Natur ist wie die prophetischen Offenbarungen; aber sie ist nicht manifestiert und nur indirekt enthüllt. All dies ist es, was durch Khidr übermittelt wird. Wenn Sie es sorgfältig studieren, wer­ den Sie sehen, daß das heißt, daß es eine versteckte Bedeutung gibt. Die große Frage im Islam ist, ob es eine geheime Lehre gibt; ob es eine esoterische Doktrin im Islam gibt oder nicht. Alle Sufis und Mystiker sagen, daß es sie gibt und daß sie durch Ali übermittelt wurde, wogegen die Exoterik oder shari'ah durch Abu Bakr weitergegeben wurde. Sie sagen, daß wir zwei Linien haben, eine von Abu Bakr kommend und eine von Ali; und die meisten Sufis verfolgen ihren "Weg" zurück zu Ali, wenn auch in einigen Fällen zu Abu Bakr. Aber der springende Punkt ist, daß in der orthodoxen Tradition, die ausschließlich auf dem Koran basiert, die Art von Textstellen enthalten sind, die es erlauben, auch im strenggläubigen Sinn anzunehmen, daß es ebenfalls eine geheime Lehre gibt, die nur unter bestimmten Umständen offenbart wird. Das eigentlich ist die Bedeutung von Khidr. Wenn keine derartigen Passagen im Koran wären, wür­ den Leute, die behaupten, daß es keine Geheimlehre gibt, 102

imstande sein, den Koran als Beweis dafür heranzuziehen. Während jene, die sagen, daß es eine Geheimlehre gebe, sich auf etwas beziehen können. Ich denke, daß es eine Geheimlehre gibt und gab. Aber wenn ich weiterginge, müßte ich über die Lehre selber sprechen, und ich bin nicht deswegen hier. Viel­ leicht können wir zurückkehren zu der Lehre über die Welten. Alle Religionen müssen glauben, daß es andere Welten als diese gibt. In der christlichen Tradition glaubt man an diese gegenwärtige Welt und an ein gewisses Zwischenstadium, in welches die Seele nach dem Tod eintritt, falls sie nicht rein genug ist, in die Welt des Göttlichen Lichtes, in die glückselige Vision direkt einzutreten. Alle diese Welten haben verschiedene Abstu­ fungen, wie es ausdrücklich bei Dionysius [Pseudo-Dionysius Areopagita] gelehrt wird, und dies bildet einen Bestandteil der christlichen orthodoxen Tradition. Es wird gesagt, daß es nicht nur andere Welten gibt, sondern verschiedene Zustände in ande­ ren Welten, hauptsächlich wegen des ganz speziellen Hinwei­ ses von Jesus, der einem Passus im Koran ähnlich ist (die Höhle): "In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen." Mit anderen Worten: es gibt verschiedene Zustände, in welche es möglich ist einzutreten, je nach der Stufe der Reinheit. Dasselbe wird natürlich im Islam gelehrt; das gleiche im Hinduismus und im Buddhismus. Diese Lehre ist besonders klar und gut in der hinduistischen Tradition, wo unterschieden wird zwischen den geformten und formlosen Welten: rupa loka und arupa loka. Das ist sehr wichtig. Wenn Sie wirklich eine Idee davon bekommen, können viele Dinge über die höheren Welten erfaßt werden. Gemäß der Sufi-Tradition gibt es zwei Welten der For­ men und zwei Welten ohne Formen. So wird es mehr oder weni­ ger auch im Buddhismus und im Hinduismus gesagt, und etwas weniger klar im Christentum. Es wäre ziemlich einfach, Stellen aus dem Neuen Testament anzuführen, welche mit dieser Idee der vier Welten übereinstimmen. Die erste Welt ist die "Welt der Körper". Im Arabischen ist es alemi edjsam (edjsam kommt von der Wurzel jesm, jesm bedeutet alles Körperliche). Dies ist die Welt unserer sinnlichen Wahrnehmungen, unseres Lebens hier auf Erden. Es ist der Zustand der Inkarnation, des Lebens in dieser physischen Welt. 103

Wir betraten sie bei der Empfängnis, und wir verlassen sie beim Tod. Das ist die erste Welt. Die zweite Welt wird alemi erwah genannt. Erwah ist die Mehrzahl von ruh, was Geist bedeutet. Es ist die Welt der Gei­ ster. Diese Welt hat auch Formen, aber die Formen sind anders - sie haben nicht die gleichen Zwänge und Begrenzungen wie die körperlichen Formen, die wir kennen. In dieser Welt gibt es alle Arten spiritueller Existenz - sie haben auch Form, aber die Form kann sich ändern. Es gibt viele Abstufungen in dieser Welt; die erste ist, wo sie mit der sichtbaren Welt, der Welt der greif­ baren Körper, in Kontakt ist. Der primitivste Existenzzustand in dieser Welt ist der Zustand des Träumens, wo man ohne Ver­ bindung mit der Welt der Körper ist, und trotzdem lebt, als ob man in der Körperwelt wäre. Man nimmt immer noch Formen wahr, und die Formen sind alle die gleichen wie die der kör­ perlichen Welt. Das ist die erste Stufe. Es gibt spirituelle For­ men, die freier sind und sich auf einer höheren Ebene befinden. Dies ist eines der Dinge im Koran, woran Sie zu glauben auf­ gefordert werden, wenn Sie ein echter Muslim sind - an Engel und Geister und natürlich Dschinn, die dem Koran nach Wesen sind, die in dieser Welt leben. Es gibt eine gewisse Tendenz, dies in etwas Symbolisches zu verwandeln; ohne Zweifel wurde es von den frühen bis zu den heutigen Muslimen nicht nur wört­ lich genommen, sondern es spielte eine reale Rolle. Es wurde erwartet, daß man an die Engel glaubte - ich weiß nicht, ob es von einem erwartet wurde, an die Dschinn zu glauben. Sicher­ lich wird erwartet, daß man an Iblis glaubt, der ein Dschinn ist. Sie begegnen dem auch in der christlichen Tradition, in der Himmlischen Hierarchie und sogar in der Vorrede zur Messe, in welcher von 'Engeln und Erzengeln und all den Himmlischen Scharen' gesprochen wird. Das wird auf die eine oder andere Weise in der heutigen Zeit akzeptiert, wenigstens verbal, wenn nicht geistig. Wie es im Buddhismus gehandhabt wird, ist beson­ ders interessant. In den allerältesten Schriften, die wahrschein­ lich der Sprache Buddhas am nächsten kommen, den Pali Pitikas, wird Buddha bei verschiedenen Gelegenheiten die Frage gestellt: "Gibt es denn Götter, gibt es spirituelle Wesen?" Und er antwortet (frei ausgedrückt), "Selbstverständlich gibt es sie, 104

das wußte ich immer schon, aber das ist nicht besonders wich­ tig. Wenn Ihre Wahrnehmungsfähigkeit fein genug ist, können Sie sie sehen und wahrnehmen, aber was macht das schon aus für Sie?" Vor kurzem war ein buddhistischer Mönch bei uns, der über seine Erfahrung im Wald erzählte, darüber, daß er Geistwesen gesehen hätte, und wie ängstlich die Dorfbewohner diesen gegenüber waren. Ich glaube, wir machen einen Fehler in unserem Wunsch, vom Aberglauben wegzukommen - was zwar ein legitimer und richtiger Wunsch ist, denn indem wir den Aberglauben verwerfen, kehren wir auch der Realität dahin­ ter den Rücken und der Art Beziehung, die mit den Geistwesen, die den Gegenstand des Aberglaubens ausmachen, möglich ist. Als ich letzthin darüber sprach, sagte ich, daß es in diesem alemi edjsam gewaltige Seinsunterschiede gibt. Ein Stein, eine Pflanze, ein Tier und ein Mensch sind alle ganz und gar verschieden, und der Mensch ist keineswegs das Höchste, was auf diesem Plane­ ten in der Form der inkarnierten Existenz erreicht werden wird. Wenn wir erkennen können, wie groß die Unterschiede sind, können wir uns vielleicht ein Bild davon machen, daß die Unter­ schiede in der spirituellen Welt, dem alemi erwah, ebenso groß, wenn nicht vielleicht noch größer sind. Das ist die Welt, die man in erster Linie nach dem Tod des physischen Körpers betritt. Wir betreten diese Welt auch in Träumen, aber auf einer sehr primitiven Ebene; außer es han­ delt sich um ganz besondere Träume, die eine Botschaft oder eine Lehre beinhalten, welche von einer höheren Ebene, wenn­ gleich auch aus dieser zweiten Welt kommen. Es gibt so viel, was über alemi erwah gelernt und verstanden werden kann und worüber gesprochen werden muß. Zu sehr mißachteten wir und mißachten noch die Möglichkeit unserer Zusammenarbeit mit dieser Welt, nicht nur, daß uns Hilfe von dort erreicht, sondern auch, daß wir ihnen in ihrem Werk helfen; denn es gibt hohe geistige Wesen, die besonders in dieser Zeit in der Geschichte schwere, fast unmögliche Aufgaben haben, der Menschheit durch dieses gegenwärtige Übergangsstadium hindurchzuhelfen, was ohne diese Hilfe nicht möglich wäre. Darüber (und offen­ sichtlich könnte man lange Zeit weiterfahren, über diese Welt zu sprechen), finden Sie viele Hinweise in der muslimischen 105

Literatur. Menschen können direkte Erfahrungen mit dieser Welt haben, ich auf jeden Fall habe sie, daran zweifle ich nicht. Aber es ist immer noch eine Welt der Formen. Sie hat immer noch ihre Begrenzungen. Sie ist nicht begrenzt durch Raum und Zeit, so wie die körperliche Welt begrenzt ist, sie hat aber ihre eigenen Einschränkungen. Sie hat eine zusätzliche Dimension zu unserer Welt, und es geschehen da sehr seltsame und wich­ tige Dinge, über die ich sprechen könnte, und die sehr interes­ sant sind. Zum Beispiel können wir einander begegnen in die­ ser Welt, und ich könnte darüber sprechen, was bei dieser Art Begegnung geschehen kann. Aber das genügt. Nun kommen wir auf die Welten ohne Formen zu sprechen, die man nichtmateriell oder im wahren Sinn "spirituell" bezeich­ nen kann. Sie können über eine Geistwelt oder eine Welt der Energien sprechen, die keine Form braucht. Diese Welt wird in der Terminologie, die ich jetzt benutze, alemi imkan genannt. Das kommt von derselben Wurzel wie mumkin, das Mögliche. Es ist die Welt der Möglichkeiten, die Welt, aus welcher die kreative Energie in die Welten der Form eintritt. Es ist dasselbe beispielsweise wie jebberut. In dieser Welt wirkt der Wille Gottes direkt. Es heißt, daß in den Welten der Form der Wille Gottes durch Gesetze und durch geistige Energien, durch Engel und durch Wesen und durch uns wirkt, aber nicht direkt. In der dritten Welt, der Welt des Potentials und der Kraft -jebberut ist Gottes Wille gegenwärtig. Hierhin gehört Khidr wirklich. Es ist nicht mal möglich, über das Absolut Seiende zu spre­ chen, weshalb das Wort Hu, auf diese Weise gebraucht, nicht für ein Wesen steht. Es steht für jene Quelle, von der das Sein kommt. Es ist dasselbe wie das, was im Buddhismus Nirvana genannt wird. Mit Nirvana ist der Zustand gemeint, der jenseits des Seins ist. Darum erscheint es von der Seite des Seins aus gesehen als leeres Nichts - gerade so, wie aus unserer Sicht Stille einfach als Fehlen von Geräusch erscheint, aber Stille an und für sich ist weit mehr als Geräusch. Stille erscheint nur leer, wenn Sie nach Geräuschen suchen, und wenn Sie sie nicht fin­ den, dann sagen Sie, daß es sie hier nicht gibt. Aber wenn Sie in die Stille hineingehen, wird es Ihnen bewußt, daß jedes Geräusch eine Belästigung ist. Sie realisieren, wie viel größer 106

Stille ist als Töne es sind. Auf die gleiche Weise, wie Sie wahr­ nehmen, daß die Leere, welche keine Eigenschaften hat, weit größer ist als jegliche Eigenschaft. Diese Dinge kann man irgend­ wie akzeptieren, und in diesem Punkt stimmen alle Religionen, alle Lehren, überein. Dies ist die transzendentale Quelle aller Religionen. In der Welt der Formen unterscheiden sich die Religionen. In der Welt der Körper können sie sich widersprechen, eine Lehre kann eine andere Lehre ausschließen, und alles kann nur relativ gesehen werden. In der zweiten Welt, der Welt der Gei­ ster, haben die Religionen dieselbe Form, weil die Formen nicht mehr diese Starrheit haben. Das heißt zum Beispiel, daß sich für zwei Heilige, die sich in der Welt der Geister treffen, die Frage "Bist du Christ, bist du Muslim, bist du Jude" usw. über­ haupt nicht stellt. Sie würden einander erkennen und sich nicht um Formen kümmern. In der dritten Welt sind sicherlich alle Religionen eins, aber in einem anderen Sinn. Sie alle sind Mani­ festationen von Gottes Kraft. Aber in der vierten Welt sind sie wieder in einem anderen Sinn eins, indem sie sich alle in der gleichen Quelle verlieren. Ihre Unterschiede stammen nicht ein­ mal mehr aus der gleichen Manifestation Gottes, sondern sie verschwinden überhaupt. Ich bin mir bewußt, daß ich deshalb ständig daran denke, daß ich wieder darüber spreche, weil ich in letzter Zeit so oft in Sherborne darüber gesprochen habe, als wir über die vier Wel­ ten meditierten. Aber ich hoffe, daß das, was ich gesagt habe, nicht im Widerspruch steht mit dem, was Sie bei Ibn 'Arabi lesen. Es ist so universal und so uralt, daß es sehr schwierig ist zu sagen, daß sich die Christen etwas von den Griechen holten, oder die Griechen von den Zoroastriern, oder die Juden von den Magi. Wie auch immer, diese Idee wird allgemein akzeptiert, und für mich ist sie ganz klar. Unsere Schwierigkeit liegt darin, wie wir hinreichend losgelöst sein können. Es ist wirklich eine große Losgelöstheit, die es uns ermöglicht wahrzunehmen, daß es Dinge jenseits der Form gibt, Realitäten jenseits der Form. Die dritte Welt kann auch als Welt des Willens bezeichnet werden. Was ist ein Bedürfnis ? 107

Es gibt echte Bedürfnisse, und es gibt eingebildete Bedürfnisse. Echte Bedürfnisse sind etwas sehr Mächtiges. Es gibt das Bedürf­ nis des Kindes, das nicht für sich selbst sorgen kann. Diese Hilflosigkeit des Kindes ist eines der mächtigsten Dinge der Welt. Welch großen Anteil menschlichen Bestrebens geht doch ins Stillen der Bedürfnisse von Kindern! Solange sie nicht für sich selbst sorgen können, läßt ihre Bedürftigkeit Leute für sie arbeiten und ihnen gehorchen in einer ganz anderen Weise als dem Autoritätsgehorsam. Für jeden, der nicht einfach gefühllos ist, ist es unmöglich, ein Kind weinen zu hören, ohne daß er den Drang verspürt, etwas dagegen zu tun - man fühlt sich betrof­ fen und genötigt, ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken. Das sage ich, um zu zeigen, daß das Bedürfnis etwas sehr Mächti­ ges ist in der Welt, und unser eigenes Bedürfnis wird uns gege­ ben, weil wir ohne Bedürfnis überhaupt nichts tun würden. So haben wir also unser eigenes Bedürfnis. Die Frage ist nun: Inwieweit brauchen wir anderer Leute Unterstützung? Die Antwort heißt, daß wir sie brauchen, inso­ weit wir Kinder sind. Es nützt nichts daran zu denken, daß wir so tun könnten, als wären wir unabhängig, solange wir jenen Grad von Unabhängigkeit noch nicht erreicht haben. Der wirk­ lich freie Mensch braucht die Unterstützung von anderen eben­ sowenig wie das Kind, wenn es erwachsen geworden ist. Er ist fähig, sein Brot zu verdienen und Nahrung für sich selbst her­ zustellen. Wenn wir diese Bedürfnisse weiter bestehen lassen und nicht erwachsen werden, heißt das, daß wir unsere Mög­ lichkeiten verlieren. Sie müssen sich dessen bewußt sein, daß das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuneigung und wohl­ wollender Haltung Ihnen gegenüber eine kindische Angelegen­ heit ist. Es handelt sich um ein psychisches Kindischsein, das nur bis zu einem gewissen Grad notwendig ist. Ein menschli­ ches Kind braucht das, und für uns ist es eine Verpflichtung. Wir müssen es ihm geben. Es genügt nicht, seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen, wir müssen ihm auch ein Gefühl von Sicherheit geben in dieser fremdartigen Welt, in die es hinein­ gestellt wurde - denn die Kinder sind von höheren Welten in diese Welt der Getrenntheit hineingekommen, und sie brauchen etwas als Ersatz dafür. Doch wenn wir auf unserem Weg zurück 108

zu der anderen Welt sind, müssen wir lernen, wie wir davon unabhängig werden. Sie haben die Frage gestellt, ob diese Abhängigkeit von ande­ ren, von Gefühlen, Standpunkten und Verhalten anderer Leute uns als ein Mittel zur Befreiung gegeben wurde. Das ist eine sehr gute Frage. Sehen Sie, in einem tieferen Sinn brauchen wir ein­ ander nicht nur relativ, sondern absolut. Dieses Bedürfnis setzt sich über alles hinweg. Das Problem aber ist, daß es ein falsches Bedürfnis gibt, das uns an dieser Welt festhält: das ist ein Bedürf­ nis nach etwas außerhalb von uns. Sehen Sie, wenn wir beide in einer anderen Welt wären, könnten wir uns von innen her begegnen. Das gehört zur zweiten Welt. Wir brauchen einander ganz real und objektiv, und diese Getrenntheit, die das Resultat von unserem Leben im Körper ist, ist eine Beschränkung, die wir gerne überwinden möchten. Aber es gibt ein eigenartig falsches Bedürfnis, das haben Sie, denke ich, sehr gut erkannt, welches sich bei der Suche nach dem Tieferen in den Weg stellt. Wenn es mir etwas ausmacht, was Leute über mich denken und sagen, behandle ich die Sache auf einer oberflächlichen Ebene. Es berührt weder den wirkli­ chen Teil meiner selbst noch den wirklichen Teil der anderen Person. Demzufolge sind alle Dinge dieser Art und alle Arten von sentimentaler Haltung, die damit in enger Beziehung ste­ hen, ein Hindernis, das andere zu erreichen: das wahre Bedürf­ nis, das wir objektiv füreinander haben, das wahre gegenseitige Akzeptieren und die wahre Liebe füreinander. Das andere Bedürfnis, über das Sie gesprochen haben, schließt, wie Sie selbst sehen können, immer etwas Egoistisches mit ein, es bein­ haltet eine Forderung. Mit all dem stoßen wir wirklich andere Leute weg. Wenn wir uns von all dem befreien können und ver­ stehen, daß es möglich ist für uns, eins zu sein, wird es sehr albern, daß es uns darauf ankommt, was wir einander sagen. Es scheint, daß es auf der Suche nach Unabhängigkeit zwin­ gend notwendig ist, sich selbst zu kennen. Dieses Verständnis für die zwei unterschiedlichen Bedürfnisse kann nur durch diese Gewißheit kommen.

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Ja, so ist es. Wenn Sie wirklich sehen können, woher es kommt, haben Sie sich schon halb davon befreit. Sehen Sie, gewöhnli­ cherweise stellen Leute nicht diese Art von Fragen, weil sie For­ derungen stellen. Auch wenn sie es nicht zeigen, innerlich haben sie den Anspruch, daß sie geschätzt, verstanden, akzeptiert wer­ den usw. Doch auf diese Weise lehnen sie die andere Person ab, denn in Tat und Wahrheit sagen sie zu ihr: Du hast die Art von Person zu sein, die ich will, daß Du bist - nicht du selbst, son­ dern die Art Person, die sich so verhält, wie ich will, daß sie sich verhält. Diese scheinbare Sorge und das Mitgefühl für andere Leute ist wirklich eine Zurückweisung des anderen. Wenn Sie die Menschen akzeptieren können, ob sie nun angenehm oder unangenehm sind, ob sie Ihnen schmeicheln oder Sie quälen, ob sie von Ihnen nehmen oder Ihnen geben, dann weisen Sie sie nicht zurück, dann können sie in Sie hineintreten, dann kann das echte Bedürfnis zum Vorschein kommen.

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Jenseits des Schleiers des Bewußtseins

Jeder, der ein Sufi ist oder danach strebt, ein Sufi zu sein, weiß, daß unser Bewußtsein ein Schleier ist, der die Wirklichkeit (haqq, haqiqah) vor uns verbirgt. Wir alle hoffen, daß dieser Schleier gelüftet wird, damit wir sehen können, was dahinter ist. Kann man darüber sprechen, was jenseits des Schleiers des Bewußtseins ist? Ich möchte, daß Sie sich selbst bei dieser Aussage, die Sie zweifellos oft gehört haben, die Frage stellen, ob Sie sich selbst zu diesem Punkt gebracht haben, wo dieser Schleier vor Ihnen ist und Sie spüren, daß es etwas dahin­ ter gibt. Im Reshahat Naqshbandi des Mohammed Baha'uddin Naqshband von Buchara, glaube ich, beschreibt dieser ein Erleb­ nis, das er hatte. Wenn Sie diese Geschichte nicht kennen, werde ich sie Ihnen erzählen. Sie wissen, daß er einer der großen Sufis des fünfzehnten Jahrhunderts war und allgemein als der Grün­ der des Naqshbandi-Ordens bezeichnet wurde - aber die Wahr­ heit ist, daß diese Leute, die als Gründer bezeichnet wurden, niemals Gründer waren. Sie waren einfach bedeutende Wesen von großer Erleuchtung, die ihren eigenen khalifahs [Nachfol­ ger] etwas übermitteln konnten, doch es war in der Regel der zweite khalifah, der tatsächlich etwas gründete, was in einer Art organisierter Form weiterging. Wenn man also von Baha'uddin als dem Gründer des Naqshbandi-Ordens spricht, ist das ein 111

Irrtum, so wie es auch ein Irrtum wäre, Jelaluddin Rumi als Gründer der Mevlevis zu bezeichnen, weil ich denke, irgendet­ was zu gründen oder irgendeine Organisation zu bilden wäre das letzte gewesen, was er im Sinn hatte. Husam al-Din tat es auch nicht, aber es entstand ebenfalls durch seinen zweiten khalifah. Um nun auf diese Geschichte von Baha'uddin zurückzu­ kommen: Er hatte als junger Mann außerordentliche Erfahrun­ gen, und er liebte es, auf den Friedhof zu gehen, um zu beten und zu meditieren. Eines Nachts ging er hin mit der Frage: "Vor welchem Grab soll ich diese Nacht beten?" Und dann hatte er die Eingebung, zum Grab von dem und dem (ich kann mich nicht erinnern, welcher der großen Sufis es war) von Buchara zu gehen. Er ging also hin, und dann sah er ein Licht auf einem anderen Grab und ging zu jenem. Dann kam ein Reiter vorbei, und er schloß sich ihm an und ritt mit ihm davon. Dann fand er sich wieder, in einer Vision, auf einem großen Platz, von vie­ len der großen Sufi-Meistern umgeben. Doch vor ihm war ein Schleier, und er wußte, daß hinter dem Schleier jemand war, auf einem Thron sitzend. Baha'uddin hatte, als er noch ein Knabe war, die Kopfbedeckung eines anderen großen Sufi erhal­ ten, und er sah diese nun drüben in einer Ecke. Dann sagte jemand zu ihm: Weil du diese Kopfbedeckung hast, und weil sie dir gegeben wurde, deshalb bist du hier. Dann sagten sie zu ihm: Du kannst selbst hingehen und diesen Schleier lüften, und er sah Abdulhalik Gudschduwani auf dem Thron sitzen, der ihn dann einweihte. Doch die Bedeutung davon ist natürlich, daß es sehr wenigen gegeben wird, den Schleier, der die Realität ver­ birgt, selbst zu lüften. Für die meisten Menschen liegt dieses Lüften des Schleiers jenseits ihrer eigenen Macht. Als Baha'uddin alt war, sagte er einmal: Als ich ein junger Mann war, betete ich zu Gott, er möge mir jede Art von Mühsal geben und mich durch jede Art von Prüfung gehen lassen, durch die zu gehen für Menschen möglich ist. Es wurde ihm gegeben, und nachdem er es vollbracht hatte, sah er, daß es nicht länger not­ wendig war. Er hatte diese Art von Entschlossenheit. Er war von jener Art Mensch, einer sehr seltenen Art, die nicht nur keine Schwierigkeiten vermeiden, sondern sich tatsächlich den größten Schwierigkeiten und der größten Mühsal stellen, um 112

dieses Ziel der Befreiung zu erreichen. Für solche Menschen ist das Lüften des Schleiers etwas, das zu tun ihnen als Aufgabe gegeben wird. In einer anderen Vision sah er den Propheten vor sich, und der Prophet sagte: Trag mich auf die Spitze jenes Ber­ ges, und er nahm Mohammed auf seinen Rücken und trug ihn auf die Spitze jenes Berges, was eine beachtliche Leistung ist. Und als er die Spitze des Berges erreichte, sagte der Prophet zu ihm: Ich wußte natürlich, daß du mich tragen kannst, doch ich wollte, daß du selbst erkennst, daß du es tun kannst. Nun möchte ich darüber sprechen, wie wir dieses "Jenseits des Schleiers des Bewußtseins" verstehen können. Sehr wenige können erfassen, daß es dahinter noch eine andere Art der Zusammenkunft gibt. Als der Schleier gelüftet wurde, sah Baha'uddin eine Anzahl Meister vergangener Zeiten, die alle gemeinsam gegenwärtig waren, und natürlich sah er andere Wirklichkeiten, und viele Dinge wurden ihm offenbart, über die er nicht schrieb, nicht schreiben konnte. Das kann auch bild­ lich ausgedrückt werden: diese Erhabenheit hinter dem Schleier. Doch für all diese Dinge können wir Worte gebrauchen. Wir müssen akzeptieren, daß das, was hinter dem Schleier ist, von solcher Natur ist, daß keine Worte gebraucht werden können. Als ich hier vor Ihnen saß und mich fragte: "Worüber werde ich nun sprechen?", kam die Antwort: "Du kannst darüber spre­ chen, was hinter dem Schleier des Bewußtseins ist." Ich dachte, die einzige Möglichkeit, das zu tun, wäre nichts zu sagen, weil darüber, was jenseits des Schleiers des Bewußtseins ist, nichts gesagt werden kann. Aber es können Fragen gestellt werden. Das ist die besondere Natur von Fragen, daß sie nicht den glei­ chen einschränkenden Charakter haben wie Antworten und Feststellungen. Man muß vermeiden, etwas zu sagen, wenn man eine Frage stellen kann, ohne eine Antwort zu erwarten. Wir sollten in der Lage sein, ein Mysterium zu hinterfragen, ohne seine Enthüllung zu erwarten. Und es ist besser, den Schleier des Bewußtseins anzuschauen, ohne zu erwarten, daß er gelüf­ tet wird. Deshalb wurde seit undenklichen Zeiten das Stellen von Fragen als größere Offenbarung betrachtet als das Geben von Antworten. Die richtigen Fragen zu stellen, steht wirklich in der Macht von uns allen. Deshalb stelle ich diese Frage, und 113

wir können uns alle selbst fragen: "Was ist jenseits des Schlei­ ers des Bewußtseins? Was bleibt uns verborgen durch die Natur unseres eigenen Bewußtseins?" Darüber können einige Erklärungen gegeben werden. Zwei sehr unterschiedliche Dinge können gesagt werden. Man kann über die Bewußtseinserweiterung, die Vertiefung und Ausdeh­ nung des Bewußtseins sprechen, und man kann darüber spre­ chen, über das Bewußtsein hinauszugehen. Man sollte wirklich mit dem ganzen Sein verstehen, daß das völlig verschiedene Dinge sind. Man denkt, das Bewußtsein könne sich ausdehnen, bis man das gesamte Universum umfangen kann, und dabei ist man immer noch diesseits des Schleiers. Man kann kosmisches Bewußtsein haben - eine solche Erweiterung, eine solche Ekstase, daß alles offenbart wird. Aber es ist noch immer diese Welt, die uns offenbart wird, in ihrer Großartigkeit, ihren Wun­ dern und so weiter; in ihrer Zeit, Vergangenheit und Zukunft. Selbst wenn sie dargestellt wird in unverständlichen Bildern, die vom Denken des Menschen noch nicht erkannt wurden, oder vom Denken des Menschen vergessen wurden, selbst wenn die Bilder völlig unverständlich sind und nicht auf übliche Weise erklärt werden können, sind diese Bilder dennoch Bewußtsein. Von dieser Sufi-Darstellung wenden wir uns der Darstellung der Hindus zu. Wenn die Hindus darüber sprechen, definieren sie diesen Zustand, diesen Sushupti-Zustand, als 'aus dem Bewußtsein herausgenommen werden'. Manchmal wird dieser Zustand übersetzt als 'traumloser Schlaf - ein sehr bedeu­ tungsloser Ausdruck, da es gar nicht um Traum oder Nicht­ Traum geht. Doch was geschieht bei jemandem, dessen Bewußt­ sein unterbrochen ist, der in einem Zustand echter Verzückung ist, wo es kein Bewußtsein gibt? Alles was er darüber weiß, ist, daß, wenn er in seinen gewöhnlichen Bewußtseinszustand zurückkehrt, er sich erinnert, gesehen zu haben, was er niemals sehen konnte. Er kann sich kaum an den flüchtigen Einblick erinnern, der ihm im Moment des Übergangs zwischen den zwei Welten gegeben wird. Was mit ihm geschieht, wenn er wirklich in der anderen Welt ist, daran kann er sich überhaupt nicht erin­ nern. Wann geschieht es nun, daß ein Überbrücken des Zwi­ schenraumes zwischen den beiden möglich ist, und aufweiche 114

Weise ist dieser Zwischenraum undurchdringlich? Er ist weit­ gehend wegen unserer eigenen Unwissenheit undurchdringlich. Wir wechseln den Standpunkt wieder vom hinduistischen zum buddhistischen. Für den Buddhisten (ich spreche jetzt von den Theravada-Buddhisten der Nikayas) kommt das letzte Stadium vor dem Erwachen, die Erleuchtung, wenn man vom Wunsch nach Existenz, von Unwissenheit, von jeder Art eigenwilliger Handlung befreit wird, von den drei letzten Hindernissen: dem Wunsch zu handeln, dem Wunsch zu sein und dem Glaube, daß man irgend etwas weiß oder versteht. Wenn man frei von diesen Dingen ist, dann, sagen sie, kommt die Befreiung, dann werden sie zum Boddhisattva, dem vollständig Erleuchteten. Jede Religion, jede Lehre befaßt sich mit diesem Übergang von der Gefangenschaft in dieser Welt zu der Befreiung in die andere Welt. Doch sehr oft zeigt sich, daß besonders Leute, die darüber schreiben, eine unklare Vorstellung vom Bewußtsein haben. Sie meinen, "bewußter zu sein", einen erweiterten, größeren Raum, ein allumfassenderes Bewußtsein zu haben, wäre eine Entwicklung in die richtige Richtung. Mehr zu ver­ stehen, mehr zu erfahren, mehr umfassen zu können, Visionen der Vergangenheit zu haben, in seine vergangenen Leben ein­ zutreten, die Zukunft zu sehen und die Gesetze der Welt zu ver­ stehen: all diese Dinge sollen durch Erweiterung und Transfor­ mation von Bewußtsein kommen können. Doch das alles kann einfach nur eine Vergrößerung des Gefängnisses sein. Die andere Richtung, die Richtung in das Nichts, in die Auflösung des Selbst hinein, das ist die Richtung, die über das Bewußtsein hinaus führt. Jeder hört Worte wie "Vernichtung", "Ende der Existenz", "Aufhören zu sein". Doch was ist mahapara nibbana, (ein Pali­ Ausdruck der buddhistischen Terminologie), die große letzte Befreiung, die große letzte Vernichtung? In den buddhistischen Lehrgesprächen werden dann von Schülern all die dummen Fra­ gen gestellt: Und nachher, nach dieser endgültigen letzten Befreiung - existiert Buddha, oder existiert er nicht? Ist er dort oder ist er nicht dort oder ist er sowohl dort als auch nicht dort? Und die Antwort ist: Nein, nein; es ist nichts von alledem. Er ist nicht dort, er ist nicht nicht dort, er ist nicht sowohl dort als 115

auch nicht dort. Ich versuche. Sie soweit zu bringen, die unbe­ antwortbare Frage zu stellen. In der Methode der Zen-Meister wird gerade dieses Stellen unbeantwortbarer Fragen zu einer praktischen Technik, um sich auf den Schritt des Aufgebens der Selbstillusionen vorzubereiten. Sie mögen sagen: Nun, wenn Buddha die Frage "Was ist jenseits des Bewußtseins?" nicht beantworten würde und wenn niemand für uns diese Frage beantworten wird, was nützt es, uns diese Frage zu stellen? Das ist nicht richtig. Indem man vor dieser außerordentlichen Sache innehält, kann man lernen. Wir Menschen sind so konstituiert, daß eine Seite unserer Natur jener Welt angehört, die jenseits des Bewußtseins ist, und das ist das Spezielle, wirklich Beson­ dere des Menschen. Es erfüllt uns natürlich mit Stolz, diese außerordentlichen Instrumente zu besitzen, unseren wunder­ baren Körper mit einer so großen Anpassungsfähigkeit, die die­ jenige jedes anderen Tieres übertrifft, nicht in jedem Fall die individuellen Kräfte der Tiere, die größer sein können als unsere, sondern unsere Fähigkeit der Anpassung. Nicht die außeror­ dentliche Bandbreite von Gefühlserfahrungen, die der Mensch haben kann und die vielleicht die Tiere, alle wilden Tiere und Vögel ebenso haben. Aber der Mensch allein besitzt das Ganze, obwohl er natürlich sein Geburtsrecht verspielt, indem er sich ein Leben mit eigennützigen, unbedeutenden Emotionen erlaubt, aber er hat doch die Möglichkeit eines wirklichen emo­ tionalen Lebens. Er hat dieses Instrument, diesen Gedanken sei­ ner Macht, sich selbst zu projizieren, nicht nur in die Vergan­ genheit und in die Zukunft, sondern sogar über Raum und Zeit hinaus. Und doch reden wir nur, wenn wir all das sagen, und wir haben alles gesagt, was wir über die erkennbare Natur des Menschen sagen können. All das kann in sein Bewußtsein ein­ gehen. Wir haben noch nicht begonnen, in das Mysterium des Menschen einzudringen, wir haben noch nicht einmal begon­ nen einzudringen. Halladsch sagte: "Ana'l haqq" ["Ich bin die Wirklichkeit, die Wahrheit"], und wir sagen: Was ist das? Gotteslästerung oder Verzückung, Ekstase oder was sonst? Die wirkliche Wahrheit ist, daß die Dinge so anders sind, wenn der Schleier zerrissen ist, daß man zu sagen wagt, der Mensch werde unendlich und 116

Gott werde klein. Hier sitzen wir vor diesem Schleier; meistens kehren ihm die Leute den Rücken zu, schauen umher, schauen von ihm weg, schauen weg in Richtung der begrenzteren, ein­ geschränkteren Welt, der Welt dieser materiellen Transforma­ tionen. Sie schauen auf die äußeren Manifestationen der Men­ schen, und das alles bedeutet, der Wirklichkeit den Rücken zuzukehren. Natürlich müssen wir das tun; es ist unsere Ver­ pflichtung, es wird von uns verlangt, daß wir das tun. Aber wenn man es tut, kann man spüren, daß man vorübergehend, für eine Weile, nach dieser äußeren Welt schaut, weil man dazu ver­ pflichtet ist, wissend, daß unsere Wirklichkeit in der anderen Richtung liegt. Können wir wirklich spüren, daß diese Welt nur deshalb existiert, weil wir verpflichtet sind, etwas für sie zu tun, daß sie nicht um ihrer selbst willen existiert und daß wir auch aulhören, irgend etwas zu bedeuten, wenn wir uns mit ihr iden­ tifizieren? Können wir diese Welt wirklich als eine Welt sehen, in der der Mensch nur eine Aufgabe zu erfüllen hat, kein Ort, wo ihn wahrhaftig nichts berühren kann? Daß er nur dort ist, weil er dort etwas zu tun hat, nicht, weil er dorthin gehört? Wenn wir uns in die andere Richtung wenden und uns fragen: Wenn der Schleier für mich gelüftet wird, was wird mit mir geschehen? Werde ich verzehrt? Werde ich verschwinden? Viel­ leicht kommt der Augenblick, wo man dem nahekommt und sogar ein gewisses echtes Entsetzen über einen kommt. Was würde es heißen, da hindurchzugehen? Meistens kennen die Menschen dieses Entsetzen nicht, weil sie dem Abgrund nicht nahe genug kommen, um ihn zu sehen. Wir sprechen darüber, daß wir uns vor einem Schleier befin­ den. Ich möchte auf das, was ich aus der Baha'uddin-Geschichte zitierte, zurückkommen, darauf, daß hinter dem Schleier jemand war. Es gab keine Leere, kein Nichts, nicht Bilder, son­ dern tatsächlich Menschen. Daran müssen wir festhalten, wenn wir können. Obwohl wir uns bewußt sind, daß wir, wenn wir uns der Tiefe zuwenden, vor etwas stehen, das wir mit unserem gewöhnlichen Bewußtsein nicht ergründen können, heißt das nicht, daß das, was sich auf der anderen Seite befindet, Leere ist, nur weil unser Bewußtsein es nicht erfassen kann. Im Masnawi von Jelaluddin Rumi steht etwas sehr Seltsames. Er 117

sagt: "Du möchtest das Werk finden; suche nach dem Arbeiter. Der Arbeiter ist in der Werkstatt. Die Werkstatt ist die Werk­ statt des Nicht-Seienden. Die Werkstatt befindet sich am Ort der Nicht-Existenz." Dann geht es so weiter, dieses Bild aus­ schmückend. Er betont aber, daß dies der Ort des Tuns, der Ort der Arbeit, der Handlung ist, und gleichzeitig ist es Nicht-Exi­ stenz. Folgendes kann man sich fragen: "Spüre ich, wenn ich davor stehe, daß ich mich nicht vor einer Leere befinde, son­ dern vor etwas, das anders ist und für mein gewöhnliches Bewußtsein vielleicht leer scheinen mag?" Wie es mit dem Bild in Platos "Staat" richtig gezeigt wird, daß man nicht sieht, weil das Licht zu hell ist. Aber das heißt nicht, daß es im Licht nichts als Licht gibt. Die freie Erde ist da für diejenigen, die ins Licht zurückkehren können. Das Licht ermöglicht es ihnen zu sehen, was sie tun müssen und was wirklich getan werden muß. Sicher ist jenes Bild von Plato voll von Bedeutung. Es kann auf eine sehr einfache Art ausgelegt werden, aber es ist mehr dahinter, wenn man es anders betrachtet. Ich würde sagen, wenn man darüber kontempliert, kann man zu dem Schluß kommen, es sei nicht möglich, daß unser Leben an dieses Bewußtsein gebun­ den sein sollte, mit welchem wir wahrnehmen, daß es eine andere Seite unserer Natur geben muß und daß wir diese Natur mit vielen anderen Dingen teilen müssen. Es gibt, mit anderen Worten, eine andere Welt, und wir werden gehindert, mit die­ ser Welt in Verbindung zu stehen, weil wir von der falschen Stelle in uns ausgehen, um Kontakt aufzunehmen, das heißt mit unserem Verstand und unseren Gefühlen, die alle durch unser Bewußtsein eingeschränkt sind. Wenn wir uns sagen: Es muß im Menschen etwas vorhanden sein, weil uns das ja offenbart werden kann und den Menschen auch offenbart wurde, etwas, was Menschen erfahren haben; es muß etwas geben, das es dem Menschen ermöglicht zu kommunizieren, dann können wir uns eine andere Art Frage stellen. Wenn es eine andere Welt gibt, eine Welt des Handelns, eines jedoch unverständlichen Han­ delns, so etwas wie das Bild einer Aufgabe, die erfüllt wird, die man auf dieser Erde nicht sieht - geschieht dort etwa nichts, nur weil wir uns dessen nicht bewußt sein können? Oder gibt es irgendeine Verbindung, irgendeine Handlung zwischen diesen 118

Welten? Ist das, was jenseits des Bewußtseins ist, abgeschnit­ ten oder sind wir davon abgeschnitten? Oder geschieht etwas zwischen den zwei Welten, etwas, das da ist und ständig auf uns einwirkt und bedeutungsvoll für uns ist, etwas, das nicht des­ halb geschieht, weil wir diese Frage stellen? Zum Beispiel begin­ nen wir vielleicht, eine vorsichtigere Haltung unserem Bewußt­ sein gegenüber zu haben und dem, was in gewöhnlichen Bewußtseinszuständen geschieht, und sie als etwas zu betrach­ ten, das sich mit beschränkteren Angelegenheiten beschäftigt. Andererseits können wir uns fragen: "Gibt es eine andere Mög­ lichkeit, diese mit uns, mit einer eigenen Erfahrung, in Verbin­ dung zu bringen?" Es ist wahrscheinlich, daß alle hier irgend eine Erfahrung gemacht haben, die nicht mit den Begriffen ihres gewöhnlichen Verständnisses gedeutet werden konnte. Sie haben sich viel­ leicht an sie erinnert und sie wie einen Schatz gehütet, oder sie haben sie weggeschoben und vergessen, oder sie haben etwas wenig Hilfreiches gemacht, sie haben nämlich angefangen, sie auszuschmücken, auf sie zu bauen und sie als etwas Eigenes zu behandeln anstatt als etwas, was ihnen einfach in einem gün­ stigen Moment geschah, in dem es möglich war, daß es gesche­ hen konnte. Aber wenn wir, wir alle, irgendeinen Hinweis bekommen haben, daß es etwas anderes als dieses unser ani­ malisches Leben gibt, dann können wir vielleicht darüber etwas erfahren durch Tun. Es könnte sein, daß wir nichts anderes zu tun haben als die Erwartung aufzugeben, wir könnten darüber etwas lernen durch unseren gewöhnlichen Bewußtseinszustand, durch Denken, durch Studieren, durch Reden usw. Vielleicht kann man durch richtiges Handeln etwas darüber erfahren. Vielleicht kann etwas darüber erfahren werden durch das Geheimnis des Aufgebens unseres Eigenwillens, durch Aufgeben der eigenen Illusion des Seins. Vielleicht besteht für uns die Möglichkeit festzustellen, daß gewisse Dinge von den Menschen in vergangenen Zeiten verstanden wurden und sich als Weg erwiesen haben, durch den der Mensch die Kanäle selbst öffnen kann, damit ein Austausch möglich wird. Vielleicht ist es richtig, was ich sage: daß das, was jenseits des Bewußtseins ist (und das heißt wirklich jenseits des 119

Bewußtseins und nicht einfach mehr Bewußtsein), nicht mit Begriffen des Bewußtseins ausgedrückt werden kann. Sonst würde das Wort "jenseits" seine Bedeutung verlieren. Gleich­ zeitig mögen wir glauben, daß wir dazu gehören, daß es uns nicht fremd ist, daß es nicht das Privileg von einigen besonde­ ren Heiligen ist, die zufällig berufen oder transformiert wurden, sondern daß es in der eigentlichen Natur des Menschen liegt, daß er so ein Wesen ist, zu dessen Natur dies gehört. Das heißt, daß er eine Brücke sein sollte, eine Verbindung zwischen den zwei Welten. Wenn das so ist, sollten wir uns darauf einstellen, etwas Vertrauen darauf zu haben, und ich glaube, das ist der wirkliche Grund, warum ich darüber zu Ihnen spreche. Es ist notwendig, von der Idee, daß es eine andere Welt oder eine Welt jenseits des Bewußtseins gibt, zu der Idee zu gelangen, daß im Menschen die Möglichkeit der Transformation vorhanden ist, die ihn über diesen Graben tragen wird; daß es eine Einwirkung von jener anderen Welt auf diese Welt gibt. Vielleicht können wir all das als Ideen annehmen. Wir können sogar eine gewisse Überzeugung haben und denken, daß es so sein muß. Daraus entsteht eine Wirksamkeit, ein lebendiger Glaube, weil Glaube von Natur aus wirksam ist. Er ist die Basis für das Tun. Können wir dahin gelangen, unser Leben mit dem Gedan­ ken zu leben, daß es eine andere Welt gibt, der wir angehören, und dem Gedanken, daß es unsere Bestimmung ist, irgendwie eine Brücke zwischen den zwei Welten zu sein? Zu der Erkennt­ nis, daß es wahr ist, daß wir einen Auftrag in dieser Welt haben; ein Werkzeug für Mitteilungen aus der anderen Welt zu sein, unseren eigenen Weg dorthin suchend, mit Verkehr in beiden Richtungen? Wenn alle diese Ideen etwas sind, nach denen man leben kann, können sie dann zu etwas mehr als Ideen werden? Können sie in uns wirksam werden? Können wir, zu jeder Zeit und in allem, was wir tun, sie als stabiles Zentrum unserer Hal­ tung, unseres Wählens und Entscheidens haben? Daraufkommt es an, und damit entsteht eine entsprechende Abschwächung unserer Abhängigkeit von äußeren Dingen. Was noch wichtiger ist, es entsteht eine Schwächung unserer Illusionen über uns selbst, unserer Illusionen über unsere Fähigkeit, etwas zu tun, und eine Bereitschaft zu akzeptieren, daß wir die Hilfe von 120

dieser anderen Welt benötigen. Können wir, indem wir darüber nachdenken, zu einer Stärkung dieses Teils unserer Natur kom­ men, die die zwei Welten überbrückt, und mit diesem Vertrauen leben? Wenn wir es können, dann ist es wertvoll für uns. Wenn es eine Idee bleibt, dann ist es ebenfalls sehr vorteilhaft für uns, denn es ist ein gutes Mittel gegen Verzweiflung. Wir gehören tatsächlich zu diesem Ganzen, das durch die Kluft zwischen dem Bewußten und dem, was jenseits des Bewußten liegt, getrennt ist. Ich spreche auch von der beding­ ten, begrenzten Welt der Sinneserfahrung und der unbedingten, unbegrenzten Welt, die nicht durch die Sinne erreicht werden kann. Alles hängt davon ab, wie weit wir davon überzeugt sind; wie weit es beginnt, Teil von uns zu werden. Die Schwierigkeit bei der Anwendung von Bildern ist, daß die Bildersprache zwangsläufig begrenzend ist. Wenn Sie über alle Möglichkeiten sprechen, schließen Sie bereits alle Unmög­ lichkeiten aus. Alle Unmöglichkeiten sind nichts. Wer weiß, ob diese andere Welt nicht eine unmögliche Welt ist? Ich könnte etwas über das "Jenseits des Bewußtseins" sagen. Man drückt sich in einer quantitativen Bildsprache aus über alles, was existiert, "das Alles" und "alles". Sie hätten ganz recht, wenn Sie sagten, "alles" habe keinen Zusammenhang mit dem Absoluten. Wenn wir sagen, daß es etwas gibt, was in keiner Weise quantitativ, in keiner Weise zählbar ist - wenn Sie nicht einmal sagen können, zwei sei verschieden von eins -, dann haben wir etwas gesagt, was für den Verstand nicht einfach zu fassen ist. Wenn wir sagen, es gebe nichts Meßbares, deshalb also nicht groß und klein, beginnen wir, in eine Art mystische Sprache hineinzugehen. Ich möchte Ihnen gerne dieses Gefühl, das ich habe, übermitteln können, daß es nämlich diese Spra­ che ist, die es mystisch macht, nicht die Wirklichkeit an sich. Man kann sagen, daß die Mystik über das Unbeschreibliche spricht. Es bedeutet, in Worte zu fassen, was nicht ausgespro­ chen werden kann, und deshalb klingt es mysteriös außerge­ wöhnlich. Das tatsächliche Erlebnis ist etwas anderes. Genau deswegen erwähnte ich zu Beginn die Geschichte von Baha'uddin, daß, als der Schleier gelüftet wurde, er nicht irgend etwas mysteriöses Unbekanntes sah; er sah einfach den Lehrer 121

seines Lehrers Lehrer dort sitzen, und er sah, daß das Wesent­ liche der Mann war, der die Vervollkommnung seiner eigenen Natur erreicht hatte und daß er unerreichbar war, weil die Men­ schen nicht wissen können, was es bedeutet. Sie können nicht wissen, was gemeint ist mit dieser Aussage: "Stirb, bevor du stirbst." Es ist eines der hadith des Propheten; eine der prägnantesten und verdichtetsten Aussagen, die es gibt. Alles ist wirklich darin enthalten. Was durch das Sterben kommt, kann nicht gesehen werden, ohne zu sterben. Die Leute sagen: "Ich will sehen, aber ich will leben." Aber Sie können nicht sehen, was nur durch Sterben gesehen werden kann, wenn Sie darauf bestehen zu leben. Sie können darüber reden. Vor einigen Tagen sprach jemand über das außergewöhnliche Erleb­ nis, das sie jedesmal hatte, wenn sie zum Zahnarzt ging und ihr Gas gegeben wurde oder was immer die Zahnärzte heutzutage brauchen. Jedesmal sah sie die Gesamtheit der Realität, und sie sah die Bedeutung des gesamten Universums, das ihr enthüllt wurde. Muß man wirklich Zahnschmerzen haben, damit einem alles enthüllt wird? Natürlich kann man es auch ohne Zahn­ schmerzen haben, ich weiß das. Ich sage Ihnen: Sie gehen ins Zahnarztzimmer, und er dreht seinen Schalter, und Ihr Stuhl geht hoch, höher und höher, und Sie sehen über die Mauer, sehen, daß es etwas gibt auf der anderen Seite der Mauer. Sie sehen einen wunderschönen, herrlichen Garten. Und Sie sagen: Ich habe Vollkommenheit gesehen, ich habe gesehen, wie sie ist. Sie sagen nie: Ich sehe sie in diesem Moment, weil sie in jenem Moment nicht sprechen, erst hinterher. Sie gehen immer und immer wieder zum Zahnarzt, Sie werden hinaufgedreht, Sie sehen. Aber Sie bleiben immer noch auf dieser Seite der Mauer. Dann sagen sie: "Das genügt nicht - es befriedigt mich nicht, über diese Mauer zu sehen", und sie fangen an herumzu­ gehen, und die Mauer ist fürchterlich unangenehm, weil viele Dinge da sind überall, Unkräuter und Dornengestrüpp und Gebüsch usw., und dann sehen Sie eine Tür. Vielleicht sehen Sie eine Tür, die ganz gut freigemacht ist, und Tausende von Menschen, die durch diese Türe hineinzugelangen versuchen, und Sie sagen: "Nun, da geht es nicht", und Sie gehen weiter. Und dann sehen Sie eine andere Tür, um die sich niemand 122

kümmert, und Sie kommen vielleicht ganz leicht durch jene Tür, weil es dort kein Gedränge gibt. Sie treten ein durch die Tür und befinden sich im Garten. Das ist wiederum eine Geschichte, erzählt von einem Sufi. Es war einer der frühen, einer, der in Bagdad lebte. "Ja", sagte er, "ich fand diese Tür." Es war die Tür der Selbsterniedrigung, und seltsamerweise gab es rundherum niemanden, der wirklich hineindrängte. Was geschieht, wenn man denkt, es gebe keine Tür; wenn man jene Lehenseinstellung hat? Ich sitze nicht auf Gottes Stuhl; ich kann nicht sagen, ob dies wahr ist oder nicht, aber es wird gesagt, daß jeder, in einem Moment seines Lebens, die Tür sieht. Um dies mit Sicherheit zu wissen, müßte man Gott sein. Was, denken Sie, meinte Rumi, als er sagte: Ich habe gesehen, daß die zwei Welten eins sind? Er meinte, was er sagte. Es ist wahr. Natürlich stimmt es. Mei­ ster Eckhart sagte dasselbe, und auch Jakob Böhme: "Ich habe den wahren Anfang des Entspringens der Dreifaltigkeit aus der Quelle der Gottheit gesehen." Diese Welten sind aber nur des­ halb getrennt, weil wir an dieses Bewußtsein gebunden sind. Sie sind nicht getrennt in Wirklichkeit. Die Getrenntheit ist ganz und gar eine Illusion von uns. Das ist es, was Jelaluddin meinte. Natürlich sind sie eine Welt, aber in uns sind sie geteilt, weil sie in uns wiedervereinigt werden müssen. Es ist die Illusion des Selbst, die Illusion, daß wir existieren, die Illusion, daß wir wis­ sen können. Die Schwierigkeit dieser Illusion ist, daß wir selbst­ verständlich wissen können, und wir können eine enorme Menge wissen, und im Sinne dieser Art von Existenz existieren wir auch. Deshalb ist diese Illusion sehr stark mit uns verhaftet. Darum wird gesagt: "Stirb, bevor du stirbst." Das ist damit gemeint. Gib die Existenz auf, bevor die Existenz dich aufgibt. Wo sollten wir das Wissen über dieses Jenseits des Schleiers oder den Gedanken an dieses Jenseits des Schleiers aufbewahren,

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wenn wir diesseits des Schleiers sind? Sollten wir es in unserem Bewußtsein aufbewahren oder ist das etwas Zerstörerisches? Oder sollten wir es als Fragezeichen festhalten oder wo sonst? Das hängt davon ab, welchem Weg Sie folgen. Es gibt den Weg des Fragens. Es gibt einen Weg, der ausschließlich darin besteht, Fragen zu stellen und nicht aufzugeben. Wozu saß Buddha unter dem Boddhibaum? Er sagte: "Ich werde nicht eher von diesem Platz aufstehen, als bis diese Frage beantwortet ist." Das ist kein Weg für jeden. Aber das heißt nicht, daß es nicht eine Angele­ genheit für jeden wäre, diese Frage zu stellen und auf sie zurück­ zukommen. Sie können sie nicht vor sich stehen lassen. Wir müssen sie in uns aufnehmen, damit sie Teil unserer Natur wird, damit sie wahrhaftig in uns ist, bis in unseren Atem hinein. Auf diese Art und Weise muß diese Frage beantwortet werden. Es braucht die klare Überzeugung in uns, daß dieser Zustand der Existenz nicht genügt. Und das heißt nicht, daß ich mehr will. Als ich sagte: "nicht genügt", merkte ich, daß ich einen falschen Gebrauch der Sprache machte. Ganz klar meinte ich damit nicht, daß wir mehr Existenz haben müssen, als wir bereits haben. Ich meinte einfach, daß wir diese Art zu leben haben müssen. Sie ist Teil der menschlichen Natur. Der Mensch ist nicht ein besonderes Wesen, das in dieser Welt keinen Platz hätte. Weit davon entfernt. Rumis Zitat stimmt genau. Die zwei Welten sind eins. Die einzige Schwierigkeit ist, daß wir zu weit von der anderen Welt entfernt leben und nicht, daß wir zu sehr in dieser Welt leben. Wir müssen ganz, mit voller Kraft, in die­ ser Welt leben. Alles, all das, was ein Mann tun kann, muß er tun. All das, was eine Frau tun kann, muß sie tun. Nicht diese Welt wegwerfen. Aber wir müssen ebensoviel in der anderen haben. Heutzutage gibt es außer dem natürlichen Schleier auch einen unnatürlichen Schleier. Man kann sagen, daß sich der Mensch mehrheitlich nicht am Ausgangspunkt befindet, weil wir einige selbstgemachte Schleier erfunden haben, Schleier aus Nylon, und diese sind überaus lästig. Wenn Sie also sagen: "Ist dies eine besondere Laune der Geschichte?", dann ist es das Verrückte an der Sache; daß wir Menschen uns heutzutage zu 124

einem großen Teil eine ganze Menge unnötiger Schleier sorg­ fältig konstruiert haben, so daß wir nicht nur die unserer Natur zugehörige Schwierigkeit haben, das Bedingte mit dem Unbe­ dingten zu versöhnen, sondern auch die Schwierigkeit haben, das Natürliche mit dem Unnatürlichen zu versöhnen. Wir sind auch bei etwas Falschem angelangt, verstehen Sie. Wir wissen, daß es so ist, es ist historisch. Es wird gesagt, daß die Menschen vor ungefähr 4500 Jahren nicht in diesem Zustand falscher Getrenntheit lebten. Es gab eine Zeit, wo die Menschen ein viel normaleres Leben führten, und deshalb war etwas anders. Ich bin geneigt zu glauben, daß etwas daran ist. Man darf die Ansicht nicht ganz außer acht lassen, daß wir in einem Zeitalter von eher größerer Illusion leben, als es für den Menschen durchschnittlich ist. In einem gewissen Zeitraum lebt die Menschheit eher in einem Zustand, der einer natürli­ chen und angemessenen Existenz näher ist, und zu anderen Zei­ ten mehr davon entfernt. Das ist der Begriff von Yugas, wie die Hindus es nennen, oder der Grad des Gebundenseins, das im Menschen ist. Wenn das geglaubt wird, so wie ich es glaube, gehen wir jetzt eben durch diese letzten Wehen. Sie haben eine gute Chance, den Anfang eines lichtvolleren Zeitalters zu erle­ ben, und ich hoffe bei Gott, daß Sie alle daran festhalten mögen und sich nicht erlauben, daß Sie zurückgezogen werden in den Glauben an Dinge, wie sie zu sein scheinen. Das ist das Ver­ hängnis junger Leute; einen flüchtigen Blick zu erhaschen von der Welt und den Dingen, wie sie wirklich sind, und dann erlau­ ben sie sich, sich damit zu beschäftigen, Betriebsdirektor von irgend etwas zu sein oder irgend etwas dieser Art.

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Hu

ch rede zu Ihnen mit Worten, und Sie hören den Worten, die ich sage, zu. Was ich Ihnen übermitteln möchte und was Sie von mir hören wollen, kann jedoch nicht in Worten ausgedrückt werden. Also beginnen wir mit einer Unmöglichkeit. Ich möchte über etwas sprechen, das nicht ausgedrückt werden kann und erwarte, daß Sie dies ernst nehmen; wenn ich sage, daß es nicht ausgedrückt werden kann, meine ich genau das. Man kann dar­ über sprechen, aber wenn man darüber spricht, spricht man von einem Bild, von einer Idee oder vielleicht sogar von nichts mehr als einer Menge von Worten. Wie weit liegt es jenseits von Wor­ ten? Wenn es nur ein Schritt hinter den Worten wäre, könnte es sein, daß eine Art Analogie, Beschreibung oder Bild helfen würde. Ich werde über Hu sprechen in dem Sinne, wie die Sufis das Wort gebrauchen; im gewöhnlichen arabischen Sprachge­ brauch heißt es nichts, "er", "sie", "es", was Sie wollen, es wird am Ende von Verben einfach zugefügt und heißt "er". Es kann auf ganz gewöhnliche Art in der arabischen Umgangssprache benützt werden. Aber es bedeutet auch das Höchste, das, was gänzlich jenseits aller Eigenschaften liegt, jenseits von allem, was je gesagt werden kann. Es bedeutet auch das Naheliegend­ ste von allem. Sie kennen Nadschmaddin Kubra. Mit seiner Erklärung darüber kann ich beginnen. Er sagte: Jedesmal, wenn wir atmen, sagen wir es. Dieses "ah" von Allah ist die wesen­ hafte Wirklichkeit von allem, weil alles was atmet, jeder Atem­ zug, dies sagt. Dies ist eine Art, die Immanenz zum Ausdruck zu bringen, sein Innewohnen in allem. Man kann nicht atmen,

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ohne es zu sagen. So hat er es erklärt. Dies ist eine Art, es zu fühlen und zu erfahren. Es ist die wirkliche Essenz unseres Atmens, das heißt die wirkliche Essenz unseres Lebens, die wirk­ liche Essenz unseres Seins. Doch für den Sufi ist es - so glaube ich - nicht so einfach, es nur auf diese Weise zu sehen. Wir wurden aus diesem oder jenem Grund in diese Welt gesetzt, wir wurden in diesen menschlichen Körper gestellt. Für mich gibt es keinen Zweifel, daß dies mit Absicht geschah und es wird von uns erwartet, daß wir diese Absicht erfüllen. Wir wurden nicht umsonst hierher gesandt. Wir wurden nicht ein­ mal zu unserem eigenen Vorteil geschickt, sondern weil etwas von uns erwartet wird. Und wir wurden so weit hinausgeschickt, wie es nur möglich ist, geschickt zu werden, ohne die Verbin­ dung zur Quelle zu verlieren, das heißt, ohne die Möglichkeit zu verlieren, aus eigener Willenskraft zur Quelle zurückzukeh­ ren. Wenn wir weiter hinausgeschickt worden wären, in eine Tierform oder eine Pflanzenform, könnten wir nicht aus eige­ nem Antrieb zurückkehren. Wir wären auf den ganzen evolu­ tionären Prozeß, der uns zurückbringen müßte, angewiesen. Von dort, wo wir uns befinden, ist es gerade noch möglich, zurückzukehren, das heißt durch eigene Willenskraft, nicht mit dem Strom. Alles wird mit dem Strom zurückkehren, aber uns Menschen ist die Möglichkeit gegeben, direkt zurückzukehren. Dieser Zustand, in dem wir uns befinden, heißt in der Sufi-Ter­ minologie nasut. Dieser Zustand der Existenz hier, die man manchmal den menschlichen Zustand nennt, ist in Wirklichkeit der menschliche Zustand, zusammen mit allem, was uns umgibt, diesem ganzen Leben der Tier-, Pflanzen- und Mineralwelt. Dies ist die Welt, in die wir geschickt worden sind. Wenn wir den Weg zurück nicht aus eigenem Antrieb finden, heißt das nicht, daß alles verloren ist, weil wir auf jeden Fall mit dem Strom, der zum Ursprung zurückfließt, zurückkehren werden. Aber das ist es nicht eigentlich, was für den Menschen beabsichtigt ist. Die Bestimmung des Menschen besteht nicht nur darin, vom Strom der Evolution mitgetragen zu werden, vom Mineral zur Pflanze, von der Pflanze zum Tier, vom Tier zu dieser Art Leben, und von dieser zu anderen. Der Ursprung ist das, wovon wir sprechen: das Wort "Hu". 127

Es ist eine sehr beschränkte Welt, ein sehr beschränkter, kon­ ditionierter Zustand des Daseins, in dem wir nur seitwärts in diese Welt sehen können. Wir sehen diese Erde, wir sehen diese Sonne und das Sonnensystem. Wir sehen Sterne und Galaxien. Sie liegen alle Seite an Seite mit uns. Durch sie gibt es keinen Weg zurück. Dieses ganze Universum ist gewöhnlich. Dieses ganze Universum unterliegt den gleichen Bedingungen, den glei­ chen Einschränkungen wie unser Dasein. Die ganze sichtbare Schöpfung ist nichts weiter als dieses Nasut. Wir denken, weil sie sehr wichtig, sehr groß in ihrer Ausdehnung ist, weil sie seit Tausenden von Millionen von Jahren existiert, daß sie etwas Großartiges sei. Sie ist nichts als ein Blatt Papier in einem großen Buch. Aber wir sind von dieser Welt um uns herum hypnoti­ siert. Wir können es nicht vermeiden, irgendwie dieser Illusion zu erliegen, daß, weil sie groß ist, auch großartig sei. Sie ist nicht großartiger als ein auf den Boden geworfenes Blatt Papier. Solange wir uns nicht von dieser Illusion, daß diese Welt groß­ artig ist, befreien können, finden wir es sehr schwierig, die Reise nach den wirklich großartigen Welten anzutreten. Die wirklich erhabenen Welten liegen im Innern. Es geschieht manchmal, daß uns ein Schimmer aus der allernächsten Welt erreicht. Wenn dieser Blick jemanden erreicht, wird er davon überwältigt. Dies sei die Unendlichkeit, sagt er, dies sei alles. Dies ist nun der geoffenbarte Kosmos. Sie nennen es "kosmisches Bewußtsein"; wun­ derbar, das Ganze, alles ist wie verwandelt. Alles ist voller Wun­ der und erstaunlich. Die Unendlichkeit hat sich geoffenbart. Was ist wirklich geschehen? Ein kleiner Einblick in eine Welt, die jenseits der unsrigen liegt! Nicht einmal in diese Welt hin­ eingezogen, noch nicht einmal der Macht dieser Welt unterstellt, und schon nennt man es "kosmisches Bewußtsein". Man hört Beschreibungen des "kosmischen Bewußtseins", sie hören sich herrlich an! Visionen der Unendlichkeit, unbegrenzte Welten, Schönheit jenseits jeglicher Beschreibung! Es ist nichts. Es ist immer noch bloß eine Änderung unseres subjektiven Zustands. Immer wieder ertrinken die Menschen in dieser Vision des "kos­ mischen Bewußtseins". Aber was für eine Art des Ertrinkens ist das? Sie tauchen bloß auf, um zu atmen, und alles ist wieder wie zuvor. Allerlei Arten ekstatischer Visionen, allerlei Arten 128

Wunder, Trancezustände und der ganze Rest ist nichts Weite­ res, als unserer Erfahrung eine weitere Dimension hinzuzufü­ gen. Anstelle dieser flachen Welt, in der wir leben, haben wir eine gewisse Tiefe erblickt, und alles ist durch diese Perspektive so verändert und gewandelt, daß wir meinen, dies sei die Rea­ lität. Ich habe jetzt alles gesehen, was es zu sehen gibt, alles ist mir geoffenbart worden - und immer und immer wieder gera­ ten die Leute in diese Falle. Es ist eine Falle, weil sie sich, wenn sie an diese Vision glauben, damit zufriedengeben. Wenn sie glauben, daß das Leben darin besteht, Erfahrungen des kosmi­ schen Bewußtseins, der Eröffnung von Einblicken unsäglicher Schönheit und Wunder und so weiter zu machen, werden sie darin gefangen, genauso gefangen wie wir, wie die Leute es in dieser materiellen, flachen Welt sind. Es braucht etwas mehr. Man muß etwas von sich selbst auf­ geben, wegwerfen, um wirklich in jene Welt eintreten zu kön­ nen. Dann wird man einer anderen Macht unterstellt. Dann setzt eine wirkende Kraft ein. Dies heißt jebberut. Die Macht Gottes beginnt, spürbar zu werden. Es ist die Zeit, in welcher der Weg schwer ist. Wenn sich jemand hier hinein begibt, erfährt er die ganze qualvolle Pein der Trennung, weil er erst dann, wenn er diese Schwelle überschritten hat, zu sehen beginnt, daß ihm alles, was wirklich zählt, entzogen wurde, während er in diesem Zustand des Daseins lebt, wo alles vergänglich, alles unsicher, konditioniert, limitiert, ist. Und noch schlimmer, noch uner­ träglicher wird es, wenn man versteht, daß einem diese Vision nichts gebracht hat. Die erste Voraussetzung ist hier, daß man fähig sein sollte zu sehen, daß einem diese Vision, dieses kos­ mische Bewußtsein, nichts gebracht hat. Ich erinnere mich, als mir das passierte, vor fast vierzig Jahren; nein, es ist nicht so weit zurück, nicht so weit, aber ich erinnere mich, ich dachte, alles wäre geschehen, was geschehen konnte. Tagelang war ich in einem Zustand der Glückseligkeit und Ekstase, und dann, all­ mählich, dämmerte es mir, daß ich genau der Gleiche war wie vorher. Erst dann begann ich, wirklich zu leiden. Sie ist sehr sonderbar, diese zweite Welt. Ein Name, der ihr auch gegeben wird ist 'alemi erwah. Sie wird die geistige Welt genannt, die Welt der Geister, ruh, der Geist. Noch ein Name für sie ist 129

Fegefeuer. Was heißt das? Es bezeichnet den Zustand, in dem es einem bewußt ist, daß man nicht fähig ist zu sein, was man sein müßte, daß man nicht fähig ist zu besitzen, was man gese­ hen hat. Ohne durch diesen Zustand zu gehen, ist es unmög­ lich; es gibt keinen Weg, meine ich. Alle haben es immer gesagt, und meine ganze Erfahrung bestätigt es, daß es keinen Weg gibt außer durch diese Tür. Dann wird das "kosmische Bewußtsein" billig. Es ist nichts. Was ist es wert, wenn ich immer noch nicht fähig bin, den Weg zu gehen, den ich gehen muß? Ich muß zu meiner Quelle zurückkehren, zu meinem Ursprung. Es gehen nicht so viele Leute durch diese Tür. Das müssen Sie verstehen. Wir sprechen davon. Jeder, der den Sufismus studiert, weiß von allen diesen Dingen, worüber ich spreche. Was ist das, diese geistige Welt? Um in sie einzutreten, muß man losgelöst sein, man muß fähig sein, seine Gebundenheit an den eigenen Körper, an seine kör­ perlichen Erfahrungen, an jede Art äußerer Hilfe, aufzugeben. Man muß sein, als ob man gestorben wäre. Dann kann man die­ ser Macht unterstellt werden. Deshalb heißt es jebberut. Der Macht Gottes unterstellt sein. Zulassen, daß die wirkende Kraft der Göttlichen Macht an uns arbeitet. Die Leute meinen, es sei etwas Schönes, wenn man gereinigt wird, wenn der Egoismus und die eigenen Mängel weggeräumt werden. Mag sein, aber es ist keine angenehme Sache, es geht nicht ohne viel Leiden. Es gibt keinen Ausweg. Wir müssen großen Respekt haben vor denen, die in dieses istigraq eintauchen, den Sprung machen, untertauchen, sich von dieser Macht ergreifen und sie auf sich wirken lassen. Dann kommen flüchtige Einblicke in etwas ande­ res. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Liebe wahrhaftig nur ein Wort. Es ist wirklich nur ein Wort, das etwas bezeichnet, was Sie gar nicht kennen oder das Sie ganz falsch für etwas anwen­ den, wofür das Wort "Liebe" kein passendes Wort ist. Erst dann erkennen Sie dieses Erbarmen, dieses Göttliche Erbarmen, das Sie da hineingezogen hat. Dies nennt man melekut. Das ist etwas sehr Hohes. Ich kann mich erinnern, wie ich das erste Mal von diesen Dingen und all diesen Worten hörte, wie ich sie entgegen­ nahm, als ob sie etwas wären, über das man etwas wissen konnte. Doch als Jahr um Jahr vorbeiging, und je tiefer und weiter 130

meine Sichtweise wurde, umso mehr sah ich die Unermeßlichkeit dieses Schrittes, der uns erlaubt, in diesen Vorhof von Gottes Gegenwart einzutreten. Wir sprechen über diese Dinge, aber wenn Sie nur wüßten, wie wenig Menschen dorthin gelan­ gen können. Nicht, daß es nicht Gottes Wille wäre, daß sie es sollten, aber wir Menschen sind in einen solchen Zustand des Daseins eingetreten, sind derart Sklaven von jeder Art Erfah­ rung, die uns zuwinkt, geworden, daß wir uns jedesmal fangen lassen. Sie mögen denken: "Aber wie kommt es, daß Menschen gefangen sein wollen in diesem Zustand, in dem sie dieser Macht unterstellt sind?" Ach ja, aber es kommt eine Zeit, in der die Dinge ganz anders werden, wo in diesem Zustand des jebberut eine ganz andere Art des Erfahrens beginnt, eine gewisse Festig­ keit, eine gewisse Sicherheit, die sehr anziehend wirkt. Man denkt: "Jetzt habe ich etwas erworben, jetzt fange ich an, etwas zu sein", und wir sagen dies, wie Sie wissen, wir sagen: Nach fana, baqa, und wir sagen: "Dies ist die Erfahrung von fana; jetzt weiß ich was baqa ist", aber glauben Sie mir, es gibt so viele trügerische baqas, so viele irreführende Auferstehungen. Wie oft habe ich mir gesagt: "Ich werde wiedergeboren; jetzt stehe ich von den Toten auf", und was sah ich? Derselbige Mann war auferstanden. Er starb nie wirklich. Dann ist es, daß man sieht, auf wieviele Arten wir uns betrügen können. Wissen Sie, die erste Täuschung, wie ich sage, ist dieser Glaube in den Visionen und ekstatischen Erfahrungen, die Öffnung des "kosmi­ schen Bewußtseins", die völlige Wandlung von allem. Die zweite ist, wenn man zu spüren beginnt, daß Tod und Auferstehung in einem stattgefunden haben und daß etwas wirklich geschehen ist. Und man sieht nicht, daß dies jetzt nur eine tiefere Illusion ist. Ist irgend jemand fähig, sich von der Illusion zu befreien, daß er irgend etwas hat, irgend etwas eigenes, daß es irgend eine andere Realität gibt als das? Wenn man sich also davon befreien kann, dann ändert sich ein Moment lang alles und man macht die Erfahrung, daß es einen ganz anderen Gott gibt als den, von dem man je geträumt hat. Einen ganz anderen, über den man nicht mehr sprechen kann. Man weiß nicht nur, daß man nicht mehr über ihn sprechen kann, sondern, daß man das Gefühl nicht mehr hat, es gebe eine wirkende Macht oder sonst etwas 131

Ähnliches. Alles, was man je sagte, kann nicht mehr gesagt wer­ den. Das ist die Schwelle, das ist der Anfang für diejenigen, die bis hierher kommen. Im Sufismus sagen wir dann, dies führe zur letzten Auslöschung, zu fana-i-dhat. Alles verschwindet. Nicht nur man selbst, sondern die Welt und Gott verschwinden allesamt. Dann sagen wir, das ist Hu. Wir sagen: dies ist huwiyet. Das ist dieser Zustand. (Huwiyet ist das Wort für einen Zustand.) Der Zustand, wenn das, was von der Quelle gekom­ men, wieder zu dieser Quelle zurückgekehrt ist. Huwiyet, so spreche ich das aus. Wenn ich Araber wäre, würde ich das anders aussprechen. Dieser Zustand ist für Sufis die Art, über das Ende zu sprechen, über die endgültige Befreiung von allem Trennenden. Nun, wie sind solche Dinge möglich? Wir haben Instru­ mente; Augen und Ohren usw., womit wir um diese äußere Welt wissen. Wir haben den Verstand, um über diese Welt zu den­ ken. Wir haben den Verstand, um zu denken und um Bilder zu machen und um Konzepte über andere Welten zu formen, und wir sehen nicht, daß dieser Verstand seinen Ursprung nicht in etwas über uns oder etwas Höherem hat. Er hat keine Zukunft, keine Bestimmung. Er ist einfach das Instrument dieser Welt. Es ist schwer für uns, die Idee zu akzeptieren, daß der Verstand vernichtet werden muß, daß all das, was denkt, was fühlt, was weiß, was sieht und hört, daß all das Instrumente unserer Gefan­ genschaft in dieser Welt sind. Es ergibt sich so, daß ich morgen früh nach Indien fliege, um am Fest zum hundertsten Geburts­ tag von Sri Aurobindo teilzunehmen. Ich erwähne Sri Aurobindo, weil Aurobindo ein grosser Prophet dieser Zeit war, und seine große Botschaft war die Botschaft von dem, was er das Supramentale nannte. Er sprach vom "Abstieg des Supramen­ talen in dieser Zeit". Ein etwas schwerfälliges Wort, aber es ist etwas Wichtiges, weil er wenigstens sehr viele Leute mit dem Gedanken erreichte, daß unser menschlicher Verstand ein völ­ lig unzulängliches Instrument ist, um zu irgendeinem echten Verständnis zu gelangen. Daß nur dann etwas geschieht, wenn es möglich ist, einzutauchen in das, was jenseits des Verstandes ist, und daß es dieser Augenblick des Eintauchens ist in das, was jenseits des Verstandes liegt, der uns das offenbart, was wir "kos­ misches Bewußtsein" nennen. Aber wie erfahren wir dieses 132

"kosmische Bewußtsein", wenn es unserem Verstand nicht mög­ lich ist, es zu fassen? Weil wir andere Instrumente haben. Weil wir nicht nur mit dem Verstand erschaffen worden sind. Dieser menschliche Verstand ist ein billiges Instrument. Billig in Bezug auf den Weg zur Wirklichkeit. Es ist nicht billig für diese Welt. Es gibt uns eine enorme Macht in dieser Welt, es ermöglicht uns, in dieser Welt zu herrschen; aber es ist billig im Hinblick auf die andere Welt. Aber wir Menschen sind nicht nur für das bestimmt. Also wurden uns Instrumente gegeben. Uns wurde ein Instrument gegeben, ein geistiges Instrument, das fähig ist, in diese zweite Welt einzutreten und in ihr zu leben, in diese Welt, die wir jebberut nennen, 'alemi erwah, die Welt der Gei­ ster. Wir haben ein geistiges Wahrnehmungsvermögen. Wir müssen dieses geistige Wahrnehmungsvermögen erwecken. Dieses Wahrnehmungsvermögen wird in uns zum Teil durch das intensive Bedürfnis erwachen, das in uns spürbar zu wer­ den beginnt, wenn es sich uns zum ersten Mal offenbart. Es erwacht durch das tiefe Bedürfnis, fähig zu sein, diese andere Realität zu erfahren, und nicht nur zu erfahren. Dies ist auf kurz oder lang jedoch äußerst unbefriedigend. Man kann es nicht annehmen, bloß zu sehen und nicht zu besitzen, was man liebt. Das ist also das erste. Für diese Erkenntnis war Ihr verehrter Ibn 'Arabi ein großer Lehrer. Er lehrte die Notwendigkeit, daß der Mensch diese feineren Instrumente erwecken, stärken und lernen muß, sie zu benutzen und mit ihnen zu leben. Er erreichte es selbst und brachte viele, viele Leute zur Überzeugung, daß dies in der Tat für uns möglich ist. Sie müssen nicht meinen, Sie könnten mit diesem Körper und diesem Verstand ins Fegefeuer eintreten. Wenn Sie in jene Welt, jebberut, eintreten wollen, müssen Sie mit ihrer geistigen Natur in sie eintreten, nicht mit ihrem natürlichen Selbst. Aber unser geistiges Wesen ist in größ­ ter Not. Denken Sie nicht, daß, bloß weil wir eine geistige Essenz haben, diese nur erweckt und befreit werden müsse, um schon fähig zu sein, ihr Ziel zu finden. Nein. Unsere geistige Essenz ist befleckt, mit unserem eigenen Egoismus befleckt, mit unse­ ren eigenen Illusionen befleckt, mit unserem Verlangen nach Existenz befleckt, mit unserem Verhaftetsein an Äußerlichkei­ ten. All das ist in der geistigen Natur, nicht nur in unserer 133

körperlichen Natur. Das Instrument muß in uns geweckt wer­ den, das geistige Instrument, das zu sehen vermag, wie es um uns steht, und das bedeutet sehr großes Leiden. Aber es ist auch so, während dieses geistiges Instrument allmählich erwacht und wir zu sehen beginnen, daß die Wirklichkeiten so außerordent­ lich sind, daß alles andere aufhört, von Bedeutung zu sein. Nur der eine Wunsch bleibt: in die geistige Wirklichkeit einzutreten. Dann kommt die Zeit, wenn noch ein anderes Instrument, ein noch höheres Instrument, ein Instrument, das nicht geistig, sondern göttlich ist, ein Instrument, zu dem wir irgendwie hin­ gezogen werden, uns ausgeliehen oder geschenkt wird. Ich weiß nicht, wie ich darüber sprechen soll. Aber dieses göttliche Instru­ ment erlaubt uns dann, über all das hinaus zu gelangen und zu sehen, daß diese ganze Existenz nichts ist. Es ist nichts als ein Schatten, ein Theaterstück. Dann kommt etwas ganz anderes, eine ganz andere Art von Öffnung. Dies muß sein. Ich habe das Gespräch vereinfacht, weil viele Leute, wie Sie wissen, in ver­ schiedenen Stufen darüber sprechen. Es gibt viele Arten, darü­ ber zu sprechen, und was ich sage, ist nur eine Art. Wenn ich morgen darüber spräche, würde ich anders darüber sprechen, weil dies nie zweimal auf dieselbe Art ausgedrückt werden kann. Warum sage ich Ihnen dies alles? Weil ich wollte, als ich Sie bat, hierher kommen zu dürfen, um zu Ihnen sprechen zu kön­ nen, ich Ihnen nur eines sagen wollte: ich möchte Sie bitten, einen immergegenwärtigen, uneingeschränkten Respekt in sich zu haben für das Wort Hu. Manchmal schmerzt es mich, wenn ich höre, wie das Wort Hu, die Silbe Hu, leichtfertig gebraucht wird. Das muß ich Ihnen sagen, weil ich nicht Ihr Freund wäre, wenn ich nicht wahrhaftig zu Ihnen sprechen würde. Ich kam mit einigen von Ihnen, die wie ich glaube, hier sind, zum Festival in der Nähe von Glastonbury. Und ich sah Leute herumtanzen und einander die Hände halten - wie wenn es eine Art Bauerntanz wäre - und sie sangen Ya Hu oder Allah Hu. Wissen Sie, die 'Worte Allah Hu dürfen so nicht ausgesprochen werden. Es ist nicht richtig. Wenn das Wort Allah Hu ausge­ sprochen wird, muß die ganze Tiefe des eigenen Seins davon berührt werden. Sie, Sie alle tragen Symbole [eine arabische Kalligraphie des Wortes Hu], die den Lebensodem symbolisieren, 134

diesen Atem, der weit mehr ist als das, das Wort Hu. Aber Sie haben dieses höchste Symbol, die Quelle von allem, ausgewählt, das letzte, das jenseits von allem ist, und Sie respektieren es nicht wie Sie sollten. Sie meinen, Sie täten es. Sie wissen, daß ich während vieler Jahre nicht wagte, das Wort Gott auszu­ sprechen. Es gab einige Worte, bei denen ich es nicht fertig brachte, sie auszusprechen, das Wort Gott, das Wort Liebe, ich konnte sie nicht über die Lippen bringen, weil ich mich davon so weit entfernt fühlte. Dann allmählich, ich weiß nicht, ob ich hart und abgestumpft geworden oder ob ich tiefer eingedrun­ gen bin, weiß Gott, aber ich begann, diese Worte zu gebrau­ chen. Ich versuche, sie mit tiefem Respekt zu gebrauchen. Aber von allen Worten, von allen Klängen ist das Wort Hu das, was am meisten respektiert werden soll. Weil es für alles steht. Es steht für das, was in jedem Atemzug, den wir atmen ist, und es steht für die Quelle, die nur durch die völlige Vernichtung von allem erreicht werden kann, weil es jenseits jeglicher Existenz, jenseits allen Seins steht. Sie werden das Wort brauchen müs­ sen, aber ich bin hierher gekommen, um Sie anzuflehen, sich daran zu erinnern, daß Sie die heiligste Silbe gewählt haben, die es gibt, und wenn Sie dies gemacht haben, haben Sie eine große Verantwortung auf sich genommen. Wenn Sie es ohne diesen Respekt behandeln, ist es Entweihung. Es sind nur die Wenig­ sten unter den Wenigen, die Seltensten der Seltenen, die zur Wirklichkeit des Hu gelangen. Die höchsten Auserwählten, gewählt und gesandt; die Botschafter. Nur sie können wirklich das Wort Hu sagen. Diejenigen, die unmittelbar von der Quelle kommen und zur Quelle zurückkehren werden. Die wissen, was Hu ist. Sie müssen mir also vergeben, wenn ich auf diese Weise spre­ che, denn ich habe um Erlaubnis gebeten, dies zu tun. Ich wurde nicht eingeladen. Ich drängte mich auf diese Art bei Ihnen auf, und ich kam, weil diese Macht, der gehorcht werden muß, al Muti, mich kommen hieß. Diese Macht steckt in uns allen. Aber um diese Macht hören und ihr gehorchen zu können, müssen wir alle sichtbaren und denkbaren Dinge beiseite stellen.

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Wortverzeichnis

abdal: Die vierzig Heiligen: Sie handeln in direktem Auftrag des qutb (Achse, Pol) der betreffenden Zeit, als "Stellvertreter" für Heilige. Sie lenken auf verschiedene Weise die Bestim­ mung der Welt. S. 90. Abdul Qadir Gilani: Der geistige Gründer und pir des Qadiri Dervischordens und einer der größten und mächtigsten Mystiker aller Zeiten (man nannte in gauth ela'zam'). Sein Grab befindet sich in Bagdad. S. 74. Abu Bakr: Der engste Freund des Propheten, er war der erste Kalif, von 632 bis 634 n. Chr. S. 102. 'alemi edjsam: Die Welt (das Universum) der Körper. S. 50, 103,105. 'alemi envah: Die Welt (das Universum) der Geister (Geistwe­ sen). S. 36,58,62,104,105,129,133. 'alemi imkan: Die Welt (das Universum) der Möglichkeiten. S. 50,59, 106. 'alemijebberut: Die Welt (das Universum) des Zwanges. S. 36. 'alemi nebati: Die Welt (das Universum) der Vegetation. S. 36. Ali: Der vierte Kalif, er regierte 4 Jahre und 9 Monate, während einer sehr unruhigen Zeit. Er war der Vetter und Schwie­ gersohn des Propheten und ist bei gewissen Sufis als "Das Tor zum Wissen" bekannt. S. 102. Allah: Gott: Die Summe aller göttlichen Namen. S. 58, 134. ana'lhaqq: "Ich bin die Wahrheit". Siehe Hallaj. S. 116. arupa loka (skr.): Die formlose Welt. S. 103.

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Aurobindo: Siehe: Sri Aurobindo, The Story of His Life, (Die Geschichte seines Lebens) herausgegeben vom Sri Auro­ bindo Ashram, Pondicherry, Indien. S. 132. a'yan al thabita: Unwandelbare Möglichkeiten. S. 51 f. Siehe: The Wisdom of the Prophets (Die Weisheit der Propheten) von Ibn 'Arabi - Beshara Publications. Baha ud-din Naqshbarid: Der geistige Gründer und pir des Naqshebandi-Dervischordens, ein eher strenger, aber sehr großer Orden (tariqa), welcher viele Zweige und Seitenli­ nien hat. S.77,111,112, 113. baqa: Dauerhaft, immerwährend. S. 47, 59, 60, 131. baraqah: Segen, geistiger Einfluß. S. 86 ff. Berg Hira: Ein Berg in der Nähe von Mekka, wohin der Prophet Mohammed in jungen Jahren ging zur Meditation und spiri­ tuellen Einkehr. S. 73. bismillah er rahman er rahim: Im Namen Gottes, des Gnädi­ gen, des Barmherzigen. S. 61. Böhme, Jakob: (1575-1624) Ein deutscher Mystiker, der zugleich die Transzendenz und die Immanenz Gottes ver­ trat. Seine Werke wurden von der Kirche als ketzerisch ver­ urteilt. S. 123. Bruno, Giordano: Ein italienischer Mystiker, wurde während der Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt. S. 12, chakra: (skr.) Ein "Energiezentrum" des psychischen Körpers. S. 77. Derwisch: Ein armer Mann, demütig, bescheidenen Geistes. Auch ein Mitglied eines der esoterischen Orden, die inner­ halb der islamischen Tradition wirken. S. 64. Dionysius: (Pseudo-Dionysius). Seine Schriften, die nach neu­ esten Forschungen um 800 n. Chr. von einem Abt Hilduin in seinem Namen geschrieben wurden und sich auf neopla­ tonische Denker wie Proklos stützen, wurde sehr wichtig für die Theologie und Spiritualität der östlichen Orthodoxie und des westlichen Katholizismus. S. 103. Dschinn: Wesen von nicht-menschlicher Substanz, die auf der gleichen Ebene wie das menschliche Leben existieren und die sowohl gute wie schlechte Eigenschaften haben. S. 43, 104. 137

Eckhart, Meister (1260-1327): Ein deutscher Philosoph und Mystiker. S. 123. fana: Auflösung, Unbeständigkeit. S. 47, 59, 60, 131. fana-i-afal: Auflösung von Wirkungen. S. 58 f. fana-i-ahkam: Auflösung von Attributen, Eigenschaften. S. 60. fana-i-dhat: Auflösung von Essenzen. S. 58, 132. fana-i-sifat: Auflösung von Qualitäten. S. 58. Gilani: Siehe Abdul Qadir Gilani (auch Dschilani geschrieben). Gita: Bhagavad Gita: Das heilige Buch der Hindus aus dem 4. Jh. v. Chr. S. 59. Gudschduwani, Abdulhalik: Einer der größten Scheichs des Haja Gan (Hadschegan), der qutb seiner Zeit; er war so mächtig, daß schon gesagt wurde, daß, wenn er zur Zeit AlHalladschs gelebt hätte, dieser nicht "ana'l haqq" (ich bin die Wahrheit) hätte sagen müssen. S. 112. Gurdjieff, Georgel. (1866-1949): Geistiger Lehrer Bennetts, siehe Martin, Bruno: Handbuch der spirituellen Wege, Basel 1993. hadith: Aussagen, Überlieferungen (des Propheten). S. 39, 44, 47,49, 112. Haja Gän {Hadschegan): Eine Schule von sufi-'arafm' (Mei­ ster) aus dem 11. Jh., die ihr Zentrum in der Bokhara-Region hatten, als "die Meister der Weisheit" bekannt. S. 8, auch: J.G. Bennett, Die Meister der Weisheit, erschienen in der Reihe "Klassiker der Esoterik", Südergellersen 1993. halka: Der "Kreis der Freunde", wie in Sufi-Zeremonien. S. 77. Halladsch, AI: Der große Mystiker, der 921 n. Chr. gekreuzigt wurde, weil er sagte "Ana'l Haqq" (ich bin die Wahrheit). S.116. haqq (haqiqah): Die Wahrheit. S. 111, 116. Hu: Der Erste Laut oder die Verkündigung des Wahrhaftigen Seienden. S. 58, 59, 106, 126 ff. 134. Husam al-Din: Der erste Führer der Anhänger Jelaluddin Rumis nach dessen Tod. S. 112. huwiyet: Die Essenz. S. 59, 132. Iblis: Der Teufel. S. 104. Ibn 'Arabi, Scheich Muhyi-d-Din: Der Mystiker des 12. Jahr­ hunderts, bekannt als "Der Pol (qutb) des Wissens", und "Der größte Scheich". S. 12, 51, 60, 63, 107. 138

insan: Mensch. S. 37. ism-i-azam: Der Höchste Name. S. 58. istigraq: Ertrinken, Vereinigung. S. 130. jebberut: Wirkende Kraft. S. 97, 100, 106, 127, 130, 131, 133. khalifah: Nachfolger, Vizeregent. S. 111. khayal: Dem Bereich der Imagination, der Ideen, Konzepte, Erscheinungen, Schatten zugehörig. S. 40. Khidr: Der "ewige Führer" in Verbindung gebracht mit Elia; in anderen Traditionen manchmal "Der grüne Mann" genannt. S. 63, 64, 98 ff. Magi: Männer der Weisheit, Weise. Mitglieder der alten Persi­ schen Priester-Kaste. S. 107. mantram (mantra): (skr.) Eine kraftgeladene Silbe oder Folgen von Silben, die bestimmten kosmischen Kräften und Aspek­ ten der göttlichen Kräfte Ausdruck gibt (gebräuchlich im Hinduismus und Buddhismus). Die Sufi-Formeln, die im dhikr (zikr) gebraucht werden, können ebenfalls als Mantras bezeichnet werden. S. 62. Masnawi: Von Jelaluddin Rumi. Sein Buch mystischer Poesie, bestehend aus 30.000 Reimpaaren (Übersetzung und Kom' mentar von R.A. Nicholson). S. 117. melekut: Engelhafte Wesen. S. 99, 100, 130. Mevlevi: Bekannt als die "wirbelnden" oder "tanzenden" Der­ wische. Die Anhänger von Mevlana - Jelaluddin Rumi. S. 77,90, 117, 123. Mohammedel-Amin: Der Prophet Mohammed, 'el-amm'-s. der Vertrauensvolle. S. 73. mutassarifal zaman: Der Ausführende des göttlichen Willens in jener Zeit. Ihm sind Gruppen von Menschen unterstellt, beauftragt, den göttlichen Willen auszuführen. S. 90. muti-al-muti: Der Gehorsame. S. 135. mutma'm: Gelassen, still, Seelenruhe. S. 40. nafs ammara: Befehlende Seele. S. 87, 92, 93, 96. namaz: (sabath m arabisch), Gebete, Andacht, Anbetungen. S. 44. Naqshbandi: Ein Derwischorden. Nachfolger von Mohammed Bahaeddin Naqsheband. S. 77, 111. nasut: Menschlicher Aspekt, Form. S. 97, 100, 127. 139

Nadschmaddin Kubra: Der spirituelle Gründer und pir des Kubrawi-Derwischordens im Iran im 12. Jh. S. 126. Ninive: Die ehemalige Hauptstadt des assyrischen Reiches. S. 88. nirvana (skr.): Ein buddhistischer Begriff, der wörtlich "Verlö­ schen" oder Erlöschen bedeutet. Ein Zustand der Befreiung oder Erleuchtung, gekennzeichnet durch das Aufgehen des individuellen vergänglichen Ich im Transzendenten. Man fin­ det ihn auch in der Vedanta, wo er die Vereinigung mit Brahman zum Ausdruck bringt. S. 106. Pali: Pali ist die heilige Sprache der Buddhisten des Südens. S. 104 pir: Spirituelles Oberhaupt, Meister. Siehe Gilani. Pitakas (wörtlich: Körbe), wovon es drei gibt, die die Lehren des frühen Buddhismus enthalten. S. 104. qutb: Der als vollkommener Vizeregent Gottes Handelnde, des­ sen Identität niemals offenbart wird. S. 90. qutb alzaman: Der "Pol" der Zeit. S. 90. ruh: Geist. S. 36, 93. 96, 104, 129. ruhani: Den Geist betreffend. S. 93. Rumi, Jelaluddin: Der Dichter und Mystiker und pir des Mevlevi-Derwischordens, bekannt als "Der Pol (Qutb) der Liebe". S. 90, 117, 123. rupa loka (skr.): Die Welt der Formen. S. 103. salik: Der Suchende. S. 53. Scheich: Ein Mann von spiritueller Autorität und ein Lehrer {pir). S. 77. Shamzi Tabriz: Die "Sonne von Tabriz", ein geheimnisvoller Derwisch aus Persien, der Jelaluddin Rumi in Konya inspi­ rierte und lehrte. S. 90. shari'ah: Das formelle religiöse Dogma des Islam. S. 102. Shivapuri Baba: Ein indischer Weiser, beschrieben in "Eine lange Pilgerreise" (Long Pilgrimage) von J. G.Bennett, Süder­ gellersen 1985. Shivapuri Baba wurde über 130 Jahre alt. S. 65. sohbat: Gemeinschaft, Nutzen ziehend aus dem Zusammensein mit ändern. S. 97. sura (surat): Kapitel, Bild oder ein spezieller Abschnitt (wie im Koran). S. 43. 140

sushupti: In der hinduistischen Philosophie die Stufe vor der vollständigen Vereinigung. S. 62, 114. tahbib: (Abgeleitet vom arabischen hüb, das Liebe bedeutet), die Kraft der Anziehung, die die Liebe (zu Gott) zuläßt und bestärkt. S. 39. Tao (Dao): Weg oder Lehre, das allumfassende erste Prinzip. Taoismus - eine chinesische Philosophie und Religion, S. 56. taslim: Hingabe. S. 59, 63. tawakkul: Vertrauen auf Gott. S. 63, 64. Theravada: Buddhismus der Nikayas, die Buddhisten des Südens, deren Weg auf den Pali Pitakas beruht. S. 115. Vogelgespräche (Conference of the Birds): Ein allegorisches, mystisches Buch von Farid ud-din Attar geschrieben. S. 47. wakil: Beschützer, Vermittler. S. 61, 64. wali: Heiliger. S. 95. wiswas: Teuflischer Vorschlag, Versuchung durch den Teufel. S. 43. Ya: Wort des Ausrufs. S. 134. Yezidis: Die Anhänger von Yezid, eine religiöse Gruppierung, deren Anhänger hauptsächlich noch in Kurdistan leben. S. 88. Yoga (skr.): Wörtlich "Vereinigung" oder "Joch". Eine Lehre der indischen Philosophie, ein System von Übungen, S. 59. Yogi: Jemand, der Yoga praktiziert. S. 59. Yugas (skr.): Die vier Zeitalter oder Epochen der Evolution. S. 125. zikr (dhikr): Ein andächtiges Gotteserinnem, indem die Göttli­ chen Namen wiederholt werden. Eine rituelle Übung, wesentlich in allen Derwischorden und ihnen allen gemein­ sam. S.57,58. Zoroastrier: Die Anhänger der Religion von Zoroaster (Zara­ thustra). S. 39, 107.

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Mit seiner universalen Vision fühlte sich John G. Bennett mit allen spirituellen Leh­ ren und Menschen zu Hause und begrenzte sich nie auf einen einzigen Ausdruck der Vielfalt der Wege. Dieser Standpunkt der Liebe und des Mitgefühls für alle Dinge und Lebewesen ist der Standpunkt des wahren Wissens, denn in dieser Vision ist die ganze Schöpfung in Einer Einzigartigen Wirklich­ keit enthalten. Diese Schau der Wirklichkeit ist beispielhaft für jeden, der eine vereinte Welt sucht, die ihres Geschickes bewußt ist und auf geistigen Werten und nicht auf persönlichen Begier­ den gegründet ist. Die Vorträge dieses Bu­ ches zeigen die höchste universale Weisheit der Lehre der Sufis ohne dogmatische Be­ schränkung. Sie vermitteln das Herz der spi­ rituellen Wirklichkeit, die von allen großen Weisen der Welt gelehrt wird.