Der Gefangene als Phantom: Anordnungen des Verschwindenmachens in Literatur und Medien 9783839440230

Stephanie Siewert explores the creation of phantom identities in literary and medial arrangements of captivity.

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German Pages 302 Year 2017

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Der Gefangene als Phantom: Anordnungen des Verschwindenmachens in Literatur und Medien
 9783839440230

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Siglenverzeichnis
1. Phantom Zone
2. Forschungsstand
3. Käfige der Moderne: Brontë, Melville, Mirbeau, Conrad, Kafka
4. Archipel Europa: Sartre, Camus, Semprún
5. Unsichtbare Männer: Invisible Man und The Wire
6. Phantome des Terrors: Abu Ghraib, Homeland und Zero Dark Thirty
7. Schlussbetrachtungen
8. Literatur

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Stephanie Siewert Der Gefangene als Phantom

Band 20

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Marie-Luise Angerer, Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Stephanie Siewert lehrt Anglistik und Amerikanistik an der Universität Stuttgart mit dem Schwerpunkt Postkoloniale Studien. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin promovierte an der Universität Potsdam am Institut für Künste und Medien. Sie forscht u.a. zu transnationalen Poetiken und kulturellen Formen des Widerstands in Westeuropa und den USA.

Stephanie Siewert

Der Gefangene als Phantom Anordnungen des Verschwindenmachens in Literatur und Medien

Dissertation an der Universität Potsdam, 2015. Erstgutachterin: Prof. Dr. Gertrud Lehnert Zweitgutachter: Prof. Dr. Marc Priewe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: yahyaikiz / Fotolia Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4023-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4023-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagung

7

Siglenverzeichnis

9

1. Phantom Zone

13

2. Forschungsstand

35

3. Käfige der Moderne: Brontë, Melville, Mirbeau, Conrad, Kafka

51

3.1 Gefangenschaft als Narration des Anderen

52

3.1.1 »A wild beast’s den«: Bürgerliche Gefangene

53

3.1.2 Räder im Getriebe: Der Gefangene als Lohnsklave

61

3.1.3 Die Kolonie: Spiegelraum westlicher Dekadenz

65

3.2 Das moderne Welt-System als Strafkolonie

72

3.2.1 Die Strafkolonie: Markierungen des Globalen

82

3.2.2 Der Verurteilte als Platzhalter des Subalternen

91

3.2.3 Eine neue Wärterfigur: der Forschungsreisende

96

3.2.4 Der arretierte Sprung in die Freiheit

98

4. Archipel Europa: Sartre, Camus, Semprún

103

4.1 Die Gefangenen der littérature engagée

106

4.1.1 »Le Renégat ou un esprit confus«: (Post-)koloniale Ordnungswut

110

4.1.2 Les Prisonniers: Allegorie der leblosen Gesellschaft

122

4.1.3 Gefangenschaft als Freiheit: eine absurde Idee

127

4.2 Stellvertreter des Phantoms

135

4.2.1 Le grand voyage: Topologien des Lagers

137

4.2.2 Quel beau dimanche! – Phantome des Anderen

146

5.Unsichtbare Männer: Invisible Man und The Wire 5.1 Gefangenschaft als mise en abyme

155 158

5.1.1 Institutionen der Gefangenschaft: Fabrik, Bruderschaft, Ghetto

167

5.1.2 Prison heureuse: Freiheit des Bewusstseins

171

5.2 Gefangenschaft als Spiel

175

5.2.1 Das Spiel als bannende Struktur

179

5.2.2 Carceral Mash: Ghetto, Überwachung, Gefängnis, Reform

184

5.2.3 Medien-Phantome

194

5.2.4 Epiphanien der Freiheit

200

6.Phantome des Terrors: Abu Ghraib, Homeland und Zero Dark Thirty

203

6.1 Private Lynch: Opfer oder Wärterin der homeland-Fiktion?

210

6.2 Torture Chicks und Hooded Man

214

6.3 Amerikanische Gefangene – Muslimische Phantome

225

6.4 Gefangenschaft als symbolische Re-Territorialisierung

233

6.4.1 Der Killer aus Washington

234

6.4.2 Der Gefangene als mythobiotische Chiffre

239

7. Schlussbetrachtungen

251

7.1 Markierungen

251

7.2 Perspektiven

259

8. Literatur

265

Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich bei Prof. Dr. Gertrud Lehnert und Prof. Dr. Marc Priewe für die Betreuung der Dissertation bedanken. Sie brachten viel Verständnis für die akademischen und persönlichen Herausforderungen auf dem Weg zur Promotion auf und haben mich jederzeit mit ihrem wertvollen Rat unterstützt. Sie vermittelten mir das Rüstzeug der wissenschaftlichen Arbeit und ermutigten mich stets meinen Interessen zu folgen. Mein Dank gilt auch der Studienstiftung des deutschen Volkes, deren Förderung mir neue Horizonte eröffnet hat. Meine Professoren in der Komparatistik und Amerikanistik in Deutschland und den USA, besonders Prof. Dr. Rüdiger Kunow (Universität Potsdam) und Prof. Dr. Timothy Brennan (University of Minnesota) haben die kritische Perspektive meiner wissenschaftlichen Ausrichtung maßgeblich mitgeprägt. Ohne meine Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen, die die emotionalen Achterbahnfahrten ertrugen und darüber hinaus die Welt jenseits der Promotion in Balance hielten, wäre ein Projekt wie dieses nicht möglich gewesen. Ich hatte das Glück mit meinen Wegbegleiterinnen zugleich auch die besten Kritikerinnen zu haben. Björn Blaß, Antonia Mehnert, Veronika Hofstätter, Nina Jürgens, Katrin Riedel und Stefan Noack haben mit ihren klugen Hinweisen zum Gelingen der Arbeit beigetragen. An dieser Stelle sei auch Judith Coffey gedankt, deren Ratschläge zur Formatierung des Manuskripts sehr hilfreich waren. Meine Familie hat immer an die Notwendigkeit und Machbarkeit des Projekts geglaubt, ohne im Detail zu wissen wohin die Reise ging. Ihr Rückhalt war und ist unermesslich. Dabei dürfen zwei Menschen, die mich auf besondere Weise unterstützt haben, nicht unerwähnt bleiben: meine Großeltern. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

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Siglenverzeichnis JE BS

Charlotte Brontë, Jane Eyre [1847]. Herman Melville, »Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall Street« [1853]. TM Herman Melville, »The Bachelors Paradise and The Tartaros of Maids« [1855]. JS Octave Mirbeau, Le Jardin des supplices. [1899]. HD Joseph Conrad, Heart of Darkness [1899]. SK Franz Kafka, »In der Strafkolonie« [1919]. LE Albert Camus, L’Étranger [1942]. LP Albert Camus, La Peste [1947]. LC Albert Camus, La Chute [1956]. LR Albert Camus, »Le Renégat ou un esprit confus« [1957]. HC Jean-Paul Sartre, Huis clos [1945]. IM Ralph Ellison, Invisible Man [1952]. GV Jorge Semprún, Le grand voyage [1963]. QBD Jorge Semprún, Quel beau dimanche! [1980]. EV Jorge Semprún, L’Écriture ou la vie [1994].

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Zwischen Tür und Angel will ich euch prophezeien: die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir alle können uns noch die Finger dabei verbrennen. (Georg Büchner, Dantons Tod, 1980 [1835], 11)

1. Phantom Zone In Atom Man vs. Superman, einer 1950 im U.S.-amerikanischen Fernsehen ausgestrahlten 15-teiligen Miniserie, liefert sich Superman, einer der bekanntesten Superhelden des 20. Jahrhunderts, einen Zweikampf mit seinem erklärten Erzfeind, dem Fernsehmogul und genialischen Bösewicht Lex Luthor. Im Showdown der Serie wird die bereits 1933 von Joe Shuster und Jerry Siegel geschaffene Kunstfigur Superman von Luthor über ein Teleportationsgerät in den empty doom verbannt, eine Geisterzone, die den Helden seiner Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten beraubt. Jener Ort der »leeren Verdammung« wurde ab der Adventure Comics Ausgabe 283 (April 1961) unter dem Namen phantom zone bekannt.1 Auch wenn sich die Darstellungen der phantom zone über die Jahre verändert haben,2 so sind viele Komponenten des Ursprungsmythos erhalten geblieben: Die Zone ist eine Gefängnis-Dimension, die vom Urgeist Aethyr geschaffen und von Supermans Vater Jor-El als Alternative zur Todesstrafe genutzt wurde, um die Feinde und Unruhestifter von Supermans Heimatplanet Krypton an einem sicheren Ort zu verwahren. Eingeschlossen in einer unfruchtbaren, kargen Gegend, können die Gefangenen die Welt außerhalb sehen, jedoch nicht auf sie einwirken. Sie sind zur sozialen Stasis und einer schattenhaften Daseinsform verdammt.3 Die Entwicklung der phantom zone im Superman-Comic korrespondiert mit dem Siegeszug von Fernsehen und Kino als Massenkultur, dem Aufstieg des amerikanischen Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg und der Atmosphäre des Kalten Krieges. In den 60er Jahre tritt Superman als ein starker Held auf, der einer allgemeinen außenpolitischen Verunsi_______ 1

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3

Die erste Comic-Variante der phantom zone entwarfen Robert Bernstein (Text) und George Papp (Bild) für die Geschichte »Phantom Superboy!« (April 1961, #283). Die Zone taucht in der Fan-Periodisierung des Silbernen Zeitalters der U.S.-Comics (1956 bis ca. 1970) eher sporadisch auf und wird ab 1985/86 (der Post-Crisis Era) im Zuge der Erneuerung der Superman-Reihe zum festen Bestandteil des Superman-Universums. Kurz vor dem Umbau, der vor allem die Handlung und die Gestaltung ehemaliger Figuren des Comics betraf, erschien 1982 eine vierteilige Reihe unter dem Titel Phantom Zone. Im Jahr 2009 veröffentlichte DC Comics eine Kompilation der besten Phantom-Geschichten. Für weitere Informationen, siehe den Eintrag »Phantom Zone« sowie die Beschreibung der Schurken im Verzeichnis Who's Who: The Definitive Directory of the DC Universe (1986). Dazu auch den Abschnitt »History« in Superman: Tales From the Phantom Zone (2009, 142f.).

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Der Gefangene als Phantom

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cherung eine quasi omnipotente und regulative Macht entgegensetzt4 und zum Verteidiger konservativer Werte wird. Als Samsons und Moses’ Erbe (Howard 2005, 5) war Superman zugleich ein durch und durch moderner Held. Er war »faster than a speeding bullet, more powerful than a locomotive, able to leap tall buildings in a single bound«.5 Im Takt der Fortschrittsideologie kämpfte er für »truth, justice, and the American way«. Die von Superman verkörperte Konformität der weißen Mittelklasse wurde in den 1960er Jahren durch die Bürgerrechtsbewegungen und den Kalten Krieg erschüttert. So scheint es nicht verwunderlich, dass die Geschichten der phantom zone von rebellischen Subjekten bevölkert sind, die in ihrer Charakterisierung an die außenpolitische Bedrohung durch die UdSSR und die zivilen Proteste erinnern: der aufständische Superschurke General Zod, der die Regierung Kryptons gewaltsam stürzen will, Jax-Ur, ein Ingenieur und Raketenphysiker, der einen nuklearen Sprengkopf im All zündet und damit einen bewohnten Mond zerstört (Adventure Comics 1961, #289) und die männerhassende Schurkin Faora, die 1977, zu Hochzeiten der zweiten Welle der Frauenbewegung, die Bühne betritt (Actions Comics, #471). Auf soziokultureller Ebene verhandelt die Darstellung der phantom zone nationale und globale Krisen und bietet seit ihrer Erfindung eine Antwort auf den Umgang mit dem bedrohlichen Anderen. Die Zone basiert sowohl in Design und Ausstattung als auch in der Figurencharakterisierung auf vorgängigen Modellen und wird jedem neuen realhistorischen Spielfeld angepasst. Die Phantome sind in der von Raum und Zeit losgelösten, mythischen Dimension gefangen, sie altern nicht und sind so für die Suche des Helden konserviert. Sie erscheinen, um immer wieder aufs Neue zu verschwinden. Als Konstituens der Narration der Gemeinschaft beschützt Superman (die Wärterfigur), an dessen (fast) unzerstörbarem Körper die Geschichte keine Narben hinterlässt, die Nation und die Welt vor ihnen. Die Überführung der Gefangenen durch diverse Projektionsapparate ist zugleich ein selbstreferentieller Verweis auf die diskursbildende Kraft der Medien. Die phantom zone ist damit nicht nur Ausdruck gesellschaftlicher Raumbilder, sondern zugleich eine autopoetische Metapher für die kinematographischen und televisuellen Medien und ihre Bedeutung für das soziale Imaginäre in der Spätmoderne. _______ 4

5

Jener ur-amerikanische Held weist in vielerlei Hinsicht über seine Zeit hinaus: Sein Röntgenblick durchdringt die Winkel der Welt, eine Fähigkeit, die den Nomos des neuen amerikanischen Imperialismus und die Macht heutiger Geheimdienste vorwegnimmt. Supermans größte Angst ist neben dem Verlust seiner Kräfte die Aufdeckung seiner geheimen Identität. Dieser Ausspruch geht zurück auf Jay Mortons Einspieler in der von Februar 1940 bis März 1951 gesendeten U.S.-amerikanischen Radioreihe Superman on Radio (McLellan 2003).

Phantom Zone

Als ästhetische Konzeption, die zugleich den epistemologischen Leitbegriff der vorliegenden Arbeit darstellt, inszeniert die Phantom Zone6 ein Gesellschaftsbild der Zeit. Sie bezeichnet ein sprachlich und audiovisuell gefasstes Gebilde, dessen symbolische Funktion über eine bestimmte Figurenkonstellation und -handlung sowie spezielle Architekturen und deren Mobilisierung erzählt wird und dabei auf eine übergeordnete bannende Struktur verweist. Unter Annahme des reziproken Verhältnisses von Kunst und sozialer Realität verhandelt sie soziale als auch kulturell-geographische Codierungen der Ein- bzw. Ausgrenzung und legt gleichwohl transnationale und transhistorische Permanenzen in der Produktion prekärer Subjetpositionen frei. Der erzählte Raum der Gefangenschaft entsteht im Wechselspiel von semiotischen und performativen Elementen. Markierung und Inszenierung bilden eine dialektische Fassung.7 Gefangenschaft, eine über soziale Hierarchien und kulturelle Hegemonien hergestellte Ordnung, wird in den Anordnungen der Literatur und den visuellen Medien sichtbar gemacht, (re-)produziert und/oder unterlaufen. Denn, so betont Martina Löw, »Räume sind […] institutionalisierte Figurationen auf symbolischer und – das ist das Besondere – auf materieller Basis, die das soziale Leben formen und die im kulturellen Prozess hervorgebracht werden« (2004, 46). Literatur, Fotografie, Film und Fernsehen sind Teil der »machpolitisch besetzten (An)Ordnungsstrukturen« (2004, 47), die immer gerichtet und durch Strukturprinzipien wie Geschlecht, Klasse oder Ethnizität bestimmt sind. Die hier verhandelten kulturellen Äußerungen der Gefangenschaft lassen sich als Ausdruck sozialer Raumbilder verstehen, die sich über die jeweiligen (Un-)Möglichkeiten der sozialen Teilhabe manifestieren.8 Dergestalt gibt der erzählte Raum Auskunft über Aushandlungsprozesse moderner westlicher Gesellschaften. _______ 6 7

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Im Folgenden wird der Begriff phantom zone nicht mehr kursiviert, um die Abgrenzung zu den Superman-Comics deutlich zu machen. Die Modellierungen in Literatur, Film und Fernsehen stellen kein Abbild von Realität dar. Der erzählte Raum der Gefangenschaft entsteht über komplexe Rückkopplungsprozesse zwischen historischer Realität und Imagination. Hier lassen sich Ralf Klausnitzers Beobachtungen über das Wissen der Literatur auch auf andere Medien übertragen: »Auch literarische Texte sind keine ›Container‹ vorgängig gewonnener Einsichten oder Kenntnisse; sie erscheinen und wirken vielmehr als besondere Realisierungen von Sprache [...]. In symbolischer Weise sprechen sie Abwesendes aus, machen Unsichtbares sichtbar und erlauben so Beobachtungen, die anderen Perspektiven verschlossen bleiben.« (2008, VII) Die Arbeit greift auf ein dynamisches Raumverständnis zurück, wie es u.a. von Henry Lefebvre formuliert wurde. In La reproduction de l’espace (1974) hat Lefebvre den sozialen Raum jenseits essentialistischer Modelle als ein von Menschen produziertes und durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse bestimmtes Konstrukt betrachtet. Er wird durch die Raumpraxis, Strategien der Raumaneignung und Interaktion, seine Raumreprä-

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Der Gefangene als Phantom

Die Gestalt der Phantom Zone ist nicht a priori durch Architekturen festgelegt, sondern durch verschiedenartige Kräfte und den Gegenstand der Bannung bestimmt. Sie ist in ihrer Form wandelbar. Der Ort tritt dabei zum übergeordneten Raum in ein Abhängigkeitsverhältnis, wird jedoch nicht mit ihm gleichgesetzt. Die Phantom Zone verweist nicht ausschließlich und direkt auf eine historische Institution, wie den Kerker, das Gefängnis, das Lager oder die Strafkolonie. Vielmehr ist der Ort Teil einer Matrix, die über spezifische »Lokalisierungstechniken« (Pfister 2001, 350358)9 mal mehr, mal weniger im realen historischen Raum verortet wird. Innerhalb der literarischen Modellierung von Wirklichkeit werden bestimmte Subjektpositionen akzentuiert und andere negiert, um bestimmte hegemoniale Ansprüche und Interessen durchzusetzen oder erst zu implementieren. Die Unterscheidung zwischen Ort und Raum folgt den Annahmen Michel de Certeaus, wonach der Ort »eine Ordnung« ist, »[...] nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden, [...] eine momentane Konstellation von festen Punkten« (1988, 217). Er entspricht demnach den Architekturen und physischen Begrenzungen der Gefangenschaft. Der Raum hingegen wird bestimmt durch »Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und [der] Variabilität der Zeit« (de Certeau 1988, 218). Er ist »ein Geflecht von beweglichen Elementen« (ibid.), den Raumhandlungen und -bewegungen, die bestimmte Subjektpositionen wie Wärter und Gefangener definieren. Demnach ist der Raum ein Ort, »mit dem man etwas macht« (ibid.). Diese Dynamik ist als reziprok zu verstehen, da die Architekturen des Ortes an der Perpetuierung bannender Strukturen und der identitären Verortung der Akteure beteiligt sind. Die Hinwendung zu einem produktiven und dynamischen Raumverständnis prägt nicht nur die _______

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sentationen und Repräsentationsräume definiert. Besonders in den letzten Bereich fallen Kunst und Literatur, die nach Lefebvre den Raum durch Bilder und Symbole vermitteln. Im dialektische Verhältnis von Wahrgenommenem, Konzipiertem und Gelebtem entsteht die Wirklichkeit des Raumes. Von Lefebvre unglücklich als zweitrangige Struktur begriffen, die sich die physisch-materielle Welt lediglich aneignet, sind die kulturellen Äußerungen vielmehr Teil der sozialen Raumpraxis, denn sie formen, im Fall der Gefangenschaft, das Historisch-Imaginäre und somit die Wahrnehmung und kontinuierliche gesellschaftliche (Re-)Produktion von Phantom-Identitäten und ihren Verwahrungsorten. Pfisters Beobachtungen zu den Beschreibungstechniken des Raumes im Drama sind richtungsweisend für die Literatur im Allgemeinen und lassen sich„zu weiten Teilen auf die Beschreibung anderer Textarten übertragen“ (Anz 2013, 121). So erscheint der Raum durch die Figurenrede (Wortkulisse, die den evozierten Raum und Seelenzustand der Figur wiedergibt) und die konkrete Benennung des Raumes durch den Autor bzw. den Erzähler (Nebentext). Sowohl die Literatur als auch der Film greifen darüber hinaus auf Aspekte der Theatralität und Inszenierung zurück.

Phantom Zone

Methodologie dieser Arbeit, sondern bietet zugleich ein kritisches Denkmodell. So unternimmt die Arbeit im Kontext literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung eine Dekonstruktion des Ortes, d.h. eine prinzipielle Kritik an essentialistischen Verortungsmodellen, die den sozialen Raum unveränderlich als Milieu oder aus literaturwissenschaftlicher Perspektive als reinen Schauplatz oder Kulisse begreifen. Im Folgenden geht es um die Einrichtungen des erzählten Raumes der Gefangenschaft und – ganz speziell – die Produktion eines bestimmten Inferioritätsaxioms,10 das sich oft mit dem Gefangenen verbindet.11 Diese Position wird nachfolgend als Phantom gefasst und beschreibt das Resultat einer »De-Realisierung« (Butler 2006, 33), in der der Andere stimm- und namenlos zurückbleibt. Der Andere wird aus dem Zustand des Unfassbaren und Nicht-Kontrollierbaren in dienstbare Abhängigkeit zum Selbst installiert. Diese Beziehung ist über den Moment der Alterität hinaus durch Formen der physischen und epistemischen Gewalt geprägt. Das Phantom beschreibt die Position des außerhalb der westlich rationalistisch-fortschrittlichen Norm Stehenden, welches sich historisch und kulturell unterschiedlich konfiguriert und über Gestalten und Grade der (Un-)Sichtbarkeit beschreiben lässt. In seiner Erscheinung perpetuiert sich ein Begehren der Gemeinschaft und des Individuums nach Zugehörigkeit und Distinktion. In Abgrenzung zu psychanalytischen Deutungen und konkret zu Nicolas Abrahams und Maria Toroks Begriffsprägung, ist hier kein psychologischer Mechanismus beschrieben (1994).12 Das Phantom ist zudem von an_______ 10

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Der Literaturwissenschaftler Herbert Uerlings hat den Begriff des »ethnisierenden Inferioritätsaxioms« zur Beschreibung des kolonialen Diskurses geprägt. Er erklärt den Begriff wie folgt: »Zwei als ethnisch different definierte Einheiten werden zueinander in eine für unzweifelbar gehaltene Ungleichheitsbeziehung gebracht. Daraus ergibt sich die charakteristische binäre Opposition zwischen ›Kolonialisierten‹ und ›Kolonialisatoren‹.« (2006, 5f.) Uehrlings betont, dass jenes Axiom verschiedene Gruppen betrifft und in ihrer Darstellung und Wahrnehmung verbindet (z.B. Migranten und Juden). Der Begriff des »Inferioritätsaxioms« soll hier fruchtbar gemacht werden, allerdings nicht als ein auf den als ethnisch markierten Anderen beschränktes Phänomen, sondern in Hinblick auf die Intersektionalität von Ethnie, Klasse und Geschlecht in den literarischen und visuellen Darstellungen des Phantoms, in denen sich Zentrum und Peripherie, nationale und internationale, außen- und innenpolitische Diskurse verbinden. Identitäten sind nicht essentiell zu fassen, da sie sich in der Interaktion, in der Raumhandlung und in vielfältigen biographischen und sozialen Kontexten (immer wieder neu) formieren und vollziehen (können). Sie sind folglich sozial konstruiert und – dies ist zentral – innerhalb der materiellen Bedingungen und deren Möglichkeiten festgelegt als auch veränderbar. In Abrahams und Toroks psychoanalytischer Fassung des Begriffs »Phantom« geht es vor allem um intergenerationelle Verdrängung. Nach Torok

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Der Gefangene als Phantom

deren ästhetischen Konzepten, wie dem Geist oder dem Gespenst zu unterscheiden.13 Es ist an einen realen Körper gebunden, an eine diskursivontologische Position innerhalb der Erzählung der Gemeinschaft, die in literarischen und visuellen Anordnungen, durch erzählerische und ästhetische Mittel figuriert wird. Hier greift die Arbeit den zunächst von Karl Marx und später von Jacques Derrida beschriebenen »Phantom-Effekt«14 auf und macht ihn für die Darstellung prekärer Identitäten fruchtbar. Nach _______

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ist das Phantom weniger das Produkt einer subjektiven Trauer über den Verlust eines geliebten Objekts bzw. die Wiederkehr einer verdrängten Schuld, sondern die Bürde einer unabgeschlossenen traumatischen Situation, die an die nächste Generation bzw. den Anderen weitergegeben wird: »The phantom is [...] also a metapsychological fact: what haunts are not the dead, but the gaps left within us by the secrets of others.« (1994, 171) Präziser gefasst: »The presence of the phantom indicates the effects on the descendants, of something that had inflicted narcissistic injury or even catastrophe on the parents.« (1994, 174) Zur Anwendung der psychoanalytischen Formel von Abraham und Torok auf literarische Texte siehe auch Phantom Images. The Figure of the Ghost in the Work of Christa Wolf and Irina Liebmann (2013) von Catherine Smale. Gespenster treten in der freudianischen Deutung vor allem als Erscheinungen des Unbewussten auf. Als ästhetische Strukturen, z.B. in der romantischen Literatur und der Schauerliteratur, verweisen sie auf eine Form der Alterität und einen Moment bzw. eine Situation in der Vergangenheit. Theoretische Abhandlung zu Geistern und Gespenstern liefern Immanuel Kant in Träume eines Geistersehers (1766), Karl Marx’ epochales Gespenst des Kommunismus im Kommunistischen Manifest (1848) sowie seine Wiederkehr in Jacques Derridas Marx’ Gespenster (1994). Im Sammelband Gespenster: Erscheinungen, Medien, Theorien (2005) von Baßler, Gruber und Wagner-Engelhaff ist das Gespenst ein »diskursives Phänomen« das »in den Bereich von Beobachtungen zweiter Ordnung« fällt (2005, 10). Die Autoren definieren das Gespenst als eine »Diskursfigur« (2005, 9) und damit vor allem als ein sprachlich-textuelles Produkt, das der Repräsentation bedarf. In diesem Sinne tritt es auch als »Metapher« (2005, 11) auf, die sich im Spannungsfeld von Fiktion und Realität bewegt. Zu guter Letzt ist das Gespenst ein Vermittler und kann zu einer »Figur medialer Selbstreferenz und Selbstreflexion« (ibid.) werden. Siehe dazu auch das florierende Feld der Hauntology, das in der psychoanalytischen Literatur- und Kulturwissenschaft angesiedelt ist (vgl. u.a. Davis 2005). In seinem Werk Marx’ Gespenster weist Derrida darauf hin, dass das Verschwindenmachen einen leiblichen Körper voraussetzt: »[D]ie Konstituierung des Phantom-Effekts, das ist nicht einfach eine Vergeistigung, ja noch nicht einmal eine Verselbstständigung des Geistes, der Idee oder des Gedankens, so wie sie par excellence im Hegelschen Idealismus stattfindet. Nein, erst wenn diese Verselbstständigung mit der entsprechenden Enteignung und Entfremdung einmal verwirklicht ist, und nur dann, stellt sich das gespenstische Moment plötzlich ein, es stößt ihr zu, es fügt ihr eine zusätzliche Dimension hinzu, ein Simulakrum, eine Entfremdung, oder eine Enteignung mehr. Das heißt einen Körper! Einen Leib! Denn es gibt keinen Spuk, kein Gespenst-Werden des Geistes, ohne zumindest den Anschein eines Leibs, in einem Raum unsichtbarer Sichtbarkeit, als Verschwinden (dis-paraître) einer Erscheinung (apparation).« (2004, 174)

Phantom Zone

Derrida ist die Produktion des Phantoms an die Präsenz eines Leibes gebunden, der zum Verschwinden gebracht wird. Im Verweis auf Marx, liegt die Technik darin »verschwinden zu machen, indem man ‚›Erscheinungen‹ produziert, was justament nur dem Anschein nach einen Widerspruch darstellt, da man verschwinden macht, indem man Halluzinationen provoziert, oder Visionen gibt« (2004, 175f.). In Erweiterung der derridaschen Erläuterung sind die Produkte der escamotage (Taschenspielertrickserei) nicht als Illusionen zu verstehen, die wiederum nie als realer Körper existierten, sondern als trügerische Herstellung von Identität, als gezielte Inszenierung des ›anderen Körpers‹, der nicht an eine ›reale‹ Existenz gebunden zu sein scheint.15 Das Verschwindenmachen (Phantomisieren) bezeichnet demnach die, über objektivierende und stereotypisierende Darstellungen herbeigeführte Negation des Anderen in seiner körperlichen sowie seelischen Verletzlichkeit und eo ipso seiner sozialen und politischen Relevanz.16 Im Kontext der Gefangenschaft bedeutet dies die diskursive Produktion eines Feindes der Ordnung, dessen spektakelhafte Aufführung das Narrativ der Gemeinschaft nach innen sowie nach außen stabilisiert. Der überflüssige Körper wird in der escamotage aus dem Blickfeld geschoben. Das Verschwindenmachen ist somit Teil eines politisch und sozial induzierten Verschwindenlassens.17 _______ 15

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Auch deswegen greift hier der platonische Verweis auf das Phantom als Schatten nicht. Im Höhlengleichnis der Politeia sind die Schatten Abbildungen zweiter Ordnung, Abbilder von Abbildern, wie Platon die Erzeugnisse der Bildenden Kunst und der Dichtkunst bezeichnet, die die Gefangenen der Höhle als Realität begreifen und sich damit selbst täuschen. Platons Vorstellung wird hier insofern Rechnung getragen, als dass es sich um Vorstellungen über ein Seiendes handelt, diese Vorstellungen jedoch das Seiende existentiell bestimmen. Das bedeutet, die Schatten selbst werden zu realen Körpern. Ihnen wird quasi das »Schattenhafte« als Daseinsform eingeschrieben. Hier werden Strategien des Otherings eingesetzt, der Repräsentation von Differenz durch Stereotypisierungen. Gleichzeitig wird im Verschwindenmachen (Phantomisieren) auf Figurationen des zivilen Todes zurückgegriffen. Zur Aufführung des Anderen als Inszenierung von ethnischer Differenz vorrangig in visuellen Medien vgl. Hall 1997. Das »Verschwindenmachen« ist hier noch einmal vom völkerrechtlich markierten Terminus des »Verschwindenlassens« abzugrenzen. Nach der Resolution 61/177 des Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, Artikel 2, bedeutet Verschwindenlassen »die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch

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Der Gefangene als Phantom

Die Literatur und visuellen Medien markieren das Phantom über die ästhetischen Strukturen, die Blickökonomien, die Figurenhandlung, sowie die Metaphorik und den damit impliziten Wertigkeiten. Zum einen werden Verfahren des Ausschlusses narratologisch und performativ gespiegelt. Auf der Ebene von Selektion und Kombination (Figuration, Perspektive, Ausstattung), verhandeln Literatur, Fotografie und Film die Inszenierung einer sozialen (Un-)Sichtbarkeit und damit auch die Konstruktion des ›realen‹ Raums der Gefangenschaft. Dies geschieht über bestimmte Elemente des Raums, Requisiten, als auch über eine bestimmte Lokalisierung und Perspektivierung, die die Raumwahrnehmungen mit dem Begehren verknüpfen und den darin innewohnenden Machtansprüchen und Interessen. Gleichzeitig bleibt das Phantom im Medium der Literatur gebannt, und so auch dort vom Leben ausgeschlossen. Es existiert nun als textuelles oder audiovisuelles Zeichen, das erst durch den Leser und den Betrachter wieder in den Bereich lebendiger Interaktion zurückgeführt werden kann. In der fiktionalen Aufführung der epistemischen Position des ›Feindes der Ordnung‹ und seiner Orte der Bannung werden Permanenzen sichtbar, die zugleich transhistorische Muster freilegen. Die vorliegende Arbeit zeigt auf, dass die gesellschaftliche Produktion von Figuren des Ausschlusses auf einem bereits erprobten Identifikationsapparat subalterner Positionen18 und den ihnen zugeschriebenen Orten beruht, der in der Kunst und den medialen Narrativen sowohl miterzeugt als auch konterkariert wird. Das Selbstverständnis der Moderne hat sich nicht zuletzt über eine Ideologie binärer Raumordnungen etabliert und äußert sich in der Selbstbeschreibung des Westens als zivilisierter Kultur vis-à-vis der ›barbarischen‹ Kulturen. Die binäre Ordnung manifestiert sich im gesellschaftlichen common sense der Gefangenschaft durch Dichotomien von drinnen – draußen, frei – gefangen, gut – schlecht, unschuldig – schuldig. Diese Gegenüberstellungen orientieren sich zumeist an der Vorstellung eines auto-

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sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird.« (BGBl. III - Ausgegeben am 4. Juli 2012 - Nr. 104) Der Begriff des »Subalternen« geht hier zurück auf Antonio Gramscis Beschreibung der römischen Gesellschaft: »Oft sind die subalternen Gruppen ursprünglich anderer Rasse (anderer Kultur und anderer Religion) als die herrschenden, und oft sind sie eine Mischung verschiedener Rassen, wie im Falle der Sklaven.« (1999, Bd. 9, H 25, §4, 2193) Darüber hinaus macht Gramsci deutlich, dass die subalternen Gruppen eben nicht auf eine fixe soziale Identität zu reduzieren sind: »Die subalternen Klassen sind per definitionem keine vereinheitlichten und können sich nicht vereinheitlichen, so lange sie nicht »Staat« werden können: ihre Geschichte ist deshalb verwoben in die Zivilgesellschaft, ist eine zersetzte, und diskontinuierliche Funktion der Geschichte der Zivilgesellschaft und, auf diese Weise, der Geschichte der Staaten und Staatengruppen.« (1999, Bd. 9, H 25, §5, 2195)

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nomen, freien und ungebundenen Subjekts und idealisieren ein Gemeinschaftsmodell, das im »leeren und homogenen Kontinuum« der Zeit agiert (Anderson 1991, 38).19 In diesem Sinne betrachtet die vorliegende Arbeit den Gefangenen und den Wärter nicht als zwei diametrale Punkte innerhalb eines Spektakels der Gefangenschaft, sondern als Figurationen von Dichotomien, die in der Literatur und den visuellen Medien mobilisiert werden. Als eine diskursivstrukturell hervorgebrachte Matrix verstanden, sind der Ort und das Subjekt als Handlungsträger konstitutive Bestandteile des Raumes der Gefangenschaft. Text und Gesellschaft treten dabei nicht in ein Abbildverhältnis zueinander. Vielmehr wird die Geschichte als eine Totalität von Widersprüchen aufgezeigt, die in der kulturellen Praxis mitgestaltet und hervorgebracht wird. Gefangenschaft tritt so nicht erst als politische Entscheidung in Kraft oder entfaltet sich als juridische Struktur, sondern bildet eine gesellschaftlich generierte Topographie.20 Historische Orte und Praktiken finden demnach ihr Korrelativ und Korrektiv in einem »carceral imaginary«: [...] a collection of culturally relevant images and associations that define our society’s idées recues about imprisonment. Constituents of this imaginary are historically diverse; they form a pool of associations that can be accessed in indiscriminate fashion. (Fludernik 2005, 16f.)

Die Bilder einer Epoche speisen sich auch aus den Symbolen vorgängiger Zeiten (Fludernik 2005, 18). Das »carceral imaginary« ist als HistorischImaginäres zu verstehen, in dem sich gewisse tradierte Vorstellungen und Bilder fortschreiben, während das dominante Archiv zugleich beständig erweitert wird. Es lässt sich im Bewegungsraum der Kunst nicht nur national, sondern darüber hinaus auch transnational verorten.21 _______ 19

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Der Verweis auf die Nationalkultur macht (nach außen) hin den Anschein, als wäre sie homogen und als wären alle Mitglieder unter einer kulturellen Identität zu vereinigen. Raumordnungen manifestieren sich strukturell bzw. werden erst in der Wirklichkeit erzeugt. Sie bedürfen zunächst einmal der Äußerung, der Wiederholung und Adaption, um Gültigkeit zu erlangen. Dabei sind diese Äußerungen nicht per se an das Interesse des Staatsapparates oder der Ökonomie gebunden. Sie stellen zugleich »kulturelle Hegemonien« dar, in denen bestimmte Diskurse und Vorstellungen als gültig und wahr angesehen bzw. angenommen, andere wiederum ausgeschlossen werden. (Gramsci 1996, Bd. 7, H 12-13). Gramsci vermerkt zur Distribution und Wirkmacht von Kultur: »Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell ›originelle‹ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ›vergesellschaften‹ und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen.« (Gramsci 1994, Bd. 6, H 11, § 12, 1377). Das Konzept rekurriert auf dem in den Kulturwissenschaften mittlerweile gängigen Begriff des »cultural imaginary«. Das Imaginäre bezeichnet nach

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Transnationale Ansätze können dabei Aufschluss über Parallelen, Kontinuitäten und Unterschiede in der Hervorbringung der Phantom Zone geben. Eine von den Cultural Studies geprägte Perspektive bietet neue Zugänge zu etablierten Epochenbildern, indem sie »Kategorisierung nach zeitlichen und räumlichen Parametern« in Frage stellt (Neumeyer 2004, 178). In der Einbindung raumtheoretischer Konzepte, postkolonialer Perspektiven und der Geschlechterforschung nahe stehender Ansätze, die die konstitutive Rolle kultureller Äußerungen in Machterwerb und Machterhaltung betonen, werden Parallelen, Unterschiede und Permanenzen in literarischen und filmischen Anordnungen herausgearbeitet. Eingedenk der spezifischen historischen und soziokulturellen Kontexte, gilt es transhistorische und transkulturelle Muster aufzuzeigen. Dies geschieht nicht im Sinne einer transzendentalen Idee oder einer universalisierenden Geste, die den einen Gesamtzusammenhang der Epoche und die ihr zugrundeliegenden, dominanten Strukturprinzipien zu erfassen sucht. Vielmehr sind die folgenden Kapitel als Passagen gekennzeichnet. Die Passage öffnet und schließt einen Raum, sie markiert einen Weg und eine Grenze gleichermaßen, sowohl einen Übergang als auch eine Übertretung. Zudem macht die Passage deutlich, dass epochale Zuordnungen zunächst heuristische Modelle darstellen, die es erlauben, bestimmte Kristallisationspunkte und Korrelationsgeschichten der Modernen22 sichtbar zu machen. Die Passage markiert die Übergänge zu vorgängigen und folgenden Modellen als dynamisch, sie verweist auf das Transformations_______

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Benedict Anderson einen Zustand des »common sense", in dem die Gemeinschaft – auch ohne den realen sozialen Kontakt – über Bilder, Vorstellungen und Mythen ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickelt und – dies ist zentral – nach außen hin abgrenzt und verteidigt. In kulturellen Äußerungen schreibt sich so kontinuierlich die »vorgestellte Gemeinschaft« (Anderson 1991), über ein Verlangen nach der »Form« (Brennan 1990, 44) und die Suche nach »Klarheit« (Balibar 1992, 23-25) ein. Das Konzept der »multiplen Modernen« (Eisenstadt 2000) beruht auf einer durch die postmarxistische und postkoloniale Kritik angestoßenen Betonung der verschiedenen Perspektiven der modernen Agenda und der disparaten Entwicklungen innerhalb der globalen Kapitalwirtschaft. Im Zuge der Aufarbeitung des Kolonialismus und Imperialismus wurde die Forderung nach einem pluralen Geschichtsmodell laut, das sowohl die nationalen als auch die von den nationalen Eliten unterdrückten indigenen Geschichtsschreibungen der ehemaligen Kolonien wahrnimmt (vgl. Subaltern Studies Group, u.a. Guha 1983). Eine Revision des singulären Moderne-Begriffs wendet sich nicht nur der Moderne außerhalb Europas zu, sondern schaut zugleich auf die marginalisierten Alternativen zum hegemonialen Diskurs der Moderne (Kapitalismus, Demokratie, Staatsbürgerschaft, Nation, Subjekt, Öffentliche Raum, bürgerliche Gesellschaft, Menschenrechte, Säkularisierung) in den westlichen Gesellschaften. Zu nennen wären da z.B. die Rationalismuskritik in Frankreich, der Mystizisms, der Anarchismus oder die Arbeiterkämpfe, wie die Maschinenstürmer in England im 19. Jahrhundert.

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potential der einzelnen Texte und bezeugt die grundsätzliche Unabgeschlossenheit der Geschichten der Gefangenschaft. Die Gruppierung der Texte erfolgt zunächst historisch über ihre zeitliche Einordnung, trotzdem werden stets auch die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Texten hervorgehoben. Dies geschieht mitunter automatisch, da sich die ausgewählten Beispiele oft über ihre intertextuellen Bezüge sowie transkulturelle und transhistorische Figuren ins Verhältnis setzen lassen. Fokussierend auf ein oder zwei literarische oder filmische Werke, die in den einzelnen Kapiteln als gravitätische Zentren agieren, ziehe ich weitere Beispiele der jeweiligen Zeit komplementär und kontrastierend hinzu. Auf ein allgemeines Theoriekapitel zu den Analysen wurde bewusst verzichtet. Stattdessen liefern elaborierte Kontextualisierungen in den einzelnen Kapiteln die nötige Einordnung der Texte in einen theoretischen und historischen Zusammenhang. Basierend auf der Ausgangsfrage der Arbeit, »Wer ist das Phantom und wie wird es hergestellt?«, ergibt sich ein Katalog von weiteren Fragen, die die Analysen strukturieren: Wie wird die Konstellation Gefangener und Wärter konzipiert? Durch welche Charaktere werden sie besetzt und durch welche Topographien und Architekturen zur Aufführung gebracht? Welche Gemeinschaften erzählen sich hier? Welche Diskurse der Gefangenschaft (und Freiheit) werden verhandelt? Nicht zuletzt als Ergänzung zur Dominanz kulturhistorischer Analysen des westlichen Disziplinar- und Strafdiskurses der Moderne, die sich vor allem an Michel Foucault orientieren, bildet der europäische Imperialismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den historischen Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit. Surveiller et punir. La naissance de la prison (1975), Foucaults Abhandlung zum modernen »Kerker-Archipel« (1994, 385), bleibt vorrangig an die territorialen und nationalen Räume Frankreichs und Englands gebunden.23 Der Kolonialismus und die Sklaverei, die Strafkolonien in Übersee und die Lager des Dritten Reichs sind in Foucaults Abhandlung die Ausnahme einer Genealogie des Überwachens und Stra_______ 23

Der moderne Gefangenschafts-Diskurs wird vor allem durch Michel Foucaults Surveiller et punir. La naissance de la prison (1975), Zygmunt Baumans Modernity and the Holocaust (1989), Tzvetan Todorovs Face à l'extrême (1991) und Giorgio Agambens Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita (1995) dominiert. In ihren Schriften wird eine gewisse Blindheit der modernen westlichen Philosophie gegenüber dem Kolonialismus fortgeführt, die sich bereits in der Aufklärung bei Voltaire, Kant und später Hegel andeutet. So betrachtete der französische Philosoph Voltaire die Sklaverei als notwendiges Übel, die Leibeigenschaft in Frankreich dagegen als Unmenschlichkeit (Miller 2008, 429). Für Kant war der aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreite Mensch vor allem weiß und männlich, Hegel blendete in seiner Dialektik von Herr-Knecht die Sklavenaufstände in Haiti aus (Buck-Morrs 2000).

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fens. Westliche Diskurse der Gefangenschaft lassen sich jedoch nicht ohne den kolonialen Kontext denken.24 Die Modellierungen der Literatur weisen hingegen auf die Parallelstrukturen, Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen den kolonialen Subjekten und dem Umgang mit dem inneren ›Wilden‹ hin.25 In Kapitel drei entfalten sich die Lektüren von Charlotte Brontës Jane Eyre (1847), Hermann Melvilles »Bartleby, the Scrivener« (1853), Octave Mirbeaus Le jardin des supplices (1899), Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) und vor allem Franz Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« (1919) vor dem Hintergrund einer sich immer stärker ausdifferenzierenden sozialen Ordnung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Anordnungen der Gefangenschaft in den ausgewählten Beispielen machen Momente nationaler und sozialer Krisen sichtbar, die sich in der Position des Gefangenen manifestieren. Die moderne europäische Literatur verhandelt nicht zuletzt die Präsenz des empire zu Hause und in Übersee, welche zugleich Fragen nach der Verortung und Bestimmung sozialer Gruppen innerhalb der nationalen Gemeinschaft sowie den Anspruch auf Herrschaft nach sich ziehen. Die Wahrnehmung der Gefangenschaft war durch die in Ketten Liegenden zu Hause und in Übersee geprägt. So prophezeite der französische Historiker Jules Michelet in seinem Werk Histoire de la Révolution française (1847-1853), dass die Bastille, seinerzeit die Zwingburg des Despotismus, den prominentesten Beweis für einen »Geist der Gefangenschaft« (Miche_______ 24

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Globalgeschichtlich betrachtet sind seit dem transatlantischen Sklavenhandel und den Plantagengesellschaften des 17. Jahrhunderts bestimmte Strafpraktiken, Methoden und Formationen, wie das »Jamaikanische Panoptikon« oder die Überwachungsmechanismen auf kubanischen Kaffeeplantagen, erprobt und in Europa weiterentwickelt worden – dies galt auch umgekehrt (Singleton 2001; Epperton 1999). Spätestens mit dem Ende des 18. Jahrhunderts begann man Strafkolonien in Übersee und entlegenen Gebieten (Australien, Französisch-Guyana, Neukaledonien, Sibirien) zu installieren. Die parallelen Entwicklungen lassen sich schon früher aufzeigen:Die Phase der »großen Gefangenschaft«, die nach Foucaults Beobachtungen in Wahnsinn und Gesellschaft (1961) bereits Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzte, beschränkte sich nicht auf die europäischen Hospitäler. Die Zeit, in der sich das aufstrebende Bürgertum zunehmend unvernünftiger, ungewollter und störender Subjekte entledigte, markierte auch den weitreichenden Ausbau des Plantagensystems in Übersee. Diese ökonomische Raumgreifung koppelte sich zudem an einen Siedlerkolonialismus, der das Verhältnis von Zentrum und Peripherie verfestigte. Die Verschiffung von britischen Kriminellen und politischen Oppositionellen zur Besiedlung nach Van Diemens Island (Tasmanien) ab 1788 leitete nicht nur die Prägung Australiens als europäischem Gefängnis-Kontinent ein, sondern verfestigte auch den Ausschluss des Phantoms. 

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let 1868, 73) darstellte.26 Ein Geist, »der in den Unterarten schweigt, der in der barbarischen Welt Afrikas und Asiens schläft, er denkt, er schwelt in unserem Europa« (ibid., meine Übers.).27 Das Gefängnis wurde zum Symbol eines »Jahrhunderts der Revolutionen« (Osterhammel 2009, 734-736), das Michelet aus dem Herzen Frankreichs und im direkten Verweis auf die »Unterarten« und die »barbarische Welt Afrikas und Asiens« zur Universalmetapher für die Welt erhob: »Die Welt ist eingedeckt mit Gefängnissen, von Spielberg bis Sibierien, von Spandau bis Mont-Saint-Michel. Die Welt ist ein Gefängnis.« (Michelet 1868, 73, meine Übers.)28 Die Darstellung der inneren Anderen und der Kolonisierten verschränkten sich diskursiv und räumlich. Der europäische Imperialismus und die sozialen Ausdifferenzierungen in den europäischen Staaten schufen neue Probleme hinsichtlich der Regierbarkeit der Massen. Die sichtbare Verelendung bestimmter sozialer Gruppen im städtischen Raum, der Arbeiterkampf und die Emanzipation der Frauen in Europa sowie die anhaltenden Befreiungsbewegungen in den Kolonien, verlangten nach sozialpolitischen Lösungen. Die Frage der Bürgerrechte spielte eine zentrale Rolle in der Ideologisierung von Raumgrenzen, ihren Abgrenzungs- und Distinktionsmechanismen auf individueller und kollektiver Ebene. Neben der Angst vor dem sozialen Chaos herrschte jedoch zugleich eine gewisse Faszination für das Andere. Das in der Moderne einsetzende Interesse an den ein- und ausschließenden Strukturen hatte nicht zuletzt mit der Sichtbarkeit der ›anderen‹ Räume zu tun, die durch die Wissenschaften vom Anderen, die Ethnologie, Anthropologie und Kriminologie, verstärkt wurden.29 Die (Straf-)Kolonien und Gefängnisse gerieten gleichermaßen zu _______ 26

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Im Folgenden werden die Zitate der französischen Texte in den Fußnoten wiedergegeben. Die englischsprachigen Texte erscheinen gleich im Haupttext. Diese Entscheidung erklärt sich mit der Verbreitung der englischen Sprache im deutschen Wissenschaftsbetrieb. »L’esprit captif [...] qui se tait dans les espèces inférieures, qui rêve dans le monde barbare de l’Afrique et de l’Asie, il pense if souffre en notre Europe. [...] Le monde est couvert de prisons, du Spielberg à la Sibérie, de Spandau au Mont-Saint-Michel. Le Monde est une prison.« (Michelet 1868, 73) Die Bastille stellte zugleich ein polysemiotisches Zeichen der nationalen Krise dar: Sie verkörperte die Angst der Monarchie vor der Ablösung durch den Volkssouverän und wurde im Bild der aufgehenden Flammen ein Symbol der Befreiung vom Feudalabsolutismus. In der historischen Verlängerung und eingedenk der jakobinischen Schreckensherrschaft bildet der Ort bis heute den Beleg für die Beständigkeit des Terrors. Höhepunkte literarischer Erschließung der Gefängniswelten in Übersee bildeten Alexis de Tocquevilles, Gustave de Beaumonts und Charles Dickens Berichte über die Eastern State Penitentiary in Philadelphia (1831, 1842), Robert Heindls Abhandlung über die Strafkolonien in Neukaledonien, Australien, Afrika, Ostasien und den Andamanen (1913) und Anton Tschechows Aufzeichnungen zu seinen Erfahrungen auf der Gefängnisin-

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Laboratorien einer conditio (in)humana. Um 1900 verband sich mit der Präsenz der Disziplinaranlagen ein gewisser Krisensinn, der, befeuert durch Theorien des Sozialdarwinismus, eine Angst vor der Degeneration der zivilisierten Gesellschaften zugrunde lag.30 Die literarischen Konfigurationen der Gefangenschaft sind zum einen Narrationen des Anderen und seiner Geltungsansprüche, zum anderen liefern sie komplexe Szenarien globalgeschichtlicher Verkettungen. In Franz Kafkas »In der Strafkolonie« geriert das moderne Welt-System zur bannenden Struktur, die trotz ihrer historischen Veränderungen und widerstreitenden Kräfte durch die funktionalen Abhängigkeiten der Akteure in sich geschlossen und deterministisch bleibt (vgl. Kapitel 3.2). In der Moderne verdichtet sich die Obsession mit den geschlossenen Räumen, es lässt sich überhaupt eine verstärkte Hinwendung zum Räumlichen erkennen (vgl. Matoré 1961, Frese-Witt 1985, Brombert 1978). So bemerkte Victor Brombert allgemein für die moderne Literatur: »Modern literature, from Dostoevsky’s underground man to Beckett’s pariahs, is filled with aggressively lonely, hedged-in figures. It is also filled, since the House of the Dead, with penal colonies.« (1978, 188) Die Sorge um das Selbst und die Erkenntnis, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, wurden zum Antrieb einer Suche nach Orientierungspunkten, deren grandes histoires sich gleichsam als neue Käfige entpuppten. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts mag man vom Einbruch der Geschichte sprechen.

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sel Sachalin (1893). Letzterer bemerkte in einem Brief vom 9. März 1890 an seinen Verleger, den Journalisten Alexej Sergejewitsch Suworin: »Nach Australien und früher Chayenne ist Sachalin der einzige Ort, wo man Kolonialisation durch Verbrechen studieren kann; ganz Europa interessiert sich dafür und für uns sollte das nicht nötig sein?« (Tschechow 1971, 166f.) Dies spiegelte sich besonders deutlich bei den Symbolisten und den Dichtern der Décadence wieder. In einem Tagebucheintrag von 1905 notierte etwa Hugo von Hofmannsthal: »Weltzustand. – Während ich hier in Lueg am Rande des Waldes über dem leuchtenden See sitze und schreibe, ereignet sich in der Welt dieses: In Venezuela läßt der Diktator Castro in den überfüllten Gefängnissen erwürgen und zu Tode martern: die Leiche eines Verbrechers bleibt an den lebenden jungen Oberst X. so lange angekettet, bis der Oberst wahnsinnig wird. In Baku schießen seit acht Tagen die Armenier und Tartaren aufeinander, werfen Frauen und Kinder in die Flammen der Häuser, das Ganze erleuchten auf Meilen die roten Riesenflammen der brennenden Petroleumlager. In irgendeinem skandinavischen Gefängnis sitzt zugleich der ungeheure zwanzigfache Mörder Nordlund und zermalmt die Riesenkräfte seines Willens an der stumpfen leeren Kerkermauer, die er anstiert. Und die Gefängnisse! Die unschuldig Verurteilten! Und die sogenannten Schuldigen! Und die Armenviertel von London und New York... .« (Hofmannsthal 1959, 142, zit. nach Müller-Seidel 1986, 33f.)

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Die metaphysische Heimatlosigkeit31 paarte sich mit einer systematischen Ausgrenzung, Abschottung und Vernichtung des Anderen. Die pervertierte Illusion einer völkischen Gemeinschaft hat mit dem Nationalsozialismus in Europa ihre Schreckgestalt gefunden. Neben Auschwitz-Birkenau, das als Chiffre für die Singularität des Holocaust steht, sind es die Lager von Buchenwald bis Kolyma, die bis heute das Bild der Gefangenschaft im 20. Jahrhundert dominieren.32 Kapitel vier untersucht zunächst Albert Camus’ Roman La peste (1947) und die Kurzgeschichte »Le Renégat ou un esprit confus« (1957) als Schnittstellen zwischen der kolonialen Erfahrung und dem totalitären Terror des 20. Jahrhunderts. Camus’ narrative Strategien werden gegen die ästhetischen Konzeptualisierungen Jean-Paul Sartres gelesen, die ebenso, wenn auch auf andere Weise, Fragen der Universalität der Gefangenschaft im Zeitalter der großen Ideologien aufwerfen. Jorge Semprúns Romane Le grand voyage (1963) und Quel beau dimanche! (1980) erweitern den Erfahrungsraum des europäischen Terrors und nehmen die transnationale Dimension des Raumes der Gefangenschaft in den Blick. Das Phantom wird in Semprúns Romanen zu einer hierarchisch markierten, stellvertretenden Spur des ausgelöschten Lebens, das erzählt werden muss und dennoch unerklärbar bleibt. Die Literatur bildet die Schnittstelle zwischen verschiedenen Formen der Gefangenschaft und macht das Verschwindenmachen als transhistorisches Prinzip sichtbar. Das Werk des Schriftstellers George Orwell markiert in vielerlei Hinsicht eine Passage zwischen dem imperialen und nationalsozialistischen Terror33. In der Dystopie Nineteen Eighty-Four belichtet er sowohl die totalitären Diktaturen Europas, und nimmt, in Elementen, _______ 31

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Nach dem von Friedrich Nietzsche proklamatisch verdichteten Tod Gottes, sah sich der Mensch mit der Etablierung der modernen westlichen Wissenschaftsdisziplinen und den Neuerungen in Technik und Medien in neuen Wissensordnungen gefangen. Er wurde zum Gefangenen seiner triebhaften Begierden und versteinerte im Gefängnis der Geschichte. Auch hier sind die historischen Kontinuitäten der Strafpraxis und ihr koloniales Erbe nicht zu unterschätzen. Die Lager der reconcentratión in Kuba am Ende des 19. Jahrhunderts lieferten u.a. das Vorbild für den Burenkrieg in Südafrika, deren Beispiel dann im Nachbarstaat Deutsch-Südwestafrika weitere Anwendung fand. 14.000 Herero waren in den Konzentrationslagern unter dem Kommissar Dr. Heinrich Göring, dem Vater Hermann Görings, inhaftiert (Applebaum 2001). Auch wenn man vielleicht nicht von direkten Entwicklungslinien sprechen kann, so doch von einem wirksamen transkontinentalen Wissenstransfer. Orwells Ablehnung repressiver Systeme war auch durch seinen Dienst in der Indian Imperial Police in Burma (1922 bis 1927) geprägt. Das Essay »A Hanging« (1931), der Roman Burmese Days (1934) und seine Kurzgeschichte »Shooting an Elephant« (1936) befassen sich explizit mit dem britischen Imperialismus.

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die moderne Überwachungsgesellschaft vorweg. Die Beschreibungen der Sanktionen, die jene erwarten die eine »Straftat der Gedanken« begangen haben, erinnern an den »Nacht und Nebel«-Erlass in Nazi-Deutschland: It was always at night – the arrests invariably happen at night. The sudden jerk out of sleep, the rough hand shaking your shoulder, the lights glaring in your eyes, the ring of hard faces round the bed. In the vast majority of cases there was no trial, no report of the arrest. People simply disappeared, always during the night. Your name was removed from the registers, every record of everything you had ever done was wiped out, your one-time existence was denied and then forgotten. You were abolished, annihilated: vaporized was the usual word. (1987, 21, Herv. i.O.)34

Orwell beschreibt Maßnahmen der Kontrolle, die sich in der Postmoderne zur Realität entwickeln und noch weiter ausdifferenzieren sollten. So zog der amerikanische Soziologe C. Wright Mills bereits 1958 das Resümee: »[D]em Zeitalter der Moderne scheint eine postmoderne Periode zu folgen, in welcher ein Anwachsen der Rationalität nicht unbedingt zu mehr Freiheit führt.« (166f.) Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts scheint die Frage der gesellschaftlichen Disziplinierung zunehmend durch einen postmodernen Theoriediskurs beeinflusst. Giles Deleuze prägte den Begriff der »society of control« (1992, 3), die die zunehmende Ablösung der geschlossenen Disziplinarstrukturen (Gefängnis, Hospital, Schule, Familie) hin zu einer Dezentralisierung von Kontrollorganen und Techniken als Ausdruck der unstrukturierten Bewegung des Kapitals meinte.35 William Bogard hat in Anlehnung an Deleuze resümiert: »Less and less do we see social control technologies bound to specific territories, or governed by conventional territorial logics.« (2006, 59) Historisch betrachtet ist die Überwachung jedoch kein Novum, sondern vielmehr ein konstitutiver Bestandteil moderner Gesellschaften, dem der Soziologe Anthony Giddens noch vor Erfindung des

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Die Darstellung des Arrests lässt ebenso an die ersten Szenen des Romans Darkness at Noon (1940) denken, in dem ein hochrangiger Kommunist wegen konterrevolutionärer Aktivitäten von der sowjetischen Geheimpolizei während der sogenannten Moskauer Prozesse in ein unbekanntes Gefängnis abtransportiert, gefoltert und zu einem falschen Geständnis bewegt wird. Rubashov, der Protagonist des von Arthur Koestler verfassten Romans, träumt in der Nacht, in der er von der Polizei abgeholt wird, von seiner Verhaftung durch die Gestapo. Der Unterschied zwischen der alten Disziplin und der neuen Kontrolle liegt nach Deleuze in den unterschiedlichen Bewegungsmodi des Kapitals: »[...] since the discipline always referred back to minted money that locks gold in as numerical standard, while control relates to floating rates of exchange, modulated according to a rate established by a set of standard currencies.« (Deleuze 1992, 5)

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Internets totalitäre Züge bescheinigte (1985, 303).36 Die »flüchtige Moderne«, so Zygmunt Bauman und David Lyon, hat im Kern eine »flüchtige Überwachung«37 produziert. Innerhalb der neuen Weltordnung, die durch »globale Ströme« gekennzeichnet ist (Castells 2000, Hardt/Negri 2002), richtet sich die Überwachung nach der Bewegung von Waren, Informationen, Kapital und Menschen (Bigo 2006). Die abschreckende Präsenz der Televisoren aus Nineteen Eighty-Four ist einer klandestinen Struktur gewichen, in der die Grenzen marktwirtschaftlicher Interessen, individuellen Begehrens und staatlicher Steuerung zunehmend verschwimmen. Die Überwachung überwindet räumliche und zeitliche Grenzen. Michael Hardt spricht daher von einer »global society of control« (1998). Die Basisaktivität jener neuen Weltordnung (dem Empire) bildet die Biopolitik,38 die _______ 36

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Überwachung ist ein Charakteristikum der Moderne. Die Ausweitung administrativer Überwachung war ein zentraler Faktor in der Entwicklung des Nationalstaates (Giddens 1987). Auch David Lyon betont in The Electronic Eye: »Systematic surveillance, on a broad scale as we shall understand it here, came with the growth of military organization, industrial towns and cities, government administration and the capitalistic business enterprise within European nation-states.« (1994, 24) Er argumentiert weiter: »Paradoxically [...] surveillance expanded with democracy. Indeed, it is associated with the post-Enlightenment political ›demand for equality‹, and with populations previously denied access to full political involvement. At the same time, older local, familial, and religious kinds of surveillance declined or were diluted. Historically, then, the development of surveillance is complex. The question of who watches whom and with what effect cannot be answered without reference to specific social situations at specific times.« (Ibid.) Bauman und Lyon beschreiben die »flüssige Überwachung« wie folgt: »Surveillance is a growing feature of daily news, reflecting its rapid rise to prominence in many life spheres. [...] Today, modern societies seem so fluid that it makes sense to think of them being in a ›liquid‹ phase. Always on the move, but often lacking certainty and lasting bonds, today’s citizens, workers, consumers and travellers also find that their movements are monitored, tracked and traced. Surveillance slips into a liquid state.« (2013, 32) In seiner Vorlesung vom 17. März 1976 beleuchtet Foucault Mechanismen des Bevölkerungsmanagements. Nach seiner Definition ist die Biomacht, das biopolitische Herrschaftsmodell der »governance«, ein dezentral organisiertes Kontrollorgan. Die Biomacht meint dabei »eine Gesamtheit von Prozessen, wie das Verhältnis von Geburt- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usw. Diese Prozesse der Geburten- und Sterberate, der Lebensdauer haben gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Verbindung mit einer ganzen Menge ökonomischer und politischer Probleme [...] die ersten Wissensobjekte und die ersten Zielscheiben biopolitischer Kontrolle abgegeben.« (1999, 281) Tatsächlich hat Foucault mit der Geschichte der Disziplinierung und der Biomacht versucht, zwei Modi der Gefangenschaft zu fassen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt der Moderne zusammenwirken und auch nur noch begrenzt über eine (politische) Souveränitätsmacht begriffen werden können.

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Steuerung des Lebens innerhalb einer durch den Globalkapitalismus und die elektronischen und digitalen Informationstechnologien dezentralisierten gesellschaftlichen Machtstruktur. Die in Kapitel fünf und sechs diskutierten Beispiele aus dem 21. Jahrhundert widersprechen den Fluiditäts-Theoretikern. Sie zeigen, dass der glatte Raum der Biomacht keineswegs moderne Oppositionen von ›drinnen‹ und ›draußen‹ außer Kraft setzt. In den letzten beiden Kapiteln der Arbeit treten moderne Überwachungstechnologien und die physischen Orte der strafenden Gesellschaft (das innerstädtische Ghetto und das Kriegsgefängnis) in einen intrikaten Zusammenhang. Die beiden Kapitel markieren zudem den Übergang zu anderen medialen Formaten, die mit der Omnipräsenz visueller und digitaler Kulturen zu diskursbildenden Instanzen aufgestiegen sind. Während die sozialen Konsolidierungs- und Abgrenzungsprozesse im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorrangig über die Printmedien verhandelt wurden, scheinen sie ab der Mitte des 20. Jahrhunderts von Film, Fernsehen und Internet überholt.39 Sie bilden inzwischen ein kulturelles Dominantes, in dem sich die Selbstbeschreibungen der Gesellschaften manifestieren. Zudem lassen sich Literatur und Film über den Begriff der Anordnung durchaus vergleichen: 40 In der statischen Anordnung der Elemente im Bild werden also soziale Verhältnisse anschaulich gemacht. Nicht erst die Bewegung bringt die sozialen Beziehungen deutlich in einen Zustand ihrer Sichtbarkeit, sondern bereits das Gefüge der Figuren und Gegenstände zueinander. Die Präsentation fordert uns heraus, in der Anordnung des Präsentierten Bedeutung zu sehen: Hierarchien zwischen den Figuren und ihre im Blick geübte Überwindung, soziale Distanz und Nähe, Konfliktkonstellationen, aber auch soziale Einordnung und historische Zuordnung durch Kleidung, Dekor, durch Physiognomie, Haltung des Körpers und Gestus. (Hickethier 2012, 52)

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Die fotografischen, televisuellen und kinematographischen Bilder werden in den beiden letzten Kapiteln auf ihre »registrierende« und »enthüllende« Funktion hin untersucht (Kracauer 2008). Kapitel fünf beschäftigt sich mit Phantomidentitäten im Spannungsfeld neoliberaler Wissensgesellschaften und der epistemischen Notwendigkeit des Anderen, dessen Erscheinung sich aus altbekannten Identifikationsmustern speist. Die anhaltende Diskriminierung von Afroamerikanern in den USA leitet sich aus einer historisch gewachsenen Segregation ab, die sich nicht zuletzt in der Verschränkung institutioneller Gefangenschaft _______ 39

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Zum »pictorial turn« und »visual turn« vgl. Mitchell 1992, Boehm 1994 und Mirzoeff 1999. Für einen konzisen Überblick siehe Bachmann-Medick 2007, 329-380. Die Hinwendung zum filmischen Medium folgt durchaus auch einer disziplinären Tradition. Die Medienwissenschaft, die sich u.a. mit der Filmund Fernsehanalyse beschäftigt, hat sich in den 70er und 80er Jahren aus den Literaturwissenschaften heraus entwickelt (Hickethier 2012).

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und der diskursiven Herstellung von Alterität zeigt. Traditionelle Institutionen der Disziplinierung sind weiterhin und in ungeahntem Ausmaß wirksam, wie sich am gefängnisindustriellen Komplex der USA zeigt. Gleichzeitig gewinnen sie durch die informationstechnologischen Neuerungen eine neue Dimension. Ausgehend von einem Schwellentext afroamerikanischer Literatur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, Ralph Ellisons Invisible Man (1952), führt die Diskussion zu der Fernsehserie The Wire (2002-2008), die über die Figurationen der Gefangenschaft das Bewusstsein schwarzer Identitätsentwürfe im postindustriellen amerikanischen Ghetto verhandelt. Roman und TV-Serie problematisieren, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Emanzipation des schwarzen Subjekts im urbanen Raum. Die Permanenz traditioneller Disziplinierungsanstalten zeigt sich nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in Bezug auf die imperiale Politik der westlichen Mächte, die weltweit (oft im Geheimen) Orte der Gefangenschaft produzieren. Das letzte Kapitel versteht sich inhaltlich und in Bezug auf die behandelten Medien als Verlängerung der vorhergehenden Passage. Während Kapitel fünf Auskunft über das innere Schattenland der USA gibt, treten in Kapitel sechs vermeintlich außenpolitische Krisenherde ins Zentrum. Im Zentrum der Analysen stehen die Berichterstattungen zu Gefangenschaften von U.S.-Soldaten im Irak, die Fotografien aus Abu Ghraib (2004), Kathryn Bigelows Film Zero Dark Thirty (2012) und die ersten drei Staffeln der TV-Serie Homeland (seit 2011). Die Anordnungen der Gefangenschaft werden als Erzählungen nationaler Exzeptionalismus-Vorstellungen gelesen, die durch ein gezieltes Gender-Spektakel und die Verwebung mythischer und biopolitischer Strukturen, das Phantom als Chiffre des Antiterrorkampfes produzieren. Die medialen Beispiele repräsentieren ein epistemisches Unbehagen in der (Post-)Moderne, das, befeuert durch die technologischen Entwicklungen und fragmentierten medialen Öffentlichkeiten, die Produktion des Anderen befördert und gleichzeitig eine Figuration des Begehrens impliziert, die sich über unterschiedliche Herrschaftsformen hinweg erhalten hat. Die Langlebigkeit moderner Raumordnungen und ihrer Ideologien zeigt sich im amerikanischen und europäischen ›Krieg gegen den Terror‹, der in der Herstellung des Feindes der Nation auf Legitimationsstrategien imperialer Eroberung und das Muster von Zivilisiertheit und Barbarei zurückgreift. Schlussendlich beweisen die filmischen Narrative, dass der »glatte Raum globaler Kontrolle« (Hardt 1998) nicht gänzlich frei »von den binären Aufteilungen oder Kerben moderner Grenzen« ist. Er ist vielmehr, so müssen auch Hardt und Negri einräumen, »kreuz und quer von so vielen Verwerfungen durchzogen, dass er lediglich als kontinuierlicher, einheitlicher Raum erscheint« (Hardt/Negri 2002, 202, Herv. i.O.).

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Besonders in Hinblick auf die westliche Theoriebildung zu den Dynamiken der modernen Gefangenschaft bildet der Kolonialismus noch immer eine causa absentia. Von einer kohärenten, linearen gar teleologischen Geschichte der Gefangenschaft auszugehen, einem grand design zu sprechen, das sich im Westen von archaischen Folterformen zur mittelalterlichen Marter, bis hin zu den humanistischen Gefängnisreformen des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelt hat, wäre verfehlt. In den Geschichten der Gefangenschaft lässt sich kein »Fortschreiten zum gesellschaftlich und moralisch Besseren« lesen (Miller/Soeffner 1996, 12).41 Von der Sklaverei und Zwangsarbeit in den Kolonien, den Strafkolonien in Übersee und den ländlichen Arbeits- und Erziehungslagern des europäischen Festlandes, den Arbeits- und Konzentrationslagern der totalitären Regime bis hin zur Entstehung spezifischer Disziplinarinstitutionen, gesellschafts- und raumübergreifender Überwachungsmechanismen bezeugen die Vielfalt der Erfahrungen, Technologien und physischen Ausformungen, an der jeder Versuch vereinheitlichender Zusammenführung scheitern muss. Eine oder die Geschichte der Gefangenschaft wäre daher nicht ohne Gewaltanwendung lesbar. Die heterogenen Erfahrungen lassen sich eher über die Vorstellung von multiplen Modernen darstellen und vermitteln, welche zugleich disparate und parallele Erscheinungsformen anerkennen und bestimmte funktionale Homologien und strukturelle Ähnlichkeiten erkennen lassen. Textuelle sowie (audio-)visuelle Fiktionen können auf besondere Weise die transnationalen und transhistorischen Zusammenhänge sichtbar machen. Sie tun dies nicht zuletzt über intertextuelle Verweise, motivische Adaptionen und die Wiederkehr des Phantoms. Die Anordnungen deuten einerseits auf die historische und soziokulturelle Spezifik der Kontexte in denen sie entstehen und andererseits auf Kontinuitäten und Permanenzen in der Darstellung der Gefangenschaft hin. Dementsprechend ließe sich der fiktionale Raum der Gefangenschaft als »glokal« verstehen. Das Portmanteau »glocalization« geht zurück auf ein Konzept des britischen Soziologen Roland Robertson, der das Verhältnis des Spezifischen und Allgemeinen in globalen Prozessen untersucht. Diese Dialektik soll fruchtbar gemacht werden, denn sie bietet die Möglichkeit die verbindenden und trennenden Strukturen gleichermaßen zu würdigen, als »Simultanität [...] – _______ 41

Entgegen einer linearen, progressiven und teleologisch ausgerichteten Geschichte der Gefangenschaft, muss eher von Geschichten der Gefangenschaft gesprochen werden. Der von François Lyotard angestoßene Alternativentwurf zu den Masterarrativen der Moderne (1979) bietet besonders im Kontext der Wissenschaft die Möglichkeit den eigenen Gegenstand in seiner grundsätzlichen Unabgeschlossenheit als subversive Struktur wahrzunehmen.

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die Kopräsenz – von universalisierenden und partikularisierenden Tendenzen« (Robertson 1997 Darüber hinaus können die Literatur (und die neuen Medien) die Aufgabe lösen, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« zu verhandeln (Bloch 1973). Der Übergang der einen zur anderen epochalen Markierung, die Präsenz neuer kultureller Hegemonien, wird dabei von anderen Zeitlichkeiten spannungsvoll überlagert. Der fiktionale Raum der Gefangenschaft ist ein Entwurf der »vorgestellten Gemeinschaft«, des empire, der Nation, der sozialen und/oder kulturellen Gruppe, die spezifisch nach Raum und Zeit, Text und Kontext variiert. Anordnungen der Gefangenschaft sind somit Figurationen von hegemonialen Strukturen, und können in gleichem Maße zu deren Korrektiv werden. Die realgeschichtlichen Raumzeichen und Handlungen werden zum Referenzapparat vor dem die Gefangenschaft in der Literatur, Fotografie und Film mobilisiert, d.h. spezifisch choreographiert, wird. Im besten Fall werden strukturalistische Dualismen von Gefangenschaft und Freiheit in subversiven Konstellationen zu Platzhaltern und Markierungen. Sinnketten wie gefangen-geschlossen-passiv-immobil und frei-offen-aktiv-mobil werden problematisiert. In den fiktionalen Modellierungen wird das Phantom, die strategische Herstellung eines Inferioritätsaxioms als Ausdruck und Lösung (post)moderner Sinnkrisen und instabiler Gemeinschaftsentwürfe ausgestellt. Die folgenden Analysen werfen Schlaglichter auf ein westlich geprägtes Historisch-Imaginäres der Gefangenschaft. Sie sind dabei nicht als Abbild einer Entwicklungslinie, sondern als Kristallisationspunkte einer krisenhaften Beschwörung des Phantoms zu verstehen.

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2. Forschungsstand Das Thema Gefangenschaft lässt sich in den Literatur- und Kulturwissenschaften nicht auf einen spezifischen Schwerpunkt reduzieren. Es ist über verschiedene Forschungsfelder präsent. Im Folgenden werden einschlägige und aktuelle Themengebiete nachgezeichnet: von der Gefängnisliteratur, der Holocaust-Literatur, der Gefängnismetaphorik und literarischen Motivgeschichte, den interdisziplinären Prison Studies bis hin zu Konzeptualisierungen der Gefangenschaft unter dem Brennglas der Geschlechterstudien und der (post-)kolonialen Studien. Das leitende Forschungsinteresse dieser Arbeit ist vor allem in Abgrenzung zu dem seit Mitte der 1960er Jahre entwickelten Begriff der Gefängnisliteratur und dem Gefängnis als Metapher oder psychosozialem Raum zu verstehen. Unter der Kategorie Gefängnisliteratur werden nach der Definition der Germanistin Sigrid Weigel Texte subsumiert, die von den Gefangenen selbst im Gefängnis oder in Erinnerung daran produziert wurden und eine »subjektiv tatsächliche Erfahrung« sprachlich zum Ausdruck bringen (1982, 19).1 Der Begriff lässt Spielraum, hauptsächlich in Bezug auf die Autorschaft, die Entstehungsumstände und die historischen Kontexte, weniger in der Fassung des literarischen Formats. Vor allem die Position des Autors ist vielgestaltig. Im Kontext literaturwissenschaftlicher Untersuchungen stehen hier zunächst Künstler, die im Gefängnis waren und dies als fundamentale Erfahrung verarbeiten.2 Die _______ 1

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Eine theoretische Systematisierung deutschsprachiger Gefängnisliteratur von 1790 bis 1933 liefert Weigel 1982. Der Sammelband von Klein/Koch 1988 konzentriert sich auf den Begriff der Gefangenenliteratur, der ausschließlich Texte meint, die eine reale Erfahrung der Gefangenschaft zum Ausgangspunkt nimmt bzw. im Text verhandelt. Dabei kann es sich um so unterschiedliche Formate wie Memoiren, Briefe aber auch um Lyrik handeln. Inwiefern sich der Begriff fundamental von dem durch Sigrid Weigel defnierten Begriff der »Gefängnisliteratur« unterscheidet, bleibt unscharf. Weigels Definition der Gefängnisliteratur ist als erster gattungsgeschichtlicher Entwurf von Nicola Keßler (2001) um eine diskursgeschichtlichpoetologische Perspektive erweitert worden. Die Komparatistin Bettina Schieraus hat in ihrer Diplomarbeit von 2013 die drei Arbeiten in den Dialog gebracht und vor dem Hintergrund der foucaultschen Abhandlungen Überwachen und Strafen (1976) und Mikrophysik der Macht (1976) sowie Erving Goffmans Asyle (1972) für deutsche und U.S.-amerikanische Texte fruchtbar gemacht. Zum Thema Gefangenschaft in der deutschen Nachkriegsprosa vgl. Mucharska 2013. Siehe auch The Pen Anthology of Imprisoned Writers (1996).

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Der Gefangene als Phantom

Gefangenschaft nimmt innerhalb ihres Werkes und ihrer literarischen Entwicklung eine große Bedeutung ein.3 Eine zweite Gruppe besteht aus Aktivisten und Philosophen, deren politische Haltung nicht zuletzt durch ihre Erfahrungen im Gefängnis geprägt ist und die ihr Werk zum Teil bereits im Gefängnis verfasst haben.4 Als dritte Kategorie sind Menschen zu nennen, die erst im Gefängnis zum Schreiben kamen und vorher keine literarischen Ambitionen zeigten. Die Identität des Autors hat mithin großen Einfluss auf die ästhetische Verarbeitung des Erlebten und muss daher ggf. berücksichtigt werden. In den ersten beiden Kategorien werden vermehrt Schreibstrategien, Metaphern und rhetorischen Topoi betrachtet, während im dritten Fall vor allem die psychosoziale Ebene, das Gefängnisbewusstsein, die Gefängnissprache,5 die soziale Rolle und Funktion des Häftlings und das Schreiben als Teil der Überlebensstrategie in den Vordergrund rücken.6 In diese Kategorie fällt z.B. Walter Kempowskis Im Block. Ein Haftbericht (1969). Auch wenn sich die Gefängnisliteratur durch gewisse typische Elemente auszeichnet, lassen diese sich diese nur bedingt nach universell gültigen Rastern definieren bzw. durch Genre-Klassifikationen oder eine Unterteilung in fiktionale und nicht-fiktionale Texte ordnen. Die Schwierigkeit liegt darin die Heterogenität der Erfahrungen und ihrer Darstellungsweisen, von Berichten politisch Verfolgter des Vormärz bis hin zu Erzählungen von Gefangenen des SED-Regimes,7 als eine Gattung zu fassen. Darüber hinaus sind weitere Differenzierungen nötig, denn die Lager- und Holocaustliteratur wird noch einmal gesondert betrachtet. _______ 3

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So z.B. im Werk von Jean Genet, Jean Cayrol, Oscar Wilde, G. G. Casanova, Donatien Alphonse François de Sade, Hans Fallada, Wolfgang Borchert, Alexander Solschenizyn, Fjodor Dostojewski, Horst Bienek, Maurice Blanchot, Imre Kertész. Vgl. dazu die autobiographischen Zeugnisse von Martin Luther King Jr., Malcolm X, Angela Davis, Mahatma Ghandi, Antonio Negri, Antonio Gramsci, Rosa Luxemburg, Dietrich Bonhoeffer, Nelson Mandela, Joseph Scholmer. Vgl. Lüderssen 1978, Kreiler 1979, Klein/Koch 1988, Keßler 2001, Schieraus 2013. Vgl. auch das Lexikon der Knastsprache von Laubenthal 2001. Hier ist weiterführend die Dokumentationsstelle für Gefangenenliteratur der Universität Münster zu erwähnen Das Handbuch The Oxford History of the Prison (1998) bietet ein Kompendium zu wichtigen Forschungsthemen und historischen Entwicklungslinien. Besonders aufschlussreich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist der Appendix »Literature of Confinement« von Walter B. Carnochan (1995). Auch hier bleibt der Unterschied zwischen fiktionalen und autobiographischen Texten im Verweis auf die grundlegende, den Texten innewohnende Spannung zwischen Begrenzung und Freiheit unklar. Zur Gefängnisliteratur vor und während des SED-Regimes in Ostdeutschland vgl. Bilke 1995.

Forschungsstand

Der Begriff Holocaustliteratur hat sich aus dem Amerikanischen kommend etabliert8 und zeichnet sich durch ein bestimmtes Vokabular und eine spezifische (über die Gefängnisliteratur hinausgehende) Symbolik und Metaphorik aus. Die Gießener Arbeitsstelle zur Holocaustliteratur 9 hat diesbezüglich eine Klassifikation entworfen, die verschiedene literarische Texte über den Holocaust, sowohl »authentische«, das heißt von Überlebenden verfasste Schriften der Zeugenschaft, als auch fiktionale Texte umfasst.10 Zur Gattung Holocaustliteratur zählen demnach: [...] alle literarischen Werke, die den Holocaust zentral behandeln. Das bedeutet, dass hierzu noch während des Geschehens verfasste Zeugnisse wie Tagebücher, Chroniken und andere ebenso zählen wie nachträglich verfasste Erinnerungen. Überdies umfasst der Begriff auch fiktionale Werke über den Holocaust wie Romane, Gedichte und Dramen, die entweder bereits zur Zeit des Holocaust oder aber erst nach Kriegsende entstanden sind. Dies können Texte von unmittelbar betroffenen Opfern und Überlebenden (oder Tätern), von Nachgeborenen der zweiten und dritten Generation oder aber von persönlich gänzlich Unbetroffenen sein.11 (Arbeitsstelle Holocaustliteratur 1998)

Wichtig für die Gießener Definition ist die Abgrenzung literarischer Texte, verstanden als »subjektabhängige« Interpretationen, von historischen und wissenschaftlichen Schriften und Dokumenten. Es sind Texte, die das Geschehen vermitteln wollen, indem sie sich literarischer Stilmittel bedienen (Metaphern, Tropen, literarische Archetypen) und das Geschehen choreographieren, ohne dabei wissenschaftlichen Kriterien und Konventionen zu folgen.12 In der Besprechung jener Literaturen stehen größtenteils generische Aspekte im Vordergrund. _______ 8 9

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In den 1960er Jahren etablierte Elie Wiesel den Begriff des Holocaust für den deutschsprachigen Raum (Assmann 2006, 154). Die Arbeitsstelle hat u.a. auch das Projekt GeoBib, eine bibliographische Online-Datenbank deutsch- bzw. polnischsprachiger Holocaust- und Lagerliteratur von 1933 bis 1949, initiiert. Zur Herkunft der Begriffe »Holocaust«, »Shoah« und der wissenschaftlichen Begründung des Begriffs »Holocaustliteratur« vgl. Young 1997 und Feuchert 2000, 5-26. Die Arbeiststelle beruft sich u.a. auf die einflussreiche Arbeit von CernyakSpatz 1985. Trotz ihrer zunehmenden Akzeptanz und Verbreitung (etwa in Rezensionen und wissenschaftlichen Untersuchungen), bleibt die Bezeichnung »Holocaustlitertatur« noch diffus. Teilweise werden nur fiktive Texte zum Holocaust unter diesem Begriff subsumiert, dann wieder nur »authentische«, das heißt von Überlebenden verfasste Schriften. Der Begriff »Holocaust« wird sehr unterschiedlich verstanden. Manchmal wird damit die Gesamtheit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen alle Opfergruppen bezeichnet, dann wieder beschränkt sich die Metapher konkret auf die Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens in den Konzentrationslagern und spart andere Opfergruppen aus. Um diese Überschneidung aufzulösen wird dafür plädiert, die Vernichtung von Menschen jüdi-

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Thomas Taterkas Zusammenschau von 300 europäischen und amerikanischen Texten über die nationalsozialistischen Konzentrationslager liefert in Umfang und Systematik eine beispielhafte Analyse der »Rede über das Konzentrationslager«, die sich in mehreren Sprachen und über unterschiedliche Fiktionalisierungsgrade äußert (1999). Das Schlüsselbild liefert ihm dabei Dante Alighieris Die Göttliche Komödie (1307-21) und das Lager als »Hölle auf Erden«. Die Metapher der »Hölle« bietet einen Ersatz für das Unaussprechliche und wird, laut Taterka, zum verbindenden Element der Lagerliteratur. Die in den Texten aufgerufene Vielstimmigkeit bezeuge zudem eine transkulturelle und eine intertextuelle Dimension und verlange eine gemeinsame Untersuchung von fiktionaler und faktischer, von elementarer und institutionalisierter Literatur.13 Dabei ließe sich einwenden, dass die Höllen-Metaphorik nicht spezifisch für die autobiographische oder (semi-)fiktionale Lagerliteratur ist, sondern sich in Texten unterschiedlichen Fiktionsgrades findet, die die Gefangenschaft des Menschen auf die ein oder andere Art zum Thema machen. Die Hölle ist ein zentrales Motiv für Erfahrungen der Internierung, z.B. in Jack Abbotts Roman In the Belly of the Beast (1981). Sie liefert ein Sinnbild der Disziplinierung durch die sozialen Institutionen und Ideologien in George Bernhard Shaws Adaption des Don-Juan Mythos in Superman and Man (1903) und dient als Metapher für die bannenden Strukturen des Rassismus in Ralph Ellisons Roman Invisible Man (1952). Taterkas Analysen weisen vielmehr auf einen qualitativen Anstieg hin, eine sich nach 1945 verdichtende Metaphorik der gesellschaftlichen Höllenfahrt, der auch Axel Dunker in der erzählerischen Prosa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachspürt. In der komparatistischen Arbeit Die anwesende Abwesenheit (2003) beschreibt er die (Un-)Möglichkeit des Sprechens und Schreibens nach dem Holocaust.14 Die Literatur nach 1945 scheint im anhaltenden Nachdenken über die Möglichkeiten der Kunst nach der Shoah auf spezielle Weise vom Lager affiziert. In den Werken von W. G. Sebald, Elfriede Jelinek, Raymond Federman, Georges Perec, Helmut Heißenbüttel, Heimrad Bäcker, Jorge Semprún und Peter Weiss erkennt Dunker eine Radikalität, die sich sowohl inhaltlich als auch formell niederschlägt (2003, 298). Jene Literatur im Schatten von Auschwitz könnte demnach vielleicht als Literatur der Gefangenschaft bezeichnet werden. _______

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schen Glaubens gesondert mit »Shoah« zu bezeichnen. Beide Begriffe stehen also in einem engen Zusammenhang. Zur literarischen Verarbeitung der KZ-Erfahrung vgl. die umfangreiche Abhandlung von Reiter 1995. Zur Darstellung des Holocaust in Kunst und Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Köppen 1993, Köppen/Scherpe 1996, Bayer/ Freiburg 2009.

Forschungsstand

Zur weiteren Differenzierung des Forschungsfeldes ließe sich auch der Begriff der »lazarenischen Literatur« heranziehen, den der französische Schriftsteller, Filmautor und Verleger Jean Cayrol in seinem 1950 erschienenen Werk Pour un romanesque lazaréen, Lazare parmi nous prägte.15 Der Begriff deutet auf die oft autobiografisch motivierte Verarbeitung von Erfahrungen des Gefangenseins und der Folter hin. Die biblische Figur des Lazarus steht hier als rhetorische Wendung für einen Willen zum Widerstand, in dem der Mensch im Moment der Unterwerfung und Ausbeutung ungeahnte Kräfte freisetzt. Vor allem die Träume halten den Leidenden am Leben, während die Welt außerhalb des Lagers den Platz der überirdischen Welt einnimmt. In diesem Sinne stellt Alain Resnais’ filmische Montage Nuit et Brouillard (1956, Text: Jean Cayrol) die Zerstörungskraft totalitärer Strukturen und den Überlebensgeist der Opfer dar (Fritz 1967). Inwieweit unterscheidet sich nun aber die lazarenische Literatur von der Gefangenenliteratur und Gefängnisliteratur oder sprechen wir gar von einem Alleinstellungsmerkmal der Lagerliteratur? Es scheint sich wohl eher um eine qualitative Distinktion zu handeln und somit um ein mögliches Merkmal der Gefängnis- und Gefangenenliteratur. Des Weiteren rückt eine Gruppe von Texten in den Blick, die mit Sigrid Weigels Definition aus dem Rahmen der Gefängnisliteratur fallen und dennoch zu einem gewissen Grad als solche bezeichnet werden können: Texte, die das Gefängnis thematisieren, es als Schauplatz wählen oder als Metapher einsetzen, ohne dabei auf eine konkrete autobiographische Erfahrung zurückzugreifen oder anders herum per se literarisch zu sein. Eingeschlossen sind Texte, die wesentlich später, auf der Grundlage der Erfahrung der Internierung, niedergeschrieben wurden und sich durch einen hohen Fiktionalitätsgrad auszeichnen.16 In der Literaturwissenschaft hat sich in dieser Hinsicht vor allem die Topoi-Analyse zum zentralen For-

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Jean Cayrol hatte in der Résistance gekämpft und wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen deportiert. In seiner programmatischen Schrift Lazare parmi nous plädierte er für eine Literatur im Zeichen der biblischen Figur des Lazarus, der vom Tod ins Leben zurückkehrt. Er meinte jedoch nicht nur die unmittelbare Erfahrung des Holocaust sondern auch das Fortbestehen des concentrationnat - einer verborgenen konzentrationären Realität im Alltagsleben. Man kann hier argumentieren, dass die autobiographischen Texte noch einmal durch den Grad der Unmittelbarkeit aber auch durch die Unmöglichkeit des Schreibens, die der (Selbst-)Zensur geschuldet ist, gekennzeichnet sind. Die grundsätzliche Schwierigkeit die Erfahrungen der Internierung in Wort und Schrift zu fassen hat Jorge Semprún in seinem autobiographischen, poetologischem Werk L’Écriture ou la vie (1994) verdeutlicht.

Der Gefangene als Phantom

schungsfeld entwickelt.17 In Bezug auf die europäisch-westliche Moderne listet der Romanist Victor Brombert Allgemeinplätze der Gefängnisliteratur auf, die sich auf fiktionale und nicht-fiktionale Texte anlegen ließen: The topoi, or commonplaces, of prison literature can also be listed: the sordid cell and the hospitable cell, the cruelty of jailors (but also the presence of the ›good‹ jailor), glimpses of the landscape and the sky, the contrast between the ugliness of the ›inside‹ and the supposed splendor of the surrounding scenery, prisons within the prison (the image of the iron mask), the insanity of the captive, the inscriptions in the stone, the symbolism of the wall as an invitation to transcendence. (1978, 9)

Diese Reihung liefert jedoch noch keine differenzierte Perspektive auf die verschiedenen Genres und Epochen, in der das Gefängnis als Index, Symbol und Ikone erscheint.18 Victor Bromberts Thesen zum »Gefängnis« in der französischen Literatur waren richtungsweisend.19 Mary Ann FreseWitt hat Bromberts Thesen erweitert. Ihre Analyse existentialistischer Gefängnisse bei Malraux, Camus, Sartre und Genet führt eine produktive Unterscheidung zwischen dem lexikalisch-metaphorischen und dem funktionalen Gefängnis ein (1985).20 Gleichwohl betrachtet sie diese nicht als sich gegenseitig ausschließend: Die Architektur der Kerker und der Gefängnisse bietet ein Sinnbild der somatischen oder geistigen Begrenzung des Seins, aus der es auszubrechen gilt, bzw. an die sich eine gewisse Sehnsucht des Ausbruchs knüpft. Zugleich sind die Mauern ein Symbol der Machtausübung und der gesellschaftlichen Hegemonien.21 Ausgehend von einer Epoche, einem spezifischen Topos oder der Figur des Kriminellen hat sich seit den 70er Jahren eine Reihe von literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen dem Gefängnis gewidmet. Dies geschieht vor allem über

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Vgl. hier Monika Fluderniks Überblick zum Topos »Welt als Gefängnis« und »Gefängnis als Welt« (2003). Für eine datenbasierte Analyse zur »Gefängnis-Metapher« vgl. Fludernik 2007. Gerade der zuletzt genannte Punkt ist nicht unwichtig, wie Frese-Witt betont: »The ominous political prisons, the Bastille and Spielberg, symbols of tyranny, of a secular hell, and then of human abilities to resist them, spawn a mythology and a literature of their own.« (1985, 8) Brombert analysiert das romantische Gefängnis von Pascal über Nerval, Huysmans bis hin zu Sartre. Frese-Witt schließt daran an und betrachtet die Fortführung eines prison heureuse in der existialistischen Literatur von Camus, Malraux, Gide und Genet, die Bombert als anachronistisch bewertet hatte. Zur Beziehung von Fiktion und Realität des literarischen Gefängnisses vgl. Fludernik 2004. Victor Brombert hat diesbezüglich bereits angemerkt: »Prison walls confine the »culprit«, victimize the innocent, affirm the power of society. But they also [...] protect poetic mediation and religious fervor. The prison cell and the monastic cell look strangely alike.« (1978, 3)

Forschungsstand

realistische Romane des 19. Jahrhunderts, 22 exemplarisch die Werke Charles Dickens, z.B. Little Dorrit (1857), Tales of Two Cities (1859) und Great Expectations (1861).23 Weniger einschlägig aber doch präsent zu dem Thema scheinen Texte der Schwarzen Romantik wie Herman Melvilles Pierre (1852) oder Nathaniel Hawthornes House of the Seven Gables (1851).24 Es sind zudem zahlreiche Publikationen zum Gefängnis erschienen, die sich nicht mehr nur mit literarischen Texten, sondern darüber hinaus auch mit der Architektur und den visuellen Kulturen auseinandersetzen.25 Dies liegt nicht zuletzt an den angloamerikanischen Prison Studies, die durch die Rede und Praxis der »strafenden Gesellschaft« (Brown 2009) zunehmend an Bedeutung gewonnen haben.26 Seit den Anfängen beschäftigen sich die Prison Studies mit den gesellschaftlichen Dimensionen, Ausdifferenzierungen und Entgrenzungen der Disziplinargesellschaft.27 George Haslam ver_______ 22

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Im Roman des 19. Jahrhunderts werden die tatsächlichen historischen und sozialen Institutionen der Disziplinierung und Strafe (z.B. Gefängnis, Strafkolonie, Anstalt, Fabrik) zu einem prominenten Schauplatz realistischer Erzählungen, so z.B. in Stendhals La Chartreuse de Parme (1829), Victor Hugos, Le Dernier Jour d'un Condamné (1829) und Les Misérables (1862), Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1861/ 62), Rebecca Harding Davis’ Life in the Iron Mills (1861) oder Charles Reades Hard Cash (1863). Zu Dickens Gefängnis-Räumen wurde ausgiebig geforscht, vgl. u.a. Tambling 1986 und 1995, Albers 2007 sowie Lauterbach/Albers 2009. Zu Hawthorne, Melville, Twain und Cooper vgl. Mills 1970. Zu Melville und Hawthorne vgl. Shulman 1984. Zum Gefängnis in der britischen Literatur, Kunst, Musik und Architektur des 18. Jahrhunderts und den Übergängen von der strafenden zur disziplinierenden Gesellschaft in Daniel Defoes Robinson Crusoe, William Hogarths Progresses und John Gays Beggars Opera vgl. Bender 1987; zur Dynamik von Gefangenschaft und Flucht in der englischen Literatur vgl. Carnochan 1979; zur Figur des viktorianischen Gefangenen vgl. Grass 2003; ein Sammelband zur viktorianischen Literatur vgl. Lauterbach/Albers 2009. Eine wichtige Analyse von juristischen, soziopolitischen und literarischen Texten sowie architektonischen Visionen vom Ende des 18. bis zum späten 20. Jahrhundert in der U.S.-amerikanischen Literatur liefert Smith 2009. Zu den Ursprüngen und Entwicklungslinien afroamerikanischer Gefangenenliteratur vgl. u.a. Franklin 1978. Zu identitären Entwürfen in der Gefängnisliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Haslam 2005; zu bürgerrechtlichen Aspekten und nationalen Vorstellungen vgl. Wright/Haslam 2005. Die amerikanische Soziologin Michelle Brown hat den kulturellen Einfluss auf die Wahrnehmung und Vermittlung von Gefängnisdiskursen im U.S.amerikanischen Kontext analysiert und darauf hingewiesen, dass die meisten Menschen nur durch kulturelle Repräsentationen Zugang zum Strafsystem haben. Damit hängt das gesellschaftliche Verständnis des Gefängnisses als Institution von der medialen Rahmung und den darüber transportierten Logiken ab (2009, 4). Hier sind besonders Forschungseinrichtungen zu erwähnen, die an der Schnittstelle der Geistes- und Rechtswissenschaften agieren, z.B. das PEN

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Der Gefangene als Phantom

merkt in Hinblick auf die Attraktivität der multi- und interdisziplinären Ausrichtung des Feldes: [...] the analyses ranging from the material to the cultural, the aesthetic to the ideological, the local to the global, and the analytic to the activist, these works highlight the complex social entanglements of prisons and the study thereof. (2008, 468)

Ein Bereich innerhalb der stark soziologisch und historisch orientierten Prison Studies konzentriert sich auf die Gefängnisarchitekturen: vom Newgate Gefängnis, der Bastille und Jeremy Benthams 1791 entworfenem Panoptikon zu John Havilands Architekturen (z.B. der Eastern State Penitentiary), den berüchtigten viktorianischen Tombs in New York oder den neuen Hochsicherheitsgefängnissen in den USA.28 Hier wird die Beziehung zwischen der räumlichen Formation und ihrer Funktionalisierung in Bezug auf die Produktion und Disziplinierung von historischen und sozialen Körpern in Augenschein genommen. Ein Klassiker dieser Forschungsrichtung ist Norman B. Johnstons The Human Cage: A Brief History of Prison Architecture (1973).29 In den Prison Studies rücken nicht nur die utopischen und dystopischen Träume der Architektur in den Blick, sondern auch die literarischen und filmischen Inszenierungen von Gefangenschaft. Monika Fludernik hat darauf hingewiesen, dass sich hinsichtlich der Darstellung des Gefängnisses in den verschiedenen Medien in der Postmoderne ein Wandel beobachten lässt: The modernist period is also the point at which mainstream literature ceases to prominently display prison settings. This trend continues into the postmodernist era where mainstream novels, even in postwar American literature, rarely deal with imprisonment. By contrast, British drama both in the early 1900s and in the period after the 1950s teems with prison settings (as in the dramatic work of Galsworthy, Shaw and Granville Barker, as well as Behan, Bond, Brenton, Barker and others since the 1950s). The thematic focus on imprisonment constitutes a major aspect of the African-American novel and of postcolonial writing. Familiarity with prisons and imprisonment in the twentieth century is, however, serviced most prominently by the movie industry which provides the source for current stereotypes about the carceral condition. (2005, 2)

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Center for Prison Writing oder das International Center for Prison Studies in London (ICPS). Für Deutschland gelten u.a. die Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim und die ehemalige zentrale Untersuchungsanstalt der Staatssicherheit der DDR in Berlin-Hohenschönhausen als symbolische Orte nationaler und sozialer Identitätsbildung. Siehe dazu auch den vom Deutschen Historischen Institut Washington, DC herausgegebene Sammelband Institutions of Confinement. Hospitals, Asylums and Prisons in Western Europe and North America von Finzsch/Jütte 1996. Zur Wechselwirkung zwischen amerikanischen Gefängnisarchitekturen und gesellschaftlichen Ausdifferenzierungs- und Normierungsprozessen vgl. Smith 2009.

Forschungsstand

Der Gefängnisfilm bildete sich als Sub-Genre des klassischen Gangsterfilms zu Beginn der 1930er Jahre heraus (Kellner 1977, Stiglegger 2012).30 Seitdem haben sich verschiedene Kategorien und damit Forschungsthemen herauskristallisiert: der Gangster-Gefängnisfilm, der film noir-Gefängnisfilm, der Western-Gefängnisfilm, der Science-Fiction-Gefängnisfilm, der Kriegsgefangenenfilm (STALAG 17), das Musical (Chicago), das Verhördrama (z.B. Hunger, Strip Search, Fünf Jahre Leben) und der Psychothriller (z.B. The Cube, Prisoners).31 Der amerikanische Gefängnisfilm und die Gefängnis-Serie (z.B. Oz, Prison Break, Orange is the New Black) nimmt eine besondere Stellung in der Forschung ein.32 In der deutschsprachigen Anglistik liefert vor allem Jan Albers Narrating the Prison (2007) einen guten Einstieg zu den Darstellungen des Gefängnisses im Film des 20. Jahrhunderts (2007, 109-228).33 In neuerer Zeit liegt der Fokus auf Kulturtechniken und Wahrnehmungen der Überwachung und den postmodernen Ausformungen der »Kontrollgesellschaft « (Deleuze 1992). Unter dem Banner der Surveillance Studies geraten Wechselbeziehungen zwischen politischen Steurungsprozessen und Mechanismen des sozialen Monitorings in den Blick, aber auch institutionelle und mediale Überwachungslogiken sowie die ästhetischen Repräsentationsformen der Kontrolle.34 In der Literaturwissenschaft leisten Untersuchungen wie D.A. Millers The Novel and the Police (1988) einen wichtigen Beitrag zum Verständnis eines sich verändernden Überwachungsparadigmas.35 _______ 30 31 32

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Zur Motivik im Gefängnsifilm vgl. Wulff 1994. Für eine Arbeitsbibliographie und einen enzyklopädischen Beitrag zum Gefängnisfilm vgl. Meyer und Stiglegger (2010). Zum amerikanischen Film seit den 1930er Jahren vgl. Gonthier 2006. Zur Repräsentation des Gefängnisses in Film und TV-Drama vgl. Wilson/O’Sullivan 2004. Als Beispiel für postfeministische Perspektiven in der äußerst populären TV Serie Orange is the New Black vgl. Schwan 2016. Die interdisziplinäre »Law and Literature«-Bewegung, die sich unter dem Einfluss Richard Posners (Law and Literature, 1988) im angloamerikanischen Raum etabliert hat, befasst sich mit dem »Recht in der Literatur« und dem »Recht als Literatur«. Zu rechtlichen Bezügen in der deutschen und angloamerikanischen Literatur vgl. Nussbaum 1995, Ward 1999, Olson/Fludernik 2004, Vogl 2004, Sokol/Sokol 2006, Jordan/Cunningham 2007, Raffield 2010, Pethes 2011. Zur Repräsentation von »Gesetz und Gerechtigkeit« in der Populärkultur und speziell in Film und TV-Serien vgl. Machura/Robson 2001, Freeman 2005. Einen Überblick zum Forschungsfeld liefert Lyon 2007, für Forschungsperspektiven, vgl. u.a. Zurawski 2007 und das Open Access Journal Surveillance and Society. Eine zentrale Anlaufstelle für globale Forschungsfragen ist das Surveillance Studies Centre an der Queens University in Kanada. Nicht nur Literatur und Film, sondern auch die journalistische Berichterstattung und die digitalen Medien beeinflussen den Gefängnis-Diskurs. Das Thema Gefangenschaft wurde nach 2004 nicht zuletzt von den FolterBildern aus den amerikanischen Militärgefängnissen Guantánamo und

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Der Gefangene als Phantom

Das Thema Gefangenschaft hat nicht nur eine Ausweitung hinsichtlich seiner interdisziplinären Verschränkung und seiner Erscheinungsformen in anderen Medien erfahren, vor allem muss die Dynamisierung des Gefängnismotivs hin zu einem größeren Raum betrachtet werden, in der die Gefangenschaft als eine grundsätzlich durch gesellschaftliche Hierarchien und Normativierungen hervorgebrachte Struktur begriffen wird. Der englische Begriff des enclosure – verstanden als eine in Umfang und Gestalt variierende Einhegung – bietet hier einen produktiven Zugang.36 Ein Narrativ der enclosure ist demnach eine ästhetische Konfiguration, in der das Gefängnis oder ähnlich gelagerte Orte aufgeführt werden, um einen übergeordneten umschlossenen Raum und damit einhergehende Begrenzungsmechanismen und Besitzansprüche zu erzählen, die wiederum eng an Fragen von Selbst- und Fremdbestimmung geknüpft sind. Jener Raum der enclosure scheint in den Geschlechter- und (Post-)kolonialen Studien auf besondere Weise präsent. Erstere betonen die auf Geschlechterrollen basierende Wahrnehmung und Vermittlung von Gefangenschaft. Dabei geht es zum einen um die subjektiven Erfahrungen von internierten Frauen,37 als auch um eine auf gesellschaftlicher Ebene angesiedelte Begrenzung, die in der Literatur inszeniert wird. Dies bedeute nicht, dass jener zweite Aspekt in der autobiographischen Gefängnisliteratur nicht präsent wäre, er wird jedoch weniger allegorisch oder metaphorisch verhandelt, sondern stellt vielmehr die sozioökonomische Ursache der Inhaftierung (Gewalt in der Familie, Missbrauch, fehlende soziale Anbindungen oder Bildungschancen etc.) dar. Zudem wird die Gefangenschaft meist über einen gender-spezifischen Dis_______

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Abu Ghraib bestimmt. Der Anti-Terror-Diskurs hat eine erneute Diskussion zur Verletzlichkeit des Körpers in der Postmoderne entfacht. Im Mittelpunkt aktueller Forschungen stehen dabei biopolitische Fragestellungen, die sich an Giorgio Agambens philosophischem Konzept der Ausnahme und des Homo Sacer orientieren. Der Begriff wurde auch in der Literaturwissenschaft aufgegriffen. Oliver Rufs Ästhetik der Auschließung. Ausnahmezustände in Geschichte, Theorie, Medien und literarischer Fiktion (2009) und Nicolas Pethes Sammelband Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist (2011) untersuchen den Ausnahmezustand als historische Konfiguration in verschiedenen Medien und Zeiträumen. Beide Sammelbände suchen die politische und soziale Dimension des biopolitischen Diskurses mit ästhetischen Strategien ins Gespräch zu bringen. Enclosure (auch inclosure): Vom Anglonormannischen und Altfranzösischen enclos (eingeschlossen), vgl. Oxford Dictionary. Enclosure ist ein Begriff aus der Ökonomiegeschichte und meinte ursprünglich die Umwandlung eines der allgemeinen Nutzung offen stehenden Areals (in England das open-field system) in Privatbesitz (Turner 2003). Globalstatistiken zu Frauen im Gefängnis liefert die Website womeninprison.org. Vgl. auch das Sonderheft der Zeitschrift Signs »Women, Gender, and Prison. National and Global Perspectives« (2013).

Forschungsstand

kurs der Maskulinität vermittelt, in dem die Erfahrungen von Frauen kein Gehör finden bzw. nicht vertreten sind. Dies gilt auch für fiktionale Texte. Die für das androzentrische Weltbild als universell betrachtete Begrenzung des Seins wird in der feministischen Forschung als geschlechtlich determiniert betrachtet. Wegweisende Abhandlungen der zweiten Frauenbewegung innerhalb der Literaturwissenschaft, Susan Gubars und Sandra Gilberts The Madwoman in the Attic (1979), Susan Howes Arbeit zu Emily Dickinson und Mary Rowlandson (1985, 1993), Nina Auerbachs Romantic Imprisonment (1985) und Michelle Mock Murton in »Behind the ›barred windows‹: The Imprisonment of Women's Bodies and Minds in Nineteenth-Century America« (1995), machen auf die geistige und körperliche Gefangennahme von Frauen in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären aufmerksam.38 Der Forschungsschwerpunkt der 80er und 90er Jahre liegt auf der viktorianischen Literatur und der romantischen »imagination of containment« (Auerbach 1985, 7). Die Metaphern und räumlichen Figurationen der Gefangenschaft zielen vor allem in der frühen femininen und feministischen Literatur zwischen ca. 1840 bis 1920 auf die gesellschaftliche Rolle von Frauen innerhalb der patriarchalen Gesellschaft (Showalter 1973) ab. Gilbert und Gubar fassen diesbezüglich zusammen: »Enclosed in the architecture of an overwhelmingly male-dominated society, these literary women were also, inevitably, trapped in the specifically literary constructions of what Getrude Stein was to call ›patriarchal poetry‹.« (2000, xi) Angloamerikanische Schlüsseltexte für diesen Forschungszugriff sind u.a. Emily Dickinsons Gedichte, Charlotte Perkins Gilmans »The Yellow Wallpaper«, Emily Brontës Wuthering Heights (1847), Charlotte Brontës Jane Eyre (1846), Rebecca Harding Davis’ Life in the Iron Mills (1861) und Margret Howth A Story of To-Day (1862.)39 Bei der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson wird die »captive consciousness« (Gilbert/Gubar 1979) in räumliche Bilder wie dem »tomb« und »womb« übersetzt. Die Titel ihrer Gedichte verweisen auf eine erhöhte Sensibilität für das im RaumSein von Frauen im Allgemeinen und die Stellung von Autorinnen vis-àvis ihrer männlichen Kollegen im Speziellen.40 Virginia Woolf hat diesbe_______ 38

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Zur Poetik der Gefangenschaft in der französischsprachigen Literatur von Frauen vgl. Gelfand 1981, 1983. Gelfand sieht einen ästhetischen Unterschied in der Literatur von Frauen und argumentiert, dass die Texte den machtzentrierten Fokus männlicher Autoren wie François Villon, Donatien Alphonse François de Sade und Oscar Wilde konterkarieren. Vgl. dazu auch die Anthology of Women’s Prison Writings (Scheffler 2002) und das Handbuch Women in Prison (Medlicott 2007). Zur Verbindung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen im 19. Jahrhundert vgl. Schwan 2014. Zu Emily Brontës Wuthering Heights vgl. Berry 1996. Zu Davis und Howth vgl. Long 1998. Hier wären zu nennen: »I work in my Prison, and make Guests for myself«, »They shut me up in Prose/As when a little Girl/They put me in the

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Der Gefangene als Phantom

züglich in den 1920er Jahren einen »Room of One’s Own« gefordert – eine Möglichkeit der Selbstentfaltung, wie sie den männlichen Autoren zustand. Dabei wird auch hier eine spezifisch moderne Variante des Gefängnismotivs sichtbar, in der die gesellschaftlich bedingte Gefangenschaft als Kerker aber auch als Refugium bzw. Ort der kreativen Kontemplation empfunden wird. Autorinnen greifen klassische Topoi der oben beschriebenen Gefängnisliteratur sowie die Gefängnismetapher auf und mobilisieren sie in Hinblick auf die spezifische Erfahrungen von Frauen. Die Gedichte der deutschen Lyrikerin Annette Droste-Hülshoff oder Marlene Haushofers Roman Die Wand (1963) stehen beispielhaft für die Diversität der spannungsreichen Verhandlung geschlechtlicher Identitäten zwischen Gefangenschaft und Rebellion. Das »prison-house« des Geschlechts, hier als ironische Wende auf Fredric Jamesons Kritik am Strukturalismus zu verstehen, hat Judith Butler mit ihren wegweisenden Thesen zur Performativität des Geschlechts aufgeschlossen. Gleichfalls ließe sich für die soziokulturelle Verankerung der Gefangenschaft vor dem Hintergrund des Imperialismus eine Differenzierung der Gefängnisliteratur im Sinne einer übergeordneten enclosure vornehmen, denn unter dem Banner kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung kamen ganze Gesellschaften ›unter Arrest‹. Diesbezüglich zeigen zwei Forschungsrichtungen interessante Anschlussmöglichkeiten und notwendige Erweiterungen: eine Ausdifferenzierung des Lageruniversums in Bezug auf seine zeitliche und räumliche Ausbreitung und damit einhergehend eine Hinwendung zu seinen globalgeschichtlichen Wurzeln sowie ein Fokus auf koloniale Gefangenschaften. Die Arbeit der Historiker Kotek und Rigoulot Le siècle de camps (2000) 41 und die beiden Sammelbände Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert von Jahr und Thiel (2013) sowie Greiners und Kramers Die Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution (2013) zeigen transnationale Verbindungslinien

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Closet/Because they liked me ›still‹« (#613), »Lest they should come - is all my fear/When sweet incarcerated here« (#1169) und »A prison gets to be friend« (#652) (Johnson 1960). Koteks und Rigoulots Band machen auf die ungeheure Dichte, Reichweite und Verwobenheit der Erfahrung der Gefangenschaft im 20. Jahrhundert aufmerksam. Die Autoren betonen die globalen Zusammenhänge und transnationalen Entwicklungslinien, von den campos de concentration auf Kuba im Jahr 1896 bis hin zu den Lagern des Bosnienkriegs 1992 bis 1995. Sie beschreiben die strukturellen Ähnlichkeiten und den Rhythmus der Lager – dies eingedenk der Singularität der Vernichtungslager des Naziregimes. Der Vergleich sei notwendig, so die Autoren, um überhaupt die spezifischen Merkmale der einzelnen Lager herausarbeiten zu können.Die Autoren betonen damit nicht nur die »Globalisierung des Lagers« (Applebaum 2001), sondern auch seine Globalität und damit die Permanenz einer Rhetorik der Dehumanisierung und Depersonalisierung.

Forschungsstand

und koloniale Ursprünge der europäischen Lagererfahrungen. Das Lager in seiner Mobilität zu denken, quasi seine, wie Greiner und Kramer unglücklich formulieren, »Erfolgsgeschichte« nachzuvollziehen, ist nicht immer sinnvoll aber hilfreich, um allgemeine Fragen nach den globalgeschichtlichen Zusammenhängen zu stellen.42 Anne Applebaum hat diesbezüglich auf den nachweisbaren Wissenstransfer zwischen verschiedenen Kulturen hingewiesen (2001). In Hinblick auf eine transnationale Literatur- und Kulturwissenschaft argumentiert der Romanist Ottmar Ette: [S]chon seit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, in der die spanischen Eroberer die indianische Bevölkerung der amerikanischen Inselwelt durch Zwangsarbeit und Versklavung auslöschten, lässt sich das transareale, von Beginn an Europa, Afrika und Amerika miteinander verbindende fraktale Muster einer Lagerstruktur erkennen [...].« (2010, 253, Herv. i.O.).

Wann und wie Methoden der Internierung und Bestrafung über geographische und kulturelle Grenzen hinaus ausgetauscht, weitergegeben und implementiert werden, macht einen essentiellen Teil der Episteme der Gefangenschaft aus.43 Graeme Harpers Band Colonial and Postcolonial Incarceration (2001) liefert hier einen weiteren wichtigen Beitrag, denn er versammelt spezifisch koloniale und postkoloniale Narrative der Gefangenschaft in kritischer Abgrenzung und im Vergleich zu Entwürfen westlicher Gefängnisliteratur: The personal cages of colonialism hold equal sway with colonialism’s holistic history. The carceral is always a combination of the individual cell, the personal experience of the prisoner, and the function and structure of the institution of incarceration. (2001, 12)44

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Wolfgang Sofsky warnt in seiner wegweisenden Monographie Die Ordnung des Lagers vor einem »wissenschaftlich verbrämten Neorevisionismus« (2008, 20). Zugleich bemerkt er hinsichtlich der Vergleichbarkeit des nationalsozialistischen Vernichtungslagers: »Einem Ereignis das Prädikat ›unvergleichbar‹ zuzusprechen, setzt voraus, daß man dieses Ereignis bereits mit anderen Ereignissen verglichen hat und zu dem Schluß gekommen ist, daß es radikal von anderer Art ist. Unvergleichbarkeit kann rechtgemäß nur behauptet werden, nachdem sie festgestellt wurde, und zwar festgestellt durch den Vergleich. Zur Entlastung taugen Vergleiche allerdings ganz und gar nicht. Es gibt keine moralische Mathematik, kein ›tu quoque‹ beim moralischen Urteil […] selbst wenn sich durch einen Vergleich der deutschen, sowjetischen oder chinesischen Lager, ein Vergleich, der sowohl sinnvoll als auch notwendig ist, strukturelle Ähnlichkeiten herausstellen, ändert dies am moralischen Tatbestand nicht das geringste.« (2008, 21) Siehe dazu auch das vom Europäischen Wissenschaftsrat finanzierte Projekt »The Carceral Archipelago. Transnational Circulations in Global Perspectives« an der School of History, Leicester Universität, Großbritannien. Auch hier ist noch einmal zwischen autobiographischen und klar fiktional markierten Texten zu unterscheiden. In die erste Kategorie fällt das 1981 publizierte Gefängnistagebuch Detained: A Writer's Prison Diary des nige-

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Der Gefangene als Phantom

Obwohl der Kolonialismus in seinen materiellen und diskursiven Erscheinungsformen ein inzwischen prominentes Forschungsfeld darstellt, ist das colonial carceral, »a largely untheorized site of difference« (Harper 2001, 9, Herv. i.O.). Die colonial incarceration tauchte bis zu dem Sammelband von Harper vorrangig in den generischen Diskussionen zum Kolonialismus auf und wurde nicht als eigenständiges Forschungsfeld betrachtet, das durch eigene gattungsspezifische Elemente definiert ist: »a set of literal, metaphoric, lexical, physical, metaphysical, public and personal artifacts which are as current as they are historical [...].« (2001, 11) Die Formen kolonialer Gefangenschaft zwischen »bricks and chains« sind dabei ein Resultat »of specific instances of political, economic and cultural imperialism« (Harper 2001, 17).45 Die thematische Spannbreite der versammelten Artikel reicht von den kolonialen captivity narratives in Europa, Afrika und den Amerikas über die U.S.-amerikanischen Chinatowns bis hin zu den Lagern des südafrikanischen Apartheidsregime.46 Der Raum der Gefangenschaft wird hier anders dynamisiert und neu konzeptionalisiert. So formuliert Harper: »Whereas generic imprisonment relies on a neat mesh of temporal and spatial rhetoric [...], the broader context of the colonial carceral is entirely a spatial consideration« (Harper 2001, 17). Die konkreten Orte, wie das Gefängnis, aber auch die Plantage und das Sklavenschiff sind innerhalb bzw. im Verhältnis zum soziokulturellen und ökonomischen Raum des Kolonialismus und Imperialismus zu verstehen. Das gender carceral und das colonial carceral zeichnen sich demnach durch einen extensiven und dynamischen Begriff der Gefangenschaft aus. Die vorliegende Arbeit trägt zu bereits etablierten Forschungsgebieten bei, indem sie Gefangenschaft als eine durch gesellschaftliche Machtdyna_______

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rianischen Schriftstellers Ngugi wa Thiong’o. Zur zweiten Kategorie zählen u.a. Derek Walcotts Dream on Monkey Mountain (1970) und Alex LaGumas In the Fog of the Season’s End (1972). Zur Strafpolitik und Methoden der Disziplinierung im kolonialen Raum Anderson/Killingray 1991, Brown 2002, Alexander/Anderson 2008, Bell 2013. Während das System des Gulag, die europäischen Konzentrationslager, der europäische Gefängniskontinent Australien und viele der südamerikanischen Gefängnisse und Lager ausgiebig erforscht wurden, bilden die afrikanischen Länder (ausgenommen Südafrika) und der asiatisch-pazifische Raum ein Forschungsdesiderat des colonial carceral. Beispielhaft sind an dieser Stelle Abhandlungen über Gefangenschaft und Kolonialismus in Kenya (Branch 2005), allgemeine Untersuchungen zur Durchsetzung europäischer Strafgesetzgebungen im kolonialen Raum (Cuneen 2009) und zu den Auswirkung kolonialer Strukturen auf die Kriminalität und Strafverfolgung in Hawaii (Chesney-Lind/Bilsky 2011), Jamaika (Paton 2004) und Singapur (Pieris 2009), zum kolonialen Gefängnis im Senegal (Bâ 2007) und zur Gefangenschaft der indigenen Bevölkerung in Nordamerika (Rhyms 2008). Zur »kolonialen Bastille« in Vietnam vgl. Zinoman 2001.

Forschungsstand

miken hergestellte Ordnung begreift, die in der Literatur und den visuellen Medien (re-)produziert und/oder kritisch unterlaufen wird. Die Analysen greifen auf einschlägige Erkenntnisse aus den zuvor aufgeführten Forschungsgebieten zurück und machen im Rückgriff auf die materiellen Bedingungen und sozialen Funktionalisierungen der Gefangenschaft, eine epistemische Form des Gefangenen sichtbar, die eng an das Selbstverständnis moderner westlicher Gesellschaften geknüpft ist. Ich untersuche fiktionale und semi-fiktionale Anordnungen, deren Verortungen (Strafkolonie, Ghetto, Lager, Kriegsgefängnis, Dachboden, Stadt, Kolonie) auf größere Räume der Bannung schließen lassen, die wiederum immer wieder ähnliche Subjektpositionen des Phantoms hervorbringen.47 In diesem Sinne: Wie wird Gefangenschaft, die Figurationen von Wärtern und Gefangenen und die modernen Architekturen der Bannung, inszeniert und funktionalisiert? Inwieweit sind die Darstellungen als Selbstbeschreibungen zu deuten und welche Ideen der Gemeinschaft und der sie konstituierenden einschließenden und ausschließenden Mächte vermitteln sie?

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Die Arbeit ist diesbezüglich von Urs Urbans Werkanalyse des Schriftstellers Jean Genet, Der Raum des Anderen und Andere Räume (2007) inspiriert. Urbans raumtheoretischen Analysen, die u.a. das closet in den Blick nehmen, beschreiben Formen der Einhegung – ohne den Begriff gleichwohl zu benutzen. Im Verweis auf Julia Kristevas Theorie des Abjekten, Michel Foucaults Heterotopie-Begriff und Marc Augés Konzeption des non-lieux, entwickelt Urban topographische Lesarten von der Erzählung des Eigenen und Anderen.

3. Käfige der Moderne: Brontë, Melville, Mirbeau, Conrad, Kafka In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich verschiedene Darstellungsweisen der Gefangenschaft, bezogen auf Genre und soziokulturelle Verortung, ausmachen. Es ließe sich kaum von einer einheitlichen ästhetischen oder motivischen Linie sprechen, auch wenn mit der Geburt der Disziplinargesellschaft und der Ausdifferenzierung der Normierungsinstitutionen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts eine gewisse Virulenz des Themas in der europäischen Literatur zu beobachten ist. Zugleich lässt sich jedoch behaupten, dass die modernen Anordnungen der Gefangenschaft Fragen nach der Anerkennung bestimmter ethnischer und sozialer Identitäten verhandeln. Folgend wird untersucht, welche kulturellen Hegemonien in literarischen Konfigurationen hergestellt werden und wie sie als Konstruktionen sozialer Wirklichkeit gesellschaftliche Herrschaftsmodelle sichtbar machen, kritisieren und/oder perpetuieren.1 Im Mittelpunkt der Analyse stehen Anordnungen der Gefangenschaft im Zeitalter des europäischen Imperialismus zwischen 1840 und 1919. In einer Zusammenschau kanonischer Texte von Charlotte Brontës Jane Eyre (1847), Octave Mirbeaus Le jardin des supplices (1899), Herman Melvilles »Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall Street« (1853) bis hin zu Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) werden Konstruktionen von Gemeinschaft vis-à-vis der Herstellung einer gewissen Phantom-Position über die erzählten Topographien und in der Figurenkonstellation von Wärter- und

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Mit der Neuordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, der Dekolonialisierung und dem Aufkommen der Cultural Studies in den 1960er Jahren wurde das Verhältnis von globaler und nationaler Geschichtsschreibung revidiert und neu verhandelt. Besonders die Diskursanalyse, der New Historicism, die theoretischen Impulse aus der Geschlechterforschung und die postkolonialen Studien hinterfragen klassisch hermeneutische Ansätze und das Konzept der nationalen Literaturen. Im Zuge der historischen und diskursiven Dekolonialisierung haben Konzepte der »geteilten Rhetorik«, des »strategischen Essentialismus« (Spivak 1985) und der »kontrapunktischen Lektüren« (Said 1994) auf die Verwebung binärer Konzeptionen von ›Mutterland‹ und ›Kolonie‹, Zentrum und Peripherie, Kolonisierer und Kolonisierter, aufmerksam gemacht. Jene Verbindungen sind jedoch durch asymmetrische Machstrukturen gekennzeichnet, in denen die Deutungshoheit oft genug mit einer eurozentristischen Perspektive zusammenfällt.

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Der Gefangene als Phantom

Gefangenensignifikanten in den Blick genommen.2 Die exemplarischen Interpretationen dienen als Ausgangs- und Vergleichspunkte für eine Tiefenanalyse von Franz Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« (1919), die hier vor einem breiteren literatur- und kulturgeschichtlichen Rahmen betrachtet wird. Wie wird die Gefangenschaft im Spannungsfeld europäischer und nationaler Gemeinschaften um die Jahrhundertwende erzählt? Welche Phantome produzieren die literarischen Texte und welche Parallelen und Unterschiede in den Konfigurationen der Gefangenschaft lassen sich ausmachen? Die im Anschluss vorgestellten Texte stellen allesamt Versuche dar, die moderne globale Weltordnung zu verstehen und adequate Formen der Darstellung zu finden. Sie verhandeln neue Formen der Internierung sowie Fragen der sozialen Geltung, die sich mit der Vorstellung des freien bürgerlichen Subjekts verbinden. Auffällig ist dabei die Einhegung von devianten Positionen und damit oft einhergehender ethnischer Differenz, die sich in verschiedenen physischen Einschlüssen symbolisch verdichtet. In der Beschwörung des Gefangenen als Phantom verbinden sich bestimmte Diskurse der Herabsetzung, die sich – abhängig vom Text – als komplizitäre, unreflektierte Aneignung des Anderen und /oder als kritisches Bewusstsein für die Ausweitung und Anerkennung prekärer Identitäten in der Moderne lesen lassen.

3.1 Gefangenschaft als Narration des Anderen

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In der europäischen und amerikanischen Schauerliteratur wird die Gefangenschaft des modernen Menschen auf besonders eindringliche Weise behandelt. Neben der Reiseliteratur fand der ›andere‹ Ort vor allem in den Erzählungen von Edgar Allan Poe bis hin zu Bram Stokers Roman Dracula seine Entsprechung. Abgeriegelte Schlösser, doppelbödige Zimmer, Kellerund Kerker gerieren zu Räumen des Verdrängten, in der das Andere als geisterhafte Erscheinung seinen Platz findet. Jene unheimliche Figur ist ab der Mitte des 19. Jahrhundert zunehmend durch die Präsenz des empire definiert und bindet sich mehr und mehr an einen realgeschichtlichen Körper. Benita Parry hat diesbezüglich für die britische Literatur formuliert: »signs of overseas empire, conspicuous or ghostly, were written across the body of both the canonical and popular British literature.« (2004, 107) Die Angst vor dem Anderen findet, nach Patrick Brantlinger, im Genre des _______ 2

Im Folgenden wird weniger ein »writing back« (Ashcroft 1989) von Autoren aus den ehemaligen Kolonien ins Zentrum gestellt, sondern eine gezielte Revision kanonischer Texte der europäischen Moderne betrieben.

Käfige der Moderne

»Imperial Gothic« seine Entsprechung. In Rules of Darkness. British Literature and Imperialism, 1830-1914 (1988) definiert Brantlinger die moderne Variante des Schauerromans als, [...] a narrative in which the conjunction of imperialist ideology, primitivism, and occultism produces narratives that are at once self-divided and deeply symptomatic of the anxieties that attended the climax of the British Empire. (1988, 228229)

Gleichzeitig sind die neuen Erscheinungen durch die inneren Krisen moderner Gesellschaften motiviert. Das Unbehagen ist nicht nur durch die Präsenz der Kolonisierten in Übersee geprägt, sondern bezieht sich auch auf verschiedene soziale Gruppen innerhalb Europas und den USA. Es trifft Kriminelle, Arbeiter, Juden, Homosexuelle und nicht zuletzt die ›neuen‹ Frauen, deren öffentliche Wahrnehmung und Beschreibung sich zunehmend verbinden.

3.1.1 »A wild beast’s den«: Bürgerliche Gefangene In Charlotte Brontës Jane Eyre wird die Gefangenschaft in real markierten Räumen und räumlichen Metaphern als krisenhafte Selbstbeschreibung inszeniert und gebannt. Karen Chase hat dahingehend betont: »Few novels are as spatially articulate as Jane Eyre [...] the spatial design is not so much a way to arouse sensation as to organize it.« (59-60, Herv. i.O.) Gleichwohl entfaltet sich der Roman vor dem Hintergrund europäischer Expansion in Übersee und bezieht sich damit nicht nur auf den Raum häuslicher und mentaler Existenz, sondern positioniert sich in einem zunehmend globalen Erfahrungshorizont, der die die textuelle Raumkonzeption und -deutung beeinflusst. Doch zunächst soll hier auf die kanonische Interpretation des Raums in Jane Eyre eingegangen werden. Nach der klassisch feministischen Lesart fungieren die verschiedenen Orte der Disziplinierung im Roman als metaphorische Struktur für die Unterdrückung der Frau in patriarchalischen Gesellschaften. Susan Gubar und Sandra Gilbert haben dahingehend in ihrer wegweisenden Studie The Madwoman in the Attic (1979) Jane Eyre als einen weiblichen Bildungsroman der viktorianischen Literatur interpretiert, [...] in which the problems encountered by the protagonist as she struggles from the imprisonment of her childhood toward an almost unthinkable goal of mature freedom are symptomatic of difficulties every woman in a patriarchal society must meet and overcome: oppression (at Gateshead), starvation (at Lowood), madness (at Thornfield), and coldness (at Marsh End). (2000, 338-339)

Über die symbolischen Schauplätze verdichtet sich darüber hinaus die Macht der sozialen Kontrolle. Ein besonders prägnantes Beispiel liefert die Gefängnisarchitektur des Gartens in Lowood, die den Aufbau der Schule im Kleinen widerspiegelt: »The garden was a wide inclosure, surrounded by walls so high as to exclude every glimpse of prospect; a covered ve-

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Der Gefangene als Phantom

randah ran down one side, and broad walks bordered a middle space divided into scores of little beds.« (JE 40) Der streng organisierte Raum dient der Kultivierung junger Menschen, doch das Leben innerhalb der Schulmauern ist ebenso tot und trostlos wie der Anblick des Gartens im Winter (»wintry blight and brown decay«, JE 40). Jane resümiert nach den Lehrjahren: »school-rules, school-duties, school-habits, and costumes, and preferences, and antipathies: such was what I knew of existence.« (JE 72) Die primäre Funktion der Schule liegt in der Disziplinierung und Normativierung, die vom Subjekt verinnerlicht wird. Der Gedanke an ein selbstbestimmtes Leben scheint Jane unmöglich, ihr bescheidener Wunsch ist lediglich »a new servitude« (ibid.). Während sich die sozialen Abhängigkeiten über die konkreten physischen Eingrenzungen erzählen, sind Bewegungsradius und Wirkraum Jane Eyres durch die Wahrnehmungen und Erwartungshaltungen der anderen Figuren bestimmt. Sie erscheint zunächst als aufsässiges Kind, wird als Jungfrau begehrt und soll devote Ehefrau, gute Christin und Missionarin sein, bis sie schlussendlich ihren Platz an der Seite des geläuterten Rochesters einnimmt. Brontë kommentiert die Einhegung der Frau über die durchaus ironisch konnotierte Rede St. Johns, nach der Jane alle erstrebenswerten Eigenschaften einer Frau vereint: »docile, diligent, disinterested, faithful, constant, and courageous; very gentle, and very heroic« (JE 344). Jene Aufzählung degradiert das weibliche Ich im Spiegel männlicher Interessen zum Neutrum. Sie wirkt überstilisiert und entindividualisiert. Die Perspektivierung, die zwischen der Ich-Erzählerin Jane Eyre und den Fremdbeschreibungen oszilliert, repräsentiert den Kampf um die Deutungshoheit über die Frau, der sich am deutlichsten in der Beziehung zwischen den beiden Liebenden zeigt. In Kapitel XXVII, kurz bevor Jane Thornfield verlässt, bringt Rochester das männliche Begehren auf den Punkt: Consider that eye: consider the resolute, wild, free thing looking out of it, defying me, with more than courage – with a stern triumph. Whatever I do with its cage, I cannot get at it – the savage, beautiful creature! If I tear, if I rend the slight prison, my outrage will only let the captive loose. Conqueror I might be of the house; but the inmate would escape to heaven before I could call myself possessor of its clay dwelling-place. And it is you, spirit – with will and energy, and virtue and purity – that I want: not alone your brittle frame. (JE 271)

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Die Passage rekurriert auf die antike Vorstellung, nach der die Seele »im Körper gefesselt« ist und »das Seiende durch ihn wie durch ein Gefängnisgitter betrach[t]« (Platon 2004, 45, 82e).3 Janes Seele ist deiktisch markiert, _______ 3

In diesem Sinne war für Platon nur die Philosophie in der Lage den Menschen von der irdischen Gefangenschaft des Körpers und seinen Selbsttäuschungen zu befreien: »Die Wissensliebhaber erkennen nämlich, daß,

Käfige der Moderne

sie schaut aus den Augen heraus. Der Körper stellt den »Käfig«, das »Haus«, »eine Hülle aus Lehm« dar. Mit dem Wunsch die Frau körperlich und geistig zu besitzen, installiert sich der Mann als Vertreter göttlicher Macht (»possesor of its clay dwelling-place«). Janes starke körperliche Reaktionen in Situationen die symbolisch für die Anerziehung normativer Vorstellungen weiblicher Identität stehen, sprechen für ein Spannungsverhältnis zwischen antiken und modernen Vorstellungen. Die Ohnmachtsanfälle der Protagonistin stellen den Versuch dar, der körperlichen Einhegungen des Geistes zu entkommen und sind zugleich physischer Ausdruck der Disziplinierung des Geistes. Doch während in Foucaults Abhandlung die Ausdehnung und Erweiterung der gefangennehmenden Strukturen zu einem »Kerker-Archipel« (1994, 385) an den nationalen Raum gebunden bleibt, zeigt der literarische Text wie sich der Kolonialismus und die Sklaverei mit den westlichen Fragen nach Emanzipation und Freiheit verbanden. In Jane Eyre werden die Doppelbödigkeit und die intrikaten Verstrickungen im modernen Gefangenschaftsdiskurs aufgeführt und durch die Spiegelung räumlicher Strukturen symbolisch gefasst. Von Gubar und Gilbert stimmig als »story of enclosure and escape« (2000, 338f.) gelesen, entwickelt sich das moderne weibliche Bewusstsein in Jane Eyre schlussendlich in der Gegenüberstellung mit Rochesters ›wahnsinniger‹ Frau Bertha Mason.4 Doch während die klassisch feministische Interpretation Rochesters Ehefrau aus Jamaica zum »Avatar« (Gubar/Gilbert 2000, 359), zum »Monitorium« (Chase 1948, 467) für Janes Auflehnen gegen die ihr zugedachte Rolle als devote Ehefrau macht (Gubar/Gilbert 2000, 361), scheint es doch eher um eine grundlegende Frage nach der (Be-)Greifbarkeit des Anderen zu gehen. _______

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wenn sich die Philosophie ihrer Seele annimmt, die ganz und gar im Körper gefesselt ist und an ihm klebt, die das Seiende durch ihn wie durch ein Gefängnisgitter betrachten muß und es nicht selbst für sich betrachten kann, die sich auch in völliger Unwissenheit herumwälzt, daß, wenn die Philosophie die Macht dieses Gefängnisses durchschaut und weiß, daß sie auf Begierde beruht, so daß der Gefesselte selber hier der größte Helfer bei seiner Fesselung ist.« (2004 45, 82e) Die sinnlichen Täuschungen, die von der Dichtkunst begünstigt werden, jener »Trug« der die Seele verführte und in Platons Höhlengleichnis seine Parabel fand, konnte nur durch die Philosophie abgewendet werden. Nach Platon war nur sie befähigt die Seele ihrer Bestimmung zuzuführen, »sich in sich selbst zusammenzubringen und zu sammeln und nichts anderem zu vertrauen als sich selbst, wenn sie selbst für sich selbst von den Seienden etwas selbst für sich selbst denkt« (ibid.). So widersteht Jane schlussendlich dem körperlichen Verlangen Rochesters (der ein Sklave seiner eigenen Begierden ist) und auch ihren eigenen körperlichen Bedürfnissen. Als antithetische Figur betrachtet, wird Bertha zum Spiegelbild für die innere Rebellion Jane Eyres, einem: »secret dialogue of self and soul [...] on whose outcome [...] Jane’s coming of age all depend.« (Gubar/ Gilbert 2000, 339).

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Der Gefangene als Phantom

Bertha, die, wie Laurence Lerner betont, inzwischen zu den prominenten Figuren der englischen Literatur gehört (1989, 273), ist im Roman durch eine dreifache räumliche Abgrenzungen markiert. Bereits auf der Reise nach England scheint sie das Eigene auf unvorstellbare Weise zu bedrohen, wie Rochester erklärt: To England, then, I conveyed her; a fearful voyage I had with such a monster in the vessel. Glad was I when I at last got her to Thornfield, and saw her safely lodged in that third-storey room, of whose secret inner cabinet she has now for ten years made a wild beast’s den – a goblin’s cell. (JE 264, meine Herv.)

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Auf Thornfield verbirgt sich ein Raum im Raum, eine »third stor(e)y«, die als autopoetischer Kommentar zu der tiefer liegenden Bedeutung des Romans gelesen werden kann: der doppelt gesicherten Figur des kolonialen Anderen als Zentrum der Angst. Jenes Andere installiert sich in einem dienstbaren Verhältnis zu dem Hausherrn und Jane Eyre , denn der dritte Stock ist nicht zuletzt auch der Rückzugsort der Bediensteten. In einer der Schlüsselszenen des Romans, kommt der »dritte« Raum zum Vorschein: »He lifted the hangings from the wall, uncovering the second door: this, too, he opened. In a room without a window there burnt a fire, guarded by a high and strong fender.« (JE 250) Bertha Masons Reich ist durch einen schweren Vorhang und eine weitere Tür verborgen. Der Raum – »a room without a view« – hat keine Fenster, im Inneren herrscht konstante Dunkelheit. Der Zugang zu Licht und Wärme ist durch ein hohes Kamingitter versperrt. Gleichzeitig vermittelt die Feuerstelle einen prähistorischen Eindruck, der durch den animalisch gezeichneten Zustand der Figur und Rochesters Rede von der »Höhle« noch verstärkt wird: »it grovelled, seemingly, on all fours: it snatched and growled like some strange wild animal [...].« (JE 250, meine Herv.) Die Vertierung bietet ein altbekanntes Muster, um die Gefahr, die von Bertha ausgeht, zu betonen und sie zugleich außerhalb des Gesetzes zu installieren (Spivak 1985, 249). Das verborgene und verrätselte Andere ist das schwer fassbare Zentrum des Narrativs und birgt zugleich eine ambivalente Bedeutung. Jane scheint immer wieder vom dritten Stockwerk angezogen. Sie wird von der Ahnung einer undeutlichen Präsenz verfolgt. Doch erst nach dem Brand in Thornfield wird die Existenz Berthas öffentlich. Jane fragt den Besitzer des Inns nach dem Verbleib Rochesters. In der Antwort des Mannes verdichtet sich die Phantomhaftigkeit Berthas in Bezug auf die männlich codierte koloniale Ideologie und die Präsenz des kolonialen Anderen als Teil der nationalen Narration: She was kept in very close confinement, ma’am; people even for some years was not absolutely certain of her existence. No one saw her: they only knew her rumour that such a person was at the Hall; and who or what she was it was difficult to conjecture. (JE 363)

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Bertha Mason bleibt innerhalb der hegemonialen Repräsentation das Phantom, eine als Körper gebannte bedrohliche Differenz. Der Roman verweist an dieser Stelle auf die Ökonomie gesellschaftlicher Sichtbarkeiten, verbunden mit dem Hinweis auf das Fehlen eines authentischen und tiefer gehenden Wissens über die kulturelle Identität der Kolonialisierten. Janes erste Reaktion gegenüber der Figur Bertha Mason ließe sich im Sinne jener fundamentalen Unsicherheit lesen, die nicht zuletzt mit dem allgemeinen, mangelhaften Informationsstand der Protagonistin einhergeht: »What it was, whether beast or human being, one could not, at first sight, tell.« (JE 250, meine Herv.) Zugleich ist Bertha Mason eine intersubjektive, auf Anerkennung basierende Kommunikation versagt. Ihre Sprache ist von Gewalt und Zerstörung geprägt und stellt somit ein Risiko für das Leben der Liebenden dar. Jane Eyre wirkt hier als Präventionserklärung gegen jenes rätselhafte Andere und ließe sich somit auch als bewusste Strategie der Bannung verstehen. Der Text versucht das epistemische Unbehagen durch eine Montage bekannter identitärer Signifikanten aufzulösen und verstärkt damit noch Berthas Monstrosität. In ihrer Darstellung überschneiden sich verschiedene Vorstellungen des versklavten kolonialen Anderen, so ist z.B. ein Bezug zu den Maroons, den jamaikanischen schwarzen Rebellen, denkbar (Meyer 1996, 67). Joyce Zonana argumentiert, dass die Kreuzung unterschiedlicher Identitäten im orientalistischen Diskurs der Zeit nicht unbedingt einen Widerspruch darstellte: 5 One might say that Bertha’s characterization as a ›clothed hyena‹ manifests the Western view of the underlying reality of the harem inmate, the philosophical view of women that underpins both their confinement within the harem and their more conventional adornment. Thus, to note Bertha’s ›blackness‹ and her birth in Jamaica need not preclude seeing that she is also, simultaneously, figured as an ›Eastern‹ woman. (1993, 611f.)

Der Orient lieferte im 19. Jahrhundert altbekannte Motive, um das neue Fremde zu fassen. In Berthas Charakterisierung konvergieren so verschiedene parallele Diskurse, sie ist überdeterminiert als »central locus of Brontë’s anxieties about oppression« (Meyer 1990, 252). Der Seelenzustand, als auch die soziale Position der viktorianischen Frau, wird hier über die schützende Linse der ›Orientalin‹ bzw. der ›Wilden‹ für eine westliche, speziell britische Leserschaft aufbereitet, um so die Forderung nach Gleichbe-

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Zur Virulenz des Orient-Diskurses in Deutschland ab 1800 vgl. Poschalegg 2005. Speziell zum Zusammenhang zwischen der Literatur von Frauen im 19. Jahrhundert und dem Orientalismus vgl. Stamm 2010.

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rechtigung zu erzählen.6 Jene Verbindung wird im Dialog zwischen Jane Eyre und Rochester im »silk warehouse« deutlich: I ventured once more to meet my master’s and lover’s eye; which most pertinaciously sought mine [...]. He smiled; and I thought his smile was such as a sultan might, in a blissful and fond moment, bestow on a slave his gold and gems had enriched. (JE 229)

Rochester, der Jane versichert sie nicht gegen »the grand Turk’s seraglio, gazelle-eyes, houri forms, and all« (ibid.) eintauschen zu wollen, wird von Jane mit einer Wutrede zurechtgewiesen: »I’ll be preparing myself to go out as a missionary to preach liberty to them that are enslaved – your harem inmates among the rest.« (JE 230) Die stereotype Darstellung der Orientalin dient dazu, dem Westen seinen barbarischen Umgang mit den ›eigenen‹ Frauen vorzuhalten: »[...] the representation of the Orient by means of unexamined, stereotypical images thus becomes a major premise in the formulation of numerous Western feminist arguments.« (Zonana 1993, 594)7 Die Analogie erfüllt ein Bedürfnis des westlichen Feminismus, den gesellschaftlichen status quo zu verändern, dies jedoch nicht als radikaler Versuch der Re- und Neustrukturie_______ 6

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Eine der wichtigsten literarischen Quellen des europäischen Orientalismus im 18. und 19. Jahrhundert waren die Geschichten aus Tausend und einer Nacht, die 1704/08 vom Franzosen Antoine Galland übersetzt bzw. editiert wurden. In Jane Eyre tauchen die Arabischen Nächte als eines der Lieblingsbücher der Protagonistin auf. Der Orient-Diskurs ist im 19. Jahrhundert besonders präsent und dient Europa als Projektionsfläche der Selbstbeschreibung. Er tritt dabei sowohl als das Fremde als auch als das Andere auf. Im Gegensatz zu den in dieser Zeit noch wenig erschlossenen Gebieten Afrikas oder des Pazifikraums bezeichnet er das Vertraute, ein altbekanntes Repertoire an Mythen, Vorstellungen und Bildern. Spätestens seit seiner Nobilitierung in Goethes Abhandlung zur Weltliteratur gilt er als Ursprung und Wiege der Kultur, zu der sich Europa ins Verhältnis setzt. Dabei kann keineswegs von einem transhistorisch gültigen, universellen, kohärenten Orientdiskurs gesprochen werden. Totalisierende Vorstellungen eines von der Antike bis zur Gegenwart virulenten und homogenen europäischen Orient-Bildes, wie es Edward Said in weiten Teilen der ersten Edition seiner Monographie Orientalism (1978) vermittelt, gelten inzwischen als überholt. Für einen Überblick zur Kritik des Orientalismus vgl. Wiedemann 2012, Poschalegg 2005, Marchand 2009 und Irwin 2006. Hier wird ein bekannter Diskurs der Literatur und vor allem der Gründertexte der feministischen Literatur des 18. Jahrhunderts aufgezeigt. So spricht Mary Wollstonecraft in der Vindication of the Rights of Women (1792) in Bezug auf die Unterdrückung der Frauen in England von »limbs and faculties [...], cramped with worse than Chinese bands«, die Erziehung der Frauen sei »worse than Egyptian bondage« und ihre Ehemänner »worse than Egyptian task-masters« (Wollstonecraft 1982, 128; 221; 319). Wollestonecraft bemüht die Institution des Harems, der ein beliebtes orientalistisches Motiv darstellte, um den männlichen Despotismus in der westlichen Welt anzuprangern.

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rung des Welt-Patriarchats, sondern mit dem Ziel der Zivilisierung der westlichen Männer.8 Auch die Interpretation von Gubar und Gilbert perpetuiert in der Perspektivierung den im Roman präsenten »feminist colonial discourse« (Zonana 1993, 594)9 – die kontinuierliche Orientalisierung von weiblichen kolonialen Subjekten innerhalb eines westlichen Emanzipationsdiskurses.10 Doch Jane Eyres ablehnende Haltung gegenüber dem Despoten Rochester ist nicht nur den Frauen des ›Orients‹ gewidmet, sondern allen, die versklavt sind (»I’ll be preparing myself to go out as a missionary to preach liberty to them that are enslaved – your harem inmates among the rest.« (JE 230, meine Herv.) Susan Meyer weist im Rückgriff auf die omnipräsente Metapher der Versklavung in Jane Eyre nach, dass sich die Brontës ausführlich und intensiv mit dem Thema Kolonialismus und Sklaverei auseinandergesetzt hatten (Meyer 1996, 70ff.). Die Rebellionen auf Barbados (1816), der vom baptistischen Prediger Samuel Sharp organisierte Aufstand in Jamaica (1831-32) und eine Folge von Rebellionen in den 1830er Jahren in Bahia, Brasilien, waren im öffentlichen Bewusstsein präsent.11 Der Roman entstand zu einer Zeit, in der Fragen kolonialer Gefangenschaft im Spannungsfeld von liberty und freedom heiß debattiert wurden. Großbritannien schaffte die Sklaverei 1833 ab, Frankreich folgte 1848. Susan Meyer argumentiert, dass die verspätete Darstellung der Rebellion in Jane Eyre auf die natürliche Verzögerung literarischer Verarbeitung zurückgeht (1996, 71). Auch nach Julia Sun-Joo Lee deutet der Roman immer wieder implizit auf die Existenz der Sklavenrevolten. So zum Beispiel in dieser Passage: »Millions are condemnded to a stiller doom than mine, and millions are in silent revolt against their lot. Nobody knows how many rebellions besides political rebellions ferment in the masses of life which people earth.« (JE 93) Lee versteht Jane Eyre vorrangig als Antwort auf die amerikanische _______ 8

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Nach Elaine Showalters Klassifizierung britischer Autorinnen (1977), gilt der Roman als ein Beispiel der femininen Phase (1840-1880). Er verhandelt zwar Themen weiblicher Provenienz, bleibt aber in einer androzentrischen Struktur verhaftet. Vor Joyce Zonana hatte der Komparatist Saad Al-Bazei in seiner Dissertation eine Definition des feministischen Orientalismus angeboten: »Feminist orientalism is a special case of the literary strategy of using the Orient as a means for what one writer has called Western ›self- redemption‹: transforming the Orient and Oriental Muslims into a vehicle for [...] criticism of the West itself.« (1983, 6) Für eine postkoloniale Kritik am westlichen Feminismus vgl. Spivak 1985 und Mohanty 1988. Bereits im Jahr 1790 hatte es mit der Tacky Rebellion einen Aufstand in Jamaica gegeben. Der erfolgreichste Sklavenaufstand wurde 1791 in Haiti geführt.

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Sklaverei und sieht in der oben genannten Passage eine Geste der Solidarisierung, die geographische und ethnische Grenzen transzendiert: »Human suffering is universal; it transforms relations of hierarchy (father to son, master to servant) to those of contiguity (brother to brother, human to human). Slavery is the indexical marker of this global network.« (2010, 41) Eben jene Einstellung perpetuiert die universalisierende Gleichschaltung ökonomischer und sozialer Positionen, unter denen eine Befreiung möglich wird. Und so verführerisch es auch sein mag von einer gemeinsamen ethischen Verantwortung zu sprechen, die Charakterisierung Bertha Masons als enigmatische Größe und die Löschung der Störung am Ende sprechen gegen den Versuch einer Geste der Solidarisierung auf Augenhöhe, die über das ambivalente Aufzeigen des Missstandes hinausweist. Denn nur ein Jahr vor Abschaffung der Sklaverei in Frankreich bringt Jane Eyre das koloniale Subjekt, das die nationale Integrität und ethnische Homogenität bedroht, zum Verschwinden. Vor dem Hintergrund der Sklavenrebellionen in den Kolonien kommt schlussendlich das widerständige koloniale Subjekt ums Leben. Mit dem Tod der jamaikanischen Ehefrau ist die glückliche Verbindung zwischen Jane und Rochester erst möglich. Spivak vermerkt: »It is the unquestioned ideology of imperialist axiomatics, then, that conditions Jane's move from the counter-family set to the set of the family-in-law.« (1985, 248) Das koloniale Andere wird schlussendlich zugunsten einer heterosexuellen, ethnisch ›weiß‹ markierten, legalen, englischen Partnerschaft beseitigt.12 Dies zeigt sich vor allem an der komplizitären Rolle Janes, die sich ihrer eigenen priviligierte Position innerhalb der modernen Weltordnung nicht bewusst ist, das Erbe einer ehemals ausbeuterischen Kolonialwirtschaft antritt13 und Distanz zum realen Körper Bertha Masons wahrt. Am Ende sind Gefangenschaft und Rebellion an das subjektive Bewusstsein der viktorianischen Frau gebunden. Jane Eyre scheint angesichts der historischen Entwicklungen eher präventiv an nationalen Narrativen festzuhalten, gleichwohl das koloniale Subjekt in seiner Phantomhaftigkeit vorgeführt wird.

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Eine kritische postkoloniale Re-Adaption der Figur der Bertha Mason lieferte die dominikanische Autorin Jean Rhys mit dem Roman Wide Saragasso Sea (1966). Madeira nimmt im frühen europäischen Sklavenhandel und dem Zuckerrohranbau im 15. Jahrhundert eine Schlüsselrolle ein. Die Erschöpfung der Böden führte zum Weinanbau, der durch die militärische Präsenz der Engländer nach dem Napoleonischen Kriegen 1801/14 viele britische Familien anlockte.

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3.1.2 Räder im Getriebe: Der Gefangene als Lohnsklave Auch in der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts findet sich eine Gegenüberstellung orientalischer Barbarei und Versklavung mit den sozialen Abhängigkeitsverhältnissen der westlichen Moderne. So wird häufig, wie in Hermann Melvilles Kurzgeschichte »The Paradise of Bachelors and The Tartarus of Maids« (1855), das Motiv des Harems bemüht, um die Situation der sozial Randständigen und Unterdrückten (vor allem die Arbeiter der industrialisierten westlichen Länder) in Europa und den USA zu verdeutlichen. In Melvilles Text werden die weißen Arbeiterinnen einer Papierfabrik mit den Sklaven im Orient verglichen: Not a syllable was breathed. Nothing was heard but the low, steady, overruling hum of the iron animals. Machinery – that vaunted slave of humanity – here stood menially served by human beings, who served mutely and cringingly as the slave serves the Sultan. The girls did not so much seem accessory wheels to the general machinery as mere cogs to the wheels. (TM 328)

Der Einsatz von Gothic-Elementen verstärkt die Präsenz der Gruppen, die aufgrund der schweren körperlichen Arbeiten und ihres geringen gesellschaftlichen Status eher den Toten als den Lebenden nahe stehen. Die ausbeuterische Struktur, so suggeriert es die Anordnung, ist auf ein männlich dominiertes Arbeitssystem zurückzuführen. Die Zweiteilung der Geschichte, die im ersten Teil das ausschweifende und luxuriöse Leben einer Gruppe von englischen Bachelors in London präsentiert und im zweiten Teil von den Arbeiterinnen erzählt, stellt zwei Lebensformen kapitalistischer Gesellschaften dar. Die »Brothers of the Order of Celibacy« bilden das dekadente Gegengewicht zur existentiellen Not der Arbeiterinnen, die vom Erzähler, der Außenseiter und Besucher beider Welten bleibt, präsentiert wird. Die neue Klasse des stetig wachsenden Industrieproletariats, die in den USA erst nach dem Bürgerkrieg zur vollen Blüte gelangte, tritt ins Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins und eo ipso der kulturellen Imagination. Der Ausdruck »cogs in the wheel« bedeutet eine Kritik am Menschenbild der Zeit, in der der Arbeiter bzw. die Arbeiterin zum Objekt des mechanisierten Zeitalters geriert. Der Mensch ist der Maschine ausgeliefert, er »dient ihr wie die Sklaven dem Sultan«. Allgemein wird in Melvilles Prosa eine Hinwendung zu den gefangennehmenden Strukturen der Moderne sichtbar. Archetypisch steht hier seine Erzählung »Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall Street« (1853), die Leo Marx als eine »Parabel der Mauern« (1953) bezeichnet. Der Leser ist mit dem Schicksal eines namen- und identitätslosen Protagonisten konfrontiert, der eine Stelle als Schreiber in einer Anwaltskanzlei an der Wall Street annimmt, sich plötzlich der Arbeit verweigert und am Ende im Kerker stirbt. Melville macht vermittels der Schauplätze (Wall Street, Büro und Kerker) und in der Figurencharakterisierung des Bartleby eine Struktur der gesellschaftlichen Ausbeutung und Entfremdung sichtbar, die nun auch

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den ›inneren‹ Anderen trifft. Jener Entrechtete beginnt sich in einem Akt passiven Widerstands gegen die ihm auferlegten Ketten zu wehren. Die daraus resultierenden Ängste und Unsicherheiten im Gegenüber werden, Jane Eyre nicht unähnlich, aufgeführt und im Narrativ zunächst mit dem physischen Tod des Protagonisten aufgelöst. Die schleichende Emanzipation Jane Eyres und die schlussendlich selbstbestimmte Ich-Erzählung, weicht in »Bartleby« einer größeren Distanz zum Objekt, in der die psychologischen Motive der Rebellion der dramatischen Darstellung moderner Entfremdung untergeordent werden. Zu Beginn seiner Anstellung erledigt Bartleby die ihm aufgetragenen Aufgaben stumm, mechanisch und zur vollen Zufriedenheit seines Arbeitgebers (BS 19), dessen Gewerbe als »snug business among rich men's bonds, and mortgages, and title-deeds« (BS 14) beschrieben wird. Doch eines Tages legt er die Arbeit nieder und widersetzt sich in der Formel »I prefer not to« (BS 20) dem Produktivitätsgebot der kapitalistischen Gesellschaft. In dem Moment, da er sich weigert, seine Rolle in der Erhaltung des Systems auszufüllen, tritt beim Anwalt, einem jovialen leichtlebigen Menschen, eine moralische Ambivalenz zu tage, die zur Krise ausartet. Am Ende siegt der Selbsterhaltungstrieb des Arbeitgebers. Bartleby scheitert an den kapitalistischen Strukturen, die den Schreiber als soziale Position überhaupt erst hervorgebracht haben. Er wird in die berüchtigten New Yorker Tombs verbannt und stirbt dort zusammengekauert in einer Ecke. Er ist für die Gesellschaft, aus der er kommt, überflüssig geworden. Doch dem physischen und zivilen Tod im Kerker gehen die bannenden Strukturen der modernen Gesellschaft und der soziale Tod in der Gemeinschaft voraus. Bereits das Büro ist eine Art Gefängnis-Raum. Der Anwalt positioniert Bartleby hinter einem hohen grünen Paravent in einer Ecke des Büros, von dessen Fenster aus man auf eine Wand blickt. Er ist somit von der Welt draußen abgeschirmt und vom Rest des Bürogeschehens isoliert. Obwohl der Anwalt nicht durch Bartleby gestört wird, so kann er ihn doch hören (BS 19). Die Anordnung des Raumes bietet eine effektive Konstellation aus Isolation und Überwachung, wie man sie im panoptischen Gefängnissystem findet (Colatrella 2002, 41). In Melvilles Erzählung scheint der Weg vom Angestelltendasein geradewegs logisch im Kerker zu enden. Das Gefängnis ersetzt lediglich »alte« Mauern. Es gibt kein Außerhalb, keinen arkadischen Ort im irdischen Leben, in den sich Bartleby flüchten könnte. Die Wall Street, die in der Erzählung als Metapher für den aufkeimenden globalen Kapitalismus steht,14 hat _______ 14

Die Mitte des 19. Jahrhunderts markierte den Übergang vom kontinentalen zum globalen Fernhandel, nach Eric Hobsbawm die »Blütezeit des Kapitalismus« (neue Märkte, neue Arbeitskräfte). In dieser Zeit expandierte der weltweite Aktienhandel, einer der wichtigsten Säulen war hier Hamil-

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die Welt fest im Griff. Die einzige Wahlmöglichkeit, die sich innerhalb jenes geschlossenen, unausweichlichen Systems für Bartleby anbietet, ist der Wechsel in einen äquivalenten Arbeitsbereich, der, ebenso wie in Jane Eyres Wanderung von Gateshead nach Thornfield, als neue Variante der gleichen Knechtschaft präsentiert wird. So fragt ihn der Anwalt: ›Would you like to re-engage in copying some one?‹ [...] ›Would you like a clerkship in a dry-goods store?‹ [...] ›How would a bartender’s business suit you?‹ [...] ›Well, then, would you like to travel through the country collecting bills for the merchants?‹ [...] ›How, then, would going as a companion to Europe, to entertain some young gentleman with your conversation – how would that suit you?‹ (BS 41)

Bartleby lehnt die in Aussicht gestellten Aufgaben ab, denn, so resümiert er, in ihnen liegt »[...] too much confinement« (BS 41). Als er dem Anwalt mit der nun etablierten Formel »I prefer not to quit you« (BS 35) zu verstehen gibt, dass er bleiben wird, ohne dabei seine soziale Rolle zu erfüllen, macht dieser ihm seine wahre Bestimmung und Daseinsberechtigung in der Welt des Kapitals bewusst: »What earthly right have you to stay here? Do you pay any rent? Do you pay my taxes? Or is this property yours?« (BS 35) Hier entblößt sich die kalte Logik der Wall Street als Sinnbild einer kapitalistischen Gesellschaft, in der sich das schiere Recht auf Anwesenheit, das Gültig-Machen seiner Existenz über die ökonomischen Verpflichtungen gegenüber dem Staat und den sozialen Status innerhalb der Gesellschaft definiert. Bartleby ist eine von außen bestimmte, auf ökonomischen Sätzen der Nützlichkeit und Rendite basierende Definition des Menschen, die durch die Mächte ihrer Hervorbringung auch wieder zerstört wird. In seiner Determiniertheit erinnert Bartleby an eine weitere soziale Figur, die dem Produktivitätsgebot der Gesellschaft zuwider läuft: der Sträfling. Nach Caleb Smith war jener auch eng mit der Gothic-Tradition des 19. Jahrhunderts verbunden: In nineteenth-century literature at large, too, punishment is routinely described as dehumanization, and prisoners appear as inhuman or monstrous figures, buried alive, embodying the condition of civil death. (2008, 253)

Nach dieser Lesart verkörpert Bartleby einen Ex-Sträfling, der versucht, in der sozialen Welt und im Arbeitsleben zu bestehen und dabei ein zweites Mal scheitert. Bartlebys geisterhafte Erscheinung ließe sich so als Kritik an der Sozialpolitik der Zeit verstehen, die sich nicht um die Reintegration und gesellschaftliche Rehabilitierung ehemaliger Häftlinge bemühte _______ tons Handel von Schuldverschreibungen staatlicher Emittenten an der »Handelsecke«, dem New York Stock Exchange. Diese Entwicklungen, die Eric Hobsbawm zeitlich zwischen 1848-1875 verankert, waren nicht zuletzt an die Ausweitung des britischen Weltreichs gebunden.

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(Colatrella 2002).15 Die Figur des Sträflings konstituiert dabei eine weitere Variante des zivilen Todes. Bartleby stirbt schlussendlich einsam und stumm im Gefängnis. Die Beschreibung des Innenhofs beschwört in den letzten Zeilen ein Motiv biblischer Gefangenschaft: […] the yard was entirely quiet. It was not accessible to the common prisoners. The surrounding walls, of amazing thickness, kept off all sounds behind them. The Egyptian character of the masonry weighed upon me with its gloom. But a soft imprisoned turf grew under foot. The heart of eternal pyramids, it seemed, wherein, by some strange magic, through the clefts, grass-seed, dropped by birds, had sprung. (BS 44)

Der »ägyptische Charakter« des Mauerwerks, der wiederum auf die ›barbarische‹ Natur moderner Gefangenschaft verweist und die Saat des Widerstands, symbolisch gefasst durch die »Grassamen«, bilden ein unauflösbares überzeitliches Spannungsfeld.16 Der Geist der Rebellion scheint über Bartlebys Tod hinaus fortzubestehen. Anders als in Janes Eyre, sind die Figuren hier in ihrer komplexen sozialen Abhängigkeit ausgestellt, die vor allem den Anwalt, in seiner Scheinheiligkeit und komplizitären Stellung innerhalb der sozialen Hierachien der Wall Street entlarvt und auf die Entmenschlichung innerhalb des geschlossenen Systems kapitalistischer Begierden hinweist. Zugleich bleibt der Grad der Verrätselung – die Unbegreifbarkeit des Anderen – erhalten und löst sich schlussendlich in der physischen Bannung auf. Ähnlich wie der aufständige Schwarze Babo in Melvilles Erzählung »Benito Cereno« (1855/56), kommen die innere Haltung und die Beweggründe des Ausbrechenden nie zum Ausdruck (vgl. dazu auch Bertha Mason).17 Während sich nun die _______ 15

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Erving Goffman zeigt auf, wie die Gefängnisse, die »totalen Institutionen« der Moderne, dazu dienten, den Gefangenen zu »mortifizieren«. Der zivile Tod manifestiert sich in »various forms of disfigurement and defilement« (1961, 15f; 35). Der Gefangene wird der sozialen Welt, seiner Umgebung entrissen, er verliert seinen Namen, seine individuelle Kleidung, seine Haare werden geschoren, kurzum, er wird einer Reihe von degradierenden Verfahren ausgesetzt, die einem ritualisierten Tod gleich kommen (1961, 14). Melvilles Schlussszene ließe sich auch als intertextueller Verweis auf das erste Kapitel »The Prison-Door« aus Nathaniel Hawthornes The Scarlett Letter (1850) lesen. Hier wird die düstere, alte, eiserne Gefängnistür durch einen wilden Rosenbusch konterkariert. Er nimmt den Ungehorsam der Protagonistin Hester Prynne symbolisch vorweg. »Benito Cereno« erzählt die Geschichte eines spanischen Handelsschiffs und seiner Besatzung, die durch einen Aufstand der an Bord gefangenen schwarzen Sklaven vorrübergehend in eine neue soziale Ordnung gezwungen werden. Jene neue Befehlsgewalt wird später vom amerikanischen Kapitän Delano niedergeschlagen. Babo, der Anführer der Meuterei wird in Lima hingerichtet. Die Geschichte ist ein gutes Beispiel für die ver-

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modernen Räume der Gefangenschaft und die ihr zugrundeliegene Figurenkonstellationen ästhetisch verdichten, scheint es, als sei die erzählerische Distanz zum Gefangenen in ihrer Bedeutung zweigeteilt: Zum einen markiert sie die Außenseiterposition bestimmter sozialer Gruppen, zum anderen kommt in ihr eine fundamentale Unsicherheit über die Existenz und das rebellische Potential jener Figuren für den gesellschaftlichen status quo zum Tragen. Während das Aufbegehren des schwarzen Sklaven Babo am Ende von »Benito Cereno« keine Verlängerung verdient, gewährt Melville Bartlebys Widerstand zumindest eine keimende Hoffnung.

3.1.3 Die Kolonie: Spiegelraum westlicher Dekadenz Als Gegensatz zu den vorgängigen Texten wird im Roman Le jardin des supplices (1899) des französischen Autors Octave Mirbeaus der ›orientalische‹ Raum auf der Zeichenebene zunächst außerhalb Europas verortet. Auf der Bedeutungsebene wird dieser jedoch als Sinnbild einer westlichen Strafgesellschaft funktionalisiert. Im Mittelpunkt der Erzählung steht ein Foltergarten in China, der als orientalistische Folie den moralischen und kulturellen Verfalls Frankreichs widerspiegelt. Ein Forschungsreisender, der sich selbst gleich zu Beginn als Scharlatan entlarvt, wird in den »Extrême-Orient« (JS 17) geschickt, um vor Ort wissenschaftliche Untersuchungen vorzunehmen. Die Geschehnisse der Reise, eine »l’histoire contemporaine« (JS 17), gibt der Protagonist lange nach seiner Rückkehr im Kreise einer elitären Männerrunde zum Besten, die zugleich die Rahmenerzählung des Romans ausmacht. In der Binnenerzählung verliebt sich der Forschungsreisende auf der Überfahrt von Marseille nach Ceylon in die Engländerin Clara und folgt ihr nach China. Clara beobachtet mit Vorliebe Folterszenen und insbesondere das Siechtum eines ehemaligen Dichters, der dort in den höllischen Kerkern gefangen gehalten wird. Die Erzählung stellt weniger die Brutalität der realen Praktiken des europäischen Kolonialismus ins Zentrum, sondern ist »eine Parodie europäischer Dekadenz« (Zilcosky 2003, Fn. 47, 236). Der chinesische Garten der Qualen, jene orientalistische Phantasielandschaft und seine sadistischen Folterer werden zum Spiegelort einer korrupten, westlichen Zivilisation und ist hier durchaus als äquivalente Struktur zur »third storey« in Jane Eyre zu denken. Als der Erzähler das grausame Folterspektakel, in dem als Meisterwerk der Kunst beschriebenen Garten, genauer verfolgt, verwandelt sich das Gesicht des Henkers in das Antlitz des verlogenen französischen Politikers Eugéne Mortain: _______ schiedenen Identitäten des Black Atlantic und eine weitere literarische Antwort auf die Sklavenaufstände in den Amerikas.

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Ach ja! Der Garten der Qualen! ... Die Leidenschaften, der Appetit, die Interessen, der Haß, die Lüge und die Gesetze und die sozialen Einrichtungen und die Gerechtigkeit, die Liebe, der Ruhm, das Heldenthum, die Religionen sind die scheußlichen Blumen und gräßlichen Werkzeuge des ewigen Menschenleidens in diesem Garten ... Was ich heute gesehen, was ich gehört habe, lebt und schreit und jammert auch jenseits dieses Gartens, der für mich nur noch ein Symbol ist, auf dem ganzen Erdball ... Vergebens suche ich einen Einhalt im Verbrechen, eine Ruhestätte im Tode, ich finde dies nirgends ... . […] Ich rufe Europa zu Hilfe und seine heuchlerische Civilisation und Paris, mein von Lachen und Vergnügen erfülltes Paris ... Aber Eugéne Mortains Antlitz ist es, das ich auf den Schultern des dicken und geschwätzigen Henkers grinsen sehe, der am Fuße der Galgen, inmitten der Blumen, seine Zangen und Sägen reinigte ... . […] Und dann die Richter, die Soldaten, die Priester, die allerorts in den Kirchen, den Kasernen, den Tempeln der Gerechtigkeit sich auf das Todeswerk stürzen … . (JS 243244)18

In der Parallelisierung von Orient und Okzident nimmt Mirbeau Anleihen bei einer Tradition, die in den Anfängen der Aufklärung und prominent in Baron de Montesquieus’ Lettres Persanes (1721) zu finden ist: die Betrachtung der ›eigenen‹ Kultur durch die Linse des Fremden.19 Octave Mirbeau schreibt zu einer Zeit, in der der Imperialismus Europas im Bewusstsein und der Lebenswelt der westlichen Mächte angekommen ist. Doch anstatt diese zu thematisieren, setzt er auf den Orient als einen bereits etablierten Gegenort und orientiert sich an der pikaresken Abenteuergeschichte. Ceylon erscheint nicht als Teil des kolonialen Einflussgebietes der Briten im 20. Jahrhundert, sondern wird quasi politisch und historisch entleert und durch eine zivilisationskritische Phantasie chinesischer Kultur ersetzt, deren Errungenschaft sich vor allem auf die Freiheit körperlicher Liebe beschränkt. Einzig Claras britische Herkunft mag _______ 18

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»Ah oui! Le jardin des supplices!... Les passions, les appétits, les intérêts, les haines, les mensonges: et les lois, et les instituions sociales, et la justice, l’amour, la gloire, l’héroïsme, les religions, en sont les fleurs monstrueuses et les hideux instruments de l’éternelle souffrance humaine ... Ce que j’ai vu aujourd’hui, ce que j’ai entendu, existe et crie et hurle au delà de ce jardin, qui n’est plus pour moi qu’un symbole, sur tout la terre [...]. J’ai beau chercher une halte dans le calme, un repos dans la mort, je ne les trouve nulle part ... . [...] J’appelle l’Europe à mon aide et ses civilisations hypocrites, et Paris, mon Paris du plaisir er du rire [...]. Mais c’est la face d’Eugène Mortain que je vois grimacer sur les épaules du gros et loquace bourreau qui, au pied de gibets, dans les fleurs, nettoyait ses scalpels et ses scies... Et ce sont les juges, les soldats, les prêtres qui, partout dans les églises, les casernes, les temples de justice s’acharnent à l’œuvre de mort ... .« (JS 216-217) Montesquieus fiktiver Briefroman, in dem zwei Perser die gesellschaftlichen Verhältnisse Frankreichs bewerten, ist nicht zuletzt eine getarnte Replik auf die herrschenden Ideen und sozialen Ordnungen des Westens. Im Briefwechsel zwischen den Persern und den daheim gebliebenen Haremsdamen verbindet sich der orientalistische Diskurs mit einer aufklärerischen Agenda.

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auf den gewaltsamen Kern britischer Kolonialpolitik hinweisen. Doch es geht dem Roman nicht um die realen Praktiken der imperialen Weltordnung, sondern um die disziplinierenden Institutionen in Europa, die in der dämonischen Folterkultur Chinas ihr Abbild finden. Die Häftlinge werden zu Objekten eines ästhetisierenden Körperkults. Die Protagonistin Clara, deren verarmte Sinne nur noch durch den Schmerz anderer angeregt werden können, resümiert: »Aber ich habe nichts so Schönes gesehen ... verstehst Du? ... als diese chinesischen Sträflinge ... das ist schöner als alles andere!« (JS 127)20 Der Gefangene existiert nurmehr als Projektionsfläche, seine monströse, animalische Erscheinung entlarvt die entmenschlichte Gesellschaft, die sich am Spektakel des geschundenen Leibes ergötzt: Bleich, fleischlos, mit dem Lachen eines Skelettes behaftet, während die Backenknochen die vom Brand verzehrte Haut fast platzen machten, die Kinnbacken nackt unter den herabhängenden Lippen, so sah das Gesicht aus, das gegen das Gitter gelehnt war, an das sich zwei langknochige Hände, die Vogelklauen glichen, klammerten. Dieses Gesicht, aus dem jede Spur von Menschlichkeit für immer verschwunden war, die blutunterlaufenen Augen, die Hände, die wie trockene Krallen geworden waren, entsetzten mich. Ich fuhr unwillkürlich zurück, um nicht auf meiner Haut den verpesteten Athem dieses Mundes zu fühlen und eine Verwundung von diesen Krallen zu erleiden. Aber Clara führte mich lebhaft vor den Käfig zurück, in dessen Tiefe, in einem schrecklichen Dunkel fünf lebende Wesen, die früher einmal Menschen gewesen waren, herumliefen, ohne einen Augenblick lang Halt zu machen und sich ohne Unterlaß drehten, den Leib nackt, den Schädel schwarz von blutrünstigen Wunden. Athemlos, bellend, heulend, suchten sie vergeblich durch wüthendes Stoßen den festen Schlußstein aus seinen Fugen zu heben. Dann begannen sie wieder herumzulaufen und sich mit der Beweglichkeit von Raubthieren und der Obscönität von Affen im Kreise zu drehen. Ein breites, wagerecht angebrachtes Brett verbarg die untere Hälfte ihres Körpers, während von dem unsichtbaren Fußboden der Zelle ein todbringender, betäubender Geruch aufstieg. (JS 157)21

_______ 20 21

»Mais je n'ai rien vu de si beau ... comprends-tu? que ces forçats chinois ... C'est plus beau que tout!« (JS 107) »Pâle, décharnée, sabrée de rictus squeletta.ires, les pommettes crevant la peau mangée de gangrène, la mâchoire à nu sous le retroussis tumescent des lèvres, une face était collée contre les barreaux, où deux mains longues, osseuses, et pareilles à des pattes sèches d'oiseau, s'agrippaient. Cette face, de laquelle toute trace d'humanité avait pour jamais disparu, ces yeux sanglants, et ces mains, devenues des griffes galeuses, me firent peur ... Je me rejettai en arrière d'un movement instinctif, pour ne point sentir sur ma peau le souffie empesté de cette bouche, pour éviter la blessure de ces griffes ... Mais Clara me ramena, vivement, devant la cage. Au fond de la cage, dans une ombre de terreur, cinq êtres vivants, qui avaient été autrefois des hommes, marchaient, marchaient, tournaient, tournaient, le torse nu, le crane noir de meurtrissures sanguinolentes. Haletant, aboyant, hurlant, ils tentaient, vainement, d'ébranler, par de rudes poussées, la pierre solide de la cloison... Puis, ils recommençaient à marcher et à tourner, avec des souplesses de fauves et des obscénités de

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Während der Orient ein prominenter Diskurs des Anderen bleibt und wie bereits bei Brontë und Melville der eigenen Zivilisationskritik dient, geraten um die Jahrhundertwende neue Geographien und Landschaften des Begehrens in den Blick, die von der europäischen Literatur für die Darstellung innenpolitischer und gesellschaftlicher Konflikte herangezogen werden. Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) präsentiert die Kolonie als Raum westlicher Imagination, in dem das koloniale Phantom als Kontruktion westlicher Begehren hervorgebracht als auch festgeschrieben wird. Anders als in Le jardin des supplices verdichten sich vor dem Hintergrund des scramble for Africa die realhistorischen Schauplätze und Schilderungen imperialer Praxis zu einer komplexen Zivilisationskritik. In letzter Instanz macht die Novelle jedoch von einer essentiellen schwarzen Identität Gebrauch, um das eigene westliche, männliche, individuelle Bewusstsein zu erzählen. Zunächst ist jedoch auffällig, dass der Erzähler der Binnenhandlung immer wieder eine grundsätzliche Unsicherheit in Hinblick auf die Erzählbarkeit der kolonialen Welt und ihrer Bewohner zum Ausdruck bringt. In diesem Aspekt steht der Roman Jane Eyre nahe. Marlow lässt den Leser wissen, dass das koloniale Andere nur in Impressionen und Gerüchten präsent ist, die sodann zur Quelle der Faszination und Angst gerieren. Die Männer erfahren wenig über die Welt, die sie betreten. »Nowhere did we stop long enough to get a particularised impression, but the general sense of vague and oppressive wonder grew upon me. It was like a weary pilgrimage amongst hints for nightmares.« (HD 17, meine Herv.) Marlow verweist auf die fiktionale Ebene des kolonialen Diskurses, in dem das Phantom als angstbesetzte Konstruktion westlicher Imagination erscheint. Auf der Reise ins Innere der Landes stellt er fest: »We are accustomed to look upon the shackled form of a conquered monster, but there – there you could look at a thing monstrous and free. It was unearthly and the men were. . . . No they were not inhuman.« (HD 37) Marlow sieht nun nicht mehr nur »the shackled form of a conquered monster«, jenen Sklaven, der im Kongo den Ausbau der Eisenbahnlinie vorantrieb oder den ›Wilden‹ der populären Völkerschauen in Europa, den man als weißer Betrachter »gewöhnt« war (ibid.). Bereits an anderer Stelle kritisiert er die ideologische Rede der imperialen Agenten und betont beim Anblick der schwarzen Sklaven: »[…] these man could by no stretch of the imagination be called enemies« (HD 19). Auf diese Weise entlarvt der Roman die Her_______ singes ... Un large volet transversal cachait le bas de leurs corps et, du plancher invisible de la cellule, montait une odeur suffocante et mortelle.« (JS 138f.)

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stellung des kolonialen Phantoms als geschichts- und identitätslosem Inferioritätsaxiom. Gleichzeitig bleibt ambivalent, inwieweit der Erzähler die wahrgenommene Stimm- und Geschichtslosigkeit der Schwarzen, die selbst als freie Subjekte »monströs« erscheinen (HD 37), nicht als essentiellen Teil ihrer Identität verortet. Die Gothic-Elemente in der Darstellung der Gefangenen entlarven und reproduzieren jene Unbegreifbarkeit des Anderen und seiner Umgebung. Während sie das dehumanisierende System des Kolonialismus ausstellen, schließen sie den schwarzen Sklaven zugleich in seiner Andersartigkeit ein: Die schwarzen Subjekte erscheinen als eine undefinierte Masse (»black shapes«, HD 20) und exotisierte, folkloristische, fragmentierte Schemen: »[…] a burst of yells, a whirl of black limbs, a mass of hands clapping, of feet stamping, of bodies swaying, of eyes rolling under the droop of heavy and motionless foliage.« (HD 37).22 Hannah Arendt erklärt im Rückgriff auf den Roman die Geisteshaltung der Europäer, die sich die »Gespensterwelt des schwarzen Erdteils« (2009, 408) Untertan machten: »Man mordete keinen Menschen, wenn man einen Eingeborenen erschlug, sondern einen Schemen, an dessen lebendige Realität man ohnehin nicht glauben konnte, und man handelte nicht in eine Welt hinein, sondern in ein bloßes Spiel von Schatten.« (2009, 416) Die Wertlosigkeit der kolonialen und indigenen Subjekte, entsteht, da sie sich in einem Raum des Imaginären vollzieht, in einer Welt, in der ziviles und staatliches Gesetz aufgehoben sind. Trotz ihrer einnehmenden Kritik am Imperialismus perpetuieren Conrad und Arendt in der Wortwahl und Stoßrichtung des Arguments die Vorstellung des ›anderen Ortes‹. Arendts Perspektive auf die Urbevölkerung Afrikas betont ihre Stammesgebundenheit und Geschichtslosigkeit, die die Kolonisierung erst möglich gemacht habe. Sie unterstreicht damit die bereits von der Novelle betriebene Einhegung des schwarzen Subjekts innerhalb einer normativen westlichen Moderne. Schlussendlich benötigt Marlow, trotz seiner präkonstruktivistischen Äußerungen und Gedanken, die Vorstellung einer essentiellen schwarzen Identität – einer verrätselten und stimmlosen Position. Nur so lässt sich die Faszination, die affektive Ansteckung und Immersion des Protagonisten glaubhaft erzählen. Die indigene Bevölkerung und ihre Lebenswelt dienen _______ 22

Der postkoloniale Kritiker Chinua Achebe hat diese Passagen als rassistisch gedeutet: »It is not Conrad’s purpose to confer language on the ‹rudimentary souls‹ of Africa. In place of speech they made ‹a violent babble of uncouth sounds.‹ They ‹exchanged short grunting phrases‹ even among themselves. But most of the times they were too busy with their frenzy.« (1988, 255)

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nicht zuletzt als Resonanzfläche für die eigenen instinktiven Begehren – metaphorisch gefasst als die Reise in die Dunkelheit: [...] we glided past like phantoms, wondering and secretly appalled, as sane men would be before an enthusiastic outbreak in a madhouse. [...] They howled and leaped and spun and made horrid faces, but what thrilled you was just the thought of their humanity – like yours – the thought of your remote kinship with this wild and passionate uproar. (HD 37, meine Herv.) 23

Der hier beschriebene Nervenkitzel (»thrill«) bezeugt den Wunsch nach einer leidenschaftlichen, ungezügelten und zwanglosen Existenz, einer Alternative zum strikten Reglement der viktorianischen Gesellschaft. Zugleich wird jener ›Urzustand‹ als Gefahr markiert. Die Landschaft Afrikas geriert unter Zuhilfenahme sozialdarwinistischer Theorien zur Allegorie für den vermeintlichen Rückfall des Westens in einen primitiven Naturzustand. Die Natur – der Dschungel – bildet eine bedrohliche Kulisse. Die Stationen der Handelsgesellschaft wirken wie die inneren Zellen eines natürlichen Gefängnisses, dem die Männer ausgeliefert und zugleich verfallen sind: The great wall of vegetation, an exuberant and entangled mass of trunks, branches, leaves, boughs, festoons motionless in the moonlight, was like a rioting invasion of soundless life, a rolling wave of plants piled up, crested, ready to topple over the creek to sweep every little man of us out of his little existence. (HD 32)

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Die Natur, die die Männer wörtlich zu »überkommen« droht, verbindet sich zunehmend mit dem Narrativ eines Kulturverfalls. Es ist jener Regress in einen vorzivilisierten Zustand, der sich besonders deutlich bei den habgierigen belgischen Handelsagenten zeigt. Marlow, der sich im Mittelpunkt der widerstreitenden Kräfte befindet, reflektiert seine eigene Komplizenschaft mit den Europäern in Afrika: »It is strange how I accepted this unforeseen partnership, this choice of nightmares forced upon me in the tenebrous land invaded by these mean and greedy phantoms.« (HD 67, meine Herv.)24 Mit dem Verlust der moralischen Werte sinken die europäischen Vertreter mehr und mehr in den Zustand des »prehistoric man« (HD 37). _______ 23

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Im Vergleich mit den Insassen eine Irrenhauses verschränken sich zwei Diskurse, die auf ähnlichen Mechanismen des Othering beruhen. Hier werden die umliegende Umgebung und die indigenen Subjekte mit einem unberechenbaren, unkontrollierten und unzivilisierten Zustand verschaltet. Bereits an anderer Stelle spricht Marlow von einem »black incomprehensible frenzy« (37). Verstanden als Hinweis auf die belgische Kolonie, lässt sich der Vergleich auch als antiimperiale Kritik werten. Kurtz wahnsinniges Verhalten wäre demnach die Ausgeburt des kolonialen Diskurses und somit die Geisteskrankheit des metropolischen weißen Subjekts. Diesbezüglich ist Joseph Conrads Text ein »imperialer« Text, der die Wissens- und Raumordnungen der Zeit gezielt aufruft, was auch für die Darstellung der Kongolesen gilt. Anders als Le jardin des supplices lässt sich Heart of Darkness aber auch als anti-imperialer Text lesen, der den kolo-

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Das Phantom steht hier Metapher für eine Kritik am vom Fortschritt korrumpierten modernen Menschen, der sich im »schwarzen unbegreiflichen Rausch« des Kontinents verliert („black incomprehensible frenzy«, HD 37). Beispielhaft wird dies am Elfenbeinhändler Kurtz präsentiert, der in einer isolierten Station im Landesinneren ein eigenes Regime etabliert hat und vom Wahnsinn affiziert scheint. Marlow, der den Auftrag hat, Kurtz zu finden, beschleicht auf der Reise der Verdacht, dass mit der Bewegung ins Innere der Dunkelheit eine Art zivilisatorischer Entleerung der europäischen Agenten stattfindet. Das Barbarische verbindet sich mit dem dekadenten, degradierten weißen Subjekt. Hier nimmt der Roman die Abscheu der Existentialisten an der Verkommenheit bürgerlicher Werte vorweg. Der barbarischen Moderne steht die stimm- und rechtlose schwarze Bevölkerung gegenüber, die gleichwohl Phantome zweiter Ordnung bilden, anhand derer der Verfall europäischer Master Narrative (Imperialismus, Humanismus, Aufklärung) vis-à-vis der Komplexität des singulären, subjektiven, westlichen Bewusstseins in Gestalt Marlows erzählt wird. Die Erzählperspektive der Romane Heart of Darkness und Le jardin des supplices unterstützt den imperialen Gestus. In beiden Fällen autorisiert die Rahmenhandlung die Binnenerzählung, bei beiden Männern führt der Weg über das Grauenhafte der Fremde zurück in die Metropole. Dies markiert zugleich die räumliche Ideologie des Imperialismus von Zentrum und Peripherie, diskursbildender (London, Paris) und erlebter Instanz (Afrika, China). Der Erzählgestus geht in die Welt hinaus, um von dort einen kritischen Blick auf den Verfall der westlichen Zivilisation zu werfen. Zugleich ist mit der metadiegetischen Erzählung die Erfahrung des Augenzeugen in der Diegese als Kern der Aussage markiert. In beiden Fällen erzählt ein weißer Mann von den erschütternden Erlebnissen in der kolonialen Welt. Der Erzähler aus Le jardin des supplices, Marlow und auch Melvilles Charaktere, der Anwalt aus »Bartleby« sowie Delano aus »Benito Cereno« stehen für einen Bachelor-Typen, der, leicht naiv und romantisierend, die dunklen Seiten des Lebens zunächst auszublenden sucht und über das Erlebte – die Gefangenschaft (und Rebellion) des kolonialen bzw. eines anderen prekären Subjekts – in eine Sinn- und Identitätskrise gerät. Bei Conrad schwindet allerdings die Distanz zum Objekt durch die zunehmende Immersion des Erzählers in seine Umwelt und die Tatsache, dass er sich der eigenen komplizitären Haltung bewusst wird – ein Umstand, der sich nicht zuletzt sprachlich niederschlägt.

_______ nialen Diskurs und die Brutalität kolonialer Praxis vor allem in den Darstellungen der habgierigen Handelsagenten und den misshandelten schwarzen Sklaven ausstellt (vgl. Said 1994).

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Die vorgestellten Beispiele perpetuieren in Bezug auf ihre Anordnungen der Gefangenschaft bestimmte ideologische Raumkonstruktion der Moderne: Zentrum und Peripherie, Zivilisation und Barbarei, innen und außen. Gleichzeitig werden sie als Spannungsverhältnis inszeniert. Der Gefangene bzw. das zu gefangen nehmende Subjekt wird über Verfahren des Otherings zum Platzhalter für eine Krise des westlichen Subjekts. Die kulturellen und sozialen Verwebungen einer in der Dialektik von Einhegung und Rebellion erscheinenden Subjektposition wird bei allen Narrativen zugunsten einer Betonung westlicher, weißer, bürgerlicher Gefangenschaft aufgelöst oder bleibt zumindest ambivalent. Auch wenn die globalen Verflechtungen Mitte des 19. Jahrhunderts in den Texten als Parallelisierungen oder Polyreferentialität aufgegriffen werden, um die Herstellung des Phantoms als Ausschuss der Moderne in seiner ethischen Brisanz zu markieren, bleiben sie bedrohliche Spuren einer nicht-bürgerlichen, kolonisierten, sozial oder psychologisch abweichenden Existenz. Besonders Le Jardin des supplices wurde mit Franz Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« in Verbindung gebracht.25 Doch im Gegensatz zu den vorangestellten Texten zeichnet sich Kafkas Kurzgeschichte durch eine Polyvalenz der Phantom-Identitäten und eine stärkere Verschränkung von Landschaften des Imperialismus aus. Die Strafkolonie ist kein barbarischer Spiegelort der westlichen Moderne, sondern eine Allegorie des »modernen Welt-Systems« (Wallerstein 2011) um 1900. Gleichwohl bleibt auch hier die Ambivalenz zwischen der Präsenz und Handlungsmacht des dargestellten Phantoms und seiner Bannung im Narrativ erhalten.

3.2 Das moderne Welt-System als Strafkolonie 72

Franz Kafkas Erzählwelten sind von labyrinthischen, abgeriegelten und beengenden Räumen geprägt. Das Schloss, die Stube, die Strafkolonie, der Tierkäfig oder der Bau gelten bei dem 1883 in Prag geborenen Autor als räumliche Konfigurationen für Zustände der Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Sie sind zugleich Transiträume, in denen sich Metamorphosen vollziehen und epistemische Brüche zeigen, in denen Fragen der Gefangenschaft an die (Un-)Möglichkeit der Freiheit geknüpft sind.26 Über Gefan_______ 25

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Le jardin des supplices gilt vor allem wegen seiner Hinrichtungs- und Folterszenen als eine mögliche literarische Quelle von Franz Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« (Binder 1975, 174-81 und Burns 1954). Kafkas Raumstrukturen sind immer wieder durch eine paradoxe, gebannte Mobilität gekennzeichnet. Selbst die sublimen Räume, die Orte an denen Kafkas Protagonisten sich eine Art von Erlösung erhoffen, z.B. Karl

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genschaft in der literarischen Moderne zu sprechen und Kafka unbeachtet zu lassen, wäre geradezu sträflich. Kafkas Gefangenschaftskonstruktionen lassen sich innerhalb des Spektrums der europäischen Moderne schwer einordnen. Sie spiegeln nicht direkt die sozialen Exklusionsräume, wie sie bei Charles Dickens, z.B. in Hinblick auf die Schuldnergefängnisse Londons (Little Dorrit), vorkommen. Er ist auch nicht direkt der Tradition des romantischen Gefängnisses verpflichtet. Ebenso lässt sich keine vollends überzeugende Interpretation der kafkaschen Räume als rein subjektive Seelenkäfige vornehmen.27 Kafkas Raum der Gefangenschaft ist nicht im »Entweder-Oder« von Ethik und Ästhetik auflösbar. Kafkas Werke stellen auf komplizierte Weise die Gleichzeitigkeit einer fast metaphysischen Ortlosigkeit der Gefangenschaft und eine zentrale Abhängigkeit von räumlichen Parametern und konkreten räumlichen Identifikationsapparaten aus. Es ist jener »raumlose Raum« (1977, 268), wie ihn Adorno in seinen »Aufzeichnungen zu Kafka« nannte, der Forscher wie Dusan Glisovic dazu bewegte, Kafkas Texte im »Niemands-Land zwischen Realität und Utopie« (1996, 94) anzusiedeln oder sie, wie Thomas Mann es in »Dem Dichter zu Ehren« (1941) tat, gleichzei_______

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Rossmanns Freiluft Theater, Rotpeters afrikanischer Dschungel oder auch Jäger Gracchus utopischer Sterbeort, sind schlussendlich Versuche, aus dem klaustrophobischen Zustand der sozialen Wirklichkeit auszubrechen, um zugleich von der Unmöglichkeit der Rückkehr an einen paradiesischen, unschuldigen Ort zu erzählen. Besonders deutlich zeigt sich dies in den »Reisetexten«, wie den Romanen Amerika und Das Schloß, sowie seinen Erzählungen »Bericht für die Akademie«, »Der Jäger Gracchus« und »In der Strafkolonie« (Zilcosky 2003, 4). Gleichwohl finden sich autobiographische Beschreibungen. Kafka war besessen von der Metapher des Käfigs, die er in seinen Tagebüchern immer wieder heranzog. Sie symbolisierte ihm einerseits den Schutz vor der Welt »draußen«, »Meine Gefängniszelle – meine Festung« (Kafka 1953, 421), andererseits beschrieb er sie, z.B. in seinem 1919 verfassten »Brief an den Vater«, als Zustand der seelischen Stasis, die im Schriftstück am Beispiel der sozialen Konventionen des Heiratens sichtbar wird. Die Heirat schien ihm eine gewisse Unabhängigkeit, aber auch Unfreiheit darzustellen, denn sie band ihn an ein Familienerbe, das er verabscheute. Die Familie war nach seinen Erfahrungen eine Institution der Despotie, in der man keine Freiheit finden konnte: »Es ist so, wie wenn einer gefangen wäre und er hätte nicht nur die Absicht zu fliehen, was vielleicht erreichbar wäre, sondern auch noch und zwar gleichzeitig die Absicht, das Gefängnis in ein Luftschloß für sich umzubauen. Wenn er aber flieht, kann er nicht umbauen, und wenn er umbaut, kann er nicht fliehen. Wenn ich in dem besonderen Unglücksverhältnis, in welchem ich zu Dir [dem Vater] stehe, selbstständig werden will, muß ich etwas tun, was möglichst gar keine Beziehung zu Dir hat; das Heiraten ist zwar das Größte und gibt die ehrenvollste Selbstständigkeit, aber es ist auch gleichzeitig in engster Beziehung zu Dir. Hier hinauskommen zu wollen, hat deshalb etwas von Wahnsinn, und jeder Versuch wird fast damit gestraft.« (Kafka 1953, 217)

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tig als prophetische Texte zu lesen, die mythisch den Nationalsozialismus vorausdeuteten. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat dem Raum in Kafkas Werken besonders seit den 1950er und 60er Jahren verstärkte Beachtung geschenkt (Hochreiter 2007, 49).28 Dabei wurden, wie in Gesine Freys Der Raum und die Figuren und Franz Kafkas Roman »Der Prozeß« (1965), Raumkonstruktionen besonders in Hinblick auf Das Schloss, »Die Verwandlung« und den Prozeß sowie in jüngerer Zeit für Kafkas »Der Bau« diskutiert (Müller/Weber 2013). Seit den Anfängen der Kafka-Forschung lassen sich dabei zwei dominante Lesarten ausmachen: Der Raum wird zum einen als Ausdruck einer psychischen Konstitution und zum anderen als Allegorie einer metaphysischen Kondition gelesen. So verwandelt sich z.B. Gregor Samsas Zimmer nach Heinz Politzer in eine Zelle, deren Enge auf die Einsamkeit des Junggesellen verweist (1973, 111). Hier wird Gefangenschaft als Begrenzung innerhalb der sozial kodierten Rolle als Sohn, als Prokurist/Beamter und als Junggeselle verstanden. Zugleich bezeugen sie, nach Sokel, ein existentielles »Draußensein« (Sokel 1964, 77).29 In der folgenden Analyse stehen die Verbindungslinien zwischen Kafkas Text »In der Strafkolonie«30 und einem spezifisch vom imperialen Diskurs und den globalkapitalistischen Strukturen der Moderne bestimmten Raum der Gefangenschaft im Vordergrund. Die Stoßrichtung der Interpretation ist von den »neuen Wegen« der Kafka-Forschung (Liebrand 2005) vorgegeben, die das Werk des Autors über kulturwissenschaftliche, konstruktivistische und performativitätstheoretische Ansätze erweitert hat. Susanne Hochreiter hat in Hinblick auf die ältere Kafka-Forschung darauf hingewiesen, dass das »Deutungspotential in erster Linie im psychologisierenden Rekurs auf die Biographie Kafkas« lag bzw. sich in einem »bis in die 1980er-Jahre dominanten hermeneutischen Zugang« äußerte (2007, 47). Dabei wurden die erst später mit der Diskursanalyse und den poststruktu-

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Die ersten Abhandlungen in Form von Einzelkapiteln oder thematischen Abschnitten in Monographien zum Thema Raum in Kafkas Werk erschienen bereits zu Beginn der 50er Jahre (Hochreiter 2007, 49; Fn. 110). Besprechungen zu Kafkas Räumen in den entsprechenden Kapiteln zu Kafka finden sich in Gradmann 1990, Küter 1989, Kim 1983, Fiechter 1980, Assert 1973 und Staroste 1971. In neuerer Zeit vor allem Hochreiter 2007. Die Angst vor dem Verschwinden, vor der Transformation in einen Zustand der Paria, war etwas, das der jüdische Schriftsteller Franz Kafka wohl verstand. Sein Junggesellenleben, seine Künstleridentität und schließlich der Schreibprozess selbst waren für ihn durch Einsamkeit und eine fortwährende Erfahrung der Diskrepanz und Widersprüchlichkeit zwischen dem Weltlichen und dem Geistigen geprägt. Die nachfolgenden Zitate aus dem Originaltext »In der Strafkolonie« sind den Gesammelten Werken (1965), herausgegeben von Kafkas Freund Max Brod, entnommen.

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ralistischen Theorien aufkommenden »Fragestellungen nach Macht, Hierarchien und Geschlechterverhältnissen [...] kaum gestellt« (ibid.). Aufbauend auf einem konstruktivistischen Ansatz soll in Bezug auf die Gefangenschaft in Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie« das Verhältnis von Raumnahme und Raumannahme in den Fokus rücken: Zum einen werden Räume erst durch Raumbewegung und Raumhandlung konstituiert, zum anderen bedingen die Raumarchitekturen die Formation konkreter Identitäten.31 Dies, so muss erwähnt werden, ist entscheidend für eine Verhandlung des Raumes der Gefangenschaft, der sich im Wechselspiel von Raumsemiotik und Raumbewegung vollzieht. Die Gefangenschaft wird im folgenden am konkreten Beispiel der Erzählung »In der Strafkolonie«32 als Raum gebannter Mobilität begriffen, der sich am Ende des 19. Jahrhundert über soziale und ökonomische Interdependenzen der kapitalistischen Welt-Wirtschaft als ein »modernes Welt-System« konsolidiert. Damit ist zugleich die Position angesprochen, die die vorliegende Analyse innerhalb etablierter Kafka-Interpretationen und der Kulturwissenschaften einnimmt. Bis heute spaltet sich die Kafka-Forschung in der Frage nach der materiellen und diskursiven Wirklichkeit der Texte in formalistisch-hermeneutische, biographisch-psychoanalytische und kulturwissenschaftlich-diskursive Lager.33 Dies hat zum einen mit der Offenheit der _______ 31

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Die Figuren in Kafkas »Der Landvermesser«, »Der Bau« oder auch Das Schloß durchqueren und eo ipso konstituieren den Raum (für den Leser) und sind ihm zugleich ausgeliefert. Im »Bau« ist ein Tier damit beschäftigt, sein Heim gegen Angriffe von Außen zu sichern. Dabei werden die Wartung und Maßnahmen zum Schutz des Erdbaus in ihr Negativ gewendet und münden in Paranoia, der beständigen Vergewisserung ob der Existenz des Raumes, einer Besessenheit seines Da-Seins, die gleichzeitig eine Angst vor der Welt außerhalb des Baus signalisiert. Im Prozeß scheint der entworfene Raum totalitär und gleichzeitig virtuell. Es gibt kein Entrinnen aus seiner unsichtbaren Umklammerung, der Tod markiert den Höhepunkt seiner Wirkungsmacht. Wieder andere Erzählungen betonen die Selbstaufgabe und somit eine Hingabe an die Semantik des Raumes. Im »Hungerkünstler« begibt sich der Artist freiwillig zum Sterben in einen Käfig. Die Parallelen zwischen dem Prozeß und der Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« sind hier nicht zufällig. Die Kurzgeschichte entstand während eines 14-tägigen Urlaubs, den Kafka antrat, um die Arbeit am Prozeß zu beschleunigen. Die Geschichte sollte ursprünglich, auf Anraten Kafkas selbst, in einem Sammelband mit dem Urteil und der Verwandlung unter dem Titel Strafen erscheinen. Sie erschien dann erstmals 1919 in Leipzig als Einzeldruck im Kurt Wolff Verlag (zur Überlieferung, Entstehung und Druckgeschichte vgl. Kafka 1996, 272-277). Die ungebrochene Beliebtheit und Faszination Kafkas in den Literaturwissenschaften ist durch die ungebrochene Publikationsflut bezeugt. Die Auswahlbibliographie des Quellenlexikons zur deutschen Literaturgeschichte bietet bis 1998 zu Kafka über 5.000 Titel an. Ab 1998 sind laut MLA Bibliographie mehr als 12.000 Titel zu verzeichnen. In der Auslandsgermanistik ist er der meistbesprochene Autor (Liebrand 2006, 8). Heinz

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Texte zu tun, die immer wieder zur Interpretation anregen, zum anderen mit der starken ideologischen Vereinnahmung Kafkas ab Mitte des 20. Jahrhunderts.34 Kafkas Texte gelten als Sprachrohr und »Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heutigen Situation des Menschen« (Adorno 1977, 254). Seine Universen leben von ihrer »paradoxen Ambivalenz«, denn »[s]ie provozieren ihre Leser ungemein zu Interpretationen, und das um so mehr, je mehr sie im selben Moment genau diese Interpretation verweigern« (Jahraus 2006, 13).35 Als Kritik an einem gerichteten Verständnis stellen dekonstruktivistische Lektüren den Text-Horizont, die Verschiebungen, Ellipsen und Paradoxien einem empirisch geprägten Beweisführungsgestus entgegen (vgl. Hecker 1998, Baßler 1996). Moritz Baßler verweist darauf, dass eine »allegorische Übertragung seiner Struktur auf Ideologeme wie Sinnverlust, Orientierungslosigkeit, Machtverhältnisse o.ä.« in die Irre führe, »weil die Strukturen des Textes nur scheinbar übergreifend Sinnträger sind, tatsächlich aber Textureffekte« darstellen (1996, 279). Die Texte zeichnen sich eher dadurch aus, dass sie den »großen Geschichten« gegenüber kritisch bleiben. Guattari und Deleuze haben diesbezüglich mit ihrem Konzept der »revolutionären« vis-à-vis den etablierten Literaturen die Subversivität an der formalen Erscheinung von Texten hervorgehoben: »Große und etablierte Literaturen [müssen] für einen gegebenen Inhalt in gegebener Form die passende Ausdrucksform finden, entdecken, sehen [...].« (Deleuze/Guattari 1976, 63) Die »kleine, oder auch revolutionäre Literatur indessen beginnt mit dem Sagen und sieht oder begreift erst später« (ibid.).36 In _______

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Politzer vermerkt bereits 1973 im Vorwort der Wege der Forschung: »Eine Sammlung kritischer Texte über Kafka konnte bei der schier unübersehbaren Fülle des Materials weder den Anspruch erheben, systematisch zu sein, noch hatte sie die Absicht, die geradezu globale Wirkungsgeschichte ihres Autors auch nur andeutungsweise aufzuzeigen.« (IX) Georg Lukácz wertet Kafkas Texte als dekadenten Avantgardismus ab und vergleicht sie mit dem kritischen Realismus eines Thomas Mann. In seiner Typologie des Romans (1958) unterstellt Lukácz Kafka eine Angst vor der Wirklichkeit, die realpolitische Probleme sowie die Möglichkeiten des Widerstands im Nihilismus auflöst. Diese Position wird besonders durch neuere kulturwissenschaftliche Ansätze in der Kafka-Forschung hinterfragt. Günther Anders hat zur Vieldeutigkeit und Interpretationsvielfalt Kafkas den wohl schönsten Vergleich angeführt: »Die Diskussion um Kafka erinnert an den in ›Tausend und eine Nacht‹ beschriebenen Streit um die ›wahre‹ Farbe der Perlmutter: Worum es geht, ist nicht die ›wahre‹ Farbe der Perlmutter zu ermitteln, sondern Einsicht zu gewinnen in die Situation, in der perlmutterne Objekte auftauchen; und die Frage nach ›Nutzen und Nachteil‹ schillernder Objekte zu entscheiden.« (Anders 1984, 46) Von Guattari/Deleuze über Benjamin, Canetti, Sartre, Nabokov, Barthes, Blanchot und Adorno, stellte die Philosophie des 20. Jahrhunderts ihr

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dieser Aussage inbegriffen ist eine Kritik am Symbolbegriff, den auch Theodor W. Adorno in seinen »Aufzeichnungen zu Kafka« aufgreift.37 Baßler hält, in Anlehnung an Deleuze und Guattari, dem StrukturBegriff, der als konformistisches Wiederentdecken einer durch die hegemoniale Macht verschleierten Position begriffen wird, den Textur-Begriff entgegen. Dieser wird zum widerständigen Element. Eine solche Position verdrängt jedoch die Tatsache, dass Kafkas Texte Teil von bestimmten Wissensordnungen und materiellen Bedingungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind. Auch wenn sich seine Texte ohne eine konkrete Rückbindung an die zeitgenössische Geschichte lesen lassen (vgl. Hecker 1998), so eröffnet der Dialog zwischen ästhetisch-narrativen Strukturen und den sozio-historischen Kontexten des Textes eine produktive Perspektive auf Machtverhältnisse, Wissensfiguren und Poetiken der Zeit. Hier folgt die vorliegende Analyse einem Ansatz, der in der neueren Kafka-Forschung u.a. von Oliver Jahrhaus, Gerhard Neumann, Joseph Vogl oder Markus Jansen unterstrichen wird.38 Ein »orientierte[s] Verständnis« (Liebrand 2006, 22) muss immer wieder kritisch am Text verfahren, ohne dabei die sozio-ökonomische Verfasstheit des Textes und somit seine Beteiligung an der Herstellung von Welt zu ignorieren. Im Fall von Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« lässt sich der imperiale Diskurs als Referenzraum plausibel machen. Auch wenn Deutschland relativ spät in den Wettlauf um die Kolonien eintrat und im Vergleich mit den anderen europäischen Mächten wie Spanien, Frankreich oder Großbritannien auf eine kürzere physische Präsenz in den Überseegebieten zurückblickte, war der koloniale Diskurs nicht zuletzt im ideengeschichtlichen Transfer und darüber hinaus in seiner sozialpolitischen als auch außenpolitischen Wirkung für das deutsche Kaiserreich über die ökonomischen Verflechtungen in der kulturellen und sozialen Lebenswelt nicht zu unterschätzen.39 Die Verbindungslinien von Kolonialismus und _______

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theoretisches und gesellschaftspolitisches (Selbst)Verständnis an den Texten Kafkas aus. Kafkas Texte, so Adorno, unterlaufen die ideologische Sinnerzeugung, »denn jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet« (1977, 255). Darstellung und Sinn sind nicht »verschmolzen«, sondern »klaff[en] auseinander« (ibid.). Wesentliche Impulse für eine Öffnung hin zu den materiellen und diskursanalytischen Perspektiven liefert die kulturwissenschaftlich orientierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, die u.a. von Harald Neumeyer vorangetrieben wird. Sie nimmt Techniken und diskursive Praktiken der Literatur in den Blick und versucht, die Ränder der klassischen Germanistik über die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit des Faches hin auszuloten. Dazu u.a. Neumeyer 2004, Vogl 1997, 1999. Der Globalhistoriker Sebastian Conrad machte deutlich: »Imperiale Expansion setzte auch in Europa, Japan und den USA soziale Gruppen voraus, die sich mit diesem Ziel identifizierten; zugleich schuf die territoriale

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Kultur (Honold/Simons 2002), die Kolonien als »Phantasiereiche« des Kaiserreichs (Kundrus 2003b) und der Kolonialismus als Wissens- und Wissenschaftsdiskurs der Zeit (Grosse 2000) werden seit 2000 als Bestandteil des nationalen Imaginären fokussiert. 40 Vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Einordnung des Autors bleibt die Strafkolonie nicht völlig »unbestimmbar«, wie Walter MüllerSeidel betont. Die Präsenz der kontextuellen Referenzen fordern zur Verortung heraus: Die Geographie des Raumes innerhalb der erzählten Welt bleibt nicht völlig unbestimmt und unbestimmbar. Und wer in Kafkas Strafkolonie nur innere Wirklichkeit, Märchen oder Strafphantasie wahrhaben will, muß sich fragen lassen, was denn die geographischen Angaben zu bedeuten haben, die wir erhalten. (1986, 107-108)

Walter Müller-Seidels Abhandlung Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie« im europäischen Kontext (1986) und andere historisierende Interpretationen betrachten die »Strafkolonie« im Kontext des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und innerhalb imperialer Ideen und Landschaften.41 Eine der wichtigsten Referenzquellen früher Forschung bieten die Deportationsdebatten und die Verschickung von »unliebsamen Subjekten« nach Neukaledonien, Sibirien und Australien (Wagenbach 1975, Müller-Seidel 1986; Neumeyer 2004). Ein weiterer Zugang ergibt sich über die Ideologie und Praxis des Kolonialismus. Für Paul Peters repräsentiert die »Strafkolonie« den »Prozeß des europäischen Kolonialismus als exterminatorisches Strafverfahren« (Peters 2002, 59). Als »Rebus des kollektiven Unbewußten« wird die Insel bei Peters zum Sinnbild des Kolonialismus, der wiederum als Verdrängtes, als »die Leiche im Keller der Metropolen« erscheint (ibid.). Die »Strafkolonie« als Allegorie des Kolonialismus zu lesen, hat sich vor allem an bestimmten referentiellen _______

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Ausweitung auch in den Metropolen ein koloniales Bewusstsein: Die Imperien waren immer auch zu Hause präsent. Auf der Ebene der Imagination trugen Kolonialausstellungen und Völkerschauen, Dioramen und Vortragsreihen, Brettspiele und Kolonialwarenläden, Zeitschriften und Kolonialromane dazu bei, das koloniale Projekt in breiteren Bevölkerungsschichten zu verankern. Die Kolonien waren darüber hinaus ein Testfeld für Reformprojekte – von der Stadtplanung über medizinische Experimente oder eine neue Bodenordnung – bevor sie in Europa Anwendung fanden.« (2012, 2) Die postkoloniale Wende in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft hat, beeinflusst von der angloamerikanischen Literatur-und Kulturtheorie, eine Revision des Kanons und eine Hinwendung zu marginalisierten Texten bewirkt (Dunker 2005). Vgl. Dürbeck/Dunker 2014, Babka/Dunker 2013, Dunker 2008 und 2005, Zantop 1999, Honold/Simonis 2002, Honold/Scherpe 2004 und Poschalegg 2004. Vgl. dazu die Arbeiten von Neumann 2012, Peters 2002, Goebel 2002, Piper 1996, Wagenbach 1975 und Neumeyer 1971.

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Markern orientiert: den Tropen (SK 200), dem französisch sprechenden Offizier (SK 202), der »wulstig aneinandergedrückten Lippen« des Verurteilten (SK 205). Doch in dieser Lesart bleibt der Kontinent Europa als Raum der Strafe ausgeschlossen. Die Wirkmacht des europäischen Kolonialismus bezieht sich bei Peters ausschließlich auf die Kolonien.42 Kafkas Text lässt sich als Allegorie des »anderen« Ortes und des Kolonialismus als archaischem System nicht völlig überzeugend aufschlüsseln, denn der Text selbst verschiebt die Festlegung auf diese Interpretation zugunsten einer modernen Weltlichkeit und der verflochtenen Geschichten zwischen Zentrum und Peripherie. Die »Strafkolonie« ließe sich eher als eine Allegorie des »modernen Welt-Systems« lesen.43 Der Soziologe Immanuel Wallerstein hat die grundlegende Struktur dieses Systems wie folgt definiert: Ein Weltsystem ist ein soziales System, das Grenzen, Strukturen, Mitgliedsgruppen, Legitimationsgesetze und Kohärenz hat. Es besteht aus widerstreitenden Kräften, die es durch Spannung zusammenhalten und auseinanderzerren, da jede Gruppe fortwährend danach strebt, es zu ihrem Vorteil umzugestalten. Es hat Merkmale eines Organismus, insofern es eine Lebenszeit hat, während der sich seine Merkmale in manchen Aspekten verändern und in anderen stabil bleiben. Seine Strukturen lassen sich nach der inneren Logik seiner Wirkungsweise als zu verschiedenen Zeiten stark oder schwach definieren. (1986, 517)

Jene Struktur wurde laut Wallerstein mit den Veränderungen der politischen, religiösen und philosophischen Verhältnisse in Europa im 15. und 16. Jahrhundert – durch die Anfänge der indirekten Herrschaft, des Kapitalismus, des Protestantismus und des Rationalismus – initiiert.44 Dabei ist das Konzept des Welt-Systems nicht als welt-umfassend, sondern als weltlich, als ein in sich geschlossenes System zu verstehen. Das Bewusstsein _______ 42

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Eine Unterteilung zwischen Europa und den Kolonien, ignoriert den Fakt, dass es sich beim kolonialen Diskurs um intensive und extensive, interne als auch externe Dynamiken handelte. Robert Young macht deutlich: »[N]orth-south divisions do not devalue the struggles of those oppressed through class or minoritarian status within the heartlands of contemporary capitalism. Colonialism always operated internally as well as externally, and the stratification of societies still continues.« (Young 2001, 8) In dieser Hinsicht lässt sich für die »Strafkolonie« von einer »Abstrahierung« der »menschlichen Situation« (Müller-Seidel 1986, 108) sprechen und Oliver Jahrhaus zustimmen, dass Kafka in der Strafkolonie das »im Familiären angesiedelten Sujets hinter sich lässt« (2006, 317). Wallerstein unterscheidet zwischen verschiedenen Welt-Systemen. Das »moderne Welt-System« war in Abgrenzung zu monopolischen, politischen Systemen, die sich über ein Terrain ausbreiteten, die »kapitalistische Welt-Wirtschaft in Europa«, die sich vor allem durch Arbeitsteilung auszeichnete. Das moderne Welt-System konstituiert sich über die kontinuierliche Suche nach neuen Märkten und billigen Arbeitskräften (Wallerstein 1984, 33).

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hierfür findet seinen Widerhall bereits zu Beginn der »Strafkolonie«, als der Offizier gegenüber dem Forschungsreisenden betont: Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, daß die Einrichtung der ganzen Strafkolonie sein Werk ist. Wir, seine Freunde, wußten schon bei seinem Tod, daß die Einrichtung der Kolonie so in sich geschlossen ist, daß sein Nachfolger, und habe er tausend neue Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts von dem Alten wird abändern können. (SK 201, meine Herv.)

Kafkas »Strafkolonie« lässt sich so auch als literarische Antwort auf Max Webers Aufsatz »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« lesen.45 Weber hatte darauf aufmerksam gemacht, dass sich mit der Moderne die lebenserhaltende »Sorge um die Güter« (1963, 20) in ein »stahlhartes Gehäuse« (1963, 203) gewandelt hatte. 46 Die »Sorge um die Güter« schuf das Bedürfnis nach der Struktur, die für die dauerhafte Bereitstellung eben jener sorgte: der europäische Imperialismus und der Weltmarkt47 und damit die Suche nach ›freiem‹ Boden, ›neuen‹ Arbeitskräften und Absatzmärkten.48 _______ 45

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Eine direkte Beziehung zwischen dem Soziologen und Kafka bestand in Webers jüngerem Bruder Alfred. Dieser war Kafkas Juraprofessor. Indirekte Verbindungslinien zwischen den beiden Männern liegen in ihrem Rechtsverständnis (Kolb 2001) und ihrer Bewertung der Folgen der modernen Bürokratie (Derlien 1993). Das »Gehäuse der Hörigkeit« ist bei Weber eine durch den Kapitalismus und die fortschreitenden Rationalisierung und Bürokratisierung der Welt hergestellte Ordnung. Jenes »Gehäuse« wird zum weltlichen System, es wirkt wirtschaftlich und sozial, außen- und innenpolitisch. In seinen politischen Schriften vermerkt Weber: »Es stünde heute äußerst übel um die Chancen der ›Demokratie‹ und des ›Individualismus‹, wenn wir uns für ihre ›Entwicklung‹ auf die ›gesetzmäßige‹ Wirkung materieller Interessen verlassen sollten. Denn diese weisen so deutlich wie möglich den entgegengesetzten Weg: im amerikanischen ›benevolent feudalism‹, in den deutschen sogenannten ›Wohlfahrtseinrichtungen‹, in der russischen Fabrikfassung, überall ist das Gehäuse für die neue Hörigkeit fertig, es wartet nur darauf, daß die Verlangsamung im Tempo des technisch-ökonomischen ›Fortschritts‹ und der Sieg der ›Rente‹ über den ›Gewinn‹ in Verbindung mit der Erschöpfung des noch ›freien‹ Bodens und der noch ›freien‹ Märkte die Massen ›gefügig‹ macht, es endgültig zu beziehen.« (Weber 1958, 60, Herv. i.O.) Karl Marx und Friedrich Engels definierten die Entstehung des Weltmarktes über den Aufstieg der Bourgeoisie, der Wandlung von der merkantilen zur industriellen Gesellschaft und der Erschließung der ›Neuen Welt‹: »Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung [...] Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben

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Der Text ist somit im sozioökonomischen Raum verankert. Er legt Spuren, die auf gewisse Aspekte der materiellen Wirklichkeit des globalen Welt-Systems verweisen. Es wird sowohl als Imaginäres, als territoriale Materialität und als soziales System markiert. In Kafkas imaginärer Geographie verbinden und überlappen sich disparate Orte und Akteure, aber auch gemeinsame Mythen und Narrative der europäischen Moderne als SinnFluchtlinien. So werden die globalen Verkettungen des Kapitalismus aufgerufen und gleichzeitig seine immanenten Abhängigkeitsverhältnisse und die transhistorische Produktion von subalternen Identitäten aufgezeigt. Dahingehend lassen sich die kafkaschen Mobilisierungen als ein endloses »Ver-rücken« begreifen (Anders 1984, 47),49 das als Prinzip die innere Struktur, die »historische[n] Bewegungsläufe« und »wechselseitige Begegnung« (Laak 2005, 12), als auch die gewaltsame Weltaneignung des europäischen Imperialismus und seiner historischen Bedingungen sichtbar macht.50 Über die performative Ebene, die Figurenhandlung und Polyvalenz der Zeichen wird zugleich das Narrativ Europas, des Bürgertums und der modernen Wissenschaftsgesellschaft in ihren Superioritätsansprüchen dekonstruiert. Die »Strafkolonie« lässt sich so nicht nur als imperialer Text verstehen, der im Zeitraum des deutschen Imperialismus entstanden und Teil seiner Wissensproduktion ist. Er ist zugleich ein anti-imperiales Dokument, das sich kritisch zum hegemonialen westlichen Narrativ positio_______

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Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.« (1973, 463-464) So hat Adorno zur semantischen Verrätselung des kafkaschen Raumes vermerkt: »Es ist das Kryptogramm der auf Hochglanz polierten kapitalistischen Spätphase, die er ausspart, um sie desto genauer in ihrem Negativ zu bestimmen. Kafka nimmt die Schmutzspuren unter die Lupe, welche von den Fingern der Macht in der Prachtausgabe des Lebensbuchs zurückbleiben. Denn keine Welt könnte einheitlicher sein als die beklemmende, die er durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zusammenpreßt; geschlossen logisch durch und durch und des Sinnes bar wie jegliches System.« (1977, 268) »Das Gesicht der kafkaschen Welt scheint ver-rückt. Aber Kafka ver-rückt das scheinbar normale Aussehen unserer Welt, um ihre Verrücktheit sichtbar zu machen.« (Anders 1984, 47) Die Arbeit folgt Jürgen Osterhammels Definition des Imperialismus. Er ist demnach der »Wille und das Vermögen eines imperialen Zentrums, die eigenen nationalstaatlichen Interessen immer wieder als imperiale zu definieren und sie in der Anarchie des internationalen Systems weltweit geltend zu machen. Imperialismus impliziert nicht nur ›Kolonialpolitik‹, sondern ›Weltpolitik‹, für welche Kolonien nicht allein Zwecke in sich selbst, sondern auch Pfänder in globalen Machtspielen sind.« (2012, 27) Für eine ausführliche Besprechung des Begriffs den Differenzierungen und den Typologien imperialer Herrschaft vgl. Münkler 2005.

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niert.51 Jene Kritik entfaltet sich bei Kafka primär über das »Phänomen der Polyreferentialität«, das »die Aufmerksamkeit vom Signifizierten auf den Prozess der Signifikation lenkt« (Lehmann 1984, 214). In der folgenden Tiefenanalyse stelle ich also nicht die Frage, ob »In der Strafkolonie« den realen Ort der europäischen (Straf-)Kolonien in Übersee darstellt, sondern welche referentiellen Markierungen der Text vornimmt. In der Erzählung werden verschiedene Landschaften, Akteure und Prozesse imperialer Gefangenschaft auf historisch-materieller, diskursiv-imaginärer und intertextueller Ebene verwoben. Über das »Verrücken« der textuellen Zeichen werden Oppositionen von Zentrum und Peripherie, Zivilisation und Barbarei als ein »analytisches Feld« (Stoler/Cooper 1997, 15) betrachtet, über das sich die verflochtenen Geschichten des globalen WeltSystems und seiner Akteure zeigen lassen.

3.2.1 Die Strafkolonie: Markierungen des Globalen

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Das Ende des 19. Jahrhunderts war durch den sogenannten ›neuen Imperialismus‹ geprägt. Dieser definierte sich von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg über den »Wettlauf um Afrika« und die direkte Einflussnahme durch Handels- und Konzessionsgesellschaften im Pazifik. Der deutsche Kolonialismus unter Kaiser Wilhelm II. zeichnete sich durch eine aggressive Expansionspolitik aus. Geprägt von einem evolutionstheoretischen Geschichts - und Sozialbild war die imperiale Agenda nicht zuletzt an der Idee ausgerichtet, das »deutsche Wesen« in der Welt zu verbreiten. Kafka streut gezielt Hinweise auf die imperiale Situation und setzt zugleich Spuren in die Vergangenheit, um die Entwicklungen des modernen Welt-Systems ins Bewusstsein zu rufen und damit die sozialen und ökonomischen Abhängigkeiten als Fortführung einer Tradition sichtbar zu machen. Betrachten wir nun zunächst die Markierungen des Textes, die explizit durch den Titel und implizit durch textuelle Verweise angelegt sind: Die Geschichte spielt an einem heißen, sandigen Ort, irgendwo in den Tropen. Der als Kolonie bezeichnete Raum ist in verschiedene Bereiche aufgeteilt: die Baracken der Gefangenen; den Palast des Kommandanten; den Hafen; das Teehaus; und ein Tal, in dem die Hinrichtungen stattfinden. Anwesend sind ein Gefangener, ein Soldat, eine Gruppe von Hafenarbeitern und ein Forschungsreisender, der von der französischsprachigen Kommandantur _______ 51

Vgl. dazu auch Elleke Boehmers Definition der kolonialen, kolonialistischen, und postkolonialen und, in Erweiterung, neo-kolonialen Literatur. Letztere Begriffe verweisen auf die Literaturen nach der Unabhängigkeit der Kolonien und sind besonders auf metropolische Texte bezogen, die auf Aspekte der Diaspora, Migration, Hybridität und Transkulturalität eingehen.

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eingeladen wurde, um der (wahrscheinlich letzten) Hinrichtung vor Ort beizuwohnen. Bei genauerer Betrachtung der Landschaft tut sich mit dem »in dem tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal” (SK 199) in den »Tropen« (SK 200) ein Paradox auf, dessen Betrachtung lohnt.52 Mit der Situierung in den Tropen wird zunächst ein zentraler Wirkungs- und Erfahrungsraum des europäischen Kolonialismus angesprochen. Der Dreieckshandel zwischen Afrika, Europa und den Amerikas bildete das ökonomische Rückgrat des modernen europäischen Fernhandels. Die Kolonien in Brasilien, der Ostküste Südamerikas und der Karibik waren nicht nur Ausgangspunkt für das moderne kapitalistische WeltSystem, sondern definierten zugleich eine kulturelle und soziale »Kontaktzone« (Pratt 1992) sowie eine »imaginäre« Landschaft des Begehrens. Vor allem in der romantischen und später expressionistischen Kunst spielten die Tropen eine zentrale Rolle. Die realgeschichtliche Präsenz des Zweiten Reiches in den Tropen lässt sich vor allem mit der Inselkette Samoa und dem Einfluss des hanseatischen Handelsmoguls Godeffroy in der Südsee nachweisen. Sie bildeten zudem in der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts ein populäres Motiv.53 Der »tropische« Raum wurde nicht nur in Hinblick auf die Kolonien und den Handel interessant, sondern verband die Praxis der metropolischen Deportation mit der Erschließung und Nutzung der Gebiete in Übersee. Die Praxis der Deportation war Kafka vor allem durch die Reisen des Juristen und Begründers der Daktyloskopie, Robert Heindl, bekannt. Dieser hatte im Auftrag des Deutschen Reichstages Neukaledonien besucht und dort eine Hinrichtung, ähnlich der, die in Kafkas Erzählung angedeutet wird, miterlebt (Wagenbach 1975).54 Die Strafkolonien waren Teil des _______ 52

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Der Germanist Harald Neumeyer sprach bereits vom »Land der Paradoxa« in Kafkas Strafkolonie, er meinte damit aber den in der Erzählung dargestellten »Widerspruch von Bestrafung und Kolonialisierung« (2004, 314), der sich unter anderem im willkürlichen Urteil und der mörderischen Bestrafung des Verurteilten zeigt, die jedwedem Verständnis von Erziehung und Zivilisierung zuwider läuft. Neumeyer sieht die kontextuellen Referenzen klar auf Seiten der Tropen und bezieht sich auf den Bericht des Juristen Robert Heindl, »Meine Reise nach den Strafkolonien« (1912), den er zusammen mit Joachim Wilhelm Franz Philipp von Holtzendorffs »Deportation als Strafmittel« (1859) als Quellen für den realgeschichtlichen Kontext der Kurzgeschichte ausmacht. Dabei rührt er keineswegs an dem noch offensichtlicheren Paradox der »sandigen Tropen« in Kombination mit dem Teehaus. Die Insel Palau inspirierte die expressionistischen Maler Emil Nolde und Max Pechstein und Gottfried Benn setzte der Insel 1922 ein lyrisches Denkmal (vgl. Gründer 1999). Wolf Kittler hat in seinem Aufsatz »Schreibmaschinen« (1990) jene Verbindung zur kolonialen Geschichte negiert und Heindls Bericht als nicht

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»kollektiven Imaginären« und des sozio-politischen Diskurses in Europa und Übersee.55 Weniger als »Sonderform« (Osterhammel 2009, 206), denn als Erweiterung einer Tradition56 kristallisierte sich die Strafkolonie als ein »migrationsgeschichtlicher Neuansatz« des 19. Jahrhunderts heraus (ibid.).57 Doch auch wenn die Hinweise auf Neukaledonien verführend sind, so lässt die sandige, öde Landschaft und die Hitze, die den Forschungsreisenden und den Offizier plagen, nicht unbedingt auf einen Ort wie Neukaledonien schließen, der sich eher durch ein gemäßigtes Klima, eine abwechslungsreiche Landschaft und vor allem durch eine üppige Vegetation auszeichnet. Zum einen mag Kafka auf die damaligen Kolonien Deutsch-Samoa und Deutsch-Neuginea oder die Palauinseln verweisen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um eine weitere Strategie in der Erzeugung der globalen Landschaft handelt. Als Kafka die Erzählung zum ersten Mal in der Galerie Goltz in München vorlas, bezeichnete er sie selbst als »Tropische Münchhausiade« (Schütterle 1998, 154). Auch wenn dieser Umstand oft als Verweis auf den, die Humanität Lügen strafenden kolonialen Diskurs gelesen wurde (vgl. Peters 2002, Zicolsky 2003, Neumeyer 2004), so scheint es mir fruchtbarer, an dieser Stelle auf die Bestimmung des Textes als Lügengeschichte einzugehen, die über die Verschiebungen im Text den Leser auf die falsche Fährte lockt. Das Motiv der Tropen evoziert zunächst die in der Zeit populären exotisierenden Reiseberichte aus Übersee. Doch anstatt die Erwartung des Lesers nach Abenteuerromantik zu erfüllen, präsentiert sich die Erzählung als sadistische Foltergeschichte, die darüber hinaus an ihrer Verortung in den Tropen zweifeln lässt. Die Geschichte ist keineswegs, wie man vermuten könnte, in einer grünen Oase, einem exotischen _______

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tragfähige Quelle markiert. Vielmehr war, laut Kittler, Kafka von einem Artikel in der Phonographischen Zeitschrift von 1912 fasziniert, in dem der Siegeszug des Grammophons - die »Welteroberung der Sprachmaschinen« (allerdings vor dem Hintergrund einer Besprechung von Heindls Bericht) – diskutiert wurde (129; 133). Vgl. dazu Christopher 2011, Osterhammel 2009, 206-214, Petit et al 2006, Toth 2006, Da Passano 2001, Bullard 2000 und Redfield 2000. Ihre Vorläufer finden sich in der europäischen Galeerenstrafe im 15. Jahrhundert und der, durch die Aufgabe des Schiffstyps, Zwangsarbeit in den französischen und italienischen Bagnes sowie in der britischen Variante der indentured servitude in Nordamerika und dem seit 1648 installierten Katorga-System unter dem russischen Zar Peter dem Großen in Sibirien. Darüber hinaus befeuerten die Strafkolonien eine sozialpolitische Debatte, die sich im Wettlauf unter den europäischen Mächten äußerte. Mit der nach außen ›erfolgreich‹ wirkenden, als ökonomische und moralische Utopie dargestellten britischen Sträflingskolonie Botany Bay wurde bei den anderen europäischen Mächten ein gewisser Neid geweckt (Forster 1996). Die Franzosen versuchten das britische Modell u.a. in ihrer südamerikanischen Kolonie Guayana und ab 1852 in der pazifischen Inselgruppe Neukaledonien zu verwirklichen (Spieler 2012).

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Dschungel oder einem malerischen Strand mit Palmen gelegen. Stattdessen steht der Reisende in einem »tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal« (SK 199). Bezogen auf die nationale Geschichte evozieren die anfänglichen Beschreibungen des Schauplatzes eher Bilder der Kolonie DeutschSüdwestafrika und erinnern damit an einen weiteren realgeschichtlichen Ort imperialer Begierden um 1900. Ähnlich wie der Reisende in Kafkas Text sahen viele Deutsche bei ihrer Ankunft in den afrikanischen Kolonien nichts als »Sand, Sand, Sand« (zit. nach Kundrus 2003a, 146, Fn. 32). Afrikas Landschaften entsprachen keinesfalls den kolonialen Phantasielandschaften der Tropen oder des Orients. Sie waren vielmehr eine »Sandhölle«, geprägt durch, wie es der Offizier-Stellvertreter Eugen Deitz zwei Jahre nach Erscheinen von Kafkas Kurzgeschichte vermerkte, die »unheimliche Totenstille der Sandwüste« (zit. nach Kundrus 2003a, 146). Das »tiefe sandige Tal» lässt außerdem den Vergleich mit der Omaheke-Wüste und im Besonderen mit der Schlacht am Waterberg zu, in der Generalleutnant Lothar von Trotha den Aufstand der Herero brutal niederschlagen ließ. Im trockenen Flussbett des Omuramba-u-Omatuko, hatten sich zuvor viele Herero versammelt, um in die fruchtbarere Region des Waterbergs zu ziehen. Eine eindeutige geographische Verortung der Strafkolonie wird jedoch durch eine weitere Ortsreferenz unterbunden. Mit der Existenz des Teehauses erweitert die Erzählung den Kreis der imperialen Geographien um den Orient. Das Teehaus ist eine Metapher für Handel und Prosperität in der abendländischen Imagination. Gleichzeitig mag man hier einen Verweis auf China, das »Reich der Mitte« als das Objekt imperialer Begierde (Opiumkrieg, Boxeraufstand etc.) und den Orient als vertraute Traumlandschaft des Fremden für die Europäer erahnen.58 Der Reisende hebt die Bedeutung des Teehauses im Gegensatz zu den anderen Gebäuden auf der Insel hervor: Trotzdem sich das Teehaus von den übrigen Häusern der Kolonie, die bis auf die Palastbauten der Kommandantur alle sehr verkommen waren, wenig unterschied, übte es auf den Reisenden doch den Eindruck einer historischen Erinnerung aus, und er fühlte die Macht der früheren Zeiten. (SK 235)

Das Teehaus ist zudem ein verbindendes Element zu Octave Mirbeaus Jardin des supplices und erinnert an orientalistische Motive, die ebenso in Jane Eyre, und »The Tartarus of Maids« auftauchen. Aufgrund historischer Konflikte, wie der »Wiener Türkenbelagerung« von 1529, wurde der Ori_______ 58

Auch hier muss auf die Rolle von Tausend und einer Nacht hingewiesen werden, die in Deutschland von August Ernest Zinserling (1823/24), nach der Übertragung des Orientalisten Joseph von Hammer, herausgegeben wurde und sehr populär war.

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ent außerdem mit einer latenten Bedrohung durch einen gewalttätigen Feind aus dem Osten in Beziehung gesetzt. Als Zeichen der Zeit könnte die Insel auch ein Abbild der Hafenstadt Tsingtau in der deutschen Provinz Kiautschou sein. Als »deutsches Honkong« und »Eingangspforte nach China« (Ferdinand von Richthofen, zit. nach Laak 2005, 79) wurde Tsingtau 1898 zur Musterkolonie der deutschen Kolonialverwaltung erklärt (Mühlhahn 2000). Die in der Strafkolonie herrschende Hitze scheint die drei Geographien auf besondere Weise zu verbinden. Die Sonne macht den Sinnen des Reisenden zu schaffen: »Er hatte nicht ganz aufmerksam zugehört, die Sonne verfing sich allzu stark in dem schattenlosen Tal, man konnte schwer seine Gedanken sammeln« (SK 201-202) und »die Augen schmerzten ihn von dem mit Sonnenlicht überschütteten Tal« (SK 229). Die Idee eines Reiches, in dem niemals die Sonne untergeht, spielte im ideologischen Narrativ und als Antriebsmotor der europäischen Imperien bereits vor dem 19. Jahrhundert eine große Rolle.59 Im Kaiserreich war der »Platz an der Sonne«, wie es der Reichskanzler Bernhard von Bülow in der Reichstagsdebatte vom 6. Dezember 1897 forderte, an die Verwirklichung des glanzvollen römischen Imperiums deutscher Prägung geknüpft. Doch während die Sonne in der imperialen Rhetorik als Quelle des Lebens und Sinnbild globaler Expansion fungierte, benebelt sie in Kafkas »Strafkolonie« den Verstand, sie ermattet und zehrt an den Kräften der Anwesenden. Die Geographie der Insel verweist auf ein globales Imaginäres und betont dabei schlaglichtartig die sozioökonomischen Knotenpunkte des europäischen Imperialismus. Der Verweis auf das »sandige Tal«, die »Tropen«, das »Teehaus« und die sengende »Hitze« sind als strategische Positionen zu verstehen, die keine Traum- sondern eher eine Albtraumlandschaft markieren.

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Die Redewendung verbindet sich heute mit dem britischen Empire des 19. Jahrhunderts, wurde jedoch erstmals von Hesiod formuliert, der Xerxes I. von Persien kurz vor dem Einmarsch in Griechenland zitierte (Büchmann 1996, 157). Die Idee des Weltreichs, in dem die Sonne nie untergeht, lässt sich in allen nationalen Narrativen finden. Francis Bacon sah »both the East and the West Indies being met in the crown of Spain, it is come to pass, that, as one saith in a brave kind of expression, the sun never sets in the Spanish dominions, but ever shines upon one part or other of them: which, to say truly, is a beam of glory [...]« (1838, 524). Nach dem französischen Sonnenkönig, Louis XIV, träumte Napoleon vom Weltreich und auch in Deutschland war man sich zur Blütezeit der Weimarer Kultur der verführerischen Idee des Weltreichs bewusst. So lässt Friedrich Schiller Phillip II. in Don Karlos. Infant von Spanien (1787) sagen: »Ich heiße/der reichste Mann in der getauften Welt;/Die Sonne geht in meinem Staat nicht unter« (1792, 68).

Käfige der Moderne

Auch in der Ausstattung der Insel lassen sich die Verschränkung zwischen nationalen und imperialen Elementen erkennen. »Hafen« und »Zucker« bilden bei Kafka die zentralen Strukturmerkmale des modernen Welt-Systems. Die Versammlungen des neuen Kommandanten drehen sich laut Offizier nur noch um die Hafenbauten, dabei wird der Kommandant in seiner Meinungsfindung maßgeblich von den »Zuckerdamen« beeinflusst: Nun sitzen Sie also morgen mit den Damen in der Loge des Kommandanten. Er versichert sich öfters durch Blicke nach oben, daß Sie da sind. Nach verschiedenen gleichgültigen, lächerlichen, nur für die Zuhörer berechneten Verhandlungsgegenständen – meistens sind es Hafenbauten, immer wieder Hafenbauten! – kommt auch das Gerichtsverfahren zur Sprache. (SK 224)

Der Handel prosperierte im 19. Jahrhundert u.a. aufgrund des technologischen Fortschritts im Kommunikations- und Transportbereich. Die Rohstoffe aus den Kolonien wurden vor allem für den Ausbau von Eisenbahnanlagen, Telekommunikationsstrukturen und die Waffenherstellung genutzt. Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts brachten dem Kaiserreich einen ökonomischen Aufschwung. Der Historiker David Blackbourn erklärt: Der Wert der deutschen Im- und Exporte wuchs in der Zeit von 1880 bis 1913 auf das Dreieinhalb- bis Vierfache. Die deutsche Handelsflotte hatte 1880 weniger Tonnage als die spanische; dreißig Jahre später war sie viermal so groß wie die amerikanische. Hapag und Norddeutscher Lloyd waren weltweit präsent, unterstützt von einem globalen Netzwerk deutscher Schiffsmakler und Bunkerstationen, und deutsche Banken hatten Niederlassungen von Westeuropa und dem Balkan bis nach Südamerika und dem Fernen Osten. (Blackbourn 2006, 306)

Die Häfen waren demnach Teil einer aus dem Geist des Fernhandels erwachsenen industriell-kapitalistischen »Erschließungs-Ideologie« (Laak 2005, 37). Diese hatte sich seit dem ausgehenden Mittelalter über die europäischen Händler und die Erforschung fremder Welten etabliert. Das Verwaltungswesen, aber auch die Dampfschifffahrt und die Tropenmedizin dienten der Realisierung der Kolonialreiche (Hochschild 1998). An der Schnittstelle zwischen den modernen imperialen Handelsimperien – dem Ausbau der Infrastruktur und dem Handel mit Produkten aus Übersee – standen nunmehr Figuren wie der Großgrundbesitzer und Aktienhändler Johan Cesar VI. Godeffroy. Dieser hatte sich vor allem durch den Handel mit kubanischem Rohrzucker und später mit der Einführung der Zwangsarbeit in den Kokosplantagen auf Samoa, einen Namen gemacht. Die gleichnamige Handelsfirma hatte von Valparaiso aus überall auf den Inseln der Südsee Faktoreien errichtet (Samoa, Tonga -, Ellice- und Gilbertinseln, bis zu den Salomonen und dem damaligen Bismarckarchipel). Jene kolonialen ›Helden‹ wie Godeffroy, der »König der Südsee«, wurden in Deutschland, vor allem nach Bismarcks Abdankung verehrt. Sie lieferten die Vorbilder für populäre Abenteuer- und Reisege-

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schichten wie Schaffsteins Grüne Bändchen, die auch Kafka leidenschaftlich gern las. Den 54. Band mit dem Titel »Oskar Weber. Der Zuckerbaron. Schicksale eines ehemaligen deutschen Offiziers in Südamerika« (1914) schätzte er besonders (Neumeyer 1971).60 Zucker bildete den Antrieb vieler Erfolgsgeschichten bürgerlicher Emanzipation in Übersee. 61 Als wertvoller Rohstoff und Kolonialware machte er die Kolonisierung fremder Erdteile attraktiv und rentabel für die einheimische Wirtschaft. Der Bedarf nach Zucker, zusammen mit Kaffee, Baumwolle und Tabak in Europa war die Grundlage für das Plantagensystem, einer Kombination aus modernem kapitalistischen Betrieb und vormoderner Arbeitsorganisation, wie man sie in Brasilien, in der Karibik und im Südosten Nordamerikas installierte. Auch wenn man bei den frühen Plantagensystemen eher von agro-industriellen Institutionen sprechen muss, die anders als die Fabriken in Europa noch viel stärker auf manueller Arbeit und Formen der Zwangsarbeit und Versklavung beruhten, so lassen sich doch gewisse Parallelen ausmachen. Sidney Mintz hat am Beispiel der vorrangig britischen Zuckerproduktion und -nachfrage die Verbindungen zwischen Metropole und Kolonie in den Verflechtungen der Organisationsprinzipien aufgezeigt. So waren die Plantagen, ähnlich wie die Fabriken, durch gut organisierte und durch Disziplin aufrecht gehaltene Abläufe gekennzeichnet. Jene Struktur, lässt auch Kafkas »Apparat« in einem neuen Licht erscheinen. Dieser arbeitet 12 Stunden, so lange, bis dem Verurteilten die »Erkenntnis« aufgeht. 12 Stunden bildeten zu Kriegsbeginn einen Arbeitstag

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Neumeyer (1971) und auch Zilcosky (1996, 2003) argumentieren, dass der »Zuckerbaron« Kafka als eine Art »Vorschrift« galt. Kafkas Sehnsucht, die als beengend empfundene Situation als Sohn, Angestellter und potentieller Ehemann zu verlassen, paart sich hier mit einem imperialen Diskurs. Denn sowohl die fiktiven als auch die autobiographischen Reiseberichte trugen zur kolonialen Ideologie bei, indem sie ein Arsenal an Bildern und Motiven zur weiteren literarischen Aufarbeitung boten. Daniel Defoes Romanfigur Robinson Crusoe (1719) ist eine der ersten literarischen Verkörperungen des homo oeconomicus. Nach seiner Entführung durch türkische Piraten landet Robinson in Brasilien und baut vor Ort eine Zuckerplantage auf. Um den Gewinn zu maximieren, reist er selbst nach Guinea, um die kostspieligen Unterhändler zu umgehen und vor Ort weitere Sklaven zu erwerben. Auf dem Rückweg gerät er in einen Sturm und strandet auf einer scheinbar unbewohnten Insel. Im zweiten Teil der Erzählung wird die Erfolgsgeschichte einer kleinbürgerlichen kolonialen Utopie aufgeführt, eine Zivilisierung von Mensch (Freitag) und Natur nach ökonomischen Parametern, in der sich der englische Händler und Grundbesitzer Crusoe zum König der Insel erklärt. Diesbezüglich ist Crusoes Insel-Erzählung auch eine Utopie des modernen Kapitalismus von noch unerschlossenen Märkten.

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im produzierenden Gewerbe62 und somit den Herzschlag des Proletariats. Gleichzeitig war die Arbeit Teil des Credos der Zivilisierungsmission zu Hause und in Übersee. Nicht umsonst hat jener Verurteilte »viel Arbeit« (SK 213) zu leisten, bis es ihm tatsächlich gelingt, die Urteilsschrift zu erkennen. Der Ausbeutungs- und Unterdrückungsdiskurs der Kolonie bzw. des Kolonialismus verschränkt sich hier mit der täglichen Routine der Arbeiter im Maschinenzeitalter. Des Weiteren war die Belegschaft austauschbar, die Produktionseinheiten konnten beliebig besetzt und darüber hinaus jederzeit durch neue Arbeiter ersetzt werden (1987, 80f.). Der Zucker verband nicht zuletzt verschiedene Gruppen von Produktivkräften. Die Plantagenökonomie des 17. und 18. Jahrhunderts beruhte maßgeblich auf der Sklaverei, England z.B. importierte Sklaven von der westafrikanischen Küste. 1675 produzierten auf Barbados 80.000 Sklaven 60% des damals weltweit hergestellten Zuckers (Wendt 2013, 48). Der Raubbau in den Kolonien und die Abschaffung der Sklaverei erforderten nicht nur neue Anbaugebiete, sondern auch neue Arbeiter. Im 18. Jahrhundert dominierte Saint-Domingue, das heutige Haiti, den Weltmarkt. Als die Insel 1804 ihre Unabhängigkeit erwarb, fiel die Führungsrolle für die Rohrzuckerproduktion erneut an Großbritannien. In dem Maße, wie sich der europäische Kolonialismus immer weitere Teile der Welt erschloss, nahm auch die räumliche Verbreitung der agrarischen Großbetriebe zu. Vor allem unter den Bedingungen des formal empire konnten die Kolonialmächte über den erforderlichen Boden verfügen. Die weltweite Zuckernachfrage und die Abschaffung der Sklaverei in der Karibik hatten demographische Auswirkungen: »Im Lauf des 19. Jahrhundert waren es an die einhundert Millionen Menschen, die in der gesamten Welt aus- bzw. einwanderten.« (Mintz 1987, 100) Als Arbeitskräfte wurden Wanderarbeiter aus Indien, Java, China, Portugal und anderen europäischen Ländern angeworben, die im 19. Jahrhundert die freigelassenen Sklaven ersetzten _______ 62

Mit der zunehmenden Maschinenarbeit wurde das organische von einem schematischen Zeitprinzip abgelöst. Die Taktung wurde entscheidend. Bauern arbeiteten nach dem Verkauf der Jahreszeiten, der Arbeitstag des Handwerkers richtete sich nach dem Tageslicht. Die durchschnittliche Arbeitszeit um 1870 betrug 12 bis 14 Stunden am Tag. Die sich in den 1860er Jahren herausbildenden Arbeiterbewegung erreichte um 1900 im Kaiserreich eine Verkürzung der Arbeitszeit. Für viele Bereiche wurde der 10Stunden Arbeitstag eingeführt. Im produzierenden Gewerbe ging die Arbeitszeit bis 1914 auf ca. 10 Stunden zurück. Am 4. August 1914 wurden die gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen aufgehoben und wieder auf ca. 12 Stunden angehoben. Nach dem Krieg wurden die Arbeiterschutzgesetze wieder in Kraft gesetzt und ab 1919 für alle Arbeitnehmer auf acht Stunden pro Tag begrenzt (Schneider 1984, 83). Dahingehend lässt sich Kafkas Hinrichtungsapparat auch als ein Verweis auf die Rüstungsindustrie und die tödlichen Folgen des Ersten Weltkriegs lesen.

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(Mintz 1959, 49). Die Diversität der Bewohner der Strafkolonie sowie die Existenz des Teehauses könnten hier ein Hinweis auf die neue, internationale, heterogene Gemeinschaft von Arbeitskräften sein. Die Zuckerproduktion definierte jedoch nicht nur das »kolonisierte Subjekt« in Übersee, sondern war zugleich essentiell für die Entstehung der europäischen Arbeiterklasse. Zucker verschränkte die Außen- und Binnenpolitik. Neben seinen vielseitigen Verwendungen als Heilmittel, Geschmacksverstärker und Statussymbol (Mintz 1987, 103-181; Wendt 2013, 53-56) wurde der Zucker im 19. Jahrhundert zur diätischen Notwendigkeit, die zu Brot und Butter eine kostengünstige Kalorienquelle bot. Er wurde geradewegs zum Opium für die Massen, das die Arbeiterklasse wohlgefällig hielt (Mintz 1987, 183-220).63 So stecken auch in Kafkas Erzählung die Zuckerdamen des neuen Kommandanten dem Verurteilten zu jeder Gelegenheit Zucker zu: Die Damen des Kommandanten stopfen dem Mann, ehe er abgeführt wird, den Hals mit Zuckersachen voll. Sein ganzes Leben hat er sich von stinkenden Fischen genährt und muß jetzt Zuckersachen essen! (SK 216)

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Der Zucker, der bei Kafka in der Figur weiblicher Verführung auftritt, hält nicht nur den Verurteilten in Abhängigkeit, er beeinflusst auch den neuen Kommandanten in den Entscheidungen über die Kolonien. Selbst der Offizier des alten Kommandanten trägt zwei Taschentücher der Zuckerdamen bei sich (SK 200; 229), die er zuvor dem Verurteilten abgenommen hat. Er steht also, obwohl er sie verabscheut, auch in ihrem Bann. Der Zucker ist damit Bestandteil des »alten« und des »neuen« Systems, er affiziert alle Klassen und wird zum regierenden Element der Insel. In dem Moment, als der Offizier erkennt, dass er nicht länger erwünscht ist, gibt er, als Zeichen der Kapitulation vor dem Zuckerregime, dem Verurteilten die Damentaschentücher zurück. Bereits zuvor wird die Macht der Zuckerdamen auf der Insel deutlich. Zunächst hatte der Offizier versucht, den Reisenden davon zu überzeugen, auf der nächsten Bürgerversammlung ein Wort zugunsten des alten Strafsystems und damit für den Hinrichtungsapparat einzulegen. Doch noch während er spricht, antizipiert er das hoffnungslose Unterfangen: Sie kommen gar nicht auf den Balkon, der schon voll Damen ist; Sie wollen sich bemerkbar machen; Sie wollen schreien; aber eine Damenhand hält Ihnen den Mund zu – und ich und das Werk des alten Kommandanten sind verloren. (SK 221)

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Mintz fasst die Akteure des Zuckerhandels zusammen: »Plantagenbesitzer, Bankiers, Sklavenhändler, Schiffseigner, Raffineure, Kolonialwarenhändler, aber auch Regierungsbeamte, deren Interessen auf der gleichen Linie lagen oder die die fiskalischen Möglichkeiten, die im Zucker steckten frühzeitig erkannten, gehörten zu den Gruppen, deren Macht in diesem Geschehen schwer wog.« (1987, 203)

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Die Wirkmacht des Zuckers, die hier als weiteres konstituierendes Element des kapitalistischen Welt-Systems steht, ist nicht abzuwenden und durchdringt jeden und alles. Der Zucker verbindet den globalen und nationalen Diskurs. Er stellte im imperialen Wettkampf ein außenpolitisches Begehren dar und verwies im innenpolitischen Diskurs des Deutschen Reichs vor allem auf ein sozialpolitisches Instrument der Pazifizierung in der berühmten Phrase von »Zuckerbrot und Peitsche«.64 Gemeint waren die Sozialreformen Bismarcks, die heute als Reaktion auf die stürmische Industrialisierung gelesen werden.65 Die Doppelbödigkeit der sozialreformatorischen und im Kern utilitaristischen Haltung wird bei Kafka im erneuten Verweis auf die Einstellung der Damen deutlich: »Und seine Damen werden im Kreis herumsitzen und die Ohren spitzen; Sie werden etwa sagen: ›Bei uns ist das Gerichtsverfahren ein anderes‹, oder ›Bei uns wird der Angeklagte vor dem Urteil verhört‹, oder ›Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter‹« (SK 220). Die Darstellung der scheinbar humanistisch und progressiv eingestellten »neuen« Kommandantur entlarvt auch die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der damaligen Sozialdemokratie – zum Beispiel im Falle der blutigen Zerschlagung des Herero-Aufstands, dem die Reichtagsfraktion 1904 nicht entschieden genug entgegentrat (Sobich 2006, 193-199). In Kafkas Kurzgeschichte verschleiert die sozialreformatorische Agenda die Bannung der Produktivkräfte und die Erhaltung von Abhängigkeitsstrukturen in modernen Gesellschaften. Das Vertrauensverhältnis wird durch eine gezielte Affektsteuerung von Belohnung und Strafe reguliert: Gehorche und dir wird Gutes widerfahren, wehre dich und du wirst bestraft. So ist denn auch das Urteil des in Ketten liegenden Mannes eindeutig: »Ehre deinen Vorgesetzten« (SK 205) und damit die globale Weltordnung.

3.2.2 Der Verurteilte als Platzhalter des Subalternen In der hier als Platzhalter des Subalternen beschriebenen Position handelt es sich um vielfach deutbare Knecht-Signifikanten der Modernen.66 Der _______ 64 65

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Das Zuckerbrot war für die Sklaven der Plantagen eine Belohnung für das Tagewerk, gleichzeitig wurden sie für Vergehen ausgepeitscht. Die politische Funktion der von Bismarck veranlassten Sozialgesetzgebung lag darin, die Arbeitermassen der Sozialdemokratie abspenstig zu machen. Bismarcks Strategie, einerseits die sozialistische Bewegung (durch die Peitsche der Sozialistengesetze) zu unterdrücken und gleichzeitig (durch das Zuckerbrot der Sozialpolitik) in den monarchisch-autoritären Obrigkeitsstaat zu integrieren, erwies sich jedoch nur als bedingt erfolgreich. Zum Begriff des Subalternen siehe das Kapitel »Phantom Zone«, Fn 19.

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Gefangene, der Soldat und die Hafenarbeiter stellen in ihrer Polyvalenz ein ethnisch sowie sozial determiniertes »Inferioritätsaxiom« dar (vgl. Uerlings 2006). Kafkas Identitätskonstruktionen verweisen auf den Zusammenhang von »rassischen« und innenpolitisch motivierten sozialtheoretischen Argumenten der Zeit. Dies soll im Folgenden anhand der subalternen Figuren auf der Insel aufgezeigt werden. Die Beschreibung des Verurteilten als »ein stumpfsinniger breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar« (SK 199) ruft Bilder eines im 19. Jahrhundert verbreiteten Rassenschemas auf (vgl. Arthur de Gobineau und Stewart Houston Chamberlain). Der Fakt, dass der Verurteilte kein Französisch spricht – »[d]er Reisende wunderte sich nicht darüber, denn der Offizier sprach französisch, und Französisch verstand gewiß weder der Soldat noch der Verurteilte« (SK 202) – wurde in der kontextorientierten Forschung immer wieder als ein Verweis auf den Kolonialismus und die kolonialen Subjekte betrachtet. Die »Breitmäuligkeit« und die fehlenden Sprachkenntnisse wurden ethnisch ausgelegt, dabei sind die Personen, denen der Reisende auf der Insel begegnet, nicht eindeutig als indigene Subjekte auszumachen. Zudem versteht weder der Gefangene noch der Soldat den französisch sprechenden Offizier – ein Umstand, der in der postkolonial orientierten Forschung oft genug ignoriert wurde.67 Kafkas Gefangene lassen sich nicht eindeutig dem Kontext der »schemenhafte[n], halb irreale[n] tropische[n] Welt der Kolonien« (Arendt 2009, 415) oder Conrads »pre-historic man« (HD 37) zuordnen. In Kafkas Erzählung steht eher das Nicht-Verstehen und Verstehen-Wollen des Gefangenen im Mittelpunkt. Durch die semantische Markierung, die immer in Vieldeutigkeit verharrt, lässt Kafka den Leser die Figur des Kolonisierten wiedererkennen und überführt dadurch den durch das »Othering« kolonialer Subjekte geprägten Blick des Lesers. Gleichzeitig markiert er den Subalternen in der Polysemantik seiner Deutungsmöglichkeiten und damit die Globalität seiner Position.68 Kafkas Verurteilter ist der hegemonialen Sprache nicht mächtig. Seine inszenierte Stummheit oszilliert zwischen einer passiven und animalischen

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Peters 2002, Goebel 2002 und Piper 1996 lassen diesen Aspekt unerwähnt. Rolf Goebel hat in diesem Sinne zunächst eine identitäre Ausweitung der Figur vorgenommen, indem er den Verurteilten als »non-Western subject« (2002, 191) bezeichnet – auch um die Parallelen zu anderen Inferioritätsdiskursen der europäischen Kolonialgeschichte und die Verbindungslinie zur Praxis der Verschickung ungewollter Subjekte in den europäischen Metropolen deutlich zu machen. Dabei übersieht er, dass es durchaus Überschneidungen im Zivilisierungsdiskurs zu Hause und in Übersee gab, damit also auch westliche Subjekte betroffen waren.

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Existenz.69 Die Interpretationsvielfalt, die sich mit der Darstellung eines »hündisch« ergebenen, lethargischen und schläfrigen Verurteilten einschreibt, entspricht nicht nur den stereotypen Zuschreibungen des kolonialen Subjekts, sondern verweist auch auf andere marginalisierte Gruppen innerhalb des europäischen Kontinents. Es ließe sich sogar von einer Ausweitung der identitären Verortung auf das Proletariat allgemein sprechen.70 Jene Verschränkungen sind nicht zuletzt dem zivilisatorischen Projekt des 19. Jahrhunderts, der Ausdifferenzierung der Normierungsanlagen und einem utilitaristisch geprägten Reformgeist geschuldet. Die Historiker Ann Laura Stoler und Frederick Cooper argumentieren diesbezüglich: If there were places where the European language of class provided a template for how the colonized racial ›residuum‹ was conceived, sometimes the template worked the other way around. The languages of class itself in Europe drew on a range of images and metaphors that were racialized to the core. (1997, 9)

Jean Borreil hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Wortursprünge von ›Proletarier‹ und ›Wilde‹ verknüpft sind. Die lateinische Bezeichnung des Proletariers bezeichnet den ohne Namen und ohne Sprache, der kein Recht auf seine Vorfahren geltend machen kann. Er hat kein Recht auf öffentliche Rede und symbolische Einschreibung. Nach Borreil nahm das Proletariat am Leben teil, nicht aber am Menschlichen (zit. nach Bullard 2000, 18). Es scheint daher gewinnbringend, Kolonie und Metropole in Diskursen des sozialen Ausschlusses als ein »analytisches Feld« zu betrachten: [B]oth colonies and metropoles shared in the dialectics of inclusion and exclusion [...] shared but differentiated experience of empire in terms of hierarchies, power, knowledge that emerged in tension with the extension of the domain of universal reason, of market economies, and of citizenship. (Stoler/Cooper 1997, 3)

Im 19. Jahrhundert fielen verschiedene soziale Gruppen unter den Begriff des ›Barbarischen‹. Der Kolonialismus war dabei ein wichtiges Referenzsystem für den Umgang mit dem inneren Anderen. _______ 69

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Axel Hecker hat in seiner dekonstruktivistischen Lektüre der »Strafkolonie« den Verurteilten und den Soldaten als »Material« (1998, 82) beschrieben, das »passiv, willenlos, geistlos« erscheint (ibid.) Sie stellen den »Rohzustand des Lebens dar: ein Leben ohne Jenseits, ohne Abwesenheit, ohne Aufschub, ohne jegliche Raffinesse, ausschließlich bezogen auf das, was gerade da ist, triebhaft, tölpelhaft und primitiv«, das »bloßen Leben«, ein Leben »ohne Differenz« (ibid.). Joseph Vogl interpretiert die Figuren in Kafkas Werk als gespenstische Präsenz (2006, 222-235). Antisemitische Stereotype griffen auf ein zoologisches Vokabular zurück. Jansen hat in seiner Monographie Das Wissen vom Leben. Biopolitik bei Kafka auf die Verwendung antisemitischer Stereotype in Kafkas Werk hingewiesen. Das bekannteste Beispiel ist diesbezüglich die Verwandlung Gregor Samsas in ein »Ungeziefer«. Im Deutschen Reich wurden, besonders nach dem Ersten Weltkrieg, jüdische Bürger u.a. über Gleichsetzungen mit Ratten und Kakerlaken diffamiert.

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Seit dem 18. Jahrhundert wurden Obdachlose, Kriminelle aber auch politische Oppositionelle des Mutterlandes in die Kolonien verschickt (siehe Botany Bay, Neuengland, aber auch die Tropen wie Neukaledonien und Französisch Guyana). Nicht zuletzt verbinden sich im 19. Jahrhundert verschiedene Formen des transatlantischen Humantransfers. In Anlehnung an Paul Gilroys Definition des Black Atlantic (1993) untersuchten die Historiker Gwanda Morgan und Peter Rushton die Verschickungen von Kriminellen nach Nord- und Südamerika und argumentieren: »criminals joined in a wider culture of the dispossessed and exploited.« (2004, 7) Obwohl die interkontinentale Bewegung vor allem die afrikanischen und karibischen Sklaven betraf, so können die nach Übersee verschickten devianten Subjekte als Teil einer forcierten Mobilität im Atlantik betrachtet werden (2004, 4f.). Die Verbannung der ›Überflüssigen‹71 war durch innere Krisen motiviert. Denn neben dem Mangel an Arbeitskräften in den Überseeterritorien führten die zunehmende Urbanisierung, die Frage der Hygiene und die durch die Landflucht ausgelöste steigende Arbeitslosigkeit in den Städten zu einer Intensivierung der Debatte.72 In Deutschland wird daher »(u)m 1900 nicht nur in der juridischen Öffentlichkeit mit großem auch publizistischen Aufwand eine Diskussion um die Zulassung der Deportation in Strafkolonien geführt [...]« (Schlosser 2006, 41).73 Im Reichskolonialamt _______ 71

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Hannah Arendt hat deutlich gemacht, dass seit dem 19. Jahrhundert ein Anstieg der Definition der ›Überflüssigen‹ zu verzeichnen ist und mithin eine Verdichtung von sozialen Kategorisierungen des Anderen. Aufbauend und doch konträr zu den Formen des Überflüssig-Seins in der frühen Industrialisierungsphase, entsteht nun ein zweites Deutungsmuster: die Herstellung von Überflüssigkeit als bewusste Strategie, die mit der Judenvernichtung im Nationalsozialismus seine totale Einlösung fand. Die Frage nach der Wertigkeit des Menschen war an den Verlust oder die Absprechung seiner Menschen- und Bürgerrechte geknüpft. Gleichwohl meint Arendt mit dem Begriff des ›Überflüssigen‹ auch das stete Anwachsen der Bevölkerung und damit das Problem der Massenarbeitslosigkeit, die dem christlichen Verständnis vom Wert des einzelnen Lebens gegenüberstanden (2009, 601-625; 667). Historisch betrachtet fließen beide Formen zusammen, denn die Abschaffung der Sklaverei und der damit einhergehende Verlust billiger Arbeitskräfte in Übersee hatten einen profunden Effekt auf die Strafpolitik und die Deportationsdebatten des 19. Jahrhunderts. Doch an einer Stelle ist Morgan und Rushtons Konzept vom »kriminellen Atlantik« irreführend, denn es waren keineswegs nur Kriminelle, die nach Übersee verschickt wurden. Zudem war die Praxis ebenso im pazifischen Raum zu finden. Hier lassen sich verschiedene Formen der Deportation ausmachen. Bei der Verschickung von Schwerkriminellen sprach man von Strafverbüßung und somit von der Deportationsstrafe. Darüber hinaus gab es die politische Deportation und die Zwangskolonisation. Ältere Formen waren das Exil sowie die Verbannung. Die Strafkolonien im 19. Jahrhundert lassen sich mit den Stadtverweisungen von Kriminellen und der Galeerenstrafe

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wurde eigens für Deportationsfragen ein Ressort eingerichtet.74 Der Jurist und Lehrer Kafkas, Hans Gross, veröffentlichte 1905/1906 eine Schrift, die sich mit der Degeneration und Deportation ›überflüssiger‹ Bürger auseinandersetzte. Bestimmte soziale Figuren waren nach Gross nicht in der Lage, den Gesellschaftsvertrag zu erfüllen, und sollten daher der Fürsorge oder gleich den Arbeitslagern überantwortet werden. 75 Bei besonders harten Fällen sollte die Verschickung in Betracht gezogen werden. Mit der sozialtheoretischen Fassung der unerwünschten Subjekte war zugleich ein Begriffsapparat eingeführt, der den ›wertvollen‹ Bürger von den ›unnützen‹ Bevölkerungsteilen unterschied. Die ›Degenerierten‹ hatten sich strafrechtlich nichts zu schulden kommen lassen, aber sie waren für die Gemeinschaft verloren. Unter ihnen zählte man Landstreicher, Homosexuelle, Arbeitsscheue, Falschspieler, Hochstapler, Anarchisten oder andere »psychopathisch Degenerierte«. (Rother 2007, 17) 76 Jener erzieherische Impetus stand auch im Zentrum »›der Erziehung der Neger zur Arbeit‹« und »gehörte zu den zentralen Projekten staatlicher und insbesondere kirchlicher Politik seit Inbesitznahme der ersten Kolonien 1848« (Conrad 2004, 107). ›Fremde‹ und ›Wilde‹ – das waren Termini, die Landstreicher und Eingeborene in Afrika gleichermaßen bezeichneten (Conrad 2004, 114). Sie wurden als Kinder wahrgenommen, die den _______

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der Frühen Neuzeit in Verbindung bringen. Die süddeutsche Strafjustiz, vor allem aber die Reichsstädte und Landesfürsten, verkauften Kriminelle an ausländische Ruderschiffe der mediterranen Seerepubliken und befreiten somit das Inland nicht nur von unliebsamen Kleinkriminellen, sondern konnte dadurch zugleich die Staatskasse aufbessern (Schlosser 2001, 45). Die Strafkolonien fanden im heimischen Raum ihre Entsprechung in den Arbeiterkolonien (vgl. Conrad 2004). Kafka hatte darüber hinaus sowohl Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus als auch Tschechows Bericht von der Gefängnisinsel Sachalin gelesen. (Vgl. Wagenbach, Müller-Seidel) Der imaginäre Raum der »Strafkolonie« mag somit auch Russland fassen, wo besonders zwischen 1906 und 1910 zehntausende Menschen wegen politischer Vergehen aller Art nach Sibierien verschickt wurden. Diese Lesart lässt sich auch auf eine dritte bis dato unerwähnt gebliebene Figur der »inneren Kolonisierung« ausweiten: die Juden. Der latente als auch manifeste Antisemitismus im Kaiserreich war ein wichtiger Einflussfaktor in der Verfolgung der Juden während des Nationalsozialismus. Bereits im 19. Jahrhundert überlagerten sich die europäische Deportationsdebatte und der Antisemitismus. Dies zeigte sich prominent im Fall des französisch-jüdischen Hauptmanns Dreyfus, der aufgrund einer falschen Bezichtigung wegen Landesverrats verurteilt und in die Kolonie Französisch-Guyana verbannt wurde. Das Ereignis wurde von großer internationaler und medialer Aufmerksamkeit sowie antisemitischen Hetzkampagnen begleitet. In Frankreich setzte sich u.a. der Schriftsteller Émile Zola mit in einem öffentlichen Brief (»J’accuse«) sowie der überzeugte Anhänger der Kommunarde, Octave Mirbeau, für Dreyfus ein. Das Ereignis wird noch heute als einer der Schlüsselmomente und Vorbote des antisemitischen Terrors durch das Vichy-Regime gelesen (vgl. Arendt 2009).

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Schutz des Staates bedurften. Die Behandlung der Arbeitsscheuen im Deutschen Reich und die kulturelle Hebung der kolonialen Subjekte überlagerten und beeinflussten sich gegenseitig (ibid.). Tatsächlich ist die Arbeit als Leitbegriff im 19. Jahrhundert nicht zu unterschätzen, denn sie markiert eine interne Klassifizierung der Gesellschaft. So muss denn auch der Verurteilte in Kafkas Strafkolonie »viel Arbeit« (SK 213) leisten, bis er versteht. Die hegemonialen Ansprüche, die sich nicht zuletzt über ein soziales und politisches Distinktionsbegehren hegemonialer Gruppen äußerten, basierten auf einer Semantik, in der sich der Klassen- und Rassendiskurs verbanden. Die Fragen, die sich mit der Sichtbarkeit der Subalternen stellten, drehten sich um Vorstellungen von Bürgerschaft und politischer Partizipation. Die Rede von der Zivilisierung schuf ein Bollwerk gegen revolutionäres Chaos und die Rebellion von unten. Gleichzeitig markierte sie eine Angst vor dem eigenen Verschwinden, dem Verlust des sozialen Status, bei den diskursbildenden Instanzen.

3.2.3 Eine neue Wärterfigur: der Forschungsreisende

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In der »Strafkolonie« geht ein Forscher auf Reisen, dessen Interesse mit dem imperialen Blick verschränkt sind.77 Die neuen Entdecker und Wissensproduzenten des ausgehenden 19. Jahrhunderts bedienten sich neuer Methoden der Weltaneignung und -vermittlung, die weniger von einer religiösen Exegese, als von nationalen und imperialen Interessen geprägt waren.78 Es scheint nicht verwunderlich, dass die Geographie zur MetaWissenschaft (Laak 2005, 24) aufsteigt, dicht gefolgt von der Anthropologie und den Sozialwissenschaften, die sich nicht zuletzt an den Theorien des Sozialdarwinismus orientierten. Auch Kafkas Reisender ist ein Fremder, der nicht gekommen ist, um zu bleiben. Er ist lediglich »mit der Absicht zu sehen« (SK 215) auf der Insel anwesend. Er ist ein Kosmopolit, ein »großer Forscher des Abendlandes, dazu bestimmt, das Gerichtsverfahren in allen Ländern zu überprüfen« (SK 221).79 Der Reisende ist ein Vertreter der _______ 77

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Die Deutschen waren in der Welt des 19. Jahrhunderts vorrangig als Reisende, Forscher, als Berater und Auswanderer präsent. Das geistige Erbe der Nation und die »höhere Sittlichkeit« bildeten das Fundament der deutschen Expansionsideologie und wurden dem »napoleonisch[en] Eroberungsdrang und britische[en] Handelsneid« gegenübergestellt (Geibel zit. nach Laak 2005, 14). Kafka selbst scheute vor dem Reisen zurück, war aber fasziniert von fremden Welten und bediente sich der Reise vor allem »als metaphorisches System« (Zilcosky 2003, 14, meine Übers.). Hier lassen sich Verbindungslinien zu historischen Figuren wie Alexis de Tocqueville, Robert Heindl, Anton Tschechow oder Charles Dickens ziehen. Tocqueville war von 1831 bis 1833 in die Vereinigten Staaten gereits, um das dortige Gefängnissystem zu untersuchen. Robert Heindl reiste im

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Wissenschaft, der das Fremde nicht durch physische Vereinnahmung und Gewalt unterwirft, sondern im Blick aneignet. Dabei ist es wichtig nicht in die lokalen Belange involviert zu werden: Der Reisende überlegte: Es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Er war weder Bürger der Strafkolonie, noch Bürger des Staates, dem sie angehörte. Wenn er diese Exekution verurteilen oder gar hintertreiben wollte, konnte man ihm sagen: Du bist ein Fremder, sei still. (SK 215).

Axel Hecker hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Position des Reisenden von den anderen Figuren durch eine gewollte Distanz unterscheidet (1998, 88). Der Reisende bleibt passiv, er verschanzt sich hinter seiner unbeteiligten Haltung. Genau in jener Einstellung zum Forschungsobjekt wird bei Kafka ein subversiver Raum der Kritik geöffnet, denn der Reisende zeigt von Beginn an keine Neigung, für den Betroffenen einzutreten: »›Nun also liegt der Mann‹, sagte der Reisende, lehnte sich im Sessel zurück und kreuzte die Beine.« (SK 204) Er beobachtet unberührt den fremden und »zum Mitleid gar nicht auffordernde[n] Mensch[en]« (SK 215). Der Verurteilte ist nur das anthropologische Objekt und wird einem Willen zum Wissen unterworfen. Im »ethnographische[n] Blick« (Neumann 2012, 201) des Reisenden schreibt sich ein Begehren ein, das den Anderen notwendig zum Phantom erklärt. Die Objektivität des Reisenden wird bereits mit der Erzählsituation ausgehebelt. Mit dem indirekten Erzähler bzw. der erlebten Rede steht die narrative Stimme zwischen dem Ich-Erzähler, als der zugleich subjektivsten Vermittlungsinstanz, und dem auktorialen, allwissenden Erzähler, der sich durch den unbeteiligten Kommentar auszeichnet. Die Problematisierung der Distanz zwischen der Figur und dem Erzähler lässt sich als Unsicherheit bezüglich der Deutungshoheit werten. Kafka verschmilzt somit den Blick subjektiven Begehrens mit dem der objektiven Wissenschaft. Die Wissenschaft ist immer nur in ihrer Verkörperung durch das subjektive Bewusstsein des Forschungsreisenden anwesend, mehr noch, es muss immer schon als objektivierender Blick verstanden werden. So ist der Blick des Reisenden auf die Insel und das Geschehen intentional, das heißt konstituierend. Der Blick als Objektivierungsmaschine, die den anderen im Blick bannt, ironisiert das Unschuldsnarrativ nur sehen und sich nicht einmischen zu wollen.

_______ Auftrag des deutschen Kolonialamts nach Neu-Kaledonien. Charles Dickens sprach mit den Insassen des Eastern State Penitentiary in Philadelphia. Anton Tschechows Insel Sachalin, ein Bericht über die Arbeitslager in Sibirien, liefert eine weitere mögliche Referenzquelle für die »Strafkolonie« und die Figur des Forschungsreisenden als »großen Forscher des Abendlandes« (SK 221).

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Die Abstraktion im wissenschaftlichen Blick, das Ausschalten des Konkreten, generiert Schattenexistenzen, mit denen man verfährt, deren Existenz immer ein für ein anderes Seiendes sind. Dies haben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung auf den Punkt gebracht: »Der Mann der Wissenschaften kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. […]. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft.« (1981, 25) Die Existenz des Reisenden ist dabei immer relational zur Existenz des Verurteilten zu verstehen. In diesem Sinne kann der Forschungsreisende kein Interesse daran haben, die Verhältnisse zu ändern. Seine Funktion als Wissenschaftler des Abendlandes bringt den Raum der Gefangenschaft erst hervor. In diesem Sinne ist er ebenso wie der Anwalt in Mevilles »Bartleby« eine Wärterfigur der Moderne. Die gegenseitige Bedingtheit der Figuren bedeutet, dass sich das Objekt der Forschung nicht in ein gleichwertiges Subjekt verwandeln darf, um den gesellschaftlichen Status quo zu erhalten. In die Hinrichtung einzugreifen, würde nicht nur die Verhältnisse der Insel verändern, sondern mit einer moralischen Verpflichtung des Reisenden und seiner Gleichschaltung mit dem verurteilten Subjekt einhergehen. So erhebt er am Ende der Erzählung das Tau gegen die Subalternen (Verurteilter und Soldat), um sie vom Sprung auf das Boot zu hindern und reproduziert so die bereits existenten Strukturen der Gewalt. Das Tau, eine Metapher gebannter Mobilität, wird zur Waffe. Der Humanismus, in Gestalt des Forschungsreisenden, ist nur eine Verschleierung der kontinuierlichen Ausbeutung des Anderen, eine abstrakte Aufwertung des Menschlichen, ohne am Determinismus seiner ökonomischen und sozialen Form zu rütteln. Die Wärter der Insel verkörpern somit das Figurenarsenal einer sich ausdifferenzierenden und heterogenen Landschaft des modernen Welt-Systems, in der sich Charaktere des alten mit denen des neuen Imperialismus überschneiden und immer wieder über ein Begehren nach Distinktion und Machtbestreben verwoben sind.

3.2.4 Der arretierte Sprung in die Freiheit In Kafkas Erzählung ist der Moment der Freiheit verstellt. In der Abwendung des Versuchs der subalternen Figuren, auf das Boot zu gelangen, werden verschiedene Ängste der Zeit ausgestellt. Die Bannung und damit auch Stasis der Figuren lässt sich als Krisenmoment lesen, der innenpolitisch als auch außenpolitisch motiviert war. Für diese Lesart spricht zunächst, dass der Verurteilte, obwohl er kein Französisch spricht, stets bemüht ist, den Offizier zu verstehen und »den Erklärungen des Offiziers zu folgen« (SK 202). Das Verstehen-Wollen zeigt eine Form der sozialen Mimikry, die einerseits an den kolonialen Kontext gebunden ist, aber auch als

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Credo sozialer Mobilität, der inhärenten Triebfeder im kapitalistischen System verstanden werden kann. So ließe sich die Bewegung als Wunsch nach ökonomischer und sozialer Verbesserung lesen und somit als Versuch der Angleichung an das Bürgertum. In der Arretierung des Sprungs wird der sozialen Mobilität des Verurteilten und des Soldaten eine Absage erteilt. Doch nicht nur wird den beiden die Flucht verwehrt, ihnen ist zugleich jede Form der Brüderlichkeit auf der Insel untersagt. Kafka dekonstruiert die Möglichkeit der Solidarität, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Schlagwort der Internationalen kursierte und mit dem Ersten Weltkrieg einen herben Rückschlag erlitten hatte. Statt nun den Soldaten und Verurteilten einen Moment der Verbrüderung zu gewähren, setzt die Erzählung auf eine durch Gewalt, Pragmatismus und Ignoranz gekennzeichnete Beziehung. So verspeist der Soldat vor den Augen des Verurteilten dessen letzte Mahlzeit: Der Soldat hatte die Reinigungsarbeit beendet und jetzt noch aus einer Büchse Reisbrei in den Napf geschüttet. Kaum merkte dies der Verurteilte, der sich schon vollständig erholt zu haben schien, als er mit der Zunge nach dem Brei zu schnappen begann. Der Soldat stieß ihn immer wieder weg, denn der Brei war wohl für eine spätere Zeit bestimmt, aber ungehörig war es jedenfalls auch, daß der Soldat mit seinen schmutzigen Händen hineingriff und vor dem gierigen Verurteilten davon aß. (SK 219)

Allgemein sind die Figuren durch eine negative Beziehung definiert. Der Verurteilte ist durch eine schwere Kette mit dem Soldaten verbunden; die unbequeme Uniform und der todbringende Apparat machen den Offizier zum Repräsentanten des alten Kommandanten, zugleich untersteht er der neuen Kommandantur, die sein Schicksal bestimmt; der Forschungsreisende ist an seine Mission des Sehens gebunden, die ihn schlussendlich zum Tau greifen lässt. Axel Hecker hat hierzu bemerkt, dass es sich in der Erzählung um »einer von Stoß, Schlag und Zug, also auf Krafteinwirkungen reduzierten Kommunikation« handelt, die, eine der Unterschicht entsprechende Kommunikation darstellt (Hecker 1998, 82). Doch bei genauerer Betrachtung trifft dies auf alle Figuren zu. Die gesamte Kommunikation auf der Insel ist von Gewalt und der Negation des Anderen geprägt. Am Ende der Erzählung wehrt der Reisende den Verurteilten und den Soldaten mit einem Tau ab. Hier zeigt sich erneut, das Weltsystem besteht aus »widerstreitenden Kräften, die es durch Spannung zusammenhalten und auseinanderzerren, da jede Gruppe fortwährend danach strebt, es zu ihrem Vorteil umzugestalten.« (Wallerstein 1986, 517) Diese letzte Geste des Reisenden deutet auf eine allgemeine Sorge, die unter dem Stichwort der vanishing races den verbalen Diskurs der Angst beherrschte. Mit der realen Präsenz der Kolonisierten in Europa während des Ersten Weltkriegs intensivierten sich die Befürchtung einer formalen und ideellen Gleichstellung der sogenannten primitiven Völker und der

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subsequenten Degeneration der westlichen Zivilisation.80 Die Frage nach dem homo europaeus und der neuen Klassen, die das Bürgerecht begehrten, brachte das westliche Selbstbild und die Gesellschaftsordnungen zunehmend in die Krise. 81 Zudem basierte die Entwicklung des europäischen Wohlfahrtsstaates grundlegend auf der Angst vor der Sozialrevolution (Conrad 2004, 125). Die Reformen, die sich in Kafkas Strafkolonie mit der scheinbar progressiven neuen Kommandantur ankündigen, und die Rede und Praxis von der Erziehung zur Arbeit, wie sie der wegen Faulheit Verurteilte erfährt, waren nicht zuletzt eine »Reaktion auf die Zunahme von ungesteuerter Mobilität und Migration« (Conrad 2004, 114f.). Die Rede von der Zivilisierung schuf ein Bollwerk gegen revolutionäres Chaos und die Rebellion von unten. Die Ausdifferenzierungsprozesse und die Heterogenisierung von Gesellschaften, die mit der Ablösung von bestimmten Herrschaftspositionenund Ansprüchen einhergingen, sind auch bei Kafka zentral. Der Offizier redet sich vor dem Forschungsreisenden um sein Leben, seine exhibitionistisch, monologische Rede ist der letzte Versuch, seine Autorität zu behaupten, denn er weiß, dass mit der Figur des Reisenden die Figur der Evaluation, die seine Ordnung in Frage stellt, auf die Insel gelangt ist. In der abwehrenden Haltung des Reisenden gegenüber den Subalternen äußert sich auch die Angst vor der sozialistischen Revolution: Zum Abschied verteilt er einige Münzen unter den Hafenarbeitern. Die Geste mutet wie ein Freikauf von der Schuld der Verknechtung an. Oder ist das Geld gar als Schutzgeld für die mögliche Revolution von unten gedacht, in der der Reisende, als Mitglied der Bourgeoisie, sich der Sympathien der Lohnarbeiter vergewis-

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Diese Angst vor dem Anderen zeigte sich ganz konkret in Deutschland in der Mischehen-Frage, die gar als eigener Beitrag zum Staatsangehörigkeitsgesetzt von 1913 verhandelt wurde. Die koloniale Frage spielte in den Reichstagswahlen von 1880 und auch von 1907 eine große Rolle (den »Hottentottenwahlen«), die auf den Krieg gegen die aufständischen Hereros folgte (Brehl 2004, 260-264). Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg griff diese Angst auf und schrieb später bezüglich der afrikanischen Soldaten in den belgischen und französischen Besatzertruppen am Rhein in seinem Mythus des 20. Jahrhunderts, dass Frankreich »heute an der Spitze der Verköterung Europas durch die Schwarzen« stehe, »somit kaum noch als ein europäischer Staat zu betrachten, vielmehr als ein Ausläufer Afrikas, geführt von den Juden« (1943, 647). Jene Angst zeigt sich später in der Melancholie multikultureller Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts. Der postkoloniale Kritiker Paul Gilroy argumentiert, dass sich die Angst vor dem Verschwinden einer originären nationalen Identität und der Verlust der Omnipotenz, basierend auf einem durch den Kolonialdiskurs vermittelten Selbstbild, in rassistischen Akten gegen die Migranten aus den ehemaligen Kolonien und nicht-westlichen Ländern niederschlägt (2004).

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sern will? Oder ist der Obolus als Grabbeigabe an ein zerlumptes Proletariat gemeint, das die Selbstbestimmung bereits wieder aufgegeben hat? Schlussendlich stellt sich heraus, dass alle Figuren an ihre epistemische und ontologische Funktion gebunden sind: der Offizier wird zum Gerätehirten; die Subalternen sind zum Objekt des Forschungsreisenden geworden und dessen aufklärerisch-humanistischer Geist benötigt ein ›barbarisches‹ Gegenüber. Die Identitäten sind dialektisch aneinander gebunden. Bernhard Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang von der Verkörperung von Ordnung, die einer Einverleibung von Strukturen entspricht: Institutionen, die von solcher Verkörperung aus gedacht werden, reduzieren sich nicht auf soziale Regelsysteme, Rollengefüge und Koordinationsstränge plus subjektive Zutaten. Es sind Körperschaften im buchstäblichen Sinne. Hinter dem homo oeconomicus, politicus, academicus steckt kein Schauspieler, der Masken aufsetzt oder abnimmt, die Masken schneiden ins eigene Fleisch, und eine Stigmatisierung, die brandmarkt, war und ist mehr als eine bloße Metapher. (1987, 79f.)

In Kafkas Strafkolonie treten Subjekte auf, die ihre identitäre Brandmarkung verteidigen. Krisen verunsichern das Subjekt und bringen immer neue Strukturen der Kontrolle hervor, um Klarheit und Ordnung herzustellen. Diese Kontrollwut paart sich mit einer großmannssüchtigen Sehnsucht nach Geltung. Es gibt kein Entkommen, keine elysische Enklave, die vor dem globalen Kapitalismus und seiner Durchdringung verschont bliebe. Es gibt kein Außen in diesem Welt-System. Es existiert nur das Scheitern, der nie glückende Absprung in ein glücklicheres, besseres Leben. Der Gefangene und der Soldat bleiben damit auch Gefangene des Bürgertums – ganz so, wie die Phantome Brontës, Mirbeaus, Melvilles, und Conrads. Nur scheint der Grad der kritischen Reflektion des Verschwindenmachens bei Melville, Conrad und Kafka größer als bei Brontë und Mirbeau. Die Bewegung und die Entscheidungen der Figuren perpetuieren die Gewalt und somit auch den Raum der Gefangenschaft. Der Text stellt weniger die Ausweglosigkeit der Situation aus, sondern die Permanenz der Verfahren, die der Ausweglosigkeit zugrunde liegen. Die Strafkolonie schreibt die Geschichte der Gefangenschaft somit nicht als Ablösungsgeschichte, sondern baut mit der Prophezeiung des über lange Zeit Unveränderbaren eine Brücke zwischen den Welten des alten und neuen Kommandanten. Auch wenn in der Erzählung der alte sadistische Kommandant durch einen neuen (quasi) humanistisch eingestellten Kommandanten ersetzt wird, so bleibt das Prinzip der durch Gewalt und Zwang regierten Struktur erhalten. Die Insel ist ein transitorischer und zugleich geschlossener Ort. Die sozialen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse bestimmen auch fortan die »Einrichtung« der Insel (SK 201), auch wenn sie im beginnenden 20. Jahrhundert von neuen Architekturen geprägt ist. Max Weber resümiert hierzu in einer die historischen Entwicklungen vorausdeutenden Passage:

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Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. (1963, 204)

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4. Archipel Europa: Sartre, Camus, Semprún Das Europa des 20. Jahrhunderts wurde von Auschwitz als Sinnbild für das unvorstellbare Grauen des Holocausts überschattet.1 Eingedenk der Singularität der Vernichtungslager ist die mémoire carcérale Europas auch durch die Lager des sowjetischen Gulag und die Erfahrungen der Gefangenschaft während der kolonialen Befreiungskämpfe, z.B. in Algerien, Marokko oder Indochina geprägt.2 Die Ereignisse waren nicht zuletzt im zeitgenössischen Bewusstsein verbunden. So hatte die europäische Kolonialpolitik die politischen Einstellungen von Literaten wie André Malraux, David Rousset, George Orwell, Albert Camus und Jean-Paul Sartre, von denen einige später selbst in Lagern interniert waren oder/und die totalitären Strukturen auf die ein oder andere Weise literarisch fassten, stark beeinflusst.3 Anders herum verbanden sich die faschistischen Lager mit dem antikolonialen Widerstand in den Biographien der Aktivisten.4 Auch wenn sich der Nationalsozialismus, der Kommunismus und der Kolonialismus als distinkte ideologische Systeme und soziale Ordnungen nicht eins zu eins vergleichen lassen, so schafft es die Literatur das komplexe Geflecht individueller (gelebter und imaginierter) Erfahrungen und der kollektiven Geschichte Europas eindrücklich zu vermitteln.5 Fiktionale und _______ 1

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Auschwitz steht heute als Chiffre für den Genozid an den Juden und anderen Opfergruppen. Zur Auswirkung der Shoah auf das europäische Bewusstsein und das Projekt »westlicher Zivilisation« vgl. Diner 1988 und Assmann 2006. Vgl. dazu u.a. Frantz Fanons Les damnés de la terre (1961), Aimé Cesaires Esclavage et colonisation (1948) und Discours sur le colonialisme (1950) sowie die Schriften Ho Chi Minhs und Tiemoko Garan Kouyatés. Als Beispiel sei hier zunächst Malraux angeführt, der die Arbeiten Sartres und Camus’ wesentlich geprägt hatte. Malrauxs Lebensgeschichte und literarisches Schaffen war eng mit der Kolonialgeschichte Frankreichs in Indochina verflochten. Tiemoko Garan Kouyaté, Mitbegründer der antikolonialen Vereinigung Ligue de Défense de la Race Nègre und Verleger der Zeitschrift La Race Nègre, wurde 1942 während des Zweiten Weltkriegs in der französischen Stadt Montluçon von den Deutschen verhaftet. Man deportierte ihn in das österreichische Konzentrationslager Mauthausen, wo er offiziell unter ungeklärten Ursachen starb (Coquery-Vidrovitch 2007). Hier sind weniger die geographischen Grenzen gemeint, als »das Europa der Geistes- und Sozialwissenschaften, ein imaginärer Raum, ein gedachtes Europa der Europaideen und ein gewolltes Europa der Europapläne. Zugleich ist es ein gelebtes Europa, geprägt von politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenheiten, deren Ausformung

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autobiographische Entwürfe lassen die Reichweite der Gefangenschaft erahnen, über die sich Europa als gemeinsamer Raum fassen und in seinem, wie es Jorge Semprún formulierte, »horreur collective« (EV 317) ausstellen und verstehen lässt. In literarischen Darstellungen der Gefangenschaft geht es dabei weniger um eine empirische Trennschärfe, als um eine Form der Wirklichkeitserzeugung, die dem affektiven, ethischen und kreativen Zugriff auf Realität gerecht wird.6 Die im Anschluss untersuchten literarischen Anordnungen gestalten sich anders als die romantischen Gefängnisräume.7 Nach Victor Brombert hat die Existenz der Konzentrationslager einen radikalen Wandel in der Repräsentation des Gefängnismotivs hervorgebracht (1978, 180) – ein Argument, das Theodor W. Adorno formelhaft verdichtete: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.« (1977, 30)8 Konnte die Gefangenschaft nach den realen Erfahrungen der Lager noch als ein poetisches sujet betrachtet werden? Die metaphorische Aufwertung der privaten Zelle, wie _______

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sich über Jahrhunderte zurückverfolgen lässt.« (Schönhoven 2007, 5) Hier handelt es sich um eine Vorstellung von Europa, die sich an Ernest Renans Konzept der Nation orientiert: ein Europa aus gemeinsamen Erinnerungen und Erfahrungen, aus bewahrter Tradition und gemeinsamer Vergangenheit. Der Titel und die konzeptionellen Überlegungen zu diesem Kapitel sind maßgeblich von der Forschung des Potsdamer Romanisten Ottmar Ette geprägt, der in zahlreichen Abhandlungen zu transnationalen und transversalen Bewegungen der Literatur auf die Denkfigur des Archipels zurückgreift. Im Verweis auf das sowjetische Archipelago macht Ette auf die Auslegungsmöglichkeiten des Begriffs aufmerksam. Ein Archipel muss »nicht notwendigerweise eine im vollen Wortsinn verstandene viellogische Inselwelt darstellen [...]«. Sie mag »als Inselgruppe [...] ebenfalls einer einzigen, autoritären oder totalitären Logik unterworfen sein [...]. Gleichwohl ist in der Vielgestaltigkeit und Diskontinuität unterschiedlicher Inselformen, die einen gemeinsamen Archipel bilden, stets zumindest in Latenz eine multilogische Strukturierung enthalten: Die diskontinuierliche Anlage impliziert immer auch eine Landschaft der Theorie, die in ihren ebenso ästhetischen und poetologischen wie kulturtheoretischen und politischen Dimensionen abgerufen und entfaltet werden kann.« (2010, 261) Die philosophischen und literaturwissenschaftlichen Essays von Camus und Sartre werden, anders als die Primärtexte, gleich in der deutschen Übersetzung geliefert. Eine Ausnahme bildet der Schlagabtausch zwischen den beiden Autoren in der Zeitschrift Les Temps modernes. 1978 hatte Wolfdietrich Schnurre 13 Thesen gegen Adornos Behauptung veröffentlicht. Gerade nach und über Ausschwitz müssen Gedichte geschrieben werden, um die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten. Adorno, der ein großer Verehrer Paul Celans war, dürfte sich der Schwierigkeit seiner Behauptung bewusst gewesen sein und hat deshalb in der Negativen Dialektik seine Aussage revidiert. Zur Debatte vgl. Kiedaisch 1995. Aus Auschwitz eine absolut von der Darstellbarkeit getrennte Realität zu machen, zerstört auch die Möglichkeit des Zeugnisses. Zur Darstellbarkeit und den Darstellungsmöglichkeiten des Holocaust vgl. Köppen/Scherpe 1997 sowie Bayer/Freiburg 2009.

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wir sie bei Proust und Rilke finden, wird, laut Brombert, mit dem Holocaust und den Konzentrationslagern zur unmöglichen Denkfigur. Es gehe nun nicht mehr um romantische Träume, denen man in der Isolation von der Gesellschaft frönte, sondern um eine dunkle Wahrheit über den Menschen, die sich in Auschwitz offenbart hatte.9 Auch wenn Mary Ann Frese-Witt nachgewiesen hat, dass das romantische prison heureuse durchaus in der existentiellen Literatur fortlebt, so kann man doch von einem Einbruch der Geschichte sprechen. Malrauxs Le Temps du mépris (1935), die Erzählung über einen von den Nationalsozialisten inhaftierten Kommunisten, wird zum antithetischen Moment pascalscher Gottesnähe und proustscher Selbstfindung. Mit den totalitären Diktaturen rückte weniger die Frage nach der Selbstverwirklichung, sondern eine Dialektik von Wahl und Handlung in den Mittelpunkt, die sich in letzter Konsequenz im Unterschied zwischen Überleben und Freitod äußerte. Die realgeschichtlichen Konsequenzen der großen Ideologien erforderten neue Repräsentationsformen. In der Literatur während und nach dem Zweiten Weltkrieg scheinen Allegorie, Multiperspektivität, Bewusstseinsstrom, Intertextualität, Metonymie und Ironie besonders geeignet zu sein, den Geist der Gefangenschaft und die disparaten Erfahrungen im Raum der Imagination zusammenzuführen.10 Folgend betrachte ich die Topographien der Gefangenschaft in ausgewählten Werken Albert Camus’ und Jorge Semprúns und diskutiere die literarischen Konstellationen von Gefangenen und Wärtern vor dem Hintergrund multipler Erfahrungen der Gefangenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ergänzend und kontrastierend werden immer wieder philosophische Positionen Albert Camus’, Jean-Paul Sartres, Simone de Beauvoirs und anderer Zeitgenossen herangezogen. Auffällig bleibt dabei die männlich dominierte Sichtweise auf das Thema, was zum einen der Präsenz der räumlichen Anordnungen in den Texten Camus’, Sartres und _______ 9

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An dieser Stelle sei auch auf die literarische Nähe zu Kafka hingewiesen, dessen Gefängniswelten sich deutlich vom romantischen prison hereuse abgrenzen. Die Begeisterung Sartres und Camus’ für Kafka (und besonders für dessen Roman Der Prozeß) ist hinlänglich bekannt, soll hier jedoch nicht im Mittelpunkt stehen. Vielmehr ergeben sich die Verbindungslinien über den kolonialen Raum als Referenzgröße und die absurde Philosophie Camus’, auf die ich später eingehe. Für eine lohnende Besprechung Kafkas im Licht der deutschen und französischen Existenzphilosophie vgl. Lauterbach 2006. Eine weitere Erklärung bietet Hayden White. Nach dem Historiker war der Holocaust durchaus darstellbar, nur griffen traditionelle Formen des Erzählens nicht länger: »It is only that its representation, whether in history or in fiction, requires the kind of style, the modernist style, that was developed in order to represent the kind of experiences which social modernism made possible.« (1992, 52)

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Semprúns geschuldet ist, zum anderen aber auch die von Simone de Beauvoir aufgezeigte Position der Frau als dem Anderen innerhalb der diskursbildenden Instanzen bezeugt.

4.1 Die Gefangenen der littérature engagée

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Der in Algerien geborene Albert Camus und der Pariser Jean-Paul Sartre lebten in einer Zeit, in der die Schrecken des Zweiten Weltkriegs gegenwärtig waren, der Kalte Krieg seine Anfänge nahm und der antikoloniale Befreiungskampf die Gemüter Europas erregte. 1945 markierte keinen Übergang in eine friedliche Phase für ein Jahrhundert, das sich kaum vom Ausnahmezustand des Krieges und des Holocaust erholt hatte, sondern eine Fortführung des Angstzustands, gebannt durch einen Burgfrieden, den es zu wahren galt. Frankreich war besonders in den Nachkriegsjahren bis zur blutigen Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands 1956 zur westeuropäischen Hochburg des Stalinismus geworden. Hier feierte man die Widerstandskämpfer und den Marxismus-Leninismus als Heilswerk gegen die totalitäre Diktatur und den individuellen Größenwahn, wie man ihn in der Person Adolf Hitlers erlebt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war man in Europa auf der Suche nach neuen Orientierungspunkten und einer richtungsweisenden Politik. Auch Sartre und Camus beschäftigten sich zeitlebens damit, den Grund des Menschlichen und die Möglichkeit der Freiheit zu erforschen. Bei Sartre erschloss sie sich im revolutionären Bewusstsein und einer radikalen, gewaltbereiten, antibürgerlichen Haltung; bei Camus in der Anerkennung der Absurdität des Daseins, einer antikolonialen aber gemäßigten Position in Fragen europäischer Kolonialpolitik und einer Rückwendung zur Natur. Ihr Lebenswerk war geprägt von dem Nachsinnen über die Möglichkeit eines integren Lebens in der Gemeinschaft. Es mutet heute fast paradox an, dass ihre Freundschaft nicht zuletzt an der Existenz der stalinistischen Lager, präziser – der Vergleichbarkeit des Terrors – scheiterte. Die Gräueltaten, die unter dem Banner des Stalinismus verübt wurden, hatten bei Camus zu einer radikalen Ideologiekritik geführt, während Sartre darauf beharrte, die Gefangenschaft auf der intra-subjektiven Ebene zu verorten und weiterhin eine antibürgerliche Einstellung zu propagieren. Vor allem Camus’ Ablehnung des parteigebundenen, institutionalisierten Marxismus und des ideologischen Kommunismus, der für ihn die Vermischung einer wissenschaftlichen Methode zur Kritik des herrschenden Kapitalismus mit einem auf die Zukunft gerichteten utopischen Messianismus verband,

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führte zum Streit zwischen den beiden, der im öffentlichen Schlagabtausch in der Zeitschrift Les Temps Modernes 1952 kulminierte.11 Camus’ Ideologiekritik in L’Homme révolté (1951) wurde in einer Rezension des Les Temps Modernes Verlegers Francis Jeanson im Mai 1952 mit einer ätzenden Anfeindung quittiert.12 Camus hatte in seiner EssaySammlung den Marxismus als einen »historischen Determinismus«, der alle Menschen zu »Gefangenen der Geschichte« machte, an den Pranger gestellt. Jeansons sarkastische, von Sartre redigierte Replik auf die EssaySammlung unterstellte Camus eine widersprüchliche Gedankenführung (1952a, 2071). Nach Jeanson entwickelte Camus ein metaphysisches Revolutionskonzept, ohne die historischen und ökonomischen Bedingungen zu bedenken (1952, 2077)13, er hätte gar die Geschichte selbst negiert (1952, 2086) und nur mehr eine »Pseudophilosophie einer Pseudogeschichte der ›Revolutionen‹« (1952, 2090) 14 entworfen. L’Homme révolté, beurteilte Jeanson abschließend, sei »ein verfehltes großes Buch« (1952, 2090)15. Camus antwortete auf Jeansons Rezension mit einem Brief an Sartre. Dieser Brief, Sartres Antwort sowie eine weitere Stellungnahme Jeansons (1952b) erschienen in der August-Ausgabe 1952 und markierten den endgültigen Bruch zwischen den beiden Autoren. Camus erwiderte Jeanson und warf ihm und Sartre Dogmatismus vor, denn sie seien außer Stande, eine andere als die marxistische Tradition der Revolte zur Kenntnis zu nehmen. Camus sah in der Tatsache, dass Jeanson in seinem Artikel nicht auf die stalinistischen Konzentrationslager einging, ein Zeichen der Verlegenheit, in der sich Sartre und seine Mitarbeiter wegen der Widersprüche zwischen ihrer Freiheitsphilosophie und dem Stalinismus befanden (1952, 329, 331). Den Existentialismus sah er in einem grundsätzlichen Paradox verhaftet: er befreie den Menschen von seinen metaphysischen und materiellen Fesseln, um ihn dann in der historischen Notwendigkeit einzusperren. Den Menschen in seinen ökonomischen Bedingungen versteinern zu lassen, schreibe vielmehr seine Sklavenexistenz fort (1952, 330).16 Sartre und seine Kumpanen machten sich so einer »ob_______ 11 12

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Zum Ideologiestreit zwischen Sartre und Camus vgl. Aronson 2004, Kuhn 1994, Wittmann 2002 und Mares 1995. Die folgenden Auszüge des Schlagabtauschs aus Les Temps Modernes wurden von mir übersetzt. Die Originalzitate sind in den Fußnoten wiedergegeben. »[...] il se bornera donc à considérer les révolutions du point de vue du métaphysicien, en laissent de coté leurs causes vulgaires, – historiques ou économiques« (1952, 2077). »[...] pseudo-philosophie d’une pseudo-histoire des ›révolutions‹« (1952, 2090). »[...] un grand livre manqué« (1952, 2090). »[...] libérer l’homme de toute entrave pour ensuite l’encager pratiquement dans une nécessité historique« (Camus 1952, 330).

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jektiven Komplizenschaft« schuldig (1952, 332). Camus kam zu dem Schluss, dass Sartre sich bemühe, den Marxismus als Lehre zu verteidigen, jedoch die Politik, die sie nach sich zog, zu verschweigen.. Resümierend konstatierte er: »Der Existentialismus ist (wie der Stalinismus) ein Gefangener der Geschichte.« (1952, 324)17 Sartre hingegen warf Camus vor, keinen Unterschied zwischen den »Herren« zu machen (1952, 343).18 Da Sartre seine Hoffnung, die Unterdrückung auf der ganzen Welt zu beheben, mit dem Kommunismus verband, durfte dieses Instrument nicht durch eine skandalisierende Kritik an der Sowjetunion, so berechtigt sie auch sein mochte, diskreditiert werden. Sartre unterstellte Camus eine relative Moral, die in der Betonung der stalinistischen Lager die Verbrechen des Franco-Regimes und der französischen Kolonialpolitik verschwieg (Sartre 1952, 343)19. Durch die Solidarität mit den Kolonialvölkern in Algerien und Indochina, den Kurden und den Vietnamesen und den Angriff auf die westlichen Unterdrücker werde letztlich auch den Unterdrückten im Osten geholfen. 20 Sartre rechtfertigte die stalinistischen Lager also nicht, relativierte sie aber im Vergleich mit den westlichen Unterdrückern und betonte, dass sich aufgrund der engen Verklammerung der beiden Welthälften niemand im Westen der Verantwortung für die Unterdrückung im Osten entziehen könne.21 Die Kommunis_______ 17 18

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»[...] l’existentialisme (comme stalinisme) est prisonnier de l’histoire« (Camus 1952, 324). »[...] refuse de distinguer entre les maîtres. Car c’est tout un, vous le dites vous-même, de confondre les maitres et de confondre les esclaves.« (Sartre 1952, 343) »Vous dénoncé et combattu dans la mesure de vos forces la tyrannie de Franco ou la politique coloniale de notre gouvernement; vous avez acquis le droit ›relatif‹ de parler de camps de concentrationnaire soviétiques.« (Sartre 1952, 343) Der Schlagabtausch zwischen Sartre und Camus lässt sich auch zu dem fünf Jahre früher erschienenen Essay Qu’est-ce que la littérature (1948) in Beziehung setzen. In seinem literaturethischen Essay behauptet Sartre noch: »ie Politik des STALINschen Kommunismus ist mit einer anständigen Ausübung des literarischen Berufs unvereinbar.« (150) Auch wenn er die Parteizugehörigkeit ablehnte, dies vor allem, weil ihm die Partei nicht mehr »revolutionär« genug erschien, ergreift er Partei und formuliert die Aufgabe der Literaten wie folgt: »ir müssen mit unseren Schriften für die Freiheit der Person und für die sozialistische Revolution kämpfen.« (163) Doch eine ernsthaft gemeinte Rede von der sozialistischen Revolution im 20. Jahrhundert ließ sich schwerlich vom Stalinismus trennen. Dies war und ist der unauflösbare Widerspruch in Sartres Lebenswerk. »Car, à mon idée, le scandale de camps nous met tous en cause. Vous comme moi. Et tous les autres: le rideau de fer n’est qu’un miroir et chacune des moitiés du monde reflété l’autre moitié. A chaque tour d’écrou ici correspond là-bas un tour de vis et pour finir, ici a là-bas, nous sommes les visseurs et les vissés.« (Sartre 1952, 342)

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tische Partei, so bekannte Sartre 1952, sei die einzige Hoffnung des Proletariats.22 Nach Sartre liegt die Verantwortung immer beim Individuum, dessen »Lebensentwurf wird zum Lebensentwurf der Gemeinschaft« (Wiedner 2009b, 56). Doch wenn der persönliche Weg, wie Sartre ihn propagierte, zum Kommunismus führte, konnte er in Gestalt einer tödlichen Ideologie eben auch zu einer kollektiven Schuld werden. Was sich hinter der Problematik der Vergleichbarkeit des Terrors, zunächst bezogen auf den europäischen Kontinent nach der Befreiung durch die Alliierten 1945, verbarg, war die Frage nach der zukünftigen Gemeinschaft und der Bestimmung des Menschen. War jemand, eine Nation, eine Gruppe, oder eine politische Haltung, von der Schuld und der Möglichkeit der Lager ausgenommen? Das Zerwürfnis zwischen Sartre und Camus zeigt auch, dass sich im 20. Jahrhundert der Gefangenschafts-Diskurs längst zu einer europäischen Angelegenheit entwickelt hatte. Ihr Streit macht deutlich, wie sehr sich die realhistorischen Lager des Gulag, der antikoloniale Widerstand und die philosophisch-literarische Konzeptualisierung des modernen Menschen und die Kräfte seiner Unterdrückung verschränkten. Victor Brombert hatte für Jean-Paul Sartres Stücke und Erzählungen von einer Obsession mit geschlossenen Räumen gesprochen, die sich bereits in den Titeln seiner Werke andeutet: La Chambre, Les Séquestrés d’Altona, Le Mur, Huis clos. Bei Camus sind es dagegen die Wüste (»Le Renégat«), die abgeriegelte und labyrinthische Stadt (La Peste und La Chute) und das Gefängnis (L’Étranger). In Camus’ letztem Roman La Chute bemerkt der Erzähler, dass sich das 20. Jahrhundert durch einen gewissen »lyrisme cellulaire« auszeichnet (Brombert 1978, 173). Camus fiktionales erzählerisches Werk beginnt mit Meursaults Zelle (L’Étranger) und schließt mit Clamences Verwahrung in der »Schutzhaft« (La Chute). In L’Homme révolté werden metaphysische und politische Systeme des Einschlusses durchgespielt, reale werden zu metaphorischen Gefängnissen und anders herum.23 _______ 22

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Diese Einstellung hat ihn später nach dem ungarischen Aufstand von 1956 dazu veranlasst, die Augen zu verschließen und weiterhin an der marxistischen Utopie festzuhalten. Für eine kritische Abhandlung zu Sartres Haltung im Ungarn-Konflikt vgl. Der Spiegel 1956, 30-39. Im zweiten Essay von L’Homme révolté analysiert Camus den metaphysischen Nihilismus de Sades. Hier erscheint das Gefängnis als adäquater Ort sadistischer Phantasien. Gleichzeitig wird am Ende der Analyse de Sade real, denn Camus spricht über dessen Tage im Gefängnis von Charenton. Im Essay »Die historische Revolte« vollzieht Camus eine grundsätzliche Kritik an der historischen Determiniertheit des Marxismus. Marx, so Camus, hielt den Menschen in einem ähnlich geschlossenen, servilen Rahmen, wie vor ihm die religiösen Dogmatiker.

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Das dem Roman La Peste, der ursprünglich unter dem Titel Les Prisonniers erscheinen sollte, vorangestellte Epigraph des britischen Autors Daniel Defoe lässt sich also durchaus als Leitfaden der Konzeptionalisierungen der Gefangenschaft in Camus Werk denken: »Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgendetwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert.« (LP 6) Das Zitat aus dem Roman Robinson Crusoe ist durchaus zweideutig zu verstehen, denn alles existiert erst in dem Moment, wo wir die Realität um uns herum anerkennen. Daher ist auch eine Gefangenschaft durchaus mit einer anderen darzustellen, wenn man sich den Mitteln der Kunst bedient.24 Camus’ Texte spielen in Grenzräumen: zwischen dem Innenleben der Protagonisten und der äußeren Welt, der Wüste und der Stadt, zwischen Algerien und Frankreich. Dabei stehen weniger die realen Geographien als der diskursive Raum Europas und die Ausdehnung des Archipels der Gefangenschaft im Mittelpunkt. Die Gefangenschaft ist in Camus Erzählungen nicht primär an die westliche Geographie gebunden, im Gegenteil: Meursault, aus L’Étranger, sitzt in einem Gefängnis in Algerien; die Stadt Oran aus La Peste ist eine französische Präfektur an der algerischen Küste; »Le Renégat« spielt in einer maghrebinischen Traumlandschaft in der Stadt Taghâsa und Clamence, der Protagonist aus La Chute, wird in Afrika von den Deutschen gefangen genommen. Man könnte also behaupten, dass sich Camus Gefangenschaften ganz speziell in der Kontaktzone zwischen Europa und Afrika entfalten.

4.1.1 »Le Renégat ou un esprit confus«: (Post-)koloniale Ordnungswut

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In der Erzählung »Le Renégat ou un esprit confus«, der zweiten Kurzgeschichte in der Sammlung L’Exil et le royaume (1956), werden der französische Kolonialismus und die soziale Ordnung maghrebinischer Kultur parallelisiert. In der Figur des versklavten Missionars und in der Polyreferentialität der Topographie der Salzstadt und den dort ausgeübten Praktiken der Missionierung und Sklaverei, werden beiden Bereiche verschränkt und _______ 24

Defoes Aussage war an eine seriöse realistische Literatur gerichtet, die nach Meinung des englischen Autors reich an Symbolik und allegorisch verdichtet sein sollte (Novak 2001, 538). Robinson Crusoe selbst ist ein gutes Beispiel für jene Literar, die eben nicht auf den realen, authentischen Erfahrungen des Autors beruhte, sondern vielmehr die eigene Geschichte »of a State of forc’d Confinement« (Defoe 1903, xii) über die Isolation des Protagonisten auf einer Insel erzählte. Camus zollt dem Autor Respekt, der sich als einer der ersten mit dem Spannunsgfeld zwischen Individualismus und Freiheit beschäftigt hat.

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als ähnlich dogmatische und gefangennehmende Strukturen entlarvt. Im weitesten Sinne ist die Erzählung eine Allegorie auf die Gewalt totalitärer Glaubenssysteme und ihrer sozialen Praktiken, die das Phantom erst hervorbringen. Die folgende Interpretation bietet eine differenzierte Perspektive auf bereits vorliegende postkoloniale Lesarten an und revidiert für die Erzählung »Le Renégat« das von der Komparatistin Emily Apter postulierte Verständnis von Camus’ Schreibstil als einem »writing degree zero [...] that white-washed the colonizer's shadow while neutralizing autochtonous subjects« (1997, 501). Die Forschermeinung ist in Hinblick auf die politische Haltung Camus’ und die in seinen Texten aufgerufene Perspektive auf den Algerienkonflikt und die französische Kolonialpolitik gespalten. 25 Er wurde von den Kommunisten, den Aktivisten der FLN und postkolonialen Kritikern gleichermaßen attackiert. Vor allem die Anhänger der nationalen Befreiungsfront sahen in ihm einen Verräter der Unabhängigkeit.26 Andere, wie die algerische Autorin Assia Djebar, erkennen in ihm bis heute einen Kämpfer für die Freiheit, der seine Liebe für Algerien und den Wunsch nach einer gewaltfreien Gesellschaft literarisch verarbeitete.27 Die folgende Interpretation wendet sich gegen den absoluten Vorwurf, in Camus’ Erzählungen wären arabische Figuren abwesend bzw. ausschließlich negativ dargestellt. In L’Étranger und »Le Renégat« erscheinen _______ 25

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Für eine präzise Positionierung des Œuvres in Bezug auf die Algerienfrage vgl. die Ausführungen der Camus-Biographin Brigitte Sändig in Albert Camus. Autonomie und Solidarität und speziell darin das Kapitel »Die Bindung an Algerien« (2004, 10-55). Interessanterweise wird hier »Le Renégat« nicht besprochen. Die spezifisch algerischen Bezüge stellt Sändig vor allem über seine Essays »L’Envers et l’endroit«, »Noces« und die erzählerischen Werke L’Étranger, »L’Hôte« und Le Premier homme her. Emily Apter hat den Konflikt zusammengefasst: »For critics steeped in postcolonial perspectives, Camus's name triggers not only a deplorable record on the Algerian War that rightly cost him friendships on the left, but also his systematic nullification of Arab characters, particularly evident in L'Étranger, La Peste, and the short stories included in L’Exil et le royaume.« (1997, 502) Djebar betont, wie sehr Camus an einer friedlichen Lösung für die Unabhängigkeit Algeriens gelegen war. In ihrem essayistischen Werk Le Blanc d’Algérie (1996) verweist die Autorin auf Camus’ Rede in Algier Anfang 1956, in der er zum Waffenstillstand aufgefordert hatte. Auch David Carroll hat den Autor in seiner Monographie Camus the Algerian: Colonialism, Terrorism, Justice (2007) vor einer einseitigen Kritik gerettet und weist auf dessen konfliktreiche Auseinandersetzung mit Algerien, die keine einfachen Antworten zuließ. Algerien, so Carroll, ist in Camus’ Werk auf existentielle Weise präsent. Er thematisiert sowohl den französischen Kolonialkrieg und die Schwierigkeiten der nationalen Unabhängigkeit und lässt sich dabei, weder politisch noch auf der Darstellungsebene, dem einen oder anderen Lager eindeutig zuordnen.

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auch die französisch codierten Charaktere seltsam blutleer.28 Zudem stellt »Le Renégat« deutlich den Kolonialismus als Ideologie und Praxis aus: von der Idee der Missionierung, dem Einfall in fremdes Gebiet, der Ideologie der Überlegenheit sowie der Anwendung von Gewalt als Mittel zum Zweck. Die Erzählung verbindet strategisch Europa und Nordafrika, indem bestimmte identitäre Marker, architektonische Elemente und soziale Praktiken verflochten werden. Dies erschwert eine eindeutige Zuordnung kultureller Räume ebenso wie die klare Zuweisung von Täter und Opfer und der Bewegungsrichtung der Gewalt innerhalb des kolonialen Diskurses. Camus Erzähltechnik mag einigen verrätselt (Anderson 1988) und umständlich erscheinen, wird hier aber als Teil einer anti-propagandistischen Ästhetik verstanden, die sich gegen jedweden ideologischen BarrikadenJargon positioniert. »Le Renégat« ist eine literarische Absage an den Hass und die Zerstörungswut dogmatischer, imperialer und messianischer Systeme, die auf der Ausbeutung des Menschen basieren. In der Erzählung werden die scheinbar entgegengesetzten Topographien Europas und Afrikas in den binären Polen von Zivilisation und Barbarei, schwarz und weiß als intrikat verlinkt aufgerufen, um sie in ihren Definitionen und räumlichen Zuschreibungen zu hinterfragen. Zu Beginn flieht der Erzähler, ein Missionar aus dem Priesterseminar in Algier, ausgestattet mit der Überheblichkeit der europäischen »Boten des Lichts«, um in der Wüste die »Wilden« zum Katholizismus zu bekehren. Bereits auf den ersten Seiten präsentiert die Erzählung den kolonialistischen Apparat der mission civilisatrice. Der Missionar, dessen innerer Monolog die Geschichte bestimmt und vorantreibt, ist von dem Wunsch nach »Ordnung« besessen, der ihm beständig von einer abwesenden Gewalt einflüstert wird: »Ordnung, eine Ordnung, sagt die Zunge, und zugleich spricht sie von anderen Dingen, ja, nach Ordnung hat mich immer verlangt.« (LR 156)29 Auf der Suche nach seiner Bestimmung überquert der Missionar mit der Transsahara-Gesellschaft den Atlas, die Hochebenen und die Wüste »bis zu jener Stelle an der Grenze zwischen der Erde der Schwarzen und dem weißen Land, wo die Stadt aus Salz sich erhebt« (LR 161).30 An jener Grenze zwischen dem »Gebiet der Schwarzen«31 und dem _______ 28 29 30 31

Für eine kritische Perspektive auf den kolonialen Diskurs in Camus’ Werk vgl. Said 1994, Apter 1997 und Hughes 2001. »De l’ordre, un ordre, dit la langue, et elle parle d’autre chose en même temps, oui j’ai toujours désiré l’ordre.« (LR 1579) »[...] jusqu’a cet endroit, à la frontière de la terre des noirs et du pays blanc, où s’élève la ville de sel« (LR 1582). Hier sei auf die Polyvalenz hingewiesen: »terre des noirs« kann sowohl »Boden der Dunkelheit«, »Gebiet der Sklaven«, aber auch Algerien selbst als das Land der pied-noirs bezeichnen. Zudem ergibt sich eine Unter-

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»weißen Land« entfaltet sich das »drama of the mind« (Brombert 1960, 83). Getragen wird die Mission von einer Machtphantasie und dem Wunsch, die »Wilden« der sagenumwobenen Salzstadt zu unterwerfen: Zu den wildesten Barbaren gehen und mit ihnen leben, ihnen in ihrer eigenen Umgebung und sogar im Hause des Fetischs durch das Beispiel zeigen, daß die Wahrheit meines Herrn stärker war. (LR 160)32

Der Widerstand der Bevölkerung wird schon vorher als Teil einer Rechtfertigungslogik antizipiert, er gehört zur Beweisführung des Kolonialismus (LR 160). Die Konvertierung und Unterwerfung sind das Ziel der Missionierung. Dabei ist der Protagonist alles andere als ein braver Bürger und bescheidener Katholik, denn er stiehlt das Geld des Verwalters, um sich selbst in der Ferne als Gott zu installieren. Das System der europäischen Kolonialpolitik dient hier lediglich der Vermehrung von Macht und dem Ansehen Einzelner. Camus’ Missionar und die belgischen Abenteurer und Handelsleute aus Heart of Darkness stehen sich hier nahe. Der Missionar imaginiert die uneingeschränkte Herrschaft über die Bewohner der Salzstadt, er gibt sich lustvoll der Vorstellung von absoluter Macht hin: Machtvoll, ja, das war das Wort, von dem ich mir ohne Unterlaß die Zunge kitzeln ließ, ich träumte von der unumschränkten Macht, jener Macht, die den Gegner zur Übergabe zwingt, seine Knie zur Erde beugt, ihn schließlich bekehrt, und je größer die Blindheit, die Grausamkeit, die Selbstsicherheit und Überzeugungstreue des Widersachers ist, desto lauter verkündet seine Unterwerfung die Herrlichkeit dessen, was seine Niederlage herbeigeführt hat. [...] Ich wollte selbst von den Henkersknechten anerkannt werden, sie in die Knie zwingen und ihnen den Ruf abtrotzen: ›Herr sieh deinen Sieg‹, kurz, ich wollte mit dem bloßen Wort über ein Heer von Ungerechten herrschen. (LR 160)33

Die Erzählung deckt den Widerspruch der Kolonialherren auf. Die Mission fußt auf einer Gewalt, die die Indigenen »menschlicher«, »zivilisierter« machen soll. Jene ›falsche Zunge‹, die die Sprache des Kolonialismus meint, _______

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scheidung zwischen politisch befestigtem Gebiet und einer unbestimmten Fläche, Land (pays) vs. Erde (terre), die für den von Camus in der Figur des Missionars ausgestellten kolonialen Diskurs nicht uninteressant ist, denn er impliziert den imperialen Blick auf eine »unbefestigte« Gegend und damit auf ein noch zu eroberndes Land. »[...] à la maison du fétiche et à ses esclaves, pouvait-on trouver plus barbare, plus excitant, oui, là était ma mission, et je devais aller leur montrer mon Seigneur« (LR 1581). »Puissant, oui, c’était le mot que sans cesse, je roulais sur mal langue, je rêvais du pouvoir absolu, celui qui fait mettre genoux à terre, qui force l’adversaire à capituler, le convertit enfin, et plus l’adversaire est aveugle, cruel, sûr de lui, enseveli dans sa conviction, et plus son aveu proclame la royauté de celui qui a provoqué sa défaite. [...] [J]e voulais être reconnu par les bourreaux eux-même, les jeter à genoux et leur faire dire: ›Seigneur, voici ta victoire‹ régner enfin par la seule parole sur une armée de méchants.« (LR 1581-1582)

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wird ihm später während der Gefangenschaft in der Salzstadt vom Priester des Fetischs abgeschnitten. Den kolonialen Begierden des Missionars werden die Menschen der Salzstadt, die »nächtlichen Bewohner« und »schwarzen Eskimos« (LR 163)34, gegenübergestellt. Dies lässt auf eine erste Ähnlichkeit zu Conrads »prä-historischem« Menschen schließen. Tatsächlich ist in der folkloristischen Darstellung der Bewohner der Salzstadt zunächst eine gewisse Exotisierung und Dämonisierung der indigen Bevölkerung zu erkennen, die dem kolonialen Diskurs eingeschrieben ist. Emily Apter hat in ihrer Betrachtung der algerischen kolonialen Subjekte in Camus Werk dahingehend argumentiert: Sullen, taciturn ›Arab‹ characters emerge as figurants; alternately mime and geste stick figures holding up the scenery, or scopic effects, tracking European inquisitors with malevolent diffidence. (1997, 503)35

Auch wenn Apters Beobachtung durchaus ihre Berechtigung hat, die Polyvalenz des Raumes spricht gegen die Vermutung einer einseitigen Darstellung. Vielmehr verschränken sich in der imaginären Topographie des Textes und seiner Figuren die westeuropäische und nordafrikanische Geographie und Kultur. Die Erzählung beschreibt in der Gefangennahme des Missionars und seiner Bekehrung zum Fetisch eine Form des going native, jedoch nicht im Sinne einer um die Jahrhundertwende empfundenen Krisenstimmung, einer gefürchteten »rassischen Degeneration« der Europäer im Kontakt mit dem Anderen. In diesem Sinne hatte Edward Said die Erzählung als Zeugnis des französischen Imperialismus gelesen: In ›Le Renégat‹ a missionary is captured by an outcast southern Algerian tribe, has his tongue torn out [...], and becomes a super-zealous partisan of the tribe, joining in an ambush of French forces. This is as if to say that going native can only be the result of a mutilation, which produces a diseased, ultimately unacceptable loss of identity. (1994, 215)36

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»habitants nocturnes« und »esquimaux noirs” (LR 1583). Dies gilt besonders für die Frauen in Camus’ Werk. Weder auf französischer noch algerischer Seite treten sie als unabhängige und zentrale Charaktere auf. Sie sind als liebende Ehefrau abwesend (La Peste), ein Instrument des Fetischs (»Le Renégat«) oder werden als sinnliche, aber austauschbare Gespielinnen dargestellt (L’Étranger). Said unterstellt Camus eine unpolitische Zurückhaltung im Umgang mit der Algerien-Frage. Er wirft ihm eine »kontrollierte Nostalgie« vor und beschreibt L’Exil et royaume als: »stories [...] filled with anxiety over the gathering crisis.« (1994, 215) Camus’ Vorsicht lässt sich jedoch durch die historischen Umstände erklären. Die algerische Revolution wurde am 1. November 1954 ausgerufen und das Massaker von Sérif, in dem französische Truppen über 100 algerische Zivilisten getötet hatten, lag nur zehn Jahre zurück. Der algerische Unabhängigkeitskampf war blutig verlaufen und

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Doch anders als Apter und Said behaupten, wird in der Erzählung keineswegs die Gewalt der Kolonialherren unterschlagen. Im Gegenteil, der gewaltvolle Mechanismus der Missionierung ist von Beginn an präsent. Die Erzählung geht jedoch über eine Kritik am europäischen Kolonialismus hinaus. Dies lässt sich anhand der Konzeption der Salzstadt aufzeigen. Die Geschehnisse in Taghâsa sind zum einen als Spiegel der europäischen Praktiken zu verstehen, in der die Salzstadt als Projektionsfläche von Modernität fungiert. Andererseits sind die Rituale des Fetischs Verweise auf eine konfliktreiche und gewaltdurchwirkte maghrebinische Kultur. In diesem Sinne ist die Stadt Taghâsa ein polyreferentieller Raum, der verschiedene bannende Strukturen zusammenbindet. »Le Renégat« macht, ähnlich wie Kafkas »Strafkolonie«, die Verschränkungen der Orte im Sinne einer strukturellen übergeordneten Konzeption von Gefangenschaft sichtbar. In der Topographie der Stadt, der Konvertierung des Missionars und in der von den Bewohnern der Stadt praktizierten Sklaverei lassen sich nicht nur gewisse Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen erkennen, sondern vielmehr öffnet sich hier ein hybrider Raum. Die Stadt Taghâsa ist weiß und in gewisser Weise sehr modern, vor allem die quadratische Bauweise (LR 1589) scheint die Idee der modernen europäischen Stadt mit verschiedenen Architekturen des maghrebinischen Raums zu verbinden.37 Ihre »unfruchtbaren Häuser« und zu wahrer Liebe unfähigen Bewohner erinnern auch an die Grenzstadt Oran aus La Peste. In der Forschung wird Taghâsa vor allem als »imaginärer Ort« gelesen (vgl. Brombert 1960). Es lohnt jedoch, die historisch-imaginären Spuren in den Blick zu nehmen. Taghâsa war ein verlassener Salz-Tagebau in Mali, nördlich von Timbuktu, der bis 1600 die gesamte Region mit Salz versorgte. Die Salzvorräte wurden nach Timbuktu transportiert und dort gegen Gold und Sklaven eingetauscht (Margerrison 2010, 434). Sie wurde von arabischen und persischen Gelehrten, u.a. von Ibn Battuta und Leo Africanus, als eine der wichtigsten Handelsstationen und als sagenumwobene Sklavenstadt beschrieben. Darüber hinaus erinnert Camus’ Taghâsa an die mehrgeschossigen wehrhaften Bauten der Berber im südlichen Maghreb und ebenso an die arabisch-islamischen Einflüsse der nordischen Städte, z.B. die »weiße Stadt« Algier, die Hauptstadt Algeriens. Allerdings liegt diese am Mittelmeer und nicht in der Wüste. Der in Taghâsa praktizierte monotheistische Glaube vom einzig wahren Gott lässt sowohl an den Katholizismus und den Islam denken und weist _______

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Camus plädierte daher, anders als Jean-Paul Sartre und Frantz Fanon, für eine moderate, friedliche Lösung, die das Leid der Zivilbevölkerung im Auge behielt. Der Name der Stadt erinnert auch an das berberische Wort Tamazgha, das den maghrebinischen Raum als das »Land der Berber« bezeichnet.

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darüber hinaus auf jedwede Form des institutionalisierten Dogmatismus, die durch Propheten und Priesterfiguren vertreten wird. In der Salzstadt herrscht ein Zauberer mit »Metallaugen«, einem »braunen Pferdegesicht«, »einem Panzer von Perlen, mit nackten Beinen unter einem Strohrock, einer Maske aus Schilf und Gras« (LR 166).38 Die Metallaugen des Zauberers verweisen auf einen Rohstoff, der wie kein anderer für die westliche Moderne steht. Er wird vor allem für die Rüstung, den Autobau und die Telekommunikation benutzt. Die Herstellung und Verwendung von Metall steht allgemein für den Beginn der Zivilisation. Der Zauberer verkörpert somit eine hybride Figur, in der sich Europa und Nordafrika, die westliche Technik-Moderne und folkloristisch-rituelle Elemente treffen. Ähnlich verflochten scheint das Ritual der Taufe, die, als rite de passage, auch an die Einweisung eines Gefangenen erinnert: Sie zogen mir die Kleider aus, schoren mir Schädel und Leib kahl, wuschen mich mit Öl, schlugen mir mit wasser- und salzgetränkten Seilen ins Gesicht und ich lachte und wandte den Kopf ab. (LR 167)39

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Man weiht den Gefangenen mit »schwarzen Wasser« und anstatt der Hostie, muss er den Leib des Fetischs, das Salz, schlucken. Christine Margerrison hat betont, dass der messianische Modus keineswegs eine europäische Erfindung war (2010, 429). Dieses Argument wird verstärkt durch die zwei Sonnen, die in der Erzählung die zwei Glaubenssysteme symbolisieren: Auf der einen Seite steht die Sonne des Katholizismus, auf der anderen Seite steht die Wüstensonne und das Regime des Fetischs,40 dem die Bewohner der Salzstadt Taghâsa huldigen. Beide Glaubenssysteme beruhen auf einem abstrakten Prinzip, dem sich die Menschen verschreiben und das vor allem die Schwächsten verbrennt. Doch während die Zerstörungswut der Sonne die letzte Einsicht markiert, geht es zunächst um ihre Verführungskraft. So schwört der Missionar bedingungslos den alten Göttern ab und macht sich zum Diener des Fetischs. Die unreflektierte Annahme einer neuen Religion bezeugt die Sehnsucht des Einzelnen nach Klarheit und Gemeinschaft, die wiederum in befehlshöriger Selbstaufgabe und Gewalt mündet. _______ 38

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»[...] yeux de métal«, einem »[...] face brune de cheval«, und einem »[...] cuirasse de perles, les jambes nues sous une jupe de paille, avec une masque de roseaux et de fil de fer« (LR 1585). »[O]n ma fait boire une eau noire [...] Ils m’ont déshabillé, rasé la tête et le corps, lavé à l’huile, battu le visage avec des cordes trempées dans l’eau et le sel, et je riais et détournais la tête [...].« (LR 1586) So heißt es im Text: »[...] wie die Sonne, die nicht aufhört, immerfort zu strafen, außer nachts, gleißend und hoffärtig, die mich in diesem Augenblick hart straft, mit glühenden, mit plötzlich aus dem Boden aufschießenden Lanzen.« (LR 162) Auch der zweite Teil von La Peste ist durch eine große Hitze gekennzeichnet, von einer Sonne, die in L’Étranger und auch in Kafkas »Strafkolonie« die Menschen verfolgt und trifft.

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Am Ende steht der Anfang der Erzählung unter umgekehrten Vorzeichen, die Vision von der Kolonisierung Europas: O, meine Meister, dann werden sie die Soldaten besiegen, sie werden die Wüsteneien durchqueren und über die Meere fahren, das Licht Europas mit ihren schwarzen Schleiern verdunkeln, schlagt auf den Leib, ja, schlagt auf die Augen, werden ihr Salz auf dem Kontinent aussäen, alles Pflanzenleben, alle Jugend wird erlöschen, und stumme Menschenheere mit gefesselten Füßen werden mir zur Seite unter der grausamen Sonne des wahren Glaubens durch die Wüste der Welt ziehen, ich werde nicht mehr allein sein. (LR 178)41

Die Erzählung führt ein Invasionsszenario vor Augen, das die Angst Europas vor der Bedrohung durch die ehemaligen Kolonisierten aufgreift und die Schuld der Europäer, die hier die eigenen Praktiken vorgeführt bekommen, weckt. Nicht zuletzt beschwört die Erzählung an dieser Stelle Bilder des Kulturkontakts, die mit dem Osmanischen Reich und der weißen Sklaverei in Nordafrika verbunden sind.42 Marokko und Algerien waren Barbareskenstaaten, die im 16. und 17. Jahrhundert gegen die christlichen Mittelmeerstaaten kämpften. Zu dieser Zeit war Algerien eine osmanische Provinz und lebte vorwiegend von der Piraterie. Erst 1830 begann Frankreich das islamische Algerien zu okkupieren und damit ein Bollwerk gegen die Ausbreitung des Islams im Mittelmeerraum zu errichten. Der ehemalige Missionar wird zum Sklaven der Bewohner der Salzstadt und verweist damit auch auf eine Tradition in Nordafrika, die ca. eine Million Europäer von Island über die heutigen USA, Spanien und Italien betraf. Die europäischen Gefangenen waren ein kontinuierlicher Konflikt zwischen Europa und den Regenten in Nordafrika (Davis 2003b, Colley 2010). Taghâsa lässt sich nicht nur als Allegorie auf die europäische Sklaverei im Zuge des Kolonialismus oder die weiße Sklaverei in Nordafrika lesen. In ihrer Polyvalenz verweist die Erzählung auch auf den Sklavenhandel der Transsahara, der lange Zeit das Rückgrat der maghrebinischen Ökonomie bildete (Margerrison 2010, 432).43 So heißt es in »Le Renégat« über die Bewohner der Salzstadt: »Sie herrschen über [...] ihre schwarzen Sklaven, die _______ 41

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»Ô mes maîtres, ils vaincront ensuite les soldats, ils vaincront la parole et l’amour, ils remonteront les déserts, passeront les mers, rempliront la lumière d’Europe de leurs voiles noirs, frappez au ventre, ou frappez aux yeux, sèmeront leur sel sur le continent, toute végétation, toute jeunesse s’éteindra, et de foules muettes aux pieds entravés chemineront à mes côtes dans le désert du monde sous le soleil cruel de ma vraie foi, je ne serai plus seul.« (LR 1592) Der Historiker Robert C. Davis argumentiert, dass die weiße Sklaverei der Barbaresken-Staaten das Narrativ des europäischen Kolonialismus, nicht zuletzt auch in seiner wissenschaftlichen Bearbeitung, in Frage stellt (2003b, 193). Zum transsaharischen Sklavenhandel vgl. Wright 2007.

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sie im Bergwerk zu Tode schinden [...].« (LR 163-164)44 Mit der Existenz der »schwarzen Sklaven« wird sowohl der europäische Kolonialismus in Afrika als auch die Selbstausbeutung afrikanischer Gesellschaften angesprochen. Die Erzählung macht die Wüste selbst als Gefängnis-Raum sichtbar, in dem sich der transsaharische Sklavenhandel, der europäische Kolonialismus, die barbareske Gefangenschaft und die gegenwärtige rituelle Gewalt maghrebinischer Gesellschaften verbinden.45 Dementsprechend hat Margerrison formuliert: Camus is not merely making the point that throughout history all imperial expansion was achieved through violence and oppression; nor is he simply reducing violence to a natural phenomenon about which nothing can be done. Above all, his presentation of history in ›Le Renégat‹ also challenges the prevailing master narrative of European imperialism, along with the comfortable certainties of those for whom the value of history lies in the opportunity it affords for moral condemnation of the dead, or the construction of myths of innocent victimhood. (2010, 436)

Am Ende der Erzählung steht die Abrechnung mit der alten durch Gewalt und Zwang erhaltenen Gesellschaft. Die Erzählung kehrt an ihren Ausgangspunkt zurück: »Ich bin nicht gestorben, ein junger Haß stand eines Tages mit mir zusammen auf.« (LR 172)46 Neue Machtphantasien treten an die Stelle der alten Bekenntnisse. Der Unterschied zwischen den Glaubenssystemen liegt lediglich in ihrer Bewertung der Realität. So tauscht der Missionar am Ende eine Gefangenschaft und Unterwerfung gegen eine andere ein: Heil, er war der Meister, der einzige Herr, dessen unbestreitbares Merkmal die Bosheit war, es gibt keine guten Meister […] Ich betete in ihm das böse Prinzip der Welt an. Gefangener seines Reichs, der unfruchtbaren, in einen Salzberg gehauenen Stadt, die von der Natur abgeschnitten war, der flüchtigen und seltenen Blütezeiten der Wüste beraubt, jenen Zufälligkeiten und Zärtlichkeiten entzogen, die selbst der Sonne oder den Sandböden zuteil werden, eine unvermutete Wolke, ein kurzer Platzregen, Gefangener der Stadt der Ordnung, der rechten Winkel, der viereckigen Räume, der steifen Menschen, freiwillig machte ich mich zu

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»Ils règnent sur [...] leurs esclaves noirs qu’ils font mourir à la mine [...].« (LR 1583-1584) Diese Lesart ist durchaus umstritten und vor allem in der postkolonialen Camus-Forschung unbeliebt. Bis heute ist das Thema der Sklaverei innerhalb der maghrebinischen und islamischen Gesellschaften ein höchst sensibles Thema. Abraham Anderson merkte an, dass man die Brisanz des Themas im verrätselten Narrativ der Kurzgeschichte spürt (1988). Nach Margerrison bietet die polyvalente Landschaftsbeschreibung eine Möglichkeit überhaupt darüber sprechen zu können (2010, 433). Camus hat so die prä-koloniale Sklaverei und die postkoloniale maghrebinischen Machtstrukturen sowie ihre Unsagbarkeit innerhalb des postkolonialen Diskurses ausgestellt (ibid.). »Je ne suis pas mort, une jeune haine s’est mise debout un jour.« (LR 1589)

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ihrem haßerfüllten, gemarterten Untertan, ich verleugnete die lange Geschichte, die man mich gelehrt hatte. (LR 173)47

Der bekehrte Missionar ist bereit, im Namen des Fetischs zu morden und zu verstümmeln. Der Kreis der Gewalt schließt sich. Begonnen hatte die Geschichte mit der Sozialisierung des Missionars in seinem Heimatdorf. Dort hatte der prügelnde Vater ihn in die Arme des katholischen Pfarrers getrieben. Er findet sein Ende in der Wüste, bekehrt vom Fetisch und misshandelt von den Bewohnern der Salzstadt. Der ehemalige katholische Missionar verabscheut fortan das Gute und predigt stattdessen einen AntiHumanismus sartrescher Manier: Einzig das Böse ist gegenwärtig, nieder mit Europa, der Vernunft, der Ehre und dem Kreuz [...] ich war ein Sklave [...] jetzt bin ich kein Sklave mehr, trotz meiner gefesselten Füße und meinem stummen Mund. (LR 173)48

Um seinen neuen Herren zu beweisen, dass er würdig ist, will er in der Wüste dem Priester aus Algier auflauern, um ihn zu ermorden. Er ruft seine neuen »Brüder« zu Hilfe – doch die Wüste bleibt stumm. Er stirbt in Einsamkeit, von neuen und alten Meistern verlassen, durch die Hand des Zauberers. Er hat nicht verstanden, dass er noch immer ein Sklave ist. Ihm wird der Platz innerhalb der Gemeinschaft verwehrt, Taghâsa, jene abgeriegelte Stadt49, wird auch ihm keinen Einlass gewähren (LR 159). Am Ende stopft der Zauberer dem »geschwätzigen Sklaven« den Mund mit Salz (LR 179).50 Das Ideal der Gemeinschaft mutiert zur Farce, wenn sie zur Gewalt gegen andere aufruft. In »Le Renégat« ist »die brüderliche Liebe« keineswegs »die Kehrseite des Hasses« (1981, 20), wie es Sartre im Vorwort von Frantz Fanons Die Verdammten der Erde propagiert. Die ›falsche‹ Gemeinschaft, die Kriege provoziert und Hass sät, eine Gemeinschaft, die sich über den _______ 47

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»Salut, il était le maître, le seul seigneur, dont l’attribué indiscutable était le méchanceté, il n’y a pas des maîtres bons. […] J’adorai en lui le principe méchant du monde. Prisonnier de son royaume, la ville stérile sculptée dans une montagne de sel, séparée de la nature, privée des floraisons fugitives et rares de désert, soustraite à ces hasards ou ces tendresses, un nuage insolite, une pluie rageuse et brève, que même le soleil ou les sables connaissent, la ville de l’ordre enfin, angles droits, chambres carrées, homes roides, je m’en fis librement le citoyen haineux et torture, je reniai la longue histoire qu’on m’avait enseignée.« (LR 1589) »[...] seul le mal et présent, à bas l’Europe, la raison et l’honneur et la croix. [O]ui j’étais esclave, mais si moi aussi je suis méchant je ne suis plus esclave, malgré mes pieds entravés et ma bouche muette.« (LR 1590) »[...] la ville fermée à tous les étrangers« (LR 1581). »Hommes autrefois paternels, seuls recours, ô solitude, ne m’abandonnez pas! Voici, voici, qui es-tu, déchiré, la bouche sanglante, c’est toi mon maître bien-aimé! Quitte ce visage de haine, sois bon maintenant, nous nous sommes trompés [...] aidez-moi [...] Une poignée de sel emplit la bouche de l’esclave bavard.« (LR 1593)

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Einschluss ihrer Bewohner in Form der dogmatischen Rede und Praxis und den Ausschluss unliebsamer, andersdenkender Subjekte definiert, kann kein Ort der Zuflucht und der Liebe sein. Der Missionar ist die Verkörperung der Unfreiheit, er ist ein Vertreter Europas, ein konvertierter Anti-Humanist und Verfechter des Fetischs, er wird gefoltert und misshandelt, und noch immer empfindet er Freude an den Schlägen des Zauberers. In der paradoxen Figur des versklavten Missionars ist er das sichtbare Phantom in Camus’ Erzählung. Er ist ein Werkzeug des Katholizismus im Priesterseminar und ein »geschwätziger« Sklave in der Salzstadt. Er huldigt dem Hass, nur als er sich am Ende gegen ihn wendet, will er ihn nicht sehen (LR 179). »Le Renégat« lässt sich hier explizit als Antwort auf Sartres antikoloniale Schriften lesen. Während die Erzählung »Le Renégat« durchaus die inneren Widersprüche und Vielgestaltigkeit der Gewalt in Nordafrika aufzeigt, die keine einfache Gegenüberstallung von Unschuld und Schuld erlaubte, so pochte Sartre auf einen »vitalisierenden Geist« der kolonialen Völker. Jener wurde von Sartre für eine Kampfansage an das europäische Bürgertum instrumentalisiert: Gibt es eine Heilung? Ja. Die Gewalt kann, wie die Lanze des Achill, die Wunden vernarben, die sie geschlagen hat. Heute sind wir gefesselt, gedemütigt. Krank vor Angst: auf der tiefsten Stufe. Glücklicherweise genügt das der kolonialistischen Aristokratie noch nicht: sie kann ihre Verzögerungsmission in Algerien nur erfüllen, wenn sie die Kolonialisierung der Franzosen vollendet hat. Wir weichen der Auseinandersetzung täglich aus. Aber seien sie sicher: wir werden ihr nicht entgehen, die Totschläger brauchen sie; sie werden uns auf den Kopf kommen und uns zusammenschlagen. Dann wird die Zeit der Medizinmänner und der Fetische zu Ende sein: sie müssen sich schlagen oder in den Lagern verkommen. (1981, 27)

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Sartres Huldigung des gewaltsamen antikolonialen Widerstands macht seine Relativierung in der Bewertung der Herrscher deutlich. Die Haltung des Missionars in »Le Renégat« lässt sich durchaus als ironische Absage an dem Dogmatismus Sartres lesen. So heißt es in der Erzählung: »Heil, er war der Meister, der einzige Herr, dessen unbestreitbares Merkmal die Bosheit war, es gibt keine guten Meister […]« (LR 173). Dagegen räumte Sartre in Les Temps Modernes ein, dass man sich mit dem Schlechten arrangieren musste, um die Welt zu ändern (1952, 345). Dies hieß u.a. die stalinistischen Lager und die Gewalt der FLN zu akzeptieren. Dabei ging Sartre seiner eigenen eurozentrischen Haltung in die Falle. Er bezeichnete die Völker Algeriens und Martiniques im Vorwort zu Fanons Les Damnés de la terre als »Zombies« und »Untermenschen« und beschwor sie, sich gegen den »fette[n] und farblose[n] Kontinent« und die europäischen Narzissten zu erheben (1981, 23). Seine aufrührerische, antagonistische Rhetorik versagte den Kolonisierten ihre komplexe Menschlichkeit.

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Auch der Missionar scheint von der ›barbarischen‹ Kraft angetan51 und hofft auf deren revitalisierende Wirkung. Als die französischen Soldaten die Stadt einnehmen, ist er geradezu entsetzt und hofft, dass die Bewohner zu den Waffen greifen, anstatt den Europäern Zutritt zu gewähren. Doch die Menschen der Salzstadt gehen nicht auf die Barrikaden. Der Missionar, der sich als einer der ihren fühlt und glaubt für sie sprechen zu können, fühlt sich verraten. »Le Renégat« ist somit auch eine Kritik an der einseitigen Betrachtung der Lage in Nordafrika. Denn, so lehrt die Geschichte, die ehemaligen Kolonisierten werden noch immer nicht gehört und so lange die Sprache der Gewalt vorherrscht, lässt sich kein produktiver Weg finden. Die realen gesellschaftlichen Strukturen in den Kolonien vertrugen sich kaum mit einem abstrakten Aufruf zur Gewaltbereitschaft, der unwiederbringlich in einem Kreislauf des Terrors mündete. Der Kernsatz der Erzählung »Le Renégat« mahnt daher an den exzessiven Versuch der Ordnungsstiftung: »[...] nach Ordnung hat mich immer verlangt« (LR 156)52. Ordnung bedeutet Schutz und Sicherheit, sie kann aber ebenso gefangen nehmen. Der Missionar ist schlussendlich ein »Gefangener der Stadt der Ordnung«, die »viereckigen Räume, der steifen Menschen« (LR 173)53 spiegeln die Geisteshaltung, die den großen Ideologien zugrunde liegt. Die imaginäre Stimme, die den Missionar begleitet, mahnt an die Verführbarkeit und gefährliche Fremdbestimmung des Menschen. Anders als Sartre sieht Camus keinen Sinn darin, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Mit der allegorischen Fassung des Themas konnte Camus eine eindeutig politische Stellung vermeiden. Sie erlaubte ihm, den ideologischen Apparat, das marxistisch-hegelianische Gefängnis der Geschichte und dessen Messianismus, zu umgehen. Die utopische Fiktion der Freiheit hatte er bereits im Essay »Der Terrorismus des Staates und der rationale Terror« (L’Homme révolté) angeprangert: Den Sklaven, denen, die in der Gegenwart im Elend leben und keine himmlische Tröstung haben, versichert man, daß zumindest die Zukunft ihnen gehören werde. Die Zukunft ist der einzige Besitz, den die Herren den Sklaven gerne zugestehen. (1969, 158)

Camus kritisiert die teleologischen Zukunftsprojektion, die die Mittel der Gewalt rechtfertigen und den Menschen zu einer Slavenexistenz verdammte. Als utopische Verführung machte sie sich die historischen Ereignisse _______ 51

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Der Missionar ist bereits zu Beginn der Erzählung von der Salzstadt angetan: »Ich träumte fortan von dieser Erzählung, vom Feuer des Salzes und des Himmels, vom Haus des Fetischs und seinen Sklaven, vermochte man sich etwas Barbarischeres, etwas Erregenderes auszudenken [...].« (LR 159) »[...] j’ai toujours désiré l’ordre« (LR 1579). »[...] prisonnier de la ville de l’ordre enfin, angles droits, chambres carrées« (LR 1589).

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Untertan. Camus postuliert die Freiheit daher als einen »Ist-Zustand«: sie kann niemals erreicht werden, denn sie ist immer schon Teil unserer absurden Existenz, wenn wir bereit sind, dies anzuerkennen. Ein gegebenes Recht auf Freiheit existiert nur in ideologischen Zusammenhängen. Dies wird nirgends so deutlich wie in Camus’ 1947 erschienenen Roman Le Peste.

4.1.2 Les Prisonniers: Allegorie der leblosen Gesellschaft

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Auf den ersten Blick erscheint Oran, eine französische Präfektur an der algerischen Küste, wie eine gewöhnliche Stadt. Dies ändert sich mit dem Ausbruch der Pest, die sie als riesiges Gefängnis sichtbar werden lässt: »Aber als die Tore auf einmal geschlossen waren, merkten sie, dass sie alle, auch der Erzähler, in derselben Falle saßen und sich damit abfinden mussten« (LP 77).54 Die Bedeutung von Gefangenschaft und Freiheit treten erst mit der durch die Epidemie verursachten Krise hervor, sie sind jedoch nicht per se durch sie bestimmt – darin liegt die Quintessenz des Romans.55 Camus’ Ästhetik der »Anspielung« (Kurz 2004, 36), die auf einem Überschuss an Bedeutung (Polysemie) beruht, lässt verschiedene soziale Formen der Bannung des Menschen in Erscheinung treten, ohne dabei ins Göttlich-Transzendente abzugleiten. Die Anwesenheit des Göttlichen wird vielmehr in seiner religiösen Institutionalisierung und Ideologisierung als Teil der gefangennehmenden Strukturen verworfen. Darin liegt die spezifisch moderne Variante der allegorischen Darstellung von Gefangenschaft in La Peste. Die Pest fungiert als Katalysator für die Offenlegung der Einschränkungen in fremdgesteuerten sinnstiftenden Narrativen. Dass sich die Gefangenschaft längst vor der Epidemie manifestiert hat, zeigt die Darstellung ihrer Bewohner vor der Krise. Das Leben in der Stadt ist von einer seltsamen, leidenschaftslosen Abgestumpftheit bei gleichzeitiger Betriebsamkeit gekennzeichnet: Unsere Mitbürger arbeiten viel, aber immer nur, um reich zu werden. Sie interessieren sich hauptsächlich für den Handel und befassen sich in erster Linie damit, was sie Geschäftemachen nennen. [...] In Oran ist man wie anderswo aus

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»Mais une fois les portes fermées, ils s’aperçurent qu’ils étaient tous, et le narrateur lui-même, pris dans le même sac et qu’il fallait s’en arranger.« (LP 1271) Zur Interpretationsvielfalt des Romans vgl. u.a. Bollnow 1948, Nievers 1996, Bahners 2000, Frausing-Vosshage 2004 und die Kapitel zur Pest in den Biographien von Parker 1966, Sändig 2000, Wieacker-Wolff 1996, Todd 1996 und Onfray 2012.

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Zeitmangel und Gedankenlosigkeit einfach gezwungen sich zu lieben, ohne es zu merken. (LP 8-9)56

Jener Ort, »ohne Pittoreskes, ohne Vegetation und ohne Seele« (LP 10)57 findet sich auf einer Hochebene, zu Füßen »einer vollendet gezeichneten Bucht« (LP 10)58, der sie den Rücken zukehrt. Ihre Lage ist eine Metapher für die Verschwendung des Lebens, in dem der Mensch sich von der unmittelbar vor ihm liegenden Schönheit abwendet und stattdessen lieber das Meer suchen geht (LP 1221).59 Es ist »eine ganz moderne Stadt« (LP 9),60 in der man keine Unordnung kennt (LP 10), ganz so, wie sie sich der Missionar aus »Le Renégat« erträumt. Wieder handelt es sich um eine lokalisierbare, zwischen den Ländern situierte Stadt an der algerischen Küste, die in der Darstellung seiner Bewohner auch auf westliche Metropolen wie Paris verweisen mag.61 Die Stadt ist ein kalter, karger Ort, in dem wesenlose Bewohner hausen. Oran wird nicht zuletzt durch ihre »Gewöhnlichkeit« und durch die Zufälligkeit der Ereignisse zum Gleichnis und Sinnbild jeder Stadt. Nach dem Einfall der Pest verändert sich die Stadt in der Wahrnehmung der Bewohner. Die Plage öffnet ihnen die Augen für die einschließenden Strukturen, die vormals schützenden Mauern werden zum Gefängnis. Die Bewohner von Oran scheinen: [...] für ein unbekanntes Verbrechen zu einer unvorstellbaren Gefangenschaft verurteilt [...]. Und während die einen weiter dahinlebten und sich dem Eingesperrtsein anpassten, waren andere von da an nur noch von dem Gedanken beherrscht, aus diesem Gefängnis zu fliehen. (LP 115)62

Die Bewohner entwickeln Bewältigungsstrategien, die schlussendlich immer wieder auf die Erklärung einer von außen kommenden Bestrafung und auf die Auslagerung des Problems zielen. Es werden Schuldige gesucht. Während zunächst die Ratten als Auslöser ausgemacht scheinen, wird die Krankheit später als Strafe für die Lasterhaftigkeit der Bewohner _______ 56

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»Nos concitoyens travaillent beaucoup, mais toujours pour s’enrichir. Ils s’intéressent surtout au commerce et ils s’occupent d’abord, selon leur expression, de faire des affaires. [...] À Oran comme ailleurs, faute de temps et de réflexion, on est bien obligé de s’aimer sans le savoir.« (LP 1219) »[...] sans pittoresque, sans végétation et sans âme« (LP 1221). »[...] au dessin parfait« (ibid.). »[...] la mer qu’il faut toujours aller chercher« (ibid.). »[...] tout à fait moderne« (LP 1220). In La Chute beschreibt der Erzähler Paris als »trompe-l'œil«, »un superbe décor habité par quatre millions de silhouettes« (LC 1478). »[...] condamnés, pour un crime inconnu, à un emprisonnement inimaginable. Et alors que les uns continuaient leur petite vie et s’adaptaient à la claustration, pour d’autres, au contraire, leur seule idée fut dès lors de s’évader de cette prison.« (LP 1301)

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gedeutet. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Umgang mit den Pestkranken. Sollte man stark betroffene Bezirke isolieren und hatten privilegierte Bürger das Recht die Stadt zu verlassen? Die Krankheit wird, wie Susan Sontag es in ihrem Werk Illness as Metaphor (1978) beschrieb, zum polyvalenten Zeichen der Heimsuchung. Die Erklärungsversuche dienen der Verdrängung und Überwindung der Krise, jedoch nicht ihrer Akzeptanz. Vielmehr entspannt sich ein Dialog über den Umstand, dass etwas zurückgekehrt sei, das verschwunden schien. Der alte Arzt Castel kann nicht glauben, was er sieht: »Sie ist seit Jahren aus den Ländern mit gemäßigtem Klima verschwunden.« Doch Rieux antwortet: »Was heißt das schon, verschwunden?« (LP 45)63 Der Verweis auf die »verschwundene« Plage kann auf den Faschismus und die Zeit des Nazi-Terrors hindeuten. Das »gemäßigte Klima« ließe sich demnach mit den modernen Demokratien oder auch der Zwischenkriegszeit in Beziehung setzen. Gleichzeitig deutet die Pest auf jede Form der gesellschaftlichen Krise, die als überstanden gilt. Die Bewohner der Stadt und die Stadtverwaltung scheuen sich, die Wahrheit anzuerkennen, denn so lange der Terror nicht ausgesprochen wird, kann er verdrängt werden. Die Bewohner machen zunächst weiter wie zuvor, denn sie sind sicher, dass auch dieser Schicksalsschlag an ihnen vorüberziehen wird. Erst nach einer gewissen Zeit brechen Panik und Verzweiflung aus. Der Mensch, so bemerkt der Erzähler, wird jedoch nie frei sein, so lange es die Plage als Idee der Ausnahme von der Norm gibt: »Sie hielten sich für frei, und niemand wird je frei sein, solange es Plagen gibt« (LP 47).64 Man muss die Krise beim Namen nennen und damit ihre Realität anerkennen, aber so fragt der Angestellte Grand den Doktor, »[...] welcher Name ist es?« (LP 51)65 In dieser Frage verdichtet sich zugleich Camus’ Ästhetik der Anspielung, die sein Biograph Michel Onfray in ihrer Breite aufschlüsselt: Natürlich erzählt er von der wirklichen Pest, die der Autor nicht exakt definiert, um die Bedeutungsvielfalt zu wahren. Meint er den Faschismus? Den Totalitarismus? Die Diktatur? Den Franquismus? Den Nationalsozialismus? Ja. Das Vichy-Regime, Pétain, den französischen Staat, die nationale Revolution? Ja, auch das. Aber er meint auch den Marxismus-Leninismus, den Sowjetismus, die blutige Revolution, das Regime, das mit der Guillotine regiert, die Politik des Terrors. Und er meint: jene vergangene und zukünftige Politik, die sich aus dem Todestrieb speiste oder speist. (2013 [2012], 261)

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Die Krankheit wird zur Metapher für eine Reihe von Krisen, die eine grundsätzliche metaphysische Verhaftung im irdischen, leiblichen Dasein _______ 63 64 65

»Vous savez ce qu’on nous répondra, dit le vieux docteur: ›Elle a disparu des pays tempérés depuis des années‹.« (LP 1245) »Ils se croyaient libres et personne ne sera jamais libre tant qu’il y aura des fléaux.« (LP 1248) »Il faut appeler les choses par leur nom. Mais quel est ce nom?« (LP 1251)

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andeutet. Doch man liegt falsch, will man die Krise als Grund der Gefangenschaft begreifen. Denn jene existiert bereits vor Ausbruch der Krankheit – sie liegt in der mechanischen, von leidenschaftslosen, dem Geld hinterhereilenden Verhaftung des Seins und wird durch die Pest, als Verdichtung der menschlichen Plage, lediglich sichtbar. Darüber hinaus beschreibt Camus ein Allgemein-Menschliches, nicht nur in den Reaktionen auf die Gefangenschaft, sondern auch in der Universalität ihrer Geltung. Rambert, der Journalist will eine Bescheinigung von Rieux, dass er nicht infiziert ist, um aus der Stadt zu gelangen. Er verweist darauf, dass er ein Fremder sei und nicht zur Stadt gehöre, doch Rieux winkt ab und macht ihm klar, dass die Krise alle betrifft. Selbst in der offensichtlichen Absurdität ihrer Lage – leben zu müssen angesichts des Todes – flüchten sich manche in die Illusion der Ausnahme und scheinen sich noch immer frei zu wähnen: So wehrten sich die Gefangenen der Pest Woche um Woche so gut sie konnten. Und einige unter ihnen, wie Rambert, schafften es offensichtlich sogar, sich einzubilden, dass sie noch als freie Menschen handelten, dass sie noch wählen könnten. Tatsächlich aber konnte man zu jenem Zeitpunkt, Mitte August, sagen, dass die Pest sich über alles gelegt hatte. Es gab damals keine individuellen Schicksale mehr, sondern eine kollektive Geschichte, nämlich die Pest und von allen geteilte Gefühle. (LP 189)66

In La Peste geht es nicht um die institutionalisierte Gewalt. Die unsichtbaren (göttlichen) Kräfte der klassischen Tragödie weichen der Kontingenz: Der Mensch selbst trifft die Entscheidungen, die ihn in den Käfig zwingen. Von außen werden lediglich Impulse geliefert, die Krise wird in bestehende Narrative integriert bzw. durch sie erst lesbar. Das Böse ist demnach nicht abstrakt zu denken, sondern existiert immer relativ zu unseren Einstellungen zum Leben und gewinnt lediglich durch die Unwissenheit des Menschen an Intensität. Camus »kannte keine selektive Entrüstung« (Onfray 2013 [2012], 261), daher war die Allegorie die adäquate Form der Beschreibung des Menschen in Gefangenschaft. Camus’ Haltung wurde besonders von Sartre als a-politisch bezeichnet. Doch für ihn war das Politische nur dann sinnvoll, wenn es auf der Verletzlichkeit und der jeweiligen Situationsgebundenheit des Menschen basierte. Derjenige, der sich in der Absurdität des Daseins einrichtet, kann für kurze Momente glücklich sein – so wie der Arzt Rieux _______ 66

»Ainsi, à longueur de semaine, les prisonniers de la Peste se débattirent comme ils le purent. Et quelques-uns d’entre eux, comme Rambert, arrivaient même à imaginer, on le voit, qu’ils agissaient encore en hommes libres, qu’ils pouvaient encore choisir. Mais, en fait, on pouvait dire à ce moment, au milieu du mois d’août, que la Peste avait tout recouvert. Il n’y avait plus alors de destins individuels, mais une histoire collective qui était la Peste et des sentiments partagés par tous.« (LP 1355)

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und sein junger Nachbar, der Widerstandskämpfer Tarrou. Die Einsicht in die alle betreffende Gefangenschaft ermöglicht darüber hinaus Momente des solidarischen Miteinanders. Die Pest verschwindet schlussendlich so unerwartet, wie sie gekommen ist. Doch Rieux weiß, dass die Menschen immer gleich bleiben und die Gefahr nie gebannt, nur aufgeschoben ist. So bezeichnet der Erzähler die Aufzeichnungen zur Pest gerade nicht als Zeugnis eines »endgültigen Sieges« (LP 350): Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was vollbracht werden musste und was ohne Zweifel noch alle Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen den Schrecken und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die zwar keine Heiligen sein können und die Plagen nicht zulassen wollen, sich aber bemühen, Ärzte zu sein. (Ibid.)67

Der Berufsstand des Arztes wird zum Sinnbild für den tagtäglichen absurden Kampf des Daseins. Er versucht Leben zu retten, obwohl seine Mühen durch die Endlichkeit des biologischen Körpers eingeholt wird. Der Arzt feiert die Verschwendung des Lebens, er glaubt einzig an die Epiphanie eines glücklichen Moments, für den die Anstrengung lohnt. Rieux wird zum Chronisten des Erlebten,68 der weiß, dass [...] der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, dass er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet. (LP 350)69

Jeder neue Ausbruch lässt sich auch in der Zukunft nur durch die Solidarität in der Krise meistern, aus der einige wenige gestärkt hervorgehen und ihre Menschlichkeit entdecken, während andere scheitern. Camus beschreibt hier eine Form der Menschlichkeit, die nicht etwa aus dem Humanismus geboren ist, sondern aus dem amor fati. In der Figur des Doktor Rieux führt der Roman vor Augen, dass man den Schrecken aushalten muss. Man lernt mit ihm zu leben. Der Schmerz bleibt persönlich: der Tod

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»Elle ne pouvait être que le témoignage e ce qu’il avait fallu accomplir et que, sans doute, devraient accomplir encore, contre la terreur et son arme inlassable, malgré leurs déchirements personnels, tout les hommes qui, ne pouvant être des saints et refusant d’admettre les fléaux, s’efforcent cependant être de médecins.« (LP 1474) »[...] pour témoigner en faveur de ces pestiférés, pour laisser du moins un souvenir de l’injustice et de la violence qui leur avaient été faites, et pour dire simplement ce qu’on apprend au milieu des fléaux, qu’il y a dans les hommes plus de choses à admirer que de choses à mépriser« (LP 1473). »[L]e bacille de peste ne meurt ni ne disparaît jamais, qu’il peut rester pendant des dizaines d’années endormi dans les meubles er le linge, qu’il attend patiemment dans les chambres, les caves, les malles, les mouchoirs et les paperasses, et peut- être , le jour viendrait où, pour le malheur et l’enseignement des hommes, la Peste réveillerait ses rats et les enverrait mourir dans une cité heureuse.« (LP 1474)

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der Geliebten, die Krankheit, das Alter, der Bankrott. Doch nur wenn der Mensch sich der Brüderlichkeit in eben jener Verletzlichkeit bewusst wird, kann er seine Freiheit genießen.

4.1.3 Gefangenschaft als Freiheit: eine absurde Idee Camus’ Figuren sitzen in der Falle, dies jedoch nicht im Sinne einer naturalistischen Determiniertheit, sondern aufgrund ihrer Entscheidungen, ihrer institutionellen Gebundenheit und ihres Bedürfnisses nach Sicherheit. Es ist die Freiheit des Privilegs, die sie zu Gefangenen macht, eine Freiheit »[...] gestützt durch die Polizei; die Familie, welche die konservativen Zeitungen feierten.« Sie »stand auf einem sozialen Niveau, wo Männer und Frauen halbnackt, am gleichen Seil befestigt, in die Bergwerke hinabfuhren« und einer Moral die »auf dem Boden der Prostitution der Arbeiter [gedieh]« (Camus 1969, 163). In Camus’ Texten ist die Freiheit ein schmerzliches Aushalten der absurden Situation, in der man sich der Illusion widersetzt, die Welt und ihre unauflösbaren Konflikte könnten sich in einem in die Zukunft gewandten Versprechen nach der vollkommenen Gemeinschaft und dem gerechten Glück zum Guten wenden. Momente wahrer freiheitlicher Einsicht ergeben sich bei Camus in der Einsamkeit der Zelle (L’Étranger), im sexuellen Abenteuer und der Sinnlichkeit (L’Étranger), in der Freundschaft zwischen Männern (La Peste) und in der Stille der Nacht (»Le Renégat«, La Peste). Mary-Ann Frese-Witt sieht in L’Étranger eine Fortführung des prison heureuse. Nachdem Merseult in Gleichgültigkeit einen Mord begeht, ereilt ihn erst in der Zelle die Erkenntnis seiner Freiheit: Als hätte diese große Wut mich vom Bösen geläutert, von Hoffnung entleert, öffnete ich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt. Als ich spürte wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, dass ich glücklich gewesen war. (LE 159)70

Umgeben von Mauern erkennt er, dass die einzige Bestimmung des Menschen der Tod ist.71 Er weiß, dass schlussendlich alle vermeintlich Privile_______ 70

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»Comme si cette grande colère m’avait purgé du mal, vidé d’espoir, devant cette nuit chargée de signes et d’étoiles, je m’ouvrais pour la première fois à la tendre indifférence du monde. De l’éprouver si pareil à moi, si fraternel enfin, j’ai senti que j’avais été heureux, et que je l’étais encore.« (LE 1211) Meursault ließe sich auch als eine radikalisierte Adaption der Figur des Bartleby aus Hermann Melvilles gleichnamiger Novelle verstehen. Während Bartleby im »dead letter office« eines mit Schuldnerbriefen betrauten Unternehmens an der Wall Street beschäftigt ist, muss Meursault Seebriefe bearbeiten, Handelsdokumente anderer Art. Bei beiden handelt es sich um enigmatische, seltsam abwesend wirkende Charaktere. Der eine stirbt

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gierten das gleiche Schicksal erwartet und darin liegt ein befriedigendes Moment. Die Einsicht in die Sterblichkeit befreit von der Erwartungshaltung der Gesellschaft. Mary-Ann Frese-Witt zieht hier eine Entwicklungslinien von Sokrates bis hin zur Renaissance: [I]t is the space of opposition and social restriction that becomes the space of revolt, transformation, liberation. It is to some extent also the place of rebirth, described in the last paragraph of the novel. (1985, 85)

Das Phantom in L’Étranger und auch in La Peste ist damit nicht der real Inhaftierte, sondern all jene, die die Absurdität des Lebens negieren, sich gefangen nehmen lassen von den großen Erzählungen und einer prädisponierten Sinn- und Zweckmäßigkeit des Seins. In den letzten Zeilen des Romans emanzipiert sich das Phantom hin zu einem individuellen und selbstbestimmten Bewusstsein, das den öffentlichen Tod umarmt. Die Freiheit liegt des Weiteren in der Stille und Kühle der Nacht. In »Le Renégat« findet der Missionar nur kurz in einer sternklaren Nacht zu sich selbst: »Einzig die Nacht mit ihren kühlen Sternen und ihren dunklen Brunnen vermochte mich zu retten, mich endlich den bösen Geistern der Menschen zu entreißen, aber ich blieb stets eingeschlossen und konnte sie nicht betrachten.« (LR 170)72 In La Peste zeigt sich ein Moment der Brüderlichkeit während eines Bades im Mondschein, das Tarrou und Rieux nach einem anstrengenden Tag genießen: »Einige Minuten lang schwammen sie im gleichen Takt und mit der gleichen Kraft, einsam, fern von der Welt, endlich von der Stadt und der Pest befreit.« (LP 292)73 Hier zeigt sich ein »flüchtiger Augenblick des Friedens und der Freundschaft« (LP 293)74. In Sartres Werk hingegen liegt die Rolle des Menschen nicht darin, einen Ausweg zu finden, sondern einen zu erfinden – eine proaktive Haltung der gegebenen Situation gegenüber zu entwickeln.75 Der Mensch muss _______

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hinter den Mauern, die ihn Zeit seines Lebens umgeben haben, der andere wird für einen Mord, den er in Gleichgültigkeit beging, inhaftiert und findet erst in der Zelle zu sich selbst. »Seule la nuit, avec ses étoiles fraîches et ses fontaines obscures, pouvait me sauver, m’enlever enfin aux dieux méchants des hommes, mais toujours enfermé, je ne pouvais la contempler.« (LR 1588) »Pendant quelques minutes, ils avancèrent avec la même cadence et la même vigueur, solitaires, loin du monde, libérés enfin de la ville er de la Peste.« (LP 1429) »[...] fugitif instant de paix et d’amitié« (LP 1430). Saskia Wiedner erklärt: »Sartres philosophische Überlegungen zur Freiheit nehmen ihren Ausgangspunkt in einem Zustand der Un-Freiheit, des Gefangen-Seins. Das Individuum ist immer von einem Anheimfallen des An-sich gefährdet, ist immer versucht, seine eigene Freiheit in einem Akt des mauvaise foi zu verleugnen, um der Angst des Geworfen-Seins und der Verantwortung der Selbstbestimmung des Daseins durch eine Wahl im undeterminierten Raum zu entgehen.« (2009a, 99)

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Verantwortung übernehmen, er kann sie nicht auslagern. In seinem Essay »L'Existentialisme est un humanisme« betont er: Wenn zum anderen Gott nicht existiert, haben wir keine Werte oder Anweisungen vor uns, die unser Verhalten rechtfertigen könnten. So finden wir weder hinter noch vor uns im Lichtreich der Werte Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. [...]: der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut. (2000, 114)

Die Formel »l'homme est condamné à être libre« wird in Sartres wohl bekanntesten Stück Huis clos (1945) literarisch konzeptionalisiert. Dort sind drei Personen in einem Zimmer eingeschlossen und versuchen verzweifelt, durch Selbsttäuschung und Lüge ihrer gemeinsamen Hölle zu entkommen. Die Situation wird von Inès, einer lesbischen Briefträgerin, die den Tod ihres Cousins verschuldet hat, als aussichtslos beschrieben: »alles ist eine Falle« (HC 42).76 Die wahre Hölle ist nicht der Raum, in dem sie gefangen sind, sondern der Blick des Anderen, der kontinuierlich eine Erwartungshaltung produziert, die befriedigt werden will.77 Garcin, ein Deserteur und Ehebrecher fasst zusammen: »Schwefel, Scheiterhaufen, Rost … Was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die andern« (HC 55).78 Es bleibt nur ein Ausweg: »Also, machen wir weiter.« (HC 59)79 Bereits in der Schlüsselszene des Stücks deutet sich innerhalb der existentiellen Freiheit die Problematik zwischen dem Weltschmerz des Protagonisten und der Realität der Gefängnisse im 20. Jahrhundert an. Garcin verzweifelt über die Gemeinschaft, in die man ihn gezwungen hat, und schlägt abermals an die Tür des Zimmers, die fest verriegelt scheint: Aufmachen! Aufmachen! Ich nehme alles hin: Beinschrauben, Zangen, flüssiges Blei, Halseisen, alles, was brennt, alles, was quält, ich will richtig leiden. Lieber hundert Stiche, lieber Peitsche, Vitriol als dieses abstrakte Leiden, dieses Schat-

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»[...] tout est piège« (HC 115). »Das Dasein des Menschen in der Welt ist neben dem Dasein in Situation (être-en-situation) – womit bei Sartre ein Dasein in Geschichte gemeint ist – ein Für-andere-sein (être-pour-autrui), das grundsätzlich einen konflikthaften Charakter aufweist. Auf der Ebene der Ontologie kann diese Konfliktsituation, die zwischen dem subjektiv sich erfahrenden, sich in die Zukunft entwerfendem Ich (pour-soi) und dem objektivierenden Blick des anderen, in welchem Ich zum en-soi erstarrt nicht aufgelöst werden. Das sich setzende Bewusstsein geht somit immer auf den ›Tod‹ des anderen.« (Wiedner 2009b, 55) »le soufre, le bûcher, le gril... Ah! Quelle plaisanterie. Pas besoin de gril, l’Enfer, c’est les Autres.« (HC 128) »Eh bien, continuons.« (HC 128)

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tenleiden, das einen streift, das einen streichelt und das niemals richtig weh tut. (HC 54-55)80

Hier spricht die Sehnsucht des Revolutionärs, dem das Leid in den Konzentrationslagern Europas erspart geblieben ist und der die realen Erfahrungen der Gefangenschaft in dieser Aussage nivellierte und heroisch verklärte. In dem Augenblick, da sich die Tür öffnet, entscheiden sich die drei Insassen den Raum nicht zu verlassen.81 Jene Wendung, die das existentialistische Credo fasst, scheint die Träume und Wünsche von Millionen von Häftlingen in den Lagern ad absurdum zu führen. In Huis clos und in L’Étranger werden die historischen Materialitäten, die das Phantom im 20. Jahrhundert in den stalinistischen und faschistischen Lagern und im kolonialen Raum erst hervorgebracht haben, ausgeblendet. Auch Meursault ist ein Privilegierter, dem das Gefängnis den Luxus der Entscheidung vor Augen führt. Die literarisch-philosophischen Entwürfe der Gefangenschaft in Camus’ und Sartres Texten sind nicht direkt mit den autobiographischen Lagererfahrungen zu vergleichen. Ihre Verhandlungen der Gefangenschaft verbinden vielmehr die metaphysische Erfahrung des Gefangenseins mit den realhistorischen Orten der Internierung, dem KZ, dem russischen Straflager und den Kolonien, die im Narrativ weniger explizit als solche erscheinen, sondern in ihren materiellen Spuren, Ordnungsmustern und ideologischen Fassungen auftreten. Obwohl die abgeriegelten und geschlossenen Raumordnungen auch auf die historische Nähe der Shoah zurückzuführen sind, lassen die eher abstrakten und verrätselten Anordnungen in »Le Renégat«, La Peste und L’Étranger sowie die kammerspielartige Inszenierung der Gefangenschaft in Huis clos auch auf die fehlende Unmittelbarkeit

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»Ouvrez! Ouvrez-donc! J’accepte tout: les brodequins, les tenailles, le plomb fondu, les pincettes, le garrot, tout ce qui brûle, tout ce qui déchire, je veux suffire pour de bon. Plutôt cent morsures, plutôt le fouet, le vitriol, que cette soufrage de tête, ce fantôme de souffrance, qui frôle, qui caresse et qui ne fait jamais assez mal.« (HC 124) Entgegen der Position Saskia Wiedners scheint es in Huis clos nicht unbedingt um die »Unmöglichkeit der Transzendenz« und das GefangenSein in der »Nicht-Zeit« (2009a, 100, fn 348) zu gehen. Gerade die Form des Kammerspiels zeigt den beengenden und geschlossenen Raum als Produkt der objektivierenden Blicke der anderen, der immer wieder durch den Wunsch getrieben ist, diesem Raum zu entfliehen. Im Moment, da sich die Gelegenheit des Ausbruchs bietet, hat der Protagonist Angst vor der Ungewissheit, die sich hinter der Tür verbirgt und entscheidet sich somit für die andauernde Gefangenschaft. Solange er die Angst vor der Selbstbestimmung aufschiebt, wird er ein Gefangener der ewig gleichen Situation/Unterdrückung sein.

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der Erfahrung der Gefangenschaft schließen82 und damit zugleich Ausdruck der Schuld, überlebt zu haben, sein. Die 1940er und 50er Jahre waren allgemein durch eine individuelle und kollektive Verdrängung der Geschehnisse in den SS-Lagern gekennzeichnet, so dass die bedeutenden autobiographischen Zeugnisse der Lagerhaft erst in den 60er und 70er Jahren ein breiteres Publikum fanden (Dunker 2003, 12).83 Doch auch die Existentialisten und ihnen nahe stehende Literaten rangen während und kurz nach dem Krieg um Anerkennung. Die Vertreter der litterature engagée sahen sich immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, die im starken linkspolitischen Engagement der Schriftsteller aber auch in der intrikaten Verwebung von Literatur und Philosophie begründet war; der Angst der »seriösen« Schriftsteller vor der »Inbesitznahme« der Literatur durch die Philosophie. Gleichzeitig trat eine innere Spannung zutage, in der sich die Skepsis der Kritiker mit einem geschlechtsbezogenen Verzerrungseffekt verband. (Fleury 2009) So kritisierten die Schriftsteller Maurice Nadeau und Claude de Fréminville die »gewollten« Kreaturen und »konstruierten« Figuren in de Beauvoirs Les bouches inutiles. Man warf de Beauvoir vor, die philosophischen Standpunkte der Existentialisten auf die Prosa zu übertragen und dabei zugleich den Konventionen des Dramas nicht gerecht zu werden. (Fleury 2009, 53f.) Auch in der Rezeption konnten sich die männlichen Kritiker nicht von dem Bild Sartres als lenkender Figur im Hintergrund lö-

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1940 war Sartre für acht Monate in Kriegsgefangenschaft. Die Zeit in einem Lager bei Trier erlebte er als Kehrtwende, als positive, geborgene Zeit im Kreise guter Kameraden (Levy 2002, 483). Dies entsprach sicher seiner philosophischen Auffassung von der gefühllosen, gefangenen Gesellschaft, in der man ebenso gut im Gefängnis ausharren konnte bzw. dort noch eher eine echte Kollektivität fand. Gleichzeitig erfuhr er im Lager eine privilegierte Behandlung und wurde wegen seines Augenleidens entlassen. Es ist also mehr als zweifelhaft, dass sich seine Erfahrung mit der Mehrheit der ›gewöhlichen‹ Häftlinge vergleichen lässt. Sartre blieb von der harten Zwangsarbeit verschont – auch dies mag zu einer romantischen Verklärung geführt haben. Dabei erschienen einige der wichtigsten Texte bereits in den 1950er Jahren, so z.B. Jean Cayrols Essay Lazare parmi nous (1950) und sein von Paul Celan ins Deutsche übersetzter Roman L'Espace d'une nuit (1954). Paul Celans Gedicht »Todesfuge« (1952) erschien vier Jahre vor Cayrols Gedicht »Nuit et Brouillard«, das den Text des Filmkommentars zum gleichnamigen Montagefilm von Alain Resnais lieferte (1956). Bereits 1954 erschien die einflussreiche Dokumentation Tragédie de la déportation 1940-1945. Témoignas de survisantes des camps de concentration allemands von Olga Wormser und Henri Michel. Bruno Apitz Roman Nackt unter Wölfen (1958) und Jean Amérys »Die Tortur« (1965) gelten heute als Klassiker der Lager- bzw. Holocaustliteratur.

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sen, was zwangsweise dazu führte, dass de Beauvoir die Kritik traf, die den Existentialisten allgemein und Sartre konkret galt.84 Dabei zeigt das philosophische und literarische Schaffen von Simone de Beauvoir den Menschen als ein sozial geprägtes Wesen, das nur in der bewussten Entscheidung für die Gemeinschaft – das eben auch das Aushalten von Konflikten und Widersprüchen bedeutete – die eigene Freiheit finden konnte. In ihrem einflussreichen Werk Le deuxième sexe (1949, dt. Das andere Geschlecht) macht sie zunächst auf die geschlechtliche Abspaltung aufmerksam, die in den Werken der prominenteren, männlichen Autoren kaum Einlass gefunden hat, und so die These de Beauvoirs bestätigt, dass die Frau gesellschaftlich als das defizitäre Andere des männlichen Subjekts erscheint.85 Die Frau ist gleichermaßen das Unerkannte, denn sie existiert, laut de Beauvoir, als gesellschaftlich konstruierte Identität im Grunde nur als Gegenentwurf zweiter Klasse. Sie problematisiert den Begriff des »Anderen« in Sartres Philosophie, denn dort ist die Frau »das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.« (Beauvoir 1949, 11). Die Frau bleibt aus Sartres philosophischer Konzeption des aktiven, transzendierenden Ichs ausgeschlossen. Sie bleibt im Reich der Immanenz, in Stagnation und Passivität gefangen. Es bedarf des gesellschaftlichen Umdenkens, um jener kulturell und sozial zugeschriebenen Position zu entkommen. Simone de Beauvoirs Werk bildete somit die Brücke einer als unvereinbar wahrgenommenen existentialistischen Ontologie und der ethischen Positionierung des ›freien‹ Subjekts. _______ 84

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Saskia Wiedner sieht das Verhältnis von Engagement und Verantwortung für den Einzelnen in der Gruppe auf geradezu exemplarische Weise in Les bouche inutiles beantwortet (2009a). Eine Stadt im Ausnahmezustand, die in Zeiten der Belagerung von ihren Unterstützern im Stich gelassen wird, soll sich der »Überflüssigen«, der Alten, Kinder und Frauen entledigen, um als Gemeinschaft eine Überlebenschance zu haben. Ausgelöst durch eine Krisensituation, werden der Gemeinschaftssinn und die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen als sich gegenseitig bedingende Punkte innerhalb eines Handlungsfeldes präsentiert. Der Konstellation in Camus’ La Peste nicht unähnlich, wird der Mensch in der Interaktion mit dem Anderen zum moralisch agierenden Subjekt. Vom Anderen in eine moralische Entscheidung gezwungen, die eben eine gegenseitige Anerkennung beinhaltet, tritt die Integrität des Menschen in der Situation hervor oder lässt ihn/sie hinter die Möglichkeit des Menschlichen zurückfallen. Vertreterinnen der Gender Studies haben de Beauvoir vorgeworfen, die Festschreibung binärer Geschlechterkategorien zu perpetuieren. Die Unterscheidung zwischen der biologischen und einer kulturell determinierten Geschlechtsidentität wurde u.a. von Judith Butler in Gender Trouble (1990) hinterfragt. Die Queer Studies orientieren sich nicht zuletzt an Butler’s Begriff der »gender performativity«. Andere Theoretikerinnen, wie Luce Irigaray, haben jenes verborgende Andere (als Gegenentwurf zur männlichen Subjektivität) zum eigentlichen Bedeutungs- und Deutungsträger erklärt und bieten so eine Rekonzeptionalisierung klassicher Weiblichkeit.

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De Beauvoirs intersubjektive fiktionale Welten, Camus’ absurde Literatur und Sartres existentialphilosophische Fiktionen sind gerade wegen ihres hohen Abstraktionsgehalts visionär, denn sie drehen den Spieß um und erklären die Gefangenschaft zum Ausgangspunkt eines ethischen Miteinanders. Wir alle sind Wärter und zugleich Gefangene, die Freiheit des Einzelnen bedingt die Freiheit des Anderen. Jene zentrale Wendung macht ihre fiktionalen und philosophischen Entwürfe bis in die Gegenwart relevant. Sie versuchten, mit ihrem politischen Denken zum Verständnis ihrer Zeit beizutragen und verantwortungsvolles Handeln zu begründen. Besonders Camus’ Texte plädieren für ein zeitloses Maßhalten, das stets das Wohl der einzelnen Menschen im Auge hat und dieses nicht zugunsten utopischer Ziele opfert. 86 Der Verdienst des Autors liegt darin, die Unfreiheit derer aufzudecken, die sich qua Geburtsrecht oder ihrer sozialen Stellung – eines wie auch immer definierten Privilegs – frei wähnen und damit die Unfreiheit des Anderen bezeugen. Es galt nach 1945 die Bestimmung des Menschen neu zu denken, und für Sartre und Camus lag der Zweck des Menschen in seiner NichtBestimmung. Darin schienen sie sich einig. Nur Sartre hat in seiner Hinwendung zum Kommunismus die Radikalität seiner eigenen Existenzialphilosophie negiert, in dem er die Menschen einer abstrakten revolutionären Prophezeiung unterwarf, der bereits in Kafkas »Strafkolonie« eine Absage erteilt wurde. Für den Autor von Mythe de sisyphe und L’Homme révolté dagegen liegt der Mensch in Ketten, weil er eben jene zu verdrängen sucht. Nur indem der Mensch nicht besser sein will, als er ist, nicht im Haus der Geschichte und damit einem prädisponierten Schicksal versteinert, ist er frei. In seinem Essay »Der Terrorismus des Staates und der rationale Terror« bringt Camus die Gesellschaft gefangener Subjekte unter dem Stichwort des »rationalen Terrors«, jener Unterseite der aufklärerischen Fortschrittsideologie, auf den Punkt: Der Dialog, die Beziehungen zwischen zwei Personen, wurde ersetzt durch die Propaganda oder die Polemik, zwei verschiedene Arten des Monolgs. Die Abstraktion, die der Welt der Kräfte und der Berechnung eigen ist, ersetzte die wah-

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Als Algerier kannte Camus die tödlichen Folgen identitärer Festschreibungen und wollte sie aufsprengen. In den fiktiven »Briefen an einen deutschen Freund« (Juli 1943 - Juli 1944), die er als Reaktion auf einen gefallenen Résistance-Kämpfer an einen ehemaligen und nun zum »Feind« gewordenen Deutschen schrieb, stellte Camus zwei Haltungen einander gegenüber, nicht zwei Völker (Deutsche und Juden), sondern den Faschismus und ein freies Europa (1965, 213-243). Camus beschrieb Europa als ein »gemeinsames Abenteuer« (1965, 235) und betonte: »L’Europe sera encore à faire. Elle est toujours à faire.« (1965, 236) Am Ende des letzten Briefes träumt er davon, zusammen mit seinem deutschen Freund in einer ausgewogenen Balance zwischen Opferbereitschaft und dem Geschmack des Glücks, zwischen Geist und Schwert zu leben (1965, 237).

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ren Leidenschaften, die dem Leib und dem Irrationalen zugehören. Die Brotkarte an Stelle des Brots, die Unterwerfung von Freudnschaft und Liebe unter die Doktrin, vom Schicksal unter den Plan, die Umbenennung der Strafe in Norm und der Ersatz der lebendigen Schöpfung durch die Produktion charakterisieren recht gut dieses entfleischte Europa, bevölkert von siegreichen oder geknechteten Phantomen der Macht (Camus 1969, 195, meine Herv.)

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Bei Camus und Sartre bezeichnet das Phantom also weniger eine inferiore Position, sondern ein Merkmal der gesättigten illusionsbehafteten Gesellschaft, die sich, im Falle Camus’, freiwillig den großen Ideologien wie dem Kommunismus, Faschismus und dem Kolonialismus unterwirft, in dessen Namen inhaftiert, foltert und mordet und sich beständig aus der Verantwortung des selbstständigen Denkens flüchtet, anstatt die Sterblichkeit des Menschen und somit die Absurdität des Lebens anzuerkennen. La Peste stellt aus, dass die Menschen sich erst in gesellschaftlichen Krisen ihrer Gefangenschaft bewusst werden und dabei immer wieder aufs Neue lernen müssen, mit ihr umzugehen. Am Ende bleibt der Gegenentwurf zu Nietzsches »letztem Menschen«87, jener »premier homme« des gleichnamigen, posthum veröffentlichten Romans von Camus, ein unvollendetes Projekt. Die Gegenüberstellung von Gefangener und Wärter werden bei Sartre und Camus nicht nur problematisiert, sondern aufgehoben. Alle sind gefangen. Das realgeschichtliche Phantom, das koloniale Subjekt, die Kriegsgefangenen, die Juden, sind in ihren Werken seltsam abwesend bzw. über symbolische Stellvertreter präsent. Sie werden weniger in ihrem Sein problematisiert, als über die allegorischen Darstellungen in ihren Ursachen bekämpft und sind damit dem metaphysischen Phantom-Subjekt (dem unfreien, in Ketten liegenden Menschen) nachgelagert. Anders als Sartre, der die Welt in die »richtigen« und »schlechten Herren« aufteilte, zeigen Camus’ Entwürfe, dass das Einfordern einer abstrakten Freiheit, den Gefangenen erst produzierte. Dennoch haben beide die Unterschiede innerhalb jener »prekären« Formen des Daseins zugunsten einer abstrakten Vorstellung des Menschen und seiner ideologischen Verschaltung marginalisiert. Dabei blieb der grundsätzliche Konflikt erhalten, dass es sich bei _______ 87

In Also Sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1886) stellt Nietzsche den »letzten Menschen« dem »Übermenschen« antithetisch gegenüber. Er beschreibt eine gesättigte, apathische Lebensform; müde und bequem scheut sie Risiken und hat sich im Leben und seinen Sicherheiten eingerichtet. Gleichzeitig sind mit der Existenz des »letzten Menschen« Kriege und soziale Konflikte minimiert. Kreativität und Spontanität sind in der Welt der Wunschlosen unterdrückt. Der »letzte Mensch« bekämpft konstant den Willen zur Macht, den, nach Nietzsche, natürlichen Lebenstrieb. Der »letzte Mensch« ist das Ziel westlicher Zivilisation. Der »Übermensch« revoltiert gegen die Abstumpfung des Menschen, er bezeichnet das außergewöhnliche Individuum, hungrig nach neuen Herausforderungen. Er ist der Mann der Tat, der Träume und Ideale – ein spirituell und evolutionistisch höheres Wesen.

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den Kolonisierten und den Juden nicht um selbstgewählte Ketten handelte, sondern um eine systematische Unterdrückung, hervorgegangen aus den Kolonien, Gefängnissen und Lagern der Welt. Man kann erst frei wählen, wenn die Existenz nicht schon zuvor durch eine Gewalt dominierte und rassistische Gesellschaft und somit eine bereits immanente soziale Gefangenschaft geprägt ist. Der Existenzialismus und seine Literatur mussten zwangsläufig an diesem Widerspruch scheitern. Für manche Menschen stellte sich die Wahl des gesellschaftlichen Ausbruchs und der Selbstverwirklichung nicht, für sie gab es nur die Entscheidung zwischen dem Leben in seiner elementarsten Form und dem Selbstmord. Der Blick auf Semprúns autobiographisch verankerte Romane Le grand voyage (1963) und Quel beau dimanche! (1980) erlaubt eine erweiternde und ausblickende Perspektive auf das Archipel Europa. Semprúns Anordnungen beruhen weniger auf allegorischen Verfahren und der metaphysischen Deutung der Gefangenschaft, sondern greifen auf die Technik der Montage zurück, die der Ordnungswut der Ideologien inhaltlich und stilistisch die Stirn bietet. Seine Texte erinnern daran, den Rassismus und die systematische Ausgrenzung Andersdenkender nicht dem Schweigen oder dem Vergessen anheim fallen zu lassen. In Semprúns Werk ist die Solidarität nicht nur ein flüchtiger Augenblick, sondern bildet das Rückgrat Europas. Das Phantom erscheint in Semprúns Romanen als eine Figur der kollektiven Erfahrung und Verantwortung.

4.2 Stellvertreter des Phantoms Das Werk des spanischen Literaten Jorge Semprún lässt sich schwer verorten und ist gerade deshalb exemplarisch für die Vielstimmigkeit der europäischen Lagererfahrungen. Semprún sprach, las und schrieb in Französisch und Spanisch, hatte die deutschen Philosophen studiert, kämpfte an der Seite der französischen Résistance und im antifaschistischen Widerstand gegen den Franquismus. Sein Werk verweist explizit und implizit auf andere Autoren, wie die russischen Schriftsteller Warlam Schalamow und Alexander Solschenizyn, den Italiener Primo Levi oder den Franzosen Maurice Halbwachs.88 _______ 88

Jorge Semprún hat besonders im frankophonen und deutschsprachigen Raum eine breite Rezeption erfahren. Wichtige Monographien wären Nicoladzé 1997, 2002, Dúran 2005, Céspedes Gallego 2012 und 2015, Küster 1989, Neuhofer 2006, Tidd 2014, Faber 1995, Schoeller 2006, Augstein 2008, Vordermark 2008. Siehe auch die Essaysammlung von Ferrán/ Herrmann 2014. Für einen konzisen Forschungsüberblick vgl. Vordermark 2008, 16-20.

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Als »Literatur ohne festen Wohnsitz« (Ette 2005) vermisst Semprúns Werk die Grenzen Europas über Erinnerungen und philosophische Reflektionen. Dabei liefern seine Texte keine historisch akkurate Beweisführung oder eine universalisierbare Erkenntnis über die psychosozialen Folgen des Holocaust. Vielmehr zollen sie der Singularität der Erfahrungen mit und in der literarischen Ausstellung ihrer Unwiederholbarkeit Respekt. Semprúns »Erinnerungsbücher«89 sind keine »reine« Fiktion oder primär autobiographische Abhandlung (Vordermark 2008, 9-15). Sein Œuvre verweigert sich geradezu einer Gattungsbestimmung: In diesem Sinne sind die Texte als Konstruktionen zu verstehen, die auf der Konzentrationslagererfahrung des Autors basieren, die aber für den Leser die Sache selbst sein müssen. Denn, wie Taterka folgerichtig schreibt, ist das Einzige, wozu der Leser Zugang hat, das jeweilige, ›erzählte Lager‹. (Neuhofer 2004, 79)

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Die literarischen Universen sind nicht an einen konkreten Ort gebunden, sein palimpsestischer, montagehafter Erzählstil verknüpft verschiedene Situationen, Erfahrungen und Orte zu einem Archipel Europa, in dem Buchenwald, das Lager, in dem er von 1943 bis 1944 inhaftiert war, nie gleich blieb, sondern, wie Ulrike Vordermark im Rekurs auf Thomas Taterka betont, jedes Mal ein anderes »erzähltes Lager« repräsentiert (2008, 6). Semprún schafft durch die immer neu angeordneten Versatzstücke ein »TextMobile, in dem der nie enden wollenden Bewegung des Schreibens immer neue und sich wandelnde Textkonfigurationen entsprechen« (Ette 2007, 4). Die Neuordnungen sind Anzeichen und Resonanz einer polyphonen europäischen Erfahrung. Im Rekurs auf Maurice Halbwachs’ Verständnis von Geschichte als kollektiver Gedächtnisleistung,90 die auf unterschiedlichen Erinnerungen basiert, ist der Völkermord nicht als kohärente Geschichte zu sehen, sondern als ein auf irreduzibler Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit aufbauendes historisches Geschehen, das sich erst in der multiperspektivischen Darstellung verstehen lässt. Die Zeugnisse der Überlebenden bieten in dieser Hinsicht nicht nur ein Korrektiv und Supplement zu dominanten Geschichtsnarrativen. Die Erinnerungen der Gefangenen, die zugleich ein individuelles, generationelles und kollektives Gedächtnis bilden, erweitern _______ 89

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Der Begriff »Erinnerungsbücher« geht auf Axel Dunker (2003) zurück, der die Erinnerung als Thema und formale Schlüsselstruktur der Romane betont und damit eher indirekt auf die autobiographischen Züge der Romane verweist. Maurice Halbwachs war, ebenso wie Jorge Semprún und Elie Wiesel, im KZ Buchenwald interniert. Er war ein enger Vertrauter Semprúns, dessen Werk maßgeblich von Halbwachs’ Konzept des »kollektiven Gedächtnisses« beeinflusst war. Der französische Soziologe hatte den Begriff bereits in den 1920er Jahren eingeführt, die elaborierte theoretische Darlegung in La mémoire collective wurde 1950 posthum veröffentlicht. Er starb 1945 an den Folgen der Zwangsarbeit im KZ Buchenwald.

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die Geschichtsschreibungen um drei wichtige Faktoren: »die Dimension der Emotionalität und des individuellen Erlebens«, die »memoriale Funktion von Geschichte als Gedächtnis« und »die Betonung einer ethische Orientierung.« (Assmann 2006, 50) Literarische Texte machen einen Teil des kollektiven Gedächtnisses aus, welches sich, nach Halbwachs, in der Kommunikation und nicht über abstrakte Strukturen konstituiert. In Texten und über Texte werden gemeinsame Erfahrungen ausgetauscht, überliefert und gespeichert. Sie sind Bestandteil des sozialen Imaginären (Lacan 1987) und der »vorgestellten Gemeinschaft« (Anderson 1991), die sich über Bilder, Mythen, und Erzählungen etablieren. Das Gedächtnis, das hier als Eckpfeiler der Gemeinschaftsbildung und -erhaltung fungiert, braucht einen Träger, der gleichwohl dessen Schöpfer sein kann. Die Literatur ist nicht nur Speicher des kollektiven Gedächtnisses, sie bringt es mit hervor. Der Holocaust hat sich, wie Semprún betont, »ins Gedächtnis der Überlebenden und in die reale Geschichte für immer eingebrannt« (1996, 52). Das kulturelle Gedächtnis Europas beruht nicht auf einer gemeinsamen Sprache oder seinen territorialen Grenzen, sondern, wie Ernest Renan für den nationalen Raum deutlich machte, auf gemeinsamen Erfahrungen und Opfern (1996 [1882]). In Semprúns Texten spielt die individuelle und kollektive Erinnerung eine zentrale Rolle, doch der Autor sperrt sich gegen die Vorstellung eines greifbaren Ganzen. Dem Leser/der Leserin begegnet sie vielmehr über Fragmente, die zumindest in der und für die Erzählung als Selbstzeugnis und Weltzeugnis einen Sinn ergeben. Die Fassung des Erlebten in der Sprache, die immer ein Geformtes und somit Wirklichkeit Verformendes darstellt, öffnet einen Raum gebannter Mobilität.91

4.2.1 Le grand voyage: Topologien des Lagers Die Erinnerungsfahrt des Romans Le grand vovage öffnet einen komplexen und vielschichtigen Raum der Erinnerung an den Terror des Nationalsozialismus. Die Figur des »drinnen-draußen« bildet dabei eine Schlüsselstruktur des Romans, über die Fragen von Perspektive, Wahrnehmung, Freiheit und Schuld verhandelt werden. Die Mobilisierungen der zunächst antithetisch anmutenden räumlichen Wendefigur stellen das Verschwindenmachen des Menschen im Faschismus und zugleich die Geburt des Erzählers als intrikat verwobene Struktur dar. Der Autor-Erzähler92 entfaltet dabei _______ 91 92

So ist auch das Schreiben »unmöglich und unerschöpflich zugleich« (Semprún 1996, 58). Der Autor-Erzähler ist die Erzählinstanz, in der sich Semprún als schreibendes Ich installiert bzw. offenbart, um das intradiegetische Geschehen

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eine Figur des Anderen, die Phantom-Existenz seines vergangenen inkarnierten Ichs, das über räumliche Demarkationen und deren Verschiebungen in Erscheinung tritt. Bereits im ersten Satz von Le grand voyage wird das Thema des Lebens93 (nicht gleichbedeutend mit Überleben, wie Semprún vielfach betont) eines Menschen gegenüber der anonymen Masse der Toten und Vergessenen ausgedrückt. Dies geschieht nicht in einer Geste der Überlegenheit, sondern vielmehr als Ausdruck der Individualität und des subjektiven Bewusstseins: »Da ist diese zusammengeferchte Masse von Leibern im Wagen, dieser stechende Schmerz im rechten Knie.« (GV 7)94 Der Satz ist Ausdruck einer lokalen, temporalen und modalen Dimension: einer konkreten Lage- und Zustandsbeschreibung, dessen räumlicher Marker »da« den Ort der Erinnerung, den reflexiven Moment, den das erlebende Ich heraufbeschwört, den konkreten Moment des körperlichen Empfindens, sowie das real-historische Bild des Deportationszuges umfasst. Die beiden Halbsätze stehen gleichberechtigt und bedingen sich gegenseitig, denn nur angesichts der »leblosen eingekeilten Masse von Leibern« (GV 15), den »reglose[n] künftigen Leichen« (GV 8, 10)95 kann sich das dynamische Bewusstsein entfalten. Die Beschreibung der Häftlingsmasse wird im Laufe der Zugfahrt durch tierische Attribute ins Nichtmenschliche gesteigert. Die »Schattenmasse« (GV 62), in der Einzelne über Unterhaltungsfetzen hervortreten, mutiert zu einer Einheit: »der quallige Leib einer Auster« (GV

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zu kommentieren und/oder in philosophischen Einschüben eine gewisse analytische Distanz zum Erlebten in den Vordergrund zu stellen. Zum semprúnschen Lebensbegriff vermerkt Ottmar Ette, er sei »paradox strukturiert. Denn erst in einem langen, schmerzhaften Reflexionsprozeß begreift der Ich-Erzähler von L‘écriture ou la vie, daß der Tod, daß die Todeserfahrung der einzige Besitz sind, von dem aus das Leben sagbar, ja herstellbar ist. Das Schreiben dieses Todes aber - so erkennt er - führt aus der Todeserfahrung nicht zum Leben zurück, sondern zu einem TodSchreiben, zu einem death-writing, in welches das life-writing eines Augenzeugen, der allein vom Erlebten berichtet, notwendig zurückfällt. Daraus erklärt sich die vehemente Forderung nach einer Literatur, die in grundlegender Weise ›über die Zeugnis- oder Erinnerungsliteratur hinausgeht‹. [...] Die lebensbedrohende Alternative des Titels ›Schreiben oder Leben‹ läßt sich nicht – wie der Ich-Erzähler erkennen muß – mit den simplen Mitteln des Augenzeugenberichts außer Kraft setzen.« (2007, 2) »Il y a cet entassement des corps dans le wagon, cette lancinante douleur dans le genou droit.« (GV 11) »[…] toute la masse inerte des corps entassés« (19); »cadavres immobiles« (GV 12).

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64),96 das »schleimige Murmeln unserer einhundertneunzehn namenlosen Münder« (GV 208).97 Der dramatische Gegensatz zwischen dem subjektiven Erzählen und der Darstellung der Masse wird wiederholt eingesetzt. 98 Erst im zweiten Teil des Romans, nachdem der Zug in Buchenwald angekommen ist und Gérards Leben im Lager beginnt, wechselt die Erzählperspektive. Die autodiegetische Situation, in der Gerard seine Geschichte erzählt, geht in einen heterodiegetischen Modus über. Die interne Fokalisierung zu Beginn des zweiten Teils wird gegen Ende des Romans von einer Nullfokalisierung abgelöst, in der der Erzähler den Eintritt in das Lager als Beginn einer bis dato unvorstellbaren Erfahrungswelt für die Figur Gérard antizipiert: Bald schon, wenn sie ein paar hundert Meter zurückgelegt haben werden, die sie [Gérard und der neben ihm laufende Kamerad] noch von dem monumentalen Tor der Geheges trennen, wird es sinnlos sein, von irgend etwas zu sagen, es sei unvorstellbar, aber im Augenblick stecken sie noch in ihren Vorurteilen und Begriffen von früher, die es unmöglich machen, sich vorzustellen, was nachher bitterste Wirklichkeit sein wird. (GV 238)99

Im Moment der Ankunft in Buchenwald wird Gérard zum Phantom des vitalen Ich-Erzählers, der sich gleichwohl erst im Abstand von 16 Jahren (dem Zeitpunkt des Niederschreibens der Erfahrung) wieder als Ich etabliert hat. Diese narrative Volte lässt verschiedene Schlüsse zu: Zum einen mag der Perspektivwechsel der Unvorstellbarkeit des Erlebten geschuldet sein, die Distanz zur Figur wird somit zu einer Form der Traumabewältigung.100 Zum anderen wird mit dem Eintritt in das Lager der Übergang in den sozialen Tod und somit die Auslöschung des Ichs dargestellt. Davon zeugt der letzte Satz des Romans, in dem Gérard bewusst wird, dass es nun »gilt […] aus der Welt der Lebenden zu scheiden« (GV 238)101, denn mit _______ 96 97 98

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»La masse des corps oscille« (GV 70); »[…] comme l’organisme réctractile d’une huîrte« (76). »[…] le magma gangeueux que nous formions, par ces cente dix-neuf bouches anonymes« (GV 241). Ganz ähnlich geht die Metamorphose der Gefangenen in H.G. Adlers Eine Reise (1962) vonstatten, die Menschen werden dort auch mit Tieren oder leblosen Gegenstände gleichgesetzt. »Bienttôt, quand ils auront franchi ces quelque centaines de mètres qui les séparent encore de la porte monumentale de cet enclos, ça n’aura plus de sens de dire de quelque chose, n’importe quoi, que c’est inimaginable, mais pour l’instant ils sont encore empêtrés dans les préjugés, les réalités d’autrefois, qui rendent impossible l’imagination de ce qui, tout compte fait, vas se révelér parfaitement réel.« (GV 278) Die traumatische Aufarbeitung der KZ-Erfahrungen und dem Schreiben als vitaler Metapher des Lebens und des Sterbens ist vielfach besprochen worden. Diesbezüglich tauchen immer wieder Fragen der Zeugenschaft und der Vermittlung des Erlebten über die Position des Überlebenden auf (vgl. u.a. Küster 1989, Schoeller 2001, Faber 1995, Vordermark 2008). »[…] quitter le monde des vivants« (GV 279).

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dem Eintritt in das Lager ist seine Stellung außerhalb der Zivilgesellschaft markiert. Ursula Tidd hat jene »Spaltungen« des Selbst als Ausdruck des inneren Anderen gefasst: In Semprúns representation of Buchenwald, the other assumes various forms. The self exists as other to himself, insofar as Semprún the writer has to engage with a past other self whom he no longer is – the self who died in Buchenwald. This past self, evoked intratextually, is in relationship to the extratextual self as post-Buchenwald survivor who carries the memorial responsibility to bear witness. (2014, 117)

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Die im ersten Teil des Romans retrospektiv erzählende widerständige Stimme steht im scharfen Kontrast zum KZ-Häftling als unterdrückter Identität des Erzählers und lässt die emotionale Spannung zwischen diesen beiden Polen umso stärker hervortreten. In diesem Sinne unterscheidet sich der letzte Teil auch vom Haupterzählstrang, der Zugfahrt, die im Präsens wiedergegeben wird und zugleich durch ana- und proleptische Einschübe gekennzeichnet ist. Die intratextuellen Bewegungen des Romans, das Oszillieren zwischen dem erzählenden Subjekt und dem Erzählten, dem erzählten und erlebenden Ich, lassen sich auf jenes widersprüchliche Kraftfeld zurückführen. Im Roman Quel beau dimanche!, auf den ich hier kurz vorgreifen möchte, erklärt der Autor-Erzähler Semprún die Figur Gérards zum poetischen und ontologischen Programm, denn Gérard sei »ein falscher Name, der mehr Wahrheit verbirgt als andere« (QBD 92)102. Immer wieder tritt der Autor Semprún hervor, um sich der Kontrolle über seine eigene Erzählung zu vergewissern und merkt an: »Es ist so, als hätte ich aufgehört, ich zu sein, um die Figur einer Erzählung über mich zu werden. Als hätte ich aufgehört, das Ich dieser Erzählung zu sein, um ein bloßes Spiel, ein Ersatz, ein Er zu werden. Aber welches?” (QBD 95)103 Die Frage evoziert den Zweifel über das Verschwinden des Autor-Erzählers und legt zugleich die strategische Täuschung des Lesers als poetisches Prinzip offen. 104 An anderer Stelle, als es um das Erleben des Lagers geht, resümiert er gar: Ich sage nicht alles, was ich denke. Ich sage nicht, daß es ein anderer sein könnte, der tot ist. [...] Vielleicht bin ich in Buchenwald nur ein zwanzigjähriger Toter,

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»[...] un faux nom qui cache plus de vérité que d’autres« (QBD 93). » C’est comme si je cessais d’être moi, d’être Je, pour devenir le perssonage d’un récit qu’on ferait à propos de moi. Comme si je cessais d’être le Je de ce récit pour en devenir un simple Jeu, ou Enjeu, un Il. Mais lequel?« (QBD 96) Hier lassen sich durchaus Parallelen zu Stendhal ziehen. Dessen Lust an der Maskerade und selbst-reflexiven, zur Selbstparodie neigenden Erzählern, lassen sich zu einem gewissen Grad auch bei Semprún finden. Stendhal zählt neben Malraux, Gide, Baudelaire und Valéry zu Semprúns Favoriten der französischen Literatur.

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den man Gérard nannte und der auf dem Ettersberg in Rauch aufgegangen ist. Aber so etwas läßt sich nicht leicht sagen. (QBD 96)105

Die Phantomhaftigkeit des jungen »Gérard«106 wird noch einmal in Quel beau dimanche in der Begegnung mit August, einem alten kommunistischen Kameraden, der nach dem Krieg in der SED im Verwaltungsapparat untergekommen ist, deutlich. Verzweifelt versucht der Erzähler die gemeinsamen Erfahrungen im Gegenüber wach zu rufen und muss erkennen: Du warst nur eine Idee, dir gelang es nicht, dich zu verkörpern [...]. Das Phantom deiner zwanzig Jahre [das Alter des Häftlings in Buchenwald] tauchte bestimmt nicht im Gedächtnis von August auf, und die Abwesenheit dieses Phantoms machte dich selbst leichter, phantomhafter. (QBD 196f.)107

Der Erzähler versucht jenes Phantom als Identität der Lagerwelt sichtbar zu machen, doch sein »Bild ist im dunkeln geblieben« (QBD 198). Zugleich schreibt er kämpferisch gegen den Umstand an, ein Phantom zu sein bzw. ein Phantom gewesen zu sein. Hier lässt sich Giorgio Agambens These von der Möglichkeit der Zeugenschaft anführen, in der der »Übergang von der Sprache zur Rede [...] ein paradoxer, Subjektivierung und Entsubjektivierung zugleich einschließender Akt« ist (2003, 101). Um zu verstehen, was im Lager geschah, umkreisen die verschiedenen Erzählinstanzen in Le grand voyage den Ort, versuchen sich ihm sprachlich und im Textraum zu nähern, ihn in der Wiederholung zu fassen. Doch auch nach der Befreiung, bei einem Besuch in Buchenwald, muss sich der Ich-Erzähler eingestehen: »Nie hatte ich ihn [den Appellplatz] leer gesehen, ja, ich hatte ihn überhaupt nie richtig gesehen. Man spricht so vom ›Sehen‹, aber eigentlich gesehen hatte ich ihn nie.« (GV 71)108 Er sieht das Lager zum ersten Mal von außen und es scheint, als hätte dieser nichts mit dem »Schauplatz« (ibid.), dem Vorführungsort nationalsozialitischer Ideologie _______ 105

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»Je ne dis pas tout ce que je pense. Je ne dis pas que ce quelqu’un d’autre pourrait être quelqu’un qui serait mort. [...] Peut-être ne suis-je que le rêve qu’aurrait fait, à Buchenwald, un jeune mort de vingt ans, qu’on appelait Gérard et qui est parti en fumée sur la colline de l’Ettersberg.« (QBD 97) Wilfried F. Schoeller hat in Hinblick auf Semprúns Roman Le mort qu’il faut (2001) auf eine weitere Dimension der Chiffre Gérard aufmerksam gemacht. Der Name könnte tatsächlich zu einem Toten gehören, denn »[d]ie Rettung von Häftlingen durch den Namenstausch mit Sterbenden gehört zu den Topoi der Buchenwald-Literatur« (202). »Tu n’étais plus qu’une idée, tu n’arrivais pas à prendre corps. [...] Mais le fantôme de tes vingt ans ne surgissait décidement pas dans la mémoire d’August et l’absence de ce fantôme te rendait toi-même léger, fantomatique.« (QBD 196) »Je ne l’avais jamais encore vue vide, il faut dire, je ne l’avais même jamais vue réelment. Ce qu’on apelle voir, je ne l’avais pas encore vue vraiment.« (QBD 83)

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und Ort subjektiver Erfahrung, seines vorherigen Lebens gemein. Das Lager ist vielmehr ein Ort, der erst in der Bewegung, durch die Handlungen seiner Akteure, die Interaktion der Menschen im Lager und die Inszenierungen der SS als Raum entsteht und sich als solcher verstehen lässt. Im Zug stellen er und der Junge aus Semur, ein achtzehnjähriger Untergrundkämpfer, der während der Fahrt als sein Gesprächspartner fungiert und mit Gérard einen sokratisch anmutenden Dialog über das Leben selbst führt, sich immer wieder die Frage, wie das Lager wohl aussehen mag. Die Antwort bleibt der Roman schuldig, denn der Kern jener Erfahrung bleibt schwer fassbar. Der Erzähler spart ihn aus, lässt den Leser vielmehr an der Reise selbst, den verschiedenen Lebensstationen vor und nach der Deportation nach Buchenwald teilhaben und dabei immer mehr die seltsame Leere im Zentrum des Romans erahnen. Die Unbestimmtheit des Ortes lässt sich so mit dem Konzentrationslager als »Topos der Unverstehbarkeit« in Beziehung setzen (Sofksy 2008, 18). Nach Jean Cayrol infiltrierte das concentrationnat das tägliche Leben, es gab kein außerhalb der Lager, das Leben im Konzentrationslager war eine totale Erfahrung, die sich schwer übersetzen ließ für jene, die sie nie erlebt hatten. Das Lager bleibt für die Gefangenen ein Trauma, für die Nachwelt unbegreifbar – nicht zuletzt durch seine enigmatische Präsenz. Die Formel des »drinnen – draußen«, wird weiter verkompliziert, denn sie lässt sich in Semprúns Werk nicht mit »gefangen – frei«, weder im physischen noch moralischen Sinne, übersetzen. So scheinen die Sonntage im Lager, an denen der Erzähler die Spaziergänger des nahe liegenden Dorfes durch den Zaun betrachtet, Gérard auf besonders schmerzvolle Weise seine Eingesperrtheit, primär als Ausdruck körperlichen Schmerzes, vor Augen zu führen. Er sehnt sich nach der »äußeren Welt«. Im Heimkehrerlager von Longuyon beschreibt er die traurige Wirklichkeit innerhalb des Zauns: »Früher, im langsamen, eintönigen Rhythmus der Jahreszeiten, war die Landschaft unbeweglich gewesen. Das heißt, wir selber waren unbeweglich gewesen in einer Landschaft, die nur Kulisse war.« (GV 116-117)109 Nach der Befreiung realisiert er, dass auch jenes »Draußen-Sein« eine Illusion war. Zwar kann sich der Erzähler frei bewegen, doch sein Geist bleibt noch lange an die Orte der Gefangenschaft gebunden. Auch das Überleben bleibt in der Permanenz des Ausnahmezustandes gefangen, der Häftling der Lager bleibt allein, mag er auch physisch jenen Ort verlassen

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»Je regarde les arbres. Le paysage a cessé d’être immobile. [...] Avant, sous le rythme lent et immuable des saisons, le paysage était immobile. C’est-à-dire, nous étions immobiles dans un paysage qui n’était qu’un décor.« (GV 136)

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haben. 110 Zudem scheint auch die soziale Gemeinschaft nach der Lagerhaft keine Erlösung zu bieten: »Nun sehen wir, daß auch das nicht das Leben draußen ist, daß es nur eine andere Art ist, drinnen zu sein, inmitten derselben Welt grausamer, unerbitterlicher Unterdrückung zu sein, deren Ausdruck das Lager war.« (GV 124)111 Er sieht das Dorf, jenen Sehnsuchtsort jenseits des Zauns, nunmehr als »andere, gleichermaßen innere Seite jener Gesellschaftsordnung, die die deutschen Lager hervorgebracht hatte« (GV 165)112. Die klimaktische Reihung des folgenden Zitats verdichtet die gesellschaftliche Dimension der Gefangenschaft und impliziert zugleich eine Absage an den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit: »Ich stand am Eingang des Lagers und betrachtete die breite, asphaltierte Straße, die zum SS-Viertel, zu den Fabriken, zur Straße nach Weimar führte.« (GV 165)113 Gleichwohl lässt sich die Verantwortung für die Gräuel nicht an nationalen Grenzen festmachen. Vielmehr wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die Gewalt gegen andere nicht mit dem NS-Lager zu Ende erzählt ist. Der Faschismus war keine spezifisch deutsche Angelegenheit, dessen war sich der gegen Franco im Widerstand kämpfende Semprún bewusst.114 Auf der Fahrt vom Sammellager Compiègne nach Buchenwald unterhält sich der Ich-Erzähler Gérard mit dem Jungen aus Semur, einer weiteren erfun_______ 110

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Nach der Befreiung geht Gérard in das Dorf und betritt ein Haus, dessen Wohnzimmerfenster den Schornstein des Krematoriums rahmt. Er will verstehen, wie man dort sitzen und zuschauen konnte: »Nichts als hinausblicken. Das Gehege von außen sehen, in dem wir jahrelang im Kreise gelaufen sind. Sonst nichts. Wie könnte sie auch verstehen? Man muß ja selbst drin gewesen sein, um diesen körperlichen Drang zu verstehen, von außen zu sehen.« (GV 156); »Regarder, je ne cherche rien d’autre. Regarder du dehors cet enlos où nous tournions en rond, des anées durant. Rien d’autre. Si je lui disais que c’est drait pas. Comment pourrait-elle comprendre? Il faut avoir été dedans, pour comprendre.« (GV 181) »Et puis, voilà, ce n’etait pas la vie au-dehors, ce n’etait qu’une autre façon d’être dedans, d’être à l’interiéur de ce même monde de l’oppression systématique, conséquente jusqu’au bout, don't le camp était l’expression.« (GV 144) »[...] une autre face, mais une face interieur également à la société qui avait donné naissance aux camps allemande« (GV 191). »J’étais devant l’entrée du camp, je regardais la grande avenue apshaltée qui conduisait vers le quartier S.S., vers les usines, vers la route de Weimar.« (GV 191) Klaus Schönhoven erklärt: »Die Topographie des Terrors in Europa reichte von Gurs in Südfrankreich, wohin bereits im Herbst 1940 die Mannheimer Juden deportiert worden waren, über Dachau, Buchenwald, BergenBelsen und Sachsenhausen in Deutschland sowie Mauthausen in Österreich bis nach Auschwitz in der Nähe von Krakau, Sobibor an der Grenze zur Ukraine und Kaunas in Litauen. In Hunderten von größeren und kleineren Lagern, zu denen noch zahlreiche Außenkommandos gehörten, waren Häftlinge aus fast allen europäischen Ländern eingepfercht.« (Schönhoven 2007, 16).

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denen Figur des Selbst und verkompliziert dabei die Frage der Komplizenschaft, denn der Junge behauptet: »›Aber in Semur gibt es kein Lager‹« (GV 18). Daraufhin erklärt ihm Gérard: ›Es gibt Lager in Frankreich‹, erkläre ich ihm, ›auch in Semur hätte es eins geben können‹. [...] ›Compiègne war ein französisches Lager in Frankreich, ehe es ein deutsches Lager in Frankreich wurde. Aber es gibt andere, die nie was anderes als französische Lager in Frankreich waren.‹ Ich nenne ihm Argelès, Saint-Cyprien, Gurs, Châteaubriant. (GV 18-19)115

Hier kündigt sich eine Form der Verhandlung an, die den Opfer-Täter Diskurs von der Gefangenen – Wärter Opposition dissoziiert. Der Erzähler berichtet von verschiedenen Gefängnisse und unterschiedlichen WärterFiguren, von der Gestapo und den Vichy-Polizisten bis hin zur SS.116 In Le grand voyage beschreibt der Ich-Erzähler eine Szene ausführlicher, die eben nicht, wie zu Erwarten, von Gewalt zwischen den beiden Positionen geprägt ist, sondern den Akzent auf die sprachlich-ideologische Fehlkommunikation setzt. In gewissem Sinne enttäuscht die Erzählung hier mehrfach die Erwartungshaltung an das Genre, das die Beschreibung der durch den Terror geprägten sozialen Beziehungen von Gefangenen und Wärtern sowie unter den Gefangenen in den Mittelpunkt stellt. So argumentiert Ulrike Vordermark: Auch Semprun erzählt von Hunger und Kälte, von schwerer körperlicher Arbeit und Krankheit, von Gewalttätigkeit und Morden durch die SS und vom nahezu gänzlichen Verlust einer Intimsphäre im Lager. Viel stärker geht es um die Folgen für sein gesamtes späteres Leben: um die eigenen Gedächtnisprozesse, um die Sagbarkeit der Erfahrung und um Reflexion und Deutung der Ereignisse. (2008, 5)

Der vorgestellte Dialog setzt auf die Dynamik der Erinnerung und auf die Begegnung zwischen Fremden. Während seiner Zeit als Insasse eines Gefängnisses in Auxerre, unterhält der Ich-Erzähler zu einem der Wärter

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»Mais il n’y a pas de camp à Semur.« (GV 23); »›Il y a des camps en France‹ [...] ›il y a aurait pu en avoir à Semur‹ [...] ›Il y a Compiègne, qui a été un camp allemand en France. Mais il y en a d’autres, qui n’ont jamais été que des camps français en France‹. Je luis parle d’Argelès, SaintCyprien, Gurs, Châteaubriand.« (GV 23) Die Wärter- und Gefangenenfiguren orientieren sich in Le grand voyage vor allem am faschistischen Lagersystem. In Quel beau dimanche! erweitert sich das Archipel Europa auf die stalinistischen Lager. Im Theaterstück GURS, une tragédie europeénne (2004) wird dann das Lager selbst als hybrider Raum des produktiven Zusammenlebens, »zwischen den Kulturen, zwischen den Muttersprachen und zwischen den Vaterländern« (Ette 2007, 13). Das Stück kommt der erzwungenen multitkulturellen Realität der Lager sehr nahe. Allein in Buchenwald waren zwischen 1937 und 1945 Menschen aus 50 verschiedenen Nationen eingesperrt. Die Gefangenen in Gurs kamen aus Frankreich, den Niederlanden, Spanien und Deutschland.

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Kontakt. Jener deutsche Soldat aus Hamburg will verstehen, warum der Erzähler im Gefängnis sitzt. Doch die Frage, so der Erzähler, ist nicht so sehr »warum sind Sie verhaftet?«, sondern, an den Soldaten gewandt, »warum sind sie hier?« (GV 54). Im folgenden Gespräch werden heroische und patriotische Begründungsmuster für die Teilnahme am Krieg außer Kraft gesetzt. Der Soldat ist überrascht, dass Gérard für Frankreich in der Résistance kämpfte, obwohl er Spanier, also ein Freund der Deutschen, ist. Dieser erwidert, dass er für eine Idee jenseits nationaler Grenzen kämpft: die Freiheit. Der Soldat wiederum bestreitet vehement, etwas mit der Gestapo zu tun zu haben, er sei nur ein einfacher Soldat. Doch der Erzähler lässt dies nicht gelten und erklärt, dass er sich, wie alle anderen, die im Dienst der Ideologie stehen, zum Komplizen des faschistischen Terrors macht (GV 53). Und doch waltet bei Semprún kein abstraktes Böses. Die Entscheidung des Soldaten geht über die individuelle Verfehlung hinaus. Er agiert, weil der soziale Druck es vorgibt: »Er hat den Stein gegen uns geworfen, weil die entmenschte und irregeführte Gesellschaft, in der er aufwächst, den Stein gegen uns werfen mußte.« (GV 46)117 Weiterhin macht der Erzähler den Unterschied zwischen den Gefangenen und denen, die in Freiheit leben deutlich: Denn das für die Geschichte Wesentliche, das uns allen Gemeinsame, die wir in diesem Jahre 1943 verhaftet werden, ist die Freiheit. Soweit wir an dieser Freiheit teilhaben, sind wir einander alle gleich und ebenbürtig, wir, die sonst oft so ungleich sind. Soweit wir an ihr teilhaben, setzen wir uns der Verhaftung aus. Sie ist deshalb auch der Punkt, bei dem das Fragen einsetzen muß, nicht unser Verhaftetsein und unsere Gefangenschaft. (GV 45)118

In der Aussage liegt eine Umkehrung von Gefangenschaft und Freiheit. Der Erzähler hat die Freiheit gewählt, denn er nahm das Risiko der Gefangenschaft in Kauf und entschloss sich aus freien Stücken, für eben jene zu kämpfen. Die Freiheit ist demnach die Konsequenz einer persönlichen und damit auch immer politischen Entscheidung. In den Ausführungen zur Gefangenschaft lässt sich ein existentialistisches Echo vernehmen, nach der die Freiheit des Menschen an die Tat gebunden war: »Ich bin gefangen, weil ich ein freier Mensch bin, weil ich mich gezwungen sah, meine Freiheit zu leben, weil ich diesem Zwang auf mich genommen habe.« (GV _______ 117 118

»Il nous jette la pierre, parce qu’il fallait que cette société aliénée et mystifiée dans laquelle il grandit, nous jette la pierre.« (GV 55) »Parce que l’essence historique commune à nous tous qui nous faisons arrêter en cette année 43, c’est la liberté. C’est dans la mesure où nous participons de cette liberté que nous nous ressemblons, que nous nous identifions, nous qui pouvons être si dissembles. C’est dans la mesure nous faisons arrêter. C’est donc notre liberté qu’il faut interroger, et non pas état d’arrestation, notre conditions de prisonniers.« (GV 53f.)

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46)119 Ebenso ließe sich die Frage danach beantworten, warum der Soldat »da« ist: »Er ist hier, weil er nirgend sonst ist, weil er nicht die Notwendigkeit empfunden hat, anderswo zu sein. Weil er nicht frei ist.« (GV 46)120 Semprúns Erzähler betonen stetig, dass es nicht darum gehen kann, eine Nation zu verdammen, sondern das, was sie verkörpert und das was sie »tut«. Tanya Lousie Lieske schreibt in ihrer Aufzeichnung aus einem Interview mit Semprún: In Sempruns Büchern ist der Feind ein Individuum: Schreiende und prügelnde SS-Männer; die Lagerkommandantin Ilse Koch [sic], die aus der tätowierten Haut ihrer Liebhaber Lampenschirme fertigt. (Lieske 1995)

Das »Böse«, so Semprún in L’Ectriture ou la vie ist »einer der möglichen Entwürfe der Freiheit, die zum Menschen gehört« (zit. n. Lieske 1995). Ähnlich wie Camus verabscheute er das Gefühl des Hasses, dessen destruktives Potential die Gewalt der Lager mitbestimmt hat (ibid.). Sein Verständnis von Freiheit verträgt sich nicht mit dem Begriff der Kollektivschuld. Vielmehr fordern seine Texte eine kollektive Verantwortung, die danach fragt, was den Nationalsozialismus möglich gemacht hat.

4.2.2 Quel beau dimanche! – Phantome des Anderen Quel beau dimanche! ist in vielerlei Hinsicht die Fortschreibung oder Neuschreibung einer Geschichte, die nicht, nie, zu Ende erzählt werden kann. Im Gegensatz zum Roman Le grand voyage, der sich intensiver mit den sozialen und politischen Verstrickungen vor der Ankunft im Lager beschäftigt, gewährt Quel beau dimanche! einen tieferen Einblick in das Lageruniversum, versucht es stärker philosophisch zu fassen, vor allem in seiner ideologischen Nähe zum Gulag. Semprún bringt nunmehr das deutsche und französische »univers concentrationnaire« (Rousset 1946)121 und den

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»Je suis emprisonné parce que je suis un homme libre, parce que je me suis vu dans la nécessité d’exercer ma liberté, que j’ai assumé cette nécessité.« (GV 54) «Il est ici parce qu’il n’est pas ailleurs, parce qu’il n’a pas senti la nécessité d’être ailleurs. Parce qu’il n’est pas libre.« (Ibid.) David Roussets Abhandlung über die Konzentrationslager des NS-Regims L’univers concentrationnaire (1946) beschreibt das Lager als totale Welt, als spezielles Fatum. Rousset war Aktivist im antikolonialistischen Kampf in Algerien und Marokko und gründete zusammen mit Jean-Paul Sartre die antitotalitaristische Linkspartei Rassemblement démocratique révolutionnaire (RDR). Er war einer der wenigen, die bereits sehr früh die Globalität der Gefangenschaft im 20. Jahrhundert ausstellten und auf die Ähnlichkeiten zwischen den stalinistischen und faschistischen Lagern hinwiesen. Die von ihm gegründete Commission internationale contre le régime concentrationnaire (CICRC) stellte Untersuchungen zu den Konzentrationslagern in Europa und der Sowjetunion an. Darüber hinaus verfasste er

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sowjetischen »Archipel GULAG« (Solschenizyn 1973) zusammen. Dabei hinterfragt der Erzähler auch seine eigene Rolle als Komplize der Denkart, die die sowjetischen Lager hervorgebracht hat.122 Quel beau dimanche! besticht durch die Erkenntnis einer gemeinsamen Erfahrung, die im Roman als »Doppelgedächtnis« bezeichnet wird: Jahre später las ich Kolyma – Insel im Archipel von Warlam Schalamow, und plötzlich kehrte mein Blut in seiner Bahn um. Ich hatte den Eindruck, daß mein Blut zurückgeflossen wäre, daß ich wie ein Phantom in dem Gedächtnis eines anderen schwämme. Oder daß Schalamow wie ein Phantom in meinem Gedächtnis schwämme. Jedenfalls war es dasselbe Doppelgedächtnis. (QBD 118)123

Der Erzähler vergleicht sich mit einem Phantom, das im Gedächtnis Schalamows schwimmt, so wie Schalamow als Phantom von ihm Besitz ergreift. Das Bewusstsein zweier ehemaliger Lagerinsassen, die das Elend erlebt, gehört und gesehen haben, die recht- und stimmlos waren, kreuzt sich im literarischen Raum. Das »Doppelgedächtnis«, in dem sich die Erinnerungen Semprúns, Schalamows und die vieler anderer beständig verbinden, bezeugt, wie es in L’Écriture ou la vie (1994) heißt, den »horreur collective« (EV 317). Der Satz »und ich las Kolyma – Insel im Archipel« taucht sieben Mal im Roman auf und dient nicht zuletzt als strukturierendes Element, das die teilweise mäandernden, assoziativen Erzählstränge immer wieder zusammenführt. Doch zugleich wird in der Wiederholung des Satzes ein persönliches Trauma sichtbar, die Erschütterung eines politischen Glaubens. Semprún erkennt in den Beschreibungen der sibirischen Lager die Härte und Grausamkeit dessen, was ihm und anderen in den Lagern Europas widerfahren ist. Der Erzähler sieht in den Schilderungen Schalamows sein erlebtes Lager neu entstehen. In London liest er Schalamow und erinnert sich an eine Ankunft am Pariser Gare de Lyon im Jahr 1963. Es ist der gleiche Bahnhof, vom dem aus die Deportationszüge nach Gurs abfuhren. Die Schneeflocken in Schalamows Erzählung, die den Schneeflocken vor dem _______

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ein Weißbuch zum chinesischen Laogai (Livre blanc sur le travail forcé dans la République populaire de Chine, 1957-58). Das Jahr 1963 markierte einen Wendepunkt in Semprúns literarischem und politischen Wirken. Er las Alexander Solschenizyns Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch und erkannte nicht nur die Ähnlichkeit der Lagersysteme in Europa und Russland, sondern musste im Zuge dessen auch seine bisherige politische Einstellung überdenken (Vordermark 2008, 31). »Des années plus tard, je lisais les Récits de Kolyma, de Varlam Chalamov, et tout à coup mon sang n’a fait qu’on tour. J’avais l’impression que mon sang avait reflué, que je flottais comme un fantôme dans la la mémoire de quelqu’un d’autre. Ou alors c’était Chalamov qui flottait dans ma mémoire à moi comme un fantôme. C’était la même mémoire, en tout cas, dédoublée.« (QBD 119)

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Lichtkegel eines Scheinwerfers ähneln, lassen ihn wiederum an eine Passage aus Solschenizyns Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch denken: »Ich erinnerte mich an einen Ort an dem ich nie gewesen war. Ich hatte, an der Gare de Lyon, den Schneeflockenwirbel gesehen, und ich erinnerte mich an ein Lager, in dem ich nie eingesperrt war.« (QBD 137)124 Unterschiedliche Momente und Orte werden über assoziative Gedankenstränge zusammengezogen und in eine Landkarte der Erinnerungen, in dem das Gelesene, Imaginierte und das Erlebte ein Bewusstsein bilden, übertragen.125 An anderer Stelle gedenkt der Ich-Erzähler dem russischen Mithäftling Pjotr, der im Roman zum »exemplarische[n] Schicksal« (QBD 132) eines unbekannten, vergessenen zek und für den »lange[n] Marsch durch Europa, die Nacht Europas, die Gebirge und Wälder Europas« wird (ibid.)126. Pjotr, der aus Buchenwald fliehen konnte, stellt sich Gérard als SisyphosFigur vor, der in die Heimat zurückkehrt, um im Gulag umzukommen. Die Texte weisen so über die authentische, an Ort und Zeit gebundene Erfahrung hinaus, sie »oszillieren [..] auf eine höchst kunstvolle Weise zwischen der diktionalen Darstellung gelebter Erfahrung und dem fiktionalen Entwurf eines Erlebens, das weit über das Gelebte, das Erlittene hinausreicht« (Ette 2007, 5).127 Quel beau dimanche! zeichnet sich durch die Notwendigkeit eines In-Beziehung-Setzens der Erfahrungen aus. 128 Jedoch räumt der Autor Semprún später im Gespräch mit Elie Wiesel ein, dass, auch wenn der Gulag mehr Tote gefordert hatte, die Erfahrungen in den Arbeitslagern nicht mit Auschwitz gleichgesetzt werden können (1996). _______ 124

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»Je me souvenais d’un endroit où je n’avais jamais été. J’avais vu tourbillonner la neige légère, gare de Lyon, et je me souvenais d’un camp où je n’avais jamais enfermé.« (QBD 137) In L’Écriture ou la vie kehrt Semprún nach Weimar-Buchenwald zurück. Er geht durch den Wald hinauf zum Ettersberg und vor seinem inneren Auge verbinden sich erneut die Opfer des stalinistischen Gulags und des deutschen Lagers: »La forêt revenue ne revouvrait pas seulement l’ancien camp de quarantaine: elle recouvrait et cachait les cadavres de ces milliers de morts, ces milliers de victimes du stalinisme.« (QBD 315) »un destin exemplaire [...] de la longue marche [...] à travers l’europe, la nuit de l’Europe, les montagnes et les fôrets de l’Europe« (QBD 132). Semprún arbeitet mit den narrativen Strategien, die er bereits in Le grand voyage erprobt hat und nun noch einmal programmatisch zusammenfasst: »Die Gedanken, die Empfindungen, die Urteile überlagern sich in einer von meinen jetzigen Meinungen chronologisch rekonstruierten Schicht.« (QBD 66) Die Haltung der beiden schied sich auch an der (Un-)Möglichkeit, nach Auschwitz zu schreiben. Für Elie Wiesel war der Roman nach Auschwitz tot (1977), für Semprún war das fiktionalisierte Schreiben eine Überlebensform. Ob als Entsagung oder als Bejahung des Lebens, die »Sprache enthält alles« (EV 23).

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Innerhalb des fiktionalen Entwurfs des Erlebens verlängert Semprún den Erfahrungsraum des Lagers, indem er ihn mit exemplarischen Figuren bevölkert. Wir erfahren mehr über die Geschichte des Häftlings 44904, den man in Le grand voyage als Gérard oder Sanchez kennenlernt und dem wir nun als »Bein des stolpernden und gehetzten großen Insekts” (QBD 27)129, jener tierischen Masse von Häftlingsleibern, erneut begegnen. Zugleich ist Quel beau dimanche! als Erweiterung der Phantom Zone zu verstehen, denn der Erzähler sinniert nicht nur über die phantomhaften Subjekte der Lagerwelt, sondern betrachtet auch jene, die das Lager ›überlebt‹ haben und doch Phantome geblieben sind. Er grenzt sich bewusst von der jüdischen Frau von der Rue de Vaugirard ab, die »tot, in ihre Einsamkeit eingemauert« bleibt (GV 98)130, vom Blockführer Emil, der einen Gefangenen, ohne dessen Wissen, zum Frontdienst abstellt, aber auch von Sigrid, seiner naiven, deutschen Geliebten, die den Holocaust verdrängt – alle jene, die aufgrund von Feigheit, Schmerz oder Dummheit ihre Integrität verloren haben. Er erzählt von den Hierarchien im Lager, von der »Aristokratie der deutschen Häftlinge« und den Polen, Russen und Ungarn, die den »Plebs« darstellen (QBD 86). Die soziale Ordnung findet ihre Entsprechung über verschiedene Grade der Unsichtbarkeit (QBD 207f.). Auf der untersten Stufe stehen die Insassen des Kleinen Lagers, jene »Hunderte von Phantome[n]« (QBD 368).131 In L’Écriture ou la vie greift Semprún die spezifisch jüdische Erfahrung noch einmal detaillierter auf (Dunker 2003, 224).132 Im »kleinen Lager«, so der Erzähler, starb man auch noch nach der Befreiung: All denen es gelungen war, der Zwangsevakuierung des Lagers zu entgehen, starben weiter wie zuvor. Schweigende – Sprechen ermüdet – und stolpernde Prozessionen von Häftlingen schlurften um den Latrinenbau. Phantome in Lumpen, sich gegenseitig stützend, um nicht hinzufallen, fröstelnd in der Frühlingssonne, teilten sich mit minuziösen und brüderlichen Gesten eine machorkaKippe. Nach wie vor hing der fäkale, üble Geruch des Todes über dem Kleinen Lager, an jenem Tag nach der Befreiung . (EV 83)

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»[...] je n’étais plus qu’une patte du gros insecte trébuchant et hâtif« (QBD 29). »[...] elle en est revenue morte, murée dans sa solitude« (GV 115). »[...] au millieu des centaines de fântomes« (QBD 363). Für eine aufschlussreiche Besprechung der anderen Romane Semprúns vgl. Dunker 2003, 221-260. Dunker betont z.B. die Unkonventionalität von Netschaïev est de retour (1987), das die Buchenwald-Erfahrung mit der Trivial- und Kolportageliteratur verbindet und damit eine in gewisser Weise »radikale« Aneignung des Holocaust darstellt. Dunker kommt, ähnlich wie Jochen Vogt, zu dem Schluss, dass Auschwitz in der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg weniger thematisch als »an den Rändern der Texte, in den Subtexten, in Metonymien und Chiffren, in literarischen ›Verfahren‹ auftaucht« (1998, 397).

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Das Bild des Abfalls (»Phantome in Lumpen«, EV 83) taucht auch in Hans Günther Adlers Roman Eine Reise auf, der ein Jahr vor Le grand voyage in Deutschland erschienen ist: Niemand hört euch, schon darum ist es weise eingerichtet, daß man mit euch nicht sprechen darf. So wie die Besitzer in ihren Häusern sich von euch absondern, so hat man euch abgesondert und es wahr gemacht, dass ihr nicht mehr in Häusern sein dürft nach eurem Wunsch, und dass ihr nicht mehr wohnen dürft. Abfall seid ihr, den man nicht zwischen Tischen und Betten, zwischen Stühlen und Schränken verwahrt. (1999, 91) 133

Im direkten Vergleich mit Adler, der die Abgrenzung zur Ideologie des NS-Regimes durch Übertreibung, Ironie und Sarkasmus deutlicher hervorhebt,134 läuft Semprún in den beiden ersten Erinnerungsbüchern Gefahr, die jüdischen Häftlinge, vor allem den Muselmann,135 in der Darstellung seiner dramatischen Entmenschlichung mit der diskreditierenden NS-Sprache gleichzuschalten. Der Erzähler ist sich dessen bewusst und macht daher immer wieder in Kommentaren auf die besondere Stellung der Juden aufmerksam, die wie keine anderen unter dem Vernichtungswillen des Nationalsozialismus zu leiden hatten. Dennoch bleibt ein Unbehagen ob der Leerstelle in den vorangegangenen Romanen, die zum einen mit der Präsenz des Muselmanns als »Figur des Massensterbens« und zum anderen mit seiner verloren gegangenen »exzentrische[n] Positionalität« zu tun haben mag (Sofsky 2008, 230), die Semprún in den ersten Romanen perpetuierte. Jene beschreibt einen »Prozess der Dissoziation« (Sofsky _______ 133

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Das Konzentrationslager wird zur »Stadt der sichtbaren Geister«, deren »Abfall«, die Leichen, von anderen Geistern »in schlotternden Gewändern« zum »Ruhental« (den Leichenbergen) gebracht werden (Adler 1999 [1962], 73f.). Dabei betont der Erzähler die Vertierung der Gefangenen: »Es geht dabei nicht laut und auch nicht leise zu, nur ein ständiges Summen, ein Zwitschern und ein verhaltendes Heulen.« (Adler 1999 [1962], 74) Der Protagonist Leopold arbeitet als »Abfallgreis« und wird in seiner doppelten Markierung zum prekärsten Subjekt in der Arbeitskette. Auch in Adlers Roman wird die Zugfahrt zum zentralen Motiv der Erfahrung im Lager. Anders als Semprún in Le grand voyage beschreibt er die Fahrt nach Theresienstadt als Fahrt ins Blaue und spiegelt damit die euphemistischen Sprachstrategien des NS-Vernichtungsapparates. Die Deportierten werden z.B. als »Vergnügungsreisende« bezeichnet. Robert Antelme hat in L’Espèce humaine (1947) darauf aufmerksam gemacht, dass die größte Errungenschaft des Lagers darin liegt, den Gefangenen seiner Menschlichkeit zu berauben. Der Muselmann war die Bezeichnung für den psychophysisch depravierten Häftling und den Verräter. Ein Muselmann war für Primo Levi ein dem Tode Geweihter und für Jean Améry ein »lebender Leichnam«. Der Begriff selbst hat orientalistische Konnotationen und wurde ursprünglich für Menschen, die einem religiösen Fanatismus anhingen, gebraucht. Eine ausführliche Begriffserklärung findet sich bei Sofksy 2008, 229-236 und 363, Fn 5, Wittler 2013. Zur literarischen Darstellung des »Muselmann« vgl. Körte 2006.

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2008, 233), einer Distanz zu sich selbst und der lebenden Gemeinschaft, die ihn isolierte.136 Erst in L’Écriture ou la vie nähert sich Semprún konkret dem Schicksal der Juden in Gestalt des Freundes Maurice Halbwachs. Im Roman Le mort qu’il fait (2001) rückt dann jenes Andere, der zum Tode verdammte Muselmann, als schwer zu erzählender und verdrängter Position der europäischen Geschichte und der eigenen Biographie in den Blick. In der Beschreibung des jungen Franzosen François L. setzt Semprún ein Zeichen gegen das anonymisierende NS-System und übernimmt die Verantwortung des (Über)Lebens für eine ausgelöschte Existenz. Der Muselmann François erscheint als »autre moi-même« des Erzählers. Gérard soll dessen Namen annehmen – ein Name der ihn vor dem eigenen Tod schützen könnte. Mit der existentiellen Verbindung erkennt sich der Erzähler als »mort vivant« wieder, er erscheint als »revenant«, als Wiedergänger des Todes (Keller 2009, 61). Semprúns Figuren sind Stellvertreter, sie repräsentieren das (Über)Leben des Erzählers an Stelle eines anderen. Zugleich geben sie den ungehörten und unbekannten Gefangenen und Getöteten ein individuelles Gesicht (QBD 390). Der Autor versucht sich dabei der Phantomhaftigkeit der erlebten Erfahrungen, seiner eigenen Häftlingsidentität und der Situation der anderen ehemals Lebendigen bewusst zu werden, sie lebendig zu schreiben ohne dabei die Differenz zwischen Leben und Tod einzuebnen. Das Phantom ist an einen realen Körper geknüpft, der nicht mehr existiert, dessen Erfahrung nicht wiederholbar ist und daher nur als textuelle Konstruktion auferstehen kann. Im Endeffekt sind alle Phantome »erfundene intratextuelle Andere« (Tidd 2014, 117), denen Semprún über die Erzählung eine, mit Ausnahme von Gérard, dem alter-Ego des Autor-Erzählers, exemplarische Identität verschafft. Er schreibt gegen die »Leichen« als Produkte biopolitischer Rassenhysterie, gegen die »serielle Gesellschaft« der Lager (Sofksy 2008, 235). Er lässt die Toten als Phantome eines bürokratischen Vernichtungswillens auferstehen und holt sie zugleich in ihrer Verletzlichkeit in die Sphäre der Lebenden zurück. Sie erscheinen als identitäre Verortungen: sie erhalten ein Antlitz ohne dabei ihre Schattenhaftigkeit zu verlieren, denn dies würde eine Vereinnahmung durch die Lebenden bedeuten. Die Texte Malrauxs, Amérys, Wiesels, Adlers und Semprúns machen deutlich, dass das Sterben nicht aufhört. Das Gefühl des zivilen Todes dau_______ 136

Auch hier zeigte sich eine Hierarchie in der Wertigkeit des Lebens, denn »[d]ie meisten Muselmänner entstammten den Unterklassen der Verfemten und Überzähligen, die vom Verteilungssystem im Lager ausgeschlossen waren. Die Mehrzahl waren Juden, Russen, Polen, die Parias des Lagers.« (Sofsky 2008, 234)

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ert an und macht die räumliche und zeitliche Entgrenzung der Gefangenschaft sichtbar. Das literarische Zeugnis im Bewusstsein seiner Unmöglichkeit mag den Rest bezeichnen, der als Abwesenheit zwischen den Toten der Shoah und der Nachwelt bleibt. Jene Differenz wird im Werk von Semprún immer wieder unterstrichen und als Gegenentwurf zur Lebensferne mancher literarischer, philosophischer und politischer Entwürfe positioniert. Die Wurzeln einer nationalen, sozialen oder kulturellen Überheblichkeit liegen in einem exzeptionellen Verständnis der eigenen Kultur – einer Eitelkeit, die in Quel beau dimanche! im imaginierten Dialog zwischen dem Dichter Johann Wolfgang von Goethe und seinem Vertrauten Johann Peter Eckermann skizziert wird.137 Darüber hinaus moniert der Erzähler das »Geschwafel wohlgenährter Zivilisten« (QBD 216) und die »abstrakte Sachlichkeit« (QBD 210)138 der Intellektuellen der Nachkriegsjahre. So gehört zum Beispiel Simone de Beauvoirs sozialkritisches Drama Les bouche inutiles (1945) für Semprún in die Kategorie der Werke, die sich Fragen von Freiheit und Terror einseitig näherten (QBD 210).139 Er greift damit die Kritik vieler französischer Zeitgenossen auf, die das Stück für seine schablonenhafte Anordnung von Machtstrukturen verwarfen (Fleury 2009, 53f.).140 Wie fast alle Romane Semprúns, ist Quel beau dimanche! an _______ 137

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Primo Levi hat im Nachwort zu I sommersi e i salvati (dt. Die Untergegangenen und die Geretteten) auf das Paradox hingewiesen, dass eine große Nation der »Dichter und Denker« Auschwitz hervorbringen konnte: »Es hat sich gegen jede Vorhersage ereignet, es hat sich in Europa ereignet. Unfaßlicherweise hat es sich ereignet, daß ein ganzes zivilisiertes Volk, das die schöpferische kulturelle Blüte der Weimarer Zeit gerade hinter sich gelassen hatte, einem Hanswurst folgte, der einen heute nur noch zum Lachen bringt. Und dennoch gehorchte man Adolf Hitler und bejubelte ihn bis zur Katastrophe. Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.« (1990 [1986], 205) »[...] une pertinence abstraite« (QBD 209). Ursula Tidd bringt die existentielle Phänomenologie Simone de Beauvoirs und die literarischen Texte Semprúns in ein interessantes Zwiegespräch und zeigt, dass sich de Beauvoirs Konzeptualisierungen des Anderen als ethischer Figur und Semprúns polyphone Erzählstruktur in ein sehr fruchtbares Verhältnis setzen lassen (2014, 115-148). Semprúns Kommentar zu Simone de Beauvoir korrespondiert mit der recht einseitigen Darstellung der Frauenfiguren in seinen einschlägigen Romanen. Sie erscheinen als erotisch-sexualisierte Traumbilder der Welt »draußen« (Iréne, die Geliebte Fernand Barizons); als Körper, die sich unter eng anliegender Kleidung der männlichen Imagination geradezu aufdrängen (die Krankenschwester Clytie), als naive und frivole Geschöpfe (die Soldatinnen der »Mission France«), als die Wirklichkeit verdrängende, dumme Geliebte (Sigrid), sogar als Tod (Daisy, in einer Brasserie des XVI Arrondissements). Frauen sind in dieser von Männern dominierten Kampf- und Lagerwelt auch kaum als Kameradinnen und Intellektuelle präsent. Nach dem Krieg verbringt der Erzähler viele Nächte im Viertel Saint-Germain-des Prés und debattiert im Montana und im Méphisto über

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vielen Stellen von philosophischen Einschüben durchwoben.141 Die Auseinandersetzungen mit Marx, den der Erzähler verehrt und dessen populäre theoretische Maxime er zugleich als utopische Fiktionen entlarvt, sind leidenschaftlich und unerbittlich. Immer wieder betont der kommentierende Autor-Erzähler, dass die theoretischen Überlegungen zum Konzentrationslager der Realität nicht standhielten: »[...] die KZ-Gesellschaft der Nazis war nicht, wie du lange Zeit geglaubt hattest, der deformierte und dadurch zwangsläufige Ausdruck der sozialen Verhältnisse im Kapitalismus.« (QBD 381)142 Die sozialen Abstufungen, so der Erzähler, basieren eher »auf der Funktion, auf der Rolle, die jeder in einer bürokratischen, pyramidalen Struktur hatte, aus der eine unterschiedliche Anpassung hervorging, wie in der sowjetischen Gesellschaft« (QBD 382).143 Semprún scheint sich hier an den soziologischen Erklärungen H.G. Adlers in Der verwaltete Mensch (1974) zu orientieren. Dieser sah in der NS-Bürokratie den »Ausdruck der politischen und allgemein gesellschaftlichen Grundauffassung ihres Staates« (874). 144 Gleichwohl zeigt sich auch die Diskrepanz zwischen Semprún und den jüdischen Opfern. Für Jean Améry und andere jüdische Autoren gab es keine »Banalität des Bösen«, wie Hannah Arendt in Eichmann in Jerusalem (1963) betonte.145 Das Verbrechen war nicht mit der Pflicht eines gesetzes_______

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die Lage der Welt. Seine Erfahrungen dort bringen die phallogozentrische Perspektive der Zeit auf den Punkt: »Ich muß sagen, daß die Gefährten bei diesen endlosen nächtlichen Diskussionen hinreißend waren. Auch manchmal, seltener, die Gefährtinnen.« (QBD 251) Semprún kannte die Existenzialisten und schätze ihr Werk: Camus’ Texte, vor allem L’Étranger (1942), faszinierten ihn, Sartres L’Être et Neant (1943) hatten er und seine Freunde verschlungen und ganze Passagen aus La Nausée (1938) kannte er auswendig (EV 93f.). Trotzdem unterscheidet sich sein Werk von den Lehren der existentialistischen Philosophie. Denn obwohl er die Wahlmöglichkeit des Einzelnen betont, korrigiert Semprún Sartres universalisierenden Gestus, indem er einräumt, dass die Juden sich diesen Weg nicht aussuchen konnten: »Ich war im Lager, weil ich mich dazu entschieden hatte. Ich war kein Jude. Die Juden waren unglücklich, sie hatten keine Wahl.« (zit. nach Lieske 1995) Semprún wendet sich hier vor allem gegen traditionelle marxistische Erklärungsversuche der Lager und damit auch gegen einen seiner intelektuellen Helden: Jean Paul Sartre. »[...] car la société concentrationnaire nazie n’était pas, comme tu l’avais longtemps pensé, l’expression concentrée, et par là forcément déformée, des raports sociaux capitalistes. [...] elle se fondait sur la fonction, sur le rôle joué par chacun dans une structure bureaucratique, pyramidale, dont résultait une appropriation différente, comme dans la société soviétique.« (QBD 275f.) Siehe die seit den 1970er Jahren entfachte Debatte zwischen »Funktionalisten« und »Intentionalisten« in der Historiographie des Nationalsozialismus (Mommsen 2007). Auch wenn Arendt vor allem in jener »Banalität« eines Schreibtischtäters die Grausamkeit des Verbrechens und einen neuen Typus des »Verwal-

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treuen Bürgers gleichzusetzen. Nach Amérys Vorstellung verharmloste die Idee einer bürokratischen Ordnung die Shoah und relativierte das Leid der jüdischen Gefangenen. 146 Resümierend kann behauptet werden, dass Semprúns Romane in Form und Inhalt jedweden Formelschluss ablehnen: Mit den analeptisch und proleptisch erzählten, oft durch bestimmte Schlüsselwörter und Sinneseindrücke ausgelöste Assoziationsketten, die sich immer wieder neu formieren, dekonstruiert Semprún binäre Positionen wie drinnen-draußen, freigefangen, unschuldig-schuldig, richtig-falsch und unterläuft so teleologische Deutungen. Er verwehrt dem Erzähler und damit auch sich selbst als autobiographischer Stimme sowie dem Leser die Erlösung durch die Bannung des Schreckens innerhalb einer eindeutigen, moralisch klar umrissenen Erzählung.147 Die selbst gewählte Heimatlosigkeit betrifft vor allem die politische Einstellung des erzählten Ichs. Den totalitären Charakter des sowjetischen Kommunismus beschreibt der linke Erzähler als »barbarische Maßlosigkeit des Richtigen Denkens« (QBD 161), von dem er sich selbst, mithilfe des Lesers, der auch als Absolution erteilende Instanz agiert, loseisen will. In diesem Sinne ist Semprúns Literatur von einer »fundamentalen Ungeborgenheit« (Ette 2007, 6) geprägt, die mahnend in das 21. Jahrhundert reicht.

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tungsmassenmörders« beschreiben wollte, so hat vor allem das verharmlosende Wort »banal« eine anhaltende Kontroverse ausgelöst. Elie Wiesel und Jean Améry, haben sich ausführlicher mit der Frage nach Tätern und Opfern beschäftigt. Letzterer wehrte sich gegen das relativierende In-Beziehung-Setzen von Gefangenen und Wärtern. Der Holocaust blieb in seiner Singularität die »Eruption des radikal Bösen« (Améry 2012b, 9), an der jede entlastende Erklärung scheitern musste. Améry bestritt auch die marxistischen Positionen, wie sie von Sartre vertreten wurden, nach denen das Lager die Hölle des Kapitalismus darstellte. Für Améry war die Gewalt im Lager die »Ausgeburt kranker Hirne und pervertierter Emotionalorganismen« (2012c, 41). Semprún’s Erzähler verweigert sich Kategorien wie Überlebender oder Heimkehrer. In L’Écriture ou la vie bringt er sein Verständnis von Zugehörigkeit auf den Punkt: »J’avais fait de l’exil une patrie.« (EV 284)

5. Unsichtbare Männer: Invisible Man und The Wire Im Folgenden wird die Gefangenschaft im Kontext afroamerikanischer Literatur und urbaner Kulturen in den USA beleuchtet. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen Ralph Ellisons Invisible Man (1952) und die TVSerie The Wire (2002-2008). Sie verhandeln Stationen der Gefangenschaft für Afroamerikaner in der (Post)Moderne vor dem Hintergrund des amerikanischen Traums.1 In den Analysen wird ein Gegenstand problematisiert, den Kritiker wie Angela Davis, Cornel West und Houston A. Baker Jr. seit Jahrzehnten öffentlich anprangern: das anhaltende Othering von Afroamerikanern innerhalb der politischen, kulturellen und sozialen Sphäre der USA. Gefangenschaft ist ein zentrales Thema afrikanischer und karibischer Kultur in den Amerikas und hat sich besonders mit dem im 16. Jahrhundert einsetzenden atlantischen Sklavenhandel und den Erfahrungen auf den Sklavenschiffen, den Plantagen und im Zuge der Zwangsarbeit in den Kolonien manifestiert. Als Reaktion auf die formelle Abschaffung der Sklaverei durch den 13. Zusatzartikel der Verfassung 1865 etablierte sich im Süden der USA ein weitgreifendes System der Unterdrückung und Segregation. Die sogenannten Jim Crow Gesetze (1867-1965) hielten viele Afroamerikaner durch das System der Naturalpacht (sharecropping) in ökonomischer Abhängigkeit. Die Rassen-Hetze und die Ideologie einer weißen Überlegenheit, wie sie in radikalster Form vom Ku-Klux-Klan betrieben wurde und für lange Zeit in der Formel »separate but equal« die institutionelle und politische Ausgrenzung von Afroamerikanern bestimmte, dauerte in ihrer öffentlichen Zurschaustellung durch Lynchmorde bis weit in das 20. Jahrhundert an. Erst mit dem Civil Rights Act von 1964 wurde die Ambivalenz der rechtlichen Stellung von Afroamerikanern seit der Unabhängigkeitserklärung 1776 aufgelöst. Die formale Gleichstellung von Afroamerikanern in den USA ging jedoch nicht mit einer Abschaffung ausgrenzen_______ 1

Nachgehend sollen die Bezeichnungen »Afroamerikaner« und »Schwarze« synonym verwendet werden. Diese Gleichsetzung bezieht sich auf die Selbstbeschreibungen vieler Afroamerikaner als »Blacks«, erfordert aber auch eine differenzierende Perspektive. Allerdings wird die konkrete ethnische Herkunft (z.B. Westafrika, Karibik, Mittlerer Osten) in den behandelten Beispielen nicht weiter thematisiert.

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der Strukturen einher. Vielmehr hat sich die systemische und historisch gewachsene Segregation diskursiv erhalten und räumlich neu formiert (Green 2008). Angesichts der historischen und nationalen Bedeutung afroamerikanischer Gefangenschaft hat Bruce Franklin das slave narrative2 zum uramerikanischen Genre erklärt: »[...] the main lines of American literature can be traced from the plantation to the penitentiary.« (Franklin 1978, xxx) Die verschiedenen sozialen Räume der Seklusion – die Sklavenschiffe, die Baracken der Plantagen im Süden der USA, die Armenhäuser und später die innerstädtischen Ghettos und Gefängnisse – werden nicht zuletzt über eine literarische Tradition sichtbar gemacht: Von Olaudah Equianos The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, Or Gustavus Vassa, The African (1789), Frederick Douglass’ Narrative of the Life of Frederick Douglass, An American Slave: Written by Himself (1845) und Harriet Ann Jacobs Incidents in the Life of a Slave Girl (1861) bis hin zu Luce Delaneys From the Darkness Cometh the Light, or, Struggles for Freedom (1891). Auch wenn diese Erzählungen in Schwerpunkt und Motivik – von religiösen Erweckungsgeschichten, abolitionistischen Parabeln bis hin zu politischen Autobiographien – unterschiedlich sind, so bildet ihr Erbe zusammen mit der realgeschichtlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts den Hintergrund für die Texte der Bürgerrechtler wie Malcolm X , Angela Davis oder Hurricane Carter. Das moderne Gefängnis wurde zur Metapher für eine historisch geprägte soziale Position, die sich in den »realen« Orte der Internierung ontologisch verdichtete. Einer der wichtigsten Black Arts Movement Poeten des 20. Jahrhunderts und ehemaliger Gefängnisinsasse des Indiana State Pri_______

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Franklin sieht in dem slave narrative das erste genuin amerikanische Genre: »The slave narrative, however, is truly American. In fact, it was the first genre the United States contributed to the written literary world.« (5) Jene Behauptung blendet jedoch die indigenen, oralen Traditionen der Amerikas und das captivity narrative europäischer Siedler in der Kolonialzeit aus. Zugleich sind die konkurrierenden Literaturgeschichtsschreibungen Teil eines politischen Deutungsprozesses, in dem afroamerikanische Autor/-innen oft genug ignoriert wurden. Die erste Anerkennung des Genre slave narrative fand durch Reverend Ephraim Peabody statt. Sein 1849 im Christian Examiner and Religious Miscellany veröffentlichter Aufsatz »Narratives of Fugitive Slaves« machte auf das »neue« amerikanische Literaturphänomen aufmerksam. Die bis heute einflussreichste Abhandlung der autobiographischen slave narratives lieferte Charles H. Nichols in Many Thousand Gone: The Ex-Slaves’ Account of their Bondage and Freedom (1963 in Holland, 1969 in Amerika). Zur Geschichte des slave narratives vgl. auch den 1863 veröffentlichten Klassiker von William Webs Brown The Black Man: His Antecedents, His Genius, and his Achievments (Franklin 1978, 5).

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son, Etheridge Knight, fasst in der Einleitung von Black Voice from Prison zusammen: From the first time the first of our fathers were bound and shackled and herded into the dark hold of a ›Christian‹ slave ship – right on up to the present day, the whole experience of the Black man in America can be summed up in one word: prison. (1970, 5)

Knights Gedichte waren maßgeblich durch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Nation of Islam, den Pan-Afrikanismus und vor allem von Malcolm X’ Autobiographie (1965) beeinflusst. 3 Seit den 80er Jahren sind vermehrt diejenigen zu Wort gekommen, die im ›Krieg gegen die Drogen‹ in den 80er und 90er Jahren und einer immer strikter werdenden Gesetzgebung (z.B. das three strikes out-Gesetz) von den Auswirkungen einer Null-Toleranz-Politik betroffen sind.4 Die Erfahrungen im U.S.-amerikanischen Gefängnisraum sind vielgestaltig und doch durch eine gewisse Kontinuität gekennzeichnet, die auf den Kolonialismus und die historische Institution der Sklaverei zurückzuführen ist (Bosworth/Flavin 2007, Wacquant 2001, Davis 2003a). Gleichzeitig ist die Wahrnehmung von Gefangenschaft und Freiheit an eine spezifische Raumordnung geknüpft, die mit den internen Migrationsbewegungen in den USA korrespondiert. So beschreibt Frederick Douglass in seiner Autobiographie von 1845 die Reise von Talbot County, Maryland, nach Baltimore und schlussendlich in den Norden von Massachusetts als »road to freedom« (Butler 1995).5 Douglass koppelte die Emanzipation der Afroamerikaner an einen Exodus, der sich von der Plantagenwirtschaft im Süden in die Stadt im Nordosten der USA vollzog: »A city slave, is almost a freemen, compared with a slave on the plantation.« (1960, 60) Die Freiheit verbindet sich in den abolitionistischen Texten des 19. Jahrhunderts und zum Teil auch noch in der Literatur der Harlem Renaissance in den 1920er _______ 3

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In seiner bekannten Rede »Message to the Grassroots« (1963) erklärte Malcolm X das Gefängnis zum Sinnbild für den Status von Afroamerikanern in den USA: »Don’t be shocked when I say that I was in prison. You’re still in prison. That’s what America means: prison.« (1990, 8) Die Situation von Afroamerikanern zeigt sich am deutlichsten in Verbindung mit der Gefängnisindustrie. Im Dezember 2006 waren allein in den USA 2,25 Millionen Menschen in ca. 5.000 Gefängnissen im urbanen und ruralen Raum untergebracht. Der Disziplinierungssektor in den Vereinigten Staaten stellt mehr Menschen an als die versammelte Produktivkraft von General Motors, Ford und Walmart, die drei größten Arbeitgeber der USA. 200 Billionen Dollar werden in den Vereinigten Staaten jährlich für Gesetzgebungen und Maßnahmen im Rahmen des Strafvollzugs ausgegeben (Loury 2008, 7f.). Hier wird eine Tradition beschrieben, die sich von den frühen slave narratives bis hin zu Richard Wrights Roman Native Son (1940) und seiner Autobiographie Black Boy (1945) sowie den Texten vieler Poeten und Romanciers der Harlem Renaissance verfolgen lässt.

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Jahren, mit einer ganz bestimmten Route und der Stadt als Raum der Selbstbestimmung und Freiheit. Der im folgenden behandelte Roman Invisible Man problematisiert dieses Glücksversprechen und rechnet mit der institutionellen Segregation von Afroamerikanern sowie den linken Emanzipationsversprechen der 1940er Jahre ab. Die TV Serie The Wire spielt vierzig Jahre nach den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre und verhandelt vor dem Hintergrund einer komplexen, spätkapitalistischen, urbanen Lebenswelt die Ausweglosigkeit sozialer Stigmatisierung, die, so scheint es zumindest, noch jede historische Phase bürgerrechtlicher Intervention eingeholt hat.

5.1 Gefangenschaft als mise en abyme

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Ralph Ellisons Roman Invisible Man bietet aus vielerlei Gründen eine interessante Darstellung von Containment und Subversion – nicht nur in Bezug auf die thematische Ausrichtung, sondern auch in Hinblick auf seine Ästhetik und Rezeptionsgeschichte. Der Roman gilt als Schwellentext der afroamerikanischen und U.S.-amerikanischen Literatur. Auch wenn der Text nicht unkritisch von der schwarzen Kritik aufgenommen wurde, so stellte er doch einen wichtigen Interimtext afroamerikanischer Identitätsentwürfe dar, denn er verhandelt Motive früherer slave narratives unter Einbezug moderner urbaner Ästhetiken. Der Roman thematisiert im Zeitalter der großen Ideologien die individuelle und selbstbestimmte Teilhabe am amerikanischen Traum, während das traumatische Erbe, die geschichts- und traditionsbewusste Herleitung schwarzer Identitäten, wie sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts in der Literatur Toni Morrisons findet, eher allegorisch verdichtet und weniger deutlich verhandelt wird. Ellisons Roman fällt in die Periode der 1940er Jahre, eine Zeit, die nach der Pluralität der Harlem Renaissance, von den Rassenunruhen der Zwischenkriegsjahre, vor allem die Aufstände in Chicago 1919, Tulsa 1921 und in Harlem 1935 und 1943, geprägt war (Bone 1965).6 _______ 6

Amiri Baraka (ehemals LeRoi Jones), der der Black Power Bewegung und der Nation of Islam nahe stand, sah in Romanen wie Invisible Man und Richard Wrights Native Son, Vertreter einer reaktionären, relativistischen und integrationistischen Schule, die durch den Einfluss der Bürgerrechtsbewegung in den USA und eine Rückbesinnung auf Marcus Garveys Black Liberation Movement, vom Black Arts Movement der 60er abgelöst wurde. Diese war maßgeblich von den Idealen der Black Panther und Malcom X beeinflusst und wollte eine »schwarze«, »revolutionäre«, »massenorientierte« und »orale« Literatur schaffen (1981, 153-154). Barakas Aufsatz »Black Art« (1965) wurde zum inoffiziellen Manifest einer neuen schwarzen Literatur.

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Von Monika Plessner als das »Epos der schwarzen Amerikaner« beschrieben,7 wurde der Grundkonflikt des Romans in der Hochzeit seiner Wirkungsgeschichte, den 1960er und 70er Jahren, als Verhandlung von Assimilation und schwarzem Nationalismus beschrieben.8 Harold Bloom nennt Invisible Man einen »American Classic, between Faulkner and Gravity Rainbow« (2009, 1). In den frühen kanonisierten Interpretationen stehen vor allem Aspekte psychologischer Deutung und der GenreZuordnung im Zentrum, die die politische Dimension des Romans ausblenden und mit ihr die Inszenierungen sozioökonomischer Unterdrückung. So versteht Jonathan Baumbach den Roman vor allem als »candidelike picaresque« und »coming-of-age« Erzählung (Baumbach 1965, 68). Das slave narrative ist in der Aufzählung der Genre-Einflüsse abwesend. Dabei ruft der Roman jene Verbindunsglinien über ethnische Stereotypisierungen wie dem Sambo oder zentrale Figuren wie Bruder Tarp auf. Die »Naivität« des Helden (Baumbach 1995, 68) ist strategisch an seine ethnische Identität und die bewusste Unterdrückung eines aufgeklärten Selbst gebunden. Die erweiterten Metaphern des Romans – die »Unsichtbarkeit« des Protagonisten und das »Running« als forcierter Mobilität – sind zwei Aspekte, die in ihrer Spezifik für die schwarze Bevölkerung in der Vereinnahmung für einen weißen Kanon und seine Verfechter oft genug ignoriert wurde. Die frühen Interpretationen sind somit ein gutes Beispiel für das Containment ethnischer Literaturen im amerikanischen Kanon und ihre Instrumentalisierung.9 Immer wieder entfachte der Roman eine ideologische Debatte, die sich in den verschiedenen Deutungssansätzen zeigt: von universalistischintegrationistischen Perspektiven, der politischen (kommunistischen) Auslegung und den Lesarten der schwarzen ästhetischen Schule. Kritik kam vor allem von den Schwarzen Nationalisten. Gayle Jr. warf Ellison vor, das Rassenproblem durch einen weißen Ästhetizismus zu verschleiern.10 Die Symbolhaltigkeit des Romans würde die politische Botschaft und die Not_______ 7 8 9

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Vgl. dazu auch Bell 1987 und 2005. Zur Rezeptionsgeschichte und Interpretationsansätzen Rankin 2006, Butler 2000 und Reilly 1970. Bis heute orientiert sich die fundamentale Definition amerikanischer Literatur an einem Kanon weißer männlicher Autoren, »with AfricanAmericans safely ghettoized within the curriculum and represented by tokens in the anthologies« (Franklin 1978, xxvii). Cornel West bezeichnete Ellison als »highbrow aesthete« (zit. nach Thomas 2002) und gab so Amiri Baraka recht, nach dem Ralph Ellison »the Academy’s dream« darstellte (1981, 152). Llyod Brown warf dem Roman Marktkonformität vor: »[T]he whole book conforms exactly to the formula for literary success in today’s market. Despite the murkiness of his avant-garde symbolism, the pattern is clear and may be charted as precisely as a publisher’s quarterly sales report.« (2000, 31)

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wendigkeit zum Handeln in einem ästhetischen Eskapismus auflösen.11 Houston A. Baker Jr. nannte Invisible Man »›a colorblind‹, literarilyallusive prison house of language« (2007, 156). Der Roman unterstrich im Grunde das »industrial, imperialist, xenophobic American myth making« (2007, 156). Ellison gäbe W.E.B. du Bois Spiegelbild-These lediglich eine ästhetische Form, anstatt sich auf die reiche Folk-Tradition der Schwarzen zu beziehen.12 Der Hauptfehler des Romans läge in seiner politischen Einstellung. Der existentialistische Ansatz sei in Bezug auf die Rassenproblematik geradezu gefährlich. 13 Paradoxerweise zeigt sich in der Rezeptionsgeschichte jene Vereinnahmung afroamerikanischer Äußerungen für ein ideologisches Programm, die Ellison im Roman auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zum zentralen Thema macht. Er stellt die blackness als Wahrnehmungsdispositiv aus, das historisch geprägt und an normalisierende Prozeduren von Sehen und Gesehen-Werden geknüpft ist. Dabei lässt sich der Roman als Absage an eine reduktionistische Authentifizierung und Universalisierung der afroamerikanischen Erfahrung lesen. Vielmehr wird eine konfliktreiche Suche nach der amerikanischen Identität innerhalb gefangennehmender Strukturen beschrieben und das Recht auf Freiheit über einen »race conscious«, aber dennoch individualistischen Erzähler verhandelt.14 _______ 11

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Nach Houston A. Baker Jr. war der Roman »a Disneyesque prison of American novelistic form [...], a novel of American local color in its comically basest minstrel manifestation« (2001, 32 und 34). Die anhaltende Kritik am Roman betreffen die Isolation des Protagonisten, die schematische Darstellung afroamerikanischer Identitätsentwürfe, die Adaption weißer Ästhetiken und die Negation der Möglichkeit des kollektiven Widerstands (vgl. dazu Kaiser 1970, 53-97). Andere haben betont, dass Ellison sehr effektiv bestimmte narrative Elemente afroamerikanischer Kultur einfließen lassen hat, vgl. dazu Kent 1970, 265-76, Schafer 1969, 22-28, Kostelanetz 1967, 5-26 und Oldermann 1966. Dass die Integration in den amerikanischen Kanon vor allem der Rezeption weißer Kritiker geschuldet war, ist der marxistisch-kommunistischen Schule und den Vertretern der Schwarzen Ästhetik entgangen. Hinzu kommt, dass Ellison auf beiden Seiten einer totalisierenden Geste des Entweder-Oder ausgeliefert war. Auch die Schwarze Ästhetik bleibt in einer essentialistischen Verortung von Identitäten verhaftet, indem sie den Roman als zu weiß bzw. nicht schwarz genug ablehnte. Ellison selbst betonte diese Intention in seinem Essay »The World and the Jug«: »Note that this is a condition arising from a collective experience which leaves no room for the individual writer’s unique experience. It leaves no room for the intensity of personal anguish which compels the writer to seek relief by projecting it into the world in conjunction with other things [...] Nor does it leave room for the experience that might be caused by humiliation, by a harelip, by a stutter, by epilepsy — indeed, by any and everything in this life which plunges the talented individual into solitude while leaving him the will to transcend his condition through art.« (1995b, 130)

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Gefangenschaft stellt sich im Roman als mise en abyme dar: aus der Isolation eines Kellerlochs heraus, werden, anhand der Biographie eines namenlosen Protagonisten, die strukturellen und institutionellen Dimensionen afroamerikanischer Gefangenschaft in den USA erzählt. Die intradiegetische Gefangenschaft, das soziale Korsett, das über verschiedene Institutionen wie die Schule, die Fabrik, das Krankenhaus, die Bruderschaft und das schwarze Ghetto erzählt wird, ist dabei nicht immer von einer strikten physischen Architektur her zu denken, sondern als verschiedene »Dienstbarkeiten« (Morrison 1992, 29-60) innerhalb der weißen hegemonialen Gesellschaft. Die Separation im Kellerloch ist keine freiwillige Isolation, ein Rückzug aus der als verlogen empfundenen Gesellschaft15, sondern eine erzwungene Klausur, die sich erst mit der Reflektion der gesellschaftlichen Beschränkungen in ein prison heureuse verwandelt. Die Rahmenhandlung steht in einem kausalen Zusammenhang zu den Erfahrungen der Gefangenschaft in der Binnenerzählung.16 Der namenlose Erzähler in Ellisons Roman berichtet von den Ereignissen, die ihn in das Kellerloch geführt haben, in dem er sich zum Zeitpunkt der Narration befindet. Dabei fließen die Erlebnis- und die Reflektionsebene ineinander und entlarven die innere Erzählebene als Mikrostruktur der Rahmenhandlung. Die retrospektiv wiedergegebene Handlung ist vom Kenntnisstand vor und nach der Einsicht in die Unsichtbarkeit des Erzählers geprägt. Der autodiegetische Erzähler zeichnet sich in der Wiedergabe der Geschehnisse durch einen naiv-ironischen Ton aus, der die beiden Zeit- und Handlungsebenen der Erzählung kombiniert und damit innerhalb der Narration einen Zustand des Transitiven erzeugt. Jener verdichtet sich in der letzten Szene des Romans im arretierten Moment des Aufstiegs aus dem Kellerloch, der Ellisons Roman wiederum in die Nähe von Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« bringt. Anders als im Gros der vorangegangenen Narrative in Kapitel drei und vier (mit Ausnahme von Semprúns autobiographisch gefärbten Romanen), spricht hier das unterdrückte und gefangene Selbst, das sich gleichwohl unsicher seiner eigenen Aufstiegschancen erscheint. Über das Verweben der Handlungs- und der Reflektionsebene wird deutlich, dass es sich um eine Schwellenerzählung handelt, in der die persönliche Entwicklung des Protagonisten und die historische und gesellschaftlichen Position, die er verkör_______ 15

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Der direkte Vergleich mit Fjodor Dostojewski Notizen aus dem Untergrund (vgl. Frank 1983, 11 und 1990, 34-48) scheint mir problematisch, denn in Dostojewskis Roman handelt es sich um einen freiwilligen Rückzug aus der als dekadent empfundenen Welt. Hier wird die moderne Literatur in der Abwandlung des »Künstlermotivs« subversiert. Der Protagonist wird in Invisible Man durch eine doppelte Exklusion in den Untergrund gezwungen. Aus der prekären Lage heraus entwickelt sich sein Selbst- und Künstlerbewusstsein.

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pert, noch nicht abgeschlossen ist. Die verschiedenen Gefangenschaften sind als Stationen eines Bildungsromans zu lesen, die schlussendlich zur Aufklärung des Protagonisten, aber nicht zu einer abschließenden Handlung führen. Aus dem Kellerloch heraus erzählt der namenlose Protagonist, welche Umstände zu seiner Isolation geführt haben. Der Beginn der Narration bildet zugleich das Ende einer vorläufigen Reise. Die Quintessenz der Erzählung liegt in der Erkenntnis des Protagonisten, die sich auf den ersten Seiten entfaltet und somit der Haupthandlung vorweggenommen ist: I am an invisible man. No, I am not of a spook like those who haunted Edgar Allan Poe; nor am I one of your Hollywood-movie ectoplasms. I am a man of substance, of flesh and bone, fiber and liquids – and I might even be said to possess a mind. I am invisible, understand, simply people refuse to see me. Like the bodiless heads you see sometimes in circus sideshows, it is as though I have been surrounded by mirrors of hard, distorting glass. When they approach me they see only my surroundings, themselves, or figments of their imagination – indeed, everything and anything except me. (IM 3, meine Herv.)

Die Unsichtbarkeit des Erzählers ist kein ästhetisches Trugbild, sondern vielmehr eine soziale Wirklichkeit. Sie beschreibt die Gewalt des Blicks, der an einen realen Körper gebunden ist. Die Betrachter sehen nur »[s]eine Umrisse, sich selbst, oder die Produkte ihrer Phantasie« (meine Übers.). Die Unsichtbarkeit meint hier einen Vorgang, in dem der Protagonist zum weißen Blick in eine konstitutive Abhängigkeit gebracht wird. Jene Verhältnissetzung wird über den Marker blackness definiert und geht mit einer fundamentalen Absprechung seiner Individualität und Selbstdefinition einher: That invisibility to which I refer occurs because of a peculiar disposition of the eyes of those whom I come in contact. A matter of the construction of their inner eyes, those eyes with which they look through their physical eyes upon reality. (3, Herv. i.O.)

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Jene »poor vision« (IM 3) ist ein Verweis auf die vorurteilsbehaftete, durch den rassischen Diskurs gefärbte Linse, durch die der Protagonist betrachtet wird und sich selbst als Bewusstsein wahrnimmt: »Then too, you’re constantly being bumped against by those of poor vision. Or again, you often doubt if you really exist. You wonder whether you aren’t simply a phantom in other people’s eyes.« (IM 3-4, meine Herv.) Die vom Erzähler beschriebene Dynamik bezieht sich auf die von W.E.B. du Bois entwickelte Figur des »doppelten Bewusstseins«. In seinem einflussreichen Werk Souls of Black Folk (1903) beschreibt du Bois die Selbstwahrnehmung von Afroamerikanern als eine durch den Blick der Weißen geprägte Vorstellung, die mit einer Herabsetzung des Selbst einhergeht. Diese reziproke Struktur basiert auf einer langen Geschichte der Unterdrückung und Selbstentfremdung. Im Angeblicktwerden vollzieht sich eine Identität, die primär über eine Form des Besitzes definiert ist und

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die nicht zuletzt ein fragmentiertes Bewusstsein schafft, in dem sich die widerstreitenden Narrative der Selbstbeschreibung nicht zu einem individuellen Ganzen zusammensetzen lassen: [T]he Negro is a sort of seventh son born with a veil, and gifted with a second sight in this American world,—a world which yields him no true selfconsciousness, but only lets him see himself through the revelation of the other world. It is a particular sensation, this double-consciousness [...]. One ever feels his two-ness,—an American, a Negro; two souls, two thoughts, two unreconciled strivings, two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being torn asunder. (Du Bois 1961, 17)17

Die Vorstellung der »individuellen Ganzheit« scheint heute nach der poststrukturellen Wende überholt. Paul Gilroy hat diesbezüglich du Bois’ Konzept zugunsten einer produktiven Vorstellung von »schwarzer Hybridität« weiterentwickelt und durch den globalgeschichtlichen Bewegungsraum des schwarzen Atlantik erweitert. 1903 war das Konzept jedoch mit einem Rassen-Bewusstsein verbunden, das auf die Fremdbestimmung und Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur auf ökonomischer, sondern vor allem auf soziokultureller und psychologischer Ebene hinwies.18 Jene Abhängigkeitsverhältnisse werden im Genre des Bildungsromans verdichtet, in dem prinzipiell die Geburt eines individuellen Bewusstseins vis-à-vis der gesellschaftlichen Kräfte verhandelt wird. Wir begegnen in den ersten Szenen einem jungen Erzähler, der wegen »guter Führung« auf der Greenwood High School im Süden der USA für ein schwarzes College empfohlen wird. Bevor er die High School verlässt, hält er eine Abschlussrede, die ideologisch dem assimilatorischen Gestus Booker T. Washingtons in Up from Slavery entspricht. Wie der Erzähler selbst bemerkt: »in those pre-invisible days I visualized myself as a potential Booker T. Washington.« (IM 18) Doch die Rede wird von den weißen Mäzenen verlacht. Er wird gezwungen, zur Belustigung der Runde einem fingierten Boxkampf beizuwohnen. Dabei wird er von den Anwesenden immer wieder »Sambo«19 genannt. _______ 17 18

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Zur Auslegung des Konzepts der »double consciousness« in Ellisons Text vgl. u.a. Gates, Jr. 1988, Baker, Jr. 1984 und Stepto 1979. W.E.B. du Bois Konzept von der »double consciousness« und seine radikale Forderung nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung (im Notfall auch unter Anwendung von Gewalt) steht konträr zum assimilatorischen Gestus Booker T. Washingtons. Washington sah die Ausbildung der Schwarzen als primäres Ziel der Unabhängigkeit, nicht unbedingt ihre soziale und politische Gleichstellung. Der etymologische Ursprung des Wortes geht zurück auf einen Personennamen in afrikanischen Kulturen und seine Verwendung im kolonialen Kontext in Lateinamerika. »Zambo« meinte im Hispanischen eine Person »gemischter« Herkunft (afrikanisch und indigen-amerikanisch) und bezeichnete zugleich ein »bowlegged or knock-kneed individual«. Im Zensus-Material und den Dokumenten des 18. Jahrhunderts wurde das Wort

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Weil er die Erniedrigung aushält und damit seinen Platz innerhalb der rassistischen Gesellschaft annimmt, wird er zur Belohnung auf ein College geschickt, das von einem angesehen Schwarzen namens Dr. Bledsoe verwaltetet wird. Das College erinnert an das 1881 von Booker T. Washington gegründete Tuskegee College in Alabama. Doch auch diese Instanz höherer Bildung erweist sich schnell als Ort des weißen Paternalismus. Bledsoe vertritt die Position einer Anpassung an bestehende Strukturen, die – nutzt man sie geschickt – ein zumindest ruhiges Leben. »Cast down your bucket were you are«, ist die an Washingtons Credo angelehnte Devise. Der Erfolg des Schwarzen führt nach der Sicht des Schulleiters über Unterordnung, Mimesis und Kalkül – ein Lebensmotto, das der junge Erzähler schnell verinnerlicht: »I knew... that it was advantageous to flatter rich white folks. Perhaps he’d give me a large tip, or a suit, or a scholarship next year.« (IM 38) Auf dem College findet er zunächst eine gewisse geistige Erfüllung, doch er bleibt ein Vorzeigeprojekt des weißen Altruismus. Die regelkonformen Studenten werden regelrecht in Szene gesetzt: »eyes blind like those of robots to visitors and officials on the low, whitewashed reviewing stand.« (IM 28) Schemenhaft treten die jungen Männer in Erscheinung und werden mit den schwarzen Sklaven im 19. Jahrhundert in Beziehung gesetzt. Als der unsichtbare Protagonist einen der weißen Mäzene mit der Limousine für einen Ausflug abholt, erinnert er sich an eine alte Photographie der Schule: »photographs of men and women in wagons drawn by mule teams and oxen, dressed in black, dusty clothing, people who seemed almost without individuality, a black mob that seemed to be waiting, looking with blank faces [...].« (IM 39) Dagegen steht im ironischen Kontrast die (über)individualisierte Präsenz der weißen Gönner, z.B. in der Person des Mr. Norton:

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ABostonian smoker of cigars, teller of polite Negro stories, shrewd banker, skilled scientist, director, philanthropist, forty years a bearer of the white man’s burden, and for sixty a symbol of the Great Traditions. (IM 29)

Ellison arbeitet mit starken Stereotypisierungen und Klischees, die die Kluft zwischen den Machthabern und Unterworfenen betonen. Die erste Person, die das devote Verhalten des Protagonisten in Frage stellt, ist ein Tierarzt und ehemaliger Aktivist, den Norton und der Erzähler _______ für die »new world slaves« gebraucht. Seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg und spätestens seit den Minstrel Shows gilt »Sambo« als rassistischer Begriff. Der Charakter des »Sambos« wurde in der Minstrel Tradition als unselbstständiges Kind portraitiert, als unnützer und tollpatschiger Erwachsener, der seinen »Herren« gegenüber loyal und wunschlos glücklich war. Ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Begriff durch die Popularität von Helen Bannermanns Kinderbuch Little Black Sambo (1899) verbreitet (Turner 2001, 356).

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nach ihrer Fahrt durch die ehemaligen Sklavenviertel in einer zwielichtigen Bar treffen. Dort bricht durch die Anwesenheit Nortons eine Prügelei aus, woraufhin der Tierarzt die Fremden für ihr rassenblindes Verhalten tadelt. Er nennt speziell den Erzähler einen »automaton«, »a black amporphous thing« (IM 95), »a walking zombie« (IM 94). Doch der Vorwurf gilt vor allem dem weißen Besucher, der den jungen schwarzen Mann zu jener identitätslosen Wesenform verdammt: Already he’s learned to repress not only his emotions but his humanity. He’s invisible, a walking personification of the Negative, the most perfect achievement of your dreams, sir! The mechanical man! (IM 94)

Zunächst ignoriert der Erzähler die Kritik, seine Sorge gilt vielmehr der Reaktion des Schulleiters, der auf die wohlwollenden Spenden der weißen Oberschicht angewiesen ist. Dieser erinnert ihn am Tag nach dem Vorfall wutentbrannt an die Verhaltensregeln im Umgang mit den Weißen: »The dumbest black bastard in the cotton patch knows that the only way to please a white man is to tell him a lie!« (IM 139)20 Bledsoe hat nicht die Befreiung der Schwarzen von der Unterdrückung durch ein rassisch geprägtes System, sondern die Emanzipation des »Negers« von seiner ökonomischen Sklavenexistenz im Blick. Dieses Unterfangen hat der Student gefährdet. Nach seiner Suspension vom College begegnet der Erzähler am Bahnhof ein letztes Mal dem Tierarzt. Dieser rät ihm zu einem strategischen Essentialismus, einem selbstbewussten Umgang mit seiner Phantom-Identität: Come out of the fog, young man. And remember you dont have to be a complete fool in order to succeed. Play the game, but don’t believe in it – that much you owe yourself. Even if it lands you in a strait jacket or a padded cell. Play the game, but play it your own way – part of the time at least. Play the game, but raise the ante, my boy. Learn how it operates, learn how you operate – I wish I had time to tell you only a fragment. (IM 153-154, Herv. i.O.)

Der Tierarzt wirbt für eine Form der Anpassung (Mimikry), die zugleich subversive Aneignung und Widerstand ist.21 Der Erzähler wird die vollen Implikationen dieses »Spiels« erst später begreifen. Mit einem trügerischen Empfehlungsschreiben ausgestattet, verlässt er den Süden und tritt eine Reise an, die »von biblischer Symbolik und politi_______ 20

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Hier zeigt sich ein Klassensnobismus auf den W.E.B. du Bois in seiner Kritik an Booker T. Washington hingewiesen hatte. Schwarze Intellektuelle schauten oft auf die schwarze Unterschicht herab und bestätigten so die rassistischen Strukturen der Mehrheitsgesellschaft. Homi Bhabha hat jene Form des Widerstands mit dem Begriff der Mimikry gefasst: »Mimicry is the process by which the colonized subject is reproduced as ›almost the same but, not quite‹. [...] The copying of the colonizing culture, behavior, manners and values by the colonized contains both mockery and a certain ›menace‹, so that mimicry is at once resemblance and menace.« (Bhabha 1994, 86)

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schem Wert ist« (Grossman 1989, 16-37). Die Bewegung vom Süden nach New York spiegelt die Migration vieler Afroamerikaner zwischen 1910 von 1930 wider, die den Jim Crow Laws entgehen wollten. In der afroamerikanischen Literatur hat die Stadt einen besonderen Stellenwert, wie Blyden Jackson betont: »The Negro novel is a city novel. It almost always has been.« (1971, 4) Vor allem der Bezirk Harlem in New York City wurde in den 1920er Jahren zum »capital of the Black World« (Huggins 1971, 13-51) und konstituierte einen Raum afroamerikanischer Selbstbeschreibung, der jedoch keineswegs homogen oder konfliktlos war. 22 Die Literatur der Harlem Renaissance spiegelte die multiplen Perspektiven und Gesichter der Stadt wider (Hakutani/Butler 1995, 12).23 Über die Jahrzehnte war Harlem nicht nur ein Ort der Befreiung und der Kreativität, sondern auch der Entfremdung, der Anonymität und der Kriminalität (Mayer 98/99, 346). Besonders in den naturalistischen Romanen Ann Petrys The Street (1946) und Willard Motleys Knock on Any Door (1947), wird der Zusammenhalt afroamerikanischer Gemeinschaften und das Befreiungsnarrativ der frühen slave narratives vor dem Hintergrund einer urbanen Armut und Verelendung hinterfragt. Ellison selbst betont: In relation to their Southern background, the cultural history of the Negroes in the North reads like the legend of some tragic people out of mythology, a people which aspired to escape from its own unhappy homeland to the apparent peace of a distant mountain; but, in migrating, made some fatal error of judgment and fell into a great chasm of mazelike passages that promise ever to lead to the mountain but end ever against a wall. (Ellison 1987, 298-99)

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Ähnlich argumentierte Amiri Baraka 1981 in seinem Essay »Black Literature and the Afro-American Nation: The Urban Voice«, dass beginnend mit der Harlem Renaissance die schwarze Literatur durch den urbanen Raum geformt wurde und eine einzigartige »black urban consciousness« produziert habe. Obwohl Baraka die Probleme des urbanen Lebens für Afroamerikaner nicht verschwiegt, so prognostiziert er doch: »But if the cities represent higher levels of perception and sophistication for us in America, the must be the focal point of yet more advanced levels of struggle.« (1981, 158) Die Glorifizierung Harlems wurde teils auch als naiv und romantisch kritisiert (vgl. Huggins 1971), dennoch ist der Einfluss der Harlem Renaissance für zeitgenössische Autoren nicht zu unterschätzen (Gibson 1995). Dies gilt allgemein für die naturalistischen Erzählungen um die Jahrhundertwende. In Stephen Cranes Maggie, A Girl from the Street (1893) wird die Lower Eastside in New York zur urbanen Hölle. Die metaphorischen Straßennamen verdeutlichen das konstitutive Verhältnis von Ort und Gefangenschaft. »Devil’s Row« und »Rum Alley«, die Mietshäuser, und ihre Nachbarschaften sowie die Fabrik, in der Maggie arbeitet, sind in Cranes Texten Orte physischer Gewalt und Unterdrückung. Vor allem die Enge dieser Orte spiegelt das Verhaftetsein der Protagonisten. Auch die Familie bietet Maggie keinen Rückhalt und Zuflucht und wird als gewaltbestimmte Institution präsentiert. Die Grundsätze des Naturalismus beruhen auf der konstitutiven Verbindung von Ort und sozialer Position.

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Die Aussage des Autors verdichtet sich in Invisible Man zum poetischen Programm, denn der Roman verbindet die utopische Sehnsucht und die bittere Enttäuschung der Migrationserfahrung. In Harlem angekommen, erlebt der Protagonist die Stadt als race zone, in der nicht nur die Rassenunruhen toben, sondern politische und soziale Positionen der blackness und die kreativen Potentiale afroamerikanischer Kultur verhandelt werden.

5.1.1 Institutionen der Gefangenschaft: Fabrik, Bruderschaft, Ghetto Bereits in den ersten Episoden des Romans wendet sich das Versprechen auf Freiheit im Norden in eine albtraumhafte Wirklichkeit. Mit der Wahrheit über seine beruflichen Möglichkeiten konfrontiert, muss der Protagonist zunächst eine Stelle in einer Farbenfabrik annehmen. Dort wird ausschließlich weiße Farbe hergestellt, »the purest white that can be found. Nobody makes a paint any whiter. This batch right here is heading for national monument!« (IM 202). Die Farbenfabrik steht symbolisch für die Ausbeutung der Afroamerikaner in der Industrie und ihre Abwesenheit in der weißen Geschichtsschreibung. Die Passage macht deutlich, dass die Arbeit, Leistung und Entbehrungen der Afroamerikaner in den Fabriken und anderen Institutionen wie dem Militär nicht entsprechend gewürdigt und als konstitutiver und produktiver Bestandteil der Nationalbildung anerkannt wurde.24 Dabei basierte der Aufstieg der USA zur wirtschaftlichen Weltmacht vorrangig auf der Ausbeutung der Schwarzen und Millionen von Migranten, die um die Jahrhundertwende in die USA einwanderten. Die Großstädte wurden in früheren abolitionistischen Texten als Orte der Freiheit glorifiziert, doch in den Großstädten angekommen, fanden Afroamerikaner oft nicht die erhoffte Unabhängigkeit, sondern wurden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, als Streikbrecher eingesetzt und im Ghetto ausgelagert (dies nicht zuletzt aus sogenannten ›hygienischen‹ Gründen).25 Bei einer Explosion im Untergeschoss der Fabrik, die quasi symbolisch für das hypokritische System eingerissen wird, erleidet der Protagonist eine Vergiftung und muss ins Krankenhaus gebracht werden. Dort wird er ei_______ 24

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Die National Mall in Washington D.C. war bis zur Einweihung des Martin Luther King Memorials im Jahr 2011 durch eine rein weiße Geschichtsschreibung geprägt (siehe das Lincoln Memorial, das Vietnam Memorial, das National World War II Memorial und das Korea War Memorial). Das National Museum of African American History and Culture wurde 2003 in Auftrag gegeben und gegenüber der Westfront des Museums of American History im Frühjahr 2017 eröffnet. Vgl. dazu die Chicago Commission of Race Relations, die 1919 eingesetzt wurde. 1922 erschien der Bericht The Negro in Chicago: a Study of Race Relations and a Race Riot.

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ner Reihe von Elektroschockbehandlungen unterzogen, für die er eine eiserne Kappe aufsetzen muss, vergleichbar mit denen »worn by the occupant of an electric chair« (IM 233). Im Vergleich von Gefängnis und Krankenhaus verbinden sich weitere Disziplinarinstitutionen der Moderne, die an der diskursiven Herstellung des Anderen beteiligt sind. Im Verlauf des Romans werden Modi der »Dienstbarkeit« (Morrison 1992, 29-60), die Instrumentalisierung der ethnischen und sozialen Markierung von Afroamerikanern durch verschiedenen Interessensgruppen, angeführt, um die spannungsreiche identitäre Verortung von Schwarzen zu thematisieren. In der »Brotherhood«, einer politischen Vereinigung, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzt, findet der unsichtbare Mann für kurze Zeit ein Refugium. Doch schon während der ersten politischen Aktion erahnt der Protagonist, dass er für eine Mission eingespannt wird. Seine Instrumentalisierung wird in der Metapher des Käfigs illustriert: I went toward the microphone [...] entering the spot of light that surrounded me like a seamless cage of stainless steel. [...] The light was so strong that I could no longer see the audience, the bowl of human faces. It was though a semitransparent curtain had dropped between us, but through which they could see me - for they were applauding - without themselves being seen. I felt the hard, mechanical isolation of the hospital machine and I didn’t like it. (IM 341, meine Herv.)

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Auf metaphorischer Ebene werden das Sanatorium und das Gefängnis verwoben und mit einem dritten Bereich, den öffentlichen Raum und die Sphäre des politischen Protests, in Beziehung gesetzt. Die Fähigkeiten des unsichtbaren Mannes kommen nicht ihm selbst zu Gute, er soll sie vielmehr für eine abstrakte Idee einsetzen, die seiner und der Lebenswelt vieler anderer nicht entspricht. Die Bruderschaft zielt vielmehr auf eine kontrollierte Affektivität des Mobs. Die Steuerung der Masse, nicht die Emanzipation des schwarzen Subjekts und der Arbeiter, steht im Vordergrund. Die Organisation zielt darauf ab, die Schwarzen für ihr politisches Programm zu mobilisieren. Bruder Jack bringt den Nutzen der Masse für die Parteiagenda auf den Punkt: [C]rowds are only the raw material, one of the raw materials to be shaped to our program [...]. We do not shape our policies to the mistaken and infantile notions of the man in the street. Our job is not to ask them what they think but to tell them! (IM 472, 473)

In Jacks Aussage verwebt sich die Wahrnehmung der bürgerlichen Mittelschicht auf das Proletariat als »infantile« und »stimmlose« Masse mit rassistischen Diskursen. Afroamerikaner sind demnach zweifach markiert: als »mob« und über ihre ethnische Identität. Die Bruderschaft reiht sich vor dem inneren Auge des Protagonisten in eine Tradition von Knechtschaften der »great white father[s]« (IM 473). Obwohl Invisible Man mit der Repräsentation der sozialen »Kerkeranlagen« Topoi des modernen Romans aufruft, welche sich verstärkt mit der

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Verschaltung und dem Verschwinden des Subjekts befasst,26 so sind diese nicht von der blackness des Phantoms losgelöst. Vielmehr ist die afroamerikanische Erfahrung im Narrativ Teil der westlichen Moderne und stellt sich gegen die Vereinnahmung der schwarzen Gefangenschaft als pars pro toto eines allgemeinen Autonomieverlusts des westlichen modernen Subjekts. Invisible Man erzählt die schwarze Gefangenschaft als Konsequenz einer normativen ›weißen‹ Moderne: »They were very much the same, each attempting to force his picture of reality upon me and neither giving a hoot in hell for how things looked to me. I was simply materialism a natural resource to be used.« (IM 508) 27 Der Protagonist entscheidet sich dafür, bei der Bruderschaft zu bleiben und diese von innen heraus, über eine hyperreale Darstellung seiner zugeschriebenen Identität, zu zersetzen: »I’d overcome them with yeses, undermine them with grins, I’d agree them to death and destruction. Yes, and I’d let them swoller me until they vomited or bust wide open.« (IM 508) Doch das Bedürfnis nach Rache schlägt bald in die Einsicht der Ausweglosigkeit um. Er wird sich der Tragik eines ziellosen Kampfes bewusst. Er erkennt, dass ihm Institutionen der Fürsprache, Netzwerke und großen Ideologien fehlen, auf die sich die Revolution langfristig stützen könnte (IM 510-511). In der Aufzählung der diskursbildenden Instanzen wird deutlich, wie sehr sich die weiße hegemoniale Ordnung nicht nur über den rassistischen Blick, sondern über alle modernen Institutionen des öffentlichen und politischen Lebens konstituiert, von den Kommunikationsmedien, der Wirtschaft, den Gewerkschaften bis hin zur Bildungselite.28 Welchen Weg sollte man angesichts der weitreichenden strukturellen Unterdrückung einschlagen? Die Figur, die einen Weg außerhalb der weißen Domination sucht, ist »Ras the Distorter«, eine aggressive Figur, die im Roman die separationisti_______ 26

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Robert C. Bone hat darauf hingewiesen, dass Invisible Man über den Erfahrungsraum afroamerikanischer Identitäten hinaus die Gefangenschaft des modernen Menschen im Maschinenzeitalter ausstellt (1965, 20). Der weiße Blick auf die afroamerikanische Kultur wird in der Beerdigungsrede für Bruder Clifton zusammengefasst: »Race: colored! Religion: unknown, probably born Baptist. Place of birth: U.S. Some southern town. Next of kin: unknown. Address: unknown. Occupation: unemployed.« (IM 458). In ihrer Aufsatzsammlung Playing in the Dark: Whiteness and the Literary Criticism argumentiert Toni Morrison, dass die Ursachen der Vorstellung einer rassischen Binarität auf einer Angst vor der identitären Verschmelzung liegen: »[T]he fear of merging, or loss of identity through synergistic union with the other, lead to the wish to use racial purification as a separating strategy against difference.« (Morrison 1992, 67) In diesem Sinne bemerkt der unsichtbare Mann in der Rahmenhandlung: »I didn’t understand in those pre-invisible days that their hate, and mine too, was charged with fear.« (IM 37)

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schen Ideen auf Seiten der schwarzen Gemeinschaft verkörpert. Ras lehnt die Zusammenarbeit mit der Bruderschaft kategorisch ab und beschimpft den Erzähler als »Verräter« (IM 557). Die von ihm angeführte urbane Armee verkörpert auf gewisse Weise Marcus Garveys Organisation UNIA (Universal Negro Improvement Association) und dessen Politik der Rassentrennung. Zugleich sind mit der rasenden Wut die Aufstände in Harlem vor dem Zweiten Weltkrieg angesprochen. Die Mobilisierung der schwarzen Bevölkerung zugunsten eines spezifischen Programms, ob nun auf Seiten der Kommunisten oder der Black Power Bewegung, wird im Roman kritisch hinterfragt, denn Ras’ Politik bietet für den Protagonisten keinen alternativen Entwurf. Der unsichtbare Mann flieht vor der Gewalttätigkeit des schwarzen Robespierre, der wiederum in der Verfolgung seiner Ziele nicht vor Mord innerhalb der eigenen Gemeinschaft zurückschreckt.29 Die Wut Ras’ und seiner Gefolgsleute – die nicht so sehr als Personen, sondern vielmehr als Chiffre auftreten, als Verkörperung totalitärer Ideen – wird vom Erzähler als destruktiv abgelehnt: I looked at Ras on his horse and at their handful of guns and recognized the absurdity of the whole night and desire, fear, and hate, that had brought me here still running. (IM 559)

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Im Bild des berittenen gewaltbereiten Mob verweben sich Bilder des KuKlux-Klans mit der Ideologie der schwarzen Nationalisten. Die Hasstiraden der schwarzen Nationalisten stellen somit lediglich eine Verlängerung der Unmöglichkeit der individuellen Selbstbestimmung innerhalb einer übergeordneten Idee dar. Ellisons Roman hat in der Ablehnung ideologischer kollektiver Bewegungen große Ähnlichkeit mit der Literatur Camus’ und Semprúns. In der Figur des Ras entpuppt sich die Rede von der Selbstbefreiung der Afroamerikaner als ein gewaltverherrlichendes Dogma. Innerhalb einer als distinkt ethnisch markierten Gemeinschaft wird sein individueller Weg nicht akzeptiert. Dafür stehen auf der einen Seite Bledsoes assimilatorisches Dogma und Ras’ Rassenhass. In der Aufführung unmöglicher Orientierungspunkte zeigt sich die Nähe des Romans zum existentialistischen Programm, in dem das Sein des Menschen essentiell durch den Blick der Anderen bestimmt ist. Über die Frage nach der Existenz des Protagonisten, die gleich zu Beginn des Romans aufgeworfen wird, werden multiple Erfahrungen der Unterdrückung von außen und innerhalb der Gemeinschaft durchlaufen als auch miteinander verglichen. Ellison lässt Sartres eurozentrische Perspektive für die afroamerikanische Erfahrung arbeiten, denn die Frage der Existent ist an _______ 29

Hier nimmt der Roman das erklärte Ziel der Black Panther, eine Separation der Kulturen und die strikte Trennung von Weißen und Schwarzen vorweg.

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eine fundamentale Unsicherheit geknüpft, die durch die Zuschreibungen der rassistischen Gesellschaft verursacht wird. Jene wird im Roman gleichermaßen von den ehemaligen Sklavenhaltern, den weißen Mäzenen der Universität, der Bruderschaft als auch den schwarzen Nationalisten verkörpert. Erst in der Abgeschiedenheit des Kellerlochs begreift der Protagonist die bannenden Mechanismen und wird sich seiner blackness bewusst.

5.1.2 Prison heureuse: Freiheit des Bewusstseins Auf der Flucht vor Ras, dem Zerstörer, rutscht der Protagonist in ein Kellerloch, das den dialektischen Gegenentwurf zu den loci terribiles der intradiegetischen Erzählung darstellt. Ellison knüpft in der Darstellung des Kellers zugleich an den Topos der Höllenfahrt an. Dabei wird der Erzähler nicht etwa von Vergil, sondern der Musik Louis Armstrongs begleitet und liefert so eine subversive Adaption des abendländischen Topos der Katabase im Kontext afroamerikanischer Erfahrung.30 Im Kellerloch dissoziiert er zum ersten Mal die Dunkelheit von blackness und dekonstruiert so einen konstitutiven Zusammenhang des westlichen Diskurses der »Zivilisation«. Während die blackness im jeweiligen Kontext als fixe Identität von den jeweiligen Gruppen für das bannende Prinzip der Ethnie steht, beschreibt die Dunkelheit den Zustand der Unwissenheit, einen Zustand der Unsichtbarkeit sich selbst gegenüber: »Before that I lived in the darkness into which I was chased, but now I see. I’ve illuminated the blackness of my invisibility – and vice versa. And so I play the invisible music of my isolation.« (IM 13) Es ist nicht die Hautfarbe, sondern die »Epidermisierung des weißen Blicks« (Fanon 1980, 10), die Anerkennung der symbolischen Macht der Weißheit, die seine Unsichtbarkeit bestimmt. Der Untergrund wird zum Ort der Meditation über die Stationen der Gefangenschaft und ihrer Wärterfiguren: I lay prisoner of a group consisting of Jack and old Emerson and Bledsoe and Norton and Ras and the school superintendent and a number of others whom I failed to recognize, but all of whom had run me, who now pressed around me as I lay beside a river of black water, near where an armored bridge ached sharply away to where I could not see. And I was protesting their holding me and they were demanding that I return to them and were annoyed with my refusal. (IM 569, meine Herv.)

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Die »Katabase« im Roman wurde literaturhistorisch auf das Höhlengleichnis Platons, Dantes Inferno aus der Göttlichen Komödie (1472, Erstdruck) und Dostojewskis Notizen aus dem Untergrund (1864) zurückgeführt (vgl. u.a. Forrest 2004 und Selke 1970).

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Der Erzähler erwacht aus einem Zustand, in dem sein Blick verstellt war durch die Interessen anderer, in dem er ein Geworfener war, der sich den jeweiligen Spielregeln anzupassen suchte. Der Keller des Gebäudes steht symbolisch für die Unterdrückung afroamerikanischer Identität in den USA und die Frage der geistigen Befreiiung von der normativen weißen Ordnung. Die Sklaverei erscheint als verdrängtes Trauma der Nation und des Protagonisten: »rented strictly to whites, in a section of the basement that was shut off and forgotten during the nineteenth century, which I discovered when I was trying to escape in the night from Ras the Destroyer.« (IM 5f.) Im Abolitionismus des 19. Jahrhunderts ging es vorrangig darum, das Recht von Afroamerikanern auf Bildung und die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen durchzusetzen, doch dies war nicht gleichbedeutend damit, ihnen das Recht auf Selbstverwirklichung zuzugestehen. Die Anerkennung einer individuellen amerikanischen Identität wurde im 19. Jahrhundert besonders durch die Jim Crow Gesetze verdrängt.31 Mit dem Verweis auf die »section [...] shut off and forgotten during the nineteenth century« (IM 5) würdigt der Erzähler die vorangegangen Generationen. Die 1.369 Lichter, mit denen er das Kellerloch ausstattet, sind eine Maßnahme der Aufklärung und ein Schritt gegen das Vergessen. Am Ende leuchtet der Erzähler jene »dunkle Ecke« der Geschichte aus und entdeckt dabei seine eigene Identität. Das Licht verweist auf die aufklärerische Doxa, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und propagiert eine platonische Vision der Freiheit von der Illusion: »Nothing, storm or flood, must get in the way of our need for light and ever more and brighter light. The truth is the light and light is the truth. When I finish all four walls, then I’ll start on the floor.« (IM 7) Abgeschirmt von dem Blick des Anderen, in jenem vom Erzähler als »home« und »warm hole« (IM 6) beschriebenen, glücklichen Gefängnis, wird die Freiheit nicht in Gemeinschaft, sondern nur in Auseinandersetzung mit ihr und in Distanz zu ihr gewonnen. Die Antwort auf den Ruf nach Freiheit liegt schlussendlich nicht in einem teleologischen Narrativ, sondern der kontinuierlichen Befragung von grand histoires über die Position des Außenseiters. Der Erzähler wirbt für die Vielfalt, die sich aus Individuen zusammensetzt: Whence all this passion toward conformity anyway? – diversity is the word. Let man keep his many parts and you’ll have no tyrant states. [...] America is woven

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Im Roman wird die anhaltende Diskriminierung der Afroamerikaner nach 1870 durch die Figur des Bruders Tarp verkörpert. Dieser trug 19 Jahre lang eine Fußkette und zieht im Roman, in Erinnerung an die Gefangenschaft, noch immer ein Bein hinterher. Die Erfahrung der Gewalt ist dem Körper eingeschrieben und wird mit dem hinkenden Bein immer wieder als performativer Akt des Traumas und der Erinnerung hervorgebracht.

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of many strands. [...] Our fate is to become one, and yet many – this is not prophecy, but description. (IM 577)

Invisible Man fordert die Loslösung von Kategorien der Ethnie und Klasse, um sich im Umkehrschluss völlig der Nation zu verschreiben und einen Platz innerhalb hegemonialer Vorstellungen der amerikanischen Identität als auch ihrer Möglichkeiten der Ermächtigung zu beanspruchen. Im Gegensatz zu späteren Definition von Hybridität, die sich eher postnational verorten32, wird in Invisible Man die Diversität innerhalb des nationalen Rahmens propagiert. Die Freiheit – verstanden als ein selbstbestimmter Identitätsentwurf für Afroamerikaner – lässt sich nur innerhalb der nationalen Grenzen und als Teil des nationalen Mythos finden. Die Diversität Amerikas ist, so macht der Erzähler klar, kein in die Zukunft gerichtetes Projekt, sondern eine Realität und die Verpflichtung zur Humanität, die es anzuerkennen gilt.33 Der unsichtbare Mann plädiert für eine individuelle Identität, die ein historisch geprägtes Othering von Afroamerikanern in Erinnerung halten muss und dabei selbstbewußt die nationale Zugehörigkeit ausruft.34 Es gibt kein Zurück hinter den Schmerz, keine Möglichkeit der Wiederbelebung einer originären und mythischen afrikanischen Identität. Die Freiheit für Afroamerikaner ist an ihre spezifisch U.S.-amerikanische Identität gebunden. Diese Perspektive, die von Houston A. Baker Jr. nicht ohne Berechtigung als komplizitär zur imperialen Moderne und dem amerikanischen Exzeptionalismus gewertet wird (2007, 156), basiert auf der grundsätzlichen Verletzlichkeit des Körpers. _______ 32

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Der in Guyana geborene und in England lebende Kulturwissenschaftler Paul Gilroy hat über den Begriff des »schwarzen Atlantik« (1993) Kultur als Bewegungsraum definiert, die sich aus verschiedenen Erfahrungen, Themen und Ästhetiken speist, die die Auffassung von klaren ethnischen Zuschreibungen und nationalen Grenzen transzendiert und dabei etwas Neues schafft. Gilroy eruiert die Vorstellung der Moderne als einer in westlichen Nationalkulturen und ihren Ästhetiken verankerten Dynamik zugunsten der Einflusssphäre diasporischer Kulturen und ihrer Wirkkraft in der kulturellen Entwicklung Europas und der Amerikas. Der über Sprach- und Nationalgrenzen definierte Kulturbegriff der Moderne bekommt eine offene Definition und wird von Ethnizität, Nation und Territorium gelöst. Ralph Ellisons Roman ist nicht so sehr als Beispiel für die von Gilroy propagierte Gegenmoderne und den Begriff der Diaspora zu verstehen, dennoch wird die Fixierung auf die Ethnie in der Kulturschreibung eines spezifisch »modernen« Kanons problematisiert. Der Autor selbst ermahnte die amerikanischen Schriftsteller: »Those who stereotype or ignore the Negro and other minorities in the final analysis stereotype and distort their own humanity.« (Ellison 1995a, 44) Im Interview »The Art of Fiction« beschrieb Ellison die Nation als Produkt der Sklaverei: »The history of the American Negro is a most intimate part of American history. Through the very process of slavery came the building of the United States.« (1995c, 172)

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Am Ende steht ein Erzähler, der für sich selbst Individualität einfordert, der sich in der Isolation vom Blick der anderen freimacht und dennoch – wie sich auch im Erzählermodus zeigt – im Zustand des Limbo verhaftet bleibt. Er ist noch nicht aufgestiegen, er hat das Loch noch nicht verlassen. Entgegen des Vorwurfs, hier zeige sich eine eskapistische Haltung, ist der Winterschlaf des Erzählers eher ein notwendiges Innehalten, eine gezielte Strategie der Sichtbarmachung: »A hibernation is a covert preparation for a more overt action.« (IM 13) Der erste Schritt dazu ist getan. Der Erzähler hat seine Geschichte festgehalten und damit auch seine neue Identität als Chronist und Fabulator bestimmt. Die Isolation ist schlussendlich die Begründungsmöglichkeit für die Geburt des Künstlers. In der Narration liegt die Chance für den »Substanzlosen«, sich selbst Gestalt zu geben, sich quasi ins/als Leben zu schreiben.35 Zugleich wird er zum Sprachrohr für andere: Being invisible and without substance, a disembodied voice, as it were, what else could I do? What else but try to tell you what was really happening when your eyes were looking through? And this is which frightens me: Who knows but that, on the lower frequencies, I speak for you? (IM 581)36

Die Fürsprache ist ein Zustand, den der Erzähler mit Schrecken wahrnimmt: »And this is which frightens me: Who knows but that, on the lower frequencies, I speak for you?« (IM 581) Der Geschichtenerzähler ist die Stimme von vielen: er manipuliert, er lenkt, er urteilt und macht sich so zum Repräsentanten einer spezifischen Erfahrung. Der Erzähler weist darauf hin, dass der Bericht des unsichtbaren Mannes nicht als Handlungsanweisung ausgelegt werden darf. So wie die Bruderschaft oder die natio_______ 35

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In diesem Sinne ist auch die Namenlosigkeit des Protagonisten als historisierende und subversive Geste zu verstehen. Sie deutet in ihrer Polyvalenz zum einen auf die gewaltsame »Ent-Individualisierung« vieler Sklaven im Süden und ihre kontinuierliche Diskriminierung im urbanen Kontext. Die Figur widersetzt sich dem fremdbestimmten »Naming« und bietet über ihre Anonymität zugleich eine größere Identifikationsmöglichkeit für den Leser. Harold Bloom hat diesbezüglich die »Botschaft« des Romans mit Emersons Konzept des »Representative Man« gleichgesetzt: »The narrator, though, is finally the only authentic American, black or white, because he follows the American Religion, which is Emersonian Self-Reliance. He insists upon himself, refuses to go on imitating his false fathers, and evades both Rinehart and Ras. True, he is the Emersonian driven underground, but he will emerge more Emersonian than ever, insisting that he has become the Representative Man: Who knows but that, on the lower frequencies, I speak for you?« (Bloom 2009, 5) Doch jene Nobilitierung und Zuordnung zu einem weißen Kanon wird vom Roman selbst hinterfragt. Wie konnte Bloom die Figur des Anwalts Emerson, der klar als weiterer »Master« kodiert ist, übersehen? Besonders die American Renaissance hat die schwarze Lebenswelt stark ausgeblendet und im Falle von Ralph Waldo Emerson zugunsten einer a-historischen, zukunftsgewandten amerikanischen Identität geopfert (Banerjee 2008).

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nalistischen Gruppen auf Geschichten zurückgreifen, um ihre Anhänger zu gewinnen, so versucht die Literatur den Leser/die Leserin zu überzeugen. Doch aus der Literatur lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen ableiten. Sie bleibt eine offene Struktur und nur als solche gilt sie als Vorbild. Zugleich liegt die große Errungenschaft des Romans darin, die Funktionalität von alltäglichen Disziplinarinstitutionen und ihre Mechanismen der Unterdrückung im Kontext afroamerikanischer Erfahrungen aufzuzeigen und damit über seine Zeit hinauszuweisen. Fernsehserien wie The Wire (2002-2008) bezeugen die Permanenz der den Institutionen zugrundeliegenden verschwindenmachenden Verfahren für das 21. Jahrhundert.

5.2 Gefangenschaft als Spiel Während der Roman der Moderne die räumlichen Ordnungen der industriellen Stadt reflektiert (Mohl 1985, 36)37, vermisst die Serie The Wire den postindustriellen Raum einer vergessenen und vom metropolischen Mythos New Yorks verdrängten Stadt des amerikanischen Rust Belt. Baltimore in Maryland, rückt ins Zentrum des Geschehens. Sie ist nicht mehr nur Schauplatz sozialer Interaktion, sondern wird selbst zum Gegensstand und Stoff der Erzählung (Clandfield 2009, 41). Bekannt als vormals bedeutender Industriestandort an der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden der USA, ist Baltimore heute durch eine hohe Arbeitslosenquote, steigende Kriminalitätsrate und eine schrumpfende Bevölkerung gekennzeichnet. In der Serie wird sie als komplexer Handlungsraum und Einflussgebiet finanzkapitalistischer Begierden präsentiert, als bannende Struktur, die der Gefangenschaft des schwarzen Subproletariats vor- und nachgelagert ist.38 Anders als in den naturalistischen Texten vom Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (z.B. in Stephen Cranes Maggie, A Girl from the Street oder Upton Sinclairs The Jungle), wird die Stadt nicht mehr als Milieu, sondern als quasi natürliche Umwelt erzählt. Ihre Topographien und Akteure bilden das Netzwerk von Unmöglichkeiten und Möglichkeiten, von bannenden und subversiven Strukturen, Stasis und Mobilität. Damit einher geht auch eine Krise des realistischen Erzählens, die Selbstref_______ 37

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Der Aufstieg des modernen Romans ist mit der Urbanisierung und der Entwicklung der Printmedien verknüpft. In gleichem Maße scheint das moderne Fernsehen, in Inhalt und Form, von der Veränderung des urbanen Raums beieinflusst. Nach David Simon sollte die Serie nicht explizit von der schwarzen urbanen Bevölkerung handeln. Da jedoch vorrangig schwarze Bürger von den Auswirkungen der Sicherheitspolitik und den urbanen Reformprozesen betroffen sind, gehören sie zur am häufigsten dargestellten Gruppe in der Serie (2006).

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lexivität von Medien und die Ausstellung des urbanen Raums als Ort des Verfalls und der Kontingenz. Die Serie The Wire besticht durch ihr explizites Lokalkolorit, andererseits werden die behandelten Themen, Akteure und sozialen Konfliktfelder als exemplarisch für die Entwicklung postindustrieller Städte in den USA beschrieben. Der Erfinder der Serie David Simon betont: [O]ur expectation has always been that viewers encounter the tragedy of the West Baltimore drug trade, or the decline of great industries, and they realize that it is much the same in East St. Louis, North Philadelphia, and South Chicago. (2009, 30)39

Bei der Serie handelt es sich laut Lars Koch essentiell um »Selbstbeschreibungen der Gesellschaft« (2014, 22).40 Muster der nationalen Psyche werden hier in Szene gesetzt und in ihrer institutionellen und ideologischen Verhaftung ausgestellt. Ebenso wie in Ellisons Roman wird die Funktionalität verschiedener Institutionen, ihre Machteffekte und Mechanismen der Unterdrückung ausgestellt. Während bei Ellison die Unsichtbarkeit und das ›Spiel‹ vor allem auf Parametern ethnischer Zuschreibung beruhen, verhandelt The Wire eher ökonomische Faktoren und betrachtet nicht zuletzt die Selbstausbeutung der schwarzen Gemeinschaft in den Ghettos Baltimores. Diese Entwicklungen können gleichwohl nur im Licht postindustrieller, finanzkapitalistischer und medialer Prozesse verstanden werden. In diesem Sinne – aber nicht als Überwindung der ethnischen Zuschreibungen und ihrer strukturellen Verfasstheit – ist die Serie »post-racial« (Jameson 2010, 370, Eschkötter 2012, 34).41 The Wire macht die Schattenseiten der Globalisierung und des Finanzkapitalismus – abseits glamouröser Bilder urbaner Vielfalt und der Glorifizierung der amerikanischen Metropolen – sichtbar und hat damit vor al_______

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Auch in Bezug auf die Darstellungsweise wurde ihr »universalisierender Gestus« betont: ihr »systemische[r] Blick« auf die Stadt, ihre »Makroökonomie«, die Vermittlung der »Dysfunktion der städtischen Institutionen« und der »Krieg gegen die Unterschicht« (Eschkötter 2012, 14). Christopher Bigsy hat in seiner Monographie Viewing America: TwentyFirst Century Television Drama (2013) allgemein auf die Bedeutung aktueller Blockbuster TV-Serien für die kulturellen und sozialen Selbstbeschreibungen der amerikanischen Gesellschaft hingewiesen. Seine Analysen beziehen sich auf die Sporanos, The Wire, House, Breaking Bad, Mad Men, Battlestar Gallactica, The West Wing, Friday Nights Light, Difficult Man. Nach Daniel Eschkötter »löst [The Wire] die einfachen ethnischen Zuschreibungen und Zugehörigkeiten völlig auf, ist in ihrer Anlage geradezu post-racial: Weniger thematisiert sie Rassismus direkt, vielmehr führt er seine institutionellen Effekte vor, führt immer mit, wie sehr Rassismus strukturell überall tief verankert und eine Matrix der sozialen Zustände ist, die sich aber stärker noch als Klassendifferenzen zeigen und analysieren lassen.« (Eschkötter 2012, 34)

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lem die Kritiker begeistert. Ein Fernsehpreis wie der Emmy oder Golden Globe blieb der Serie verwehrt. Dennoch ist sie zum Kult aufgestiegen und wurde nicht zuletzt vom amerikanischen und europäischen Feuilleton zur »besten Serie der Welt« erklärt (vgl. Jensen 2008, Nicodemus 2006). Nach dem Time Magazine Kritiker Joe Klein zu urteilen, hätte die Serie gar den Nobel Preis für Literatur verdient (zit. nach The Wire Odyssey 2007). Schriftsteller wie Stephen King und Nick Hornby loben die Serie öffentlich und Irvine Welsh stellt fest: »It’s the best thing on TV. By far.« (2008) 42 Neben der ungewöhnlichen Präsentation des urbanen Raums, weicht sie auch von den gängigen Genrekonventionen der Polizei-Serie, einer im manichäischen Weltbild verhafteten Figurenkonstellation und einem geschlossenen Handlungsverlauf ab (vgl. CSI-Miami, CSI-New York etc., Navy CSI). In dieser Hinsicht folgt sie anderen Dramaserien des Senders HBO, speziell der Gefängnisserie Oz (1997-2003) oder der ebenso von David Simon und Ed Burns entwickelte Miniserie The Corner (2000). Sie lässt sich schon deswegen nicht als reine Polizei-Serie fassen, weil die Kriminalität lediglich eine systemische Komponente des Stadtgeschehens darstellt. Daniel Eschkötter sieht diesbezüglich die einzelnen Episoden als »Teleplays, die gesättigt sind mit Stadt- und Alltagsgeschichte, Berufs-, Lebens-, Baltimore-Erfahrungen, Anekdoten und einem gleichermaßen präzise konstruierten wie virtuos abgelauschten Sprechen der Straße und der Insti_______ 42

Obwohl die Serie im Mainstream wenig Beachtung fand, hat sie besonders als Lehrbeispiel an Soziologieinstituten und in den Kulturwissenschaften einen kritischen Diskurs zu den Lebenswelten der amerikanischen Großstädte und ihrer sozialen Konflikte entfacht. An der Nobilitierung der Serie waren nicht zuletzt das enfant terrible der Philosophie, der slowenische Kritiker Slavoj Žižek (2012) und der deutsche Kultursoziologe und Medientheoretiker Daniel Eschkötter (2012), beteiligt. Ähnlich wie The Sopranos (1999-2007) und 24 (2001-2010, 2014) hat sich The Wire innerhalb kürzester Zeit zum attraktiven Gegenstand wissenschaftlicher Analyse entwickelt, vgl. Kelleter 2014, Ahrens et al. 2014, Vint 2013, Bzdak/ Vannatta/Crosby 2013, Eschkötter 2012, Shapiro/Kennedy 2012, Beilensen/McGuire 2012, Busfield/Owen 2009, Potter/Marshall 2009b, Alvarez/Simon 2009, McMillan 2008, Wartenberg 2008, Alvarez 2004. Darüber hinaus haben kleinere Workshops zur Popularität der Serie in den USA und in Europa, vor allem in Deutschland, beigetragen. So fand z.B. vom 1. bis 2. November 2013 an der Universität Zürich unter der Leitung Daniel Eschkötters und dem Englischen Seminar ein Doktorandenkolloquium mit dem Titel »Theorising The Wire: Crime, Culture, Seriality« statt. In Leeds diskutierten unter der Schirmherrschaft des ESRC (Center for Research on Socio-Cultural Change) über 100 Akademiker aus den Bereichen Soziologie, Geschichte, Kriminologie, Rechtswissenschaften und Kulturwissenschaften (»The Wire as Social Science Fiction?«, 26. bis 27. November 2009). Der Stadtsoziologie William Julius Wilson benutzt The Wire als Fallbeispiel für urbane Entwicklungen. Am Soziologie-Institut der University of York wird The Wire als Kurs angeboten.

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tutionen« (Eschkötter 2013, 10).43 Fredric Jameson, auf den Eschkötter sich bezieht, hatte den innovativen Gehalt der Serie bereits 2010 zusammengefasst: »At any rate, The Wire dramatically unsettles our typological expectations and habits by at once drawing us into an epistemological exploration that greatly transcends the usual whodunit formula.« (2010, 361)44 Jede Staffel fokussiert auf einen anderen Bereich des urbanen Lebens, einen Aspekt bzw. eine gewisse soziale Konstellation. Gleichzeitig werden über die Personen und Ereignisse Themencluster, Institutionen und Machtverhältnisse verwoben. In der ersten Staffel wird besonders der amerikanische ›Krieg gegen die Drogen‹ als Kampf gegen die schwarze Unterschicht ins Bild gesetzt. In der zweiten Staffel geht es um die Entwertung der Arbeit und speziell den Verrat an der amerikanischen Arbeiterklasse am Beispiel der Gewerkschaften. Die dritte Staffel thematisiert die politischen Kultur Baltimores, während die vierte Staffel die Möglichkeiten und Grenzen der städtischen (Sozial)Reformen beleuchtet. Die letzte Staffel steht im Zeichen der Mediengesellschaft und zeigt die Verbindungen von Medien, Stadtpolitik und Polizeiarbeit. Die einzelnen Staffeln werden zum einen über thematische foci verbunden, zum anderen über die individuellen Geschichten einzelner Akteure. Auch wenn sich die Besetzung durch eine starke Fluktuation auszeichnet, so stehen gewisse Charaktere im Vordergrund und fungieren als Scharniere für die einzelnen Episoden und Staffeln. Sie ließen sich nach bestimmten sozialen und funktionalen Gruppen kategorisieren, die hier eher als heuristische Ordnung fungiert und je nach Blickwinkel neu sortiert werden kann. Die Drogenbosse des Westens, Avon Barksdale mit seiner rechten Hand Stringer Bell und seinem Neffen D’Angelo sowie ab der dritten Staffel der Drogenboss Marlo Stanfield mit seinen beiden Gehilfen Felicia »Snoop« Pearson und Chris Partlow, stehen den Drogenbossen des Ostens, »Proposition« Joe und Frog, sowie deren Handlangern gegenüber. Zudem werden Trickster-Figuren eingeführt. Der nomadische, unabhängige Straßengangster Omar Little, der Junkie und Kleinkriminelle Bubbles, der Gewerkschaftsführer Frank Sobotka sowie der Ex-Sträfling und Boxer Cutty Wise unterlaufen, mehr oder weniger erfolgreich, das deterministische System. Auf der mittleren Stufe des Drogenhandels stehen die corner boys: hier _______ 43 44

Zur Machart der Serie vgl. Eschkötter 2012, 10-13 und Simon 2009, 30-32. Newman macht deutlich, dass es sich bei den einzelnen Episoden um »series-serial hybrids« handelt, um typische »ensemble dramas, and each episode has multiple, intertwined plots« (2010, 18). The Wire demontiert auf ästhetischer und inhaltlicher Ebene das klassische Melodrama und spielt zugleich mit dessen Konventionen, »to subvert the passive, satisfied viewing position typically established by the primetime social melodrama. In its place the series constructs an active, socially engaged viewer« (Klein 2009, 188).

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werden u.a. Malik »Poot« Carr, Preston »Bodie« Broadus, Wallace, Michael Lee und Duquan Weems hervorgehoben. Weitere mafiöse Strukturen werden durch den Connect, den Griechen Spiros Vondas (griechische Mafia), verkörpert. Auf der Seite der Polizei erzählt The Wire die Geschichte der Mordkommissare Jimmy McNulty, Bunck Moreland, Lester Freamon, Cedric Daniels, Kima Greggs und den für den westlichen Distrikt verantwortlichen Major Howard »Bunny« Colvin. Hinzu kommen die Staatsanwältin Rhonda Pearlman und der Pflichtverteidiger Maurice Levy. Die Stadtverwaltung wird über die Karriere des Bürgermeisters Tommy Carcetti und seiner Entourage ins Visier genommen. The Wire präsentiert dabei kein manichäisches Weltbild von den guten Polizisten und den amoralischen Gangstern. Eben jene binären Setzungen löst die Serie auf und präsentiert Vertreter der jeweiligen Institutionen, die in ihrer Komplexität und im Austausch mit den anderen sozialen Akteuren beleuchtet werden. Der urbane Raum bildet eine soziale und ökonomische Struktur, über deren räumliche Divisionen bestimmte soziale Phantom-Positionen (re)produziert werden. Die Gefangenschaft ist in der Serie strukturell angelegt und über verschiedene Institutionen verdichtet bzw. artikuliert: das Ghetto (erste Staffel), das Gefängnis (erste und dritte Staffel), die Reformprojekte (dritte und vierte Staffel) und nicht zuletzt die Medien (fünfte Staffel). Die Serie hebt nicht nur ihre Präsenz und Wirkungsweise hervor, sondern auch ihre Wechselbeziehungen. Alle Handlunsgfelder und Interaktionsmöglichkeiten der Figuren sind durch das Spiel, dem innerem Funktionsprinzip einer gebannten Mobilität, geprägt.

5.2.1 Das Spiel als bannende Struktur Anders als bei Ellison ist im konstanten Verweis auf das Spiel in The Wire nicht mehr nur die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Afroamerikaner innerhalb der weißen ›Herren-Gesellschaft‹ gemeint. Der Rat des Tierarztes an den namenlosen Erzähler in Invisible Man bezog sich vor allem auf die »doppelte Wahrnehmung« der Afroamerikaner im Kontext ethnischer Diskurse und die Proklamation eines selbstbewussten, strategischen Umgangs mit der sozialen Unsichtbarkeit: »Play the game, but play it your own way – part of the time at least. Play the game, but raise the ante, my boy. Learn how it operates, learn how you operate.« (IM 153-154, Herv. i.O.) Der rassistische Diskurs bildet in The Wire nur eine Sektion des täglichen »play, or get played«. Das Spiel ist als ein umfassendes (durch Gewalt gekennzeichnetes) soziokulturelles System der Abhängigkeit zu verstehen, das besonders über die mikroökonomischen Strukturen des Drogenhandels und seiner Akteure beschrieben wird. Es basiert auf einem durch Unterdrückung aufrecht gehaltenen, oftmals willkürlichen Regelwerk, das sowohl über externe als auch interne Faktoren, extrinsische und intrinsische

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Motivation beeinflusst wird, dessen prinzipielle Logik aber auf dem amerikanischen Traum beruht. David Simon argumentiert, dass die Serie die zwei konkurrierenden amerikanischen Mythen in Frage stellt: die Erfolgsgeschichte des cleveren ausgebufften self-made-millionaire und die Vorstellung, dass sich harte Arbeit zwangsläufig bezahlt machen wird (2004, 5).45 Grundsätzlich hat jeder ein Recht und die Chance den amerikanischen Traum zu leben – so das nationale Heilsversprechen. Dabei kontrastiert die Serie die harsche Realität mit der Strahlkraft des Mythos. In der ersten Episode der Serie wird ein junger Mann erschossen auf der Straße aufgefunden. Der Kommissar Jimmy McNulty spricht vor Ort mit einem potentiellen Augenzeugen. Dieser teilt ihm mit, dass das Opfer, »Snot Boogie«, beim Würfelspiel immer wieder das Geld der anderen Mitspieler stahl und dafür verprügelt wurde. Auf McNulty’s Frage hin, warum man ihn immer wieder mitspielen ließ, erwidert der Zeuge: »Got to, this’ America man.« (1.1./02:41-02:43) Die Illusion einer prinzipiellen Berechtigung mitzuspielen, wird immer wieder durch die Realitäten der sozioökonomischen Bedingungen und der daraus resultierenden Gewalt eingeholt. Das Spiel beruht innerhalb des Ghettos auf Idealen der toughness, einem androzentrischen Weltbild, einer relativ starren sozialen Hierarchie und vor allem auf der Bewegung des Geldes.46 Es ist eine vom Mythos durchwirkte, ordnende und ordnungsschaffende Struktur. Die mythische Grundformel, die die Serie ausmacht, ist im täglichen Leben der Protagonisten präsent, verdichtet sich jedoch in der immer wieder beschworenen Formel »The game is the game« – die in verschiedenen Schlüsselszenen ihren inneren Mechanismus freilegt. In der letzten Staffel, zweite Episode, besucht Marlo, der steigende Stern am westlichen Drogenhimmel, Avon Barksdale, den kalt gestellten Drogenboss, im Gefängnis. Da Barksdale seine Strafe absitzen muss, will er zumindest mit Marlo einen Deal abschließen, der ihn finanziell absichert und über den er weiterhin im und außerhalb des Gefängnisses seine Geschäfte betreiben kann. Er bietet dem Emporkömmling an, seinen Verbindung zum wichtigsten Lieferanten, dem »Griechen«, zu übernehmen, und erinnert den jungen Gegenspieler gleichzeitig daran, dass er immer noch eine Autoritätsfigur ist. Marlo, _______ 45 46

Vgl. auch Marshall/Potter 2009a, 1-14. In Bezug auf das Spiel lassen sich in The Wire auch Aspekte des PimpNarrativs erkennen. Iceberg Slim hat mit Pimp: The Story of My Life (1967) die schwarze Mafia als eine Welt der Spieler, der Drogen und der Prostitution beschrieben, die vor allem eine Re-Versklavung der schwarzen Frauen durch den pimp zur Folge hatte (Franklin 1978, xvii; dazu auch Milner/Milner 1973). Eine ähnlich marginale Rolle nehmen die Frauen des schwarzen Ghettos in The Wire ein. Auch Stringer Bell und Avon Barksdale, der einen Stripklub führt, betrachten Frauen vorrangig als Sexualobjekte.

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der verstanden hat, dass er Barksdale zumindest als Türöffner für den Drogenhandel im westlichen Distrikt und als Bollwerk gegen »Proposition« Joe, den Drogenboss im Osten, benötigt, ist einverstanden und benutzt dafür den bekannten Code: »The game is the game«. Daraufhin erwidert Barksdale: »Always.« (5.2./30:31-30:32) Das Spiel wird im Sprechakt zur Realität und bildet durch seine gleichzeitige Offenheit – die jeweils vom Gegenüber interpretiert werden muss – die Wahrheit der Serie. Die fundamentale Ambivalenz, in der die Botschaft vom Sender als auch Rezipienten gleichermaßen bestimmt wird, kann aber auch zum widerständigen Moment gerieren. Marlo spielt das Spiel nach eigenen Regeln, Barksdale kann sich nicht sicher sein, ob er den Deal nicht zu seinen eigenen Gunsten und gegen ihn verwenden wird. Die Offenheit ist Teil des Spiels und wird im Besonderen von »Figuren der Störung« (Koch 2014, 2940), wie Stringer Bell, Cutty, Bubbles und Omar, verkörpert. Omar Little, der unabhängige Gangster und die Trickster-Figur der Serie, raubt in der letzten Szene der ersten Staffel unter Vortäuschung falscher Tatsachen einen weißen New Yorker Drogendealer aus. Dem verdutzten Gegenüber bleibt nur zu akzeptieren: »All in the game, yo. All in the game.« (1.13./1:04:07-1:04:13) Die Maskierung gehört dabei immer mit zum Spiel, es gilt, die Deckung aufrecht zu halten bis sich ein günstiger Moment ergibt, in dem der Gegner verwundbar ist. Omar Little, dessen Name nicht zuletzt eine Anspielung auf Malcolm X (geboren Malcolm Little) ist, legt die Paradoxien des Spiels über seine parasitäre Existenz frei. Er stiehlt Geld und Drogen von Barksdale und Stanfield. Er arbeitet als Informant für die Polizei und prangert zugleich deren Korruption an. In der zweiten Staffel soll Omar im Gericht als Zeuge gegen einen Killer der Barksdale-Gang aussagen und wird von dessen Anwalt ins Kreuzverhör genommen: Levy: You are amoral, are you not? You are feeding off the violence and the despair of the drug trade. You are stealing from those who themselves are stealing the lifeblood from our47 city. You are a parasite who leaches off the culture of drugs ... Omar (interrupting): Just like you, man. Levy: Excuse me? Omar: I got the shotgun, you got the briefcase. It's all in the game though, right? (2.6./14:08-14:34)

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In dem Moment, da Levy »our« sagt, zeigt er auf sich selbst und meint damit die weiße Mehrheitsgesellschaft. Hier wird impliziert, dass Omar die »weiße« Stadt zerstört. Der manichäische Dualismus von schwarzem Subproletariat und weißer Mittelschicht wird damit erneut sichtbar gemacht.

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Omars ironischer Kommentar bezieht sich auf die Möglichkeiten des Spiels, auf unterschiedlichem (aber immer moralisch fragwürdigem) Weg an Geld und Erfolg zu gelangen. Zugleich macht Omar deutlich, dass das Spiel nicht nur auf das schwarze Ghetto und die Drogendealer bezogen ist, sondern an das Begehren Einzelner und die Institutionen, die sie verkörpern, gebunden ist. Dies gilt auch für den Anwalt Levy, der für die Drogenbosse der Stadt arbeitet, zunächst für Barksdale und später für Marlo. Dabei verkauft er immer wieder wichtige Informationen an Außenstehende und hat ein dichtes Netz an Informanten im Gericht und auf der Straße aufgebaut. Levys scheinheiliger Kommentar, Omar sei »a-moralisch«, entlarvt nicht zuletzt das juridische System und den rassistischen Unterton im ›Krieg gegen die Drogen‹, der sich hier als Krieg gegen die schwarze Unterschicht zeigt. Die Vorwürfe des weißen Anwalts erfüllen die Erwartung der Gesellschaft, er präsentiert Omar als den prototypischen Gangster Baltimores: schwarz, jung, männlich, skrupellos. Dabei ist Omar Little, neben Cutty und Bubbles, einer der Akteure, die einen alternativen moralischen Code verkörpern. Noch während des Verhörs erklärt er: »Look, I ain't never put my gun to no citizen.« (2.6./14:0614:07) Omar versteht sich als ein moderner »Robin Hood«, er mag unberechenbar sein, aber er ergreift nicht Partei, sondern zersetzt beide Institutionen – die Polizei und das Drogenkartell – von innen heraus und folgt dabei seinen eigenen Regeln. Auch wenn er den Fluss des Geldes genauestens verfolgt, ist er nicht im gleichen Maße wie die anderen vom Geld affiziert. Omar ist ein con-man, dessen Handlung den Regeln des Spiels nicht von außen entgegenwirkt, sondern sie von innen dekonstruiert. Über seine Raubzüge hinaus, das Überleben auf der Straße, hat er keine Ambitionen und unterläuft dadurch das kapitalistische Prinzip des Spiels. Omar desavouriert nicht nur die sozialen Regeln und den auf pseudoheroischen Mustern basierenden Ehrenkodex des Spiels, sondern liegt auch quer der heteronormativen Matrix der schwarzen Ghettokultur. Die herrschenden Männlichkeitsbilder innerhalb des schwarzen Subproletariats tragen nicht zuletzt dazu bei, die Ausbeutungsmechanismen zu erhalten. Als homosexueller Gangster widersetzt sich Omar diesem Schema zu einem gewissen Grad. Er zeichnet sich durch die Loyalität gegenüber seinen Liebhabern Brandon, Dante und Renaldo aus und wird erst zur rächenden, blinden Gewalt, als Marlo in der vierten Staffel seinen besten Freund Butchie foltern und ermorden lässt. Fortan gefährdet Omars Rachsucht (bei jedem Überfall ruft er lauft Marlos Namen) das Spiel. Er ist nicht länger tragfähig für ein System, das sich den Hofnarren bzw. die Störung als autopoetisches Element leisten kann, jedoch nicht dessen Sichtbarkeit. Es gehört daher auch zur Ironie der täglichen Gewalt, dass Omar von Kenyard, einem kleinen Jungen der nächsten corner boy Generation, in einem

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Eckladen erschossen wird. Dieser hatte noch in der dritten Staffel die urbane Legende Omar bewundert und seine Raubzüge imitiert. In den letzten Einstellungen der Serie wird das Spiel als übergeordnete Konstante des komplexen sozialen Lebens noch einmal montagehaft verdichtet. Wir sehen den Polizisten Jimmy McNulty, der auf die Skyline von Baltimore schaut. Im Vordergrund steht die Neubesetzungen der alten Charaktere: Dukie (für Bubbles), der mit einem anderen Lumpensammler Drogen konsumiert, Michael (für Omar Little), der einen Eckladen überfällt, Marlo, der das ›Spiel‹ vermisst und wider besseren Wissens (bei nochmaliger Straftat wird er lebenslang verhaftet) auf die Straße zurückkehrt, die Beförderung der korrupten Politiker (z.B. der Aufstieg Carcettis zum Gouverneur Marylands) und das Leben derer, die sich aus dem Spiel zurückziehen müssen (u.a. geht Lester Freeman in Rente). Jenes Lebensmosaik Baltimores stellt einen letzten flüchtigen Blick auf »the land of the free/And the home of the brave« dar. Das Versprechen der Freiheit wird als Kampf gegen die eigene Bevölkerung ausgestellt und zugleich im nostalgischen Blick des postmodernen Antihelden McNulty eingefangen. Es ertönt das letzte Mal der Titelsong der Serie, Tom Waits »Way Down in the Hole«: »Well you don't have to worry/if you hold on to Jesus hand/we'll all be safe from Satan/when the thunder rolls/just gotta help me keep the devil/way down in the hole«. Im Auto sitzt der (weiße) Obdachlose Larry, den McNulty auf die andere Seite bringen will – ganz so, als wolle er ihn dem urbanen Höllenloch entreißen, um zumindest eine Seele über den Acheron zu retten. Am Ende der Serie ist Omar tot, Barksdale im Gefängnis, Marlo von der Polizei überführt und durch einen Deal mit der Polizei vom Spiel ausgeschlossen. Das Spiel hat seine Opfer gefordert und scheint mit der Zeit zu gehen.48 Der soziale Apparat des Drogenhandels, seine Hierarchien und _______ 48

In einer der letzten Szenen der Serie, während einer Versammlung der sieben Drogenbosse Baltimores, bringt Melvin »Cheese« Wagstaff, der maßgeblich am Mordkomplott an seinem Onkel »Proposition Joe« beteiligt war und sich als dessen legitimer Nachfolger sieht, die Regeln des Spiels auf den Punkt: »There ain't no back in the day, nigga. Ain't no nostalgia to this shit here. There's just the street and the game and what happen here today.« (5.10./1:15:15-1:15:26) In diesem Moment wird der sonst so unsentimentale Handlungsverlauf durch einen loyalen Gefolgsmann des Onkels unterbrochen. Er erschießt Cheese mit den Worten: »That was for Joe.« Auch wenn die Rollen am Ende der Staffel fünf neu besetzt werden und es weitergeht, so zeichnet sich das Spiel für manche noch immer durch eine Ehren-Codex aus, der nicht unbedingt auf fair play, jedoch innerhalb der Organisationen auf Integrität und Loyalität basiert und damit auf ein älteres Verständnis von Familie, die das Ghetto der 1920er Jahre gekennzeichnet hatte, zurückgreift. Diese Tradition hielten Drogenbosse, wie der vernünftige »Proposition Joe« und Avon Barksdale aufrecht, auch

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Umgangsformen verändern sich im Laufe der Serie bezogen auf die verschiedenen Akteure. Dennoch bleiben die sozialen Hierarchien in ihren Anordnungen gleich: es gibt Gewinner und Verlierer sowie Figuren der Störung, die das Spiel als Wiederkehr des ewig Gleichen bestimmen als auch kritisch hinterfragen. Während eines Schachspiels zwischen D’Angelo und den jungen corner boys wird die soziale Determiniertheit noch einmal symbolisch vorgeführt: D’Angelo bereitet die Jungs anhand der Spielfiguren und möglicher Spielzüge auf die Spielregeln der Straße vor. Der junge Wallace will wissen, wie man König wird, doch D’Angelo macht klar, dass diese Position unveränderlich ist, lediglich die Bauern können sich in eine stärkere Figur verwandeln. Die Quintessenz des Spiels ist: »The king stay the king.« (1.3./13:28-13:32) Die Metapher vom König stellt nicht zuletzt den souveränen Kern des Spiels aus. Nur wenn die Würfel neu fallen und die Positionen durch einen Putsch oder Krieg neu besetzt werden, hat einer der anderen Drogenbosse die Chance, König zu werden und mit ihm sein Gefolge. Darin liegt das utopische Versprechen des Spiels. Die Szene illustriert zugleich die Determiniertheit der urbanen Umwelt, die gerade wegen ihrer utopischen Momente keinen Ausweg lässt: es muss einen König geben, die sozialen Hierarchien bleiben statisch. Das Spiel wirkt und konstituiert sich über verschiedene funktionale Räume und Technologien: das Ghetto, die Überwachung, das Gefängnis, den sozialen Wohnungsbau und die Medien, die wiederum einen Zusammenhang bilden.

5.2.2 Carceral Mash: Ghetto, Überwachung, Gefängnis, Reform

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Heute sind es vor allem die Großstädte der USA, die sich zu urbanen Zentren der Armut, der Kriminalität und der Abschottung entwickelt haben. Die Ursachen dieser Entwicklung liegen in der reziproken Dynamik einer afroamerikanischen städtischen Migration und dem Rückzug der weißen Mittelschicht in die Vororte, die sich in den 1950er Jahren konsolidierten.49 Die zunehmende Ethnisierung der urbanen Zentren führte zu einem »large-scale environmental class-subjugation and racism« (Wacquant 2001, 43), der sich im urbanen Imaginären und der medial inszenierten Wahrnehmung der Städte verfestigte. Baltimore wurde besonders in Bezug auf den Drogenhandel und die hohe Kriminalitätsrate als »toxic wasteland« _______

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wenn sie diese für ihre Zwecke missbrauchten. Zum Thema »Sentimentalism in The Wire« vgl. Jacobson 2014, 151-174. Zur Formierung der schwarzen Gemeinschaften im Zusammenhang mit der urbanen Entwicklung in den USA von 1720 bis 1990 vgl. Kusmer 1991b.

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beschrieben, als »hell-hole where all the damned (with plenty underclass racial coding thrown in) are properly confined« (Harvey 2000, 158).50 Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Stadt als Opfer der Kriminalität dargestellt wurde, gilt sie selbst heute als Quelle der Kriminalität: »Cities are blamed for providing a corrupting mixture of people and for facilitating the spread of demoralizing commodities like pornography and drugs. [...] The logic of media panics about crime points to the children of white suburban families as teh ideal-type victims.« (Simon 2001, 22) Setha Low hat diesbezüglich argumentiert, dass der Diskurs der »urbanen Angst«, der von den Medien befeuert wird, im Grunde andere Sorgen kodiert, die auf Parametern von Ethnie, Klasse und Geschlechterzugehörigkeit basieren. Jener Diskurs bietet »a verbal component that complements, even reinforces, the visual landscape of fear created by the walls, gates, and guards« (2001, 56). Der Erfahrungsraum des schwarzen Ghettos bildet über drei der fünf Staffeln den Knotenpunkt der Handlungsstränge und viele der Hauptakteure der Serie sind schwarz. Die Verelendung und Verrohung der schwarzen (und weißen) urbanen Unterschicht wird in der Serie als ein Produkt der weitreichenden »fortification« (Blakely/Snyder 1997, 1f.)51 der Gesellschaft ausgestellt. Damit beschreibt The Wire das Leben derer, die im neoliberalen Diskurs als »too many« wahrgenommen werden: »The Wire is most certainly not about what has been salvaged or exalted in America. It is, instead, about what we have left behind in our cities, and at what cost we have done so.« (Simon 2004, 8) Die Abschottung unerwünschter Gruppen verdichtet sich auf besondere Weise im Ghetto, einer, wie der Soziologe Loïc Wacquant erklärt, »double-edged sociospatial formation of exclusion and protection« (2001, 89).52 _______ 50

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In diesem Sinne wurde die Darstellung der Stadt in The Wire vom Schriftsteller Stephen King als infernalische Heimsuchung interpretiert: »In David Simon's version of Dante’s Inferno, Hell is played by Baltimore and all seven of the deadly sins are doing just fine, thanks.« (2007) Edward Blakely und Mary Gail Snyder haben die Gated Communities in den USA untersucht und kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: »In this era of dramatic demographic, economic and social change, there is a growing fear about the future of America. Many feel vulnerable, unsure of their place and the stability of their neighborhoods [...]. This is reflected in an increasing fear of crime that is unrelated to actual crime trends or locations, and in the growing numbers of methods used to control the physical environment for physical and economic security. The phenomenon of walled cities and gated communities is a dramatic manifestation of a new fortress mentality growing in America.« (1997, 1f.) Diese Dynamik wird in den 1960er Jahren mit den Rassenunruhen von New York, Philadelphia und Rochester 1964 und vor allem mit den Ausschreitungen im Watts Ghetto in Los Angeles sichtbar. Das schützende Ghetto der 1920er Jahre war nach dem Krieg einem Schmelztiegel der

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In The Wire wird das Ghetto als Teil des funktionalen Zusammenhangs der Unterdrückung des schwarzen Subproletariats präsentiert. Zum einen werden hier Subjekte der Ausgrenzung fabriziert, gleichzeitig ist der abgeschottete Raum das Produkt eines strukturellen Rassismus.53 Die »black city whithin the white« (du Bois, Frazier, Oliver Cox, Kenneth Clarke, zit. nach Wacquant 1998) ist durch bestimmte Straßenzüge, physische Markierungen sowie durch die Überwachung definierten Raumgrenzen markiert, die einen direkten Einfluss auf die ethnische Homogenisierung des Raums haben. Mike Davis hatte Anfang der 1990er Jahre für postindustrielle Städte wie Los Angeles eine »militarization of urban space« beobachtet (Davis 1990, 223-263), die in The Wire bereits den Status quo darstellt bzw. durch digitale Technologien des gegenseitigen Monitorings verschärft wird. Die Überwachung bestimmt die Bewegung und Handlung der Akteure und die Ästhetik der Serie. Sie wird als kulturelle Dominante ausgestellt und als solche über »operative Bilder« in Szene gesetzt (Eschkötter 2012, 31). Dabei verkompliziert The Wire bewusst postmoderne Überwachungstheorien der Entgrenzung. Denn während der Aspekt der Überwachung im öffentlichen und privaten Raum für das späte 20. Jahrhundert immer mehr an Relevanz für die Sozialkybernetik gewann, geriet der physische Arrest rebellischer Subjekte, befördert durch einen postmodernen Theoriediskurs, zunehmend aus dem Blick. Die Serie zeigt das Überwachungsdispositiv als Produkt einer gezielten Sicherheitspolitik, deren unsichtbare Verfahren – wie das titelgebende wiretapping – dazu dienen ökonomische, soziale und politische Interessen durchzusetzen. Der panoptische Blick wird durch die elektronischen Technologien verstärkt, dezentralisiert und auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt (Lyon 1994). Zugleich setzt der glatte Raum der Biomacht keineswegs moderne Oppositionen von »drinnen« und »draußen« außer Kraft. Vielmehr stehen moderne Überwachungstechnologien und die physischen Orte der Disziplin, das innerstädtische Ghetto und das Gefängnis, in einem intrikaten Zusammenhang. Die soziale Kontrolle orientiert sich beständig an einer konventionellen territorialen Logik, in dem Moment, da sie die Grenzen des Viertels, des Bezirks, _______

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Gewalt und großer Armut gewichen. Die schlechten Lebensbedingungen und ungleiche soziale und medizinische Versorgung machte das schwarze Ghetto zum Schauplatz einer nationalen Krise, in der Afroamerikaner im Zuge der Bürgerrechtsbewegung eine landesweite Gleichheit und Gerechtigkeit einforderten. Weiterführend dazu, siehe der Sammelband von Kusmer The Ghetto Crisis of the 1960s: Causes and Consequences (1991a). Zur historischen Entwicklung des schwarzen Ghettos in den verschiedenen Phasen afroamerikanischer Migration und urbaner Entwicklung vgl. u.a. Weaver 1967, Tabb 1970 und Wacquant 1998. Vgl. die soziologischen Analysen Sharkeys 2013.

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der Stadt und der Nation als vor inneren und äußeren Angreifern zu schützende Instanz definiert. Das Zusammenspiel verschiedener Strukturen der Kontrolle und Disziplinierung verwandeln den öffentlichen Raum in eine Kampfzone, geschützt durch Mauern und Überwachungskameras, in der staatliches Gesetz und das Gesetz der Straße als Instanzen der (Selbst-)Kontrolle und Disziplinierung ineinander greifen, in denen die souveräne Gewalt und die Biopolitik fusionieren. 54 Die überwachungstechnische Aufrüstung Baltimores geschieht in der Serie unter der Regierung Tommy Carcettis, für dessen Figur der Demokrat Martin O’Malley das Vorbild lieferte. Während seiner Amtszeit konzentrierte dieser sich auf die öffentliche Sicherheit und die Implementierung von Reformen, die die Kriminalitätsrate senken sollten. Er führte vor allem das auf Statistiken basierende Kriminalitätsmanagementprogramm CitiStat ein – ein Überwachungssystem, das sich am New Yorker Modell CompStat orientiert. Die unter O’Malley installierte Überwachungsinfrastruktur trug zwar nicht fundamental zur Reduzierung der Mordfälle bei, brachte der Stadt aber erhebliche Einsparungen. Dennoch ist die Überwachung in The Wire nicht einseitig zu verstehen, sondern Teil einer umfassenden sozialen Kontrolle. Denn während die Polizei mit richterlicher Genehmigung die Geschäftsräume potentieller Drogendealer verkabelt55, nutzen Barksdales und Marlos Gangs neue Wege der Kommunikation. Jede Bewegung der Polizei wird von den Dealern mit einer neuen Methode der Verschleierung beantwortet, ihr System ist flexibel und immunisiert sich gegen technische Innovationen. Die Bewegungen im Raum sind somit durch ein gegenseitiges Monitoring bestimmt. Besonders das Cruising56, das ständige Herumfahren, wird von den Gangs als Gegenüberwachung eingesetzt. Die Drogendealer und Mittelsmänner bleiben immer in Bewegung. Durch die Mobilität auf der Straße werden die Vorräte von einem Ort an den anderen bewegt, Drogenkuriere können so ihre _______ 54 55 56

Die strukturellen Homologien lassen sich auf historisch erprobte Institutionalisierungen der Segregation und Diskriminierung zurückführen. Vgl. zu Überwachungsstrategien von Nachbarschaften in schwarzen Vierteln Goffman 2014. Das Cruising ist hier nicht mit traditionellen Figuren wie dem Flâneur zu vergleichen, denn der Flâneur vermisst die Stadt weniger, als dass er sich von ihr affizieren lässt und in ihre Mannigfaltigkeit eintaucht. Ihm wird die Stadt zur zweiten Natur, in der er Momente des Sublimen erlebt. Heute stellt der urbane Raum die normative Umwelt unserer Lebenswelten dar. Auch das Rurale wird seit der Moderne immer ex negativo über den urbanen Raum definiert, als Residuum eines pastoralen Narrativs. Die »Natur«, das »Rurale« ist in einer Welt, in der es kein außerhalb des Urbanen gibt, zur unmöglichen Utopie geworden. Auch das zeigt The Wire: der urbane Raum ist unsere primäre Umwelt, die sich immer mehr in eine fortress city – einen dystopischen Raum ohne Natur und Schauplatz des ewigen Falls der Menschheit – entwickelt.

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Botengänge in der Bewegung verwischen. Gleichzeitig dient das Cruisen der Überwachung der Arbeitsabläufe der ›Soldaten‹, die bewaffnet, das Gebiet verteidigen, und stellt somit einen Akt symbolischer Herrschaft dar. Die Vertreter des ›Königs‹ sind so stets in den Straßen präsent. Das Cruising dient ultimativ auch der Überwachung der eigenen Gemeinschaft. Die Gegenüberwachung der Drogendealer ließe sich also im Sinne Michel de Certeaus als ein Akt des Widerstands gegen die institutionelle Überwachung lesen. Zugleich wird sie dazu benutzt, die Hierarchien des Drogenhandels aufrechtzuerhalten, die Abläufe zu verwalten und den Fluss des Geldes sicherzustellen. Doch nicht nur die Dealer stehen unter Beobachtung, auch die Polizeiarbeit unterliegt dem Monitoring, denn ihre Einsätze werden durch das Evaluationssystem von CitiStat erfasst. Sie müssen Erfolge vorweisen. Die innere Spaltung der Überwachung wird sichtbar und trifft im Grunde eine dritte Gruppe, die Entrechteten innerhalb des Spiels: die corner boys, Drogenabhängigen und Zivilisten. Das System, das eben noch der Aufklärung und Prävention von Verbrechen auf der Straße diente,57 wird in der Serie als ein für alle Seiten riskantes Unterfangen ausgestellt. The Wire präsentiert am Ende eine »deregulierte Überwachungssphäre« (Eschkötter 2012, 49), die über verschiedene Interessensgruppen gesteuert wird. Die gegenseitige Überwachung bestimmt das soziale Handeln und die Kommunikationswege der Straße. Sie ist in die Bewegungen der Akteure einkalkuliert. In seinen vielfältigen Erscheinungsformen und seiner Transformationsfähigkeit bildet die Überwachung somit das mise en abyme der Serie. »Das soziale Band ist als ein konstitutiv Mediales zu denken«, denn die Evolution von Kommunikationstechniken im Verlauf der Serie ist zugleich »das Drahtseil auf dem alle tanzen müssen« (Eschkötter 2012, 33). Die Überwachungsbilder sind Teil eines »surveillant realism« (Eschkötter 2012, 48),58 in dem die visuelle Rhetorik der Überwachung auf der Inhalts- als auch Darstellungsebene präsent ist. Damit dekonstruiert The Wire Ellisons Metapher von der Sichtbarkeit für die postmoderne, spätkapitalistische und informationstechnologische Gesellschaft. Jene aufklärerisch motivierte »Ausleuchtung« der dunklen Bereiche der amerikanischen Geschichte wird hier ins Gegenteil verkehrt. Die modernen Technologien, die Produkte einer aufklärerischen Fortschrittsideologie, richten sich nun vor allem _______ 57

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Die Überwachungsstrategien und Einsätze der Polizei verstoßen auch gegen das Recht auf Privatsphäre und das Briefgeheimnis. Der Prozess gegen Marlo ist auf einem abgehörten Gespräch aufgebaut, das vor Gericht nicht tragfähig ist. Zu den medialen Rhetoriken der Überwachung und speziell zur »(real time) surveillance« als Idiom filmischer Realitätseffekte vgl. die Arbeiten von Levin 2002, 578-593, Cavell 1982, 75-96.

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gegen die schwarze urbane Unterschicht.59 Susan Sontag hatte bereits in den 1970er Jahren prognostiziert: »Cameras define reality in the two ways essential to the workings of an advanced industrial society: as a spectacle (for masses) and as an object of surveillance (for rulers).« (1977, 179f.) Am Ende des Einspielers der Serie The Wire werfen schwarze Teenager aus dem Ghetto in Baltimore eine Überwachungskamera ein. Sie wehren sich dabei nicht nur gegen die Überwachung, sondern auch gegen den televisuellen Voyeurismus, die sich beide über die Technologien des Digitalen manifestieren.60 Die zweite große bannende Struktur neben dem schwarzen Ghetto ist das Gefängnis. In der Soziologie wird vermehrt von der strukturellen und funktionalen Verwandtschaft von Ghetto und Gefängnis gesprochen. Als »ethnoracial prison« (Wacquant 2001, 92) ist das heutige Ghetto ein Hyperghetto, das der negativen ökonomischen Funktion der Verwahrung von »Überschüssigen« dient und dabei zunehmend dem Gefängnis gleicht (ibid.). Im Umkehrschluss bildet das Gefängnis in The Wire lediglich eine Verlängerung des Ghettos und agiert als weiterer Schauplatz des Spiels. Dafür spricht nicht zuletzt die Belegschaft, die sich in The Wire fast ausschließlich aus Afroamerikanern zusammensetzt und damit die traurige Realität U.S.-amerikanischer Strafjustiz widerspiegelt. 61 Das Zusammen_______ 59

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Der polnische Polizist und spätere Mathematiklehrer Roland »Prez« Pryzbylewski verdankt sein gutes Gehör beim Wiretapping seiner Vorliebe für den Rolling Stones Song »Brown Sugar« von 1971. Er musste sein Ohr an den Lautsprecher legen, um den Song ganz genau zu verstehen. Die Faszination für den Song verhilft Prez später dazu, die Unterhaltungen der überwiegend schwarzen Drogendealer besser zu verstehen (1.7). Das Lied, das sich an Bluesrhythmen orientiert, behandelt eine Reihe von Tabus, von der Sklaverei, über interracial sex, Heroin und Sadomasochismus – gleichwohl aus Sicht einer weißen Rockband. Wie der norwegische Soziologe Thomas Matthiesen bereits Ende der 90er Jahre argumentiert hat, sind die Überwachungs- und die Mediengesellschaft eng aneinander gekoppelt. Er spricht von der »viewer society« (1997), einer voyeuristischen Gesellschaft, die die Installation lokaler, nationaler und globaler Überwachungstechniken vereinfacht. Mehr denn je ist heute die panoptische und synoptische Ebene an ein Lustprinzip gebunden. Die Überwachung wird so zum Instrument des Akkumulationsprinzips eines Globalkapitalismus, dessen Funktionsprinzip durch den »Wunsch« bestimmt wird. Afroamerikaner bilden heute die größte ethnische Gruppe in den amerikanischen Gefängnissen (Wacquant 2001, 82). Mitte des Jahrhunderts waren Gefängnisinsassen zu 70% weiß, heute sitzen zu 70% Schwarze und Latinos ein. Die Zahl der internierten Afroamerikaner übersteigt die Zahl der Inhaftierten zum Höhepunkt des GULAG oder des südafrikanischen Apartheidregimes (ibid.). Mitte 1999 waren ca. 800.000 Afroamerikaner unter staatlicher Verwahrung, das bedeutet jeder 21. (4.6 %) der Afroamerikanischen Bevölkerung. Dazu kommen 68.000 Frauen (ibid.). Hier zeigt sich eine »racial disproportionality« (Wacquant 2001, 83), die auf die AntiDrogenbekämpfung der Präsidenten Ronald Reagan, George H.W. Bush

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spiel der beiden Institutionen verdichtet sich nach Wacquant zu einem »carceral mash« (2001, 84).62 Am Anfang der dritten Staffel stehen Barksdale und Cutty im Gefängnishof und diskutieren dessen anstehende Entlassung. Während Barksdales Situation sich im Gefängnis nur marginal verändert hat – er kann weiterhin seinen Geschäften nachgehen und genießt die Anerkennung der Insassen – ist Cutty, einer von Barksdales ehemaligen ›Soldaten‹, vom Gefängnisleben gezeichnet. Auch im Gefängnis wirkt die soziale Stratifikation von Macht. Barksdale sieht die Zeit im Gefängnis als Episode: »You only remember two days, the day you go in, the day you go out.« (3.1./26:54) Cutty hingegen wendet ein, dass er die dreizehn Jahre Haft sehr wohl spürt. Doch Barkesdale lässt keinen Widersprich zu: »Some things just stay the same. The game is the game.« (3.1./27:20-27:23) Die sozialen Rollen und Hierarchien bleiben die gleichen. Das Gefängnis als Institution hat sich jedoch fundamental gewandelt. Die Gefangenengemeinschaft wird in The Wire als ein durch Gewalt und Kalkül geprägtes Sozialsystem gezeigt. Der Ehrenkodex der Häftlinge hat dem brutalen business des Drogenhandels und der Gangstrukturen Platz gemacht (Johnson 1996, 133). Das ehemals repressive, aber halbwegs sichere big house wird in The Wire zum »brutalen sozialen Dschungel« (ibid.). Wir erleben die Gewalt der Insassen und die Auswirkungen des Drogenhandels, die auch die Strukturen außerhalb des Gefängnisses bestimmen.63 Vor allem von Marlo und Barksdale wird das Gefängnis als Rehabilitierungsanstalt ad absurdum geführt. Auch die Justiz und die Polizei wissen, dass man mit der Verwahrung die Kriminalität nicht auf struktureller Ebene, sondern lediglich physisch löst. Das Gefängnis wird zum »Abschiebeort«, zur »Verwahrungsanstalt« für den sozialen »Überschuss«, der nicht integriert werden kann oder will. Die Serie demontiert das Gefängnis auch als »Ort der Strafe« angesichts der Existenz des Ghettos und der bannenden Strukturen außerhalb des big house. In der Episode »Sentencing« macht D’Angelo klar: »I swear to God. I was courtside for eight month and I was freer in jail than I was at home.« (1.13./20:27-22:17) Im Gefängnis kann D’Angelo sich dem Griff seines Onkels entziehen, er ist nicht der Gewalt der Straße und den Erwartungen seiner Familie unterworfen. Er weiß, dass die einzige Chance auf einen Neuanfang im Zeugenschutzpro_______

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und Bill Clinton zurückgeht und sich auch unter G.W. Bush und Barack Obama nicht verbessert hat (Hayes 2017). Zum Thema »mass incarceration« und »punishment sociecty« vgl. Ferguson 2014, Clear/Frost 2013, Parenti 2008, Tara 2008 und Rhodes 2004. Zur Verbindung von Armut und ethnischer Zugehörigkeit und der Masseninternierung von Afroamerikanern siehe Pettit 2012, Muhammad 2011, Alexander 2010 und Massey/Denton 1998.

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gramm liegt. Die Anwältin Rhonda Pearlman fragt nach seinen Konditionen und D’Angelo erwidert: »I want to go away. I want. I want to start over. I don’t care where. I just want to go where I can breath like regular folk. You get me that and I get you them.« (1.13./22:17.-22:45) Er will aus den Gang-Strukturen ausbrechen und ist dafür bereit, die Familie zu opfern, die ihn ins Gefängnis gebracht hat. The Wire verdeutlicht, dass das Gefängnis vor allem auf der Ebene der Verwaltung und den sozialen Auswirkungen des Drogenhandels keine tiefgreifenden Folgen hat, sondern lediglich diejenigen trifft, deren Existenz auch auf der Straße gefährdet ist. Eben jene Charaktere werden nicht nur in den Strukturen des Drogenhandels missbraucht, sondern auch vom medialen und politischen Diskurs. Die Serie führt besonders in der dritten und vierten Staffel vor Augen, wie die politischen Akteure in der gezielten Kopplung von rassistischen Diskursen und Kriminalitätspolitik eine »Kultur der Angst« forcieren.64 Die Verbrechensbekämpfung wird von der Politik und den Medien als Instrument der sozialen Steuerung genutzt (Miller 1996, Beckett 1997). Eben diese Produktion und Instrumentalisierung der Kriminalitätsangst wird mit Carcettis Aufstieg zum Bürgermeister nacherzählt. Es geht also nicht so sehr um die Frage, ob das Gefängnis das Ghetto abgelöst hat (denn beide Institutionen haben sich über die Zeit verändert), sondern wie sie in ihrer Verbindung als Teil einer übergreifenden Matrix des entrapment für ein vorrangig schwarzes Subproletariat zu begreifen sind.65 Wacquant betont: _______ 64

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Um die Frage zu beantworten, warum es eben besonders die schwarze Unterschicht trifft (Miller 1997), ist es wichtig sich vom »crime- and punishment«-Paradigma abzuwenden (Wacquant 2001, 83) und das Ghetto, jenseits klassisch strafender Institutionen, als »instrument for the management of the dispossessed and dishonored groups” zu begreifen (ibid.). Der »carceral mash« gehört zur Erfahrungswelt des schwarzen Subproletariats und kommt besonders in Filmen, Graffiti und Rap-Musik zum Ausdruck. Der Rapper Tupac Shakur, dessen Album All Eyez on Me zu einem der meist verkauften Rap-Alben der Welt gehört und der von seinem 15. bis 17. Lebensjahr in Baltimore lebte, hat die kontinuierliche Demütigung, den Rassismus und die innerstädtische Gewalt immer wieder zum Thema gemacht. Seine Liedtexte erzählen nicht zuletzt die Geschichte des Kampfes einer armen, schwarzen Bevölkerung: »You know they got me trapped in this prison of seclusion/Happiness, living on the street is a delusion/Even a smooth criminal one day must get caught/Shot up or shut down with that bullet that he bought/Nine millimeter kicking, thinkin’ about what tha street do to me/Cause they never talk peace in tha black community/All we know is violence, do that job in silence/Walk tha city streets like a rat pack of tyrants/Too many brothers daily headin’ for tha big penn/Niggas comin’ out worse off than when they went in.« (zit. nach Wacquant 2001, 82) Der L.A.-Rapper beschreibt den Code der Straße, der

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[I]n the post-Civil Rights era, the remnants of the dark ghetto and the fastexpanding carceral system of the United States have become tightly linked by a triple relationship of functional equivalency, structural homology, and cultural fusion. (Wacquant 2001, 83)

Diese Beziehung hat ein »carceral continuum« (ibid.) entstehen lassen, in dem vorrangig junge schwarze Männer von der Arbeitswelt und den anerkennenden Strukturen liberal-ökonomischer Gesellschaften ausgeschlossen bleiben. Exklusion und Segregation werden dabei über weitere Architekturen des urbanen Lebens perpetuiert. In den 1940er Jahren zur Verbesserung der Stadtstrukturen und Bekämpfung der Kriminalität erbaut, sind die Projekte des sozialen Wohnungsbaus in The Wire konstitutiver Bestandteil einer Landschaft der Aus- und Abgrenzung. 66 Während die Türme der Franklin Terrace für die Infrastruktur der ersten Staffel als Zentren des florierenden Drogenhandels unabkömmlich sind, werden die in den Augen der Stadtverwaltung dysfunktionalen Gebäude am Anfang der drittel Staffel abgerissen.67 Jener Abriss bedeutet zugleich den Anfang vom Ende der Barksdale-Gang, die sich besonders über die territorialen Markierungen und den Stützpunkt der Towers definierte. Die Gebäude sollen in der Serie Platz machen für Wohnraum, den die Mittelschicht benötigt. Dies allerdings zum Nachteil der armen, urbanen Bevölkerung, die immer weiter in die überbevölkerten Straßenzüge gedrängt wird. Der fehlende Rückzugsraum hat dramatische Auswirkungen auf die Jugend, denn ihr fehlen Freiräume innerhalb der segregierten Bezirke. In der Enge der Viertel wird ein Entkommen aus der Kriminalität unmöglich. Dabei, so Peter Clandfield, ist es zentral die innerstädtischen Bezirke nicht als lokales Problem und als Gefahrenzone wahrzunehmen. Es sind eher die ökonomischen, politischen und ideologischen Kräfte, die jene Räume und ihre Funktionalität formen (2009, 38). Harvey sieht jene Ent-

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im Kontrast zu seinen heroischen Idealisierungen und einer Hypermaskulinität, von Gewalt, Isolation, Armut und Unterdrückung gekennzeichnet ist. Der Geograph und Raumtheoretiker David Harvey hat im achten Kapitel seiner Monographie Spaces of Hope (2000) die Krise des sozialen Wohnungsbaus in Baltimore anhand des Zusammenspiels städtischer Reformen und der demographischen Entwicklung nachgezeichnet und dabei die Kluft zwischen utopischen Idealen in der Gestaltung des öffentlichen Raums und der grauen Realität des urbanen Lebens aufgezeigt. Die Serie erscheint in Teilen wie eine Illustration von Harveys Thesen und Beobachtungen (Clandfield 2009, 38) und befasst sich vor allem mit dem Scheitern von städteplanerischen und bildungspolitischen Interventionen. Paradoxerweise wurde mit dem sozialen Wohnungsbau des New Deal die Grundstruktur für die Segregation der armen Bevölkerung gelegt. Mit den Reformen wurde ein »Subjekt der Reform« markiert, was schlussendlich zu einer Homogenisierung der Viertel und ihrer Verelendung führte.

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wicklungen als »ökologische Prozesse« (1996, 392, meine Übers.) einer postindustriellen urbanen Landschaft. Mit der Zerstörung der Towers wird die Lebenswelt der Dealer zerstört, aber eben auch ein Ort allgemeiner Interaktion, der nicht nur dem Drogenhandel, sondern auch dem Austausch von Informationen, dem Kontakt mit den Jüngeren und der Besprechung von Alltagsproblemen diente. Gleich zu Beginn der dritten Staffel laufen drei Dealer der Barksdale-Gang zu den Türmen, die an diesem Tag abgerissen werden sollen. Während für den einen die Towers nur Zement waren, bedeuten sie für den anderen Barksdale-Soldaten »Poot« Heimat: »Them towers been home to me, some shit happening up in them towers still make me smile, yo. [...] I am talking about people, memories an’ shit.« Daraufhin erwidert Bodie: »They don’t give a fuck about people.« (3.1./00:15-00.53) Mit dem Abriss der Türme geht nicht nur die BarksdaleÄra zu Ende, sondern auch ein Lebensabschnitt für die Jungen. Gleichzeitig verlieren sie ihren sozialen Treffpunkt: »I feel I got no home anymore.« (3.1./02:12-02:14) An anderer Stelle läuft der Boxer Cutty durch die verwaisten Straßen seines Bezirks. Der Leerstand zerstört die Stadt, vor aller Augen vollzieht sich der Verfall des Wohn- und Lebensraums. Die Depopularisierung des innerstädtischen Raums hinterlässt ganze Bezirke als Geisterstädte.68 In der dritten Staffel, Episode zwei, erzählt einer der Barksdale Jungs seinen Kollegen die Geschichte von der Begegnung mit einem Touristen. Dieser war auf der Suche nach dem Poe-Haus, der Wirkstätte des wohl bekanntesten Bürgers Baltimores, der wie kein anderer die moderne Schauerliteratur geprägt hat. Der Junge missversteht den Touristen, der Schriftsteller Egar Allan Poe ist ihm unbekannt, stattdessen glaubt er die po’ (poor) houses wären gemeint: »I’m like, look around – take your pick!« Der Witz wird neben dem Veweis auf die verlassenen, geisterhaften Straßenzüge und die Behausungen der Armen, durch eine dritte Auslegung von Poe als »poo« verstärkt und markiert vor allem die schwarze Unterschicht als den sozialen und ökonomischen ›Auswurf‹ Baltimores. Der Kommentar zu Edgar Allan Poe erhält eine weitere kritische Dimension, wenn man bedenkt, dass Poes _______ 68

Das gegenläufige Phänomen stellen die Gated Communities dar. Sie sind Teil einer urbanen Landschaft, die sich mehr den je über die Angst vor dem Anderen definiert. Heute zeichnen sich öffentliche Hausprojekte (nicht nur private Wohnanlagen) durch eine Abschottung gegenüber der »Straße« aus. Hier lässt sich das Phänomen des »prisonization of public housing« beobachten (Wacquant 2001, 94). Miller bemerkt: »Projects have been fenced-up, their perimeter placed under beefed-up security patrols and authoritarian controls, including identification-cards checks, singing in, electronic monitoring, police infiltration, random searches, segregation, curfews, and resident counts – all familiar procedures of efficient prison management.« (1997, 101)

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literarisches Werk nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines wachsenden, bedrohlichen, urbanen ›Mobs‹ im 19. Jahrhundert entstanden war. Die »Fortifikation« des urbanen Raums (Blakely und Snyder 1997) – die Dialektik von Ein- und Ausgrenzung – zeigt sich noch einmal auf besondere Weise im Reformprojekt Hamsterdam, das Major »Bunny« Colvin, der Polizeichef des westlichen Distrikts, ins Leben ruft. Ein leerstehender Straßenzug wird zur Freistadt erklärt, in der die Dealer ungestört, lediglich unter passiver Teilnahme der Polizei, ihren Geschäften nachgehen können. Das Projekt soll vor allem den illegalen Drogenhandel und die Gewalt reduzieren sowie die weitere Ausbreitung der ›Drogenhölle‹ auf den Osten und Süden der Stadt verhindern. Hamsterdam scheitert auch deswegen, weil die Notwendigkeit von Bildungseinrichtungen und anderen stabilen Sozialstrukturen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Vielmehr ist Colvin, nicht zuletzt aus eigenem Interesse und auf Druck der Verwaltung, an einer schnellen, effizienten Lösung gelegen. Man versucht die Kriminalität primär durch ihre physische Eindämmung in den Griff zu bekommen. Hamsterdam gerät, trotz einiger positiver Entwicklungen, zur Abschiebezone, in der man sich der unliebsamen Probleme entledigt. Die Polizeipräsenz macht den Bezirk weniger zu einem freien Raum, sondern zu einem Outdoor-Gefängnis. Die Utopie einer sauberen Stadt, in der das Bedrohliche aus dem Sichtfeld geschoben und sicher gebannt ist, scheitert an der Außenwirkung des Projekts. Bald nach dessen Einführung schlägt die Stimmung um, von der »befreiten Zone« verwandelt sich der Häuserzug in eine dystopische Vision städtischer Verwahrlosung und Gewalt. Indem die Probleme nicht systemisch, sondern institutionell begründet werden, bleiben vor allem diejenigen stigmatisiert, die Teil dieser Institutionen sind.

5.2.3 Medien-Phantome 194

Das als trauriger Mythos erzählte urbane Leben ist essentiell an das Medium Fernsehen gebunden – nicht zuletzt im Verweis auf dessen Möglichkeiten der Wirklichkeitserzeugung und Wirklichkeitskritik. The Wire diskutiert auf der Inhalts- sowie der Darstellungsebene die diskursbildende Kraft der Medien und ist somit autopoietisch. Im Mittelpunkt stehen die rassistischen Muster in der Verbrechensbekämpfung und die Kluft zwischen der subjektiven und der institutionellen und medialen Wahrnehmung des urbanen Lebens. The Wire macht vor allem in der Figurenkonstellation und -charakterisierung auf die Strategien des medialen Verschwindenmachens aufmerksam. Die Serie beschreitet dabei einen schmalen Grad zwischen der Aufdeckung eben jener Mechanismen und der Perpetuierung ihrer sozialen Determiniertheit. In der letzten Staffel der Serie wird die Quintessenz der Serie in einem Dialog zwischen drei Hauptakteu-

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ren der Serie verdichtet. Nachdem man ein neues Opfer der Marlo Stanfield-Gang gefunden hat, unterhalten sich Jimmy McNulty, Lester Freamon und Bunk Moreland über die anhaltenden Konflikte auf der Straße: McNulty: Guy leaves two dozen bodies scattered all over the city, and no one gives a fuck. Freamon: It’s cause of who he dropped. Moreland: True that, you can go a long way in this country killing black folk. Young Males, especially. Misdemeanor homicides. McNulty: If Marlo was killin’ white women. Freamon: White children. Moreland: Tourists. McNulty: One white ex-cheerleader tourist missing in Aruba. Moreland: Trouble is, this ain’t Aruba, bitch. Freamon: You think if 300 white people were killed in this city every year, they wouldn’t send the 82nd Airborne? Negro, please. (5.2./42:32-43:11)

Die Serie portraitiert die Wertlosigkeit des Menschen in postindustriellen Konsumgesellschaften, über die sich, nach Bunk, das historische Erbe des Rassismus fortschreibt: »You can go a long way in this country killing black folk.« (Ibid.) Im Dialog der drei Polizisten zeigt sich zudem die Steuerung der Aufmerksamkeiten in der Strafverfolgung, die durch die Medien beeinflusst wird. Mathiesen argumentiert diesbezüglich, dass die strafrechtliche Überwachung zur Ware geworden ist, »governed much more by the kind of news that is news-worthy and thereby saleable for television and by what is marketable political opinion in the media« (2001, 32). Die »Unsichtbarkeit« innerhalb des medialen Diskurses betrifft nicht nur das schwarze Subproletariat, sondern auch die Hafenarbeiter und Gerwerkschaftsmitglieder. In Staffel fünf, Folge sechs erscheint der Neffe des ermordeten Gewerkschaftssekretärs Sobotka und protestiert gegen das neue Luxusbauprojekt am Hafen. Auf die Frage hin, wer der Randalierer sei, antwortet der Bauleiter »Nobody«. Die individuelle Selbstermächtigung und Handlungsmacht eines Odysseus bleibt den Gewerkschaftsanhängern verwehrt. Sie sind – ganz wie die Hafenarbeiter in Kafkas Kurzgeschichte – ein »armes, gedemütigtes Volk«. Ähnlich ergeht es auch den Obdachlosen, die in Staffel fünf vom Skandalreporter Scott Templeton für eine »gute Story« instrumentalisiert werden. Jene sozialen Außenseiter leben »an den Rändern des in der Serie, für die Serie Erzählbaren« (Eschkötter 2012, 74),

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sie sind die »human costs of a capitalism of the disenfranchised« (Simon 2004, 8).69 Während David Simon in der schier endlosen Einführung neuer Charaktere der kalten Anonymität des kapitalistischen Systems die Vielfalt der Gesichter der Stadt entgegensetzt, so wird jene Anerkennung des Menschlichen durch die Kurzlebigkeit der Charaktere und ihre inszenierte Entbehrlichkeit eingeholt. Daniel Eschkötter betont: »The Wire führt die Namenlosigkeit, die Effekte gesellschaftlicher Unsicht- und Unüberhörbarkeiten und ihre Paradoxien [...] immer wieder exemplarisch vor.« (Eschkötter 2012, 74) Personen tauchen auf, nur um in der nächsten Folge getötet oder ohne weiteren Kommentar in einer Nebenerzählung abgelegt zu werden. Die Anhäufung von Charakteren und ihre subsequente Bedeutungslosigkeit für das Hauptnarrativ beschreibt ein neoliberales Prinzip der Akkumulation, das besonders die Ärmsten der Armen betrifft. Zugleich lässt The Wire der Selbstrepräsentation von sozialen Gruppen Raum, das Autorenteam verwies immer wieder auf die »authentischen« Quellen und Hintergrundinformationen70 und besticht durch eine Vielstimmigkeit, die dem Narrativ des »urban hell hole« sowie der Homogenisierung und Dämonisierung der schwarzen Unterschicht einen Gegenpol liefert. Sie übt damit im televisuellen Narrativ eine Form poetischer Gerechtigkeit. The Wire widersetzt sich so der Auslieferung seiner Subjekte und demontiert durch eine Form des »subjektiven Realismus« (Žižek 2012) und komplexe Charakterdarstellung das Bild des Kriminellen als »Monstrum«71 sowie das Bild des Gesetzeshüters als romantischem Held.72 Auf der Darstellungs- und Inhaltsebene konterkariert die Serie das postmoderne televisuelle Imperativ, »in which many see, survey and admire or _______ 69

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Simon führt fort: »But so many are left in the shallows – men and women on the streets of Baltimore who are, every day, reminded that the wave has crested, and that now, with the economic tide at an ebb, they are simply worth less than they once were. Unemployed and underemployed, idle at the West Baltimore soup kitchen or dead-ended at some stripmall cash register – these are the excess Americans [...] this is the world of The Wire.« (2004, 7f.) Einige der Schauspieler waren tatsächlich Reporter, Bezirksanwälte, Polizeiintendanten und der Erfinder der Serie, David Simon, arbeitete als Reporter bei der Baltimore Sun. Er hatte seine Erfahrungen bereits in die Serie Homicide (1993-1999) einfließen lassen. Vgl. das ausführliche Interview mit David Simon für Borderline Production 2006. »[A] being whose features are inherently different from ours.« (Melossi 2000, 311) Sie bietet, nach David Simon, ein Korrektiv zu gängigen Formaten: »Because so much of television is about providing catharsis and redemption and the triumph of character, a drama in which postmodern institutions trump individuality and morality and justice seems different in some ways, I think.« (2007)

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detest the few (Matthiesen 1987). Dies bedeutet auch eine kritische Revision der Stadt als eindimensionaler Kampfzone. Liam Kennedy und Steve Macek haben vor allem für die konservative mediale Berichterstattung in den USA festgehalten, dass die urbanen Zentren oft als »Landschaften der Angst« dargestellt werden, in der alle nichtweißen Einwohner der Stadt als »lawless and savage« (Macek 2006, xii) erscheinen. Macek spricht gar von der Erfindung des »savage urban other« durch rechte Ideologien (2006, 37-69). Das Fernsehen, so Mathiesen, trägt somit zur prison society bei: [T]he development of television [...] facilitates prison growth in the sense that it opens up for growth, it dismantles the defences which otherwise might be mustered against escalation and for de-escalation. These defences are of a cultural kind: they are values – civil rights, the rule of law, humanity – emphasizing a restraint in the use of our harshest mass punishment, prison, and consequently restraint in escalation of the prison population. Television corrodes these values. (2001, 31)

The Wire präsentiert die Verfahren einer »ideology of purging ›undesirables‹ from the body politic« (Hirsch 1999, 676). Als postmoderne Institutionen sind das Fernsehen und die Printmedien Produkt und Sprachrohr des neoliberal gesteuerten amerikanischen Exzeptionalismus. Doch trotz der medienkritischen Perspektive ist The Wire nicht so naiv oder kulturkonservativ die Massenmedien als kulturelle Sphäre abzulehnen. Sie bilden schließlich den Nährboden der Geschichten und sichern ihre institutionelle Verankerung. Vielmehr übt die Serie im eigenen Medium Kritik und zeigt ein komplexes Bild der Medienfunktion und -nutzung.73 Sie leuchtet die Freiräume und Hierarchien aus und entlarvt die Medien als moderne »Glaubenssysteme«, die zuletzt auch immer wieder die Subjekte ihrer Beobachtung und Verfolgung produzieren (Curran 2005).74 _______ 73 74

Vgl. auch Kraus und speziell das Unterkapitel »Medien in Medien« (2014, 63-67) und »[t]elevisionäre Aufklärung« (2014, 67-79). Curran hat bereits 1982 die funktionale Seite der Medien mit der Religion des Mittelalters verglichen: »The media also emphasize collective values that bind people closer together, in a way that is comparable to the influence of the medieval Church: the communality of the Christian faith celebrated by Christian rites is now replaced by the communalities of consumerism and nationalism in the media ›rites‹ such as international sporting contests (that affirm national identities) and consumer features (that celebrate a collective identity of consumers). Indeed, the two institutions have engaged in some ways in very similar ideological ›work‹ despite the difference in time that separates them [...]. The modern mass media have given, at different times, massive and disproportionate attention to a series of ›outsiders‹ - youth gangs, muggers, squatters, drug addicts, student radicals, trade-union militants - who have tended to be presented as powerful and irrational threats to ›decent‹ society [...] comparable to the hunting down and parading of witches allegedly possessed by the devil by the medieval and early modern Church.« (2005, 223)

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Die fünfte Staffel präsentiert verschiedene Medien in ihrer Wirkweise, konzentriert sich aber besonders auf einen qualitativen Wandel in den Printmedien. Im Vordergund steht die Rolle der Zeitungen als meinungsbildende Instanzen und der Kontrast zwischen dokumentarischem Journalismus (in dem sich auch die Serie verortet) und der tabloidization. Während am Ende der Skandalreporter Scott Templeton für seine fiktiven Geschichten, sentimentale Erzählungen und skandalisierenden Beschreibungen des Ghettos von der renommierten School of Journalism der Columbia University gewürdigt wird, bleibt dem seriösen Reporter Mike Fletcher, der weiterhin für die Baltimore Sun arbeitet und das Portrait von Bubbles angefertigt hat, lediglich das anerkennende Lächeln des integren City Desk Editors Augustus Haynes. Fletcher entspricht, trotz der Kürzungen und des kommerziellen Drucks, dem die Journalisten ausgesetzt sind, dem Ethos des investigativen Journalismus. Er veröffentlicht die Geschichte über den Obdachlosen Bubbles erst in dem Moment, da dieser sie gelesen hat und seine Einwilligung gibt. Diesbezüglich wird Charles Dickens immer wieder als »Chiffre für ein sozialkitschiges Schreiben« (Eschkötter 2012, 27) bemüht, das am Ende vom Straßendealer Bodie parodiert wird: »I’m standing here like an asshole, holding my Charles Dickens.« (4.3./19:32-19:34) Der »Dickensian aspect« (Klein 2009, 195-209) ist zentral, denn einerseits lehnt The Wire die von Dickens verkörperte Sozialromantik ab, andererseits schreibt sich The Wire mit den Selbstaussagen der Regisseure in die Erzählmodelle des 19. Jahrhunderts ein. Die Wire-Autoren wollten nach dem Vorbild der großen realistischen Romane das postindustrielle Baltimore aufleben lassen: Our models are the big Russian novels, and also writers like Balzac. We're trying to do with modern-day Baltimore what Balzac did with Paris, or Dickens with London. (The Telegraph.com, 2. April 2009)

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Es geht den Autoren um die Herstellung von Wirklichkeit durch Wahrheitsnähe (Verisimilitude). Nach dem Vorbild des modernen, multiperspektivischen, realistischen Romans kreiert die Serie ein soziales tableau – dies erscheint angesichts der Erzählform und Perspektivierung zunächst erstaunlich, denn The Wire bietet keine Fortführung der bürgerlichen Erzähltradition. Die ästhetische Bearbeitung des Materials folgt der kontingenten Natur des Gegenstands: Die einzelnen Episoden bleiben in sich unabgeschlossen, sind oft antiklimatisch erzählt, sie enttäuschen regelrecht das Begehren des Zuschauers. Sie funktionieren nach dem Rhythmus der Straße, auf Höhepunkte folgen Tiefpunkte, die Banalität des Alltags herrscht neben unberechenbarer Gewalt. Durch die multiperspektivische Erzählweise und die personale Fokalisierung kommen die Gewinner und Verlierer zu Wort. Angela Ndalianis erkennt in The Wire gar »a ›neobaroque‹ narrative at work […] – a narrative that ›resist[s] classical attention to linearity and closure‹« (2005, 86). Für jene Kategorisierung spricht

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auch Simons Vergleich mit dem enzyklopädischen, fragmentarischen Roman Moby Dick (1851), den er als Wegbereiter für seine eigene Vision des »visuellen Romans« versteht: »In the first couple of chapters you don’t meet the whale, you don’t meet Ahab, you don’t even go aboard the Pequod. You just walk into an inn with Ishmael and find out that you share a room with a tattooed character. That is a visual novel.« (Simon 2009, 23) Im Verweis auf die dokumentarische Ebene, Lars Koch nennt dies Verfahren der »Authentifizierung« (2014) und die Form des Gesellschaftsromans, scheinen Simon et al den Begriff Realismus mit Materie gleichzusetzen, ohne dessen ideologische Prägung durch seine prominenteste (Re)Präsentationsform, den Roman des 19. Jahrhunderts – den die Autoren als Quelle der Inspiration angeben – kritisch zu betrachten und damit auch die eigene Position als weiße Film-und Fernsehautoren zu hinterfragen.75 Schlussendlich spiegelt The Wire zumindest auf der Seite der Produzierenden (z.B. Robert F. Colesbury, Karen L. Thorson, David Simon, Ed Burns, Joe Chapelle, Eric Overmyer), die dominante ethnische Gruppe der Filmund Fernsehindustrie wider. Eine weitere kritische Anmerkungen ergibt sich in Hinblick auf die Bewegungsräume der Figuren, die schlussendlich der naturalistischen Erzähltradition nahe stehen. Denn trotz des authentischen Materials und der postmodernen Erzählweise werden die Charaktere auf ontologischer Ebene durch einen »Determinismus des Sozialen« (Eschkötter 2012, 69) eingeholt. Im Endeffekt bleibt The Wire in einer Art passiver Schleife gefangen. Die Serie verweigert zwar die sentimentale teleologische Erzählung – _______ 75

Moby Dick, der das kosmopolite und enzyklopädische Wissen der jungen Nation ausstellt, ist nicht mit Dickens’ Romanen oder der Vielstimmigkeit des modernen russischen Romans gleichzusetzen. Die Wahl zwischen dem monologischen Stil Tolstois und der polyphonen Perspektive Dostojewskis (vgl. Bakhtin) stellt für Literaturwissenschaftler bisweilen eine Schicksalsentscheidung zwischen Epik und Dramatik dar (Steiner 1959). Simons Verweis auf die »Russen« zeugt daher von Ignoranz gegenüber dem Genre und wird auch dem eigenen medialen Format nicht gerecht, denn die Merkmale des realistischen Erzählens werden in der Serie desavouiert. Auf der Ebene der ethischen Verortung als auch der Erzählperspektive schmälert der Verweis auf den Roman die Darstellung moralischer und sozialer Komplexität durch die Möglichkeit der filmischen Montage sowie die Darstellung von Kontingenz im filmischen Narrativ. Gleichzeitig wird die konstitutive Rolle des Romans (von seinen Anfängen bei Aphra Behn und Robinson Crusoe und in seinen vielfältigen Spielformen vom viktorianischen Gothic-Roman in Jane Eyre bis hin zum psychologischen Realismus in Joseph Conrads Heart of Darkness) als Institution rassischer Diskurse bzw. Imaginationsraum des Imperialen negiert (vgl. Said 1994 und Parry 2004, 107-175). Gerade der Roman des 19. Jahrhunderts hat bei der (diskursiven) Produktion des europäischen Imperialismus und des inner-amerikanischen Rassismus eine wesentliche Rolle gespielt (vgl. Morrison 1992).

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der soziale Aufstieg bietet keinen Ausweg, sondern lediglich eine Aufwertung der Spielfigur. Zugleich stellt die filmische Lust am Scheitern in der Rückkopplung an soziale Prozesse eben auch eine Form der Bannung dar, die neben der Offenlegung der Unterseite des amerikanischen Traums keine Alternative bietet.

5.2.4 Epiphanien der Freiheit

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Lassen sich in The Wire Momente der Freiheit ausmachen? Es wurde bereits festgehalten, dass sich in der Charakterdarstellung einzelner Figuren Räume der Subversion öffnen, die der Totalität des Spiels und seiner Institutionen entgegenstehen. Auch innerhalb der sozialen Verhältnisse und Bindungen scheint es Situationen und Konstellationen zu geben, die der Unausweichlichkeit des Scheiterns und der Bannung des Subjekts Widerstand leisten. Die Institutionen, die in The Wire als »Disziplinierungsanlagen« vorgestellt werden, bieten zumindest temporär auch das Potential zur Freiheit: die Familie, Bildungseinrichtungen, Sport, die Polizeiarbeit, das Gefängnis und die Medien. Im konstanten Wechselspiel zwischen Containment und Subversion wird der Moment der Freiheit jedoch final als Illusion bzw. als flüchtiger Moment dargestellt. Der Triumph der Befreiung von den Fesseln sozialer Unterdrückung, wie ihn Frederick Douglass als strategische Rede von der zukünftigen Emanzipation der Afroamerikaner beschrieb, als »glorious resurrection, from the tomb of slavery, to the heaven of freedom« (1960, 105), ist in weite Ferne gerückt. D’Angelos Freiheit ist ein lakonischer Ausstieg, der für einen Moment die Katharsis der gesamten Serie beinhaltet. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Handlungsfreiheit und der Freiheit des Bewusstseins, zwischen »liberty« und »freedom« – ein Unterschied, der bereits 1953 in Invisible Man als Moment wahrer Emanzipation ausgestellt wird und somit an Aktualität nicht eingebüßt hat. D’Angelo ist im Gefängnis dem Buchclub beigetreten.76 Die Gruppe diskutiert The Great Gatsby von F. Scott Fitzgerald und D’Angelos Interpretation des amerikanischen Traums lässt ihn seine eigene Position innerhalb des sozialen Gefüges re_______ 76

Deutlich wird in The Wire, dass die traditionellen Bildungsinstitutionen nicht länger ihren Dienst erfüllen. Pryzbylewsky ist nach seiner Polizeikarriere an einer High School gelandet und unterrichtet dort Mathematik. Die Schule wird wie ein Hochsicherheitsgefängnis bewacht, niemand kommt ungesehen hinein oder hinaus. In der letzten Staffel besucht Duquan »Dukie« Weems (der nächste Bubbles), ein ehemaliger Schüler Prez’, die Schule und bittet den Lehrer um Geld. Prez errät schnell, dass Dukie das Geld nicht als Schulgeld verwenden wird, wie er ihm weismachen will, sondern um für sich und seinen väterlichen Freund Drogen zu kaufen.

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flektieren:77 »He’s sayin’ that the past is always with us. Where we come from, what we go through. All that shit matters. I mean that’s what I thought he meant.« (2.6./31:8-31:19) Er erkennt, ebenso wie der Erzähler Nick Caraway aus Fitzgeralds Roman: »You can’t repeat the past.« Dies bezieht sich auch auf das Erbe der Sklaverei. Am Ende wird D’Angelo in einem Abstellraum der Bibliothek auf Geheiß Russell »Stringer Bells« umgebracht.78 Im Gefängnis wird D’Angelo ein Moment privater Freiheit gewährt, als Form des emanzipatorischen Bewusstseins angesichts der fundamentalen Abhängigkeiten, in denen er sich befindet. Es ist jedoch eine Freiheit des Privaten und nicht so sehr des Politischen. Interessanterweise entspricht The Wire damit auch der sozialen Realität, denn mit der Masseninternierung haben die Gefängnisse zugleich eine Entpolitisierung erlebt. Organisationen wie die NAACO, die Urban League und Black Congressional Caucasus, die in den 1970er Jahren in der Gefängnispolitik aktiv waren, sind heute seltsam abwesend. Auch die schwarzen Kirchen spielen in The Wire nur eine marginale Rolle. Längst vergessen scheint hier, dass die Ghetto-Aufstände der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von 1963 bis 1968 aus den Gefängnissen Attica und Soledad heraus entstanden sind und von dort aus auf andere Einrichtungen in Michigan, Tennessee, Oklahoma, Illinois, West Virginia, und Pennsylvania übersprangen (Morris 1995). Die Familie, das Gefängnis, die Reformprojekte, der Boxclub bilden nur temporäre Rückzugsorte, in denen sich, im besten Fall, ein Bewusstsein für die eigene Gefangenschaft innerhalb der Strukturen und der Wunsch nach Flucht ergeben. Besonders die Familie offenbart sich als komplexes Gefüge, das zum einen die Abhängigkeitsstrukturen und zum anderen eine Form _______ 77

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Die Passage aus Douglass Autobiographie, in der der Sklavenhalter Mr. Auld das Lesen als gefährlichen Akt beschreibt, bietet einen interessanten Querverweis: »Learning would spoil the best nigger in the world. [...] if you teach a that nigger (speaking of myself) how to read, there would be no keeping him. It would forever unfit him to be a slave. He would at once become unmanageable, and of no value for his master. As to himself, it could do him no good, but a great deal of harm.« (1960 [1845], 58) In The Wire ist der »Master« nicht länger der gewalttätige »nigger-breaker« Mr. Covey aus Frederick Douglas Autobiographie, sondern D’Angelos eigener Onkel und die institutionelle Diskriminierung einer kapitalistischen Gesellschaft. Russell »Stringer« Bell, der den Drogenhandel durch ausgeklügelte Geschäftspläne, die er am Community College erlernt, vorantreiben und damit den sozialen Aufstieg aus der Gosse in ein luxuriöses Apartment am Hafen schaffen will, scheitert daran, dass er den Ehrenkodex des Spiels unterschätzt. Er verkennt, dass man sich nicht neu erfinden kann, ohne seine Herkunft zu negieren und damit die Familie zu verraten. Diesbezüglich zeigt sich auch bei Stringer Bell eine Form des schwarzen Klassensnobismus, auf den bereits W.E.B. du Bois aufmerksam gemacht hatte. Am Ende wird er von Omar Little und Brother Mouzone erschossen.

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der Sicherheit und des Auswegs markiert. Gleichwohl sind es auch hier vorrangig die Männer, die als gateway und gatekeeper auftreten. Die Freiheit kann nur die Mobilität innerhalb der Immobilität des Spiels meinen und so bleibt sie eine »absurde Freiheit«, wie Daniel Eschkötter erklärt: Freiheit zum Mitspielen und Gegenspielen, auch zum Tode, bei gleichzeitiger Starrheit des Rahmens ist die grundlegende Existentialie der Serie und des großen Spiels. Trotz der Identität und Kontinuität der institutionellen Rollen ist man immer auf der Suche nach den Residuen der Freiheit, dem Spielraum im manichäischen »play or get played«. (2012, 71)

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Zusammenfassend lässt sich über die Freiheit als Idee in der Serie The Wire sagen, dass sie immer nur innerhalb der sozialen Strukturen, aber nie außerhalb derer zu finden ist. Die Freiheit des Einzelnen liegt in den Entscheidungen, die er trifft, in der Integrität und dem Wissen um die Verletzlichkeit der Menschen. In diesem Sinne folgt die Serie quasi einer camusschen Logik. Auch deswegen stehen Cedric Daniels, Lester Freamon, Jimmy McNulty, Rhonda Pearlman, Bubbles, Omar Little, Dennis »Cutty« Wise im Mittelpunkt der Serie. Ihre Charaktere zeichnen sich durch eine undogmatische empathische Prinzipientreue aus. Auch wenn diese noch lange kein Garant für moralisch richtiges Handeln ist. In The Wire agiert kein »abstraktes Prinzip von Gerechtigkeit« (Walton 2009, 198), vielmehr sind die moralischen Maßstäbe der Figuren an die Interaktion innerhalb der urbanen Umwelt gebunden. Dieser Wärtertypus kämpft im modernen Amerika gleichwohl an verschiedenen Fronten, wie sich im folgenden Kapitel zeigt. In den medialen Verhandlungen innen- und außenpolitischer Konflikte (›Krieg gegen die Drogen‹ und ›Krieg gegen den Terror‹) verschränken sich Rhetoriken der Angst. Die mediale Berichterstattung, Film und Fernsehen treten dabei als meinungsbildende Instanzen auf, die die innerstädtischen Zonen der USA und die sogenannte ›islamische Welt‹ über eine diskursive Herstellung des ›Feindes der Ordnung‹ verbinden. So lassen sich die HochsicherheitsGefängnisse der USA, die »landlocked slaveship[s] stuck on the middle passage to nowhere« (Parenti 2000, 170), mit der imperialen Gewalt in Beziehung setzen und die USA als »super-carceral state« (McClintock 2009, 52) betrachten. In The Wire wird dieser Zusammenhang bereits in der ersten Folge thematisiert. Der Mordkommissar McNulty besucht nach einer erneuten Niederlage gegen das Drogenkartell den befreundeten FBI Agenten Terrence »Fitz« Fitzhugh. Dieser führt ihm stolz die neuen Überwachungstechniken des Homeland Security Pakets vor. Leider, so räumt er ein, könne man diese momentan nicht in der Bekämpfung des Drogenhandels einsetzen, da man sie im ›Krieg gegen den Terror‹ dringender benötigt. Daraufhin erwidert McNulty mit einem ironischen Lächeln: »Don’t we have enough love in our hearts for two wars?« (1.1./45:03)

6. Phantome des Terrors: Abu Ghraib, Homeland und Zero Dark Thirty Am 27. Mai 2013 hielt der damalige US-amerikanische Präsident Barack Obama auf dem Militärfriedhof in Arlington, Virginia, die traditionelle Rede zum nationalen Gedenken der amerikanischen Kriegsopfer und verwies in Hinblick auf die Erfolge der Truppen in Afghanistan und im Irak auf die noch immer andauernde nationale Krisensituation: »[...] America stands at a crossroads. But even as we turn the page on a decade of conflict, even as we look forward, let us never forget, as we gather here today, that our nation is still at war.« (2013) Die Formulierung einer »nation [...] still at war« bezog sich zum einen auf die noch immer in Afghanistan stationierten Soldaten, zum anderen zielte die Aussage auf einen größeren Zusammenhang: den ›Krieg gegen den Terror‹, an dessen Spitze die USA seit 2001 für den Schutz der westlichen Welt kämpfen. Im Rekurs auf die bereits vollbrachten Opfer der Nation und zu Ehren derer, die die Werte der ›freien Welt‹ im Mittleren Osten verteidigen, wird hier das Terrornarrativ als nationaler Auftrag verankert. In der kontinuierlichen Vergegenwärtigung der Mission bleibt der ›Krieg gegen den Terror‹ eine Maßnahme höchster Priorität, der sich die Nation auch in Zukunft nach innen und außen zu stellen hat. Die Installation von Geheimgefängnissen, die besonders seit 2004 über die kritische Berichterstattung von investigativen Journalisten und Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International und der Europäischen Kommission für Menschenrechte in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten sind,1 gelten dabei als Maßnahmen zum Schutz der Freiheit.2 Auf dem _______ 1 2

Vgl. u.a. Hersh 2004, Danner 2004, Sands 2008 und Morris/Gourevitch 2008. Mit der Gründung des Department of Homeland Security im Juni 2002 hat der ehemalige Präsident der USA George W. Bush, die Sicherheit zur nationalen Mission erklärt. Die Aufgabe der Institution bestand darin, die amerikanische Bevölkerung zu schützen und zu verteidigen. Die bis dato auf 100 verschiedene Bereiche der Regierungsorganisationen verteilte Aufgabe der nationalen Sicherheit wurde nun über ein zentrales Organ verwaltet. Neben der erweiterten Überwachung der Grenzen (»Border and Transportation Security«), waren »Notfall«-Maßnahmen (»Emergency Preparedness and Response«) vorgesehen sowie Gegenmaßnahmen im Bereich chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Waffen (»Chemical, Biological, Radiological and Nuclear Countermeasures«) und eine Informationsanalyse und Infrastrukturschutz (»Information Analysis

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Der Gefangene als Phantom

Schild, das in das Camp 6 des Marinestützpunkts Guantánamo auf Kuba führt, steht sodann geschrieben: »Honor Bound to Defend Freedom.« (Brittain/Slovo 2004) Die auf »konsensualen Fiktionen« (Pease 2009, 155, meine Übers.) basierende Vorstellung der Ausnahme prägt, in enger Verzahnung mit den Maßnahmen der gegenwärtigen Sicherheitspolitik, die Legitimation der Geheimgefängnisse. Die Erzählung der Schicksalsgemeinschaft, die im Begriff des homeland mit dem 11. September 2001 als »regierende Metapher« (Pease 2009, 155, meine Übers.) in den Vordergrund rückte, beruht auf der mythischreligiösen Idee der Nation, dem amerikanischen Exzeptionalismus,3 der sich über die Jahrhunderte als Eigen- und Fremdbeschreibung manifestiert hat und beständig Dynamiken des Ein- und Ausschlusses perpetuiert. 4 Von den englischen Siedlern im 17. Jahrhundert bis hin zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, von der Politik, Religion, Kultur bis hin zum sozialen Miteinander: »American exceptionalism permeates every period of American history and is the single most powerful agent in a series of arguments that have been fought down the centuries concerning the identity of America and Americans.« (Madsen 1998, 1) Die Vorstellung von »God’s chosen people« bildet seit den ersten erfolgreichen Siedlungen der kolonialen Ära das bindende Narrativ der Gemeinschaft und wurde später in enger Verzahnung mit dem Liberalismus zum säkularen Glaubensfundament des »Amerikanismus« (Bercovitch 1978, Bloom 1992). Spätestens mit der Gründung des Massachusetts Bay Colony war es das erklärte Ziel, »[…] to create in the New World a church and a society that would provide the model for all the nations of Europe as they struggled to reform themselves (a redeemer nation)« (Madsen 1998, 1f.).5 _______

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and Infrastructure Protection«). Diese Maßnahmen wurden in der nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 bestätigt (Bush 2002c). Zur mythisch-symbolischen Herleitung der amerikanischen Identität vgl. Etulain 1998, Slotkin 1992, 1985 und 1973, Limerick 1987, Nash Smith 1986, Kolodny 1984 und 1975, Lewis 1955, Commager 1950. Die neuere Forschung unter dem Banner der »New American Studies« nimmt die ältere Forschung zum Ausgangspunkt einer Kritik am amerikanischen Exzeptionalismus und Imperialismus, vgl. Kaplan/Pease 1993, Pease/ Wiegman 2002, Rowe 2002. Zu den sozio-kulturellen Grundlagen eines amerikanischen Exzeptionalismus vgl. Soderlind/Carson 2012, Schuck/Wilson 2008, Noble 2002, Madsen 1998, Lipset 1997, Ross 1995 und Tyrrell 1991. Der Historiker Jack P. Greene argumentierte 1993, dass die intellektuelle Konstruktion Amerikas als exzeptioneller Ort seine Wurzeln in Europa hat. Somit verkörpert der amerikanische Exzeptionalismus eine europäische Idee, die sich paradoxerweise zugleich explizit vom ›alten‹ Europa abgrenzte: »Throughout the Middle Ages, Europeans had posited the existence of a place – for a time to the east, but mostly to the west of Europe – without the corruptions and disadvantages of the Old World. […] Through Jonathan Swift and beyond, utopian writers continued to identify the

Phantome des Terrors

In Hinblick auf jenen Vorsatz prägte John Winthrop in seiner berühmten Laienpredigt »A Model of Christian Charity« von 1630 die bis heute zentrale Leitmetapher der USA als einer city upon the hill: For wee must consider that wee shall be as a Citty upon a Hill, the eies of all people are uppon us; soe that if wee shall deale falsely with our God in this worke wee haue undertaken and soe cause him to withdrawe his present help from us, wee shall be made a story and a by-word through the world, wee shall open the mouthes of enemies to speake euill of the ways of god and all professours for Gods sake; […]. (1838, 47)

In der an der Matthäuspredigt orientierten Formel von der »Stadt auf dem Hügel« verbergen sich zwei Aspekte, die das Selbstverständnis und den sozialen Kodex eines spezifischen amerikanischem Exzeptionalismus ausmachen: Zum einen zeigt sich hier die exponierte Position gegenüber jenen, die sich im Tal befinden. Die Anhöhe evoziert Weitblick, Ausblick und einen fast panoptischen 360-Grad-Blick auf die umliegenden Gebiete. Zum anderen zwingt die Exponiertheit zur Verantwortung. Die Bewohner überblicken nicht nur das Geschehen, sondern werden von der ganzen Welt beobachtet, die grandesse der Stadt kann nicht vor den Augen der anderen verborgen werden. Der begehrende Blick und der Blick der Begehrenden sind dem Narrativ der Stadt auf dem Hügel eingeschrieben. Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das soziale Leben der Puritaner durch ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein bestimmt war, welches gesellschaftliche Ereignisse sowie Verhaltensweisen der Mitglieder der Gemeinschaft nach den Zeichen Gottes deutete und zugleich eine prädestinierte Erzählung für den Ausschluss des Anderen bot.6 Die Vertreibung und Bekämpfung der indigenen Bevölkerung, die sogenannten Hexenprozesse von Salem (1692) und die Verfolgung von Quäkern seien hier nur als einige Beispiele aufgeführt. Nathaniel Hawthornes Roman The Scarlet Letter (1850) führt die disziplinierende Gesellschaft des puritanischen Neuenglands eindrücklich vor Augen. Bereits im ersten Kapitel der Binnenerzählung wird die bittere Konsequenz der einstmals utopischen Vorstellung einer besseren Gemeinschaft aufgerufen. Der Friedhof und das Gefängnis verweisen als heterotopische Orte auf die im Mythos der exzeptionellen Gemeinschaft verborgene Ausgrenzung des Anderen: _______

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dream of a perfect society with America and to locate their fairylands, their New Atlantis, their City of the Sun in some place distant from Europe and in the vicinity of America.« (28) Als die um die Massachusetts Bay ansässige, indigene Bevölkerung durch eine eingeschleppte Pockenepidemie fast vollständig ausgelöscht wird, betrachtet John Winthrop diesen Vorfall in seinen Generell Considerations for the Plantation in New England (1629) als eine göttliche Heimsuchung bzw. Bestimmung: »God hath consumed the natives with a miraculous plague, whereby the greater part of the country is left voide of inhabitants.« (1931, 120)

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The founders of a new colony, whatever Utopia of human virtue and happiness they might originally project, have invariably recognized it among their earliest practical necessities to allot a portion of the virgin soil as a cemetery, and another portion as the site of a prison. (Hawthorne 1988, 35)

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Im Rückgriff auf die Gründerjahre der Nation führt Hawthorne die Fallstricke dogmatischer Glaubensprinzipien und die Realität des kolonialen Credos anhand der Verbannung der Protagonistin Hester Prynne vor Augen. Die amerikanischen Kulturwissenschaftler Donald Pease und William Spanos haben im kritischen Seitenblick auf den Ausnahme-Theoretiker Giorgio Agamben darauf verwiesen, dass eben jene kulturell-religiöse Konzeption des Exzeptionalismus eine wesentliche Rolle für die politisch motivierte Ausnahme im Antiterrorkampf spielte (Pease 2003, 2009, 2010, Spanos 2011). George W. Bushs Betonung des homelands und die Implementierung des PATRIOT Act nach dem 11. September 2001 waren eben nicht nur als rein patriotische Formel oder Werkzeug des Krisenmanagements zu verstehen, sondern vielmehr als Teil einer neoliberalen Inszenierung von Gemeinschaft, die sich auf die Tradition eines amerikanischen Exzeptionalismus berief und somit ältere Erzählungen der Zugehörigkeit heranzog. Im Antiterrorkampf erfährt der amerikanische Exzeptionalismus im Spannungsfeld zwischen Mythos und Biopolitik eine Neubewertung. Die Phantom-Identitäten und ihre Verwahrungsorte markieren dabei einen Bereich des Nationalen sowie die Grenze des nationalen Raums. Im Kontext des 21. Jahrhunderts und sozialer Steuerungsprozesse, die auf das Leben selbst zielen, soll nunmehr in Erweiterung mythogenetischer Argumente von einer mythobiotischen Struktur gesprochen werden, denn im Verweis auf das aktuelle homeland verschränken sich mindestens zwei Aspekte: ein vorpolitisches Konzept der Gemeinschaft und die gegenwärtige sicherheitspolitische Agenda. Home als Haus, im Sinne des griechischen oikos, ist ein Wirtschaftszusammenschluss und ein Familienbund, in dem die einzelnen Mitglieder in ihrer jeweiligen Funktion zum Wohlstand der Familie beitragen. In Bezug auf den affektiven Zusammenhalt greift die Idee des homeland zugleich auf das Konzept der Schicksalsgemeinschaft zurück. In der Beschwörung des post-9/11 Gesellschaft ging es weniger um die politische Gemeinschaft, aus dem knappen Wahlergebnis von 2004 und der politischen Zerrüttung des Landes ließ sich kein Einheitsbild generieren, vielmehr rückte ein »archaisches, nebulöses« Konzept der Nation in den Vordergrund (Brennan 1990, 45, meine Übers.). Der Mythos der Nation beschreibt in diesem Fall ein »retrospektives Muster«, »einen »magischen Glauben [...], deren Funktion es [ist], die Tradition zu stärken und ihr größeren Wert und Prestige zu verleihen, indem man sie auf eine höhe-

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re, bessere und übernatürliche Realität beginnender Ereignisse zurückführte« (Brennan 1990, 45, meine Übers.).7 Die Sicherheitsagenda ist demnach nicht als spezifisch postmodernes, durch die technologischen Neuerungen der globalen Informationssphäre ausgelöstes Phänomen zu verstehen, sondern ist bereits im Gründungsmythos des Nation angelegt: der panoptische Weitblick, die (Selbst-)Überwachung der Gemeinschaft und ein von außen an die Gemeinschaft herangetragenes (bedrohliches) Begehren, gegen das es sich zu verteidigen und abzugrenzen gilt. Im aktuellen homeland-Diskurs lässt sich nunmehr von einer Intensivierung oder Re-Vitalisierung des Mythos im Zeitalter der digitalen Überwachungsmöglichkeiten und weiterer technischer Neuerungen im Bereich des Bevölkerungsmanagements sprechen. Die Zeit nach dem Terroranschlag 2001 ist durch eine verstärkte Überwachung des öffentlichen und privaten Raums, die Aufhebung des Postgeheimnisses, eingeschränkte Versammlungsrechte und darüber hinaus einen Anstieg der privatisierten Sicherheitsindustrie geprägt.8 Der Schutz des gegenwärtigen Lebens legitimiert sich über den Verweis auf den exzeptionellen Status der Gemeinschaft, der seine Geltung wiederum durch eine überzeitliche Präsenz erhält. Der biopolitische Diskurs muss notwendigerweise die historischen und gegenwärtigen Konsequenzen der Überwachungslogik, wie die durch nationale Expansion und imperiale Bestrebung verursachte Vertreibung und Entwurzelung anderer ethnischer, religiöser und sozialer Gruppen, ausblenden, um sich als alterna_______ 7

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Nach Roland Barthes ist der Mythos eine Aussage, die auf eine Naturalisierung und Essentialisierung des Bezeichneten zielt. Die Nation erzeugt den Anschein einer Pseudonatur. Der Mythos setzt die Geschehnisse zusammen und schafft ein kohärentes Bild, welches besonders in Fragen der Identitätsverortung problematisch sein kann. Roland Barthes hat diesbezüglich vermerkt, dass der Mythos die die Beziehung von Zeichen und Bezeichneten ausblendet. Er ist »kein Objekt, kein Begriff oder eine Idee«, sondern vielmehr »eine Weise des Bedeutens, eine Form« (Barthes 1964, 85), die, wie die Vorstellung vom amerikanischen Exzeptionalismus zeigt, die Naturalisierung der amerikanischen Identität und der nationalen Mission perpetuiert. Wie sehr sich die ältere Gemeinschaft der Nation und der biopolitische Diskurs verschränken, lässt sich u.a. an der Definition im Homeland Security Act (Sektion 2) vom 25. November 2002 ablesen: »Each of the terms ›American homeland‹ and ›homeland‹ means the United States« (Homeland Security Department 2002). Das formulierte Ziel: »to ensure a homeland that is safe, secure, and resilient against terrorism and other hazards.« (Homeland Security Department 2002) Im Zuge dessen wurden nicht nur umfassende Sicherheitspakete zum Schutz der Bevölkerung und der nationalen Grenzen installiert. George W. Bush versicherte, dass die Sicherheitsgesetze die USA nicht nur gegen weitere Angriffe wappnen, sondern die Nation sogar noch »besser« machen würden (Bush 2002b).

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tivlos zu konstituieren. Neben der Erinnerung an gemeinsame Erfahrungen und Opfer bedarf es also zugleich dem Vergessen. Die Bedrohungsnarrative sind auf gesellschaftlicher Ebene wirksam, weil sie ein zukünftiges Ereignis als Realität antizipieren und sich dabei zugleich auf bereits bekannte Feindbilder und Angstszenarien berufen. Die Ontologie des Phantoms, in diesem speziellen Fall des post-9/11 Terrorverdächtigen, beruht auf dem Bewusstsein einer durch die Idee des permanenten Risikos induzierten bedrohlichen Zukunft9 und einer gemeinsamen Vergangenheit, die es zu bewahren gilt. Die muslimischen Terrorverdächtigen und, in letzter Konsequenz, die sogenannten ghost detainees10 in den Geheimgefängnissen, bilden dabei weniger eine auf Evidenz basierende allgegenwärtige Gefahr. Sie sind vielmehr das Produkt einer »Politik der täglichen Angst« (Massumi 1993).11 _______ 9

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Hier ist die gezielte Produktion eines Risikodiskurses als Form der Deutungshoheit über bestimmte Entwicklungslinien sozialer, ökonomischer und ökologischer Gegebenheiten angesprochen. Für Ulrich Beck sind Risiken »im besonderen Maße offen für soziale Definitionsprozesse« (Beck 1986, 30). Diese betreffen jedoch lediglich Einschätzung und Wahrnehmung der Risiken, nicht diese selbst. Für Beck ist es eine empirische Tatsache, dass gesellschaftliche Risiken sprunghaft angestiegen sind und sich alle institutionellen Formen ihrer Kalkulation und Kontrolle überholt haben. Meine Interpretation folgt hier eher François Ewald, demzufolge die Risiken weniger in der allgemeinen Natur technologischer oder sozialer Bedrohungspotentiale liegen. Vielmehr repräsentieren sie eine spezifische Art des gesellschaftlichen Denkens über Ereignisse bzw. sie definieren ein differenzielles Kalkül der Gefahren, das die Unterscheidung zwischen gefährdeten und gefährlichen Individuen und Klassen erlaubt (2001). Die Bezeichnung ghost detainee geht im Kontext des Antiterrorkampfes auf den Taguba-Report on Treatment of Abu Ghraib Prisoners in Iraq von 2004 zurück. Dieser Bericht befasste sich mit dem Status der Gefangenen in Abu Ghraib und deklarierte die Gefangennahme als widerrechtlich in Bezug auf den Armee-Kodex und das internationale Recht. Im TagubaReport sind die ghost detainees und ihre Verwahrungsorte wie folgt beschrieben: »The various detention facilities operated by the 800th MP Brigade have routinely held persons brought to them by Other Government Agencies (OGAs) without accounting for them, knowing their identities, or even the reason for their detention. The Joint Interrogation and Debriefing Center (JIDC) at Abu Ghraib called these detainees ›ghost detainees‹. On at least one occasion, the 320th MP Battalion at Abu Ghraib held a handful of ›ghost detainees‹ for OGAs that they moved around within the facility to hide them from a visiting International Committee of the Red Cross (ICRC) survey team. This maneuver was deceptive, contrary to Army Doctrine, and in violation of international law.« (NPR 2004, 26f.) Der Begriff »Geistergefangene« erinnert auch an die Verschwundenen der Nacht und Nebel-Aktion im Nationalsozialismus sowie die Desaparecidos in Lateinamerika in den 1970er und 80er Jahren und zu Zeiten des Franco-Regimes in Spanien. Der Angstzustand hat sich im Antiterrorkampf zur natürlichen Umwelt herausgebildet und hält sich über eine Vorstellung des zukünftigen Events

Phantome des Terrors

Die auf kollektiver und individueller Ebene wirksame, transhistorisch verankerte und doch gegenwärtig formulierte Fiktion des homelands schreibt sich über ihre kulturellen Äußerungen fort. Literatur und Film machen das at-homeness vis-à-vis einer fremden, angstbesetzten, anderen Welt greifbar, zum anderen definieren sie das homeland als eine vor äußeren Angriffen zu schützende Instanz (Kaplan 1998, 581-582). Die Nation, als dem »Verlangen nach der Form« (Brennan 1990, 45), orientiert sich am utopischen Versprechen der Einheit, das durch mediale Inszenierungen unterwandert oder aufrecht erhalten wird. Aktuelle mediale und filmische Repräsentationen, die die Geheimgefängnisse und Militärlager zum Thema machen, nutzen den Topos der Gefangenschaft, um gemeinschaftsbildendende sowie kriseninduzierende Ideologien des U.S.-amerikanischen Antiterrorkampfes aufzurufen. In den folgenden Analysen liegt der Fokus auf der Gendersignifikation von Wärtern und Gefangenen in den Fotografien aus Abu Ghraib (2004), der TVSerie Homeland (seit 2011) und dem Hollywood-Spielfilm Zero Dark Thirty (2012). Bis heute hat sich mit dem Topos der Gefangenschaft und seiner konstitutiven Bedeutung für die nationale Identität eine Genderkonstellation erhalten, die bestimmte Abweichungen nur schwerlich akzeptiert. So wird die Frau in Gefangenschaftserzählungen als Opfer inszeniert, während Männer als heroische tough guys auftreten. Die nachstehend behandelten Frauenfiguren im Kontext der post-9/11-Gefangenschaft widersprechen dem traditionellen damsel in distress-Narrativ dahingehend, dass sie eher als Cowboy und gatekeeper der Nation auftreten und somit in die Fußstapfen des maskulinen Helden der Grenzgefechte treten. In diesem Sinne hatte Amy Kaplan bereits für die frontier romance erklärt: »[M]en and women become national allies against the alien, and the determining division is not gender but racial demarcations of otherness.« (1998, 582) Die neuen American Eves perpetuieren nicht nur die Ideologie des Antiterrordiskurses, sondern sind darüber hinaus an der Herabsetzung des muslimischen Anderen beteiligt. Es scheint mir daher gewinnbringender von einem Gender-Spektakel12 zu sprechen, das damals wie heute dazu dient, ethnische und rassistische _______

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als latenter Bedrohung (Massumi 2010, 54). Dies bedeutet nicht, dass keine reale Gefahr vom Terror ausgeht. Vielmehr ist in der homeland-Fiktion die faktische Basis der »Prämediation« des Terrors nachgelagert (Grusin 2010). Guy Debord hat in seiner bekannten Studie zur modernen Spektakelgesellschaft (1996) herausgestellt, dass das Bedürfnis der Menschen nach dem Spektakel seit der Antike ungebrochen ist und sich lediglich über neue Aufführungsformen und -medien neu formiert. Besonders mit der Spätmodernde ist das Spektakel global betrachtet noch stärker an kapitalistische Strukturen gebunden.

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Parallelen aus dem Fokus zu schieben. Gendervorstelllungen werden zum ideologischen Instrument, um die rassistischen Unterströmungen im Diskurs über die Gefangenschaft zu verschleiern. Das Genderspektakel in Film, Fernsehen und medialer Berichterstattung unterstützt die Produktion der Phantomposition und lässt sich als Teil einer Strategie des Verschwindenmachens lesen.

6.1 Private Lynch: Opfer oder Wärterin der homeland-Fiktion? Film, Fernsehen und allgemein die mediale Berichterstattung sind zentral für ein Verständnis der gesellschaftlichen Verhandlungen der Antiterrorbekämpfung. Gilmore vermerkt dazu: Much of the collective knowledge about the War on Terror has relied on disseminated images, these images have also been, by and large, regulated, narrated to us instead of for us. From the leak of Abu Ghraib photographs to the prohibition on releasing images of Bin Laden’s corpse, the image archive of the last decade has been intensely mediated to promote or disrupt certain ideological understandings of the War on Terror. (2016, 288)

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Die Gender-Komponente, obwohl sie noch immer eine randständige Größe in Medienanalysen zu sein scheint, hat das Bildermanagement und die öffentliche Debatte um den ›Krieg gegen den Terror‹ über Jahre mit geprägt. In der Berichterstattung zu Jessica Lynch, einer jungen U.S.amerikanischen Gefreiten, die 2003 mit fünf anderen Soldaten während eines Einsatzes in der Nähe der Stadt Nasiriya im Irak in Gefangenschaft geriet, lässt sich das Genderspektakel exemplarisch aufschlüsseln. Lynchs Rettung aus einem Krankenhaus durch eine U.S.-Spezialeinheit sorgte in den Medien für Aufsehen, da nach und nach verschiedene Versionen ihrer Inhaftierung auftauchten. Militär und Medien konzentrierten sich gleichermaßen auf Lynchs Geschichte während die anderen Gefangenen der Einheit kaum Beachtung fanden. Der Fall Lynch ist auch deswegen interessant, weil er einer hoch gelobten und kritisch diskutierten Studie zur Maskulinisierung der amerikanischen Gesellschaft nach 9/11 als Aushängeschild dient. Die Autorin Susan Faludi interpretiert die Darstellung der Rettungsaktion der Soldatin in den Medien als klassisches captivity narrative: »The story of a helpless white girl snatched from the jaws of evil by heroic soldiers.« (2007, 216) Sie wertet den medialen Erfolg der Geschichte als Symptom für die Wiederkehr traditioneller Genderrollen in Politik und Medien, die im Moment der Verunsicherung auf die Figur des Machos, archetypisch verkörpert vom ehemaligen Präsidenten George W. Bush, zurückgriffen:

Phantome des Terrors

[T]he Showtime Bush was part Hulk Hogan (›We’re gonna kick the hell outta whoever did this. No slap-on-the-wrist game this time!‹), part Rambo (›This will decidedly not be Vietnam‹), and part Dirty Harry (›If some tinhorn terrorist wants me, tell him to come over and get me! I’ll be at home waiting for the bastard‹). (Faludi 2007, 63-64)

Auf der Grundlage von Zeitungsanalysen und der digitalen Berichterstattung nach dem 11. September, spricht Faludi von einem »genderbacklash«, vergleichbar mit den 1950er Jahren in den USA, in dem eine »re-domestizierte Weiblichkeit« einer »Kalter-Krieg-Männlichkeit« gegenüberstand (2007, 4, meine Übers.). Die Journalistin argumentiert, dass Medien und Politik (teilweise in enger Verzahnung) für die Wiederbelebung einer Macho-Kultur verantwortlich sind, die sich auf Werte der puritanischen Gesellschaft und des Westerns stützt. Diese These ist durchaus nachvollziehbar, doch Faludi blendet die Rolle der Frau sowohl im Widerstand gegen die Sicherheitspolitik Bushs13 als auch, historisch betrachtet, in der Perpetuierung hegemonialer Rechtfertigungslogiken aus. Im Rückgriff auf die kolonialen Anfänge der USA und dem Argument der Regression, ignoriert Faludi die komplexen Deutungsmechanismen der frühen captivity narratives. Als eigenständiges Genre der Kolonialzeit und generisches Element der frontier romance, diente das Thema Gefangenschaft immer auch einer sozialpolitischen Agenda. In der Erzählung über die Gefangenschaft wurden soziale, kulturelle und politische Zugehörigkeiten verhandelt und zugleich die Superiorität des ›weißen‹ Amerikas verankert. Tara Fitzpatrick hat in ihrem einflussreichen Essay »The Figure of Captivity: The Cultural Works of the Puritan Captivity Narrative« die Bedeutung der captivity narratives für das nationale Selbstverständnis betont: [T]he captivity paradigm, as here articulated by a handful of survivors and their ministers, helped to shape and promote a particularly American discourse regarding our historical identity (see Bercovitch, Puritan; Jehlen). And, in a twist on the conventional image of an untethered man conquering a ›virgin wilderness‹, the American rhetoric of self-creation in these Puritan captivity narratives issued predominantly from women. (1991, 3)

Richard Slotkin sieht in dem Genre ein »archetypisches Drama« verwirklicht (Slotkin 1973, 94, meine Übers.) und verweist ebenso wie Fitzpatrick auf den Gender Diskurs: »In it a single individual, usually a woman, stands passively under the strokes of evil, awaiting rescue by the grace of God.« _______ 13

Die New York Times Kritikerin Michiko Kakutani wies darauf hin, dass in Faludis Analyse die Jersey Girls (Kristen Breitweiser, Mindy Kleinberg, Patty Casazza und Lorie van Auken), eine Gruppe von Frauen, die sich für die Bildung einer unabhängigen 9/11-Kommission einsetzten und ranghohe Angestellte des Weißen Hauses zur Aussage zwangen, zugunsten eines vereinheitlichenden Arguments unerwähnt blieben (2007).

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(Slotkin 1973, 94) Die zugeschriebene Passivität muss jedoch einer kritischen Revision unterzogen werden, denn Frauen waren diskursbildende Figuren, wenn es um die Perpetuierung von ethnischen Ideologien ging: »[...] [W]omen’s and men’s frontier romances not only shared a fundamentally similar racial ideology, but also worked together to produce it.« (Tawil 1998, 100)14 Faludis intentionale Lesart der Mediengeschichte um Jessica Lynch bietet keinen Raum für die sich überlagernden Deutungshoheiten sowie die emanzipatorische Kraft weiblicher Selbstinszenierung. So ignoriert sie den Fakt, dass die Medien und das Pentagon die junge Gefreite nicht nur als Opfer, sondern auch als Rambo aus West Virginia aufbauten (vgl. Cohen 2007 und Kakutani 2007). Diese Tatsache mag für ihr Argument nicht zuträglich gewesen sein. Im Endeffekt entpuppten sich beide Darstellungsstrategien, die Viktimisierung und die maskuline Überhöhung, als medial inszenierte Finten. In späteren Interviews mit Lynch und vor allem im Dokumentarfilm Saving Private Jessica. Fact or Fiction? des BBC-Kriegskorrespondenten John Kampfner (2003) wird deutlich, dass die Soldatin bei einem Hinterhalt in der Nähe der Stadt Nasiriya verwundet wurde und im örtlichen Krankenhaus auf ihren Ausflug wartete. Während des Aufenthalts wurde sie nach eigenen Angaben gut behandelt und versorgt. Lynch war also nur für sehr kurze Zeit Kriegsgefangene des irakischen Militärs, sie selbst hat wiederholt die Behauptungen, gefoltert oder gar vergewaltigt worden zu sein, dementiert. Nach der Medienwissenschaftlerin Allanah James wurde die Perspektive Lynchs in der Darstellung der Geschehnisse absichtlich ignoriert und zum Schweigen gebracht: She is both an object and a symbol, denied agency in the manipulation of her identity to serve normative and disciplinary functions. She was categorized as a victim in the media through descriptions of her small size, her youth, her status as a non-combat officer, and the injuries she sustained during the ambush. By

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Der Begriff »autobiographisch« birgt seine Risiken, denn die Erzählungen der Frauen wurden nicht selten von Männern verfasst, übermittelt und editiert und/oder mit einem einleitenden Vorwort versehen. Es muss daher verstärkt auf die intrikate Verbindung von Erfahrung, Erzählung und Rezeption eingegangenen werden. Auch wenn die Rahmung der frühen kolonialen »captivity narratives«, wie Mary Rowlandsons Gefangenschaftserzählung (1682), durch ihre komplizierten Publikationsbedingungen keine eindeutig weibliche Autorschaft bezeugen, so diente die weibliche Erfahrung, vor allem die Angst vor Vergewaltigung und körperlicher Versehrtheit, einer Rechtfertigungslogik früher hegemonialer Ansprüche. Die mahnende Erzählung der Gefangenschaft und der Errettung durch Gottes Gnaden begünstigte die Bestrafung sozialer wie moralischer Abweichungen innerhalb der Gemeinschaft sowie der Legitimation der kolonialen Ideologie (Breitwieser 1990).

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denying her a voice, the military and the media denied her agency, while simultaneously crafting a ›hero narrative‹ around her. (2012, 27)15

Jessica Lynch funktionierte als damsel in distress ebenso gut wie in der Rolle der Heldin, denn beide Interpretationen der Ereignisse unterstützen das Narrativ der Bedrohung durch einen äußeren, in diesem Fall, islamischen Feind. Die Inszenierung der heldenhaften Jessica Lynch half in der Verschleierung der unbequemen Tatsachen, wie Deepa Kumar argumentiert: The story of the ›dramatic‹ rescue of a young, vulnerable woman, at a time when the war was not going well for the US, acted as the means by which a controversial war could be talked about in emotional rather than rational terms. (2004, 297)

Der Krieg im Irak war 2003 von negativen Schlagzeilen überschattet: Auf internationalem politischen Terrain misstraute man den vom damaligen Außenminister Colin Powell vorgelegten Beweisen für die irakischen Massenvernichtungswaffen und auch in der amerikanischen Bevölkerung schwand die Unterstützung. Man benötigte positive Meldungen aus der Kriegszone. Dazu nutzte man ein altbewährtes Muster: Jessica Lynch wurde in beiden Szenarien als Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen präsentiert, die zur Heldin aufstieg und sich somit als ›wahre‹ Amerikanerin qualifizierte. Hier verband sich die weibliche Opferrolle des klassischen captivity narrative mit der heroischen Erzählung des Cowboys und wurde von der jeweiligen Seite, einer männlich paternalistischen und der feministischen Lesart, instrumentalisiert. 16 Mit der palimpsestischen Überlagerung der Interpretationen wird die Americaness der Jessica Lynch untermauert. In beiden Fällen konnte sich die Öffentlichkeit mit einer Heldin aus der Mitte der Gesellschaft identifizieren, die im Feindesland für die Heimat kämpfte. Während Faludi das Rambo-Image Jessica Lynchs zugunsten einer feministischen Lesart ignoriert, in der Frauen die Opfer einer gewaltbereiten männlichen Gesellschaft sind, betonen Kumar und James eine allgemeine Instrumentalisierung von Frauen im Antiterrordiskurs und speziell die Unmöglichkeit für Frauen, innerhalb der im Militär propagierten Genderrollen ihre eigene Position zu finden. Dabei scheint ausgeschlossen, _______ 15

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Weiterführend zu dieser Perspektive vgl. Sjolander/Trevenen 2010. Allgemein zur Perspektive des westlichen Feminismus auf den ›Krieg gegen den Terror‹ vgl. Thobani 2007. Ein weiteres prominentes Beispiel liefert die Geschichte der Millionärserbin Patty Hearst, die 1974 von einer linken Gruppe entführt wurde, um von der Familie Lösegeld zu erpressen. Zwei Monate nach ihrer Befreiung schloss Hearst sich der Guerillatruppe an und wurde wegen Bankraubs verurteilt. Auch hier schwankten die Interpretationen zwischen zwei Polen: Einerseits wurde Hearst als Opfer des Stockholm-Syndroms dargestellt, andererseits galt sie vielen als eiskalte Gangsterin (Castiglia 1996). Die Ziele der linken Bewegung waren kaum mehr von Bedeutung und erfuhren durch das mediale Gender-Spektakel eine Entpolitisierung.

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dass Frauen selbst als Akteure und Advokaten der homeland-Fiktion auftreten. Doch ließe sich die Inszenierung der Geschichte der Jessica Lynch nicht auch als Emanzipation sehen? Die junge Soldatin hat die mediale Aufmerksamkeit durchaus zu ihren Gunsten genutzt. Im November 2003 erschien die von Rick Bragg verfasste und von Lynch autorisierte Biographie I Am a Soldier, Too: The Jessica Lynch Story. Viele Aspekte, die Lynch bei der eidesstattlichen Erklärung vor dem Kongress und in weiteren Interviews für falsch erklärt hatte, wurden hier neu aufbereitet. In der Biographie wird von einem sexuellen Übergriff berichtet, an den sich Lynch nicht erinnern kann, für den es laut ihrer Krankenakte aber durchaus Anzeichen gab. Diese Informationen wurden vorher dementiert. Die Soldatin nutzte schlussendlich das mediale Opfernarrativ zur Selbstermächtigung, das Spannungsfeld von Mythos und Realität hat Lynch aktiv mitgeprägt.17 An Lynchs Beispiel wird eine tiefe Verunsicherung bezüglich der neuen Heldinnen und der Position von Frauen in traditionell männlichen Berufen sichtbar. Zugleich zeigt sich anhand der medialen Aufmerksamkeitsökonomien eine Sehnsucht nach heroischen Narrativen im Zeitalter der Krise.18

6.2 Torture Chicks und Hooded Man Ein weiteres Genderspektakel im ›Krieg gegen den Terror‹ entspann sich um private Fotos von Soldatinnen und Soldaten aus Abu Ghraib, die 2004 an die Öffentlichkeit gelangten.19 Die meisten Fotos zeigen Gefangene in (sexuell) erniedrigenden Posen. Die Wärter agieren vor und hinter der Kamera als Zeremonienmeister und setzten sich durch verschiedene Ges-

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Nicole Waller sieht hier, ähnlich wie Faludi, eine Re-Inszenierung des klassischen captivity narratives am Werk und verweist auf die Fabulierlust des männlichen Erzählers, die auch frühe Erzählungen der Verschleppungen prägt. Interessanterweise wird die Autorisierung der Biographie durch Jessica Lynch selbst nicht als Korrektiv dieser Lesart gewertet (2011). John Carlos Rowe verweist darüber hinaus auf die globale Zirkulation der Lynch-Geschichte als gezielte Regulation innenpolitischer Krisen: »Jessica Lynch imports foreign crises and forces them to circulate as national narratives, then exports them to other non-U.S. venues where they continue to help ›globalize America‹. The speed with which Jessica Lynch was in fact adapted and adopted to domestic concerns is symptomatic [...] of the ›U.S. nationalization of international crises‹ as means of containing and controlling those crises.« (2013, 191, Herv. i.O.) Die Fotografien und weitere Informationen zu den Abu Ghraib Akten sind über Salon.com einsehbar. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Gefangenen, wird hier darauf verzichtet die Bilder zu zeigen.

Phantome des Terrors

ten der Überlegenheit zu den Häftlingen ins Verhältnis. 20 Die Tatsache, dass in den Skandal mindestens sechs Frauen aller Dienstgrade verwickelt waren – drei davon befanden sich unter den sieben Angeklagten des Folterskandals – sorgte für globales Aufsehen. Involviert waren die Soldatinnen Megan Ambuhl und Sabrina Harman, die Gefreite Lynndie England, die damalige Kommandantin des Gefängnisses, General Janis Karpinski, Major General Barbara Fast, die Geheimdienstoffizierin, die für den Status der Gefangenen verantwortlich war sowie die damalige Nationale Sicherheitsberaterin und spätere Außenministerin Condoleezza Rice. Während die Frau im Fall der Jessica Lynch in den dominanten Lesarten als damsel in distress oder als patriotische Heldin erscheint, so wird sie nun als bad apple, als außerhalb einer akzeptierten Gendervorstellung stehende Figur und eo ipso als defizitärer Auswurf der Nation markiert. Die Erklärungsversuche für die Beteiligung der Soldatinnen waren insofern interessant, weil sich von vielen Seiten – Medien, Kunst, Politik und Militär – eine Diskussion entwickelte, die schlussendlich den gefolterten Gefangenen aus dem Fokus schob. Besonders das Gender-Spektakel um Lynndie England führt eindrücklich vor Augen, wie eine sozial determinierte Weiblichkeit als Strategie der Entpolitisierung funktionierte. Die Fotos, die im Zentrum der folgenden Analyse stehen, zeigen die Gefreite Lynndie England, die an den Misshandlungen in Abu Ghraib beteiligt war und als eines der »torture chicks« (Dowd 2005) bekannt geworden ist. Obwohl zwischen 2004 bis 2006 279 Fotos und 19 Videos aus Abu Ghraib veröffentlicht wurden (Salon 2006), hat sich vor allem das Motiv der folternden Frau im kollektiven Gedächtnis festgesetzt. Wie erklärt sich diese Präsenz? Und wie lassen sich die weiblichen Wärterfiguren zu den ikonischen Darstellungen des Gefangenen als hooded man und Menschenpyramide in Beziehung setzen? Die Bilder aus Abu Ghraib sind Ort, Speicher und Katalysator des Nationalen. Sie werden über bestimmte »Wahrnehmungs- und damit Anerkennungsrahmen« (Butler 2009, 63-100) überhaupt erst als solche produziert und rezipiert. Susan Sontag hat konkret zur Fotografie darauf hingewiesen: »Photography is a way of seeing, not seeing itself.« (2007, 124) Das Narrativ, so Sontag, wird an das Bild herangetragen und das Bild somit im interpretativen Akt belebt. Nach Judith Butler verkörpern Bilder immer den subjektiven und ideologischen Blick auf ein Ereignis und prägen zugleich den Diskurs über den Gegenstand (2007). Von perversen Ausnahmen, der Opferrolle der Soldatinnen, den negativen Effekten des westlichen Feminismus, der Betonung der psychischen Unzurechnungsfähigkeit _______ 20

Für eine umfassende Besprechung der Abu Ghraib Fotos als »ikonische Wendung im ›Krieg gegen den Terror‹« vgl. Binder 2012.

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bis hin zu den pornographisch-sadistischen Auswirkungen des Reality TVKonsums (McKelvey 2007a, 14)21 lassen die Bilder eine Reihe widerstreitender und doch bannender Interpretationen zu. Der Horror, der sich mit den Bildern verbindet, hängt vor allem mit einem hegemonialen Diskurs über die Frau und die traditionellen Kontexte ihrer (Re)Präsentation zusammen. Lynndie Englands »militarisierte Weiblichkeit« (Sjoberg 2007) weckt ein gesellschaftliches Unbehagen, denn sie agiert innerhalb eines Umfelds, das durch männliche Rollenbilder geprägt ist: das Militär.22 Es mag daher schlüssig sein, zu behaupten, dass das Erscheinen der Frauen in den Bildern lediglich dazu gedacht war, die muslimischen Gefangenen vor Ort zu beschämen. Lynndie England und Sabrina Harman, die ebenso in den Fotos als agierende Person auftauchte, wären demnach nur Instrumente der Folter in der Antiterrorbekämpfung gewesen.23 Diese Interpretation unterstützt eher traditionelle Vorstellungen der Frauen als passive Akteure im ›Krieg gegen den Terror‹. Demnach gelten sie eher als Opfer von Gewalt24, sind im Lazarett als Krankenschwester für die Versorgung der Verwundeten zuständig, geben Hoffnung als wartende Geliebte oder rühren als Mutter kämpfender Söhne. Harman und England treten im Bild als auch in der Rezeption als widerständige Instanzen auf, die als Vorzeigeprojekte einer medial gesteuerten Genderpolitik nicht an Faszination verloren haben. _______ 21 22

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Zur (Un-)Sichtbarkeit der Genderaspekte in der Debatte um Abu Ghraib vgl. Gronnvoll 2010 und McKelvey 2007c. Sjoberg macht drei Entwicklungslinien einer »militarisierten Weiblichkeit« fest: das Bild der perfekten Soldatin, die Konstruktion »militärischer Weiblichkeit« im Verhältnis zum zugeschriebenen Geschlecht des Gegners und die Spannung zwischen dominanten gesellschaftlichen Bildern von Weiblichkeit und der Handlungsmacht von Frauen in Gewaltsituationen (2007). Die bloße Anwesenheit von Frauen und auf die sozio-kulturelle Signifikation des Geschlechts ausgerichtete Foltermethoden bei den Verhören und den Foltersituationen stellt eine zusätzliche Erniedrigung der muslimischen Inhaftierten dar. Die Anwesenheit der Frauen verletzt das muslimische Gebot der Reinheit. Die Foltermethoden der gender coercion wurden auch in Guantánamo verwendet und sind migriert (Kaufman-Osborn 2007, 158). Vgl. dazu auch den Schmidt Report (2005) und den Amnesty International Report (2005). Der ehemalige Präsident George W. Bush und seine Frau Laura Bush bedienten sich einer frauenfreundlichen Rhetorik, die den Militäreinsatz in Afghanistan als Akt der Befreiung der muslimischen Frau legitimierte. Auf der 2011 Konferenz des U.S.-amerikanisch-afghanischen Frauenrats, der von Präsident Bush und Präsident Karzai 2002 ins Leben gerufen wurde, hat Bush wiederholt sein Anliegen betont, dass ein Rückzug aus Afghanistan einem Verrat an den Frauen und somit an der jungen Demokratie gleich kommen würde. Die Unterstützung der afghanischen Frauen war nach Bush »im Interesse der Vereinigten Staaten und der Welt«. Sie bedeutete eine Maßnahme für »anhaltenden Frieden« (Bush zit. nach Carmon 2011, meine Übers.).

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Englands queere (Selbst)Darstellung als »patriotic, pixieish tomboy« (Thomas 2004), die lässig, die Zigarette im Mundwinkel, auf einen nackten Gefangenen zeigt und dabei Bilder des erfolgreichen Jägers und Trophäensammlers, ikonische Posen maskuliner Identität, evoziert, lieferte den Kritikern den Begründungszusammenhang für einen Ausschluss aus den jeweiligen identitären Gemeinschaften. Feministinnen wie Barbara Ehrenreich sprachen von einer Art »epistemischen Schock« für den klassischen Feminismus, den man bestenfalls als eine fehlgeleitete Assimilation beschreiben könne (2007).25 Andere, wie der Journalist George Neumayr, führten im Umkehrschluss den modernen Feminismus als Ursache der moralischen Abweichungen an. Die radikale Emanzipation der Frau war nunmehr für die Folter in Abu Ghraib verantwortlich. Neumayr sprach in der rechtskonservativen Zeitschrift American Spectator von einem »cultural outgrowth of a feminist culture which encourages female barbarians« (2004). Andere Kritiker verwiesen auf die Lernschwäche und die geringen intellektuelle Kapazitäten der Soldatin England (Marshall 2007, 53). Während also die ärmliche Herkunft bei Jessica Lynch zum Heldennarrativ taugte, wurde sie bei Lynndie England zur Erklärung eines unamerikanischen Verhaltens angeführt. Das Pentagon wiederum beschrieb das Ereignis als einen isolierten Vorfall und deklassierte die Soldatinnen als schwarze Schafe. James Schlesinger, ehemaliger Verteidigungsminister und Verfasser des Werkes The Political Economy of National Security (1960), bezeichnete das Lager als »animal house at night« (2004).26 Als Ausnahmefälle wurden die Soldatinnen und Soldaten von der Routine militärischer Aufgaben abgegrenzt, ein rhetorischer Kniff, den W.J.T Mitchell als »Taktik der Schadenskontrolle« (2009, 58) beschrieb. 27 Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich im Vergleich zu den beschuldigten Männern vorrangig auf England, die als Sün_______ 25

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Kritikerinnen verweisen auf den hohen Druck, dem die Soldatinnen im Militär und speziell in dem von Männern dominierten Lager Abu Ghraib ausgesetzt waren (McKelvey 2007a). Nach Feinman imitierten die Soldatinnen maskuline Verhaltensmuster um Anerkennung zu erhalten, aber auch um sich vor Übergriffen der männlichen Kollegen zu schützen (2007). James Schlesinger bezog sich in der Aussage weniger auf George Orwells Dystopie Animal Farm (1945), sondern eher auf die College-Komödie National Lampoon's Animal House (1978), in der die wilden Eskapaden einer undisziplinierten Studentenverbindung den Campus in Trubel versetzen. Der Medientheoretiker Nicholas Mirzoeff hat die konkrete Vermutung, dass über die gezielte Distribution der sexuell aufgeladenen Bilder andere Fotos von zu Tode gefolterten Gefangenen zurückgehalten werden konnten (2009, 290). Es scheint auch von Seiten des Militärs Kalkül gewesen zu sein, die Frauen in den Fokus zu rücken und damit die Frage nach der Existenz weiterer Geheimgefängnisse und allgemein der Anwendung von Folter im Zuge der Antiterrorbekämpfung zu umgehen.

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denbock für die Verfehlungen eines gesamtgesellschaftlichen Systems herhielt. Lucinda Marshall hat daher Lynndie Englands Rolle in den Medien mit der Hester Prynnes in Hawthornes The Scarlet Letter verglichen (2007, 52). Zuletzt war es aber die Pornographie-These, von konservativen wie linken Kritikern gleichermaßen bedient, die sich als dominante Erklärung durchsetzte. Charles Colson, der Begründer des Faith-Based Prison Programs und zentrale Figur der theokonservativen Bewegung in den USA, die im Hintergrund der Sicherheitsfirma Blackwater agierte, argumentierte vor dem Family Research Council, dass die Wärter durch eine »steady diet of pornography« korrumpiert wurden (zit. nach McClintock 2009, 98). Nach Robert Knight vom Culture and Family Institute verursachten homosexuelle Pornos die sadistische Gewalt. Das konservative und rechtsgerichtete Lager nutzte Abu Ghraib, um gegen Homosexuelle und feministische Bewegungen im Heimatland mobil zu machen. Linke Intellektuelle wie Slavoj Žižek, Susan Sontag und Rochelle Gurstein bewerteten die objektivierende, gewaltverherrlichende Ästhetik der Fotos ebenfalls als »pornographisch« und verwiesen dabei auf die Inszenierung von nationalen und männlichen Dominanzmustern. Bei genauerer Betrachtung will sich das pornographische Element aber nicht ohne weiteres erschließen. Ist hier der Schauplatz angesprochen, die Figuration der Soldatin als Domina oder die Darstellung sadistischer Posen? Die Nacktheit der Gefangenen bezeugt nicht per se den pornographischen Gehalt. Sadistische und sadomasochistische Aspekte sind zudem keine notwendigen Elemente der Pornographie.28 Laura Frost hat bemerkt, dass das Schlagwort Pornographie die simple und greifbare Erklärung für die verstörenden Fotos war (2007, 143), denn bei genauerer Betrachtung ist die Analogie brüchig. Die schnelle und erfolgreiche Handreichung des pornographischen Arguments deutet eher auf den Wunsch der Erzählbarkeit des Ereignisses, den Versuch der Auslöschung epistemischer Unsicherheit über die hermeneutische Bannung in einem dominanten, bereits etablierten Narrativs zivilisatorischen und moralischen Verfalls. Der Rekurs auf den pornographischen Diskurs zielt somit eher auf eine Kritik an der postmodernen Gesellschaft. Die Geschehnisse in Abu Ghraib wurden von der fortschrittskritischen als auch von einer antiliberalen (antihomosexuellen) Position vereinnahmt, die im Grunde den arabischen Gefangenen aus dem Fokus schiebt. Die Selbstbezüglichkeit des Diskurses _______ 28

Die Diskussion um den pornographischen Gehalt der Bilder hat zum einen zu einer Trivialisierung der Gewalt, zum anderen zu einer Dämonisierung von Pornographie allgemein geführt. Vgl. dazu Koschorke 2007 und Kümmel-Schnur 2007.

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eruiert damit eher – in Anlehnung an Susan Sontags bekanntes Essay – den Schmerz den wir uns selbst zufügen.29 Betrachtet man nun Lynndie England und die anderen in Abu Ghraib stationierten Soldatinnen rein über das traditionelle Genderbild und die patriarchalische Ordnung möglicher Identitätsentwürfe – als Opfer oder als ausführende Organe des männlichen Wunsches – bedeutet dies, sie in ihrer konstitutiven Funktion als Meinungsbildner auszuschließen. Lesarten, die die Viktimisierung und Instrumentalisierung der Frauen oder ihre Anpassung an einen maskulinen Gestus betonen, basieren auf einem androzentrischen Weltbild. Wie erklären wir Lynndie Englands bis heute schuldresistente Haltung? Als Verdrängungsleistung, als internalisierter männlicher Blick oder als Wahrnehmung des Opfers? Man könnte ebenso argumentieren, dass England die Rolle des Opfers nutzte, um die eigenen Schuldgefühle abzuwehren oder um im männlichen sowie medialen Blick eine Selbstbestätigung zu erfahren. Sie sah ihre eigene Involvierung – entgegen des vom Pentagon induzierten Narrativs – eben nicht als persönliches Versagen, sondern machte ihre Vorgesetzten und ihren ehemaligen Geliebten Charles Garner verantwortlich (Morris 2008). Dabei war sie sich der Implikationen ihrer Handlung, der Einschreibung in den maskulinen Diskurs und nicht zuletzt der Aufmerksamkeitsökonomien des Antiterrorkampfes, bewusst. 30 In einem Interview mit dem Stern im März 2008, vier Jahre nach Veröffentlichung der Bilder, sprach sie über die Rolle, die sie in der anhaltenden Berichterstattung über Abu Ghraib einnimmt: »Although I was only in five or six pictures, I am the most famous. So I suppose I am a symbol of this war. Unfortunately.« (Streck/Wiechmann 2008) Darüber hinaus fragt der Interviewer wie sie die Haftstrafe erlebt habe: »Literally, it was like flies on shit, man. [...] Oh my God. They loved me. I was like a celebrity.« (Ibid.) In einem der letzten Sätze bringt England die paradoxe Situation auf den Punkt: »I didn’t ask for the fame.« (Ibid.) Anstatt eines Schuldeingeständnisses _______ 29

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Vgl. dazu Susan Sontags Essay »Regarding the Pain of Others« (2003), in dem sie die Rahmung der Gewalt über die Position des Fotografen und des Betrachters diskutiert. Siehe dazu auch die besonders seit 2004 durch die Folterskandale in Guantánamo und Abu Ghraib angestoßenen Publikationen: Neben Memoiren von ehemaligen Wärtern und Verhörspezialisten (Lagouranis/Mikaelian 2007, Mackey/Miller 2004) liegen Erfahrungsberichte von Anwälten der Internierten (Margulies 2006), in Buchform erweiterte Reportagen von investigativen Journalisten zu den Folterpraktiken in den Militärlagern (McKelvey 2007, Danner 2004, Hersh 2004, Rose 2004), Kompilationen von Regierungsdokumenten (u.a. Greenberg/Dratel 2005), Bücher zur CIA und Folterpraktiken (McCoy 2006, Harbury 2005) und Abhandlungen zur Beteiligung medizinischer Experten in der Entwicklung von Foltertechniken vor (u.a. Miles 2006).

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steht am Ende des Interviews die Erkenntnis nun ein Star zu sein. Die Fotos sind zu »säkularen Ikonen« geworden (Goldberg 1991, 135)31 – das weiß auch Lynndie England. Von vielen Seiten wurde das Zusammenspiel von individuellen, institutionellen und systemischen Komponenten durch die Betonung persönlicher Schwächen und moralischer Fehltritte negiert. 32 Das Geheimlager in Abu Ghraib wird zur Stätte der Verfehlung des Geschlechts, was zugleich seine Rolle als Ort der nationalen Verantwortung und globalen Verstrickungen verdrängt. Betrachtet man die Militärlager als außergewöhnlich, werden mithin ökonomische Interessen, historische Permanenzen sowie die globale Reichweite der Gewalt ignoriert. Amy Kaplan hat in ihrem bahnbrechenden Aufsatz »Where is Guantánamo« (2005) darauf aufmerksam gemacht, dass Orte wie Abu Ghraib und Guantánamo lediglich zwei Punkte in einem »globalen Strafarchipelago« markieren, »wo die Vereinigten Staaten eine unbekannte Zahl von Gefangenen aus der ganzen Welt auf unbestimmte Zeit festhält, im Geheimen transportiert und foltert« (2005, 831, meine Übers.). Die Rede von der Anomalie, der Ausnahme und Singularität des Ereignisses verschleiert die Tatsache, dass die Lager die Kontinuität der U.S.-amerikanischen Imperialpolitik bezeugen, ein von Anne McClintock beschriebenes »imperial déjà vu« (2009, 51). Guantánamo und Abu Ghraib bilden auch international betrachtet keine Ausnahme: »Looked at as an old problem, [they] poin[t] to a long history of imperial powers carving out spaces on the globe not only for their mi_______ 31

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Die Rolling Stones veröffentlichten 2005 den Song »Dangerous Beauty«, der Lynndie England ein musikalisches Denkmal setzte. Dass die Bilder darüber hinaus im kulturellen Imaginären eine anhaltende Wirkung haben, zeigt eine im April 2014 erschienene Ausgabe des Magazins der Süddeutschen Zeitung, die sich noch einmal der Aufarbeitung der »Schatten der Vergangenheit« widmet. Auch in Theater, Film und Bildender Kunst haben die Geheimlager auf vielfache Weise Anwendung gefunden. Neben Theaterstücken wie Guardians von Peter Morris (2005) und Guantánamo: Honor Bound to Defend Freedom (2004) von Vittoria Brittain und Gillian Slovo sind vor allem Dokufiktionen zum Thema entstanden: u.a. Michael Winterbottoms Road to Guantánamo (2006), Errol Morris’ Standard Operating Procedure (2008) und Boris Kennedys The Ghosts of Abu Ghraib (2007). Weiterhin gibt es die Videoinstallation des Street-Art Künstlers Bansky Banksy in Disneyland (2006), die Fotoreihe von Susan Crile The Abuse of Power (2005), die Installation von Richard Serra Stop Bush (2004), Gerald Laings War Paintings (u.a. »American Gothic«, »Only One of Them Uses Colgate«, »Capriccio«, »Look Mickey« und »L’aprés midi d’un faune«, 2002 bis heute) sowie Fernando Boteros Botero Abu Ghraib (2005). Die Armee hat in Folge des Skandals ein Amnestie-Gesetz erlassen, das den Soldaten und Angestellten des Militärs mit der Aushändigung von Fotos und Videos Straffreiheit garantiert. Bis heute besteht der Verrat am Vaterland nicht darin, Fotos zu machen, sondern das Material zu veröffentlichen.

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litary and geopolitical needs but also as depositories for their ›dangerous classes‹.« (Hussain 2007, 737) Die Geheimlager sind zu einer Chiffre für eine Kritik am amerikanischen Imperialismus geworden, die andere Orte der Internierung in den Hintergrund treten lässt.33 Zugleich wird mit der Hervorhebung der einzigartigen Geschehnisse der Ereignischarakter der Lager und der Folter betont, anstatt sie als Teil einer weitreichenden Struktur zu begreifen. Die Bilder stehen metonymisch für die negativen Auswirkungen im ›Krieg gegen den Terror‹ und verengen zwangsläufig den Blick.34 Die Hervorhebung der Frauen als Täter ist Teil einer geschickten Lenkung der Aufmerksamkeitsökonomien und Steuerung innerhalb westlicher Bildregime, die die globalen Zusammenhänge und historischen Kontinuitäten sowie die anhaltende Diskriminierung der muslimischen Gefangenen unterdrücken. Mit ihrer Stummschaltung ist ein allgemeines Funktionsprinzip der Bilder angesprochen, das auch die Wärter betraf. In Anbetracht der psychischen und physischen Belastung dienten die Videos und Fotografien der Selbstvergewisserung. Sie bestätigen die eigene Handlungsmacht: The photographs promised to memorialize, in the fixity of the image, what was ephemeral in the realm of power. In a context of great fear and vulnerability, the photographs promised to capture and fix, in the stopped-time of the image, the soldiers’ fleeting moment of grand omnipotence. The camera became thereby a technology of witnessing, a means for performing rituals of recognition of the soldiers’ brief but absolute dominion over their prisoners. (Sontag 2004, 60)35

Die Soldaten imitieren in den Posen Situationen der sozialen Teilhabe und weisen, fast parodistisch, auf ihre Macht als aktive Gestalter eines gesellschaftlich anerkannten Bildrepertoires, hin: The photographs are complicated by the way they seem constructed around a number of parodies: of tourism (›wish you were here‹ postcards), of conquest

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Während Guantánamo und Abu Ghraib durch die anhaltende Berichterstattung in den letzten Jahren deutliche Verbesserungen erfahren haben, wird im Schatten der beiden Lager das Militärgefängnis in Bagram zum Maximum Security Gefängnis ausgebaut. Andere Folterstätten und Geheimgefängnisse in Asien und Afrika werden im medialen Diskurs ignoriert. Auf das Problem der metonymischen Darstellung des Krieges hat Hannah Arendt in Bezug auf die Fotografien der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen. Die Bilder der Befreier haben als historische Momentaufnahmen die Komplexität, Reichweite und Intensität des nationalsozialistischen Terrors verengt. Die Aufnahmen fokussieren auf das letzte Stadium der Lager, sie geben so nur einen kleinen Ausschnitt der jahrelangen Gewaltherrschaft wieder (2009, 919f., Fn. 122). Die digitale Kamera hat die Berichterstattung beim Militär verändert. Sie wurde nicht nur offiziell zu Dokumentationszwecken eingesetzt, sondern diente vielen Soldaten zur persönlichen Verarbeitung des Gesehenen. Die Fixierung der Ereignisse schützte vor Paranoia und Realitätsverschiebungen (Sontag 2004, 60).

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and trophies (a man as a five-point buck), of national pastimes likes sports and cheerleading (the huddle, the pyramid), a macho man of American movies (Lynndie England’s dangling cigarette and mugging, the two-thumbs-up pose), and of America’s gruesome history of lynching. (Frost 2007, 135)

Lynndie England ist Teil dieser Inszenierungen. Sie führt den nackten Gefangenen an der Leine, sie hält ihn am Boden. Während ihr Gesicht erkennbar ist, bleibt das Opfer maskiert, ein identitätsloser Körper. Hier erscheint die gebannte Spezies des Terroristen (McClintock 2004, 155).36 Der hooded man, das ikonische Bild des Gefangenen Nr. 1437, den wenigsten Menschen als Abdou Hussain Saad Faleh bekannt, wird zum Symbol der gegnerischen Impotenz bei gleichzeitiger Omnipotenz von Seiten des Militärs und im weiteren Sinne der USA. Dies gilt sowohl für die Fotografien aus Abu Ghraib, als auch für die Darstellungen der Häftlinge aus Guantánamo, wie Scott McClintock aufzeigt: As the detainees become less visible, the apparatus of power becomes more visible, and the detainees themselves become one more signifying element in the semiotic of power that compensates the state security apparatus for its blindness to the initial terrorist assault. (2004, 156)

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Der Körper des Gefangenen wird zum imaginären und symbolischen Register der Macht derer, die ihn gefangen halten. Der Kontext der Aufnahme kann nicht von der Rezeption der Bilder getrennt werden (Sontag 2004). Die Fotos zeigen Männer, die vor den Augen der Wärter zum Masturbieren gezwungen werden. Die nackten, übereinander drapierten Körper sind regelrecht in Szene gesetzt und für den Betrachter angeordnet. Das beschädigte Leben wird im Blick des Rezipienten endlos verlängert. Die mediale Sichtbarkeit perpetuiert die Zurschaustellung der Opfer. Mit der Wiederauferstehung des hooded man in den Medien liegt eine zweifache Objektivierung des Gefangenen vor. Nach der realen Verschleppung, die nicht unwesentlich von einem orientalistisch geprägten umfassenden Verdachtsmoment geprägt ist, tritt die Bannung im Signifikationsprozess des Bildes hinzu: _______ 36

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Die Fotos aus Abu Ghraib werden viel weniger als die Fotos des Holocaust als momento mori der Opfer gelesen. Sie gelten weithin als Beweis der Unmenschlichkeit U.S.-amerikanischer Folterpraktiken. Dies scheint mir problematisch, da der Schwerpunkt weiterhin auf der gewaltausübenden Macht und nicht auf der Misshandlung und Objektivierung der Opfer liegt. Das Bild des mit Elektroschocks gefolterten Abdou Hussain Saad Faleh wurde zum Symbol der Folter. An seinen Händen und Geschlechtsorganen waren stromführende Drähte befestigt. Saad Faleh sollte nicht von der Kiste steigen, andernfalls hätten ihn tödliche Stromschlag getroffen. Bis heute dementiert das Militär diese Vorwürfe.

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[T]he images of the prisoners at Camp X-Ray, [...] gesture toward the electronic and digital media as a space of containment, a hyperreal prison island whose center is everywhere and circumference nowhere, and which absorbs the other, the social as the site of political opposition, the remainder of the real. (McClintock 2004, 161-162, meine Herv.)

Die physische Folter betreibt die konsequente Negation des Körpers. Im Bild erscheint er ein zweites Mal als stummer Zeuge, um dann schlussendlich auf der »hyperrealen Gefängnisinsel« (McClintock 2004, 162) der digitalen und elektronischen Medien erneut zu verschwinden. Ein ehemaliger Insasse Guantánamos, Jumah Al Dossari, hat in einem der wenigen veröffentlichten Gedichte aus den Lagern den mehrfachen Tod des Gefangenen poetisch verdichtet: »Take my blood/Take my death shroud and/the remnants of my body/Take photographs of my corpse at the grave, lonely.« (2007, 32)38 Die historische, lokale und materielle Verankerung der Bilder wird in dem Moment verkompliziert, da sie zum globalen Bildarchiv gehören. Die Fotos sind online jederzeit und überall abrufbar. Der Medien- und Bildwissenschaftler W.J.T. Mitchell hat auf die Virulenz der Fotografien, ihre »Klonierung« (2011) in verschiedenen reaktionären sowie subversiven Medien hingewiesen: Die Bilder von Abu Ghraib sind nicht zuletzt durch die Medien zu globalen Ikonen geworden: endlos reproduziert, verbreitet und in Protestplakate, Cartoons, Kunstwerke, Wandbilder, kontinuierlich übertragene Videosequenzen und sogar eine Art Werbeslogan umgewandelt [...]. (Mitchell 2009, 64)

Die Bilder könnte man aufgrund ihrer globalen Bekanntheit inzwischen als Artefakte der globalen Informationssphäre bezeichnen (Kennedy 2008, 279). Als solche erinnern sie an das Unrecht und sind zugleich das Produkt eines a-historischen, entpolitisierenden Akkumulationsprinzips. Auch der wissenschaftliche Diskurs hat nicht unwesentlich zur Vereinnahmung der Gefangenen beigetragen. Der Kunsthistoriker Stephen Eisenman sieht in den Gefangenen »[…] defeated warriors from Hellenistic Greek Sculptures […] posed (as in tableau vivant) like the bound slaves of Michelangelo« _______ 38

Die 2013 erschienenen Memoiren von Mohamedou Ould Slahi, einem ehemaligen Gefangenen Guantánamos, der von 2002 bis 2010 im Lager interniert war, stellt eines von wenigen Dokumenten dar, in denen die Gefangenen selbst über ihre Erfahrungen berichten. Oft sind es pro bono tätige Anwälte der Gefangenen, die wichtige Informationen weitertragen. Die Möglichkeiten in Haft Texte zu verfassen, sind aufgrund der verschärften Sicherheitsbedingungen fast unmöglich. Gedichte, Psalme oder autobiographische Texte werden auf Bechern, Taschentüchern und andere Gebrauchsgegenstände geschrieben und so heimlich aus den Militärlagern geschmuggelt. Der Anwalt Mac Falkoff hat in seiner jahrelangen Arbeit mit den Gefangenen in Guantánamo lyrische Texte der Insassen gesammelt und diese 2007 veröffentlicht.

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(Eisenman 2007, 11). Die Beschreibung und Hebung der Bilder über ein westliches Bildrepertoire trägt auch zur konstanten Re-Viktimisierung der muslimischen Subjekte bei. 39 Donald Pease hat einen übergeordneten Zusammenhang von Spektakelgesellschaft und der Existenz der Gefangenen in Guantánamo aufgezeigt, der sich auch auf die Bilder aus Abu Ghraib anwenden lässt. Er betont, dass der objektivierende Blick zugleich einen »(ein)gefangenen Blick« darstellt, dieses Bewusstsein aber kontinuierlich vom Beobachter negiert wird: The spectacle of detainees disappearing into the maze of an unaccountable juridical system and into the cages of Guantánamo did not impose a mythology on the public so much as it encouraged the formation of a society of captivated spectators who agree to the abridgment of their civil liberties in exchange for the spectacle of persons utterly stripped of all rights and liberties and rendered subject to the full power of the law. (2009, 178)

Der »gefangene Beobachter« verdrängt über die Gefangenschaft des Anderen seine eigene Entmachtung durch die Gesetze der Ausnahme, den Verlust ziviler Rechte und die Überwachung des öffentlichen und privaten Lebens. Die Rolle des Betrachters ist zudem an ein Lustprinzip gebunden. Die Fotografien beziehen ihre Kraft aus demjenigen, der sie anschaut, der sich in den Bann der lebendigen Toten ziehen lässt. Der Rezipient befriedigt dabei im Geheimen sein eigenes Bedürfnis nach dem Spektakel des Todes. Über die Zirkulation in den neuen Medien wurden die Folterbilder als ikonische Darstellungen, welche nur qua gesellschaftlicher Übereinkunft Gültigkeit besitzen, als Wahrheit installiert und verweisen damit immer auch auf die Macht ihrer Hervorbringung. Sie wurden gleichermaßen zum Signifikant und zum Signifikat des amerikanischen Imperialismus. Die hegemonialen Machtverhältnisse schreiben sich über die Betrachtung der Bilder fort. Film und TV-Serien bedienen sich ähnlicher Verfahren, wie

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Einen weiteren Höhepunkt der Deutungsmaschine bietet Boris Groys Essay zum Körperbild der Fotografien (2005). Groys sieht in den Bildern eine Ästhetik der 60er und 70er Jahre am Werk, die sich vor allem auf die Darstellung des »acepahlen Körpers« bezieht. Die Nacktheit des Gefangenen dient vorrangig der ideologischen Entschleierung. Der muslimische Körper wird im Sinne eines modernen Exhibitionismus dem säkularen Freiheitsbegriff unterworfen. Groys Argument einer Inszenierung der muslimischen Körper für erzieherische Zwecke ist interessant, doch der Vergleich der Fotos mit westlichen, avantgardistischen Strategien macht sie zu Objekten der Kunst, die in der Besprechung durch den Kritiker noch einmal mehr in den Status des Abstrakten gehoben werden. Diese Form der Kritik bedient sich schlussendlich einer wissenschaftlichen Aneignung, die vor allem in Hinblick auf die Intentionalität der Soldatinnen und Soldaten und die unfreiwillige Teilnahme der Gefangenen unglaubhaft ist. Es handelt sich schließlich nicht um eine Performance.

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sich im Folgenden exemplarisch anhand der Serie Homeland und dem Spielfilm Zero Dark Thirty zeigt.

6.3 Amerikanische Gefangene – Muslimische Phantome Der ›Krieg gegen den Terror‹ und die damit einhergehenden Orte und Praktiken der Gefangenschaft werden durch ihre mediale Aufbereitung in amerikanischen Hollywood-Produktionen und TV-Serien mythologisiert. Das, was den militärischen Strategen und Verwaltungsbeamten der CIA an Einbildungskraft fehlt, wird durch Hollywood in unzähligen Szenarien vorbereitet und antizipiert: In the War on Terror, it seemed, the erstwhile inability of security bureaucracies to imagine potential threat scenarios might be remedied by drawing on the creativity of Hollywood scriptwriters and right-wing pulp novelists. What was needed, was thought, was to get inventive in conjuring up potential threats, as well as breaking down pre-existing assumptions of how best to prevent them. Hollywood became as significant as Arlington, Fort Meade, and Langley in the landscape of the US national-security state. (Kumar/Kundnani 2013) 40

Während in den ersten Jahren nach dem Anschlag auf das World Trade Center Filme wie We Were Soldiers (2002), Black Hawk Down (2002), The War Tapes (2006) oder die Mini-Serie Band of Brothers (2001) das »humane Element« des Krieges betonten (Takacs 2012, 13), stehen nunmehr Filme im Fokus, die nicht zuletzt mit den militärischen und gesellschaftlichen Folgen der Einsätze in Afghanistan und im Irak und der weitreichenden kritischen (medialen) Aufbereitung des Kriegsgeschehens umgehen müssen.41 Auch wenn sich für die post-9/11-Verfilmungen nicht von einem konsistenten »war on terror text« sprechen lässt (Takacs 2012, 18), so ist festzustellen, dass der gesellschaftliche Erfolg und die institutionelle Anerkennung von z.B Argo (2013), dem Academy Award Gewinner 2013 und dem _______ 40

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Im ›Krieg gegen den Terror‹ hat das Pentagon ganz gezielt mit Produktionsfirmen aus Hollywood und dem Bureau of Motion Pictures, das schon im Zweiten Weltkrieg existierte, zusammengearbeitet. Das Pentagon unterstützte Filme wie Rules of Engagement (2000) oder die TV Serie JAG (1995-2005), um junge Menschen für die Armee zu rekrutieren. Seit 2001 wurden drei neue TV-Kanäle ins Leben gerufen: The Pentagon Channel, The Military Channel und der Military History Channel. Den Höhepunkt der Kooperation markiert die Gründung des von Hollywood und dem Pentagon kofinanzierten Instituts für kreative Technologien an der Universität von Kalifornien. Die Mitarbeiter forschen im Bereich der virtuellen Realitäten und künstlicher Intelligenz. Zum post-9/11 Kino vgl. Westwell 2014.

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hier besprochenen Film Zero Dark Thirty (2012) sowie der TV-Serie Homeland (seit 2011) weniger auf einer Revision des Geschichtsbildes, als auf einem selektiven, patriotischen Heldennarrativ beruhen. Sie (re)inszenieren Meilensteine der amerikanischen Außenpolitik: die Befreiung amerikanischer Botschaftsmitarbeiter nach dem Angriff auf die Botschaft in Teheran 1979, die Suche nach Osama bin Laden im Irak und Pakistan von 2003 bis 2011 und den anhaltenden globalen ›Kampf gegen den Terror‹. Sie bestätigen in einer Zeit der vehementen Kritik an den Praktiken der NSA und des Department of Homeland Security die außenpolitischen Erfolge der U.S.-Geheimdienste.42 Die Serie Homeland, eine Adaption der israelischen Serie Hatufim (»Gefangene des Krieges«), wird seit 2011 von FOX für Showtime produziert. In den ersten beiden Staffeln thematisiert Homeland die achtjährige Gefangenschaft des U.S.-Marinesoldaten Nicholas Brody in der Nähe von Damaskus und seine Rückkehr in die USA, wo er als Held der Stunde zum Vizepräsidentschaftskandidaten aufsteigt bevor er schlussendlich von der CIA-Agentin Carrie Mathisen als Al Kaida-Überläufer enttarnt wird. Zwei der Drehbuchautoren, Howard Gordon und Alex Gansa, die bereits in der erfolgreichen Antiterrorserie 24 mitgewirkt hatten, waren an der Konzeption der Serie beteiligt (Kuzmany 2011). Die Figur der Protagonistin Carrie beruht auf den Erfahrungen einer anonymen CIA-Analystin (Deckname Jen), die auch für die Protagonistin im Film Zero Dark Thirty, der im Anschluss diskutiert wird, die Vorlage lieferte. Die Geschichte Homelands beginnt im Irak. Die CIA-Agentin Carrie versucht einem zum Tode verurteilten Iraker letzte Informationen zum Terrornetzwerk Al Kaida zu entlocken und erfährt dabei, dass sich seit Jahren ein Schläfer unter den amerikanischen Soldaten im Irak befindet. Carrie muss kurz danach wegen ihrer unerlaubten Intervention im Gefängnis Bagdad verlassen und in die CIA-Zentrale nach Langley zurückkehren. Dort feiert man bereits den bis dahin als verschollen geglaubten Sergeant Brody. Dieser wurde in Carries Abwesenheit bei dem Angriff auf eine Al Kaida-Zelle in Afghanistan ›befreit‹. Was niemand weiß: der MarineSoldat hat in achtjähriger Gefangenschaft die Seiten gewechselt – ein Umstand, den zunächst niemand außer Carrie vermutet. Es geht also um die Geschichte eines weißen amerikanischen Soldaten, der sich in Gefangenschaft zum Feind der Nation entwickelt und nach seiner Rückkehr als Schläfer eine verborgene Gefahr für die Sicherheit der USA darstellt.43 _______ 42 43

Allgemein zur Verbindung von Hollywood und der amerikanischen Geschichtsschreibung vgl. Walsh 1996 und Mellencamp/Rosen 1984. Koch sieht u.a. mit der Serie Homeland eine dritte Phase der Repräsentation des Antiterrorkrieges anbrechen, »in welcher der Aspekt der Allegorisierung zugunsten eines Profiling der individuellen, emotionspolitisch

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Die Serie bespielt in den ersten drei Staffeln ein Thema, das seinerzeit in den Medien kontrovers diskutiert wurde: die Geschichte John Walker Lindhs, dem »amerikanischen Taliban«. Der in Washington D.C. geborene Lindh ist in seiner Jugend zum Islam konvertiert. Er wurde 2001 in Afghanistan vom U.S.-Militär gefangen genommen und zu 20 Jahren Haft verurteilt, die er momentan auf U.S.-amerikanischen Boden (nicht in Guantánamo), im Gefängnis Victorville in Kalifornien, ableistet.44 Der amerikanische Kulturwissenschaftler John Carlos Rowe sieht, im Rückgriff auf Saids Konzept des »Neo-Orientalism« (2003, xi-xxiii), in der Behandlung Lindhs durch die Medien und die Politik eine gezielte erzieherische Intervention und den Versuch nationaler Rehabilitierung. Die Position Lindhs war schwer zu fassen, denn er verweigerte sich als amerikanischer Bürger dem demokratischen, aufklärerischen Diskurs: As a consequence, he had to be ideologically neutralized by infantilizing him and offering him a ›lenient‹ sentence that further testified to his ›adolescent‹ rebellion against Yuppie parents, Lindh’s domestication of Islamic radicalism turns on his adolescent rebellion against Western ›modernity and development‹, a regressive gesture through which ›he‹ displaces and incorporates Arabic, Afghani, Yemeni, and other ›Oriental‹ social institutions and Islam, embodying this ›new Orient‹ in the uncanny figure of the bearded Bay Area youth in the U.S. courtroom. (Rowe, 2013, 188)

Brody, der Protagonist aus Homeland, verkörpert wie Lindh die »Internalisierung des traditionellen Orient innerhalb der U.S.-amerikanischen Nation« (Rowe 2013, 186, meine Übers.). 45 Seine ›amerikanische‹ und ›musli_______

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vermittelten Subjektivitätseffekte zurücktritt, die ein Leben im permanenten Alarmzustand und der dabei oszillierenden Angst-Intensitäten produziert« (2013, 18). Allerdings lässt diese Beschreibung offen, inwiefern die »emotionspolitischen« Effekte Vorstellungen des amerikanischen Exzeptionalismus perpetuieren. Die »Angst-Intensitäten« dienen auch dazu, ein patriotisches Narrativ zu verschleiern. Eine weitere Vorlage liefert der Fall des Mexikaners José Padilla, der nach einem kriminellen Vorleben zum Islam konvertierte und bei einer Rückreise aus dem Nahen Osten am Chicagoer Flughafen wegen des Verdachts auf Mithilfe an terroristischen Aktionen verhaftet wurde. Auch er verbüßt seine Strafe in den USA, in der Bundeshaftanstalt Florida, bei einer im Gegensatz zu anderen Terrorverdächtigen verhältnismäßig kurzen Haftzeit von 17 Jahren. In Lindhs und Padillas Fall liegt der amerikanische Orient nicht mehr außer- sondern innerhalb der territorialen und nationalstaatlichen Grenzen der USA. Von einem stringenten, zeitlosen Orient-Diskurs zu sprechen wäre verfehlt. Stattdessen haben sich im Laufe der Zeit heterogene Vorstellungen und Landschaften des Orients entwickelt. Der amerikanische Orient ist jedoch nach 1945 verstärkt mit Ost- und Südostasien (Korea und Vietnam) und der arabischen Welt in Verbindung gebracht worden. Er ist von konkreten Ereignissen beeinflusst und besonders in Bezug auf die Produktion imaginärer Geographien des Nahen Ostens durch eine lange Tradition amerikanisch-arabischer Begegnungen geprägt. Als historische Katalysatoren im 20. Jahrhundert sind vor allem der Israel-Palästina Konflikt, die

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mische‹ Identität treten in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander, das nur durch eine gezielte erzieherische Intervention aufgelöst werden kann. Die Darstellung der Gefangenschaft in Homeland bietet eine Antwort auf den heimischen Terrorismus und die Handhabung der rebellischen Subjekte innerhalb des nationalen Diskurses durch die Frau. Die weibliche Heldenfigur der Serie, Carrie, ist von Anfang an von Brodys Schuld überzeugt. Sie ist ein obsessiver Charakter, der sich gegenüber allen Zweiflern zur Wehr setzt und an der These festhält, dass der aus scheinbar afghanischer Gefangenschaft befreite Marine-Soldat Brody ein Schläfer ist. Ihr labiler psychischer Zustand macht sie zur Außenseiterin, was zugleich den Garant für eine schärfere, visionäre Wahrnehmung darzustellen scheint. Nach Thomas Elsaesser fungiert Carrie Mathisen demnach als »ein gutes Beispiel für eine produktive Pathologie« (2016, 84), in der die bipolare Störung auf den Ebenen der Handlung, Figurenentwicklung und der Zuschauerlenkung zum positiven Element geriert. Wir erleben also zunächst die Dekonstruktion des heroischen männlichen Soldaten durch eine madwoman in der CIA. Die Implementierung einer bipolaren Protagonistin wirkt, wie vielfach von der Kritik betont46, durchaus subversiv, denn es geht der Serie durchaus auch um die Entblößung paranoider Strukturen und die Verwebung von Fiktion und Realität an der Heimatfront und im Irak. Homeland erfuhr viel Lob für die kritische Darstellung der nationalen Zerrüttung nach 9/11, der psychischen und physischen Konsequenzen des Krieges sowie der Schizophrenie der Antiterrorbekämpfung (Kuzmany 2011). Doch bei genauerer Betrachtung dekonstruiert die Serie die homelandFiktion nicht. Im Gegenteil: Die mentale Instabilität Carries ist ein gezieltes Ablenkungsmanöver, das schlussendlich in cleveren Volten zur Einsicht führt, dass die Überwachung berechtigt war. Die durch Umwege geprägte Reise wird zum religiösen Auftrag, bei dem sich die CIA-Agentin als kassandrahafte Prophetin entpuppt. Um Gewissheit zu erlangen, lässt sie Brody sogar illegal überwachen und riskiert dabei ihre Karriere. Doch am Ende, so die Quintessenz der Serie, lohnt sich die Durchleuchtung der intimsten Momente des Menschen durch neueste Technologien der CIA, _______

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Iranische Revolution und das Geiseldrama in der amerikanischen Botschaft 1979, das Ölembargo in den 70er Jahren und die Golfkriege Anfang der 90er Jahre zu nennen. In jüngerer Zeit wird der Orient-Diskurs vor allem durch den Anschlag auf das World Trade Center, die Kriege in Afghanistan und im Irak sowie die angespannte Beziehung zu Syrien und zum Iran befeuert. Said spricht in dem neuen Vorwort zu seinem Klassiker Orientalism (1977), von einem »Neo-Orientalism« (2003, xi-xxiii). Lars Koch argumentiert, dass Homeland »die Spirale der Paranoia für den Zuschauer performativ nachvollziehbar« macht und bescheinigt der Serie ein »hohe[s] Maß an politischer Reflexivität« (2014, 48, 49).

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denn nach den Versteckspielen ist der Verräter entlarvt. Die Serie bagatellisiert und honoriert illegale Überwachungsmethoden als valide Instrumente der Wahrheitssuche. Elsaesser macht darauf aufmerksam, dass die »adaptive« Leistung von Filmen und TV-Serien, die wie Homeland auf einen psychisch instabilen Protagonisten setzen, […] nur eine weitere Grenze anzeigt, die der Kapitalismus einebnet, um sein Einzugsgebiet zu erweitern und nun, nach dem Bewusstsein und der Wahrnehmung, auch den Körper zum Gegenstand von Konsum und Profitmaximierung zu machen. (2016, 84)

Darüber hinaus steht in den ersten drei Staffeln die Rückholung eines verlorenen Schafes im Mittelpunkt. Brodys hybride Identität übernimmt dabei eine interessante Scharnierfunktion in der Erzählbarkeit des Terrors. Er ist zunächst ein amerikanischer Soldat, dann muslimischer Terrorverdächtiger und etwas später, nach seiner Enttarnung, arbeitet er als Spion der CIA und somit als geheimer gatekeeper der Nation. Das »passing« des weißen amerikanischen Mannes als muslimischer Terrorist und vice versa bildet hier die eigentliche Wendung der homeland-Fiktion, in der die Konvertierung des amerikanischen Soldaten den Katalysator für die Suche nach der amerikanischen Identität bildet. Anstatt Brody und seine Absichten zu dämonisieren, wird vielmehr die menschliche Fehlbarkeit des Terroristen betont. Die Motive für einen Anschlag scheinen dann verständlich und übersetzbar, wenn sie sich im Körper des westlichen weißen Mannes präsentieren. Erst hier werden Scham, Schuld und die psychosozialen Folgen der Gefangenschaft thematisiert und so Gefühle erzählt, die den als arabisch kodierten Gegenspieler Abu Nazir nicht zu belasten scheinen. Brody erscheint in seiner weißen Mittelklasse-Identität ›amerikanisch‹ und ist damit reformierbar. Er wird – und hier liegt das Paradox der Serie – als Opfer des Wahnsinns, der den muslimischen Terroristen als Rückfall in einen prä-zivilisierten Zustand zugeschrieben wird, heilbar. Judith Butler hatte diesbezüglich in Precarious Life formuliert: »The terrorists are like the mentally ill, because their mind-set is unfathomable, because they are outside of reason, because they are outside of civilization.« (2006, 72) Brody kann seine Americanness wiedererlangen, denn er ist, das ist zentral, nicht aus ideologischen Gründen übergelaufen. Seine Identität als islamistischer Terrorist gründet auf einer gezielten emotionalen Manipulation und dem seelischen Missbrauch während der Gefangenschaft in Damaskus. Brody ist ein Opfer des Stockholm-Syndroms. Seine Behandlung durch Abu Nazir wird von Carrie zusammengefasst: »A lot of pain, a little love.« (2.10./26:23-26) Damit reduziert sich im filmischen Narrativ für Brody der Grad der Mittäterschaft und hinterlässt eine ethisch ambivalente Situation, die beim Zuschauer Mitleid für den U.S.-amerikanischen Al Kaida erzeugt. Die Serie geht nicht so weit, den Fundamentalismus als Glaubensbekenntnis eines U.S.-Amerikaners auszustellen. Denn, so viel wird klar, die

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amerikanischen Maßnahmen sind von den terroristischen Aktionen Al Kaidas und der Taliban zu unterscheiden. »We have nothing in common« (2.10./27:22-27:23), sagt Carrie zu Abu Nazir in der zehnten Episode der zweiten Staffel. Dieser hat Carrie entführt und in eine alte Industriehalle verschleppt, um sie gegen das Leben des Vizepräsidenten einzutauschen. Carrie und Abu Nazir liefern sich eine Diskussion zum Unterschied zwischen Soldaten und Terroristen. Die CIA-Agentin bezeichnet Nazir als Terroristen, doch dieser erwidert: »Who is the terrorist? [...] You can bomb us, starve us, occupy our holy places, but we will never loose our faith.« (28:43-28:44; 29:47-29:55) Hier stellt die Serie die Frage nach der Gleichwertigkeit der Mittel, gleichwohl bleibt sie ein Lippenbekenntnis. Der physisch als ›arabisch‹ stigmatisierte Terrorist bleibt ein dämonischer und identitätsloser Gegenspieler.47 Die mediale Repräsentation des Terrorverdächtigen als arabisch, muslimisch und männlich wird als Weiterführung eines alten Konflikts aufbereitet und erscheint zugleich unveränderlich. So verweben sich z.B. die Schauplätze der Serie zu einer nebulösen Landschaft. Syrien wird als tatsächlicher Ort der Gefangenschaft Brodys genannt, der Irak fungiert als Ort der Informationsbeschaffung in der ersten Folge und Afghanistan steht für das ursprüngliche Verschwinden Brodys sowie seine ›Rettung‹. Die lokalen Marker verschwimmen damit zu einem unbestimmten Raum. Diesen Gestus der Ungenauigkeit und faktischen Ineinssetzung kann man mit einer inzwischen unüberschaubaren Globalität des Terrors erklären, er kennzeichnet aber auch den imperialen Habitus der Serie. Der Filmwissenschaftler Jack Shaheen hat in einer weit angelegten Studie von 100 Filmen seit den Anfängen des Kinos darauf verwiesen, dass die ›arabische‹ Figur in Film und Fernsehen allgemein als Platzhalter für xenophobe Tendenzen der Gesellschaft fungierte. Blauvelt argumentiert unterstützend, dass wir es trotz abweichender historischer Kontexte nicht mit einem grundsätzlich neuen Feindbild zu tun haben: _______ 47

In der dritten Staffel wird der Terror dazu benutzt, verschiedene Feindbilder in ein Narrativ zu binden. Hier zieht nun ein iranischer Sicherheitsbeamter über Caracas und Venezuela die Fäden im Kampf gegen die USA. Die Achse des Bösen, von der Hisbollah über den Iran bis zu Hugo Chávez, verbindet den Islam mit dem Sozialismus. Die Unglaubwürdigkeit der angeführten Terror-Szenarien und die metonymische und stereotype Darstellung der ›arabischen‹ Kulturen werden auch in der Wahl des Drehortes ersichtlich. Die Szenen in Beirut, die in der zweiten Staffel wichtig sind, wurden zum Leidwesen des libanesischen Tourismus-Ministers in Israel gedreht. Die Hamra Straße wurde im Film zum undurchsichtigen feindlichen Milieu aufgebaut, obwohl es sich hier tatsächlich um eine der belebtesten und beliebtesten Einkaufsstraßen des Libanon handelt (AlArian 2012).

Phantome des Terrors

Arabs, and Muslims in general, have been culturally coded as ›others‹, a dislocated social position which many politicians and media producers have used to position Arabs as phantom enemies, as scapegoats for latent U.S. xenophobic tendencies. In this regard, Hollywood filmmakers have often used Arabs in narratives in very much the same way as Nazi propagandists portrayed Jews in the 1930s and 40s. (2008)

In diesem Sinne entspricht Homeland einem traditionellen Imperialismus, denn er produziert die Subalternen nach den kulturellen und sozialen Werten der westlichen metropolischen Zentren. In der Perspektivierung durch vorrangig weißen Figuren wird die Identifikation mit dem westlichen Blick re-produziert und der Orient erscheint so »devoid of any active historical or narrative role« (Shohat 2014, 148). Homi Bhabha hat die Unveränderlichkeit von Identitätszuschreibungen zum Prinzip der Stereotypisierung erklärt. Die ideologische Konstruktion des Anderen basiert auf einer »Beständigkeit als das Zeichen kultureller, historischer, ›rassischer‹ Differenz« (Bhabha 1994, 66, meine Übers.). In ihrer Repräsentation erscheint sie paradox und »konnotiert eine Starrheit und unveränderliche Ordnung, Entartung und dämonische Wiederholung« (ibid.). Ella Shohat nennt diese Form der kulturellen Konservierung, im Rückgriff auf André Bazins Theorie des Kinos, den »mummy complex« (2014, 148).48 Brody kann am Ende vorübergehend durch die Liebe Carries in den Kreis der weißen, hegemonialen Gemeinschaft zurückgeführt werden. Die inszenierte Paranoia ist lediglich ein dramaturgisches Element, das im ästhetischen Mantel Verwirrung stiftender Kameraeinstellungen und Schnitttechniken (Halbtotalen und Nahaufnahmen, Überblendungen), eine fragmentierte Erzählung, die auf Rückblenden und Traumsequenzen setzt und eine Multiperspektive, den Anschein einer paranoiden Struktur gibt, um im Endeffekt einen teleologischen romantischen Plot freizugeben.49 Das Ende der zweiten Staffel bedeutet auch das Ende einer Suche. Carrie wollte die Identität des Schläfers aufdecken und findet dabei den Mann, _______ 48

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In Bezug auf den Nahen Osten hält sich das Stereotyp, dass es sich um einen homogenen Kulturkreis, den ›arabischen Orient‹, handelt, der zudem mit dem Islam gleichgesetzt wird. Es wird weiterhin angenommen, dass die meisten Muslime aus dem Nahen Osten stammen. Die stereotype Darstellung unterschlägt die großen Unterschiede zwischen den Religionen, Ländern und Sprachen des Nahen Ostens. Zudem kommt der überwiegende Teil der 1,1 Milliarden Muslime weltweit aus Indonesien, Indien und Malaysia (Shaheen 2001, 174). Man könnte hier behaupten, dass die Serie sich in den ersten beiden Staffeln nicht wesentlich von den 23 Hollywood Filmen zwischen 2004 und 2009 unterscheidet, die den Irak-Krieg zum Thema machten. Die meisten erzählen die Geschichte eines Veteranen, der am posttraumatischen Stresssyndrom leidet und im Verlauf der narrativen Entwicklung das verdrängte Erlebnis offenbart oder gar überwindet (Luckhurst 2012, 717).

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den sie nicht lieben darf.50 Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könne man Brody retten. Der Angst vor dem Terrorvirus wird eine Exkommunikation durch die weibliche Agentin Carrie entgegengesetzt. Es erfolgt eine gezielte Re-Domestizierung: die Zähmung eines durch die Wildnis der arabisch-muslimischen Kultur ›infizierten‹ Mannes. Die postmoderne Grenz-Romanze die sich zwischen Brody und Carrie entspannt, dauert nur kurz an. Im Kampf gegen interne Korruptionen und die Bedrohung von außen, gerät Brody in den Verdacht einen verheerenden Anschlag auf die CIA-Zentrale ausgeübt zu haben. Die beiden müssen getrennte Wege gehen, Brody taucht in Caracas unter. Das Paar darf nicht zusammenkommen, solange Brodys Unschuld nicht bewiesen ist. Doch dazu kommt es nicht. Er wird nach erneuter Gefangenschaft und Folter in Venezuela und nach einem gescheiterten Mordanschlag auf den Chef der Revolutionsgarde im Iran gehängt. Am Ende wird seine hybride Persönlichkeit, seine ambivalente religiöse Orientierung und seine beschädigte Maskulinität, aus dem Narrativ entfernt. Dass Carries Geschichte weitergeht, beweist, dass es sich um eine höhere Mission handelt. Mehr noch, Carrie muss sich der Romanze entledigen, um den Kampf fortzuführen. Brody war im Grunde nur eine Spielart des globalen Terrors, den es einzudämmen und zu überwinden gilt. Die Verteidigung des homelands und der Erhalt des nationalen Erbes liegt in den Händen der American Eve. Dafür opfert sie ihr Privatleben und ihr Kind. Carrie revitalisiert die maskuline Leitfigur der frontier romance, von R.W.B. Lewis als »American Adam« (1955) beschrieben, jenen unzähmbaren Helden, der die Natur der Domestizierung durch Haus, Hof und Frau vorzog. Jener frühe Pioniertypus entfloh der Sesshaftigkeit und suchte Abenteuer und Freiheit in der fremden, ›unberührten‹ und auch angstbesetzten Wildnis. In diesem Sinne mag man Carrie als feministische, aber nicht als antiimperiale oder postrassistische Figur lesen.

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Koch sieht die Liebesbeziehung von Carrie und Brody in der »Dialogizität von Angst« begründet (2013, 19). Sie erscheinen als »reziproke Figuren eines ›eingeschlossenen Ausgeschlossenen‹ [...], deren Handlungen wesentlich von früheren Angsterfahrungen bestimmt sind. Beide sind ›haunted by the past‹ ihre versehrten Psychen, die zugleich symbolische Verdichtungen der Läsionen der politischen Kultur der USA sind, werden in ihrer Psychodynamik erst dadurch sichtbar, dass sie sich komplementär aufeinander zubewegen.« (Ibid.)

Phantome des Terrors

6.4 Gefangenschaft als symbolische Re-Territorialisierung Zero Dark Thirty ist in Zahlen gemessen einer der erfolgreichsten post-9/11 Filme. Der in Jordanien und Indien gedrehte Film spielte im Kino weltweit 109 Mio. Dollar ein (78 Mio. Dollar allein in den USA). Er hat bei den Academy Awards 2013 fünf Nominierungen erhalten, u.a. in den Kategorien »Bester Film« und »Beste Hauptdarstellerin«. Jessica Chastain erhielt für Ihre Rolle der Maya zudem den Golden Globe. Kathryn Bigelows Film erzählt die Suche nach dem Anführer der international agierenden Terrorgruppe Al Kaida, die am 11. September 2001 die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York durch einen Selbstmordanschlag zerstörten und dabei 2.753 Menschen töteten (CNN 2016). Die homeland-Fiktion wird in Zero Dark Thirty, der Serie Homeland nicht unähnlich, über das Genre des Thrillers bzw. Kriminalfilms, wie sie aktuell die U.S.-Film- und Fernsehlandschaft dominieren und die PlotStruktur der Quest erzählt, über die sich Diskurse von Subjektivität, Gemeinschaft und Heimat verhandeln lassen. Der Expertenthriller ist eine besondere Form, denn die Handlung und Figurenentwicklung wird durch die Bewegung und Auswertung von Informationen gesteuert. Der Film stellt den Terror als intermedial hergestelltes Dispositiv aus: von Fernsehnachrichten über die Anschläge, Videoaufzeichnungen der Verhöre aus den Geheimgefängnissen bis hin zu modernen Kommunikations-, Ortungs- und Überwachungstechniken. Die häufige Verwendung von Nah- und Halbnaheinstellungen (vor allem halbnaher Zweier und Dreier) zeigen, dass der Fokus des Films auf dem Thema Kommunikation liegt. Die Figuren stehen im ständigen Austausch, besprechen neue Strategien und den Einsatz von Technologien und präsentieren sich so als hochspezialisierte Gemeinschaft. Der Diskurs des Terrors wird als sprachlich und medial verfasste Ordnung ausgestellt, die über deren Vertreter aufrecht gehalten wird. Zugleich bleibt im Thriller die Quelle der Anspannung im Dunkeln und tritt nicht selten als unheimliche Instanz auf. Die Unsichtbarkeit der Figur bin Laden folgt der Genrekonvention, in der, durch die verborgene Existenz des Monsters, Angst erzeugt wird. In diesem Sinne liefert Zero Dark Thirty eine Bestandsaufnahme der Informationsgesellschaft, in deren Zentrum das Unbekannte des Terrors als enigmatische Größe waltet und nicht nur die Sicherheit der Nation, sondern auch den Geltungsanspruch des westlichen, technologischen Fortschritts bedroht. Der Film oszilliert durchaus zwischen der kritischen und der affirmativen Haltung zur shock and awe-Doktrin der ehemaligen Bush Regierung – was nicht zuletzt dem

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Spannungsfeld zwischen der Selbstbeschreibung als »Doku-Fiktion« 51 und den Krimi-Elementen geschuldet ist. Am Ende ist es jedoch die mythische Erzählform und die Darstellung der Heldin, die zur Inszenierung und Bannung des bedrohlichen Phantoms beitragen und so die imperiale Agenda der homeland-Fiktion perpetuieren.

6.4.1 Der Killer aus Washington Das Erzählformat greift auf das alt bekannte Muster der Heldenreise52 zurück und verschränkt so den zeitgenössischen gesellschaftlichen Rahmen mit einer vertrauten Erzählabfolge, die dem Zuschauer im Chaos politischer und sozialer Diskurse eine Bannung des Terrors im Narrativ verspricht. Der Film lässt sich mit Joseph Campbells Konzeption des »Monomythos« beschreiben, wonach alle Erzählungen auf ein Grundschema zurückzuführen sind und in drei Stufen verlaufen: Trennung, Initiation, Rückkehr.53 In seiner wegweisende Studie zu den kolonialen Ursprüngen und konstituierenden Mythen der USA weist Sacvan Bercovitch darauf hin, dass sich die amerikanische Mission als »patente Fiktion« im Stile »der emotionalen, spirituellen und intellektuellen Anziehungskraft der religiösen Heldenreise« immer wieder aufs Neue reaktivieren ließ (1978, 11). Die Heldenreise führt über Umwege und Hindernisse zurück in das Heimatland und macht dabei den Status der Gemeinschaft sichtbar. In Zero Dark Thirty wird diese Tradition über inhaltliche und formelle Strategien ge-

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Kathryn Bigelow und ihr Drehbuchautor Mark Boal bezeichneten Zero Dark Thirty Film als »reported fimmaking« oder »Doku-Fiktion« (2012). Die Heldenreise gehört zum Korpus religiöser und mythischer Erzählungen der abendländischen Tradition, die die europäischen Siedler mit in die ›Neue Welt‹ nahmen. Sie findet sich im antiken Mythos und im Märchen sowie im Alten Testament mit der Wanderung Moses, der das Volk Israels durch Ägypten in das geheiligte Land führt. Von Jasons Suche nach dem goldenen Fließ und Homers Odyssee, der mittelalterlichen Erzählung von der Suche nach dem Heiligen Gral bis hin zum Grimmschen Kinder- und Hausmärchen »Von Einem der auszog das Fürchten zu Lernen« sind unzählige vor-moderne Varianten der Heldenreise bekannt (vgl. dazu Schilken 2002). Die formale Struktur zeigt einen Helden, der in die Welt zieht, das Unbekannte, Mysteriöse und Übernatürliche entdeckt, verschiedene Bewährungsproben und Kontakte mit dem Fremden überwinden muss und schlussendlich durch Kühnheit oder Täuschung und Trickserei, in den Besitz eines wichtigen Gegenstands gerät, welcher der Heimatgesellschaft dient und ihm zugleich erlaubt, in seine Welt zurückkehren. Jede Zeit produziert dabei ihre eigenen Heldentypen, traditionelle Muster werden adaptiert, parodiert, redigiert oder schlichtweg wiederbelebt.

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nutzt, um die Existenz der Geheimgefängnisse und Diskriminierung des muslimischen Terrorverdächtigen zu rechtfertigen. 54 Maya, die junge CIA-Analystin und Heldin der Erzählung, muss fernab der Heimat im unbekannten ›wilden‹ Territorium des Nahen Ostens Hindernisse überwinden, um schlussendlich in die USA zurückkehren zu können. Sie wird zunächst gegen ihren Willen nach Pakistan entsandt und vor Ort von Dan, ihrem Mentor, beraten. Die Teilnahme an der Folter eines Gefangenen bedeutet das erste Übertreten einer moralischen Schwelle, die sie in ihrem Kurs bestärkt. Fortan muss Maya gegen ihre Vorgesetzten kämpfen und Bewährungsproben bestehen. Die Marines, die am Ende die ›dunkle Höhle‹ (das Haus bin Ladens) stürmen, agieren als ihre physischen Stellvertreter. Der Schwellenhüter, Abu Achmed, ein Vertrauter und Informant bin Ladens, bewahrt das Geheimnis von dessen Unterschlupf. Maya verfolgt den Mann über Jahre, bis sie ihn in Abbottabad, Pakistan ausfindig macht. Bin Laden ist die Schattenfigur, die die Heldin herausfordert und die sie schlussendlich besiegt. Der Gegner ist überwältigt und Maya wird mit dem Antlitz des Toten belohnt. Sie wird ausgeflogen und dort endet die Erzählung, denn das Ankommen in der Heimat bleibt der Heldin innerhalb der filmischen Erzählung versagt. Der Fokus liegt somit eher auf der Handlung und weniger auf der psychischen Entwicklung der Figur. Die Figurencharakterisierung greift auf einen Heldentypus zurück, der bereits in Homeland Erfolge feierte: die proaktive, ambitionierte American Eve. Sie führt die Tradition des Cowboys fort und reproduziert eine heroische maskuline Grenz-Identität für die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhundert. Kein anderes Genre hat die Gefangenschaft als Teil des Mythos der Americanness so stark im öffentlichen Bewusstsein verankert, wie der Western. Die Werte des spezifisch amerikanischen Exzeptionalismus haben sich hier erhalten: The values celebrated in the Western include: territorial expansion, liberty, democratic leveling, national identity, the work ethic, racial (white) superiority, and violence (when used with restraint). The hero is often to be admired for his ability to control his anger, his capacity for violence, his own self. (Madsen 1998, 124)

Im Western triumphiert der Held über barbarisches Verhalten und schreckt dabei nicht vor der Anwendung harter Methoden zurück. Im ›wilden‹ Westen zählen Tugenden des Selbstvertrauens, der Treue, der _______ 54

Für einen Großteil der Gefangenen in Guantánamo, Bagram und Abu Ghraib ist die Schuld nicht eindeutig nachweisbar. 2002 beklagte sich der Chef der Verhörabteilung in Guantánamo sogar darüber, dass man lediglich »Mickey Mouse-Gefangene« überführte. Nur acht Prozent der Gefangenen wurde vom Pentagon als Al Kaida klassifiziert (Margulies 2007, 65). Abu Ghraib war dennoch beständig mit 6.000 bis 7.000 Häftlingen überbelegt, unter ihnen auch viele Frauen und Mädchen (McKelvey 2007b, 194– 208 und Mestrovic 2007, 100).

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Freundschaft, der Loyalität, der Standhaftigkeit und der Ehre. Diese Merkmale zeichnen auch Maya aus. Sie und Carrie aus Homeland sind Teil einer postmodernen Gemeinschaft. Ihre außergewöhnliche Expertise in Fragen der Beschaffung, Analyse und Auswertung von Informationen verweist im Zeitalter der »globalen Kontrollgesellschaft« (Hardt 1998) auf einen neuen Menschentypus. Die CIA-Analystin ist ein »Killer aus Washington« (11:58-12:00), sie verbindet die alte souveräne Gewalt mit der Macht der Biopolitik. Bereits in den ersten Szenen des Films offenbart sich Mayas hybride Natur. Unter dem schwarzen Overall und der Tarnmaske, der Bekleidung der Folteragenten, verbergen sich ein Hosenanzug und eine weiße Bluse. Die Semantik der Kleidung deutet auf die doppelte Codierung ihrer Identität als verdeckt agierende Soldatin und Bürokratin hin.55 Bei einer der Besprechungen der Analysten werden alle Anwesenden gebeten, eine Einschätzung dazu abzugeben, ob sich, wie von Maya vermutet, bin Laden im Haus von Abu Achmed (Ibrahim Said) aufhält. Im Gegensatz zu den vorsichtigen Abwägungen der Kollegen ist sich Maya zu »100%« sicher. Auf die Frage des CIA-Direktors, wer den Anführer der Al Kaida im Haus Achmeds aufgespürt hat, erwidert sie selbstbewusst: »I am the motherfucker who found this place, sir.« (1:38:25) Mayas Selbstbeschreibung als »motherfucker« ließe sich als eine Form der Mimikry verstehen, in der sie in einem Raum voller Männer den Inszenierungsmodus männlicher toughness spiegelt. 56 Mayas androgyne Ausstrahlung und ihr hartes Auftreten unterlaufen Gender-Klischees. Bei genauerer Betrachtung ist sie als Figur ebenso kaltschnäuzig angelegt, wie viele ihrer männlichen Hollywood-Vorgänger. Mehr noch wird in einer gezielten aemulatio maskuliner Eigenschaften der Kontrast zu den Männern des Films noch verstärkt. Maya behauptet sich gegen den karrieristischen Leiter der CIA in der U.S.-Botschaft in Islamabad. Sie wird flankiert von einem freundlichen aber wenig ambitionierten afroamerikanischen Kollegen und Dan, der etwas zu unbedarfte Folterspezialist, agiert zunächst als ihr Mentor und wird _______ 55

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Hilary Neroni sieht in Zero Dark Thirty eine neue Variante der Detektivfigur im Einsatz: »This biodetective invests herself or himself completely in the ideology of biopower insofar as she or he believes that the truth is embedded in the body. Evidence of the body leads this detective to the truth. For the biodetective, methods such as fingerprinting, DNA samples, surveillance, body scans, lie detector tests, and retina scans are authentic and generally infallible.« (2015, 117) Maya erinnert in ihrer Haltung an die weiblichen Action-Heldinnen der 80er und 90er Jahre, z.B. an Ridley Scotts Alien-Jägerin Ripley (1979) oder die gestählte G.I. Jane (1997). Letztere schleudert ihrem männlichen Vorgesetzten den Satz »Suck my cock« entgegen, als dieser sie zur Aufgabe ihrer Ausbildung bringen will. Im Gegensatz zu einer auf Muskelkraft setzenden Weiblichkeit wird in Zero Dark Thirty ein äußerlich zerbrechlich wirkendes, fast androgynes Erscheinungsbild in Szene gesetzt.

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später zum Unterstützer in Washington. Die Marines sind lediglich Werkzeuge der Macht und Mayas physische Verlängerung in der Kampfzone.57 Maya steigt zur repräsentativen neoliberalen Heldin und Identifikationsfigur auf. Die positiven Attribute des Westernhelden, Durchsetzungsfähigkeit, Härte gegen sich selbst, Disziplin und Unkonventionalität sowie die Absage an eine domestische Vereinnahmung, werden hier nicht als geschlechtliche Eigenschaft, sondern als Attribut des amerikanischen Exzeptionalismus aufgeführt. Der Film stellt kein übergeordnetes staatliches System in seinem Machtanspruch aus, er verknüpft vielmehr eine individuelle Obsession mit dem Narrativ der Nation. Die Hartnäckigkeit Mays richtet sich beispielhaft gegen den äußeren Feind und leistet im Dienste der höheren Mission auch dem eigenen bürokratischen System gegenüber zivilen Ungehorsam. Dies zeigt sich auch in der Wortwahl Mayas nach dem Mordanschlag auf ihre Kollegin im Camp Chapman, in der sie zum Sprachrohr einer durch George W. Bush geprägten reaktionären Politik wird. Mayas identitäre Leere – wir erfahren fast nichts über den biographischen Hintergrund, Vorlieben oder die politische Position der Hauptfigur – wird durch eine geschickte Affektökonomie gefüllt, die von Rache dominiert wird: »I am gonna smoke everybody involved in this op out. And then I’m gonna kill Bin Laden.« (1:03:48-1:03:54)58 Maya greift George W. Bushs manichäisches Weltbild auf, in der die westliche humane Perspektive der unmenschlichen Praxis des muslimischen Terrors entgegensetzt ist: _______ 57

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Die Kritik hat sich neben der Repräsentation der Folter vor allem mit den feministischen und postfeministischen Perspektiven der Serie beschäftigt. Dabei schwanken die Interpretationen zwischen der Lobpreisung der emanzipierten Frauenrolle und dem Verweis auf die neoliberale Ausbeutung und Vereinnahmung feministischer Perspektiven, die das politische Verständnis des U.S.-amerikanischen second-wave-Feminismus außer Kraft setzt. Vgl. dazu Hasian 2013, Shih 2013, Eisenstein 2013, Carmon 2013, Bergen 2012, Kang 2012. Eine ähnliche Debatte entspann sich bereits zur Beteiligung der Frauen in Abu Ghraib und in der Darstellung der Carrie Mathison aus Homeland. George Bush hatte wiederholt das »barbarische Verhalten« der Terroristen betont und 27 Tage nach dem Anschlag auf das World Trade Center in klaren Bildern dargestellt: »They slit throats of women on airplanes in order to achieve an objective that is beyond comprehension, and they like to hit and then they like to hide out. But we're going to smoke them out.« (zit. nach Bowker 2006, 183) Hier ließen sich Parallelen zum Amtsantritt Ronald Reagans ziehen. Reagans Außenminister George P. Shultz bezeichnete die internationalen Terroristen, ein Begriff der, wie Chomsky erklärt, in der Tat dehnbar war und sich auf Personen in der Sowjetunion, im Nahen Osten oder in Zentralamerika beziehen konnte, als »depraved opponents of civilization itself«. Ihre Existenz bedeute bereits in den 1980er Jahren »a return to barbarism in the modern age« (zit. nach Chomsky 1989, 63).

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The term and the practice of ›civilization‹ work to produce the human differentially by offering a culturally limited norm for what the human is supposed to be. It is not just that some humans are treated as humans, and others are dehumanized; it is rather that dehumanization becomes the condition for the production of the human to the extent that a ›Western‹ civilization defines itself over and against a population understood as by definition, illegitimate, if not dubiously human. (Butler 2006, 91)

Die Rede vom »Ausräuchern« (»to smoke them out«) geht auf eine lange Tradition der Gleichschaltung der Terroristen mit Schädlingen zurück, in der es gilt, das ansteckende Andere effektiv zu bannen oder gar zu eliminieren. Die Bedrohungsnarrative beleben darüber hinaus andere Feindbilder und Angstszenarien. Gegen Ende des Films, kurz nach der Stürmung des Hauses in dem sich der vermeintliche Al Kaida Führer befindet, geben die Marines das Ende der Mission über Funk bekannt: »Geronimo! For God and country!« Mit dem inoffiziellen militärischen Code-Namen »Operation Geronimo«, der für die Suche und die Tötung bin Ladens stand, ist eine weitere problematische Parallelisierung angesprochen. Geronimo war ein Häuptling der Apachen, der sich gegen die Landnahme im Zuge der Westerweiterung im 19. Jahrhundert zur Wehr setzte. Er entkam den U.S.amerikanischen als auch mexikanischen Truppen immer wieder, bis er 1886 kapitulierte und schließlich 1909 in Kriegsgefangenschaft starb. Die Aktivistin Winona LaDuke hat darauf hingewiesen, dass das alte Feindschema des ›Indianers‹ über eine indigene Nomenklatur im Militär bis heute fortgeführt wird: The term used when you leave a military base in a foreign country is to go off the reservation, into Indian Country. So what is that messaging that is passed on? It is basically the continuation of the wars against indigenous people. (2011)59

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Die sprachliche Markierung des Anderen ist Teil seiner Bannung und schreibt seine bedrohliche Differenz fort. Mit der verbalen Verschaltung der indigenen Bevölkerung der USA mit den fundamentalistischen Terroristen werden zwei für das Heimatland gefährliche und rebellische Positionen markiert.

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Einen weiteren interessanten Querverweis liefert die Benennung populärer U.S.-amerikanischer Kampfhubschrauber nach indigenen Stämmen, wie Apache, Comanche oder Kioma. Dies ist eine zusätzliche konfliktreiche, kulturelle Aneignung auf Seiten der U.S.-Regierung, die von vielen First Nations aufgrund der anhaltenden neokolonialen Ausbeutung nicht als repräsentativ angesehen wird und damit auch keineswegs eine Form der Ehrung darstellt (Waxman 2014).

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6.4.2 Der Gefangene als mythobiotische Chiffre Das Phantom ist in Bigelows Film eine Leerstelle, eine anonyme Identität (Abu Achmed), ein kollektives Schreckgespenst (bin Laden), ein Körper ohne Seele (der gefolterte Pakistani), eine mythobiotische Chiffre (Terrorverdächtige), kurzum: ein Mann ohne Eigenschaften. Diese Dynamik zeigt sich bereits in der ersten Szene des Films. Der Zuschauer sieht einen Schwarzfilm über den als Tonspur Mitschnitte vom Tag des Anschlags am 11. September 2001 laufen. Die Audiosequenz bietet eine geisterhafte Auferstehung der beim Anschlag auf das WTC Getöteten. Die Montage bildet einen Klagechor der Betroffenen, in dem einzelne Stimmen immer wieder heraustreten. Der fragmentierte Stimmteppich bildet nicht nur den Kontext für die folgende Geschichte, er ist auch Sinnbild des unaussprechlichen Leids der Betroffenen, das sich schwer visuell übersetzen und repräsentieren lässt. So gelingt es Bigelow, die Opfer in ihrer Individualität und als im gemeinsamen Schicksal Vereinte zu inszenieren. Der kognitive und emotionale Effekt ist unheimlich, die Abwesenheit der Toten wird über deren Unsichtbarkeit auf visueller Ebene verstärkt. Gleichzeitig wird ein Spannungsverhältnis erzeugt, im Zuge dessen der Zuschauer geradezu das Auftauchen der Gesichter erwartet. Die Leinwand macht an dieser Stelle gewohnheitsmäßig ein Bild sichtbar, im Kontext des abgedunkelten Kinosaals und der Präsenz der Leinwand bildet die Sichtbarkeit den visuellen Imperativ. In der Dissonanz zwischen Medium und Bild, dem Auseinandertreten von Körper und Stimme, entfaltet sich der Wunsch der Zusammenführung. Bereits zu Beginn wird hier ein Moment der Nicht-Erfüllung aufgebaut und das Verlangen nach demjenigen, der die Entzweiung hervorgerufen hat. In der folgenden Sequenz erfüllt Bigelow in zweifacher Hinsicht das Verlangen der Publikums: die Leinwand gibt den Blick auf das malträtierte Gesicht eines Mannes frei, der, dies scheint der Schnitt zu suggerieren, einer der Verursacher des Anschlags gewesen sein könnte. Die Kamera zoomt in einen abgedunkelten Raum, zeigt den angeleinten Gefangenen und drei mit Sturmhauben verhüllte Männer, die um ihn herum gruppiert sind. Ein Mann ohne Maske, der später als Dan eingeführt wird, tritt an den Gefangenen heran und fordert den Gefangenen auf, ihm ins Gesicht zu schauen: »I own you, Ammar. You belong to me. Look at me. If you don’t look at me when I talk to you, I hurt you.« (02:31-02:42)60 _______ 60

Liam Kennedy sieht in der Eingangsszene die grundlegende Logik des ›Krieges gegen den Terror‹ erfasst: »This opening scene stages the primal scene of the war on terror as a black site that exists in an exceptional time

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Bereits zu Beginn versucht der Film das Trauma zu überwinden, das sich nicht zuletzt über den Bereich des Visuellen entfaltet hat und fortdauert. Der Anschlag auf das World Trade Center war ein weltweites Medienereignis und seitdem wird der Kampf gegen den Terror auf beiden Seiten als Kampf der Bilder fortgeführt (Rötzer 2005). Am 11. September beobachtete nicht nur Al Kaida den Zusammenbruch der Zwillingstürme, das Symbol ökonomischer und politischer Potenz der USA in der Stadt der Moderne. Ab dem Moment, da das Wahrzeichen des Wohlstands und der Sicherheit in Flammen aufging, waren die USA nicht länger die Nation, deren Platz man begehrte, vielmehr war sie den Blicken der anderen ausgeliefert: […] a wounded United States was looked at, watched, and surveyed during a moment of great exposure, devastation, and loss. In short, what disappeared into the immense catastrophe of grey and crimson smoke were not only thousands of ordinary lives but also the West’s privilege of being the bearers of God-vision. (McClintock 2004, 94)

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Bigelow erfüllt nun in der ersten Sequenz des Films das Begehren nach dem Schuldigen und der Gefangene wird zum Platzhalter für eine Position, die in der Wirklichkeit der Terrorbekämpfung im Dunkeln bleibt. David Lyon verweist hier auf den intrikaten Zusammenhang von Schaulust und Sicherheitsgesellschaft, der sich aus der doppelten Bedeutung des Wortes Screening ergibt. Der 11. September 2001 war ein Medienereignis. Millionen Menschen weltweit haben den Anschlag auf die Zwillingstürme und damit zugleich die Viktimisierung der USA verfolgt. Jenes watching hat nun das watching for (Terroristen) in weiten Kreisen der nationalen und zunächst auch internationalen Bevölkerung legitimiert. Die mediale Aufbereitung und Verbreitung der Bilder des Anschlags »stimulierten wesentliche Meinungseffekte wie Sympathie, Wut, Angst und das Verlangen nach Rache, Effekte, die schlussendlich eine wertvolle Rolle in der Legitimation politischer und militärischer Reaktionen spielen« (Lyon 2006, 37, meine Übers.). Mit der Folge von zwei Gewaltakten, dem Anschlag auf das WTC und der Folter im Geheimgefängnis in Bagram, Afghanistan, wird die binäre Ordnung zweier sich feindlich gegenüberstehender Lager als rhetorisches Prinzip des Terrors ausgestellt. Die »symbolische Territorialisierung«, wie sie von Anne McClintock als Prinzip imperialer Wiederaneignung im ›Krieg gegen den Terror‹ beschrieben wird (2009, 58), beherrscht den gesamtem Film: den Stimmen der Opfer des Anschlags am 11. September folgt die ausgedehnte Szene im Folterraum eines Geheimlagers; dem über _______ and space and in which ethical values of humanity are suspendend. This is the time and space of ›zero dark thirty‹.« (2016, 8)

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Medienberichte eingeblendeten Busattentat vom 7. Juli 2005 in London wird eine weitere Szene aus dem Geheimgefängnis in Bagram entgegengesetzt. Somit ist der Film auch Teil eines gezielten Bildermanagements.61 Bigelow visualisiert die rächende Gewalt und damit verbunden eine schematische Gegenüberstellung von Westen und Osten. Durch das parallelisierende Syntagma wird auch Pakistan mit 9/11 in Verbindung gebracht. Dies, obwohl die Zivilbevölkerung der Länder nichts mit dem Terroranschlag auf die Zwillingstürme zu tun hatte. Die Qualen der Opfer in den westlichen Metropolen werden in Zero Dark Thirty über eingeblendete Medienberichte und Interviews mit Betroffenen nachvollzogen. Die Darstellung des islamistischen Terrors in den westlichen Metropolen findet im filmischen Narrativ sofort seine Entsprechung in der Folter mutmaßlicher Komplizen und Verdächtiger in Pakistan, Saudi Arabien und in Polen. Bigelows Gegenüberstellung erzeugt nicht nur den Eindruck der Rache, sondern auch der Rechtmäßigkeit der Folterpraxis angesichts der Realität des Terrors. Die Befragung von Gefangenen durch fragwürdige und menschenverletzende Verhörmethoden erscheint nun als moralisch nachvollziehbar. Im parallelisierenden Schnitt wird eine illusorische Raumzeit aufgeführt, über die sich ein Szenario der Rache erfüllt und eine zumindest temporäre symbolische Inbesitznahme des Anderen gelingt (Mulvey 1988, 62f.; 67).62 Innerhalb der visuellen Aneignung nimmt die Darstellung des Körpers eine besondere Rolle ein. Ohne schützende Geste vergrößert der Film bereits in der ersten Szene das körperliche Leid des Terrorverdächtigen und befriedigt somit den voyeuristischen Blick. Nach der, wie George W. Bush nicht müde wurde zu betonen, »feigen Tat«, die im Geheimen organisiert und durchgeführt wurde, ist der Täter nun gezwungen, dem Opfer, in der stellvertretenden Figur des Folterers, ins Gesicht zu schauen und ihn damit wider Willen anzuerkennen bzw. seine Macht wiederherzustellen. Mayas Anwesenheit in der ersten Szene beschämt Amar zusätzlich, da man seine

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So gleicht der Nachrichtensender CNN Bilder zu den Verlusten im Irak durch Wiederholungen der Anschläge vom 11. September aus (Takacs 2012, 3). Mulvey hat in Bezug auf die Objektivierung der Frau in Hollywood-Filmen von einem Mechanismus des »to-be-looked-at-ness« gesprochen (1988, 62), der sich auch auf die Darstellung anderer Identitäten anwenden lässt. Die kinematographische Manipulation von Zeit und Raum (re)produziert den Anderen für ein hegemoniales Begehren: »Playing on the tension between film as controlling the dimension of time (editing, narrative) and film as controlling the dimension of space (changes in distance, editing), cinematic codes create a gaze, a world, and an object, thereby producing an illusion cut to the measure of desire.« (Ibid.)

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Genitalien vor ihr entblößt.63 Dabei ist zu diesem Zeitpunkt keineswegs klar, wer dieser Mann ist und in welcher Beziehung er zu bin Laden steht. Das filmische Narrativ macht sich die Lust am Schauen zu eigen, deren präfigurierte Erwartungshaltung im Moment der Auferstehung des Anderen seine Verflachung zur Folge hat. Der Folterer erklärt den Gefangenen bereits in den ersten Szenen des Films zum Eigentum. Für Maya sind die arabisch-codierten Gefangenen lediglich Spuren, sie liefern Hinweise auf ein erklärtes Ziel. Sie werden nur bruchstückhaft und fragmentiert ins Bild gesetzt, eben dort, wo sie der Dramatik der Handlung dienen und eo ipso der Erzählung des Selbst.64 Die Objektivierung und stereotype Aufbereitung des arabischen, muslimischen Gegenspielers vollzieht sich über eine Reihe visueller Techniken: sein Körper wird für die Kamera ausgestellt, in Nahaufnahmen und Zeitlupen-Schnitten vermessen. Die Zerstückelung des Körpers macht den Anderen »konsumierbar«, seine Auferstehung im voyeuristischen Blick löscht seine Differenz. Bell hooks spricht von der spezifischen Kommodifizierung des Anderen: […] the commodification of difference promotes paradigms of consumption wherein whatever difference the Other inhabits is eradicated, via exchange, by a consumer cannibalism that not only displaces the Other but denies the significance of that Other’s history through a process of decontextualization […] contemporary notions of ›crossover‹ expand the parameters of cultural production to enable the voice of the non-white Other to be heard by a larger audience

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An der Perpetuierung des Diskurses sind nicht nur die Medien, sondern auch die sogenannten Handbücher und militärischen Ratgeber beteiligt, so z.B. The Arab Mind von Raphael Patai. In dieser Bibel der »soft power« wird die arabische Kultur als ein homogener Kulturkreis dargestellt. Die Untersuchung muslimsicher Kultur fokussiert in The Arab Mind auf sexuelle und religiöse Praktiken (Hersh 2004, 38f.). Einen Höhepunkt der Aneignung inszeniert der Film in der subtilen Gleichsetzung der Gefangenen mit den Affen, die auf dem Gelände des Geheimlagers der Bagram Air Base gehalten werden. Die Analogie zum Zoo liegt nahe. Hier werden Menschen und Tiere der Beobachtung und Überwachung preisgegeben. Die Affen sind der Augapfel des Spezialisten Dan, der nach Jahren der ›Feldarbeit‹ zum Schreibtisch nach Washington zurückkehrt. Mit einem Ausdruck von Melancholie verweist er auf das verwaiste Affengehege: »They killed my monkeys, some bullshit about escaping, can you fucking believe it?« (46:05-46:10) Tier und Gefangener sind gleichermaßen auf die Gnade der amerikanischen Sicherheitsagenten angewiesen. Sie werden als Besitz markiert, mit dem verfahren wird. Die Szene mutet besonders zynisch an, da Dan die Affen mit Leckereien verwöhnt und tatsächlich besser behandelt als die Gefangenen. Auch hier bewegt sich der Film zwischen der Ausstellung einer degradierenden Gewalt und der Perpetuierung herabsetzender Mechanismen durch die symbolische Parallelisierung. Die Problematik wird verstärkt durch die grundsätzliche Sympathie, die der Charakter Dan im Zuschauer auslöst, da er als einer der wenigen Männer des Teams Verständnis für Maya aufbringt.

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even as even as it denies the specificity of that voice, or as it recoups it for its own use. (2006, 373)

Die überzeichnete Darstellung des vermeintlichen Terroristen bildet eine spektakelhafte Aufführung des Feindes, der von den historischen Hintergründen, den sozialen Beziehungen und politischen Motivationen getrennt erscheint. Während die Opfer von 9/11 in der Anfangssequenz des Films eine Stimme erhalten, aber ohne Körper existieren, ist die körperliche Präsenz des Terrorverdächtigen Amar unübersehbar. In der Nahaufnahme sieht der Zuschauer sein zerschlagenes Gesicht, der erschöpfte, schwitzende und blutende Körper hängt in den Seilen, die ihn zur Betrachtung halten. Sein Körper dient der diskursiven Einschreibung eines Willens zur Macht. Hier wirkt eine »autotelische Gewalt« (Reemtsma 2008, 116f.), die auf die Integrität des Körper selbst zielt und seine Zerstörung ins Zentrum stellt. Jene Formel wird zum inhaltlichen und ästhetischen Funktionsprinzip des Films.65 Wenn Maya nächtelang vor den Verhörvideos sitzt und nach Hinweisen zu Abu Achmed sucht, wird ihr müdes Gesicht in Nahaufnahme gezeigt, im Hintergrund laufen die unscharfen Bilder der Vernehmungen. Neben Maya auf dem Schreibtisch liegen die Existenzen der Gefangenen zu Hunderten in Videostapeln aufgebahrt (28:28-30:00). Jene Szene, in der Mayas Gesicht nur noch durch das Licht des Computerbildschirms beleuchtet wird, auf dem sie die Foltervideos von Inhaftierten nach weiteren Indizien durchsucht, beschreibt den graduellen Verlust der Menschlichkeit auf allen Seiten der Sicherheitspolitik. Die Szene stellt den vielleicht subversivsten Moment des Films dar, denn sie verdichtet die Funktion des filmischen Umraums. In allen Handlungsbereichen fungiert der Raum symbolisch als Aussage des Eingesperrtseins. Das »Draußen«, die als bedrohlich dargestellte »arabische« Stadt, aber auch das »Drinnen«, die repräsentativen Räume westlicher Identität, bieten keine Erholung oder Erlösung. Die käfigartigen Büroräume der Analysten und die Gefängnis- und Folterzellen sind eng verbunden, sie erscheinen als parallele Strukturen einer gebannten Mobilität.66 _______ 65 66

Zur Repräsentation von Gewalt in Zero Dark Thirty siehe Göhrling 2014, 145-181. Liam Kennedy bezeichnet die emotionale Flachheit der Charaktere und ihre Handlungsorte, die grauen und dunklen Konferenz- und Verhörräumen, als »entropische Umgebung« (2016, 7) und argumentiert: »These sterile settings are ›non-places‹ that lack registers of affect or community yet suggest the bablity of new forms of warfare, simulacra of a ›international military sublime‹.« (Ibid) Kennedy ignoriert dabei, dass eben jene Medienstrukturen im Film dramatisiert erscheinen und als ästhetisches Prinzip die »viewer society« (Mathiesen 1997) ausstellen, in der alle Beteiligten eingeschlossen sind. In diesem Sinne funktioniert die Umgebung als Repräsentation der postmodernen Gemeinschaft, deren neue Räume, Tech-

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Der Handlungsraum der Figuren, ihre potentiellen Aktionsräume und Betätigungsfelder sind die Projektionen von Vorstellungen einer im Terror eingesperrten Gesellschaft. So verstellen Fenster- und Türrahmen die freie Sicht auf die Objekte und Figuren, die Kamera filmt durch milchige Glasfronten und die Gesichter der CIA-Analysten werden durch das künstliche Licht der elektronischen Medien beleuchtet. Innerhalb dieser Modi der Interaktion gibt es kaum noch Momente des konkreten physischen Kontakts mit dem Anderen und dessen Wünschen (Neroni 2015, 125). Das Gefangensein betrifft alle, die CIA-Angestellten, die sich hinter den hochsicherheitsgeschützten Mauern der Botschaft und ihrer Privatresidenzen verschanzen, sowie die Inhaftierten der Geheimgefängnisse und ihre medialen Wiedergänger. Zugleich bleibt die Gerichtetheit und Intensität des Blicks an den Charakter Maya gebunden. Die Fokalisierung legitimiert die Handlungen der CIA und in Verlängerung die homeland-Fiktion der U.S.Regierung. Der Film oszilliert streckenweise zwischen der kritischen Beleuchtung einer umfassenden Sicherheitspolitik und deren Glorifizierung, ohne gleichwohl den Mythos des Exzeptionalismus aufzugeben. So erinnern die Videoaufnahmen der Gefangenen zugleich an die ikonischen Fotografien aus den Lagern Guántanamo und Abu Ghraib. Der Zuschauer erkennt den hooded man und die in Orange gekleideten Häftlinge. Während sie also zum einen die »Permanenz des materiellen Raums der Körper und Dinge in der geopolitischen Semantik« aufzeigen, bezeugen sie zum anderen die Permanenzen in »ihren medien-und systemtheoretischen Überwindern« (Maresch und Werber 2002, 21). Zero Dark Thirty verlängert die Reichweite des Terrors, stellt ihn in den intermedialen Referenzen und den Schauplätzen (Saudi-Arabien, Polen, Pakistan, USA) als globales Phänomen aus. Gleichzeitig greift der Film damit auf ein bereits etabliertes globales Bildarchiv zurück, das die Authentitizität des Gezeigten bezeugen soll. Die gesammelten, katalogisierten und ausgewerteten Videoaufzeichnungen stellen zudem eine Antwort auf die epidemische Verbreitung der Drohvideos der Taliban dar. Der weltweit im Bekennervideo zum Anschlag auf die Zwillingstürme bekannt gewordene – jener stolze und unverwüstlich erscheinende Osama bin Laden – wird in Zero Dark Thirty über die Verhörvideos seiner gefolterten Landsmänner bestraft. Diese Dynamik lässt sich mit Boris Groys als Form der visuellen Kriegsführung be_______ nologien und Sichtachsen die Geschichte einer individuellen und kollektiven Entfremdung erzählen. Ignatiy Vishnevetsky bringt es auf den Punkt: »Within Zero Dark Thirty's mise en scène, monitors and live video feeds become interchangeable with their real-world subjects. People become tracking device blips, shapes glimpsed through the spy planes, photos pasted on dry erase boards.« (2012)

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greifen: »Video gegen Video, Bild gegen Bild.« (2005, 46)67 Der muslimische Terrorist bleibt ein »Medienphantom« (Rötzer 2004), bis die Unsicherheit um seine Identität in dubio contra reo aufgelöst wird und ein stellvertretender Körper gebannt ist. Bei einer Besprechung der CIA-Analysten in Zero Dark Thirty zieht der Vorgesetzte Mayas Bilanz: »We are failing, we are spending billions of dollars. People are dying. We are still no closer to defeating our enemy.« (1:02:53-1:02:58) In der Betonung der Verluste stehen die finanziellen Kosten an erster Stelle, gefolgt von den Menschenleben. Dies enthüllt die neoliberale Logik des Krieges, die auf den Gesetzen der Wirtschaftlichkeit beruht. Tatsächlich bildet die Sicherheitsindustrie spätestens seit dem 11. September 2001 eine der größten Industriezweige der USA, weit mächtiger noch als Hollywood und die Musikbranche (Stoller 2006, Ratliff 2005). Dennoch wird dem Sicherheitsboom als einem florierenden Wirtschaftszweig im Zusammenhang mit dem Terrordiskurs wenig Beachtung geschenkt: [A]s an unprecedented convergence of unchecked police powers and unchecked capitalism, a merger of the shopping mall and the secret prison [...]. Not only does it create a powerful impetus to perpetuate the fear and sense of peril that created the industry in the first place. (Klein 2007, 306)

Die Milliarden teure Sicherheitsmaschine benötigt Ergebnisse, wenn diese nicht vorzuweisen sind, muss sie auf Modi des Spektakels zurückgreifen. Nicht das Leben als verletzliche Einheit steht auf dem Spiel, sondern der Verlust von Material zur Erhaltung der Nachfrage. 68 So fordert der Leiter der CIA-Gruppe von seinen Mitarbeitern: »I want targets. Do your fucking job. Bring me people to kill.« (1:05:58-1:06:02)69 Die Legitimation der Maßnahmen im In- und Ausland erfordert Ziele und damit eine gezielte Herstellung des Feindes.70 Die proaktive Antiterrorstrategie produziert den _______ 67

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Rötzer hat deutlich gemacht, dass sich die Videos der Taliban durch eine »effiziente memetische Verbreitung« auszeichnen (2004). Die Videobotschaften wurden an die großen Fernsehsender geschickt und »analog einer viralen Epidemie nach und nach verbreitet, um schließlich auch den Weg in die Massenmedien zu finden« (ibid.). 600 von 779 Inhaftierten des Militärlagers Guantánamo wurden nach jahrelanger Haft ohne Verurteilung freigelassen (Stand 2014, Human Rights Watch 2014). Naomi Klein hat dazu vermerkt: »It is a track record that is a grave indictement of the quality of intelligence produced by the administrator’s market-based approach to terrorist identification.« (2007, 306) Elsaesser sieht hier Ähnlichkeiten zum police procedural, »als Vehikel einer neuen Form der datenbesessenen technokratischen Gouvernmentalität« (2016, 90). Während der Invasion in Afghanistan erließen U.S.-Geheimagenten ein Kopfgeld von 3.000 bis 25.000 Dollar für die Auslieferung von Taliban oder Al Kaida-Kämpfern: »You can receive millions of dollars helping the anti-Taliban forces [...]. This is enough money to take care of your family,

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Anderen als stimmlose Silhouette. Das Phantom konstituiert sich hier als hybride Subjektstelle zwischen dem mythischen Bösen (der Andere) und seiner biopolitischen Existenz. Der zu tötende und tötbare geisterhafte Körper wird zur Ware im Tausch gegen einen nationalen Konsens. Die Bewerbung des Films als faktenbasiertes Drama verkompliziert die Fragen um Wahrheit und Fiktion zusätzlich. Die Produzentin und Regisseurin Kathryn Bigelow bezeichnete ihren Film als eine authentische Darstellung des Antiterrorkampfes, entstanden auf der Grundlage von CIAProtokollen und Interviews mit Mitarbeitern der U.S.-Sicherheitsbehörden. Von den Machern als »Doku-Fiktion« beschrieben, legt der Film gezielt Spuren zu »realen« Ereignissen und Figuren, zugleich wird mit der Fiktionalisierung und Inszenierung als Thriller, die Suche nach bin Laden mythisch aufgeladen. Im Zuge dessen ist die Lenkung der Blickrichtungen als Kommentar zu den realen Geschehnissen zu werten. Dies hat nicht nur auf Seiten der Geheimdienste und des Pentagon einen Sturm der Kritik entfacht: Die CIA warf dem Film eine Verfälschung der Tatsachen vor. Die Vorsitzende des Senatsausschusses für die Nachrichtendienste, Dianne Feinstein, brachte in einem Brief vom 19. Dezember 2012 an Michael Lynton, dem Chef der zuständigen Produktionsfirma Sony Pictures Entertainment, ihre »tiefe Enttäuschung« über den Film zum Ausdruck: »[G]rossly inaccurate and misleading in its suggestion that torture resulted in information that led to the location of Osama bin Laden.« (Feinstein 2012) Doch der wahrlich paradoxe Einwand folgte, denn das Pentagon forderte, dass der Film diesbezüglich als »fiktional« klassifiziert wird, weil er – in Feinsteins Worten – die öffentliche Meinung auf eine in die Irre führende Weise beeinflussen könnte. Die Anwendung der Folter sollte vom seriösen öffentlichen Diskurs ausgeschlossen bleiben, denn nur so könnten alte nationale Wunden heilen. Der Film sei ein »Affront gegen Amerikas nationale Ehre«. Feinstein beschreibt die durch die Fotos aus Abu Ghraib ausgelöste Debatte um die Folter in den Geheimgefängnissen als »dunkle Zeiten«. Dieser »Schmutzfleck auf dem nationalen Bewusstsein« (Feinstein 2012) bezieht sich auf die Darstellung der Folter, jedoch nicht auf die politischen und ökonomischen Hintergründe, die zur der Tötung Osama bin Ladens führten. Zudem las_______ your village, your tribe for the rest of your life.« (Faul 2005) 86% der Gefangenen wurden laut Pentagon von afghanischen und pakistanischen Kämpfern übergeben. Viele der Inhaftierten waren bei Hilfsorganisationen angestellt oder durch verwandtschaftliche Verhältnisse ins Visier der Fahnder geraten. Der Wert des Menschen bemaß sich somit an seinem Informationswert bzw. seinem Wert für die Statistik der U.S.-Sicherheitsbehörde. Die Maßnahmen der USA infiltrierten die sozialen Strukturen in den okkupierten Gebieten und schufen zudem langfristig eine Atmosphäre des Verrats (Simpson 2006).

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sen sich ohne weiteres Beispiele für eine bewusste Verklärung der Tatsachen finden, die der öffentlichen Inszenierung des Militärs eher in die Karten spielte. So wird z.B. die moralische Ambivalenz der Unsichtbarkeit im Film bewusst ausgeblendet. Die Unsichtbarkeit gilt als dschihadistische Waffe und gehört den klandestinen Strukturen der Terrorgruppen an. Als Instrument des staatlichen Terrors, über die Sicherheitsagenturen nationale Souveränitätsrechte aussetzen, der Privatsphäre unterliegende Informationen generieren und eine umfassende Überwachung des öffentlichen Lebens aufrecht erhalten, tritt sie in den Hintergrund.71 Die Geheimoperation zur Erschießung bin Ladens in Abbottabad wird im Film als Freiheitsmission inszeniert, obwohl sie das nationale Souveränitätsrecht Pakistans verletzte. Auch der geheime Transport von Terrorverdächtigen ohne das Wissen der jeweiligen Zivilbevölkerungen findet im Film keine Erwähnung. Die Bewohner der Stadt, in die die U.S.-Marines einfallen, treten als bedrohliche Schattenmasse auf. Der konstante Verweis auf die authentische Darstellung des Films blendet die Selektion und Kombination des Materials und somit die Intentionalität der Inszenierung aus – der Verweis auf den realistischen Modus unterstützt demnach eher das ideologische Narrativ. Die realistische Darstellung der Folter, so Slavoj Žižek, stärkt keineswegs den demokratischen Diskurs, im Gegenteil wird die Folter über ihre Repräsentation salonfähig gemacht. In diesem Sinne nannte er Zero Dark Thirty »Hollywoods Geschenk an die amerikanische Macht« (2013). Doch auch wenn Žižek berechtigterweise betont, dass der Film in ein »moralisches Vakuum« führt, so ist mit dem Fingerzeig auf eine durch den Film bestätigte Ideologie keinesfalls die Geschichte zu Ende erzählt: Die »De-Realisierung« (Butler 2006, 33) der Gefangenen ist (nicht nur) ein Resultat neoliberaler Antiterrorbekämpfung, sondern eine strategische Re-Produktion spektraler Subjektpositionen, die auf eine lange Tradition zurückblickt und im Anti-Terror-Kontext über nationale Mythen des Exzeptionalismus reaktiviert wird. Im Zeitalter der Antiterrorbekämpfung bedeuten Informationen Macht und Kontrolle.72 Mayas Suche nach den »richtigen« Informationen lässt sie _______ 71

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Obwohl der staatliche Terror und der Terror fundamentalistischer Gruppen sich in den Aktionsweisen nicht unähnlich sind, z.B. beruht die Arbeit der Geheimdienste schon immer auf verborgenen Strukturen, verdeckten Operationen und unsichtbaren Netzwerken, gelten sie in der öffentlichen Wahrnehmung als fundamental verschieden (Chomsky 2002). Mark Poster sieht in der gesellschaftlichen Akzeptanz der Überwachung eine subjektkonstituierende Funktion: »We subject ourselves to surveillance in the hope of self-confirmation; the population participates in its own self-constitution as subjects of the normalizing gaze of the Superpanopticon.« (Poster 1990, 97) Der treibende Motor jener Dynamik ist die

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alle Hindernisse überwinden: von sturen, karrieristischen, männlichen Vorgesetzten über verschlagene Terrorverdächtige bis hin zu skeptischen Einsatzkommandos. Sie überlebt gar einem Mordanschlag. Stück für Stück fügt Maya über Jahre hinweg die Puzzleteile zusammen, doch erst nach sieben Jahren hat sie sich als würdig erwiesen, nun werden die Zeichen, die zur Ergreifung bin Ladens führen, in der Masse der Daten sichtbar. Ihre Hartnäckigkeit führt schlussendlich dazu, dass die Informationen auf fast magische Weise in Erscheinung treten. Evidenz und Wunsch, Biopolitik und Mythos fallen zusammen. Die göttlichen Zeichen können dechiffriert werden, ihre Lesbarkeit gibt zugleich Aufschluss über das Auserwähltsein der Heldin.73 Der Film entlarvt die Evidenz als Fiktion und macht deutlich wie sehr die Suche nach bin Laden auf einem Glaubenssatz beruht, der vielmehr als Realitätseffekt des homeland-Narrativs zu verstehen ist. Die mediale Aufbereitung der Geheimgefängnisse lässt darauf schließen, dass das Verdrängen dieser Realitäten erwünscht ist, nicht nur von der jeweiligen Regierung, sondern auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Judith Butler hat diesbezüglich betont, dass der Aufruf zur schnellen Reaktion eine Angst vor der Trauer signalisiert: When grieving is something to be feared, our fears can give rise to the impulse to resolve it quickly, to banish it in the name of an action invested with the power to restore the loss or return the world to a formerly order, or to reinvigorate a fantasy that the world formerly was orderly. (2006, 29-30)

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Der eigentliche Gegenspieler der Nation ist die säkulare Zeit. Die mythische Zeit als unveränderliches Narrativ und der in der Gegenwart verankerte und sich aus der Zukunft speisende Antiterrordiskurs fallen in dem Moment zusammen, da sich die Terror-Zeit als mythische Zeit konserviert. Die Ausnahme, die Aussetzung von zivilen Rechten, installiert sich so über den Rekurs einer exzeptionellen Position, die es zu verteidigen gilt. Dissidente und marginalisierte Stimmen, Konflikte und Gefühle der Schuld müssen notwendigerweise ausgeblendet werden. Dan, der ehemalige Folterspezialist, der ohne größere emotionale Erschütterungen seine Arbeit in den Geheimgefängnissen gegen einen Schreibtischplatz in Washington eintauscht, wirft Maya am Telefon vor, dass sie keine stichfesten Beweise für die Existenz Abu Achmeds liefern kann. Maya gibt daraufhin zu: »I fucking want it to be true.« (1:09:14) Auch _______

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Information. Das Superpanoptikon ist demnach »eine Form der Massenkontrolle im postmodernen, postindustriellen Informationsmodus« (ibid., meine Übers.). Der maßgebliche Unterschied zum totalitären Staat liegt heute im gesellschaftlichen Konsens mit dem die Überwachung durch verschiedene Interessensgruppen installiert und aufrecht gehalten und somit zur Norm geworden ist. In eben jenem Sendungsbewusstsein lassen sich Parallelen zum puritanischen Credo der chosen people erkennen.

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der frühere Außenminister Colin Powell versicherte im Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat, dass man konkrete Beweise für eine Rechtfertigung der Kriegserklärung an den Irak habe. Man mag dies heute als Lüge bewerten und damit alle weiteren Handlungen der Regierung als Täuschung verstehen. Viel wichtiger ist aber, dass dies die Wahrheit darstellt, die die Realität der Gefangenen in Guantanámo, Bagram, Abu Ghraib und anderen Lagern bis heute bestimmt. Am Ende von Zero Dark Thirty soll Maya bin Ladens Identität verifizieren. Der Zuschauer muss dem Gesicht vertrauen, das mit einem Nicken die Welt wieder ins Gleichgewicht setzt: »The effect of the hero is the unlocking and release again of the flow of life into the body of the world« (Campbell 2008, 40). Doch was passiert mit der Wärterin? »Where do you want to go« (2:23:18), fragt der Pilot des Transportflugzeugs, das Maya ausfliegen soll. Die Frage wird von leiser Cellomusik begleitet, deren sphärisch hallendes Timbre zunächst auf die Unschärfe der Situation und die moralische Ambivalenz der Figur hinzuweisen scheint. Doch mit den Tränen der Protagonistin setzen Klavier und Streicher ein und sprechen für die Entladung der verdrängten Emotionen. Es bleibt jedoch offen, ob es sich hier auch um den kathartischen Höhepunkt des Films handelt. Der Tod bin Ladens schafft Fakten, aber keine Auflösung des übergeordneten Konflikts. Die Tränen sind so auch ein Ausdruck der Trauer um den Verlust des Anderen, der als (bedrohliche) Präsenz stets eine konstitutive Rolle in der Herstellung des Selbst spielt. Das abwesende Antlitz bin Ladens bleibt die strategische Leerstelle des Films, der Motor eines fortdauernden Ausnahmezustands. So argumentiert Anne McClintock in Hinblick auf den schwer fassbaren Feind: The enemy is the abject of empire: the rejected from which we cannot part. And without the barbarians the legitimacy of empire vanishes like a disappearing phantom. Those people were a kind of solution. (2009, 55, meine Herv.)

Abu Achmed und bin Laden sind tot, doch ihre Namen bleiben Platzhalter für andere, die da kommen mögen und Maya ist die Schlüsselträgerin einer »imaginierten Gemeinschaft« (Anderson 1991), deren Freiheit im Verborgenen verteidigt wird.

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7. Schlussbetrachtungen In Anordnungen der Gefangenschaft verdichten sich Konzeptionen von Gemeinschaft, die über erzählerische und poetische Verfahren in ihren sozialen Hierarchien und Distinktionen inszeniert, affirmiert oder subversiv unterlaufen werden. Die Analyse der ausgewählten Beispiele lieferte nicht nur Erkenntnisse über den diskursiv-materiellen Raum der Gefangenschaft, sondern auch über die Gefangenschaft als diskursiv-materiellen Raum der Gemeinschaft. Die Arbeit hat Spannungsverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie sowie innerhalb der euro-amerikanischen Zentren deutlich gemacht. Die Existenz des Phantoms beruht auf einer Sehnsucht nach Klarheit und Distinktion, die über Inszenierungen von Differenz eingelöst wird. Die kontinuierliche Ausgrenzung bestimmter Gruppen, die in einem dialektischen Verhältnis zur Begrenzung der Gemeinschaft steht, ist eine Dominante westlicher Selbstbeschreibungen. Die westliche (Post-)Moderne lässt sich somit über die anhaltende Präsenz der Gefangenschaft, die sich dialektisch zum aufklärerischen Paradigma der Freiheit verhält, lesen.

7.1 Markierungen Im ersten Kapitel wurden Konfigurationen der Gefangenschaft in kanonischen Texten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs untersucht. Besonders auffällig war dabei die Adaption von Elementen der Schauerliteratur in der literarischen Herstellung des Phantoms. Anders als in der frühen romantischen Gothic-Literatur, taucht das Phantom in Jane Eyre, Heart of Darkness und »Bartleby, the Scrivener« als reale Person auf. Sein/Ihr Erscheinen verweist auf eine soziale Position, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an eine gesellschaftliche Unsicherheit geknüpft war. Die bleichen, eingeschlossenen Figuren erzählen eine neue fremde Präsenz innerhalb und außerhalb der Nation, die im Text ausgestellt und gebannt wird. Zugleich wird der zwischen physischer Anwesenheit und sozialer Abwesenheit erscheinende Andere, proportional zur Distinktion und Emanzipation der westlichen Protagonisten inszeniert und ausgelöscht. Mit dem Auftauchen des Phantoms erzählt sich ein Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen dem Bürgertum und den neuen sozialen Identitäten der industrialisierten und globalen Moder-

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ne. Der Gefangene erscheint als ein ästhetisches und dramaturgisches Element westlicher Selbstbeschreibung - und behauptung. Jane Eyre und Heart of Darkness beschwören in den Konfigurationen der Bannung einen britischen Exzeptionalismus und damit die englisch dominierte, nationale Gemeinschaft um die Jahrhundertwende. Melvilles »Bartleby« und Kafkas »Strafkolonie« verdichten die kapitalistische Ausbeutung und Arretierung des Subjekts innerhalb einer zunehmend durch den Weltmarkt bestimmten sozialen Ordnung. Die Phantom-Position beruht auf einer Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die nicht nur die phantomhaft wirkenden, weißen Figuren wie Jane Eyre und Bartleby hervorbringt, sondern ebenso für die ›schwarzen Phantome‹ in Heart of Darkness und Jane Eyre sowie den sprachlosen Gefangenen in Franz Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« verantwortlich ist. Charlotte Brontës frühfeministischer Roman Jane Eyre führt mit den leidvollen Erfahrungen der Protagonistin und der Figur Bertha Masons die doppelt codierten Wahrnehmungen der Gefangenschaft und der Freiheitsbestrebungen westlicher Subjekte vor dem Hintergrund imperialer Politik auf. In der Symbolik des »wild beast’s den« (JE 264), jenem Raum im dritten Geschoss Thornfields, der durch einen Vorhang und eine weitere Tür versteckt ist, ist die Stellung des kolonialen Subjekts innerhalb des Romans als doppelt gesicherter, unheimlicher Quelle der Angst markiert und zugleich als störendes Element im Narrativ gebannt. Gleichwohl verweisen die verborgene, verrätselte Identität Berthas und ihre enigmatische Präsenz im Roman auf die Unsichtbarkeit und (Un-)Begreiflichkeit der Kolonisierten im gesellschaftlichen Diskurs der Zeit. Jene Unbestimmbarkeit des Phantoms, die sich zunächst als kritischer Gestus auf Seiten der Autorin lesen lässt, wird mit der ethnischen Übersignifikation Bertha Masons kompensiert. Während das soziale Korsett des englischen, weißen, weiblichen Subjekts beständig durch die emanzipatorische Kraft der Ich-Erzähler Perspektive konterkariert wird, bleiben dem rebellischen, weiblichen, kolonialen Subjekt Stimme und Freiheit versagt. Als Projektionsfläche für eine Kritik am männlichen Despotismus wird das Phantom der erhofften Gleichberechtigung innerhalb einer nationalen, heteronormativen und ethnisch homogenen Gemeinschaft geopfert und aus dem Narrativ entfernt. In Herman Melvilles »Bartleby, the Scrivener« wird das bezwingende Prinzip des modernen Kapitalismus ausgestellt. Der geisterhaft erscheinende Schreiber wird zur tragischen Figur. Sein Tod in den Tombs von New York ist die logische Konsequenz einer sich bereits im Büroraum vollziehenden Einkerkerung des modernen Arbeiters. In der Erzählung entblößt sich die kalte Logik der Wall Street als Sinnbild einer liberalkapitalistischen Gesellschaft, in der sich das schiere Recht auf Anwesenheit, das Gültig-Machen seiner Existenz, über die ökonomischen Verpflichtungen

Schlussbetrachtungen

gegenüber dem Staat und den sozialen Status innerhalb der Gesellschaft definiert. Bartleby ist eine von außen bestimmte, auf ökonomischen Sätzen der Nützlichkeit und Rendite basierende Definition des Menschen, die durch die Mächte ihrer Hervorbringung auch wieder zerstört wird. Die Figur des Angestellten lässt sich über das Konzept des zivilen Todes als lebender Leichnam verstehen. Brontës Roman nicht unähnlich bleibt das Phantom eine schwer definierbare Subjektstelle, die erst im Moment ihrer Rebellion Sichtbarkeit erlangt. Während in Jane Eyre die Verbindung zwischen dem westlichen und kolonisierten Subjekt noch stärker auf der metaphorischen Ebene ausgeleuchtet wird (selbst die Beziehung zwischen Rochester und Bertha bleibt eine Erzählung aus zweiter und dritter Hand), steht bei Melville die direkte Beziehung zwischen den sozialen Akteuren der Finanzwelt im Vordergrund. So wird sich der Anwalt und Arbeitgeber Bartlebys über seine eigene Position innerhalb der sozialen Hierarchien, seine eigene Wärterposition, bewusst. Allerdings lässt Melville diese vorsichtige Einsicht in letzter Konsequenz in einen deterministischen Modus zurückfallen, in dem Gefangenschaft und Rebellion ein unendliches und unauflösbares Spannungsfeld darstellen. In Joseph Conrads Heart of Darkness werden sowohl die Kolonialagenten, als auch die indigenen Subjekte als Schemen bezeichnet. Die Novelle nimmt auf gewisse Weise die intersubjektive, absurde Philosophie Camus’ vorweg und liefert so ein zunächst differenziertes Bild des kolonialen Raums und seiner Akteure. Marlow, der zweite Erzähler und Protagonist der Novelle, dekonstruiert die degradierende Darstellung des kolonialen Subjekts als Akt der Imagination und betont damit die subjektive und ideologische Prägung der indigenen Bevölkerung. Zugleich werden die afrikanischen Charaktere in ein dienstbares Abhängigkeitsverhältnis zur Entwicklung des dynamischen Bewusstseins des Protagonisten installiert, das wiederum eine Essentialisierung von Identitäten voraussetzt. Schlussendlich bilden die afrikanischen Charaktere Phantome zweiter Ordnung, denn im Gegensatz zu den belgischen Handelsleuten bleiben sie eine im prähistorischen Zustand eingeschlossene, sprach- und identitätslose Masse. Am Ende werden Kurtz, der Gefangene des Dschungels und die Afrikaner – vor allem die schwarzen Sklaven auf den Stützpunkten im Inneren des Kongo – in der Erzählung durch Metaphern der Dunkelheit und des Wahnsinns zum Verschwinden gebracht. Die schwarzen Phantome sind als unheimlich markiert, ihre monströs überzeichnete Darstellung verbindet sich mit ihrer prähistorischen Existenz. Hier werden ethnische Stereotype und Vorstellungen der Zivilität verschränkt. Vor dem Hintergrund sozialdarwinistischer Theorien wird mit der ›Infizierung‹ Kurtz’ durch die ›primitiven‹ Kräften und seiner konsequenten ›rassischen‹ Degenerierung, die Angst der westlichen Zivilisation (hier ganz konkret Lon-

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don) vor dem Rückfall in einen Naturzustand beschrieben und damit ultimativ eine Krise des Westens im fin de siècle zum Thema gemacht. Ähnlich wie Heart of Darkness verortet sich die Gefangenschaft im Roman Le Jardin des supplices von Octave Mirbeau augenscheinlich außerhalb Europas, wird jedoch auf der Bedeutungsebene zum Sinnbild europäischer Dekadenz. Die Geschichte, die vom Erzähler als Stück zeitgenössischer Weltgeschichte angepriesen wird, korrigiert weniger die Brutalität des europäischen Kolonialismus in Asien, die Beschreibungen der Folter richten sich vielmehr gegen den Einfluss disziplinierender Einrichtungen wie dem Militär, dem Gesetz und der Kirche in der französischen Gesellschaft. Die Geschehnisse in einem Gefängnis und Foltergarten in China und die Darstellung des Gefangenen, dienen vor allem als orientalistische Folie für den moralischen und kulturellen Verfall Frankreichs. Die bis hier besprochenen literarischen Beispiele konzeptionalisieren die Gefangenschaft entweder über einen antithetisch angelegten Raum der Kolonie (Jardin des supplices, Heart of Darkness) oder über die Gefangenschaft des sozial devianten Subjekts innerhalb normativer Ordnungen in Europa (Jane Eyre, »Bartleby«), das gleichwohl textuelle Referenzen zum »barbarischen« Orient legt. In beiden Konstellationen fungiert das Phantom als Projektionsfläche der bannenden Strukturen westlicher Gesellschaften. Zentrum und Peripherie, Europa und die Kolonien werden durch einen Zivilisierungsdiskurs verschränkt ohne dabei in der Endkonsequenz die Überlegenheitsideologie des Westens fundamental in Frage zu stellen. In Verlängerung der von Herman Melville figurierten Gefangenschaft in kapitalistischen Gesellschaften, nimmt Franz Kafkas Kurzgeschichte »In der Strafkolonie« die Verflechtungen des Weltmarktes kurz vor dem Ersten Weltkrieg in den Blick. Die Gefangenschaft als Raum westlicher Selbstbeschreibung wird hier nicht über einen Spiegeleffekt, einen anderen exotischen Ort (vgl. Le jardin des supplices) verhandelt, sondern als »modernes Welt-System« (Wallerstein 1984, 33) ausgestellt, das verschiedene Landschaften imperialen Begehrens und Formate des ethnisch und sozial markierten Subalternen aufruft und verbindet. Kafkas Strafkolonie zeigt eine relationale Ordnung, die sich über eine den Westen und die Kolonien zusammenbindende Polyvalenz entfaltet. Kafkas Text rückt das Welt-System am Anfang des 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt, indem verschiedene Knecht-Signifikanten innerhalb des globalen Machtfeldes, von den indigenen Subjekten der Kolonien, den Deportierten der europäischen Strafkolonien sowie den Arbeitern in Europa, in den Dialog treten und stellt damit eine transhistorische und transnationale Dynamik von Entrechteten und Herrschenden aus, die kein Entrinnen, nur die Flucht auf Kosten des Anderen erlaubt. Das moderne Weltsystem ist in sich geschlossen, die Figuren verteidigen ihre soziale Position, die zugleich die Gefangenschaft aller Ak-

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teure bedeutet. Jene absurde Vorstellung fand besonders bei der Existenzphilosohie Sartres und Camus’ Anklang. Im zweiten Kapitel wird ein Sprung von der Blüte des europäischen Imperialismus zu den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts und der großen Ideologien unternommen. Die Texte Albert Camus’, Jean-Paul Sartres, und Jorge Semprúns verdichten ein europäisches Archipel der Gefangenschaft, in dem die Erfahrungen in den faschistischen und stalinistischen Lagern und die Gewalt der kolonialen Befreiungskämpfe präsent sind. Dabei bewegen sich die literarischen Anordnungen zwischen metaphysischer Explikation und sozio-historischer Verankerung, zwischen der Ordnung und der Ortung totalitärer Strukturen. In der Nachkriegsliteratur werden vor allem allegorische Verfahren und narrative Techniken der Montage und des Fragments benutzt. Im Fall von Invisible Man, »Le Renégat« und La Peste scheint dies der adäquate Zugang zu universellen Fragen nach der Verschaltung des Menschen in ideologischen Strukturen zu sein. Semprúns Romane lehnen die Abstrahierung menschlicher Erfahrung ab und bauen stattdessen auf eine polyphone und fragmentarische Konzeption der Gefangenschaft, in der zumindest auf der Inhalts- und Darstellungsebene das Phantom selbst zu Wort kommt. Seine Position wird als sozial stratifiziert präsentiert, um die Gefangenschaft als einen durch Abstufungen und Privilegien definierten Raum sichtbar zu machen. Camus’ und Sartres fiktionale und philosophische Gefangenschaften verhandeln die konfliktreiche Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, nationalen und kolonialen, europäischen und nordafrikanischen Gemeinschaften, doch die realgeschichtlichen subalternen Positionen sind in den fiktiven Werken Sartres und Camus’ zugunsten einer abstrakten Vorstellung des Menschen marginalisiert. Die Realitäten der prekären Formen des Daseins sind dem metaphysischen Phantom-Subjekt (dem unfreien, in Ketten-liegenden Menschen) nachgelagert. Der versklavte Missionar in Camus’ Kurzgeschichte »Le Renégat« und die leidenschaftslosen und dem Profit nacheilenden, fast seelenlosen Bewohner Orans aus La Peste, sind die Phantome einer gesättigten, machtbesessenen, illusionsbehafteten Gesellschaft, die sich den Ideologien hingibt. Camus’ Texte decken die Unfreiheit derer auf, die sich durch ein wie auch immer definiertes Privileg frei wähnen und damit die Unfreiheit des Anderen erzeugen. Doch für viele Menschen stellte sich die Wahl des gesellschaftlichen Ausbruchs und der Selbstverwirklichung nicht, für sie gab es nur die Entscheidung zwischen dem Überleben in seiner elementarsten Form und dem Selbstmord. Während die französischen Literaten die Gefangenschaft allegorisch verdichteten, verlassen Semprúns Romane das Reich der Abstraktion. Seine semi-fiktionalen, fragmentierten Erinnerungslandschaften setzen sich aus Erlebtem, Imaginiertem und Gelesenem zusammen. Der

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Faschismus und der Kommunismus bilden keine Schattengrößen, sondern werden über die realen Erfahrungen des Autors in Buchenwald mit anderen europäischen Lagern in Beziehung gesetzt. So weitet sich die Phantom Zone in Quel beau dimanche! auf den Gulag aus und macht die Reichweite des Terrors und die Heterogenität des Archipels Europa sichtbar. Dennoch sind die Texte Semprúns nicht als rein autobiographische Dokumente zu verstehen, sondern treffen Camus und Sartre im Zwischenreich metaphysischer Fiktion. Hier, wo sich die Freiheit des Einzelnen in der jeweiligen Situation und persönlichen Entscheidung immer wieder aufs Neue stellen und sich verschiedene Positionen des Phantoms über das Imaginäre verbinden, steht Semprún Sartres Existentialismus und Camus absurder Philosophie nahe. Semprún verhandelt die Möglichkeiten der Darstellbarkeit des Phantoms über stellvertretende Figuren des »Rotspaniers«, »zeks« und »Muselmanns«, seine fiktionalen Wiedergänger zeigen die Abstufungen innerhalb der sozialen Hierarchien des univers concentrationnaire. Dabei gehen seine Anordnungen der Gefangenschaft über die Lagergrenzen hinaus. Sie betrafen nicht nur die KZ-Häftlinge, sondern all jene, die Teil des totalitären Systems waren. Die Figur des »drinnen-draußen« bildet dabei eine Schlüsselstruktur des Romans, über die komplizierte Fragen von Freiheit und Schuld über die Grenzen der physischen Markierungen des Lagers hinaus verhandelt werden. Semprún demontiert so die einnehmenden, klassifizierenden und ordnenden Kräfte des 20. Jahrhunderts als Motor ausgrenzender Strukturen. Das jene weiterhin eine zentrale Rolle in der Organisation von Gemeinschaften spielen, lässt sich im dritten Kapitel der Arbeit anhand von Ralph Ellisons Romans Invisible Man und der Fernsehserie The Wire erfahren. Ausgehend von der These, dass das Erbe des Kolonialismus und der Sklaverei bis heute eine Struktur der Segregation und des Ausschlusses für Afroamerikaner in den USA bilden, verschränkt das Kapitel die europäische und amerikanische Geschichte über die kontinuierliche, durch kolonialpolitische Abhängigkeiten hervorgerufene Produktion einer PhantomPosition, die sich heute besonders prominent in den innerstädtischen Ghettos der USA verräumlicht. Im Mittelpunkt literarischer und televisueller Repräsentationen steht die Frage nach dem emanzipatorischen Potential des Phantoms im Spannungsfeld von individueller Erfahrung und seiner Sichtbarkeit innerhalb des nationalen Diskurses. Invisible Man verhandelt in Gestalt des pikaresken Bildungsromans historische Stationen afroamerikanischer Geschichte. Die Plantage, die schwarze Schule und Universität, die Fabrik und die Bruderschaft bis hin zum Ghetto in Harlem werden als Institutionen der rassistischen Gesellschaft ausgestellt. Die ethnische Verfasstheit des Protagonisten, seine blackness, rücken über verschiedene Formen der »Dienstbarkeit« (Morri-

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son 1992, 29-60) ins Zentrum. Hier spricht das Phantom, das sich selbst als Position zwischen seiner Vertretung und einem subjektiven Bewusstsein erlebt. Die Freiheit – verstanden als ein selbstbestimmter Identitätsentwurf für Afroamerikaner – lässt sich in Ellisons Roman nur innerhalb der nationalen Grenzen und als sichtbarer Teil des nationalen Mythos finden. Der Roman verschreibt sich einem geschichtsbewussten Nationalismus, der das schmerzhafte historische Erbe der Sklaverei bewahrt und die daraus resultierende Diversität zelebriert. In diesem Sinne dient die Konzeption der Gefangenschaft der Ausrufung eines hybriden und individualistischen nationalen Subjekts. Auch in der Fernsehserie The Wire geht es um die Funktionalität sozialer Institutionen mit ihren Machteffekten und Mechanismen der Unterdrückung – dies allerdings innerhalb der postindustriellen, innerstädtischen Umwelt des 21. Jahrhunderts. Die Reise in die Städte des Nordostens, von Frederick Douglass in seiner Autobiographie von 1845 noch als Befreiungsschlag für Afroamerikaner beschrieben, hat besonders für die schwarze Unterschicht in eine erneute Auslagerung und Dämonisierung geführt. Die Serie stellt die strukturelle und mediale Produktion des »black urban other« (Macek 2006, 37-69) aus. The Wire deutet fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Ellisons Roman die Gefangenschaft des schwarzen Subproletariats als Teil neoliberaler Ausbeutung in globalisierten, postindustriellen Gesellschaften. Während das Phantom in Invisible Man ein Produkt des institutionell wirkenden Rassismus ist, tritt es bei The Wire als Überschuss eines kapitalistischen Begehrens und Form der spektakelhaften Inszenierung des urbanen Anderen auf. Die Phantome werden über räumliche Figurationen, wie das Ghetto, das Gefängnis und den sozialen Wohnungsbau hergestellt und zugleich effektiv gebannt – ein Prozess an dem die Medien konstitutiv beteiligt sind und dem die Serie autopoetisch Rechnung trägt. Der Raum der Gefangenschaft wird in The Wire demnach nicht an einen einzigen Ort gebunden, sondern über das »carceral mash« (Wacquant 2001, 84) der urbanen, spätkapitalistischen Umwelt nachvollzogen. Das Spiel, die Leitmetapher der Serie, ist das utopische Versprechen an der Teilhabe am amerikanischen Traum und zugleich dessen gatekeeper. Die Serie wird auf der Inhalts- und Darstellungsebene sowie in Hinblick auf die institutionelle Rahmung zum Produkt einer gebannten Mobilität. Das Format der TV-Serie weist auf die grundsätzliche Unabgeschlossenheit der Geschichten hin und wird doch von der Notwendigkeit der Machtgefüge eingeholt. Der fragmentierte, polyphone Erzählstil spiegelt die Vielstimmigkeit und Komplexität des postindustriellen, urbanen Raums wieder, und ist doch von der sozialen und institutionellen Determiniertheit der Akteure geprägt. Das Spannungsfeld von Raumhandlung und institutioneller Prägung, von Überwachung und Gegenüberwachung, in denen sich

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durchaus auch subversive Momente ereignen, bleibt dem Spiel unterworfen. Schlussendlich ist mit der zur Schau gestellten Verwandtschaft der Serie mit dem bürgerlichen Roman, die eine unkritische Haltung gegenüber der ideologischen Fassung des älteren Genres demonstriert und ihre Rückbindung an die materiellen Vorrausetzungen, den Pay-TV-Sender HBO, vor allem die weiße Mittelschicht angesprochen, die den tragischen Überlebenskampf des schwarzen Subproletariats aus sicherer Entfernung verfolgen kann. Die im letzten Kapitel diskutierten Darstellungen problematisieren das Schweigen der Medien zu den Verflechtungen und Kontinuitäten der Gefangenschaft im Zuge des amerikanischen Exzeptionalismus vor einem weiteren nationalen Krisenherd: dem ›Krieg gegen den Terror‹. Künstlerische und mediale Repräsentationen muslimischer und/oder arabischer Gefangener aus Abu Ghraib, Bagram, Guantánamo und anderen Militär- und Geheimgefängnissen sowie die Darstellung der ›weißen Gefangenschaft‹ von amerikanischen Soldaten im Nahen Osten tendieren zu metonymischen Inszenierungen. Vor allem der Missbrauch von Häftlingen im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals von 2004, in dem nicht nur die Gefangenen, sondern auch die Wärter sichtbar wurden, werden als Einzelfälle und Ausnahmen, als Symptome des Gegenwärtigen (z.B. der pornographischen Gesellschaft), der ›barbarischen‹ Auswüchse der feministischen und liberalen Politik deklariert. Selten werden die Gefangenschaft, ihre Orte und Praktiken im Zuge der Antiterrorbekämpfung als globales Phänomen, innerhalb nationaler und imperialer Kontinuitäten oder kritisch in Bezug auf das mythisch-religiöse Fundament der USA betrachtet. Zumeist führen die Repräsentationen arabischer Gefangener in den Geheimgefängnissen im Irak und Syrien als auch die Gefangenschaft von Amerikanern im Nahen Osten, in Hollywoodfilmen (Argo, Zero Dark Thirty), Pay-TV-Serien (Homeland) und der medialen Berichterstattung (die Geschichten von Jessica Lynch, Lynndie England und John Walker Lindh) eine gezielte Re-Inszenierung der amerikanischen Identität und des amerikanischen Exzeptionalismus auf. Präfigurierte Genderbilder werden dabei zunehmend als ideologisches Instrument eingesetzt, um den rassistischen Diskurs der Gefangenschaft zu verschleiern. Im Rückgriff auf ältere Gestaltungsmittel und Figuren des captivity narrative und der frontier romance, erscheinen die Frauen an der einen Stelle damsel in distress oder als patriotische Heldinnen, so werden sie im nächsten Moment als bad apples, als außerhalb ihrer Genderzugehörigkeit stehende Figuren und somit als außerhalb des nationalen Bereichs Agierende markiert. Die Erklärungsversuche für die Beteiligung der Soldatinnen ist dahingehend interessant, weil sich über ein von allen Seiten – Medien, Kunst, Politik und Militär – betriebenes Gender-Spektakel, eine Diskussion um die American Eves und weniger um den gefolterten Gefan-

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genen entspann. Dabei zeigt sich, dass die Frauenfiguren das homelandNarrativ nicht nur unterstützen, sondern darüber hinaus den proaktiven Diskurs als gender- und gesellschaftsübergreifende Erzählung installieren. Die epistemische und ontologische Phantom-Position des muslimischen Terrorverdächtigen wird dabei als die eigentliche Konstante einer Narration der Nation aus dem Blick geschoben. Der Gefangene wird zu einer mythobiotischen Chiffre, die sich beständig aus den »konsensualen Fiktionen« (Pease 2009, 155, meine Übers.) der U.S.-amerikanischen Gemeinschaft und der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Agenda speist. Auch wenn den Bildern in der Ausstellung der Verletzlichkeit des Körpers durchaus auch eine gewisse aufklärerische Funktion zukommt, verlängert sich die Objektivierung und Diskriminierung des arabisch codierten Gefangenen in die virtuelle Welt und schreibt sich global fort. Die Privat- und Persönlichkeitsrechte, die die ›freie Welt‹ in den Geheimgefängnissen für die Bürger der westlichen Welt verteidigt, ist den fotografierten Gefangenen aus Abu Ghraib, ihren filmischen und digitalen Wiedergängern für immer genommen.

7.2 Perspektiven Es stellt sich abschließend die Frage, inwiefern literarische, kinematographische und televisuelle Anordnungen neue Zugänge und Perspektiven zu einem kritischen Umgang mit der Gefangenschaft als gesellschaftlichem Phänomen liefern können? Ich möchte dahingehend fünf Orientierungsmöglichkeiten aufzeigen: Zunächst bezeugen die Anordnungen ein Historisch-Imaginäres, in dem kulturelle Äußerungen (hier im weitesten Sinne) an die soziale Realität rückgekoppelt sind. Die Vorstellungen vom Gefangenen sind durch seine mediale Darstellung und Präsenz bestimmt: auf inhaltlicher und institutioneller Ebene, in Bezug auf die ästhetische Gestaltung sowie hinsichtlich seiner Präsenz in Folge der medialen Verbreitung. Die Wahrnehmung und Produktion der Phantome und ihrer Orte der Verwahrung greifen ineinander. Der Fokus auf die Konfigurationen der Gefangenschaft in der Kunst kann dabei helfen, das oft über seine Fixiertheit auf Ort und Zeit bezogene Phänomen zugunsten einer dynamischen Ordnung sowie einer transhistorischen und transnationalen Perspektive zu erweitern. Gefangenschaft ist demnach nicht allein über den Ort definiert, sondern vielmehr als eine durch Raumhandlung und Raumwahrnehmung hervorgebrachte Struktur. Dieser Umstand erlaubt es, die historischen Kontinuitäten der Bannung und ihrer Fortschreibung über unterschiedliche Strukturen (wie im Fall afroamerikanischer und arabischer Gefangenschaften) und ihre kolonialen

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Wurzeln in den Blick zu nehmen. Jene Kontinuitäten und Permanenzen sowie strukturelle Ausmaße werden auf Grund der starken Fokussierung auf die gegenwärtigen Architekturen und die sozio-psychologischen Umstände der Gefangenschaft ignoriert. Besonders problematisch ist der Verweis auf die Gegenwärtigkeit der Gefangenschaft und die Rede von der Ausnahme. Danach erscheinen, für den U.S.-amerikanischen Kontext betrachtet, das Militärgefängnis oder das schwarze Ghetto als Produkte der Innen- und Außenpolitik und nicht – im weitesten Sinne – als Konsequenz der mythischen Strukturen eines amerikanischen Exzeptionalismus. Oran, die Stadt aus Camus’ La Peste steht hier als Sinnbild für eine geschichtsvergessene (post)moderne Gesellschaft. Sie verkörpert die »Stadt ohne Ahnungen«, in der die Katastrophe der Pest wie eine Ausnahme erscheint: Aber es gibt Städte und Länder, wo die Leute hin und wieder eine Ahnung von etwas haben. Im Allgemeinen ändert das ihr Leben nicht. Doch die Ahnung war da, und das ist immerhin etwas. Oran dagegen ist eine Stadt ohne Ahnungen, das heißt eine ganz moderne Stadt. (LP 9)

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Indem die Gegenwart zum Mythos verklärt wird, löschen wir die historischen Gefangenschaften und mit ihr das Leid der Gefangenen. Die Literatur und die visuellen Narrative archivieren die Erfahrungen und halten die Erinnerung an die Gewalt aufrecht. Als Chroniken der Zeit berichten sie von den »Plagen« und sollen uns daran erinnern, »dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt« (LP 350). Die Anordnungen bieten für die jeweiligen historischen Momente Ansätze für ein Verständnis der Katalysatoren und Motive der Gefangenschaft. Jene können wiederum als Exempel einer Wiederkehr des ewig Gleichen fungieren. Transhistorische und transnationale Perspektiven korrigieren den Imperativ des Jetzigen. Die Rede von der Gegenwärtigkeit, dem »neuen Kriegsgefängnis« (Butler 2006), dem »neuen Orientalismus« (Rowe 2013) oder dem »neuen Religionshass« (Nussbaum 2014) verortet diese Phänomene in der Gegenwart. Die Begriffsfassungen verschleiern, ob des notwendigen Aufrufs an die Dringlichkeit der Kritik, die historisch gewachsenen Bedingungen und die kolonialen Spuren, die zusammen mit dem Geist des Zivilisatorischen die eigentliche Permanenz der Moderne darstellen. Der Verweis auf die Geschichte darf jedoch nicht in einen Relativismus führen, eine Rechtfertigungslogik auslösen, die sich hinter vergangene Taten zurückzieht. Das ›Alte‹ ist als mahnende Geste zu verstehen, als Aufruf an ein der Gegenwart zugewandtes Geschichtsbewusstsein. Ein weiterer Vorteil der transnationalen Perspektive liegt in der Sichtbarmachung größerer geographischer Cluster. In den literarischen und filmischen Anordnungen verdichten sich bestimmte Landschaften der Gefangenschaft. Bereits im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird deutlich, wie Zentrum und Peripherie, Europa und die Kolonien in der zweiten

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Hälfte des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert über einen Zivilisierungsdiskurs und der entsprechenden Rhetorik in der Herstellung von Phantom-Identitäten verbunden sind (Jane Eyre, Heart of Darkness, Le Jardin des supplices). Gleichzeitig wird die globale Weltwirtschaft als ein geschlossener Raum imaginiert, in dem verschiedene Landschaften zusammengeführt werden (»In der Strafkolonie«). Im zweiten Kapitel stellt Camus die Wüste als Gefängnisraum aus, der sich an der Grenze von westlichen und afrikanischen Kultursphären und Glaubenssystemen entfaltet. Allgemein wird im zweiten Kapitel der Großraum Europa als Archipel der Gefangenschaften sichtbar, in dem die Erfahrungen der europäischen Lager in den Dialog treten (»Le Renégat«, La Peste, Le grand voyage, Quel beau dimanche!, L’ectriture ou la vie). Invisible Man vermisst den nationalen Raum, der sich über verschiedene Stationen der Gefangenschaft, von der Plantage, dem schwarzen College im Süden bis hin zur Fabrik und dem Ghetto im Nordosten entfaltet. Die postindustriellen urbanen Landschaften der USA werden von The Wire aufgeführt. Im letzten Kapitel treten der Nahe Osten und die Vereinigten Staaten in ein Spannungsverhältnis. Die Gefangenschaften in Syrien, Bagram und Abu Ghraib werden mit dem amerikanischen Territorium in Beziehung gesetzt und damit innerhalb der globalen Terrorumwelt verhandelt (Homeland, Zero Dark Thirty). Die Einforderung der zivilen Rechte wird dabei nach der nationalen und ethnischen Zugehörigkeit definiert. Zudem problematisieren fiktionale Anordnungen normative Vorstellungen der Freiheit. Allgemein machen die literarischen und visuellen Anordnungen auf den Widerstreit zwischen Ideologie und Autonomie, zwischen Fremdbegehren und Selbstfindung aufmerksam. Die Lehre der Pest liegt in der Einsicht, dass wir alle gefangen sind und nur in Momenten der Brüderlichkeit und Naturverbundenheit die Freiheit erahnen können. Nach Sartre gab es mit dem Tod Gottes keine verbindlichen Werte oder Anweisungen mehr, der Mensch war dazu »verurteilt frei zu sein« (2000, 114). Die Freiheit konnte Camus zufolge nie ein in die Zukunft gerichtetes Projekt bedeuten. Als utopische Prophezeiung erhielt sie lediglich den Status quo gegenwärtiger (neokolonialer und imperialer) Ausbeutungsverhältnisse. Dies lässt sich am Beispiel von The Wire und der mythischen Strahlkraft des amerikanischen Traums innerhalb nationaler Gemeinschaften als auch in Hinblick auf den globalen ›Krieg gegen den Terror‹ nachvollziehen, in dem die westliche Welt ein Ideal der Freiheit ›verteidigt‹. Das Lager, die »Ordnung ohne Ortung« (Agamben 2002, 185) und die globale Kontrollgesellschaft, die Ortung ohne Ordnung, lassen sich durchaus zusammen denken, denn die ›freie Welt‹ akzeptiert die unsichtbare Kontrolle, gerade weil es den anderen Ort und damit das Phantom gibt. Der andere Ort rechtfertigt die Überwachung, gleichzeitig wird er in seiner anhaltenden Präsenz und Ausweitung (Supermaximum-Gefängnisse, Ge-

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heimgefängnisse, innerstädtische Ghettos und Parallelgesellschaften, die fortification des urbanen Raums) erst durch die globale Überwachung produziert. Die Produktion des ›anderen Ortes‹ beruht auf einer Angst vor dem eigenen Verschwinden. Dies bedeutet zunächst die Angst vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, dem Draußen-Sein. Anstelle der alten Angst vor Einschließung ist die Angst vor dem Ausschluss getreten. Das Panoptikum habe sich damit zu einem »Bannoptikum« gewandelt (Bigo 2006, meine Übers.), zu einem System, das aufgrund von gesammelten Daten und Informationen entscheidet, wer dazu gehört und wer draußen bleiben soll. Der latente Verdacht hat die Angst vor der Übertretung zulässiger Verhaltensweisen gesteigert. Im Moment der Erfassung eines Körpers wird jene Alarmbereitschaft zumindest temporär beruhigt. In der medialen Aufbereitung des Anderen wird die eigene Gefangenschaft innerhalb des Kontrollgesellschaft über die Schaulust sublimiert. Am anderen Ort kann das Unbehagen der eigenen Unfreiheit ausgelagert werden. Im Kontrast zu den prekären Identitäten entfaltet sich das Narrativ einer freien Subjektivität. Die anhaltende Produktion jener Orte und phantomhaften Identitäten bestätigt das Drinnen-Sein vieler, die dabei unbelastet und unangetastet die Bannung weniger verfolgen. Es ist eben jenes Begehren nach dem Anderen, über dessen Phantomisierung ›meine‹/›unsere‹ Existenz bestätigt wird. Der modernen Verunsicherung, einer zunehmenden Fragmentierung des Subjekts im Zeitalter der Mobilität und seiner Substitution durch ein mediales und digitales Double bietet das Phantom vielleicht eine der letzten stabilen Instanzen des Selbst, wenn sich alle anderen Parameter der Zugehörigkeit und Identitätsbildung im glatten Raum verflüchtigen (Familie, Beruf, Territorium, Sprache). Die Angst vor dem Verlust der sozialen Gemeinschaft betrifft somit auch die Angst vor der Auflösung identitärer Grenzen. William Staples betont, wie sehr Überwachung heute in Kulturen auftritt, die von einer fundamentalen Unsicherheit geprägt sind, in der Symbole und Institutionen sich quasi vor unseren Augen auflösen (2000). Die Orientierungslosigkeit macht die Überwachung nicht nur akzeptabel, sondern wünschenswert, denn sie definiert, paradoxerweise, die Grenzen des Selbst und der Gemeinschaft, die es zu schützen gilt. Vor allem beweist z.B. die Existenz der Geheimgefängnisse, dass der Raum der Nation als einem durch ein Außerhalb definiertes Territorium und einer auf Homogenität und Kontinuität beruhenden Fiktion, längst nicht ad acta gelegt ist. Mit dem Begehren nach Distinktion und Einheit lässt sich der fundamentale Widerspruch zwischen der Legitimation der Tötung im ›Zeitalter des Lebens‹ sowie der allumfassenden Überwachung für die Freiheit erklären. Hier wirken nicht-rationale Strukturen, die sich in rassistischen und stereotypisierenden Darstellungen verdichten. Über herabsetzende Diskurse lassen sich Machtansprüche nach innen und außen legitimieren. Der

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Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, einer Differenz-Dissonanz moderner Gesellschaften, setzt in seiner radikalsten Form der Rassismus eine ontologische Klarheit entgegen, die sich trotz seiner Irrationalität sowohl in das Narrativ der Disziplinierung als auch das Narrativ der Biopolitik einpasst. Dieser Mechanismus kann greifen, weil die Feinde, die es zu unterdrücken gilt, nicht Gegner im politischen Sinne, sondern vielmehr innere und äußere Gefahren für die Bevölkerung sind (Foucault 1999, 296), deren Existenz beständig durch das Historisch-Imaginäre beschwört, perpetuiert, aber auch dekonstruiert wird. Jene Dynamik ist also keineswegs ein von oben gesteuertes Prinzip oder eine abstrakte, an das Souveränitätsrecht gebundene Macht, sondern in der Postmoderne, mehr denn je, durch einen kulturellen Rassismus geprägt, der den biologischen Rassismus, wenn nicht komplett ersetzt, so doch erweitert hat. Der französische Philosoph Etienne Balibar beschreibt, wie der kulturelle Rassismus eine Kritik des biologischen Modelles zum Ausgangspunkt nimmt, um stattdessen die Differenz des Anderen in den Bereich des Kulturellen zu verschieben. Der biologische Rassismus bildet quasi die mythische Struktur innerhalb des kulturellen Rassismus (Balibar 1992, 21; 26). Die Kultur wird zum externen Regulativ lebender Organismen, ihrer Reproduktion, Performanz und Gesundheit. Balibar betont, dass auch diese Form des Rassismus, wie sich in der gegenwärtigen Islamophobie zeigt, auf einem Begehren nach sozialer Klarheit basiert. Der konstante Rekurs auf die kulturellen Unterschiede verweist auf die Tendenz die eigenen Traditionen und Identitäten erhalten zu wollen. Dabei wird das Eigene im Abgrenzungsprozess zum kulturell Anderen hergestellt. Um das Phantom verschwinden zu lassen, muss es als Feind der Zivilisation verwirklicht werden. Die Möglichkeit der Freiheit ist damit auch an Sichtbarkeit in der globalen Wahrnehmung gekoppelt. Die Gefangenschaft bestimmter Gruppen tritt oft erst dann in den Fokus, wenn sie die hegemonialen Zentren der Welt betreffen. Sie erscheinen, wenn sie das Selbstverständnis der Nation bedrohen und/oder einen ›Schandfleck‹ darstellen (vgl. Fotografien aus Abu Ghraib), den es zu beseitigen gilt. Sie dienen auch dazu, den nationalen Mythos in Krisenzeiten zu reaktivieren. Die Gefangenen der sogenannten ›dritten Welt‹ bleiben innerhalb des westlichen GefangenschaftsDiskurses ungehört. Es scheint daher besonders zentral die Erfahrung derer, die zum Schweigen gebracht werden, in den Mittelpunkt zu stellen. Die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison hat dies, für den U.S.amerikanischen Kontext, in ihrem Essay »Unspeakable Things Unspoken« betont: »We have always been imagining ourselves […] we are the subjects of our own narrative, witnesses to and participants in our own experience […]. We are not, in fact, ›other‹« (1989, 9). Die Literatur und die visuellen Narrative können so jenseits der Auflösung einer durch physische Mauern

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geprägten Gefangenschaft, ihrer transhistorischen und transnationalen Öffnung sowie ihrer kritischen Mobilisierung des Freiheitsdiskurses ein grundsätzliches Verständnis für die soziale Ausgrenzung vermitteln, die in ihrer Entsetzlichkeit potentiell jedem droht. Fiktionale Entwürfe geben einen Einblick in die dystopischen Dimensionen sozialer Ordnungswut. Die Freiheit ist kein Allgemeingut, sie ist vielmehr die Markierung einer privilegierten Position, die nur in einem bestimmten Rahmen eingefordert werden kann. Albert Camus hat in der Figur des versklavten Missionars in der Kurzgeschichte »Le Renégat« und noch eindrücklicher im Roman La Peste, die Ordnung zur tödlichen Metapher erklärt. Die Suche nach Ordnung, die den Missionar Camus’ in die nordafrikanische Wüste treibt, bleibt in der heutigen multipolaren Welt die Konstante eines unüberschaubaren Krisen- und Konfliktzustands. Ob die Erhaltung des libertären Europas oder die Erschaffung von islamistischen Kalifaten: die Ordnung ist ein tödliches Motiv, sie bildet den Motor vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Ideologien, die Recht machen, weil sie sich, so Jorge Semprún, als das »richtige Denken« (Semprún 1980) ausgeben. Die Darstellung des Phantoms ist immer an die Frage seiner Funktionalisierung über einen dominanten Blickwinkel oder innerhalb marginalisierter Diskurse gebunden. Jene in Frage zu stellen, bedeutet auch, den Wärtern ein Anrecht auf Ausbruch zu gewähren. Im Comicheft »The Incident« (#900 Action Comics, 27.4.2011) gibt Superman nach einer moralisch ambivalenten Mission im Iran bekannt, dass er seine amerikanische Staatsbürgerschaft vor den Vereinten Nationen aufgeben wird, um von nun an als Weltbürger zu agieren: »I’m tired of having my actions construed as instruments of U.S. policy. Truth, justice, and the American way – it’s not enough anymore« (Groyer 2011). Der eher düster angelegte Comic sorgte weltweit und besonders bei den amerikanischen Fans für einen Aufschrei. Der Comicverlag DC sah sich daraufhin genötigt, eine Erklärung abzugeben: Superman würde weiterhin U.S.-Bürger bleiben, aber seinen Kampf gegen das Böse von nun an in einen weltweiten Blickwinkel rücken und sich selbst einen eher globalen Einfluss verleihen (zit. nach Gregorian 2011). Kunst und Medien, das zeigt nicht zuletzt dieses Beispiel, bleiben immer ein Instrument der Gesellschaft. Ihre Entwürfe stören potentiell das Selbstverständnis der Gemeinschaft und befriedigen im nächsten Moment eine Sehnsucht nach Klarheit und Stabilität. Welchen Spielraum wir ihnen einräumen, hängt von unserer Bereitschaft ab, die Gestaltungskraft fiktionaler Konzeptualisierungen der Gefangenschaft anzuerkennen.

8. Literatur Primärquellen Adventure Comics (1961). No. 289. New York: National Comics Publications. Action Comics (1977). No. 471. New York: DC Comic Inc. Brontë, Charlotte (2001) [1847]: Jane Eyre: An Authoritative Text, Backgrounds and Sources, Criticism. Hrsg. v. Richard Dunn. London/New York, NY: Norton. Camus, Albert (1962) [1942]: L’Étranger. In: Ders.: Théâtre, récits, nouvelles. Hrsg. v. Roger Quilliot. Paris: Gallimard, S. 1124-1212. Camus, Albert (2014): Der Fremde. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Camus, Albert (1962) [1947]: La Peste. In: Ders.: Théâtre, récits, nouvelles. Hrsg. v. Roger Quilliot. Paris: Gallimard, S. 1213-1474. Camus, Albert (2013): Die Pest. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Camus, Albert (1962) [1956]: La Chute. In: Ders.: Théâtre, récits, nouvelles. Hrsg. v. Roger Quilliot. Paris: Gallimard, S. 1475-1551. Camus, Albert (1962) [1957]: »Le Renégat ou Un esprit confus «. In: Ders.: Théâtre, récits, nouvelles. Hrsg. v. Roger Quilliot. Paris: Gallimard, S. 1577-1593. Camus, Albert (1966): »Der Abtrünnige oder Ein verwirrter Geist«. In: Ders.: Gesammelte Erzählungen. Lizenzausgabe Rowohlt Verlag. Gütersloh: Bertelsmann, S. 155-179. Conrad, Joseph (1988) [1899]: Heart of Darkness. An Authoritative Text, Backgrounds and Sources, Criticism. Hrsg. v. Robert Kimbrough. London/New York, NY: Norton. DC Comics (Hg.) (2011): »The Incident«. In: Action Comics #900. New York, NY: Warner Brothers Entertainment. DC Comics (Hg.) (2009): Tales from the Phantom Zone. New York, NY: Warner Brothers Entertainment. DC Comics (Hg.) (2009): »The Phantom Superboy!« In: Superman. Tales from the Phantom Zone. New York: DC Comics, S. 6-19. Douglass, Frederick (1979) [1845]: Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave. Hrsg. v. Benjamin Quarles. Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard Univ. Press. Ellison, Ralph (1989) [1952]: Invisible Man. New York, NY: Vintage Books. Kafka, Franz (1965) [1919]: »In der Strafkolonie«. In: Ders.: Gesammelte Werke. Erzählungen. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt am Main: Fischer, S. 199-237. Melville, Herman (1987) [1853]: »Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall Street«. In: Ders.: The Piazza Tales and Other Prose Pieces: 1839-1860. Hrsg. v. Thomas Tanselle, Harrison Hayford u. Hershel Parker. Evanston/Chicago, IL: Northwestern Univ. Press, S. 13-45.

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Literaturwissenschaft Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

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Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0

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