Der öffentliche Vater: Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1755–1921) 3110291495, 9783110291490, 9783110291674

Von seiner Genese im 18. bis zu seinem Kollaps im 20. Jahrhundert erweist sich das bürgerliche Vatermodell als politisch

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Der öffentliche Vater: Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1755–1921)
 3110291495, 9783110291490, 9783110291674

Table of contents :
I. Einleitung
1. Das Dilemma der Individualität: Inklusion, Regulierung der filialen Sexualität
2. Privatheit, Öffentlichkeit und bürgerliche Werte
3. Freud, Lacan
4. ›Der Vater‹ als Oszillationssymbol - Methodische Verortung
4.1. Oszillationssymbol im systemtheoretischen Kontext
5. Aufbau und Textauswahl
II. Der bürgerliche Vater
1. Vaterschaft im Zeichen von ›Tugend‹ und Individualität(Lessing: ›Miß Sara Sampson‹, ›Emilia Galotti‹)
1.1. Lessing: Die emotionale Monopolisierung des Vaters und ihre Folgeprobleme
1.2. Väterliche Emotion als moralische Wahrheit
1.3. Abgrenzung gegen die Mütter
1 .4. Paternale Entsexualisierung und Kulturalisierung der Familienbildung: Konkurrenz zwischen Mellefont und Sampson
1.5. »Eine modernisirte, von allem Staatsinteresse befreyete Virginia«? — Macht- und Zärtlichkeitsassertion des Vaters
1.6. Bürgerliche Ethik und ihre inhärenten Widersprüche
1.7. Herrschaft und Inklusion
2. Der Vater als Herrscher
2.1. Die Regierungsfunktion
2.1.1. Landesvater
2.1.2. Staatsräson und »gute Regierung«
2.1.3. Schillers Landesvater: ›Kabale und Liebe‹
2.2. Repräsentation
3. Schlussfolgerungen und Problemfelder
3.1. Verkörperung
3.2. Bürgerlichkeit und »souveräne« Vaterherrschaft
3.3. Väterliche Macht als souveräne Macht?
3.4. Das Opfer
3.5. »Opfer der Ökonomie« und Ökonomie des Opfers
3.6. Das Paradox der Souveränität
3.7. Menschliche Gleichheit und bürgerliche Werte: Das bürgerliche Paradox
III. Politisierung des Privaten: Bürgerliche Tugend- und Empathiekonzepte in Schillers ›Don Karlos‹
IV. Übergänge: Revolution und Brüderlichkeit
1. Novalis: ›Glauben und Liebe‹
2. Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹
3. Väter als Brüder I: Schillers ›Wilhelm Tell‹
4. »Väter« als Brüder II: Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹
5. Schlussfolgerungen
V. Kleist: Romantische Komplikationen
1. Vaterliebe versus Paarliebe
2. Konkurrenz zwischen Vater und Schwiegersohn I: Rollenusurpationen in ›Die Marquise von O....‹
3. Konkurrenz zwischen Vater und Schwiegersohn II: Die Überlagerung des Vaters in ›Das Käthchen von Heilbronn‹
4. ›Das Käthchen von Heilbronn‹: Paternale Repräsentation und Verkörperung
5. Natürliche versus kulturelle Väter in ›Der Findling‹
6. Schlussfolgerungen
VI. Majoratserzählungen
1. E.T.A. Hoffmanns ›Das Majorat‹
2. Ludwig Achim von Arnims ›Die Majoratsherren‹
3. Ludwig Tiecks ›Die Ahnenburg‹
4. Adalbert Stifter ›Die Narrenburg‹
5. Schlussfolgerungen
6. Übergänge
VII. Hebbel: Die beherrschte Schizophrenie
1. ›Agnes Bernauer‹: Vater, Sohn und Schwiegertochter
2. Vom Opfer der Ökonomie zur Ökonomie des Opfers: ›Emilia Galotti‹ und ›Agnes Bernauer‹
3 . Neu akzentuierte Probleme bei Hebbel: ›Maria Magdalene‹
VIII. Adalbert Stifter: Koexistenz der Generationen durch Regulierung der Leidenschaften
1. Souveränität — Verschiebung ins Private: ›Der Nachsommer‹ im Kontext
2. Quasi-Endogamie: ›Der Hochwald‹ und ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹
3 . Schlussfolgerungen
IX. Fontane: Das »Gesellschafts-Etwas« und die gesellschaftliche Öffentlichkeit
1 . Paternalisierung der Gesellschaft: ›Effi Briest‹ und ›L’adultera‹
1.1. Schlussfolgerungen
1.2. Verkörperungsfunktion des Vaters: ›Die Poggenpuhls‹
2. Authentifikation, Konkretion und die Legitimation von Vaterherrschaft: Probleme um 1900
X. Sehnsucht nach dem Vater? Freud und der Expressionismus .
1. Freuds ›Totem und Tabu‹
2. Historisierung Freuds im Kontext der Literatur
3. Walter Hasenclevers ›Der Sohn‹
4. Franz Werfels ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‹
5 . Schlussfolgerungen
XI. Die totale Paradoxie — ein Ausblick
1. Kafka und der unstürzbare Vater
1.1. Integration und Wertegemeinschaften
1.2. Abstrahierung und Intensivierung der Macht
1.3. Schlussfolgerungen
2. Notwendigkeit des Systemwechsels und Chancen und Grenzen der »Bürgerlichkeit«
3. Das paternale Paradox
Verwendete Abkürzungen
Literaturverzeichnis

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HER MAEA GER MANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HER AUSGEGEBEN VON CHR ISTINE LUBKOLL UND STEPH AN MÜLLER

BAND 130

CL AUDI A NITSCHK E

Der öffentliche Vater Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1755–1921)

De Gruyter

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Für Göran

ISBN 978-3-11-029149-0 e-ISBN 978-3-11-029167-4 ISSN 0440-7164

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

I.

1. Das Dilemma der Individualität: Inklusion, Regulierung der filialen Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Privatheit, Öffentlichkeit und bürgerliche Werte . . . . 3. Freud, Lacan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. ›Der Vater‹ als Oszillationssymbol – Methodische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Oszillationssymbol im systemtheoretischen Kontext . . 5. Aufbau und Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . II.

1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 7 18

. . .

19 28 33

Der bürgerliche Vater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

1. Vaterschaft im Zeichen von ›Tugend‹ und Individualität (Lessing: ›Miß Sara Sampson‹, ›Emilia Galotti‹) . . . . . 1.1. Lessing: Die emotionale Monopolisierung des Vaters und ihre Folgeprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Väterliche Emotion als moralische Wahrheit . . . . . . 1.3. Abgrenzung gegen die Mütter . . . . . . . . . . . . . 1.4. Paternale Entsexualisierung und Kulturalisierung

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41

. . .

61 67 71

der Familienbildung: Konkurrenz zwischen Mellefont und Sampson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. »Eine modernisirte, von allem Staatsinteresse befreyete Virginia«? – Macht- und Zärtlichkeitsassertion des Vaters . 1.6. Bürgerliche Ethik und ihre inhärenten Widersprüche . . . 1.7. Herrschaft und Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Der Vater als Herrscher . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Regierungsfunktion . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Landesvater . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Staatsräson und »gute Regierung« . . . . 2.1.3. Schillers Landesvater: ›Kabale und Liebe‹ 2.2. Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . .

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80 82 88 95 100 102 102 104 112 117 V

3. Schlussfolgerungen und Problemfelder. . . . . . . 3.1. Verkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Bürgerlichkeit und »souveräne« Vaterherrschaft . . 3.3. Väterliche Macht als souveräne Macht? . . . . . . 3.4. Das Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. »Opfer der Ökonomie« und Ökonomie des Opfers 3.6. Das Paradox der Souveränität . . . . . . . . . . . 3.7. Menschliche Gleichheit und bürgerliche Werte:

. . . . . . .

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126 126 127 127 129 131 133

Das bürgerliche Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

III. Politisierung des Privaten: Bürgerliche Tugendund Empathiekonzepte in Schillers ›Don Karlos‹ . . . . . . . 141 IV.

Übergänge: Revolution und Brüderlichkeit . . . . . . . . . . 163 1. 2. 3. 4.

Novalis: ›Glauben und Liebe‹ . . . . . . . Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹ . . Väter als Brüder I: Schillers ›Wilhelm Tell‹ »Väter« als Brüder II: Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ . . 5. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . 171 . . . . . . . . 177 . . . . . . . . 185 . . . . . . . . 190 . . . . . . . . 196

Kleist: Romantische Komplikationen . . . . . . . . . . . . . 199

V.

1. Vaterliebe versus Paarliebe . . . . . . . . . . . . . 2. Konkurrenz zwischen Vater und Schwiegersohn I: Rollenusurpationen in ›Die Marquise von O....‹ . . 3. Konkurrenz zwischen Vater und Schwiegersohn II: Die Überlagerung des Vaters in ›Das Käthchen von Heilbronn‹. . . . . . . . . . 4. ›Das Käthchen von Heilbronn‹: Paternale Repräsentation und Verkörperung . . . . 5. Natürliche versus kulturelle Väter in ›Der Findling‹ 6. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 199 . . . 201 . . . 212 . . . 217 . . . 220 . . . 231

VI. Majoratserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. E.T.A. Hoffmanns ›Das Majorat‹ . . . . . . . . . . . . . 237 2. Ludwig Achim von Arnims ›Die Majoratsherren‹ . . . . 248 VI

3. 4. 5. 6.

Ludwig Tiecks ›Die Ahnenburg‹ . Adalbert Stifter ›Die Narrenburg‹ Schlussfolgerungen . . . . . . . Übergänge . . . . . . . . . . . .

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VII. Hebbel: Die beherrschte Schizophrenie . . . . . . . . . . . . 277 1. ›Agnes Bernauer‹: Vater, Sohn und Schwiegertochter . . . 277 2. Vom Opfer der Ökonomie zur Ökonomie des Opfers: ›Emilia Galotti‹ und ›Agnes Bernauer‹ . . . . . . . . . . . 293 3. Neu akzentuierte Probleme bei Hebbel: ›Maria Magdalene‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 VIII. Adalbert Stifter: Koexistenz der Generationen durch Regulierung der Leidenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Souveränität – Verschiebung ins Private: ›Der Nachsommer‹ im Kontext . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Quasi-Endogamie: ›Der Hochwald‹ und ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ . . . . . . . . . . . . . 324 3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 IX. Fontane: Das »Gesellschafts-Etwas« und die gesellschaftliche Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1. Paternalisierung der Gesellschaft: ›Effi Briest‹ und ›L’adultera‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Verkörperungsfunktion des Vaters: ›Die Poggenpuhls‹ 2. Authentifikation, Konkretion und die Legitimation von Vaterherrschaft: Probleme um 1900 . . . . . . . X.

. . 343 . . 366 . . 368 . . 370

Sehnsucht nach dem Vater? Freud und der Expressionismus . 381 1. 2. 3. 4.

Freuds ›Totem und Tabu‹ . . . . . . . . . . . . . Historisierung Freuds im Kontext der Literatur. . Walter Hasenclevers ›Der Sohn‹ . . . . . . . . . . Franz Werfels ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . 381 . . . . 385 . . . . 397 . . . . 405 . . . . 409 VII

XI. Die totale Paradoxie – ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . 411 1. Kafka und der unstürzbare Vater . . . . . . . . . 1.1. Integration und Wertegemeinschaften . . . . . . 1.2. Abstrahierung und Intensivierung der Macht . . 1.3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendigkeit des Systemwechsels und Chancen und Grenzen der »Bürgerlichkeit« . . . . . . . . 3. Das paternale Paradox . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

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411 416 422 432

. . . . 434 . . . . 437

Verwendete Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

VIII

I.

Einleitung

Ich will es näher zu erklären versuchen: Hier beim Heiratsversuch trifft in meinen Beziehungen zu Dir zweierlei scheinbar Entgegengesetztes so stark wie nirgends sonst zusammen. Die Heirat ist gewiss die Bürgschaft für die schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit. […] Wenn ich in dem besonderen Unglücksverhältnis, in welchem ich zu Dir stehe, selbständig werden will, muss ich etwas tun, was möglichst gar keine Beziehung zu Dir hat – das Heiraten ist zwar das Größte und gibt die ehrenvollste Selbständigkeit, aber es ist auch gleichzeitig in engster Beziehung zu Dir. Hier hinauskommen zu wollen, hat deshalb etwas von Wahnsinn, und jeder Versuch wird fast damit gestraft. […] Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.1

In Kafkas eingängigem Bild vom Vater, der über die »Erdkarte« ausgestreckt alle für den Sohn relevanten Territorien »bedeckt«, vor allem aber das »Gebiet« der »Ehe« okkupiert, werden entscheidende Aspekte verknüpft, die für die vorliegende Untersuchung insgesamt programmatisch sind: Mit der unübersehbaren Herrscherqualität des Vaters, einem hier geradezu optisch greifbar werdenden paternalen Prärogativ, fühlt sich der Verfasser des ›Briefes an den Vater‹ offensichtlich bis in die intimsten Vorgänge hinein konfrontiert. Die väterliche Macht ist dabei so universal, dass sogar die »Selbständigkeit« des Sohnes immer nur im Rückbezug auf den Vater gedacht werden kann. Angesichts dieser unausweichlichen, »engste[n] Beziehung« zum Vater muss sich jede »Selbstbefreiung« als a priori begrenzt, ja als »Wahnsinn« erweisen – das Ergebnis dieser perpetuierten Abhängigkeit ist zwangsläufig »nicht sehr trostreich[…]«. Was sich bei Kafka zu einer problematischen paternalen Überlegenheitsgeste, zu einem »Unglücksverhältnis« mit paradoxen Folgen für den Sohn gewandelt hat, beginnt im 18. Jahrhundert unter denkbar anderen Voraussetzungen. Um die Entwicklung und Bedeutungsverschiebung 1

Franz Kafka: Brief an den Vater. Faksimile. Hrsg. von Joachim Unseld. Frankfurt am Main 1994, S. 175–176. (Hervorhebung C.N.)

1

(sowie um ihre Legitimation und Infragestellung) genau dieser spezifischen paternalen »Landnahme« in Texten von Lessing bis Kafka soll es in diesem Buch gehen. Abweichend von einem fraglos produktiven Fokus auf eine ge-genderte Realität2 wird hier der »Vater« als ästhetisch produziertes Schnittstellenphänomen in den Blick genommen, das zwischen Individualität und familiärer Wertegemeinschaft einerseits sowie zwischen Familie und Gesellschaft andererseits vermittelt und dabei in komplexen axiologischen Normierungsprozessen souveräne Herrschaftstechniken imitiert. Es ist kein Zufall, dass Kafkas Beschreibung des über der Erdkarte ausgestreckten Vaters deutlich Konzepte von Territorialität und Souveränität evoziert. Im Folgenden wird das Zusammenspiel zweier Faktoren maßgeblich: Mechanismen paternaler Herrschaft/Repräsentation und väterliche Emotionen im Kontext eines bürgerlichen Wertesets. Literarisch dargestellte Emotionen3 werden zwar im weiteren Kontext der historischen Emotionsforschung verortet;4 diese Arbeit zielt allerdings nicht auf die Erschließung des zeitgenössischen Spektrums paternal-filialer Gefühlsmuster,5 sondern vielmehr auf die hier zentrale Rückbindung emotionaler Beglaubigungstechniken auf ein zugrunde liegendes (bürgerliches) Wertemodell. Die schwierige Gratwanderung des Phänomens »Vater« zwischen moderner Herrschaft und Emotionen soll dabei unter drei leitenden Aspekten verfolgt werden: zum einen bezüglich der Regulierung der filialen Sexualität; zum anderen hinsichtlich der Ermächtigung des Vaters in einer spezifischen, neuen Wertesphäre, nämlich der Privatheit; und zum dritten schließlich mit Blick auf den Funktionswandel des »Vaters« im Laufe der Jahrhunderte.

2 3

4

5

Die Genderforschung ist als Voraussetzung für meine Fragestellung unabdingbar, aber im Folgenden nicht Gegenstand. Vgl. zur literarischen Emotionsforschung Thomas Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Im Rücken der Kulturen. Hrsg. von Karl Eibl, Katja Mellmann, Rüdiger Zymner. Paderborn 2007, S. 207–239. D.h., es geht nicht um anthropologische Konstanten (die gerade für der Eltern-KindBeziehung entscheidend sind), sondern darum, wie die entsprechenden Gefühle artikuliert und inszeniert werden. Vgl. zu diesem Ansatz insgesamt: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten. Köln, Weimar, Wien 2000. Insofern scheren diese Betrachtungen wiederum aus dem immer größer werdenden Komplex der Emotionsforschung aus, da es hier primär um Werte-Ordnungen geht.

2

1.

Das Dilemma der Individualität: Inklusion, Regulierung der filialen Sexualität

Historisch wird in dieser Arbeit ein entscheidender Wandel ernst genommen, den Niklas Luhmann als irreversible Umstellung auf eine primär funktional strukturierte Gesellschaft versteht. Im 18. Jahrhundert werden die Konsequenzen dieser langwierigen Transformation immer deutlicher (bis hin zu den politischen Folgen der Französischen Revolution), auch wenn der Wandel ein langfristiger ist.6 Luhmann bringt dabei die typischen Entfremdungsphänomene der Moderne auf eine systemtheoretische Formel, die sich auf die Inklusions-»Bedürftigkeit« des Individuums bezieht. Seinem Modell zufolge findet sich das Individuum in einer funktional strukturierten Gesellschaft zunächst außerhalb der Gesellschaft und muss sich den relevanten Teilbereichen erst einschreiben. Auf diese Weise können die Individuen nun theoretisch an allen Funktionssystemen teilnehmen, sind selbst aber aus der Gesellschaft in ihre Umwelt verbannt.7 Damit wird ihre konkrete Platzierung zum Problem: Individuen müssen sich an allen Kommunikationen beteiligen können und

6 7

Obwohl der Fokus hier auf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert (als Emergenzphase) liegt, muss eine wesentlich längere Vorlaufzeit immer mitgedacht werden. Das bedeutet, dass Inklusion hier qua Exklusion erreicht wird. Ein für die grundsätzliche Ausrichtung dieser Arbeit zentrales Begriffspaar (mit Blick auf die Funktion der Vaterfigur) stellen dabei Luhmanns Termini Inklusion/Exklusion dar. Gekoppelt an Talcott Parsons allgemeinen Inklusionsbegriff begreift Luhmann Inklusion in diesem Zusammenhang als eine Form, deren »Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen« (Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt am Main 1998, S. 620) bezeichnet ist, während die Außenseite unbenannt bleibt. Die Inklusion in die Funktionssysteme kann dabei auf verschiedene Weise realisiert werden. (Vgl. dazu Rudolf Stichweh: Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. In: Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Hrsg. von Renate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank. Frankfurt am Main, New York 1988. S. 261–293.) Exklusion gehört dabei notwendig zur Inklusion: Wie bei jeder Form der Differenzierung liegt die Regelung der Inklusion, so Luhmann, bei den Teilsystemen. Bei der Frage, wie die Variable Inklusion/Exklusion mit den Formen der Systemdifferenzierung der Gesellschaft zusammenhängt, geht Luhmann davon aus, dass die Differenzierungsformen in diesem Zusammenhang als Regeln für die Wiederholung von Inklusions- und Exklusionsdifferenzen innerhalb der Gesellschaft fungieren: In segmentären Gesellschaften ergibt sich die Inklusion aus der fast zwangsläufigen Zugehörigkeit zu einem der Segmente; da es außerhalb der Segmente kaum Überlebenschancen gab, wurde Exklusion nahezu vollständig ausgeschlossen. Während in der stratifizierten Gesellschaft die Inklusion durch die soziale Schichtung geregelt wird, ist die Regelung von Inklusion/Exklusion weiterhin an die segmentäre Ebene, in Gestalt von Familien bzw. Haushalten, gekoppelt.

3

wechseln entsprechend ihre Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment. Die Gesellschaft bietet ihnen folglich keinen sozialen Status mehr, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität ›ist‹. Sie macht Inklusion von hochdifferenzierten Kommunikationschancen abhängig, die untereinander nicht mehr sicher und vor allem nicht mehr zeitbeständig koordiniert werden können […], wenn jemand seine Chancen, an der Inklusion teilzunehmen, nicht nutzt, wird ihm das individuell zugerechnet. Auf diese Weise erspart die moderne Gesellschaft, zunächst jedenfalls, es sich, die andere Seite der Form, die Exklusion, als sozialstrukturelles Phänomen wahrzunehmen.8

Aus diesem Konzept werden bereits vorab zwei simultane, hier entscheidende Folgen erkennbar. Zum einen leistet eine funktional differenzierte Gesellschaft nach Luhmann die potentiell universelle Inklusion9 in die Teilsysteme. Damit bedient sie die Idealisierung der möglichen Vollinklusion des Menschen10 und treibt politische Partizipationskonzepte voran. Zum andern aber ergeben sich Schwierigkeiten für das Individuum, dessen Identität durch die ständig wechselnden Partialinklusionen zersplittert scheint. Diese Dualität von Chancen und Grenzen11 muss vom Individuum ausgehalten werden. Mit seinen Überlegungen zur historischen Semantik bietet Luhmann den Ausgangspunkt für die funktionsgeschichtliche Fragestellung meiner Arbeit. Die Konsequenzen dieser hier modellhaft verdichteten, initialen Widersprüche werden im Folgenden, gerade auch am Paradigma des Vaters, genauer zu sondieren sein. Insofern die neue Individualität gesellschaftlich prozessiert werden muss, fällt die Familie als Medium auf, in dem die vollständige Inklusion der Individuen geleistet werden kann. Anders als in anderen Funktionssystemen zählt für die Familien das Individuum in all seinen Belangen.12 Die vor8 9 10

11

12

Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 625. Dabei handelt es sich um eine Inklusion durch Exklusion, d. h. die vorgängige Exklusion erlaubt erst das Wiedereinschreiben in alle verschiedenen Teilsysteme. In der Geschichte der Inklusionssemantik wird dies in der konsequenten Weiterführung von den Inklusionsforderungen der alten Ordnung bis hin zum Postulat der allgemeinen Menschenrechte nachvollziehbar. Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 627f. Gleichzeitig werden wiederum potentiell gleiche Chancen durch die ungleichen Chancen bei der Teilnahme an organisierten Sozialsystemen dezimiert. Bereits hier handelt es sich also eigentlich um einen Effekt der Exklusion, der durch die Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen noch verstärkt wird. »Innerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe läßt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit scheitern«. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft und ihre Organisationen. In: Systemrationalität und Partialinteresse. Hrsg. von Hans-Ulrich Derlien, Uta Gerhardt, Fritz W. Scharpf. Festschrift für Renate Mayntz. Baden-Baden 1994, S. 189–201, hier S. 193. Vgl. genauer dazu das Kapitel Vaterschaft im Zeichen von Tugend und Individualität.

4

liegende Arbeit geht dabei davon aus, dass sich zwei literarisch vorgeführte und kolportierte Kompensationsformen begegnen und nur mühsam austariert werden können: zum einen das Konzept des bürgerlichen Vaters in der Herkunftsfamilie und zum anderen das Modell der modernen Liebe mit einem Fokus auf Entwicklung, Bildung und Ankunft in der Fortpflanzungsfamilie. Beide Familientypen werden in diesem Kontext als kompensatorische Modi, als Integrationsformen verstanden, die Individualität garantieren und bewahren können; beide beanspruchen dies mit einer spezifischen narrativen Logik.13 Allerdings produzieren diese zwei Familienstadien ein latentes Problemfeld, sobald sie sich vom Anspruch her überlappen.14 Aus dieser schwelenden Konkurrenzsituation ergeben sich zahllose Krisen und Konflikte: Liebe, die an sozialen Vorbehalten scheitert, mag ein Topos in der Literatur und als solcher (weitgehend) zeitlos sein; um 1800 allerdings gewinnen die Interventionen des Vaters, die seine regulierende Macht dokumentieren, eine zusätzlich tragische Dimension, da die verhinderte Liebe als Folgeschaden die individuelle Entwicklung der Betroffenen korrumpiert. Heiratspolitik wird im literarischen Medium undenkbar, weil sie den an Individualität orientierten bürgerlichen Wertkonzepten widerspricht. Meine Arbeit verfolgt sowohl konfliktuelle Begegnungen als auch mögliche Ausgleichsbewegungen zwischen den Anspruchshaltungen des Vaters in der Herkunftsfamilie und des »zukünftigen Vaters« in der zu bildenden Fortpflanzungsfamilie;15 eine Aussöhnung zwischen den Generationen gelingt vor allem dann, wenn eine Dimension ausgeklammert wird: die Sexualität. 13

14 15

Mit dem starken Fokus auf eine neue Entwicklungsdimension innerhalb der Texte gewinnt im Laufe des 18. Jahrhunderts die ›perfectibilité‹ des Protagonisten zunehmend an Bedeutung. Markiert wird das »Ende« der manifesten Bildung fast immer mit dem Eintritt des Mannes in die Ehe und damit, prosaisch formuliert, in die ›family of procreation‹, die seine Abkoppelung von der ›family of origin‹ abschließt. Es ist dabei entscheidend, dass auch Bildung (als Entwicklung der inhärenten, individuellen Persönlichkeit) einen zentralen bürgerlichen Wert darstellt, den Fokus auf das männliche Individuum zwischen zwei familialen Systemen vorgibt und damit die Rolle des Vaters in Frage stellt. Vgl. dazu auch das Kapitel zu Kleist. Hält man also die beiden Sphären (d. h. die des Vaters und des werdenden Vaters) getrennt, so ist das Konfliktpotential minimiert. Auf diesem Feld, dessen komplexe Verästelungen es im Folgenden auszudifferenzieren gilt, kollidieren dabei im Grunde auch zwei Emanzipationsmodi (bzw. Disziplinierungsmodi). Liebe (d. h. Fortpflanzungsfamilie) und Vaterschaft (d. h. Herkunftsfamilie), von denen sich der letztere in einer spezifischen Dialektik im Zeichen der bürgerlich-paternalen Wertekultur zu einem Mechanismus der Unterdrückung und Kontrolle wandelt. Paradoxerweise stehen die Monopolisierungsbestrebungen genau im Kontext einer emanzipatorischen bürgerlichen Werteideologie, deren Dialektik es hier nachzuvollziehen gilt. Vgl. dazu das folgende Kapitel.

5

Dabei deutet sich bereits im 18. Jahrhundert eine latente Problematik an, deren Auswirkungen sich eigentlich erst um 1900 vollständig zeigen, vor allem, weil mit der Psychoanalyse eine wirkungsmächtige, neue Begrifflichkeit gefunden wird, sie zu beschreiben und zu erklären. Der emotionale Anspruch des Vaters auf die Kinder, besonders eben auf die Tochter,16 konstruiert eine neue Ausschließlichkeit und Intimität, die im Folgenden als (zunächst virtuelle) Inzestsituation konstruiert werden kann. Die folgenden Überlegungen zur Terminologie in dieser Arbeit sollen verdeutlichen, dass es sich dabei um eine retroaktive, ›schlafende‹ Dimension handelt, die später erst akzentuiert wird (ganz deutlich wird dies bei Kleists intertextuellen Verweisen auf Lessing und Rousseau). Insgesamt geht es in der vorliegenden Arbeit sowohl um die Beziehung des Vaters zum Sohn als auch zur Tochter. Während um 1900 die VaterSohn-Beziehung aussagekräftiger für die Vaterrolle17 wird, liegt im 18. Jahrhundert der Blick auf die Vater-Tochter-Beziehung nahe: VaterSohn-Konflikte werden zunächst als zumeist klar entscheidbare Konflikte im Kontext einer affirmativen Autoritätskonzeption inszeniert, bei denen entweder die Söhne oder Väter unvorteilhaft als Abtrünnige eines textlich festgelegten Wertesystems erscheinen, wohingegen Vater-Tochter-Spannungen sich als sittliche Kontroverse darstellen – hier wird väterliche Autorität nicht notwendigerweise bezweifelt, sondern oft in spezifischer Weise evaluiert und bestätigt.18 Der Fokus auf die inzestuöse Dimension im Vater-Tochter-Verhältnis um 1800 hängt fraglos mit den diskursiven Verschiebungen zusammen und ist insofern funktional anders zu beurteilen als die beharrliche Rekurrenz von Inzest in Geschichte und Literatur.19 Im Zuge des 19. Jahrhun16 17

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Vgl. dazu das Kapitel zu Lessing. Der Begriff »Rolle« wird hier nicht im Kontext soziologischer Theorien (und ihrer zunehmenden Problematisierung) verwendet, sondern bezieht sich auf eine Verhaltungserwartung und -anforderung, die mit einer spezifischen, im Folgenden zu entwickelnden Wertehaltung konform geht. Vgl. dazu auch Helmut Scheuer: Väter und Töchter. Konfliktmodelle im Familiendrama des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Der Deutschunterricht 46/1 (1994), S. 18–31. Elena Vogg: Die bürgerliche Familie zwischen Tradition und Aufklärung. In: Bürgerlichkeit im Umbruch. Studien zum deutschsprachigen Drama 1750–1800. Mit einer Bibliographie der Dramen der Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek zwischen 1750–1800. Hrsg. von Helmut Koopmann. Tübingen 1993, S. 53–92, hier S. 64. Claudia Jarzebowski: Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert. Köln 2006. »Inzest und Inzestverbote sind keine anthropologischen Konstanten. Zwar hat es beides in jeder Epoche und Region gegeben, doch die Frage, welche Vorstellungen und Handlungen jeweils mit Inzest und Inzestverboten verknüpft waren, erfordert historisch spezifische Antworten.« Ebd., S. 9. Das 18. Jahrhundert wird bei Jarzebowski ebenfalls

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derts wird – ganz im Sinne von Michel Foucaults Überlegungen in ›Sexualität und Wahrheit I‹ – ein Konfliktmanagement sichtbar, das die unkontrollierbaren Effekte der Sexualisierung wieder einzudämmen versucht. Der latenten Erotisierung der familialen Intimbeziehungen wird durch eine verstärkt virulente Ausschließung der Sexualität entgegengewirkt. Gleichzeitig erweist sich die auch Kontrolle der Sexualität als ein potentielles Konfliktthema, das im Expressionismus in der (Freudianisch anmutenden) Tötung des repressiven Vaters kulminiert. Entsexualisierung und (Quasi-)Endogamisierung sind in der Literatur stabilisierende Faktoren, die eine Koexistenz der Generationen von Vätern und werdenden Vätern im Machtkampf um die Frauen wiederum ausgleichend zulässt. Die Rückkehr der Sexualität dagegen sorgt für offene Konfrontation. Die Erwartungen an den »guten Vater«, der einen Raum zur individuellen Entfaltung bereitstellt und nach außen verteidigt, erscheinen von Anfang an als brüchig, erhalten sich aber konzeptuell bis in den Expressionismus, der dieses Bild der textinternen, fiktiven Realität vorwurfsvoll und fordernd entgegenhält. Wichtig ist, von vornherein darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Bestandsaufnahmen um literarische Konstruktionen handelt, die Bezug nehmen auf eine historisch gewandelte Umwelt; letztere ist auch weiterhin relevant für die Entwicklung der Vater-Vorstellungen. Aber auch wenn dabei Modi zur Weltbetrachtung produziert und durchgesetzt werden, geht es hier weder um den Realitätsgehalt der fiktiven Wirklichkeit, noch um einen Abgleich mit der historisch-rechtlichen Situation des Vaters. Im Zentrum steht vielmehr der widersprüchliche Symbolisierungsprozess,20 bei dem der »Vater« in der Erfüllung seiner primären Funktionen zu einer abstrakten symbolischen Ordnung wird, obwohl genau diese Form der eigentlich legitimierenden Evidenz des »Vaters« als natürlicher Instanz zu widersprechen beginnt.

2.

Privatheit, Öffentlichkeit und bürgerliche Werte

Aufgrund der spezifischen Anlage der väterlichen Rolle muss die Erläuterung der verschiedenen Vater-Konzepte im begrifflichen Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit erfolgen. Dabei umfasst Öffent-

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als Umbruchsepoche verstanden, ihr Fokus liegt allerdings auf dem juristischen Diskurs und der Rechtspraxis. Vgl. zur Terminologie dieser Arbeit sowohl das Kapitel Freud, Lacan als auch Der ›Vater‹ als Oszillationssymbol – Methodische Verortung.

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lichkeit mittlerweile eine geradezu unbeherrschbare Bandbreite an Konnotationen, etwa als Phänomen der Begriffsgeschichte, als normative Größe, als historisch wirksamer Faktor oder als Beschreibungsmodell. Der hier relevante Aspekt von Öffentlichkeit als Terminus wird in seiner komplexen und auch kontroversen Geschichte fast ausschließlich von den Texten aus bestimmt; mit Blick auf die historische Entwicklung21 wird zwar Öffentlichkeit als geschichtlich-realer Faktor in Politik und Gesellschaft unübersehbar. Um sie jedoch soll es in dieser Arbeit nicht gehen, sondern vielmehr um eine Dualität, die sich im Rekurs auf die Größe ergibt, die sich für die Ausdifferenzierung des Vaterkonzeptes als essentiell erweisen wird, nämlich die sich in komplexen diskursiven und eigentumsrechtlichen Prozessen abkoppelnde Sphäre der Privatheit. Einschlägige »bürgerliche Trauerspiele« (besonders ›Emilia Galotti‹ und ›Kabale und Liebe‹) operieren ja mit einem topischen Kontrast zwischen Häuslichkeit und einem quasi-öffentlichen Machtmissbrauch. Definiert werden beide Sphären hier über ein spezifisches Set an Werten, wobei die Texte im 18. Jahrhundert mit einer Gegenüberstellung von Moralbegriffen arbeiten. Bürgerliche Wertvorstellungen werden als natürlich und evident gegen das außerhäusliche Umfeld abgegrenzt. Über die selbstermächtigende bürgerliche Moral wird von den Texten die neue private Autonomie plausibilisiert. In dieser Ausgangskonstellation aber verbirgt sich zugleich der Anspruch auf universale Geltung. Die Wertesphäre beginnt entsprechend zu wachsen und etabliert sich zum standardisierten Modell, das eine zunehmend allgemeine Breitenwirkung beansprucht.22 Obwohl Öffentlichkeit in dieser Arbeit auch als konkrete »beobachtende Öffentlichkeit« entscheidend (und dann auch als solche benannt) wird,23 firmiert sie im Folgenden vor allem als dominantes Werteset, mit dem Ansprüche formuliert und legitimiert werden können. In den bürgerlichen Trauerspielen ist die Öffentlichkeit damit vor allem als ein Gegenbegriff zu den in einer familialen Häuslichkeit kultivierten Werten zu verstehen. Die im Laufe des Jahrhunderts aus einer solchen Privatheit hervorgehende Sphäre wird dagegen hier als »gesellschaftliche 21

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Zur historischen Genese einer neuen Form von »Öffentlichkeit« (in Anlehnung an Jürgen Habermas’ ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹) im 18. Jahrhundert vgl. James Van Horn Melton: The Rise of the Public in Enlightenment Europe. Cambridge 2001. Vgl. auch Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Wolf Jäger. Göttingen 1997. Diese »Natürlichkeit« beinhaltet bereits den unabweisbaren Gültigkeitsanspruch, vgl. das Kapitel zu Schiller. Im Sinne Luhmanns als allgemein gesellschaftsinterne Umwelt sozialer Systeme in der Gesellschaft: Für verschiedene Systeme ergeben sich dabei verschiedene Öffentlichkeiten.

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Öffentlichkeit« verstanden. Dieser Begriff soll deutlich machen, dass der im 18. Jahrhundert privat kultivierte, moralische Anspruch nunmehr öffentlich wird, d. h. (im Sinne meiner Terminologie) in den Texten als allgemein anerkanntes (quasi sozial-justiziables), dominantes, gesellschaftliches Wertesets24 verstanden, propagiert und akzeptiert wird.25 Diese über die kontrastive Werteordnung etablierte Privatheit wird im Folgenden im Kontext der Agambenschen Überlegungen zur Souveränität verortet, weil sie in den Texten besonders über die Vaterfiguren transportiert wird. Die Inklusionstechnik des Vaters im 18. Jahrhundert orientiert sich dabei nun an Techniken der souveränen Setzung, insofern sie einen Herrschaftsbereich überhaupt erst kreiert (bzw. neu definiert und legitimiert).26 Bei der souveränen Macht, so hält Giorgio Agamben fest, geht es nämlich nicht darum, Überschreitung zu kontrollieren oder zu neutralisieren, sondern vielmehr um die Schaffung und Bestimmung des Ortes selbst.27 Der Nexus von Ortung und Ordnung ist dabei ein zentraler.28 Dreht sich bei Agamben (in der Nachfolge zu Walter Benjamins ›Zur Kritik der Gewalt‹) alles um eine Souveränität des Rechtes, so wird im Folgenden von einer (als funktions- und strukturanalog, aber nicht identisch verstandenen) Souveränität der bürgerlichen Moral die Rede sein, als deren Sachwalter der Vater fungiert: Diese Souveränität funktioniert wahlweise als Ein- oder Ausschließung und determiniert die väterliche Macht in nuce. Die Etablierung einer solchen moralgebundenen Herrschaftssphäre lässt sich gut mit der Logik der zeitgenössischen staatlichen Souveränität nach der Französischen Revolution nachvollziehen, die unter ähnlichen (bürgerlichen) Wertprämissen operiert. Sie bereitet eine Domäne der Freiheit unter der Prämisse der Selektion; auf diese Weise wird ein Werteset 24

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Dieses Wertenetz verbindet die beiden Sphären, ohne dass die Werteexpansion nachhaltig in grundsätzliche Strukturvorgaben der politischen Öffentlichkeit eingehen würde. Vgl. dazu die Ausführungen über »Realpolitik« im Kapitel zu Stifter. Bereits im 18. Jahrhundert ist dieses Wertesystem fest etabliert, wird aber kontrastiv präsentiert, d. h. die Texte selbst verstehen es zwar als »natürlich« und wahr, müssen es aber noch gegen eine virulente Außenwelt verteidigen. Zur genaueren Bestimmung von Agambens Überlegungen im Kontext dieser Arbeit vgl. die Kapitel Das Paradox der Souveränität und Menschliche Gleichheit und bürgerliche Werte. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übersetzt von Hubert Thüring. Frankfurt am Main 2002, S. 29. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als HS mit der entsprechenden Seitenzahl. »Es gibt da eine Grenzfigur des Lebens, eine Schwelle, wo sich das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet, und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität.« (HS 37).

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gesetzt und bewahrt. Genau wie der staatliche Nationalismus ein Partizipationsmodell mit emanzipatorischem Anspruch darstellen kann, so etabliert die adäquate väterliche Macht eine valide Sphäre des Einschlusses mit emanzipatorischem, befreiendem Gestus, der allerdings einher geht mit der Möglichkeit der radikalen Disziplinierung.29 Im Privaten findet sich – so postulieren es die hier zugrunde gelegten Texte um 1800 – die eigentliche Ausbildung des »Menschlichen«, des Individuellen; das Private gibt den Menschen den notwendigen Raum, um sich als Ganzes zu (re)konstituieren. In der Familie werden dabei bereits im Kleinen zwei Ansprüche zusammengeführt: Integration in eine Gemeinschaft und zugleich das allgemeinste und umfassendste Zugeständnis an Individualität – allerdings immer unter der Prämisse der Kompatibilität mit dem System Familie. Letzteres wird – zumindest als Idealtypus (auf den sich implizit auch Abweichungen beziehen) – als natürliches Gegenkonzept zu allen empirischen und historischen Entfremdungserfahrungen verstanden. Der Vater, der nun als bürgerlicher Vater (nämlich als Sachwalter der Wertegemeinschaft) und als individueller Vater agiert, hat im Grunde zwei divergierende Funktionen. Die souveräne Ausübung der Macht im Nexus von Ortung und Ordnung, d. h. die Inklusion (in diesem Fall reguliert durch das spezifische Werteset) des wertkonformen Individuums und die Inklusion des Individuellen als Individuellen. Die Differenz wird sichtbar, wenn das Individuelle sich nicht normkonform verhält. Dies wird auch mit Blick auf die beiden zunehmend konkurrierenden Wertesets von väterlicher Herrschaft und paternaler Liebe deutlich, die einander nur ergänzen, wenn sie kompatibel sind, jedoch auseinander treten müssen, sobald ein Konflikt entsteht.30 29

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Foucault hat auf eine neue biopolitisch konditionierte Aufgabe eines guten Herrschers verwiesen. Die Funktion und Disziplinierung der Familien ist zu diesem Zweck unabdingbar: In einem solchen Rahmen erweisen sich die plausibilisierten Sittlichkeitsvorstellungen, die alle Familienmitglieder betreffen, als erfolgreiche Steuerungsmechanismen in einer zunehmend biopolitischen bzw. demographischen Regulierung der Bevölkerung. Diese Aufgabe übernimmt in der Familie der Vater gewissenhaft und im individualisierenden Einklang mit den tugendhaften Kindern. Väterliche Herrschaft und die von ihm vertretene Ethik gehen in der Familie eine ephemere Symbiose ein, vor allem im Abgleich mit der Gegensphäre außerhalb der Familie: Die Texte etablieren dabei einen Kampfbegriff, der den Vater prominent positioniert. Diese Doppelkodierung wird aber bereits zu Beginn zum Problem. Vgl. das Folgende. Funktional gewinnen Familie/Freundschaft und Liebe eine andere Bedeutung, die im Folgenden noch näher zu erläutern ist. Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung führt für diese Emotionen und gesellschaftlichen Verbindungen eine Sphärenzuweisung durch, die sich als erstaunlich effizient erweist.

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So sehr den bürgerlichen Werten insgesamt eine emanzipierende Wirkung und ein Partizipationsanspruch inhärent ist (dies gilt besonders für die allgemein menschlichen Tugendvorgaben), so sehr verfolgen sie eine exklusive Sittlichkeit (die besonders die Sexualität stark reguliert). Das macht sie zugleich zu einer disziplinierenden Norm, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Funktionsgeschichtlich operiert der Vater dabei mit unterschiedlichen Wertvorgaben und Herrschaftsprämissen, die sich über verschiedene Konstrukte legitimieren. Auf dieses Konzept der Privatheit, das in dieser Arbeit als souveräne (nicht aber als intentional gesetzte) Wertesphäre verstanden wird, bezieht sich in oben erwähntem Sinne dann auch der Terminus »Öffentlichkeit«, der hier, wie eben erläutert, formal verstanden wird, d. h. als der axiologisch dominante Modus der Beurteilung. Damit ist zugleich offensichtlich, dass ein solches werte-orientiert konzipiertes Öffentlichkeitsmodell in einem stetigen Wandel begriffen ist: Sowohl Jürgen Habermas als auch Hannah Arendt (und mit stärkerem Fokus auf die Literatur auch Richard Sennett) haben unter verschiedenen Prämissen wichtige Verschiebungen mit Blick auf die Funktion und Konstruktion, Genese sowie den Verfall von Öffentlichkeit beobachtet.31 Alle arbeiten mit einem inhaltlich-for31

In vielen einzelnen Aspekten überlagern sich Hannah Arendts Beschreibungen und Diagnosen (wenn auch nicht bei der Wertung und der terminologischen Bestimmung von Öffentlichkeit, die bei Arendt emphatisch an die Möglichkeit eines politisch aktiven Handelns geknüpft ist) in ›Vita activa‹ mit dem Folgenden: »Die Subjektivität des Privaten kann durch die Familie außerordentlich intensiviert und multipliziert werden, sie kann so stark werden, dass ihr Gewicht sich auch im Öffentlichen fühlbar macht; aber diese Familien-›Welt‹ kann darum doch niemals die Wirklichkeit ersetzen.« Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. 6. Auflage. Zürich 2007, S. 72. Arendt konstatiert einen Verlust der Öffentlichkeit und eine radikale Privatisierung, ein Phänomen, das im Folgenden als Prozess der Abstrahierung von zugänglicher Öffentlichkeit verstanden wird: »Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven« Arendt, Vita Activa, S. 73. Seyla Benhabib hat darauf verwiesen, dass das regulative Prinzip der Demokratie auf die Idee einer »autonomen Öffentlichkeit [zurückgreift], definiert als ein Prozeß, in dem vermittels der kollektiven Deliberation die Selbstverwaltung erfolgen« kann. (Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin. Hamburg 1998, S. 31). Um diese Form der Öffentlichkeit soll es im Folgenden nicht gehen. Zu ihrem Konzept des Aufstiegs des »Sozialen«, das partiell mit der Beobachtung der hier zugrunde liegenden Texte korrespondiert, gehört zum einen die kapitalistische Gesellschaftsstruktur (der Warenaustausch wird zur wichtigsten kommunikativen Beziehung) und zum anderen die zunehmende Disziplinierung und Rationalisierung: Handeln wird zum Verhalten, das Gesellschaftliche überlagert das Politische als Möglichkeit einer ›vita activa‹. An Arendts Auffassung von der kommunikativen Struktur menschlichen Handelns knüpfen – aus verschiedener Richtung – sowohl Habermas als auch Luhmann an. Auch Richard Sennett beschäftigt sich thematisch mit der Opposition von Privatheit und

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malen Mischkonzept, insofern sie die Emergenz historisch spezifischer Öffentlichkeit(en) beobachten (d. h. in meiner Terminologie die zunehmende Dominanz, den Verfall oder die grundsätzliche Funktionalität bzw. Legitimität konkreter Wertemodelle). Trotzdem ergeben sich für diese Arbeit wichtige Schnittstellen, was die konkrete, inhaltliche Interaktion von Werteparadigmen in einer Gesellschaft angeht. Habermas etwa entwickelt in ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ einen normativen Öffentlichkeitsbegriff32 als »Raum« für eine freie Diskussion unter den Mitgliedern der Zivilgesellschaft aus einer nicht-staatlichen Sphäre, der partiell mit dem Folgenden übereinstimmt. Besonders Habermas’ Vorstellung von einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die in der Privatheit der Familie beginnt und schließlich einen politischen Anspruch formuliert, verhält sich analog zu der axiologischen Konzeption dieses Terminus in meinem Buch.33 Sein idealtypisches Öffentlichkeits-Konstrukt34 kann

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Öffentlichkeit, ebenfalls im Zeichen des Verfalls. Er setzt eine strenge Trennung von privater und öffentlicher Sphäre im 18. Jahrhundert voraus, eine Balance, die mit der zunehmenden Individualisierung schließlich kollabiert und in einer Tyrannei der Intimität endet. Sennetts duales Konzept von der Familie als transzendent gefasste Naturordnung gegenüber dem durch Konvention regulierten öffentlichen Raum wird in der Literatur in Deutschland auf spezifische Weise bestätigt und unterlaufen (vgl. besonders die Kapitel zu Schiller). Richard Sennett: Der Verfall des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main 1998. Vgl. dazu Jürgen Gerhards: Diskursive versus liberale Öffentlichkeit. Eine empirische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49/1 (1997), S. 1–34. Vgl. auch Bernhard Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit. In: Öffentlichkeit, öffentliche Meinungen, soziale Bewegungen. Hrsg. von Friedhelm Neidhardt. Opladen 1994, S. 42–76. Diese Form der Öffentlichkeit basiert für Habermas auf drei Annahmen: Zum ersten ist es die Vernunft, die den Diskurs in der per se als inklusiv verstandenen Sphäre reguliert (und nicht die Autorität bzw. die Identität des Diskursteilnehmers). Vgl. zu dieser Allianz mit der Vernunft auch Lucian Hölscher: Öffentlichkeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart 1978, S. 413–467, besonders S. 444–445. Diese Rationalisierung und Naturalisierung ist auch für das hier vorliegende Öffentlichkeitskonzept entscheidend. Zum zweiten wird die Sphäre als inhärent oppositionell verstanden, insofern ausnahmslos alles ihrer Kritik unterliegt. Und zum dritten steht sie jeder Form von Arkanum und Geheimnis feindlich gegenüber. Vgl. dazu Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103), S. 34–74. Vgl. auch Melton von Horn, Public Sphere, S. 8. Zu der Entpolisitierung der Gesellschaft und der Opposition von Staat und Markt vgl. Frank Adloff: Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt am Main 2005. Adloff untersucht hier die Entwicklung von Hobbes über Locke, Ferguson, Smith hin zu Montesquieu und Rousseau. Vgl. dazu auch Charles Taylor: Die Beschwörung der Civil Society. In: Europa und die Civil Society. Castelgandolfo-Gespräche. Hrsg. von Krzysztof Michalski. Stuttgart 1989, S. 52–81.

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(und will) allerdings die Ambivalenzen der moralischen Setzung, um die es im Folgenden geht, nicht vollständig einfangen.35 Ausgehend von der literarischen gesellschaftlichen Selbstbeobachtung liegen nun im 18. Jahrhundert zwei prominente Perspektiven auf das Öffentliche vor: eine strategisch-kritische und eine postulative. Öffentlichkeit kommt in den Texten zum einen als Zugänglichkeit (oder kritisch eben Unzugänglichkeit) eines Individuums in Bezug auf etwas vor (Macht, Partizipation, eigene Rechte etc.). Zum anderen verweist sie – im emphatischen Sinne36 – auf ein Werteset, das in seiner natürlichen Universalisierbarkeit Gültigkeit für die gesellschaftliche Umwelt (also außerhalb der Familien) beansprucht.37 Im Folgenden wird auf die ›öffentliche‹ Gegenwelt im 18. Jahrhundert, die sich als werteoppositioneller Zwang dar35

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Allgemein zu den Widersprüchen von Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff, die hier allerdings nicht relevant sind: Agnes S. Ku: Revisiting the Notion of »Public« in Habermas’s Theory – Toward a Theory of Politics of Public Credibility. In: Sociological Theory 18/2 (2000), S. 216–240: »To sum up, Habermas’s theory of public sphere has incorporated all the three interpretations of the public-public versus private, public versus mass, and openness versus secrecy/privacy-and has variously discussed them on the structural, institutional, and discursive levels. However, in theoretical construction, his interpretation of the notion becomes inconsistent and paradoxical on the structural and institutional levels in terms of the public-private duality; it remains deeply tied with the problematic public-mass distinction on the cultural level; and it does not theorize the full significance of openness on the institutional and cultural levels.« Ebd. S. 225. Habermas’ bahnbrechender Ansatz ist nichtsdestoweniger für meine Fragestellung von Bedeutung, weil er die auch hier entscheidende Privatsphäre prominent platziert: »In rather paradoxical terms, the public sphere is conceived as a public space instituted in the private realm of civil society. It follows that the carrier of the public sphere lies among the new stratum of private individuals in civil society.« Ebd., S. 219. Meine Arbeit geht von einem ähnlichen Paradox aus, nämlich dass die Werteregulierung stark angekoppelt wird an den privaten Bereich der Familie, Freundschaft und Liebe. Der »public space«, den Ku diagnostiziert, ist in den Familien lokalisiert, allerdings folgt die spatiale Verortung in der Familie im Grunde einer konzeptuellen Verschiebung. Hier ist es entscheidend, dass die Familie in den Texten zwar initial als Ort der Werteregulierung sichtbar gemacht wird, dass sich diese Werteregulierung (mit ihrem immanenten Anspruch auf Universalität) allerdings virtuell abkoppelt und verallgemeinert und somit zu einer gesellschaftlichen WerteOrdnung wird, die sich dann auf die abstrakte Gesamtheit der Familien bezieht: Die neue öffentliche Werte-Gemeinschaft ist im Grunde eine neue axiologisch als exemplarisch verstandene Privatheit, eine ortende Inklusions- bzw. Exklusionsbeziehung. Vgl. dazu Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, S. 45. Damit ist ein normatives Konstrukt von Öffentlichkeit gemeint, das besonders von Habermas propagiert wurde. Vgl. dazu Hölscher, Öffentlichkeit, S. 433–440: »Seit dem 18. Jahrhundert bezeichnet ›öffentlich‹ »nicht nur den Geltungsbereich staatlicher Autorität, sondern zugleich den geistigen und sozialen Raum, in dem diese sich legitimieren und kritisieren lassen muß. Die stets mögliche kritische Frage, ob die öffentliche Ordnung des Staats tatsächlich der durch die Vernunft, die öffentliche Moral bzw. die gesellschaftlichen Bedürfnisse vorgeschriebenen natürlichen Ordnung entspricht, bedient sich der Mehrdeutigkeit des Wortes ›öffentlich‹, im Sinne von ›offensichtlich‹ und ›staatlich‹, um daraus die Forderung nach ihrer Harmonisierung abzuleiten.« Ebd., S. 438.

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stellt, zunächst als (unzugängliche) Öffentlichkeit (versus eine Privatheit, in der die bürgerlichen Werte bereits gelten) Bezug genommen, auf die postulativ-axiologische im 19. Jahrhundert als »gesellschaftliche Öffentlichkeit«, weil sie sich schon im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend als öffentlicher Wertungsrahmen für die privat generierten Moralkonzeptionen erweist.38 Die Ambivalenz des Vaters resultiert damit nicht nur aus seinen zwei verschiedenen Funktionen, die im Kontext der Individualisierung problematischer werden, weil paternale Norm und filiale individuelle Normerfüllung weiter auseinander treten, sondern auch aus seiner Positionierung als ›Souverän‹, der die Familie gemäß der Normen reguliert und zugleich als Verwalter einer Generalisierung von universal konzipierten, natürlichen Werten fungiert. Das Paradox besteht darin, dass der Vater eine nachhaltige Garantie für die private Welt als intakte Wertewelt gewähren muss, die wiederum erst die Individualität des Einzelnen erlaubt und integriert. Der Vater gewährleistet das Unbedingte (Individualität) als Bedingtes (im Kontext von Inklusion/Exklusion), er ermöglicht und normiert es gleichzeitig.39 Die Konzeption von Individualität ist ein Produkt der gesellschaftlichen Differenzierung und gleichzeitig ihr Gegengewicht. Sie formuliert die Baugleichheit und Egalität der Menschen als Individuum und als Kollektiv von Individuen, ohne das Verhältnis beider Größen bestimmen zu müssen; der »gute Vater« allerdings muss diese Balance konkret gewährleisten (so wie es auch »eine gute Regierung« im Kontext der Politik leisten muss) und die allgemeine Regel mit dem besonderen Fall individualisierend verknüpfen, was – wie schon angedeutet – besonders bei Transgressionen eine Schwierigkeit darstellt. Die Vaterrolle wird auf diese Weise mit essentiellen Dilemmata der Moderne konfrontiert, die – so zeigen es die Überlegungen Foucaults, Agambens etc. – die Gesellschaft bis heute bestimmen. Diese Gratwanderung wird schwieriger, je stärker die ursprünglich auf Individualisierung basierenden Normen jede Variation untersagen. Je dominanter die gesellschaftliche Öffentlichkeit wird, desto stärker definiert sie die Normen; die Rolle des einzelnen Vaters wird ersetzt durch eine öffentliche Vatermoral, die zunehmend disziplinierenden Charakter 38 39

Vgl. zur Normierung, der sich eine staatliche Öffentlichkeit mit anders legitimierten Handlungsmaximen bald im Zeichen der Pragmatik zu entziehen beginnt, das Folgende. Auch darin antizipiert das Modell eine Paradoxie, die um 1800 erstmals mit Blick auf die souveräne staatliche Macht und Menschenrechte auffällt.

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hat.40 Max Horkheimer hat dies nachdrücklich hervorgehoben.41 Diese Entwicklung gilt es hier zu verfolgen. Überwog im 18. Jahrhundert die emanzipatorische Kraft (der Ortung durch eine spezifische Ordnung), wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend die disziplinierende 40

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Bereits in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) verweist Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf die bürgerliche Gesellschaft als Zwischenbereich zwischen Familie und Staat, in dem eine von ihm diagnostizierte »Verlust der Sittlichkeit« auf die Problematik der Erweiterung der familienbedingten »Sittlichkeit« auf das Kollektiv aller Familien verweist. Zugleich ist Hegel damit einer der ersten, der die Entstehung einer Zivilgesellschaft im Unterschied zum Staat als politischem System unterscheidet, eine Differenz, die schon um 1800 bedeutsam wird. Vgl. Jean L. Cohen, Andrew Arato: Civil Society and Political Theory. Cambridge, MA 1994. Analog dazu (und in Abweichung von Hegels komplexem Sittlichkeitsbegriff) unterscheiden die hier zugrunde gelegten Texte zwischen einer gesellschaftlich-oktroyierten, unflexiblen Moral, die von außen auf die konkreten Familien angewendet wird, und einer authentisch-intakten, die vom Text oftmals im Gegensatz zur standardisierten gesellschaftlichen Moral nahegelegt wird. Ralf Dahrendorf geht davon aus, dass Familie und bürgerliche Gesellschaft bei Hegel erst im Staat aufgehoben werden, eine Deutungsrichtung, die hier nicht relevant wird. (Dahrendorf: Conflict and Liberty. Some Remarks on the Social Structure of German Politics. In: The British Journal of Sociology 14/3 (1963), S. 197–211) Vgl. den entsprechenden Paragraphen bei Hegel: »Die Familie tritt auf natürliche Weise und – wesentlich durch das Prinzip der Persönlichkeit in eine Vielheit von Familien auseinander, welche sich überhaupt als selbständige konkrete Personen und daher äußerlich zueinander verhalten. Oder die in der Einheit der Familie als der sittlichen Idee, als die noch in ihrem Begriffe ist, gebundenen Momente müssen von ihm zur selbständigen Realität entlassen werden; – die Stufe der Differenz. Zunächst abstrakt ausgedrückt, gibt dies die Bestimmung der Besonderheit, welche sich zwar auf die Allgemeinheit bezieht, so daß diese die – aber nur noch innerliche – Grundlage und deswegen auf formelle, in das Besondere nur scheinende Weise ist. Dies Reflexionsverhältnis stellt daher zunächst den Verlust der Sittlichkeit dar oder, da sie als das Wesen notwendig scheinend ist, macht es die Erscheinungswelt des Sittlichen, die bürgerliche Gesellschaft aus. Die Erweiterung der Familie als Übergehen derselben in ein anderes Prinzip ist in der Existenz teils die ruhige Erweiterung derselben zu einem Volke, einer Nation, die somit einen gemeinschaftlichen natürlichen Ursprung hat, teils die Versammlung zerstreuter Familiengemeinden, entweder durch herrische Gewalt oder durch freiwillige, von den verknüpfenden Bedürfnissen und der Wechselwirkung ihrer Befriedigung eingeleitete Vereinigung.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. In: Hegel, Werke. Hrsg. von Eva Moldenhauer, Markus Michel. Bd. 7. Frankfurt am Main 1986, S. 338. »Infolge der scheinbaren Natürlichkeit der väterlichen Macht, die aus der doppelten Wurzel seiner ökonomischen Position und seiner juristisch sekundierten physischen Stärke hervorgeht, bildet die Erziehung in der Kleinfamilie eine ausgezeichnete Schule für das spezifisch autoritäre Verhalten in dieser Gesellschaft. Auch im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wo die Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit noch nicht in einer auch dem Kind fühlbaren Weise relativiert oder von den Eltern offenkundig als sekundär betrachtet wurden, lernen die bürgerlichen Söhne und Töchter trotz alles Redens von diesen Idealen, die sie in ihr eigenes Innere aufnahmen, daß die Erfüllung aller Wünsche in Wirklichkeit von Geld und Stellung abhängen.« Max Horkheimer: Familie und Autorität. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Alfred Schmidt. Bd. 3. Frankfurt am Main 1988, S. 336–417, hier S. 397.

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Dynamik wichtig, die der bürgerlichen Vaterrolle zwar von vornherein inhärent, aber anders legitimiert war. Basierte die Urlegitimation des bürgerlichen Vaters auf seiner im Kontext eines bürgerlichen Wertekanons emotional verifizierten Stellung in der Familie, bezieht sie – je stärker diese Normen von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit adaptiert werden und je stärker ge-genderte Rollenverteilungen textuell realisiert werden – im 19. Jahrhundert ihre Legitimation zunehmend von außen. Mit Blick auf die vorangegangenen Ausführung zur Individualisierung wird deutlich, dass damit das prekäre Gleichgewicht der väterlichen Macht emotional destabilisiert wurde und ihre »kompensatorische« Funktion erheblich eingeschränkt wird. Beide Funktionen werden in der Literatur immer wieder gegeneinander abgeglichen und folgen dabei verschiedenen Intentionen, die in einem Rückkopplungsverhältnis mit dem politischen Leben stehen. Der bürgerliche Vater (bzw. die Familie, der er symbolisch vorsteht) wird zum Medium der Kritik und Affirmation von politischer Herrschaft. Diese starke Anbindung an Herrschaft (wenn auch Herrschaft durch Emotion) zeitigt noch eine andere Konsequenz, die für die zunehmend funktionalisierte Gesellschaft (für die sich kein Modus der Gesamtbeschreibung mehr finden lässt) entscheidend wird: Der Vater innerhalb seiner Familie wird zu einem konkretisierenden Modell von Herrschaft/ Staat. In dieser repräsentativen Funktion konvergieren ästhetisch die auseinander tretenden Sphären von Staat und Gesellschaft. Diese Effekte gilt es, im Folgenden exemplarisch in ausgewählten Texten zu beobachten. Die immanente Dualität des Vaters und seine gleichzeitige Funktion als Vergegenwärtigungsmechanismus von »natürlicher«, originärer Herrschaft sind die zunehmend problematischen Aspekte, die sich in Texten von Lessing bis Kafka verfolgen lassen. Anhand dieser Bereiche sollen Fragen der Legitimität bzw. Natürlichkeit der väterlichen Macht nachvollzogen werden, die sich in einem komplexen Zusammenspiel von einem internalisierten, religiösen Selbstverständnis bis hin zu Konzepten einer funktional »guten Regierung« auf der anderen Seite bewegen.42 Hier wird davon ausgegangen, dass die religiöse Bildlichkeit im Untersuchungszeitraum absorbiert wird von grundsätzlich säkularisierten Funktionen:43 Der Fortbestand des Religiösen im Säkularen wird somit vorausgesetzt, aber hier nur am Rande betrachtet. 42

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Zu religiösen Mustern in einer motivisch symbolischen Rekurrenz auch in modernen Texten wurden ja bereits erste Ansätze geliefert, dazu nicht unproblematisch Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. 3Frankfurt am Main 2001. Das wird mit Blick auf die Entwicklung und theoretische Universalisierung des bürgerlichen Menschenbildes noch genauer zu entwickeln sein.

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Das gleiche gilt für einen entscheidenden Aspekt, der bei Untersuchungen zu Vaterschaft, (besonders im Kontext der Frankfurter Schule) oft im Vordergrund stand: der (Früh-)»Kapitalismus« als gesellschaftliche Machtgrundlage für väterlich konzipierte Autorität. Insofern diese historische Verschiebung entscheidend ist für die Ermächtigung des bürgerlichen Vaters, genauso wie das (stark an Konzeptionen von Eigentum gekoppelte) Vertragsrecht überhaupt erst eine konzeptuelle Vorstellung von Privatheit erlaubt, ist dieser Fokus durchaus produktiv. Hier geht es jedoch vor allem um die textlich implizierte oder explizierte Natürlichkeit/Legitimität bzw. Illegitimität väterlicher Macht, nicht um ihre historisch-reale Genese.44 Auch die Frage nach Vaterschaft und filialer Abkünftigkeit bzw. Identität, in deren Rahmen auch die immer stärkere Relevanz der genetischen Verbindung und Vererbung von Eigenschaften fällt, wird hier nur am Rande berührt. Von August Strindbergs ›Der Vater‹ bis hin zu Thomas Hardys ›Tess of the d’Urbervilles‹ evaluiert die europäische Literatur die Frage nach Identifikation und Identität immer stärker auch in den Kategorien Blutsverwandtschaft und Genealogie.45 Da es hier aber vor allem um die Beziehungsaspekte Macht und Emotion geht,46 kann auf diese Dimension nur in Einzelfällen eingegangen werden.47 44

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Die kapitalistisch fundierte Macht des bürgerlichen Vaters kann dabei explizit mitverhandelt (wie es etwa in Stifters ›Nachsommer‹ geschieht) oder in der konstruktiven Beschwörung der natürlichen oder unnatürlichen Grundlage von Vaterschaft als Negativkriterium hervorgehoben bzw. abgelehnt werden. In Hedwig Dohms ›Christa Ruland‹ vermerkt in diesem Sinne die Mutter der Protagonistin im Rekurs auf Henrik Ibsens ›Gespenster‹: »Gräßlich, wie man seit Ibsens Gespenstern pietätloserweise immer seine Eltern kontrolliert.« Hedwig Dohm: Christa Ruland. Berlin 1902, S. 15. Dieses auffällige Interesse an Vererbungslehre zieht sich übrigens durch den gesamten Text. Auch in Gabriele Reuters Aus guter Familie – Leidensgeschichte eines Mädchens, Studienausgabe mit Dokumenten. Hrsg. von Katja Mellmann. 2 Bde. Marburg 2006 findet sich die Faszination der Protagonistin an diesem Gegenstand. Vgl. auch Cornelia Pechota Vuilleumier: »O Vater, laß uns ziehn!« Literarische Vater-Töchter um 1900. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé. Hildesheim, Zürich, New York 2005. Vuilleumier untersucht Texte von Reuter, Dohm und Lou Andreas Salomé und hält fest, dass der Rekurs der Protagonistinnen auf »zeitgenössische Vererbungs- und Evolutions-Diskurse […] den fiktionalen Töchtern [erlaubt], als Nachkommen begabter Väter oder Ersatz-Väter dort einzurücken, wo diese selbst an der Entfaltung gehindert wurden.« Ebd., S. 15. Dies rührt natürlich auch an einen weiteren, vielleicht überraschender Weise fehlenden Diskurs: Freud verweist auf die Identifizierung von Vater und Sohn (bzw. Mutter und Tochter), die sich eben nicht zu einem gegenseitigen heterosexuellen Begehrensobjekt machen, wie es das Ödipus-Phänomen für die Vater-Tochter, Mutter-Sohn-Beziehung vorsieht. Doch auch die psychoanalytische Deutung von in der triangulären familiären Struktur ambivalenten Identifikationsprozessen ist hier nicht thematisch, vgl. das Folgende. Vgl. dazu besonders das Kapitel zu den Majoraten und zum Expressionismus.

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3.

Freud, Lacan

Freuds ›Totem und Tabu‹ wird in einem eigenen Kapitel ausgewertet,48 d. h. seine Texte werden hier nicht terminologisch-methodisch relevant, sondern in ihrer historischen Positionierung und mit Blick auf die Validität ihres Auslegungsanspruches, der sich – so die These dieser Arbeit – aus einem historisch mehrschichtigen, sich zunehmend klarer herauskristallisierenden Prozess im 18. und 19. Jahrhundert ergibt. Damit werden die Historisierungsversuche von Freud gewissermaßen mit einer anderen Geschichtlichkeit überschrieben. Dies gilt auch für Lacan, der 1938 in dem für die ›Encyclopédie Française‹ verfassten Aufsatz ›Institution Familie‹ ebenfalls eine historische Erklärung für zeitgenössische Befindlichkeiten beizubringen versucht,49 bevor er den Versuch einer Historisierung aufgibt und sich auf die sprachtheoretische Adaption der Psychoanalyse konzentriert: Lacan ersetzt dabei die traditionelle Opposition von archaischer Mütterlichkeit und historischer Paternalität »durch das psychoanalytische Theorem einer universalen Spaltung zwischen vorsprachlicher Fülle […] und sprachlicher Subjektivierung«.50 Dieses Begehren einer vorsprachlichen »jouissance«, einer primären Einheit, das von dem Nom-du-Père gleichermaßen hervorgebracht und dann in der Realisierung vorenthalten wird, entspricht zwar strukturell den hier beschriebenen historischen Prozessen sowie ihren ästhetischen Analysen, Versprechungen und Anklagen,51 ist allerdings in sich wiederum »enthistorisiert und in ein Modell zeit- und subjektloser Subjektspaltung übersetzt.«52 Dass Lacan (und vor ihm in anderer Begrifflichkeit Freud) mit dem Signifikanten Nom-du-Père auf die Konsistenz der Gesetze einer symbolischen Ordnung verweist,53 indiziert nichtsdestoweniger eine komplexe paternale Ordnung, um deren Etablierung es hier 48 49

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Vgl. dazu das Kapitel Freud und der Expressionismus. Hinsichtlich seiner Zuordnungsversuche wäre dieser ›historische‹ Lacan im Grunde inhaltlich noch dem letzten Abschnitt des Fontane-Kapitels zu subsumieren, insofern er den Vorteil der »konjugalen Familie« in der Abschüttelung der »ursprüngliche[n] Knechtschaft«, nämlich der prä-ödipalen Phase und der Bindung an die Imago der Mutterbrust, sieht. Damit fügt er sich – mit der auch für Freuds thematischen Mischung aus Ethnologie, Historiographie und Psychoanalyse – durchaus in das heterogene Konglomerat von Überlegungen in der Nachfolge Bachofens ein. (Vgl. dazu das Kapitel zu Fontane). Jacques Lacan: Schriften I. Hrsg. von N. Haas, H.-J. Metzler. Olten/ Freiburg im Breisgau 1980, S. 41–100, hier S. 49. Erhart, Familienmänner, S. 37. Dies ist im Ergebnis besonders bei Kafka (vgl. das Kapitel Ausblick) zu sehen. Erhart, Familienmänner, S. 37. Dabei wird die strukturelle Vorgängigkeit eines paternal verstandenden Prinzips (als realer oder abstrakter Vater) postuliert.

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(im Zuschnitt auf eine spezifische Interferenz zwischen Emotion/Herrschaft/Repräsentation) geht. Insofern steht das Kapitel zu Freud konsequent chronologisch (hier in einem historischen, anti-teleologischen Sinne) am Ende dieser Studie.54 Die in seinem Werk konglomerierten Problemfelder bieten gleichzeitig einen summativen Aufriss, in dem die verschiedenen Facetten meiner Argumentation vollständig zusammenlaufen. Wenn dabei auf rückwirkend konstruierte triebökonomische Schlüsselworte wie Begehren, Inzest und Sexualität etc. zurückgegriffen wird, so in einer theoretisch deflationierten und deskriptiven Weise: Walter Erhart, der für seine grundlegende Arbeit zur Entstehung von moderner Männlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert den entsprechenden Theoriebereich bereits methodisch evaluiert hat, weist ja in diesem Sinne auf die Gefahr von »nahezu tautologisch[en]« Zuweisungen hin,55 die sich aus der konsistenten Re-Applikation der mittlerweile konventionellen psychoanalytischen Terminologie ergeben.56

4.

›Der Vater‹ als Oszillationssymbol – Methodische Verortung

Für das Folgende zentral ist eine semantische Umstellung, die den »Vater« als literarisches Konstrukt im 18. Jahrhundert neu auflädt und tradierte paternale Attribute neu formiert.57 Dieses Ereignis vollzieht sich parallel 54

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Da es hier um die formative Kraft der Literatur geht, das heißt, alle diskursiven Prozesse mit Blick auf literarische Kulminationspunkte relevant werden (vgl. das Folgende), fehlt hier auch (methodisch) der vorgängige Rekurs auf Theoretiker, wie etwa Judith Butler, die sich hier besonders prominenten, thematischen Schnittflächen und den einschlägigen Symbolisierungsprozessen gewidmet haben (Macht, Gender, Repräsentation, Subjekt, Identität). Butlers Analyse eines Identität und Subjekt generierenden, normativen Modells der Zweigeschlechtlichkeit im Kontext ihres kontrastiven, performativen Modells von Geschlecht, das sich jeder Materialisierung verweigert, beleuchtet Ausläufer von den Verschiebungen und Setzungen, die im Gegenstandsbereich der vorliegenden Studie ebenfalls sinnfällig werden. Der Fokus hier richtet sich allerdings vollständig auf literarische Funktionsweisen, ihre Autonomie sowie ihren Ausgriff und Anspruch auf Gestaltung und Formung der textexternen »Realität«. Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, S. 35 (Fußnote 61). Vgl. ebd. auch insgesamt S. 31–62. In diesem dezidierten Zuschnitt auf literarische Verfahrensweisen fungiert hier im übrigen auch Michel Foucault mit seinen maßgeblichen Analysen zur Verschränkung von Macht, Körperlichkeit, Familie (auf die hier extensiv zurückgegriffen wird) nicht als primärer theoretischer Bezugspunkt – vielmehr wird hier versucht, die schwierige Schnittstelle zwischen Diskurs und Konterdiskurs mit einem (im Sinne der Praktikabilität) neugeprägten Terminus zu erkunden: vgl. dazu das Folgende. Damit unterscheidet sie sich von Untersuchungen, die sich vor allem auf Konstanten konzentrieren: Die anthropologische und biologische Universalität spezifischer inner-

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zu systemischen und historischen Verschiebungen, in deren Kontext die historische Vaterrolle ebenfalls neu konfiguriert wird. Es wird im Verlauf der Arbeit zu zeigen sein, wie verschiedene semantische Formationen auf die kognitive und emotionale Konzeptualisierung der literarischen »Väter« Einfluss nehmen. Der individuelle Vater (und so auch die konkrete literarische Vaterfigur) etabliert sich immer im Zusammenhang mit institutionalisierten paternalen Eigenschaften; im Rekurs auf diese werden verschiedene Attribute aktiviert und andere deaktiviert. Im Folgenden kommt es auf diesen textlich etablierten Bezug zu einem historisch generierten Vaterkonzept an.58 Dabei soll keine präzise historische oder kulturgeschichtliche Entwicklung nachgezeichnet werden. Meine Arbeit konzentriert sich vielmehr auf ausgewählte Texte, die einen Erwartungshorizont für paternale Eigenschaften narrativ generieren oder perpetuieren. Im Folgenden werden die »Väter« in der Literatur als Beitrag zur Symbolisierung59 von Paternalität beschrieben. Die spezielle Symbolform, um die es hier geht, wird in ihrem kulturellen Archivcharakter als Oszillationssymbol verstanden,60 weil sie sich im Hinblick auf kollektive und in-

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familialer Ablösungsprozesse arbeitet etwa sehr überzeugend Peter von Matt heraus: P.v.M.: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 1995. Die literaturhistorischen Konstanten werden in der vorliegenden Arbeit zwar auch beobachtet, aber noch stärker als bei Matt historisiert. Insofern historische Verschiebungen erheblichen Einfluss auf das Vaterbild in einer Gesellschaft und damit auch auf die textliche Repräsentation von Vaterschaft nehmen, müssen dafür nichtsdestoweniger auch textexterne Entwicklungen in den Blick genommen werden. Die hier untersuchten Symbolisierungsprozesse weichen dabei von Symbolisierungsvorgängen ab, wie sie etwa Jean-Joseph Goux in Anlehnung an Marx’ Analyse der Geldform und des Kapitals beschreibt, wobei er Marx’ Fokus als eine spezifische Variante begreift, die er nicht verabsolutiert, sondern strukturell auch in anderen gesellschaftlichen Prozessen der Werte und Materialität nachweist: »So werden wir zeigen, wie vergleichbar sind: die Funktion des Geldes als allgemeines Äquivalent der Arbeitsgegenstände; die Stelle oder Funktion des Phallus als allgemeines Objekt der Triebobjekte; die des Vaters (als reales, ›symbolisches‹ oder imaginäres allgemeines Äquivalent im intersubjektiven Austausch); die Sprachzeichen in den Systemen der Sinnbesetzungen: schließlich die der politischen monozentrischen Macht, ob sie sich nun als ›repräsentativ‹ ausgibt oder nicht.« J.-J.G.: Freud, Marx. Ökonomie und Symbolik. Frankfurt am Main 1975, S. 18–19. Insofern Goux das Symbol als Möglichkeit, Invarianten trotz Variationen zu erkennen, versteht, legt Marx (mit seinem Geldkonzept) seiner Meinung nach die dialektische und historische Logik des Symbolisierungsprozesses offen. Diese Dialektik wird hier noch einmal anders in den Blick genommen. Deswegen wird Goux trotz seines integralen Bezugs auf den »Vater« als Symbol hier nicht berücksichtigt. Vgl. zu einem Überblick über die Symbolbegriffe verschiedener Wissenschaftsdisziplinen: Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung. Hrsg. von Manfred Lurker. Baden-Baden 1982 [Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie, Internationales Referateorgan, Ergänzungsband 1].

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dividuelle Erfahrungen mit und Erwartungen an »Väter« kaleidoskopartig in verschiedenen Eigenschaftskonstellationen entwirft und dabei mit Blick auf bestimmte Attributionen zwischen Aktivierung/Deaktivierung oszilliert. Das Konzept des Oszillationssymbols dient als Einstiegskonstruktion, mit deren Hilfe der Fokus dieser Arbeit (und ihre anhängigen Probleme) genauer umrissen werden kann; es verbindet überdies die Bedeutungsimplikationen von abstrakten Vaterschaftsvorstellungen wieder in der konkreten Vaterfigur.61 In diesem konkreten Vater sind die verschiedenen Dimensionen nicht aufgehoben, sie werden nur unterschiedlich manifest. Damit entsteht eine Spannung zwischen der konkreten Vaterfigur und dem Diskurs/der Diskursgeschichte62 einer spezifischen ideellen, biologischen, sozialen, juristischen und emotionalen Vater-Funktion.63 Mit dem Oszillationssymbol wird insofern auf einen besonderen Ausschnitt des Literatur/Umwelt-Verhältnisses zugegriffen, als es bei ihm um die textlich etablierte Beziehung zwischen einem ästhetisch evozierten Archiv der Vater-Attribute und der konkreten Vaterfigur im Text geht. Dieses Archiv wird zwar gemeinschaftlich von vielen Texten, Kontexten, empirischen Erfahrungen, psychologischen64 und evolutionspsycholo61 62

63 64

Und es betont damit eine Invarianz trotz Variationen. Vgl. dazu auch Goux, Freud, S. 22. Hier im Rekurs auf Foucaults Diskursbegriff in Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen. 10Frankfurt am Main 1991, nämlich als Systeme von Aussagen, die sich aus spezifischen institutionellen Praktiken ergeben und sprachlich kodifizieren. Damit einher geht eine Tendenz zur Verknappung und Vereindeutigung im Sinne der Machtinteressen; Rainer Warning fasst Literatur im Gegensatz dazu eben auch als nicht diskursiv oder konterdiskursiv. R.W.: Erzählen im Paradigma. Kontigenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–209. Dieser Diskurs formt individuelle, empirische Erfahrungen auf der Akteursebene und wird zugleich aus ihnen gespeist. Die Überlegungen beziehen sich weder auf Freuds Symbolbegriff noch auf C.G. Jungs Archetypen, unter die Jung auch Mutter und Vater subsumiert. In der Traumdeutung unterscheidet Freud zwei Deutungstechniken, die symbolische und assoziative: Ergänzend zu den Assoziationen des Träumers wird das Symbolverständnis des Deuters relevant: »Für Freud ist das Symbol daran zu erkennen, daß seine Bedeutung nicht variiert: die Symbole sind universell.« Tzvetan Todorov: Symboltheorien. Übersetzt von Beat Gyger. Tübingen 1995, S. 251. Jung beschreibt etwa den Archetypus Mutter als invariant, macht aber auch gleichzeitig deutlich, dass konkrete Erscheinungsformen von »Müttern« nie vollständig aus diesem Archetypus deduziert werden können, sondern zusätzlich immer noch von unzähligen anderen Faktoren abhängen. Vgl. dazu Carl Gustav Jung zu den psychologischen Aspekten des Mutterarchetypus in C.G.J.: Archetypen und das kollektive Unbewußte. In: C.G.J.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Lilly Jung-Merker, Elisabeth Rüf. Bd. 9.1. 7Freiburg im Breisgau 1989, S. 91–123. Weder universale Symbole, die in Freuds Verständnis der Traumsymbolik für den Interpreten als Produkt der Repression greifbar werden, noch die Archetypen bei Jung sind in dieser Arbeit Gegenstand der Un-

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gisch nachvollziehbaren Diskursen konstruiert,65 aber nur im jeweiligen Text ist die Spannung zwischen ihm und sinnlich-evidenter konkreter textlicher Vaterfigur (also das Oszillationssymbol) greifbar. Das heißt, auch wenn das Oszillationssymbol im Textkontext erschlossen werden muss, steht es doch zugleich in Bezug zu einem virtuellen Archiv, das von den Texten aus überhaupt erst zugänglich wird.66 Zwei Aspekte sind für das Folgende besonders maßgeblich: Zum einen funktioniert diese sinnlich-archivalische Komponente der Literatur über eine spezifische ästhetische Evidenz-Technik, indem sie greifbare Oberflächenstrukturen anbietet, dabei aber weitreichende konnotative Begriffs- und Assoziationsfelder einbindet. Insofern sie verschiedene Cluster an Attributionen hervorbringen können, sind Oszillationssymbole zum anderen in besonderer Weise erweiterbar und anschlussfähig für neue historische Umweltbedingungen; sie indizieren Krisen, offerieren aber langfristig wiederum effiziente Bewältigungsmechanismen für die Folgen der Umstellungen;67 auch das ist für die folgenden Verschiebungen und Neuakzentuierungen von Vaterschaft entscheidend. Die Spannung zwischen Diskurs-»Realität« (die hier vom Text aus rekonstruiert wird) und konkreter Vaterfigur im Text gehört integral zum hier relevanten Oszillationssymbol und ist im Text virtuell präsent und partiell kontextuell rekonstruierbar.68 Wichtig für das Konzept des Oszil-

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tersuchung. Allerdings gehören fraglos auch anthropologische Konstanten integral zum Konzept des Oszillationssymbol (vgl. das Folgende). Diese werden aber hier nicht als universal-anthropologische Größe relevant; es geht vielmehr um die Konstruktion einer spezifischen Natürlichkeit und Universalität der bürgerlichen Vater-Idee, die historisch generiert wird. Vorgängige Produktion von Aspekten des Vaters als Oszillationssymbol und der textlichen Interpretation gehen dabei im Text ineinander über. In diesem komplexen Symbolnetz können grundsätzlich unendlich viele Kombinationen als Deutungsformationen aktiviert werden, gleichzeitig lassen sich auch bestimmte, bevorzugte Verknüpfungen beobachten. Dabei führen auch diese Standardkopplungen wiederum das nicht akzentuierte Netz von Implikationen mit sich. Im Gegensatz zu anderen Modi der Bewahrung ist die ästhetische Dokumentation eine Form, die Paradoxien verwahren, ästhetisch balancieren und kritisch ausdeuten kann. Obwohl das Oszillationssymbol hier als ein Produkt der Kunst/Literatur verstanden wird (insofern das Archiv der Vater-Funktion aus dem Text heraus aktiviert wird), schließt es zahlreiche Aspekte ein, die von bewusstseinstheoretischen, sprachtheoretischen, kunsttheoretischen, erkenntnistheoretischen, gesellschaftstheoretischen Implikationen reichen: Trotzdem wird hier weitgehend auf einen Rückgriff auf die verschiedenen Symboltheorien verzichtet, weil es vor allem auf die Klammerfunktion des Symbolbegriffes ankommt, der akzidentelle und substantielle Aspekte von Vaterschaft in einer konkreten textlichen Vaterfigur amalgamiert. Vgl. den Überblick und die Zusammenfassung bei Eckard Rolf: Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext. Berlin, New York 2006.

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lationssymbols ist dabei also der Rekurs auf gesellschaftliche Schlüsselvorstellungen.69 D.h., der Vater als Oszillationssymbol bezieht sich auf zentrale Foki der menschlichen Gemeinschaft und ihrer Organisation und unterliegt damit auch notwendig den vielfach diagnostizierten historischen Verschiebungen im 18. Jahrhundert. Das Oszillationssymbol Vater wird hier, als Produkt der ›Kunst‹, in diesem Fall der Literatur, mit Luhmann als Beobachtung zweiter Ordnung verstanden. Luhmann beschreibt Kunst als Beobachtungen von Welt, die es darauf anlegen, als Beobachtung beobachtet zu werden, verweist dabei aber sowohl auf das materiale Kontinuum zwischen Kunst und Welt als auch auf die strukturelle Kopplung von Kunst-System und Umwelt. Die Kommunikationen zwischen System und Umwelt funktionieren dabei in beide Richtungen; soziale, historische, individuelle Sachverhalte finden Eingang in die Texte, werden für die textspezifische Eigendynamik adaptiert und erhalten innerhalb der textlichen Präsentation eine neue Ausrichtung. Die literarische Beobachtung ist in diesem Sinne analytisch und produktiv zugleich.70 Die Ästhetik, die bei der Etablierung des Oszillationssymbols greift, ist damit allerdings noch nicht präzise genug beschrieben worden. Literatur gelingt eine ästhetisch-evidente Reduktion von Komplexität und ihre gleichzeitige Steigerung; das Oszillationssymbol ist ein Folgeprodukt, das teilhat an den übergreifenden Diskursen zwischen den Systemen, die aber in einer symbolischen Evidenz verdichtet werden. Damit erscheinen sie (trotz ihrer Vernetzung mit allgemeinen und abstrakten Diskursen) als individuell und konkret sowie (gerade wegen dieser Vernetzung) als authentisch und relevant. Dies gilt nun fraglos – darauf wurde ja im Umfeld des New Historicism hingewiesen – im Wesentlichen für jedes einzelne Wort in ästhetischen Texten, das seine 69

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Auch wenn Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen hier zu weit führen würde (wobei die Definition der symbolischen Form als »jede Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zueignet wird«, hier noch einmal das wesentliche Element der Veranschaulichung akzentuiert, E. C.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffes. Darmstadt 1959, S. 175), ist seine Beschreibung der symbolischen Prägnanz eine griffige: Unter ihr wird »die Art verstanden, in der sich ein Wahrnehmungserlebnis als ›sinnliches Erlebnis‹ zugleich einen bestimmten, nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich befaßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.« E.C.: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. Darmstadt 1975, S. 235. Kunst erscheint in dem Zusammenhang als Kommunikation über und durch Kommunikation – nach Luhmann handelt es sich um ein autopoietisches Kunstsystem, dessen Medium sowohl die Freiheit der Formbildung als auch die Schaffung von Formen aus Formen darstellt.

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historische Kontextualität in den Text hineinträgt; dennoch unterscheidet sich das Oszillationssymbol davon mit Blick auf die konzeptuelle Kontinuität, die zwischen den Texten nachweisbar wird. Es avanciert zu einem evidenten, sinnlich greifbaren Zeichen mit semontologischem Charakter,71 das in der intertextuellen Interaktion zahlloser Texte beständig angereichert und kupiert wird.72 Auch abseits des Textes wird dem abstrakten Wissen dadurch eine Anschauung (hier im konkreten textuellen Vater) unterlegt. So wird eine »Erfahrbarkeit« garantiert, auf die sich die einzelnen Texte wiederum beziehen und die sie für sich adjustieren.73 Das Konzept des Oszillationssymbols hängt dabei eng zusammen mit »sozialkonstruktivistischen«,74 kulturellen Gedächtniskonzeptionen, wie sie etwa Jan Assmann im Anschluss an Maurice Halbwachs entwickelt. Halbwachs geht von »Erinnerungsfiguren«75 aus, die im Gegensatz zu rationalem Denken versinnlichte Ideen darstellen. Er betont die Verschmelzung von Begriff und Bild und betont, dass nur in konkreten Formen (als Person, Ereignis etc.) materialisierte Vorstellungen Eingang in das kollektive Gedächtnis finden, die dann wiederum konzeptuell verdichtet werden:76 »Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei seinem Eintritt dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol transponiert.«77 Entscheidend für meine Überlegungen ist, dass Erinnerungsfiguren immer raum- und zeitkonkret78 sind; sie sind Ausdruck der Ver71

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D.h. hier sowohl als funktional-relationaler wie auch als ästhetisch-phänomenaler Zeichenbegriff. Vgl. Frauke Berndt: Symbol/Theorie. In: Die Aktualität des Symbols. Hrsg. von Frauke Berndt, Christoph Brecht. Freiburg im Breisgau 2005, S. 7–30, hier S. 13. Frauke Berndt und Heinz J. Drügh definieren Symbole »als sinnliche ›Zeichen‹ und ›Bilder‹, die eine körperliche Form haben, wahrgenommen werden, etwas bedeuten und ein ethisches Fundament voraussetzen.« Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft. Hrsg. von F.B. und H.J.D. Frankfurt am Main 2009, S. 22. »Zeitlichkeit und Historizität sind daher das Komplement zu den Tendenzen symbolischer Stillegung oder auf-Dauer-Stellung des Gegenstands.« Berndt, Symbol/Theorie, S. 15. Dabei müssen die kupierten Bereiche weiterhin mitgedacht werden. Berndt, Symbol/Theorie, S. 16. Die Vaterfiguren in den Texten werden insofern als Stellvertreter der Wirklichkeit verstanden, als sie eine komplexe Diskurswirklichkeit der Vaterfunktion in einem individuell-sinnlichen Zugriff veranschaulichen, diese Versinnlichung aber nichtsdestoweniger in den Kontext der entsprechenden, sich entfaltenden und verschiebenden Vater-Diskurse stellen. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4München 2002, S. 47. So nennt sie Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 38. Vgl. Maurice Halbwachs: La topographie legendaire des évangiles en Terre Sainte. Paris 1941. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen. Frankfurt am Main 1985, S. 389–390. Dies ist aber nicht geographisch bzw. historisch zu verstehen.

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gangenheit und des Selbstbildes der Gruppe.79 Das kollektive Gedächtnis konstruiert dabei die kollektive Erinnerung. Nach Halbwachs funktioniert das gruppenbezogene Kollektivgedächtnis konträr zur Geschichte, da es auf Identität und nicht auf deren Wandel gerichtet ist. Das Kollektivgedächtnis ist damit eine gruppeninterne Perspektive, die Identität und Kontinuität garantiert.80 Assmann präzisiert dies und versteht unter dem konstruktivistischen Begriff »Kollektivgedächtnis« sowohl ein kommunikatives als auch ein kulturelles Gedächtnis: Das kommunikative (biographisch implementierte) Gedächtnis richtet sich auf die rezente Vergangenheit und das kulturelle (als die Gemeinschaft fundierend verstandene) »auf Fixpunkte in der Vergangenheit. […] Vergangenheit gerinnt hier zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet. […] Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte.«81 Das kulturelle Gedächtnis ist »die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen.«82 Assmanns Ausführungen83 über die Erinnerungsformen der frühen Hochkulturen erweisen sich als anschlussfähig für die Literatur als Träger des kulturellen Gedächtnisses und seiner selektiv-konstruktiven Verfahrensweise. Literatur integriert Geschichte nun ebenso wie Elemente des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses als Beobachtung zweiter Ordnung. Sie bildet individuelle Beobachtungen von Welt als Beobachtung ab und bezieht sich somit auf potentiell zahllose Dimensionen ihrer Umwelt, wobei sie – wie das kulturelle Gedächtnis – immer in konkretisierenden Verschiebungen und Verdichtungen verfährt. Das Oszillationssymbol funktioniert ähnlich wie ein solches Archiv. Hervorzuheben ist dabei, dass ihm per se eine spezifische Dualität eignet, 79 80 81 82 83

Halbwachs, Gedächtnis und soziale Bedingungen, S. 209–210. Halbwachs grenzt vom Kollektivgedächtnis andere organisierte, objektivierte und universalisierte Bewahrungsmodi wie die Geschichte und die Tradition ab. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 52. Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006, S. 70. Im Anschluss an Claude Lévi-Strauss’ Modell von heißen und kalten Kulturen schlägt Assmann zudem vor, zwischen quietiven (d. h. Veränderungen abwehrend) und inzentiven (auf Wandel ausgerichteten) Elementen des Geschichtsbewusstseins und der Erinnerung zu unterscheiden. Damit verweist er bereits auf den Zusammenhang zwischen Herrschaft und Gedächtnis (bzw. Vergessen).

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da es zum einen auf erinnerte Geschichte zurückgreift, zum anderen aber gleichzeitig historische Wandlungsprozesse beobachtet und sie – auf der Meta-Ebene – als Text in ihrer immanenten und kontextuellen Dynamik dokumentiert. Da dem Oszillationssymbol eine per se historische Dimension zu eigen ist, schließt es im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis noch eine Kommentardimension ein, die den historischen Wandel und die aufkommenden historisch evozierten Verschiebungen in den Gedächtnisriten deutet, d. h. zeitlich und räumlich verortet. Literatur speichert und evaluiert Wandel und Kontinuität. Das Oszillationssymbol tut dies in potenzierter Weise, indem es sich auf historische Konzepte gründet, die – auch wenn sie in den Texten individualisiert werden – ein Archiv verschiedenster Bedeutungs- und Funktionszuschreibungen sind und allesamt in der literarischen Referenz mit vermittelt werden.84 Es kann verschiedene, widersprüchliche und anachronistische Vorstellungen transportieren, die nicht mit der ästhetisch-konkreten Evidenz an der Oberfläche in Konflikt treten, sondern sie vielmehr mittragen. Das Kunstsystem kann durchaus mit manifesten Paradoxien operieren (insofern diese eine ästhetisch-changierende Evidenz gewinnen), ohne dass im Rekurs auf die System-Kriterien die Plausibilität seiner Kommunikationen gefährdet ist. Insofern der Aufeinanderprall verschiedener historischer Zustände auch in der Realität austariert und prozessiert werden muss, erfüllt die ästhetische Bündelung (auch wenn sie als Problem formuliert wird) eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Wie Luhmann es mit Blick auf die Kunst als System festhält, ermöglicht sie die (analytischkritische oder performativ-mimetische) Beobachtung einer nicht-beobachtbaren Welt und macht gleichzeitig die Einheit der Differenz von Beobachtbarkeit und Nicht-Beobachtbarkeit sichtbar. Der Archivcharakter funktioniert dabei nur in Interaktion mit allen Medien der Erinnerung, der Geschichtsschreibung, dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. D.h. gesellschaftliche Implikationen werden unter Umständen im Konkretionsmodus des Textes nur partiell aktiviert – sie sind aber dennoch latent vorhanden und haben so weiterhin Einfluss auf die Textdynamik. Das Besondere an dieser Form des ästhetisierten Archivs ist seine spezifische Zeitform, bei der nämlich herkömmliche Abfolgen nicht mehr greifen. Der Text ist zeitlich organisiert und historisch konkret kontextua84

Es wird zu zeigen sein, dass bereits das 18. Jahrhundert die Vaterfunktion durchaus paradox kodiert. Die konkreten Väter allerdings scheinen, so die Textlogik, diese prekäre Widersprüchlichkeit noch auszubalancieren.

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lisiert,85 die bildliche Verknüpfungsmechanik des Oszillationssymbols aber ist es nicht: Es funktioniert wie ein Netz, innerhalb dessen die verschiedenen Evokationen unabhängig von ihrem Entstehungszeitraum gekoppelt werden können, also zwischen Aktivierung und Schlafzustand oszillieren können. Das bedeutet hier konkret, dass spezifische ›schlafende‹ Aspekte von Vaterschaft mittransportiert werden und zu einem gegebenen Zeitpunkt rückwirkend aktiviert werden können. Jeder literarische Text bewegt sich in einem historischen Kontinuum und kann in einer retroaktiven Intertextualität Akzente in früheren Bezugstexten verschieben. Sowohl die Verschiebungen als auch der Text sind historisch, aber die Umakzentuierung funktioniert, weil Oszillationssymbole als Archiv ihre chronologische Zeitdimension aussetzen.86 Im 18. Jahrhundert erscheinen viele Funktionen und Assoziationen, die mit Vaterschaft zusammenhängen, im Wandel begriffen: Die hier relevanten Kontexte reichen von Umstellungen auf vertragsrechtliche Eigentumskonzepte, die Privatheit überhaupt denkbar machen, bis hin zu expliziten Säkularisierungen bisheriger Herrschaftsmodi. Das führt zu grundsätzlichen Veränderungen mit Blick auf das Oszillationssymbol Vater, dessen Gesamtfunktion sich verschiebt. Das Oszillationssymbol nun stellt, wie bereits angedeutet, sein virtuelles Archiv auch anderen Systemen (als dem Kunstsystem) als evidenzsichernde Maßnahme zur Verfügung. Die semantische Kopplung von Systemen (etwa Politik und Familie) erlaubt eine gegenseitige symbiotische Evidenzanleihe, die in der systemeigenen Rhetorik adaptiert wird. Das Oszillationssymbol ist ein Medium der Vernetzung, das sich aus selektiven Kommunikationen in anderen Systemen zusammensetzt. Das bedeutet, dass der Literatur ein besonderes Archiv zur Verfügung steht, das nicht sedimentiert, sondern aktiv ist und sich auf eine unbeschränkte Anzahl an Systemen und Diskursen gründet. Die Beobachtungen der Schnittmengen-Kommunikationen, die in einem System auf Kommunikationen in einem anderen System Bezug nehmen, sie partiell adaptieren, aber als ›Eisberg‹ auch nicht direkt evozierte Aspekte mittransportieren, 85

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Zumindest im Untersuchungszeitraum sind diese zeitlichen Organisationsprinzipien sowohl produktionsästhetisch als auch rezeptionsästhetisch und historisch in Kraft, das mag sich im Zeitalter des Hypertexts allmählich verschieben. Zeit hat eine komplexitätsreduzierende Funktion: Dass Oszillationssymbole in Texten als ›Eisberge‹ erscheinen, deren tiefer liegendes Archiv später von anderen Texten freigelegt werden kann, löst deswegen eine schwer beherrschbare Komplexitätsexplosion aus.

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sind hier für die im Folgenden zu entwickelnde Vorstellung von Öffentlichkeit entscheidend: Das Oszillationssymbol ist ein wichtiger Vermittler zwischen den Systemen und stellt ein beliebig aktivierbares Netz an Bedeutungen dar. Insofern ist es auch als Kopplungseffekt zu verstehen, das virtuell Systeme verbindet und somit einen Raum erschafft, der gesellschaftliche Ganzheit rekreiert. Auf diesen virtuellen Raum greift die Literatur zu, selektiert (in permanenter Referenz auf die virtuelle Menge, aus der selektiert wurde) und differenziert nach systeminternen Kriterien. Es ist die vom Literatursystem inkludierte Spannung zwischen dem historischen, aber zugleich anachronistischen Oszillationssymbol und der zu erschließenden Historizität der Literatur, um die es hier geht. 4.1.

Oszillationssymbol im systemtheoretischen Kontext

Mit seiner funktionsgeschichtlichen Orientierung stellt Luhmanns Zugriff ein grundlegendes Beschreibungsmodell dar, insofern mit ihm zentrale systemische und individuelle Probleme der Modernisierungsprozesse präzise erfasst werden können: Seine Überlegungen sind ein wichtiger, heuristischer Ausgangspunkt, um das Terrain zu sondieren und zu skizzieren, warum sich individualitätsgeschichtlich spezifische Prämissen irreversibel verschieben. Damit korrespondiert die Fragerichtung dieser Arbeit, die sich mit historisch re-akzentuierten und neu ausgerichteten semantisch-axiologischen Formationen beschäftigt. Luhmanns Terminologie gibt ein Beschreibungsinstrumentarium an die Hand, wenn es um die Permeabilität von Text und Umwelt geht. Dieser grundsätzlichen Konzeption ruht das Oszillationssymbol auf, wobei Letzteres speziell und ausschließlich die ästhetisch getragenen Kopplungen, Interpenetrationen bzw. Systembeziehungen bezeichnen soll. Wie Luhmanns Symbolbegriff bezeichnet auch das Oszillationssymbol grundsätzlich die selbstreflexive87 Präsentation der Einheit einer Differenz; auf diese Weise ist allerdings der hier entscheidende Beobachtungsausschnitt nicht genau genug erfasst – auch Luhmanns Konzeption des symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium, die in dieser Arbeit etwa dem Terminus ›Liebe‹ zugrunde liegt und die voraussetzt, dass für das »Erreichen der Wahrscheinlichkeit von hochunwahrscheinlichen Sinnselektionen […] eine Mehrheit von darauf spezialisierten Codes ausgebildet werden«88 muss, 87 88

In Luhmanns Terminologie ist damit der re-entry der Unterscheidung in das Unterschiedene gemeint. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1. S. 317–318.

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hilft bei der Definition des zu beobachtenden Phänomens nur bedingt:89 Das Oszillationssymbol Vater hängt zwar eng mit entscheidenden symbolisch generierten Kommunikationsmedien (wie sie Luhmann für die modernen Gesellschaften festhält) zusammen und rekurriert dabei auch auf spezifische Medien (besonders etwa Liebe, Wahrheit, Macht);90 der Schwerpunkt hier richtet sich aber weniger auf die zum symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium analoge Funktion des Oszillationssymbols »Vaters« (verkürzt im Sinne einer Herstellung von Wahrscheinlichkeit einer Kommunikation im Kontext eines adaptiven Polymorphismus), sondern auf die historischen Verschiebungen, die Ein- (und vorübergehenden Aus-)gliederungen sowie Umstrukturierungen in einem ästhetisch konfigurierten Archiv, das in individuellen ästhetischen Texten greifbar wird. Die produktive Evidenzerzeugung im Kunstwerk (als Oszillationssymbol) unterscheidet sich in diesem Sinne von der Überbrückung der Differenz von Motivation und Selektion, die jene »Erfolgsmedien«91 determiniert. Es ist also gerade die Überlappung von Kunst- und Symboltheorie (und den beiden inhärenten Ausdifferenzierungsprozessen), die eine terminologische Zuspitzung zum Oszillationssymbol pragmatisch erscheinen lässt. Dabei bleibt Luhmanns historischer »Symbol«-Begriff weitgehend unberücksichtigt. In ›Kunst der Gesellschaft‹ versucht er, die Ausdifferenzierung des Kunstsystems mit verschiedenen semantischen Entwicklungen in Verbindung zu bringen. Als symbolisch bezeichnet er dabei eine Kunst, »die ihre Werke benutzt, um Unzugängliches (Unvertrautes, Unbeobachtbares) im Zugänglichen gegenwärtig sein zu lassen. Symbolisches hat immer mit der Einheit einer Differenz zu tun, hier […] der von zugänglich und unzugänglich.«92 Die symbolische Kunst (im Gegensatz zu einer Kunst, die sich als Zeichen versteht, oder dann einer Kunst, die sich auf das Ausprobieren von Formenkombinationen verlegt)93 siedelt Luhmann vor der Phase ihrer Ausdifferenzierung an; seine historischen Überlegungen (obwohl anschlussfähig) werden hier – aus pragma89 90

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Luhmann spricht in diesem Sinne von einem »adaptive polymorphism«. Ebd., S. 318. Diese symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien überwinden, wie gesagt, die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation (die sich in komplexen modernen Gesellschaft verschärft ergibt), indem sie »eine Differenz überbrücken und Kommunikation mit Ausnahmechancen ausstatten. Sie begnügen sich nicht, wie die Sprache, damit, unter hochkomplexen Bedingungen und einer erst ad hoc gewählten Kommunikation hinreichendes Verstehen sicherzustellen.« Ebd., S. 319. Dabei gilt natürlich, dass an deren Genese wiederum Kommunikationen aus dem Kunstsystem beteiligt sind. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 273. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 271.

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tischen Gründen – ausgeblendet. Eine (fraglos lohnende) Untersuchung der Evolution von den emergenten ästhetischen Formen im Zuge der Ausdifferenzierung des autopoietischen Kunstsystems ist nicht Gegenstand dieser Studie. Für das Modell des Oszillationssymbols »Vater« ist es gleichermaßen bedeutsam, dass das Kunstsystem auf Beobachtungen/Kommunikationen der Umwelt und anderer Systeme rekurriert und dass die Umwelt des Kunstsystems (d. h. andere Systeme) auf dessen ästhetisch bereit gestellte Evidenzeffekte zurückgreift. Dass die funktional differenzierte Gesellschaft sich nicht mehr als Ganzes beobachten kann,94 ist die hier entscheidende Facette der (von psychischen und sozialen Systemen observierten) modernen Entfremdungsproblematik, deren Erfassung und Erklärung mit Luhmann so überzeugend gelingt. Dennoch bleibt komplementär zu dieser »Systemperspektive«95 ein semantisches Korrelat denkbar, das sich aus den Verbindungen zwischen allen Systemen96 in ihrer Gleichzeitigkeit ergibt.97 Das Oszillationssymbol bezieht sich genau auf diesen synchronen, synergetischen, historischen, kollektiv generierten Effekt, der einen gesamt-gesellschaftlichen Wertehorizont hervorbringt. Die hier vorliegende Arbeit operiert speziell im Feld von Wertungsprozessen, die einen übersystemischen Synergieeffekt produzieren. Das Oszillationssymbol, durch das diese Beschreibungen/Wertungen beobachtbar werden, ist ein Teil dieses semantischen Effekts und gleichzeitig ist der semantische Effekt ein wichtiger Teil des Oszillationssymbols. Mit ihm können systemimmanent (d. h. hier: im Text) Verschiebungen in der Umwelt beobachtet und gesamtgesellschaftliche, historisch-axiologische Prozesse beschrieben werden. Im Radius von Luhmanns Überlegungen, mit denen die Entfremdungserfahrungen im Zuge der modernen Individualität benannt und erklärt werden können,98 rücken also besonders die synchronen, synergetischen 94 95 96 97

98

Vgl. zu diesem komplexen Bereich auch Harry Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann. München 2004, besonders S. 57–105. Damit ist die Perspektive gemeint, die sich auf die autopoietischen Systeme und ihre jeweiligen Eigenwerte bezieht. Diese Verbindungen werden von Luhmann als Kopplungen, Interpenetrationen bzw. Systembeziehungen konzipiert. Denn genau diese verschiedenen Formen der Verknüpfung bestehen synchron zwischen mehreren Systemen und in verschiedensten Kombinationen untereinander. Der Effekt dieser Interferenz wird in Luhmanns Modell vor allem in den Systemen beobachtbar. Vgl. dazu auch besonders das Kapitel zu Intimität und Individualität.

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(von den sozialen Sinnsystemen zusammen bereitgestellten) Emergenzeffekte bei einer »gesamtgesellschaftlichen«99 Selbstbeschreibung in den Blick. Die Gesellschaft (als die Gesamtheit ihrer internen System/Umwelt-Verhältnisse)100 mag in der Gesellschaft nicht mehr vorkommen: Dieser Leerstelle jedoch arbeiten die Kommunikationen in den einzelnen sozialen Sinnsystemen entgegen und kreieren auf diese Weise vorherrschende, in zahllosen Systemen semantisch rekurrente Formationen. Aus diesen Schnittstellen, Homologien und Analogien der Systeme ergibt sich wiederum ein emergenter, semantischer Horizont als Gegenstück zum Fehlen der Gesellschaft in der Gesellschaft.101 Es wird hier ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass die diversen Öffentlichkeiten, die Luhmann voraussetzt,102 einen Gesamteffekt erzielen, der für die Gesellschaft selbst normativ103 wirkt. Diese Form des Konglomerats verschiedener Öffentlichkeiten (die in das Oszillationssymbol eingehen) limitiert und bestimmt die systeminternen Werte- und Selektionsprozesse entscheidend mit (und vice versa).104 Im Folgenden geht es auch um diese Etablierung 99

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Damit ist hier nicht monolothisches Einvernehmen gemeint, sondern diskursive und konterdiskursive Schaltstellen, die allen Systemen gemeinsam sind, deren Themen von ihnen verhandelt und von ihnen adaptiert werden. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt am Main 1989, S. 158 im fortlaufenden Text zitiert als GS mit der entsprechenden Seitenzahl. Vgl. dazu auch das Folgende. Auf der Notwendigkeit, ein solches Pendant zu denken, besteht in diesem Sinne etwa auch Jürgen Habermas, wenn er es ablehnt, »das Konzept der Selbstrepräsentation der Gesellschaft überhaupt fallenlassen zu müssen. Öffentlichkeiten lassen sich als höherstufige Intersubjektivitäten begreifen. In ihnen können sich identitätsbildende kollektive Selbstzuschreibungen artikulieren. Und in der höher aggregierten Öffentlichkeit auch ein gesamtgesellschaftliches Bewußtsein […]. Durch dieses wie auch immer diffuse und in sich kontroverse Gesamtbewußtsein kann die Gesamtgesellschaft normativ Abstand zu sich selbst gewinnen und auf Krisenwahrnehmungen reagieren, also genau das leisten, was Luhmann ihr als sinnvolle Möglichkeit bestreitet.« Jürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne. In: Philosophischer Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985, S. 390–425, hier S. 425. Hier wird nicht davon ausgegangen, dass Luhmanns System diesen Zugriff per se ausschließt, aber es ist zu konzedieren, dass er bei ihm (aus Gründen der Fragerichtung) eher unterbeleuchtet bleibt. Öffentlichkeit wird bei Luhmann in diesem Sinne als gesellschaftsinterne Umwelt sozialer Systeme verstanden. Normativ wird hier im Sinne eines Paradigmas verstanden, das ständig verhandelt, nuanciert und schließlich auch verschoben wird: Genau um diese Verschiebungen geht es in dieser Arbeit. Damit sind also nicht die Begrenzungen der autopoietischen Systeme oder ihre generellen systeminternen Strukturbildungs- oder Veränderungstendenzen gemeint. Nach Luhmann wirkt die jeweilige Umwelt auf das entsprechende System ein, indem es dessen operativen und strukturellen Möglichkeitshorizont beschränkt. Ein Structural drift wäre in diesem Sinne dann konzeptuell die Möglichkeit einer evolutiven Veränderung durch strukturelle Kopplungen mit anderen Systemen.

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eines gesellschaftlichen Möglichkeitshorizonts, die von allen Systemen kollektiv geleistet wird.105 Kurz: Mit dem Oszillationssymbol wird eine gesamtgesellschaftliche, semantische Perspektive hervorgehoben und besonders markiert. Dies ist freilich auch bei Luhmann angelegt: »Das Kunstsystem vollzieht Gesellschaft an sich selbst als exemplarischem Fall. Es zeigt, wie es ist. Es zeigt, auf was die Gesellschaft sich eingelassen hatte, als sie Funktionssysteme ausdifferenzierte und sie damit einer autonomen Selbstregulierung überließ. Es zeigt an sich selbst, dass die Zukunft durch die Vergangenheit nicht mehr garantiert ist, sondern unvorhersehbar geworden ist. […] Wer dies wahrnehmen kann, sieht in der modernen Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft.«106 Das Oszillationssymbol rückt diese Dimension nunmehr ins Zentrum. Der Vorab-Entwurf der textlichen »Vaterfigur« als Oszillationssymbol ist deshalb sinnvoll, weil in der Konvergenz und Divergenz seiner Attribute ein spezifischer wechselseitiger Zusammenhang zwischen Allgemeinem und Besonderem indiziert wird: Der »Vater« als eine individuelle Figur partizipiert dabei gleichzeitig an Ritualen, die sich auf die historischgesellschaftliche Vaterrolle beziehen. Auf diese Weise werden das Individuum und seine Rolle überblendet und akzentuieren jeweils andere Aspekte im Set der Eigenschaften und Werte. Als Oszillationssymbol stellt der »Vater« damit Möglichkeiten für die Repräsentation und Konkretion für spezifische »Wirklichkeiten« bereit und macht die gesellschaftliche Realität über ein literarisches Konstrukt wieder ästhetisch sinnfällig.107

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Hier nähert sich meine Arbeit wiederum soziologischen Modellen an, die eine Gesamtgesellschaft stärker akzentuieren wie etwa Talcott Parsons: The Social System. London 1970. Nichtsdestoweniger bietet Luhmann hier unentbehrliche Untersuchungsterminologien mit Fokus auf die systeminternen Kommunikationen. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 3Frankfurt am Main 1999, S. 499. Vgl. dazu auch Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst. In: Delfin 4 (1986), S. 6–15. In meinem Buch geht es, komplementär dazu, vor allem um das Gegenstück dazu, nämlich um den mit anderen Systemen gemeinsam erzeugten semantischen Horizont, der sich dann wiederum als an sich selbst vollzogene Gesellschaft im Kunstsystem beobachten lässt. Es ist somit kein Zufall, dass diese evidente Repräsentationsleistung des Vaters auch in anderen Feldern (Politik) eine Schlüsselrolle spielt. Anhand der Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert kann die gemeinschaftliche Konstruktionsleistung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche besonders gut im Medium der Literatur beobachtet werden.

32

5.

Aufbau und Textauswahl

Die historische Entwicklung, die hier chronologisch nachgezeichnet werden soll, erstreckt sich über fast zwei Jahrhunderte: Um die Inversion des im 18. Jahrhundert grundlegend restrukturieren Oszillationssymbols »Vater« im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfassen und beschreiben zu können, ist dieser lange historische (und damit notwendigerweise hochselektive) Durchgang notwendig. Der Überblick über historisch-ästhetische Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Oszillationssymbols »Vater« soll aus textlichen Mikroanalysen gewonnen und auch primär in ihnen verankert werden – dabei lassen sich der Fragestellung zweifellos zahlreiche Einzeltexte, Textgruppen, -sorten, Gattungen, textliche Themenbereiche etc. unmittelbar oder mittelbar zuordnen. Die Textauswahl erfolgt primär unter den folgenden Kriterien: Kontinuität, Einschlägigkeit und Erklärungsbedürftigkeit. Gattungs- oder Institutionsgeschichte (wie etwa die des Theaters im 18. und 19. Jahrhundert) kann aus pragmatischen Gründen nicht integral berücksichtigt werden. Zu der Frage, inwieweit die Gattung oder der Präsentationsmodus auf die Herausbildung einer spezifisch bürgerlichen Werte- und Gefühlswelt, in welcher der Vater seinen Platz findet, Einfluss nimmt, wird auf bereits Vorliegendes zurückgegriffen. Dementsprechend findet sich in diesem Ansatz keine gattungsspezifische Begrenzung, sondern es werden verschiedene Textsorten zugrunde gelegt. Deutlich werden soll vor allem die Entfaltung, Ausbalancierung und Explosion eines spezifischen Paradoxes im Medium der Literatur und ihrer spezifischen narrativen Verfahrensmuster. Dass sich dabei eine Begrenzung auf den deutschen Sprach- und Kulturraum ergibt, ist ebenfalls dem Versuch geschuldet, einen historischen Bogen nachzuzeichnen. Trotz überdeutlicher Parallelen, die sich in anderen nationalen Kontexten finden lassen, vor allem, was die hier entscheidende, »arbiträre«, »hieroglyphische« Sphäre der bürgerlichen Wertesysteme108 angeht, erweist sich die Entwicklung des »Vaters« als grundlegend different. Querbezüge zu anderen Literaturen werden hier zwar intertextuell und historisch (bei Ereignissen europäischen Zuschnitts, wie etwa der Französischen Revolution) hergestellt, allerdings ohne dabei einen syste108

So heißt es etwa über die New Yorker Gesellschaft der 1870er in Edith Whartons ›Age of Innocence‹ (1920) analog zu den erstarrten deutschen Mustern: »In reality they all lived in a kind of hieroglyphic world, where the real thing was never said or done or even thought, but only represented by a set of arbitrary signs.« Edith Wharton: The Age of Innocence. Oxford 2008, S. 32.

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matischen Ausblick zu wagen: Die historisch-kulturellen Szenarien erweisen sich als zu verschieden und es bedürfte für die europäischen und nordamerikanischen Kontexte sowie die entsprechenden Literaturen erst einer sorgfältigen Reevaluierung unter der hier vorliegenden Fragerichtung. Kontinuität Zum einen geht es darum, einen möglichst kontinuierlichen Überblick über die hier thematischen Entwicklungen zu vermitteln. Abgesehen von diskursiv-ästhetischen Knotenpunkten um 1800, 1850 und 1900 (alle im Kontext wesentlicher historischer Transformationen) lassen sich auch in den »Zwischenzeiten« Momentaufnahmen erstellen, in denen die Nuancierung und die Implementierung von neuen Vorstellungen greifbar werden.109 Wie komplex sich diese Übergänge gestalten, wird wiederum besonders um 1800 im Kontext der Französischen Revolution und den nachfolgenden Versuchen deutlich, politische Strukturen im Abgleich mit familialen Modellen zu denken: Diese Übergangskapiteln operieren – anders als die stärker autorenzentrierten Kapitel – mit mehreren Autoren und Texten, deren Interpretation dann – auf die Fragestellung verdichtet – erfolgt. Einschlägigkeit Dass (weitestgehend) auf exemplarische und (manchmal verzögert) wirkungsmächtige Texte zurückgegriffen wird, erklärt sich nicht nur über die Dichte, mit der in ihnen das Oszillationssymbol »Vater« in Erscheinung tritt; vielmehr hat es auch damit zu tun, dass mit dieser »Kanonizität« ästhetisch produzierte Formeln allgemein akzeptabel und verfügbar gemacht werden. Ästhetische Widerständigkeit und Evidenz gehen hierbei Hand in Hand – in diesem Sinne wird im Verlauf dieser Arbeit auch immer wieder eine retrospektive Verbindung zu Gründungstexten bürgerlicher Paternalität (etwa ›Emilia Galotti‹, ›Don Karlos‹ etc.) hergestellt. 109

Dies geschieht für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa mit einem Blick auf den Komplex von Majoratserzählungen, der die Vielschichtigkeit der Vaterfunktionen (im Kontext von tradierten, juristischen Diskursen) und das parallele Festzurren der bürgerlichen Werteordnung paradigmatisch auf einem rechtlichen Feld abbildet, gleichzeitig aber auch ein erstes Aufflackern von neuen, später zunehmend wichtigen Diskursen indiziert. In der Vielstimmigkeit dieser chronologischen, intertextuell aufeinander verweisenden Reihe von Majoratserzählungen wird im übrigen auch zugleich das intrikate Kontinuum augenfällig, in dem sich die paternalen Muster in Auseinandersetzung mit immer neuen Phänomenen und Paradigmen ausdifferenzieren.

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Erklärungsbedürftigkeit Zum dritten mag sich aus diesem Kriterium der Einschlägigkeit die Frage ergeben, warum bestimmte Komplexe nur kursorisch umrissen werden. Entsprechende Selektionen sind hier wiederum zurückzuführen auf das Maß an Erklärungsbedürftigkeit eines Phänomens – ausgewählt wurden also vor allem einschlägige, in einer spezifischen Kontinuität stehende Texte, anhand derer bisher von der Forschung kaum berührte Perspektiven aufgezeigt werden können.110 Angesichts ihrer umfangreichen Erschließung fehlt hier somit etwa eine der wirkungsmächtigsten Gattungen im deutschen Sprachraum, der Bildungsroman. Sein Fokus liegt (abweichend von der Hauptfragerichtung dieser Arbeit) vor allem auf dem »zukünftigen Vater«, dessen Bildungsgang immer zunächst als Entfernung aus dem Elternhaus und damit auch dem direkten Interaktionsfeld des Vaters konzipiert wird. Dieses (durch räumliche Trennung forcierte) Entwicklungsstadium bezeichnet ein spatiales und substantielles Diffundieren aus der paternalen Ordnung/Ortung, das schließlich die eigene (paternale) Setzung überhaupt erst erlaubt.111 Trotzdem fügt sich die Bildungsromanthematik in ihrer Entwicklungsdimension, die das Individuelle entelechisch und im Einklang mit der Gemeinschaft hervorzubringen versucht, (wenn auch gattungsunabhängig) nahtlos in diese Arbeit ein, wie maßgebliche, spätere Adaptionen, etwa Stifters ›Nachsommer‹, verdeutlichen: Zu Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ findet sich dementsprechend ein knappes Kapitel im Abschnitt zur Französischen Revolution112 (das natürlich Goethes epochales Romanprojekt nicht in seiner gesamten Komplexität zu erörtern versucht, sondern lediglich mit Blick auf die Vaterfrage streift). Hier wird angedeutet, welches teleologische Vatermodell den Bildungskonzeptionen zugrunde liegt und wie es hochinnovativ mit den politischen Umstrukturierungen kommuniziert – verhandelt wird in dieser Arbeit also vor allem diese neu akzentuierte, erklärungsbedürftige 110

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112

Dabei bleibt es trotzdem nicht aus, dass zeitliche und inhaltliche Lücken entstehen und Perspektiven auf prominente Vaterkonzeptionen (etwa im Sturm und Drang, im Naturalismus, in der Literatur der Jahrhundertwende und der literarischen Dekadenz) fehlen – das heißt aber keineswegs, dass sie sich nicht in die hier entwickelten Muster einfügen; vielmehr können sie auch in den beschriebenen Koordinaten platziert und entwickelt werden. Die Majoratserzählungen etwa, denen ja – zumindest bei Tieck und Stifter – ebenfalls eine integrale Bildungsthematik unterlegt ist, verfahren hier nuanciert anders, insofern bei ihnen das durchgehend durch die Stiftung präsente »väterliche« Gesetz thematisch bleibt. Vgl. dazu das Kapitel Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹.

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Koppelung von paternalen und fraternalen Modellen (bzw. der Kontinuität des Paternalen im Fraternalen). Wie die Absenz des Bildungsromans als formatives Gattungsmuster muss auch der proportional eher kleine Abschnitt zum Expressionismus auffallen. Dass sich fast alle expressionistischen Texte um die hier verhandelten Probleme gruppieren und in deren Spannungsfeld produktiv gedeutet werden können (und wurden), steht außer Frage. Hier geht es allerdings vor allem darum zu zeigen, wie in den Texten unter den Schichten des schon oft Beobachteten und Interpretierten neue Strategien entwickelt werden, mit denen der (im Bannkreis von Freuds ›Totem und Tabu‹ verdichtete) Dualismus von Vatersehnsucht und Vaterhass austariert wird. Vor diesem Hintergrund, quasi gegenläufig zur Textoberfläche werden die Sehnsucht und die von den Texten inhärent ausgelotete Möglichkeit einer paternal-filialen Versöhnung akzentuiert, also Elemente, die eine Entparadoxierung der zunehmend widersprüchlichen Mehrfachkodierung des »Vaters« auch vor dem Hintergrund der topischen, expressionistischen Vaterfeindschaft denkbar erscheinen lassen. In dieser Deutungslinie werden die Texte neu auslegungsbedürftig, und im Rekurs auf diese Erklärungsbedürftigkeit (und eben komplementär zu den einschlägigen, bereits vorliegenden Deutungsmustern in der Sekundärliteratur) scheint die Verdichtung auf zwei repräsentative Beispiele im Sinne der Argumentationslinie gerechtfertigt – erst bei Kafka wird der bürgerliche »Vater« schließlich endgültig in ein ästhetisch präsentiertes Paradox überführt. Das bezeichnet dementsprechend, trotz zahlloser, mit den hier beschriebenen korrelierenden, nachfolgenden Phänomenen, den Endpunkt dieser Studie.

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II.

Der bürgerliche Vater

Familie als bürgerliches Konzept ist in funktionaler Hinsicht immer einer doppelten Perspektive unterworfen. Die Binnenperspektive beschreibt den kompensatorischen Gewinn der neuen Familienform, die von einer zunehmenden Emotionalisierung und Intimisierung im 18. Jahrhundert mitbedingt wird und sie zugleich zu befriedigen strebt. Die Außenperspektive nimmt die bürgerliche Familie wiederum in zweifacher Weise wahr: auf der einen Seite als zentraler diskursiver Fokus für die sich herausbildende Wertegemeinschaft des Bürgertums, auf der anderen Seite als hochfunktionaler Teil der sich herausbildenden Gesellschaftsordnung. Denn die Familie bietet einen wichtigen Zugriff für biopolitische, disziplinierende Eingriffe der Regierung.1 Als emotional re-kreierender Binnenraum und als staatlich regulierbare Entität erscheint die Familie in einer Momentaufnahme am Ende des 18. Jahrhunderts also in eigentümlicher Weise als affirmativ und als ultimativ kritisch.2 Seit ihrer Emergenz im 18. Jahrhundert hatte die bürgerliche Familie3 dementsprechend nicht nur die Funktion, ›Keimzelle des Staates‹ und Produzent einer neuen Wirtschaft und moderner Bürokratie zu sein, 1

2

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Vgl. dazu Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977/1978. Hrsg. von Michel Sennelart. Übersetzt von Claudia Brede-Konersmann, Jürgen Schröder. Frankfurt am Main 2006. Und M.F.: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II: Vorlesung am Collège de France 1978/1979. Hrsg. von Michel Sennelart. Übersetzt von Claudia Brede-Konersmann, Jürgen Schröder. Frankfurt am Main 2006. Vgl. dazu u. a. resümierend Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 1. München 1999. »Die bürgerliche Gesellschaft ist eine Kopfgeburt« – diese Diagnose Ute Freverts gilt auch für ihre viel beschworene Keimzelle, die bürgerliche Familie, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich – zunächst diskursiv und schließlich auch realiter – als Reaktion auf die gesellschaftshistorischen Umstände herausbildet. Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Hrsg. von U.F. Göttingen 1988, S. 17–48, hier S. 17. Das Modell nimmt sich in der Realität in der Tat oft abweichend von den propagierten Leitlinien aus: Vgl. William H. Hubbard: Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. München 1983. Zudem: Heinz Reif (Hrsg.): Die Familie in der Geschichte. Göttingen 1982.

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die sich den Erfordernissen kapitalistischer Wirtschaft und moderner Bürokratie anpasst, sondern sie wird auch durchgehend bis ins 20. Jahrhundert als eine Gegenkonstruktion zu den Versachlichungsprozessen der Moderne verstanden.4 Angesichts dieser Doppelfunktion der Familie muss die diskursive Legitimierung des Vaters ambivalent bleiben: Er irisiert zwischen »Herrschaft und Zärtlichkeit« (wie Bengt Algot Sørensen die wesentlichen Aspekte der Vaterrolle im Drama des 18. Jahrhunderts definieren würde) und damit zwischen zwei komplementären und gleichzeitig konkurrierenden Ansätzen. In der väterlichen Zärtlichkeit gegenüber den Kindern manifestiert sich eine private Funktion; paradoxer Weise wird diese interne Legitimation im Zeichen der Herrschaftsferne zum ultimativen Machtmittel der Familie (insofern es die Kompensationsfunktion der Familie stärkt) und schließlich auch für den Familienvater, der die Familie nach außen vertritt. Dass der sich neu etablierende Vatertypus im 18. Jahrhundert gleichzeitig – trotz der Grundlegung im Patriarchalismus – eine emanzipatorische, bürgerliche Ideologie propagiert, gehört zu den zentralen Widersprüchen der neuen Väterlichkeit: Die doppelte Kodierung von Väterlichkeit als Machtpraxis im Zeichen der Befreiung und Unterdrückung bringt in diesem Sinne in den folgenden Jahrhunderten immer stärkere Ambivalenzen hervor. Insbesondere Reiner Wild hat auf den »Sekundärpatriarchalismus«5 der Aufklärung hingewiesen, der dem Umstand Rechnung trägt, dass die Trennung von Erwerbssphäre und Haushaltssphäre den Vater in der Familie neu positioniert:6 Die paternale Vorherrschaft wird somit anders generiert, vor allem, indem über Erziehung spezifische Werte verinnerlicht werden. Auf diese Situation antwortet zum Beispiel »die aufgeklärte Kinderliteratur mit dem Postulat der väterlichen Dominanz in der familiären Erziehung«.7 4 5

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Yvonne Schütz: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts. In: Bürgerinnen und Bürger, S. 118–133, S. 118. Reiner Wild: Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland. Stuttgart 1987, S. 237–241. Vgl. auch Reinhard Sieder und Michael Mitterauer (Hrsg.): Vom Patriarchat zu Partnerschaft: Zum Strukturwandel Familie. 2München 1980. Wild führt aus, dass der Patriarchalismus, der sich zuvor innerhalb der Familie ökonomisch validierte, nun auf der ökonomischen Position des Vaters außerhalb der Familie basiert. Wild, Vernunft der Väter, S. 367. Wild, Vernunft der Väter, S. 238.

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Die sich immer deutlicher manifestierende, historisch-reale Entfernung des Mannes aus der Familie8 wird nach Wild in der edukativen Logik der Aufklärung durch eine verstärkte, literarisch gewährleistete Internalisierung eines spezifischen Vaterkonzepts kompensiert. Die sich zunehmend abstrahierenden sowie funktionalisierenden Lebenswelten und die de facto auf Abwesenheit angelegte, historisch-soziale Rolle des Vaters treten auch in einen Widerspruch zu einer Hauptfunktion der Vaterfigur in den hier behandelten Texten des 18. Jahrhunderts, in denen die konkrete Präsenz der Väter von entscheidender Bedeutung ist (vor allem auch mit Blick auf spätere Konzepte, die dann Staat und Familie analogisieren). Wenn Wild anhand von aufklärerischer Kinderliteratur demonstriert, wie Literatur zum »Vaterersatz«9 wird, zeigt er historisch eine Mediatisierung des konkreten Vaters zu einer Vater-Funktion auf, die in der Folge zu Brüchen im Erwartungshorizont führt (und die auch explizit in der Literatur als immer stärker artikulierte, pathologische Abstraktion von Väterlichkeit diskutiert wird). Diese muss vor dem Hintergrund der hier zu entwickelnden konkret-integrativen Funktion des Vaters in den Texten als problematisch empfunden werden. Der Fokus10 auf die prominenten und wirkungsmächtigen bürgerlichen Trauerspiele11 von Lessing und Schiller (›Miß Sara Sampson‹, ›Emilia 8

9 10

Vgl. dazu für das 19. Jahrhundert Gunilla-Friederike Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914. Göttingen 1994. Vgl. zu der ähnlichen Entwicklung in England Claudia Nelson: Invisible Men. Fatherhood in Victorian Periodicals. 1850–1910. Athens 1995. Vgl. dazu Wild, Vernunft der Väter, S. 250–255: »Literatur als Vaterersatz«. Zur Gattungsfrage vgl. Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart 1980, S. 1–59. Die dem Terminus anhängigen Probleme können nach den Ausführungen Cornelia Mönch – mag man ihren Systematisierungsversuchen auch skeptisch gegenüberstehen – zumindest für diese Fragestellung ausgeblendet werden: Unter bürgerlichem Trauerspiel wird hier die moralisch signifikante Inszenierung von Privatheit (ohne expliziten politischen Anspruch) mit Trauerspielcharakter verstanden. Dies scheint in vielerlei Hinsicht legitim, v. a. auch deswegen, weil es einem akzeptierten, zeitgenössischen Selbstbeschreibungsmodus entspricht. (Christian Heinrich Schmid: Litteratur des bürgerlichen Trauerspiels. In: Deutsche Monatsschrift, Dez. 1798, S. 282–314.) Wenn Mönch dabei die Vorbildfunktion Lessings bestreitet (vgl. Cornelia Mönch: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993, S. 18–29), so berührt dies ein zweites Problem meines Ansatzes: Der hier vorwaltende Fokus auf die sogenannten Höhenkamm-Texte scheint gerade mit Blick auf die soziologischen Implikationen fragwürdig. Insofern hier weder die Klassifikation noch die Vorbild-Funktion der drei bekanntesten Trauerspiele in ihrem Kontext im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Verdeutlichung eines spezifisch wirkungsmächtigen Vater-Prinzips, scheint diese heuristische Reduktion zulässig. Vor diesem Hintergrund kann natürlich auch die komplexe und heterogene Masse an Trauerspielen nicht annähernd repräsentativ wiedergegeben werden – obwohl sich in ihnen in Variationen Aspekte fin-

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Galotti‹, ›Kabale und Liebe‹) ist in diesem Kapitel bewusst gewählt, insofern es hier um Modellvorgaben mit Blick auf die Vaterrolle in ihrer diachronen Wirkungsmächtigkeit geht. Zugleich müssen spezifische Gattungsentwicklungen, die jene zur Diskussion stehenden Trauerspiele betreffen, berücksichtigt werden.12 Es geht hier um Kräftefelder, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts indirekt wirksam bleiben. Insofern kann der Blick auf einzelne literarische Gründungstexte in diesem Spannungsfeld, die sich als besonders wirkungsmächtig erwiesen haben, natürlich nicht die komplexe Anatomie eines so divergenten Gebildes wie des bürgerlichen Vatermodells liefern. Anhand der machtpolitisch-diskursiven Einordnung jedoch können verschiedene Elemente am Text neu hervorgehoben und im Kontext plausibilisiert werden. Auf der Basis ausgewählter Texte sollen im Folgenden zwei Aspekte von moderner Vaterschaft besonders beleuchtet werden: Väterliche Liebe, deren emotionale Qualität einen Schulterschluss mit spezifischen Tugendvorstellungen vollzieht, und väterliche Herrschaft im Rekurs auf politische Herrschaft, die in ihren verschiedenen Facetten (Regierung, Repräsentation, Verkörperung) untersucht werden muss.13

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den lassen, welche die hier vorgeschlagene Interpretation quantitativ stützen. So kann die neue Gewichtung der zärtlichen Vaterrolle quantitativ eine Basis in den »bürgerlichen Trauerspielen« finden, die Elena Vogg untersucht hat: »Die weitaus häufigste und auch kontinuierlichste Vaterfigur ist die des autoritären Vaters. Mit ihm konkurriert in einem Teil der Stücke bis etwa 1770/75 der ›zärtliche Vater‹, eine typische Figur des empfindsamen Trauerspiels. Von jetzt an tritt die Vaterfigur mehr und mehr in den Hintergrund, die ursprüngliche Autorität verblaßt, und die etwas rührselige Figur des ›guten Alten‹ wird favorisiert. Autoritäre Väter werden nun sehr negativ akzentuiert und wirken unbeliebt, tyrannisch und egoistisch.« Vogg, Die bürgerliche Familie, S. 59. Vgl. das folgende zum spezifisch bürgerlichen Politisierungsgehalt in Abweichung zu älteren Ansätzen in der Sekundärliteratur wie – vielleicht am prominentesten – Lothar Pikulik: ›Bürgerliches Trauerspiel‹ und Empfindsamkeit. Köln, Graz 1966. Hartmut Reinhardt: Märtyrerinnen des Empfindens. Lessings ›Miß Sara Sampson‹ als Fall von Richardson-Rezeption. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems. Tübingen 2006, S. 343–375, hier S. 343. Insbesondere Cornelia Mönch und Elena Vogg haben bei der Untersuchung von bürgerlichen Trauerspielen anstelle sich auf die Höhenkamm-Texte zu konzentrieren, eine umfangreiche Materialbasis untersucht, um einen gattungstheoretischen Zusammenhang zu etablieren bzw. historische Verschiebungen in einem repräsentativen Kontext beobachten zu können: Dies kann und soll hier nicht geleistet werden. Cornelia Mönch gründet ihre Ausdifferenzierung dabei auf das fraglos wichtige, hier allerdings zu vernachlässigende philosophisch-poetologische Konzept der poetischen Gerechtigkeit. Vgl. u. a. Inge Stephan: »Die Beobachtung, daß der politische Emanzipationskampf in Deutschland als moralische Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum ausgetragen wurde, läßt sich insbesondere am bürgerlichen Trauerspiel verifizieren.« I.S.: »So ist die Tugend ein Gespenst«: Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller. In: Lessing Yearbook 17 (1985), S. 1–20, hier S. 13. Vgl. zu diesem Aspekt das Kapitel Der Vater als Herrscher.

40

1.

Vaterschaft im Zeichen von ›Tugend‹ und Individualität (Lessing: ›Miß Sara Sampson‹, ›Emilia Galotti‹)

Am Anfang steht somit noch einmal Sørensens Bestimmung von Vaterschaft im 18. Jahrhundert als von »Herrschaft und Zärtlichkeit« getragenes Phänomen: Damit beschreibt er ein Kennzeichen des Patriarchalismus, der ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abweichend von der alten patriarchalischen Formel »Furcht und Liebe«14 emotionalisiert wird,15 so wie es etwa Otto von Münchhausen in seinen pragmatischen Überlegungen zum »Hausvater« als »huldreiche[n] Herr[n] und Beschützer, mehr geliebt und geachtet, als gefürchtet«16 bereits im Kontext der Hausväterliteratur andeutet. Die zunehmende Ausdifferenzierung von Sozialsystemen für Intimität bildet neue Kommunikationsformen aus, mit denen der modernen Individualität adäquater Ausdruck verliehen werden kann.17 Diese Kommunikationsroutinen verweisen auf der einen Seite auf eine sich verändernde gesellschaftliche Situation; zugleich nehmen sie allerdings auch selbst Einfluss auf die Ausbildung von Verhaltenscodices und Erwartungshaltungen. Im Kontext dieser Arbeit können die historische, strategische und kompensatorische Schichtung von sozialen Rahmenbedingungen, Motiven und Motivation sowie emotionale, rhetorische und rationale Mechanismen, mit den gesellschaftlichen Umbrüchen umzugehen, nicht einmal ansatzweise erhellt werden; mit Blick auf die Entwicklung des Vaterskonzepts soll in diesem Sinne nur auf zwei Effekte der Emotionalisierung eingegangen werden: 14 15

16 17

Vgl. dazu Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984, S. 34–39. Vgl. dazu Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit. Übersetzt von Caroline Neubaur und Karin Kersten. München, Wien 1975. Lawrence Stone: The Family, Sex and Marriage in England. 1500–1800. New York 1977. Rebekka Habermas kann exemplarisch in ihrer Untersuchung zeigen, dass diese Emotionalisierung ein Anspruchsdenken darstellte, wobei sich die Realität diesen Normen nicht zwangsläufig fügte. R.H.: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850). Göttingen 2000. Hier geht es jedoch exakt um die Wirkungsmächtigkeit dieser Vorstellungen, die Wirklichkeit eben zum Teil nicht abbilden, sondern poietisch mit gestalten. Bei der Emotionalisierung handelt es sich um ein diskursives Phänomen, das Hand in Hand mit anderen Modernisierungsprozessen, die Gefühlswelt, Welterfassung und Wahrnehmung betreffen, alle sozialen Mikrobeziehungen zu bestimmen beginnt (und damit auch eine konzeptuelle Adaption des Vaterbildes notwendig macht). Otto von Münchhausen: Der Hausvater. Zweite Auflage. Hannover 1766–1770. Bd. 1, S. XI. Dabei wird eine explizite und auch körperliche Expressivität mit Blick auf die eigenen Gefühle kultiviert.

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1) Individualität – Intimität – Integration in die Familie Zum einen, in reaktiver Hinsicht, ist der kompensatorische Wert dieses Prozesses auf mehrere zunehmend konkurrierende Intimitätsrelationen bezogen: D.h. die sich selbst kommunizierende Individualität bedarf eines systemischen Rahmens, innerhalb dessen sie erfolgreich als individuelle Entität wahrgenommen werden kann. Abgesehen vom Kommunikationsmedium Freundschaft haben wir es hier mit einer sich spezifizierenden Eltern-Kind-Liebe zu tun und mit einem (quasi noch elementareren) Basisbaustein der bürgerlichen Welt: der romantischen Liebe/Ehe. 2) Bürgerliche Werte – Integration in eine Wertegemeinschaft Zum anderen, als Initiation, also in pro-aktiver Hinsicht, wird die gleich noch näher zu beschreibende Emotionalisierung ein entscheidendes Vehikel der sich ausbildenden bürgerlichen Wertewelt, in deren Kontext sich wiederum Schlussfolgerungen für das Menschenbild des 18. Jahrhunderts ergeben. Kurz: Emotionen sind gleichermaßen Ausdruck wie auch Katalysator von Individualität, d. h. bewusst erlebte, kommunizierte und bei anderen beobachtete Emotionen können bestimmte konzeptuelle Werte situativ verifizieren und validieren. Zu 1) Individualität – Intimität – Integration in die Familie Am Rand der modernen (primär funktional differenzierten) Gesellschaft »wird der Mensch nicht mehr als unteilbares Ganzes angesehen, sondern als Individuum vorgestellt, das einerseits als psychisches System und andererseits als Selbstbeschreibungsfolie fungiert, während die Person als Adressat einer system- und situationsspezifischen Kommunikation figuriert.«18 Es ist nunmehr unmöglich, eine Person ausschließlich einem Teilsystem zuzuordnen: »Statt dessen gilt als Postulat und in zunehmendem Maße auch in der Realität das Prinzip der Inklusion aller in alle Funktions18

Markus Schroer: Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt am Main 2001, S. 226. Segmentäre und auch stratifikatorische Differenzierungen sind darauf angewiesen, Personen je einem der Teilsysteme, z. B. der Schicht, zuzuordnen, auf dem dann auch die Identität der Person beruht: Mischexistenzen erweisen sich für beide Differenzierungsformen als problematisch, weil, wie schon gesagt, »zu viel Verhaltenserwartungen an der Person hängen, die ohne Schichtindex nur ein privates Individuum wäre.« Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main 1980, S. 30. Genau darauf aber reduziert die funktionale Differenzierung die persönliche Existenz.

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systeme.«19 Diese Radikalisierung des Inklusionsprogrammes, das in gewisser Weise die Solidarität der exklusiven Gruppenzugehörigkeit ablöst, hat weitreichende Folgen, denen Luhmann in ›Die Gesellschaft der Gesellschaft‹ nachgeht: Jedes Teilsystem des gesellschaftlichen Gesamtsystems postuliert zwar die Inklusion aller Individuen, kann diese allerdings nur noch in Bezug auf die eigenen Operationen leisten. Das führt dazu, dass die Personen keinem Teilsystem mehr zugeschlagen werden können: Die Menschen20 werden aus dem Gesellschaftssystem in dessen externe Umwelt katapultiert, von wo aus sie flexibel in die funktionalen Teilsysteme inkludiert werden können. Das bringt grundsätzliche Probleme mit sich: Da die Gesellschaft aber nichts anderes ist als die Gesamtheit ihrer internen System/Umwelt-Verhältnisse und nicht selbst in sich selbst als Ganzes nochmals vorkommen kann, bietet sie dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als ›gesellschaftliches Wesen‹ existieren kann. (GS 158)

Das Individuum kann deshalb nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden; in der Semantik wird diese neue Situation insofern ablesbar, als aus dem Individuum, d. h. aus einer bekannten Größe, nun eine unbekannte wird, indem es als spontan, inkonstant, als »black box« etc. gekennzeichnet wird: »Gerade der Ausschluß des Individuums aus dem Sozialsystem Gesellschaft ermöglicht dann seinen Wiedereintritt als Wert in die Ideologie.« (GS 159) Vor diesem Hintergrund nun übernimmt die Semantik der Individualität eine kompensatorische Funktion, indem sie sich mit der Pointierung von Einzigartigkeit und Subjektheit den vermehrt komplexen Abhängigkeitsketten entzieht: Sowohl die Inklusion als auch die Sozialisation bezeichnen im Kontext des Differenzierungsformwechsels insofern steigerbare Aspekte, als »bei höherer psychischer und sozialer Komplexität der strukturellen Bedingungen für Autopoiesis und bei entsprechend höheren Kontingenzen aller Strukturen und Elemente die dann fälligen Selektionen mehr psychischen und mehr sozialen Systembedingungen genügen können« (GS 165). Dagegen versteht Luhmann die Individualität als nicht steigerbar: Analog zu den Übergängen der verschiedenen, an die evolutionären Stufen gekoppelten Differenzierungsformen, die nicht eine Steigerung von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, sondern eine Veränderung der Form 19 20

Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main 1980, S. 31. »Wir wählen den Ausdruck ›Mensch‹, um festzuhalten, daß es sowohl um das psychische als auch um das organische System des Menschen geht.« Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 2Frankfurt am Main 1988, S. 286.

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der Differenzierung implizieren, verändert sich lediglich die Individualisierungsform, es handelt sich also um einen nicht quantifizierbaren Qualitätswechsel: Von einer im Laufe der Entwicklung faktisch zunehmenden Individualisierung des Menschen kann in diesem Sinne keine Rede sein; somit versteht Luhmann die Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung zwar als Grund für den Versuch, »Individuen individueller zu denken, zu behandeln, zu institutionalisieren«, hält aber fest, dass es »in Wirklichkeit darum ging, Individualität von Inklusion auf Exklusion umzustellen.« (GS 165) Auf diesen hier zentralen semantischen (den Wechsel der primären Differenzierungsform reflektierenden) Aspekt der Individualität als Selbstbeschreibung gründet sich die anschließende Argumentation, da erst die faktisch dividuelle Existenz des einzelnen in der modernen (d. h. primär funktional differenzierten) Gesellschaft seinen Anspruch auf Individualität und mithin die Selbstbeschreibung als Individuum forciert.21 Identität muss vom Individuum selbst erarbeitet werden. In diesem Sinn unterscheidet Luhmann die ahistorische Individualität, die dem Menschen unabhängig von historischen Umwälzungsprozessen zugestanden werden muss, von dem historischen (im Zuge der Umstellung von einer primär stratifikatorischen zu einer primär funktionalen Differenzierungsform entstandenen) Zwang zur Selbstverortung des Individuums. Die Umstellung von der primär stratifikatorischen auf die primär funktionale Differenzierung der Gesellschaft führt also dazu, dass die traditionellen Selbstverortungsprämissen – Name, Stand, Alter, Geschlecht etc. – nicht mehr für die Selbstidentifikation als Grundlage des eigenen Erlebens und Handelns ausreichen. Der einzelne wird auf die Ebene seines Persönlichkeitssystems verwiesen, um in Differenz zu seiner Umwelt (und in ihrer Handhabung) Bestätigung zu finden. Dabei wird die Paarliebe zu einer wichtigen Größe: ›Liebe‹ als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium erfüllt die Aufgabe, Individualität zu kommunizieren, und bezeichnet einen Code, »nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.«22 Nach Luhmann wird um 1800 das Erkennen von Universalien nicht länger als das höchste Vermögen des Menschen gewertet, sondern »die Fähigkeit zur selbstreferentiel21 22

Vgl. Schroer, Das Individuum der Gesellschaft, S. 268. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 5Frankfurt am Main 1999, S. 23, im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als LP mit der entsprechenden Seitenzahl.

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len Konstitution eines Weltverhältnisses.« (LP 173)23 Die zunehmende Individualisierung des Weltverhältnisses in einer anonym konstituierten Welt lässt allerdings den Erfolg jeder Kommunikation24 als fragwürdig erscheinen.25 23

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Die Probleme der sozialen Identität verlagern sich also nach Luhmann zunehmend in die Zeitdimension, wo sie mit Kontinuität/Diskontinuität offensichtlich ein individualitätsgeeigneteres Schema als Konformität/Abweichung finden: Die moderne Semantik von »Identität« und das gesteigerte Interesse an Biographien liegen nahe, da das psychische System als autopoietisches durch Transitorität gezeichnet ist (vgl. Uwe Schimank: Biographie als Autopoiesis. Eine systemtheoretische Rekonstruktion von Individualität. In: Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Hrsg. von Hanns-Georg Brose, Bruno Hildenbrand. Opladen 1988, S. 55–72.) Für Angehörige der Oberschichten in stratifizierten Gesellschaften fanden sich die Alternativen in der Sozialdimension, nicht in der Zeitdimension: »Das Lebensschicksal ist jetzt nicht mehr ein Problem der Selbsterhaltung gegen äußere, unter anderem soziale Gefährdungen. Es muß eine Sukzession von selektiven Ereignissen umgedacht werden, die jeweils […] Selbstselektion und Fremdselektion kombinieren. Das dafür gültige Zeitmodell nennen wir Karriere.« (GS 232) Insofern sind Karrieren Folgen des Zusammenbruchs der Stratifikation und sorgen aber gleichzeitig für eine – der Stratifikation ähnliche, wenn auch instabile – Ungleichheit der Chancenverteilung. Mit der Abnahme von soziostruktureller Determiniertheit für Lebensläufe avanciert das Strukturmuster »Karriere« zur universellen Lebensform; parallel dazu wird sie als ein nahezu voraussetzungslos beginnender, sich selbst ermöglichender Verlauf erfahren, der eben deshalb zur Artikulation von Individualität innerhalb der Zeitdimension dienen kann. Das Medium Liebe löst die im Zusammenhang mit dem Differenzierungsformwechsel anfallenden Kommunikationsprobleme, indem sie Kommunikation unter einem weitgehenden Verzicht auf Kommunikation im Sinne des gegenseitigen Verstehens und einem grundsätzlichen Vorverständnis intensiviert. Das Erleben des Geliebten soll im Idealfall das Handeln des Liebenden direkt auslösen, wobei der Aufruf zum Handeln und auch das Handeln selbst keine konkreten Effekte intendieren, sondern »die Nichtselbstverständlichkeit eines Selbstentwurfes, der ganz auf die Individualität einer Person abgestimmt ist und nur so existiert« (LP 30). Dieses Vorverständnis wiederum basiert auf Emotionen und ihrer Lesbarkeit. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts fungiert ein Partner in der Paarbeziehung als weltkonstituierende Individualität, während der andere, Angesprochene in der »Komplementärrolle des Weltbestätigers« (LP 25) vor die Alternative gestellt wird, den egozentrischen Weltentwurf anzunehmen oder abzulehnen. Er muss (im Gegensatz zum ersten, der sein Weltverhältnis nicht als Handlung begreift, sondern in ihm »Selektionen der Welt selbst« erkennt) handeln. Die Verteilung der Zurechnung von Selektionen im Erleben und Handeln ist insofern asymmetrisch geordnet: »Der Liebende, der idiosynkratische Selektionen bestätigen soll, muß handeln, weil er sich mit einer Wahl konfrontiert findet; der Geliebte hatte dagegen nur erlebt und Identifikationen mit seinem Erleben erwartet. […] Der Informationsfluß, die Selektivitätsübertragung von Alter (Geliebter) auf Ego (Liebender) überträgt mithin Erleben auf Handeln. Das Besondere […] der Liebe liegt in dieser Asymmetrie, in der Notwendigkeit, auf Erleben mit Handeln zu antworten und auf Schongebundensein mit Sichbinden.« (LP 26) Gleichzeitig enthält diese Asymmetrie die »Chance des Zuvorkommens«, das die eigentlich unwahrscheinliche Kommunikation ermöglicht: Der andere wird im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend in Relationen zu der für ihn fungierenden Umwelt und in Relationen zu sich selbst aufgelöst, um ihn schließlich nicht mehr von Eigenschaften, sondern von Funktionsweisen her zu erfassen:

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Luhmann versteht ›Liebe‹ nun als Medium, das Kommunikationen in einer (in steigendem Maße) ungreifbaren Welt ermöglicht und bedingt: »Eine ausgeprägt funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems muß es dem einzelnen überlassen, in welchem Moment und mit welchen Interessen er an den Funktionssystemen der Gesellschaft partizipiert«.26 Ist das Erleben dieses selbstreferentiellen Bezugs zu sich selbst in der Liebe an den (als unbegrenzt erlebten) Moment gekoppelt, so kann erst die Konstitution einer gemeinsamen Sonderwelt der Liebe und ihrer selbstreferentiellen Geschlossenheit Dauer verleihen.27 Die romantische Liebe zielt somit auf Permanenz, wodurch sie – im Idealverlauf – als Grundlage der Ehe denkbar wird; in der Ehe kann die Individualitätskonzeption – auch in ihrem dynamischen Wesen – perpetuiert werden. Romantische Liebe und Ehe bieten somit die Möglichkeit, eine holistisch erfahrene Individualität innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft zu artikulieren und auf Dauer zu behausen.28 Gerade mit Blick auf die Liebessemantik ist Luhmanns Zugriff trotz intrikater Terminologie immer noch heuristisch präzise und erhellend.29 Familie funktioniert in einem vergleichbaren kompensatorischen Kontext, insofern in ihr (genau wie beim Kommunikationsmedium Liebe) alle kommunikativen Beteiligungen relevant sind, die für ihre Mitglieder bedeutsam sind. Die Familie hebt dabei die Differenz zwischen den (den jeweiligen Personen zugerechneten) inner- und außerfamilialen Kommunikationen auf und kreiert damit ihren eigenen Werteraum, wobei Luhmann dieses Wertesystem als »Eigenwerte« definiert, die für ihn systemspezifisch generiert werden. Mithilfe dieser stabilen Eigenwerte kann sich

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Diese Art von Verstehen kann dementsprechend nur noch in der Person selbst verankert sein; verstehende Liebe erweist sich als »kognitiv so strapaziös, daß es nahe liegt, sich ans Gefühl zu halten und dessen Instabilität in Kauf zu nehmen.« (LP 29) Niklas Luhmann: Die Autopoiesis des Bewußtseins. In: Luhmann, Soziologische Aufklärung. Die Soziologie und der Mensch. Bd. 6. Opladen 1995, S. 55–112, hier S. 99. Die zwischenmenschliche Interpenetration läuft darauf hinaus, »daß der andere als Horizont seines eigenen Erlebens und Handelns dem Liebenden ein Ichsein ermöglicht, das ohne Liebe nicht Wirklichkeit werden würde. Diese Horizonthaftigkeit der Interpenetration gleitet mit aller Kommunikation mit – und entzieht sich ihr.« (LP 160) Historisch konkreter wird dies bei Ann-Charlott Trepp dargestellt, sowohl in ihrer Monographie: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum 1770–1840. Göttingen 1996, als auch in: Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls: Liebe zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters. In: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen 2000, S. 23–55. Vgl. dazu auch Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Vgl. dazu auch Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der neuen Sachlichkeit. Frankfurt am Main 2005.

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das System Familie gegen die Dauerirritation der Kollision zwischen inner- und außerfamilialen Kommunikationen behaupten. Mit dieser Form der Individualisierung und Stabilisierung erfüllt die Familie eine entscheidende Funktion: Als einziges System der modernen Gesellschaft schließt sie die ganze Person als Kommunikationsteilnehmer ein. Luhmann weist darauf hin,30 dass die inkludierende Funktion, die für die zentrale Stellung der Familie im 19. Jahrhundert diskursiv entscheidend wird, nicht von einzelnen Familien ausgeübt wird; das Funktionssystem ist in diesem Sinne nicht einheitlich, sondern setzt sich vielmehr segmentär aus vielen Familien zusammen. Dabei ist die Familie autonom, »sofern sie als rekursives Netzwerk der Beobachtung von Beobachtungen fungiert, und sie ist unter diesen Bedingungen ein geschlossenes System, weil sie nur Operationen zuläßt, die in diesem Netzwerk anschlußfähig sind.«31 Die System-Umwelt-Unterscheidung (also die Unterscheidung zwischen der Familie und der Gesellschaft) tritt in das System Familie wieder ein, insofern die einzelne Person in all ihren Kommunikationen (auch den systemexternen) relevant wird.32 Luhmann diagnostiziert eine Funktionskrise um 1800, die zunächst noch über ostentatives Rollenverhalten (indem ausschließlich der Mann die Familie nach außen repräsentiert) stabilisiert werden kann. Danach wird die zunehmend virulente Differenz von System und Umwelt mehr und mehr zu einem Problem. Luhmann verweist auch auf die Eigenwerte-Produktion in Familien,33 die sich besonders um 1800, der manifesten Gründungsphase der bürgerlichen Familie, als bedeutsam erweist.34 Wichtig ist dabei die Etablierung einer werteorientierten Öffentlichkeit, die sich mit Blick auf private Systeme herauszubilden beginnt und die das System Familie formt und konturiert.35 Diese spezifische Werteideologie ist eine individuelle, die ihren gesellschaftlichen Ort sucht: Im 18. Jahrhundert ist dieser gesellschaftliche Ort verstärkt die Familie, dann zunehmend deutlicher die Paarbeziehung (aber ebenfalls als Ausgangspunkt der Familienbildung). 30 31 32

33 34 35

Niklas Luhmann: Sozialsystem Familie. In: Luhmann, Soziologische Aufklärung. Konstruktivistische Perspektiven. Bd. 5. Opladen 1990, S. 196–217. Luhmann, Sozialsystem Familie, S. 200. Luhmann konstatiert im übrigen, dass die Familie im Zuge der Industrialisierung der funktionalen Gesellschaft ihre Funktion als allgemeine Inklusionsinstanz verliert: Sozialisation findet zunehmend auch in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen statt. Die Familie kann ihre Systemfunktion dabei nur über die Gesamtheit der Familien ausüben. Mit Eigenwerten sind hier nicht-zufällige Eigenschaften von Systemen gemeint, die Alternativen beschränken oder an das System binden. In diesem Sinne versteht Luhmann unter Eigenwerten eben immer auch die Tatsache, dass Systeme eine Geschichte in einer Umwelt herausbilden.

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Hier setzt nun diese Arbeit mit einem Fokus auf die Rolle des Vaters ein. Luhmanns nützliche Beobachtungsterminologie gerät, wie oben ausgeführt,36 an ihre Grenzen, wenn Symbolisierungstendenzen im Spiel sind, die systemübergreifend wirksam werden. Es geht im Folgenden um die Interferenz von der systemisch-historischen Umstellung und ihrer semantischen und symbolischen Bewältigung in der deutschsprachigen Literatur mit Blick auf den bürgerlichen Vater – aber auch um langfristige Paradoxien, die über diese Symbolisierung kreiert werden. Die bürgerliche Vatervorstellung entsteht im 18. Jahrhundert in einem Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und ist eng gekoppelt an die neue Wahrnehmung von Individualität, die das Individuum vorgängig aus verbürgten gesellschaftlichen Zusammenhängen reißt. Diese Individualitätskonzeption korrespondiert mit und wird vorangetrieben von kommunikativen Mechanismen, die das Individuum als solches inszenieren und zugänglich machen. Gesellschaftlich gesehen wird das Individuum zunehmend asozial: Es avanciert aber auch zur entscheidenden Größe, der es in verschiedenen Kontexten (politisch wie privat) gerecht zu werden gilt. Der Symbolwert des Individuellen als reaktivkreatives Produkt, das auf gesellschaftliche Umstellungen reagiert und die sozialen Erwartungen der Individuen zugleich überformt und verändert, ist für das 18. Jahrhundert nicht zu unterschätzen. Im Feld der Kunst kann mit dem neuen Fokus auf die individuelle Gefühlswelt ein spezifischer Effekt erzielt werden. Die Isolation wird durch eine Form der ideellen Gemeinschaft diskursiv wieder aufgebrochen, indem sich der Leser/Zuschauer/Betrachter über eine emotional kodierte Identifikation mit dem dargestellten Individuum zu einer virtuellen sozialen Welt zusammenschließen kann, deren moralische Wertegrundlage als evident erscheint. Zu 2) Bürgerliche Werte und Literatur Der beschriebene Individualisierungsprozess ist paradoxerweise ideologisch gesehen die Voraussetzung für eine Vergemeinschaftung, die über eine spezifische Werteevidenz postuliert wird. Die Werteevidenz wiederum verdankt sich der Einhelligkeit, mit der die neue emotionale Individualität als allgemein ausgewiesen wird. In einer Art Inversion ist die gesellschaftliche Exklusion die Voraussetzung für die spezifische Individualisierung und die Individualisierung die Voraussetzung für eine 36

Vgl. dazu die Einleitung.

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neue, konzeptuelle Form eines Kollektivs, die alle »Menschen« auf der Basis ihrer »Menschlichkeit« umfasst. Bei der Individualität handelt es sich damit zugleich um Ursache und Lösung für ein neues, abstraktes Konzept der Gruppenzugehörigkeit, das eine Gruppe von separaten Individuen denkt. Bei dieser neuen Konstruktion begegnet man einem komplexen Zusammenspiel von mehreren, entscheidenden Faktoren, bei dem sich Individualität,37 Selbstgefühl,38 körperliche »self-possession«,39 Empa37

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Zur spezifischen, historisch neuen Bedeutung von Individualität in dieser Arbeit vgl. die vorangegangenen Bemerkungen. Angelika Linke hat allerdings bereits auf die Paradoxie verwiesen, die sich im bürgerlichen »Kanon der Individualität« ergibt. Sie vermerkt in diesem Sinne: »Das damit gegebene Paradox, d. h. die Unmöglichkeit, sich im Bemühen um Individualität und damit im ›opting out‹ gleichzeitig als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe zu definieren, also ›opting in‹ zu betreiben, ist lebbar nur im Sinne einer Übergangsphase (dies ließe sich etwa für die Phase des ›frühen‹ Bürgertums zu Beginn des 18. Jahrhunderts denken) oder unter der Bedingung, daß ›Individualität‹ nicht konkret gelebt, sondern als ›Stilfigur‹ gepflegt wird, d. h. wenn mit ›Individualität‹ nicht Inhalte, sondern in erster Linie Formelemente gemeint sind.« A.L: »Ich«. Zur kommunikativen Konstruktion von Individualität. Auch ein Beitrag zur kulturellen Selbsterfindung des ›neuen‹ Bürgertums im 18. Jahrhundert. In: Bürgertum im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems. Tübingen 2006, S. 45–67, hier S. 60. Die folgenden Überlegungen greifen auf diese grundsätzliche Paradoxie der individuellen Normenkonformität zurück. Während in der Literatur fraglos Formelemente zur gesellschaftlichen Kommunikation von Individualität ausgebildet werden, führt ihre gesellschaftliche Konventionalisierung im Verlauf des 19. Jahrhunderts wiederum zu einem in der Literatur thematisierten Substanzverlust. Im Folgenden wird es aber besonders um die Problematik des simultanen ›opting in‹ und ›opting out‹ gehen. Vgl. auch zur Individualität als bürgerlichem Konzept auf der Basis einer emotionalisierten Moral im 18. Jahrhundert: Marianne Willems: Individualität – ein bürgerliches Orientierungsmuster. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, S. 171–200. Carsten Zelle vollzieht die Generierung eines Selbst-Gefühls etwa über die »Selbstfühlbarmachung« durch Schmerzlust in der Aufklärung nach in: Mündigkeit und Selbstgefühl. Versuch über das aufgeklärte Subjekt am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, S. 115–134, hier S. 133. Dies gilt gerade auch, wenn die »Unlust des Fremdgefühls« beim literarischen Erlebnis in die »Lust am Selbstgefühl« übergeht. Ebd., S. 121. Vgl. dazu Lynn Hunts Überlegungen: Inventing Human Rights. A History. New York 2007, S. 28–29. Hier ist aber auch eine spezifische neue, abgeschlossene Körperlichkeit gemeint, wie sie etwa Albrecht Koschorke im Übergang vom humoral-fluidalen zum neurophysiologischen Körper im 18. Jahrhundert beschreibt. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. »Der in stetem Austausch mit seiner Umwelt befindliche humoralpathologische Körper wird nun von einem durch die festen Grenzen der Haut umschlossenen Körper abgelöst, der nur noch taktil mit der Außenwelt in Verbindung steht. Zugleich wird im ausgehenden 18. Jahrhundert die Seele an- und ausgebaut, bis sie schließlich als Oberhaupt über den ganzen Menschen präsidieren darf.« Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung einer Diskurses (1778–1936). Tübingen 2009, S. 14–15. Genau um dieses neue, seelisch mit determinierte, abgeschlossene Körperbild geht es im Folgenden.

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thie40 und ein dem Individuum eigenes, unabhängiges moralisches Urteil verbinden. Charles Taylor hat in seiner kommunitaristischen Untersuchung ›Sources of the Self‹ darauf verwiesen,41 dass »selfhood and morality […] turn out to be inextricably intertwined«.42 Wichtig für das folgende ist vor allem die historische Komponente von Taylors Tugendkonzept mit Blick auf die Definition der Grenzen des relevanten anderen, die sich im 18. Jahrhundert verschieben.43 1) Empathie und Emotion Vorbereitet, verarbeitet und aufgegriffen wird diese Entwicklung in zahllosen philosophischen und vor allem auch in ästhetischen Diskursen, wie besonders an Diderots ›Eloge de Richardson‹ deutlich wird: Richardson sème dans les cœurs des germes de vertus qui y restent d’abord oisifs et tranquilles: ils y sont secrètement, jusqu’à ce qu’il se présente une occasion qui les remue et les fasse éclore. Alors ils se développent; on se sent porter au bien avec une impétuosité qu’on ne se connaissait pas. On éprouve, à l’aspect de l’injustice, une révolte qu’on ne saurait expliquer à soi-même. C’est qu’on a fréquenté Richardson; c’est qu’on a conversé avec l’homme de bien, dan des moments ou l’âme désintéressée était ouverte à la vérité.44

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Vgl. zum hier relevanten Zusammenhang von ästhetischer Illusion und Empathie Anselm Haverkamp: Illusion und Empathie. Die Struktur der ›teilnehmenden Lektüre‹ in den ›Leiden Werthers‹. In: Erzählformen. Ein Symposion. Stuttgart 1982, S. 243–268. Vgl. auch allgemein zur intersubjektiven Dimension von Empathie Robin Curtis, Gertrud Koch (Hrsg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts. München 2009. Taylor entwickelt einen eng an Hegel angelehnten Personenbegriff, auf den hier nicht näher eingegangen werden soll. Vgl. dazu Verena Weber: Tugendethik und Kommunitarismus. Individualität – Universalisierung – Moralische Dilemma. Würzburg 2002. Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of Modern Identity. Cambridge 1989. Vgl. dazu auch den folgenden Passus: »We are dealing here with moral intuitions which are uncommonly deep, powerful, and universal. They are so deep that we are tempted to think of them as rooted in instinct, in contrast to other moral reactions which seem very much the consequence of upbringing and education. There seems to be a natural, inborn compunction to inflict death or injury on another, an upbringing, may help to define the boundaries of the relevant ›others‹, but they don’t seem to create the basic reaction itself«. Taylor, Sources of the Self, S. 4–5. Vgl. dazu wiederum Taylors Ausführungen. Für diese Verschiebung bietet Luhmann eine systemtheoretisch fundierte Erklärung an, die jene Individualisierung historisch motiviert. Denis Diderot: Œuvres Complétes. 20 Bde. Hrsg. von J. Assézat und M. Tourneux. Bd. 5. Paris 1875–1877. S. 214.

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Die Fähigkeit zur empathischen Lektüre steht in engem Zusammenhang mit einem intuitiven Erfassen der moralischen Koordinaten im Text. Empathie und Emotion gehen Hand in Hand bei der ästhetisch-anschaulichen Entwicklung einer textlichen Moral, sie erproben imaginiertes Rollenverhalten als »histrionic sensibility«45 und nehmen Einfluss auf die auch moralisch kodierte Identitätsbildung: »Die empathische Grunddisposition, die in der Literatur ausgebildet wird, ist die Voraussetzung dafür, sich in seine Mitmenschen einfühlen zu können.«46 Von Anfang an »und in Auseinandersetzung mit dem offiziell als normativ gesetzten rationalistisch-heroischen Tugendsystem« wird dabei »eine Ebene des Empfindens und Fühlens« als autonome etabliert.47 Wolfgang Lukas weist auf die entscheidende Rolle der Literatur beim säkularen Aufklärungsprojekt der »Neubegründung und -legitimation von Werten und Normen hin, […] zu diesen gehören u. a. die diversen Versuche des Entwurfs einer – Natur und Norm identifizierenden – ›Naturmoral‹«.48 Als anthropologische Wende bezeichnet Lukas das Phänomen der doppelten Interiorisierung, die moralische Konflikte zu systeminternen macht: Der Konflikt ist nicht mehr durch externe, anti-aufklärerische bzw. anti-empfindsame Größen verursacht, sondern durch interne; das in einem ersten Schritt als normativ gesetzte Tugendsystem gerät durch sich selbst und aufgrund seiner eigenen Prämissen in eine Krise. Zum anderen wird nun im Subjekt und seiner Emotionalität die letztlich entscheidende Instanz für Konstitution wie Lösung der Probleme ausfindig gemacht.49

Literatur vermittelt die Brüche, die aufgrund der implizierten Ineinssetzung von Natur und Norm entstehen. Zugleich wird das alte, auf Strafe 45 46 47

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Ziad M. Elmarsafy: The Histrionic Sensibility. Theatricality and Identity from Corneille to Rousseau. Tübingen 2001. Vgl. dazu Judith Frömmer: Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung. München 2008, S. 53. Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Göttingen 2005, S. 18. Lukas hat den Moraldiskurs in Deutschland zwischen 1730 und 1770 anhand einer umfassenden Textbasis untersucht Auf der Basis von 150 Texten, die heroische Tragödien, bürgerliche Trauerspiele, satirische Typenkomödien als auch empfindsame Lustpiele umfassen, konstatiert er mit Blick auf die heroische Tragödie eine systematische Entgegensetzung eines äußeren (außenpolitischen) und eines inneren (innenpolitischen oder innerfamiliären) Konflikts und zeigt dann eine Tendenz zur Familiarisierung auf. Lukas, Anthropologie, S. 16. Lukas, Anthropologie, S. 347. Lukas verweist dabei auch auf die Selbstreferentialität des Diskurses, die hier anhand des Vatersymbols noch genauer erörtert werden soll.

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basierende Vergeltungssystem in den Texten ostentativ abgelöst durch ein neues System, das auf gegenseitigem emotionalem Austausch, auf Zärtlichkeit und Liebe fußt.50 Diese neu umrissene, textlich naturalisierte Moral ist dabei wegweisend: Sie erfolgt (entweder auf der Figurenebene propagiert oder vom Text in Abweichung dazu demonstriert) über die allmähliche Abkopplung und Subjektivierung/Individualisierung eines Moraldiskurses, der dem Individuum die Normativität der Werte qua »Natur« einprägt; das erklärt zugleich, warum sich die tradierten Normen, die sich in die ausbildende (hier als bürgerlich verstandene) Wertekonstruktion einschreiben, als neue Werte rekonfigurieren. Dabei wird »Bürgerlichkeit« als ästhetische Kategorie virulent,51 bei der es explizit um die Kultivierung der Fähigkeit geht, »sein Herz zu verbessern«.52 Als Träger und Kommunikator der als natürlich verstandenen Moral fungiert in diesem Sinne die Emotion: Um diese tugendindikative und selbstevidente Ebene des Fühlens geht es mit Blick auf individuelle Eigenwahrnehmung, aber auch mit Blick auf kollektive Kommunikationsmechanismen. Ästhetisch ist dabei eine Entwicklung beobachtbar, die eine neue emotionale Qualität der Darstellung priorisiert: Texte folgen ihrer eigenen Wertelogik, die sie auch immer mit vermitteln und über die Sympathie, Identifikation und Antipathie geregelt wird; diese Lenkung gehört zu den inhärenten Mechanismen von Literatur und macht sie so besonders erfolgreich bei der Herstellung einer spezifischen Evidenz.53 Lukas beschäftigt sich mit Dramen, die für den Raum des Theaters intendiert sind und dabei ein quasi situativ reales Wertekollektiv durch die 50

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In der zunehmenden Interiorisierung der Konflikte, die in einer Selbsttribunalisierung des Menschen kulminiert, sieht Lukas den Zusammenhang mit der Theodizee-Problematik, die mit der Wendung zum Subjekt gesteigert und potentiell gelöst wird: »Die literarische Anthropologie und Psychologie entwickeln sich im Dienste einer übergeordneten Theodizee, die nach der Lösung der Krise durch Belastung des Menschen strebt und ihm so eine neue, ›negative Autonomie‹ verschafft.« (Lukas, Anthropologie, S. 351) Nach Lukas treten beide zusammengefügten Elemente, Anthropologie und Theodizee gegen 1770 wieder auseinander und lassen die Theodizee-Frage unbeantwortet, so dass die Theodizee-Krise nun erst zur Gänze ausbricht. Vgl. Frömmer, Vaterfiktionen, S. 48–54. Johann Gottlob Benjamin Pfeil: Vom Bürgerlichen Trauerspiele, erschienen im 31. Stück der Neuen Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens. Leipzig 1755, S. 1–25, hier S. 18. Zur ästhetischen Sphäre als Ort der Unmittelbarkeit, mit deren Hilfe Tugend, d. h. Normenkonformität im Sinne der bürgerlichen Werte generiert werden kann vgl. Dorothea von Mücke: Virtue and the Veil of Illusion: Generic Innovation and the Pedagogical Project in Eighteenth-Century Literature. Stanford 1991.

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einheitlich gelenkte individuelle Zuschauerresonanz herstellen.54 Aber auch in den wirkungsmächtigen Texten von Richardson und Rousseau (besonders in ›Clarissa‹, ›Pamela‹ bzw. ›La Nouvelle Heloïse‹) wird eine Gefühlsevidenz und eine Werteevidenz eingeführt, die untrennbar miteinander verknüpft sind. Die individualisierte Leidenserfahrung der Protagonisten, die über das introspektive Briefmedium in den Vordergrund gerückt wird, appelliert an eine empathische Leserschaft. Kreiert wird eine emotional zugängliche und explizierbare Wertewelt, die in einer offengelegten Axiologie Übertretungen der Grenzen bzw. die Übererfüllung der Tugenden mit den entsprechenden Gefühlen ahndet. Auf diese Form der Menschlichkeit ist die entsprechende Reaktion wiederum eine gefühlte Empathie.55 2) Individuum-Kollektiv: Techniken der Beglaubigung In dieser Individualisierung der Moral liegt bereits die Vorstellung ihrer Kollektivierung begründet: In den Menschenrechten wird eine entscheidende Sedimentierung dieser moralhistorischen Veränderungen am greifbarsten, insofern ihre drei integralen Prinzipien (Natürlichkeit, Gleichheit und Universalität) in der Diskussion als »evident« eingefordert werden. Die politisch genutzte Selbstverständlichkeit speist sich aus einem langwierigen Umstellungsprozess, dessen Resultate sich insbesondere der unmittelbaren Wirkung der Kunst56 verdanken.57 Mit der Literatur, so Lynn Hunt,58 werden nun bestimmte, für die Voraussetzung der selbst-evidenten Gleichheit unabdingbare Mechanismen der Sympathie und Empathie59 eingeübt: 54 55 56

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Vgl. auch Rainer Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin 1995. Das schließt Verirrungen der Identifikationsfigur keineswegs aus, solange sie emotional explizierbar sind und mit der entsprechenden Reue quittiert werden. Michael Fried hat dabei analog für die bildende Kunst demonstriert, wie Gemälde zunehmend anti-theatralisch auf die vollständige Illusion und Absorption angelegt wurden. M.F.: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot. London 1980. Die Praxis, mit der die für Menschenrechte entscheidende Selbst-Evidenz eingeübt wird, erweist sich dabei ihrerseits als ein historisches Phänomen, das auf Gesellschaftsumbrüche reagiert und in diesem Sinne legitimierend seinen eigenen »natürlichen« Ursprung erfindet. Lynn Hunt hebt die Funktion der Literatur bei der Etablierung von Menschenrechten hervor, eine Überlegung, die hier mit Blick auf Hunts Konzept der Empathie-Gemeinschaft relevant wird. Dietmar Schloß zeigt diese Tendenzen auch mit Blick auf die amerikanische Gründerzeit in: Die tugendhafte Republik. Politische Ideologie und Literatur in der amerikanischen Gründerzeit. Heidelberg 2003. Er analysiert die »ideologischen« Wurzeln der amerikanischen Revolution im Kontext der Literatur.

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To have human rights, people had to be perceived as separate individuals who were capable of exercising independent moral judgement; as Blackstone put it, the rights of man went along with the individual, considered as a free agent, endowed with discernment to know good from evil.60

Autonomie und Empathie sind dabei die tragenden Säulen dieses Konzeptes, dessen Wurzeln in einem Selbstverständnis liegen, das hochindividualisiert zunächst auf die Kommunikation mit sich selbst oder mit der eigenen Nahwelt ausgerichtet ist. Der Exkurs zu einer individualisierten Wertegemeinschaft, die universale, natürliche und evidente Rechte für alle Menschen postuliert, ist in diesem Kontext nicht überflüssig, sondern deutet die zentrale konzeptuelle Vergemeinschaftung an, die sich über die gemeinsame »Menschlichkeit« herauszubilden beginnt: Diese Entwicklungen allerdings sind nicht so »universal« wie die Selbstbeschreibung propagiert, sondern an ein spezifisch bürgerlich-moralisch implementiertes Konzept von Empathie gekoppelt: Der Leser fühlt und identifiziert sich mit den Protagonisten – denkt man an Julie in Rousseaus ›La Nouvelle Héloïse‹, an Richardons ›Pamela‹ und ›Clarissa‹, die Lynn Hunt als exemplarisch anführt – in Übereinstimmung mit einer bestimmten bürgerlichen61 Tugendvorstellung.62 60 61

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Hunt, Inventing Human Rights, S. 27. Diese Bezeichnung ist in Anlehnung an die seit den 80er Jahren zu beobachtende Tendenz zu verstehen, das Bürgertum bei aller offensichtlichen Diskrepanz wieder stärker als konzeptuelle Einheit zu verstehen, die im Folgenden besonders mit Blick auf ihre Wertentwürfe beleuchtet werden soll. Vgl. zu dieser Tendenz exemplarisch Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. München 1993 und Ute Frevert, Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987. Michael Maurer verwendet in seiner wichtigen Studie zur bürgerlichen Mentalität für dieses Werteset den Begriff »Tugenden« (M.M.: Die Biographie des Bürgers. Göttingen 1996, S. 232), um die ihm innewohnende Historizität herauszustellen, und stellt dabei ausführlich verschiedene Wertekategorien vor. Darunter fällt auch das »Tabu der Sexualität«, das hier – nochmals als Geschlechtscharakter ge-gendert – besonders relevant für das Verständnis der von Lynn Hunt ausgewählten Texte erscheint: »Tugend, verstanden als Moralität, eingeschränkt auf Sexualmoral, ist gerade für das Selbstverständnis des deutschen Bürgertums von höchster Bedeutung.« Ebd., S. 239. Maurer listet überdies verschiedene substantielle Wertegruppen auf und untersucht die moralischen und emotionalen Werte, die im hier evozierten Tugendbegriff konvergieren und auf die im Folgenden immer wieder konkret Bezug genommen wird: Entscheidend ist dabei die »Rechtschaffenheit als integrative Basiskategorie«, wobei Moralität für die verschiedenen Segmente des Bürgertums um 1800 zum gemeinsamen homogenen Wert wird. Ebd., S. 252. Darüber hinaus widmen sich in den letzten Jahren zwei Sammelbände diesem Thema, vgl. Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. Hans-Werner Hahn, Dieter Hein (Hrsg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption. Köln, Weimar, Wien 2005. Zu den sogenannten Sekundärtugenden vgl. die Materialsammlung

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Die emotionale Verbindung erfolgt über ein Konzept der poetischen Gerechtigkeit, das bestimmte Verhaltensweisen als falsch, andere als tugendhaft ausweist.63 Elementare Wertvorstellungen sind an spezifische Axiologien geknüpft und werden durch diese konventionalisierte Spezialmoral ästhetisch evident (etwa auf dem Feld der bürgerlich-restriktiven Sexualmoral, das in den einschlägigen Texten zum Hauptkampfschauplatz wird). Die Gleichheit wird im Grunde als moralische Gruppen-Superiorität eingeführt, die für jeden erreichbar ist, sofern er sich einem Werteverständnis unterwirft, das die Texte erstaunlich einhellig propagieren.64 Die Etablierung dieser integrativen Gruppenmoral erfolgt dabei eben vor allem auch über Ausschließung. Am auffälligsten ist in diesem Zusammenhang fraglos die Abgrenzung zum Adel.65 Ein Blick auf die moralischen Wochenschriften verdeutlicht das mit der bürgerlichen Tugend verknüpfte Selbstverständnis.66 Tugendhaft zu sein, wurde als eigentliche Menschenwürde67

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von Paul Münch (Hrsg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«. München 1984. Deshalb greift Lynn Hunt zu kurz, wenn sie postuliert: »Novels made the point that all people are fundamentally similar because of their inner feelings […]«. Hunt, Inventing Human Rights, S. 39. Dass Menschenrechte eben keineswegs als universal und für alle gleichermaßen geltend betrachtet wurden, verdeutlicht ja bereits exemplarisch der Umgang mit Frauen oder den Sklaven in Amerika; das Natürliche, das die Universalität erzwingt, wird vice versa unterminiert, wenn die Universalität in einer contradictio in adiecto als partielle verstanden wird. In der selektiven Applikation verrät sich schon auf den ersten Blick ein Politikum. Im Verweis auf die reale Heterogenität des Adels zeigt Ewald Frie, dass sich bürgerliche Werte zwar offensichtlich in der Auseinandersetzung mit dem Adel formieren, dass allerdings »dieser Adel […] eine bürgerliche Projektion« war. E.F.: Adel und bürgerliche Werte. In: Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, S. 391–414, hier S. 414. Dieses Selbstverständnis war dezidiert kein politisches (aber eben doch ein politisch wirksames). Dennoch werden Ansprüche an die Obrigkeit formuliert: »Die Obrigkeit soll väterlich sein, das Wohl der Untertanen im Auge haben und mit rechtschaffenen Ratgebern umgeben sein.« Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 335. Martens hält fest: »Ehrlichkeit, Offenheit, Gemeinnützigkeit sollten auch am Hofe Fuß fassen, bürgerliche Tugend damit auch unter den Großen und den Regenten Verbreitung finden, – dann wäre das Gemeinwesen blühend und die Bürger glücklich.« Martens, Botschaft der Tugend, S. 351 »Nein, sagte ein Bürger in London, ich würde meinen Stand mit gewissen Fürsten nicht vertauschen, wenn ich auch meine Gesinnungen und mein Gemüthe zugleich mit ihnen ändern solte. Der Bürger war tugendhaft, und die Fürsten, deren Betragen seine Galle bewegten, waren nur Fürsten […].« Die Exklusivität des Bürgers wird hier schon ansatzweise moralisch-meritorisch umgedeutet, indem »adlich« eine spezifische moralische Qualität verbürgt: »Der Stolz in den Gesinnungen ist die Tugend der Bürger welche eine adliche Seele besitzen.« Anonymus: Von dem Adel. In: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. 6. Bd. 1. Stück, 1751, S. 38. Hervorhebung von C.N.

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verstanden:68 »Jeder Bürger gilt den Wochenschriften gleich, als ein zur Tugend bestimmtes Wesen«.69 Insofern der Bürgerstand das eigentliche Publikum der moralischen Wochenschriften darstellt, erweist sich die dort vermittelte Moral auch als spezifisch bürgerlich. Zugleich »wird der Mensch für seine Gebrechen selbst haftbar gemacht. Immanent aber enthält diese Selbstbezichtigung die Behauptung seiner sittlichen Freiheit und Autonomie.«70 Gerade die »Selbst-Evidenz« der »Tugend« ist also ein »bürgerliches« und ästhetisches (durch die Kunst »anschaulich«71 aufbereitetes und vermitteltes) Phänomen, mit dem dann wiederum schließlich ein spezifisches politisches Partizipationsrecht vorbereitet, geltend gemacht und »anthropologisch« (und nicht primär politisch) legitimiert wird. Das Konzept Menschenrechte verdeutlicht am besten, wie konzeptuelle Umbrüche, die zunächst nur und scheinbar ausschließlich die individuelle Selbstwahrnehmung betreffen, politische Forderungen implizieren. Diese Politisierung des Privaten findet sich bereits vor der Französischen Revolution (wie anhand von Lessings und Schillers Vaterfiguren gleich zu zeigen sein wird). Dabei handelt es sich nicht etwa um die intentionale Ausbildung eines Anspruchsdenkens, sondern zunächst um eine menschliche Selbstverortung, die im Zuge der Moderne zunehmend unausweichlich wurde. Obwohl das bürgerliche Selbstbild in einschlägiger Dialektik als unpolitisch und rein menschlich propagiert wurde, bilden sich zwangsläufig auf der Basis dieses Menschenkonzeptes politische Forderungen aus: Bürgerlichkeit als moralische Ordnung enthielt einen allgemein-menschlichen Anspruch und brachte zugleich soziale und politische Machteffekte hervor, die diesem Anspruch widersprachen. Sie umfaßte einen idealen Entwurf individueller Lebensführung und die mitunter gegenläufigen Resultate seiner Reali68 69 70 71

Martens, Botschaft der Tugend, S. 233–234. Martens, Botschaft der Tugend, S. 304. Martens, Botschaft der Tugend, S. 335. Vgl. dazu auch besonders das Konzept der Anschaulichkeit, das Dorothea von Mücke in ihrem Buch ›Virtue and the Veil of Illusion‹ herleitet: »The veil of poetry produces the illusion of a quasi-immediate access to the world. It produces a surface of reflection and refraction that offers an object to vision rather than signs to be read and deciphered.« Von Mücke, Virtue and the Veil of Illusion, S. 6. Von Mücke weist darauf hin, dass die Aufklärung »the aesthetic domain« (ebd., S. 7) als eine semiotische Utopie der sofortigen Transparenz postuliert und damit ihr Ziel, die »implementation of virtue« (ebd., S. 12) verfolgt: »it seeks to render the signs of art as diaphanous as Truth’s veil and thereby to fulfill its educative mission« (ebd., S. 7). Von Mücke demonstriert das auch hier entscheidende Evidenz-Postulat besonders eingängig anhand von Fabel-Theorien, vgl. ebd., S. 18–61.

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sierung. Die Tendenz zur Verallgemeinerung bürgerlicher Werte im 19. Jahrhundert ist nur erklärlich, wenn analytisch beides erfaßt wird: die allgemeinen, universellen Grundzüge von Begriffen wie ›Bildung‹ und die sozialen, partikularen Funktionen, in die sie jeweils einrückten.72

Es bleibt festzuhalten: 1) Die bürgerlichen Werte als Gruppenphänomen verdanken sich einem spezifischen Konzept von Individualität, das sich in den um 1800 irreversibel werdenden gesellschaftlichen Umstellungsprozessen herauskristallisiert. Das so etablierte und literarisch plausibilisierte Wertesystem ist ein meritorisches Inklusionsmodell, das die Integration über Normenkonformität regelt. Emotionen werden dabei zu einem wichtigen Beglaubigungsinstrument moralischer Adäquatheit. Zum einen wird die bürgerliche Familie dabei konzeptuell zu einem maßgeblichen Repräsentanten und Vollstrecker dieser Moralvorstellungen; zum anderen exemplifiziert sie (und hier besonders der Vater) – als gesellschaftliche Selbstbeobachtung – vor dem Hintergrund dieser Ein- und Ausschließungsbewegung ein wichtiges Modell, wie in einer Exklusionsgesellschaft gesamtgesellschaftlich Individualität zugelassen und Gemeinschaft gedacht werden kann. Das Verhältnis von Individuum und Wertekollektiv wird für die Situierung des Vaters und seiner Verkörperungs-Funktion im Folgenden entscheidend. 2) Zentral ist dabei das Verständnis der Natürlichkeit, Gleichheit und Universalität (am prominentesten werden diese Aspekte im Menschenrechtsdiskurs benannt und eingefordert, der selbst eine Konsequenz dieses voraussetzungsreichen Prozesses ist), mit dem die Werte nicht verhandelbar und selbstbegründend werden.73 Im Menschenrechtsdiskurs wird dann auch expressis verbis, quasi auf einer resümierend-evaluierenden Meta-Ebene, die Selbst-Evidenz des Wertesystems (dabei vor allem die Vorstellung einer menschlichen Gleichheit) proklamiert; für die Herstellung eben dieser Evidenz ist die neue emotionale Ebene der Literatur eine unabdingbare Prämisse. Emotionen werden vor einem legitimierenden und validierenden Wertehorizont und mit einer spezifischen Wirkungsmächtigkeit sinnlich und sinnhaft inszeniert.

72 73

Manfred Hettling, Stefan Hoffmann: Zur Historisierung bürgerlicher Werte. In: Der bürgerliche Wertehimmel, S. 17–18. Vgl. dazu auch das Kapitel zu Schillers ›Don Karlos‹.

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Den großen Formeln der menschlichen Gleichheit werden zugleich spezifizierte Tugendkonzepte zugeordnet, die weniger emanzipatorisch, sondern stark regulativ sind: die begrenzenden Normen decken sich mit einem tradierten Normenbestand, der um moderne Konzepte ergänzt wird.74 In einer semantischen Überlappung koppeln sich zwei Werte-Ebenen aneinander, die besonders in der Literatur kultiviert werden können. Spezifische Werte, die nicht mit den tradierten, von der Religion75 eingeforderten und als ethisch verstandenen Verhaltensregulierungen übereinstimmen, helfen, einen moralischen Superioritätsanspruch zu insinuieren. Bei diesen Werten, die sich in unterschiedlichem Tempo und unterschiedlicher Vehemenz vor dem Hintergrund der historischen Verschiebungen und Umstrukturierungen (mit Blick auf das in diesem Kontext entstehende, individualisierte Perfektibilitätskonzept) generiert werden, handelt es sich etwa um Bildung,76 um ein neues emotionalisiertes Familienkonzept, um ebenfalls emotionalisierte Ehevorstellungen, Konzeptionen von Freundschaft, Treue, aber eben auch um konventionelle Sittlichkeitsvorstellungen, die gerade im Kontrast zur herrschenden Adelsklasse ostentativ weiterkultiviert werden:77 Weibliche Tugendvorstellungen werden dabei zu einem problematischen Territorium.78 Zum einen sind sie narra74 75

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Michael Maurer verweist etwa auf die Werte, die aus der Lebenswelt des traditionalen Stadtbürgertums stammen. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 617–618. Dabei steht aus Platzgründen hier der elementare Einfluss religiöser Konzepte auf die Formung und Ausbildung der Werte im Hintergrund, vgl. zur Bedeutung von religiös propagierten Tugendkatalogen und der Glaubenslehre allgemein Andreas Gestrich: Familiale Werteerziehung im deutschen Bürgertum um 1800. In: Bürgerliche Werte um 1800, S. 121–140. Gestrich verweist auf die Rolle der (bürgerlichen) Familie bei der Vermittlung der christlichen Religion (deren Gehorsamsauflagen nicht unbedingt als bürgerlich, sondern als systemaffirmativ funktionierten). Orthodoxe Kritiker vermerken allerdings kritisch, so Michael Maurer, die inflationäre Verwendung des Begriffes Tugend, worin sie eine Säkularisierung zu erkennen glauben: »daß gerade das Insistieren auf Tugendhaftigkeit, auf praktischer Moralität, all denjenigen einen besonderen Verhaltensdruck auferlegt, die sich entweder von der Dogmatik ihrer Religionsgemeinschaft entfernt hatten oder für die das an der Offenbarungsreligion orientierte Denken und Empfinden verblaßte. In dieser Konstellation erst versteht man die Obsession des Zeitalters mit ›Tugend‹.« Maurer, Biographie des Bürgers, S. 239. Vgl. dazu auch ebd., S. 161–231. Vgl. u. a. Ralf Roth: Von Wilhelm Meister zu Hans Castorp. Der Bildungsgedanke und das bürgerliche Assoziationswesen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Bürgerkultur. Bildung, Kunst und Lebenswelt im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Dieter Hein, Andreas Schulz. München 1996, S. 121–139. Hans-Werner Hahn und Dieter Hein resümieren als zentrale bürgerliche Werte auch »Arbeit, Fleiß, Selbständigkeit und Partizipation«. In: Hahn, Hein, Bürgerliche Werte. In: Bürgerliche Werte um 1800, S. 9–27, hier S. 16–17. Vgl. insgesamt auch Maurer, Biographie des Bürgers, S. 232–377. »Tugend, verstanden als Moralität, eingeschränkt auf Sexualmoral, ist gerade für das Selbstverständnis des deutschen Bürgertums von höchster Bedeutung.« Maurer, Biogra-

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tive Primärstrategie, mit der man die aristokratische Verdorbenheit plakativ inszenieren kann. Zum anderen aber schreiben sich (im Zuge der modernen Liebesauffassung)79 in die neue Ehekonzeption Sinnlichkeitsansprüche ein, die für die Frauen die paradoxe erotische Aktivierung bedeuten und doch besonders von ihnen die Konvergenz von Sinnlichkeit und Sittlichkeit einfordern: Nach 1800 wird dieses Paradox vielleicht am besten in Kleists ›Marquise von O….‹ auf den Punkt gebracht: Die Marquise kann einer sinnlich-spontanen Vereinigung durch eine Ohnmacht zugleich gemäß der romantischen Einzigartigkeit und Kommunikationslosigkeit der romantischen Liebe beiwohnen und sich ihr durch »Bewusstlosigkeit« gemäß der weiblichen Tugendlogik entziehen. Begehren und »reine Liebe« werden zum Kontrast80 und gleichzeitig zu Komplementen.81 Als Übergangstransformationen lassen sich diese Phänomene nur bedingt auflösen. Die komplexen Verschiebungen müssen im Folgenden anhand von Lessings ›Miß Sara Sampson‹ und ›Emilia Galotti‹ noch genauer analysiert werden. Deutlich wird aber auch, dass gerade vor dem Hintergrund einer sich selbst bewusst werdenden Körperlichkeit Sexualität (die immer ein gewisses Maß an potentieller Deregulierung in sich birgt) einer um so stärkeren Regulierung bedarf. Entscheidend ist hier vor allem, dass die globale Logik der menschlichen Gleichheit auf der Basis einer restriktiven Gruppenmoral plausibilisiert wird (das zunehmend Konventionelle also das politisch Transgressive mit gebiert) und vice versa. Das entspricht genau dem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis von der Befreiung des Gefühls bzw. der Romantisierung der Liebe und dem »Tabu der Sexualität«.82 Ein Blick auf Rous-

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phie des Bürgers, S. 239. Diese männliche Perspektivierung, die in sich problematisch ist, kann in diesem Kontext nicht näher erläutert werden. Vgl. dazu Carole Pateman: The Sexual Contract. Stanford 1988. Vgl. dazu auch Ralph-Rainer Wuthenow: Die gebändigte Flamme. Zur Wiederentdeckung der Leidenschaften im Zeitalter der Vernunft. Heidelberg 2000. Vgl. dazu etwa repräsentativ Johann Georg Sulzer: »Liebe in rohen, oder durch Wollust verwilderten Menschen, die blos auf eine wilde Befriedigung des körperlichen Bedürfnisses abzielt, kann nach Beschaffenheit der Umstände in eine höchst gefährliche Leidenschaft ausbrechen und höchst verderbliche Folgen nach sich ziehen. […] Deswegen ist die Liebe, in sofern sie blos thierische Wollust ist, kein Gegenstand der Künste.« In: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Dritter Theil, Leipzig 1793, S. 248–249. Vgl. dazu auch insgesamt Stephan K. Schindler: Eingebildete Körper. Phantasierte Sexualität in der Goethezeit. Tübingen 2001, S. 29–84. Vgl. dazu auch Anna Marx: Das Begehren der Unschuld. Zum Topos der Verführung im bürgerlichen Trauerspiel und (Brief-)Roman des späten 18. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau 1999, S. 16–18. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 239. Vgl. dazu sein gleichnamiges Kapitel ebd., S. 239–246.

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seaus ›Emile‹ zeigt, wie die aufklärerische »Gleichheit« philosophisch in ein auf Geschlechtscharakteren basierendes Konzept der Komplementarität umgedeutet wird, mit dessen Hilfe wiederum die zwei Tugendsets vorübergehend ausbalanciert werden.83 Insofern sich die bürgerliche Wertewelt und die universal-menschliche gegenseitig bestätigen, ist ihr Werthorizont von vornherein ein partiell überfrachteter und – gerade was die Frauen betrifft84 – in mehrfacher Hinsicht widersprüchlicher.85 3) Die spezifische Diskurs-Logik, durch welche die Stellung des Vaters legitimiert wird (und die er seinerseits in seiner anthropologischen Evidenz legitimiert), befindet sich in einem prekären Gleichgewicht, bei dem sich die einzelnen Faktoren gegenseitig affirmieren, ohne sich gänzlich chronologisch auflösen zu lassen: Individualität generiert Empathie und wird durch Empathie generiert. Empathie wiederum regelt die Kommunikation mit anderen und sorgt dafür, dass man andere als Menschen, d. h. als »gleich« wahrnimmt: Die menschliche Gleichheit, die das 18. Jahrhundert ersinnt, ist damit der massiven Individualisierung geschuldet. Die über diese individuelle Verschiedenheit hergeleitete Gleichheit wird denkbar über einen gemeinsamen Wertegrund, der sowohl den individuellen Menschen als auch das Menschenkollektiv gleichermaßen legitimiert. Diese Wertekonstruktion, die als evidentes Moralgesetz postuliert wird, macht Individualität erst kommunizierbar und damit – innerhalb dieses Konstruktes – »real«. Individuum und kollektivierendes Konzept bedingen einander. Aus dieser Überlagerung und Amalgamierung von Individuellem und Kollektivem ergeben sich im Kontext des neuen Wertemodells in gleichem Maße emanzipatorische wie auch restriktive Konsequenzen für das bürgerliche Individuum. Auf der einen Seite fallen Klassengrenzen im Konzept ›Mensch‹ zusammen und bereiten so politische Partizipationskonzepte vor, auf der anderen Seite werden aber repressive moralische Grenzen eingezogen, die den Aus- oder Einschluss in die Wertegemeinschaft de facto regulieren. Gleichheit bedeutet somit als Obligation auch, dass alle den gleichen Normen und Werten unterworfen 83 84

85

Vgl. dazu Birgit Wägenbaur: Pathologie der Liebe. Literarische Weiblichkeitsentwürfe um 1800. Berlin 1996, S. 22–35. Hier wäre bereits die Pathologisierung der Sinnlichkeit zu nennen, aus der sich ein Hysterie-Diskurs abkoppelt. Vgl. zum ersteren Anne C. Vila: Enlightenment and Pathology. Sensibility in the Literature and Medicine of Eighteenth-Century France. Baltimore 1998, zum letzteren Elisabeth Bronfen: The Knotted Subject. Hysteria and its Discontents. Princeton 1998. Vgl. dazu das Kapitel zu ›Emilia Galotti‹.

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sind: Individualität ist nur innerhalb dieses Rahmens denkbar und legitimierbar, d. h. sie ist vorgängig im Sinne der Regeln begrenzt.86 1.1.

Lessing: Die emotionale Monopolisierung des Vaters und ihre Folgeprobleme

Spricht Peter Brooks mit Blick auf die rezeptionsästhetische Dimension des Melodramas im 19. Jahrhundert vom moralisch Okkulten,87 so könnte man im Gegensatz dazu für die sich umstrukturierende Wertewelt im 18. Jahrhundert vom moralisch Evidenten sprechen, das die Legitimation für die kommenden Jahrhunderte auf eben dieser ›natürlichen‹ Basis bereitstellt. Der Anspruch der Emotionen antizipiert und validiert diese expansive Moraloffensive. Die wichtige Funktion der sich neu im Kontext dieser Werte herausbildenden bürgerlichen Familie ist bei diesem Prozess nicht zu unterschätzen. Der Vater nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Familie ein und erfüllt vorübergehend eine zentrale, gleich doppelt kodierte Funktion in dem beschriebenen Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Universalisierung von Werten: In diesem Sinne wird er zu einem (ephemer zugleich innerhalb und außerhalb der Familie) wichtigen Stellvertreter der bürgerlichen Moral. Er repräsentiert die Familie als Wertegemeinschaft nach außen und betreut sie als empfindsam herrschender Vater nach innen: In den beiden Funktionen vermischen sich Individuum und Rolle, so dass der Vater zumindest vorübergehend einen kollektiven moralischen Anspruch mit einem individuellen verbindet.88 Die spezifische, emotionale Rolle des Vaters ruht in diesem Sinne vor allem auf zwei exponierten Pfeilern: zum einen dem Prärogativ der holistischen Individualität, die in der Familie anerkannt wird, zum anderen auf einem aus eben dieser Individualität erwachsenden Wertekanon. Diese prekäre Konstruktion ist dann für den Vater in seiner Doppelfunktion unproblematisch, wenn es im Inneren keine Wertedevianzen gibt, die spezifischen Konkretionen von bürgerlichen Werten (so etwa der restriktiven Sexualmoral) individuell lässliche Sünden gegenübergestellt werden, d. h. 86

87 88

In ›Miß Sara Sampson‹ klingen die Widersprüche bereits an, sind aber noch austariert. Es wird allerdings deutlich, dass moderne Vaterschaft, die sich aus diesen potentiell paradoxen Voraussetzungen speist, ein spezifisches Widerspruchspotential a priori inkorporiert, das sich nun im Laufe der Jahrzehnte zunehmend entfaltet. Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven, London 1976, S. 11–12. Vgl. dazu auch das Folgende zu ›Miß Sara Sampson‹.

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wenn er die Individualität respektieren kann, weil sie sich im Einklang mit den kollektiven Werten befindet. Individualität und Norm müssen dabei also paradoxerweise identisch sein. Von Anfang an ist diese Balance eine konstruierte, weil die Herkunftsfamilie nicht die einzige Bestätigungsinstanz darstellt, sondern die Fortpflanzungsfamilie (im Kontext der romantischen Liebe), die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend vehement ausbildet, einen (möglichen) Konkurrenzanspruch formuliert. Bereits in der emotionalen Fundierung von bürgerlicher Vaterschaft im Windschatten der bürgerlichen Werte findet sich so ein potentieller Widerspruch, der sich angesichts der Herrschaftsfunktion des Vaters noch intensiviert.89 Lessing schließt sich zwar in ›Miß Sara Sampson‹ und ›Emilia Galotti‹ mehr oder weniger einer Art zeitgemäßem blueprint für die idealtypische Anlage des Vaters an, insofern auch seine Vaterfiguren zwei wichtige kontemporäre Anforderungen (gemäß der neuen Funktion des Systems Familie) simultan erfüllen: nämlich Inkorporation in die familiale Gemeinschaft und Anerkennung der persönlichen Individualität. Nichtsdestoweniger bilden die Trauerspiele analytisch präzise die komplizierte Ausgangslage ab. Die von Lessing in ›Miß Sara Sampson‹ indizierte, prekäre Lösung schlägt eine Integration in die Familie qua Individualität vor, allerdings, das gilt es gleich genauer zu beschreiben, unter der Bedingung der vollständigen Entsinnlichung der Protagonistin. Da sich väterliche Autorität und bürgerliche Moralvorstellung gegenseitig bestätigen (die Moralvorstellung ist dabei der quasi-transzendente, ›wahre‹ Bezugspunkt, der Vater eine sichtbare Konkretion dieser ›self-evident truth‹), handelt es sich hier jedoch um einen sehr spezifischen Individualitätsspielraum, der Identität nur in einem bestimmten Radius ermöglicht.90 So gesehen ist die Integration immer auch vorgängige und nachhaltige Unterordnung (unter bestimmte Regelsysteme). Unter anderen verweist Karin Wurst in diesem Zusammenhang prägnant auf die eindrucksvoll vorgeführte väterliche Technik der zärtlichen Allgewalt und versteht sie als eigentliches Mittel der Unterwerfung: 89

90

Vgl. dazu das Kapitel ›Der Vater als Herrscher‹. Solange die Werte aus einer vorausgesetzten Ist-Situation in der Familie abgeleitet werden, befinden sich das Kollektive und Individuelle im Einklang – in dem Moment allerdings, wo moralische Devianzen auftreten und eine Moralvorstellung zunehmend von außen nach innen getragen wird (was im Laufe des 19. Jahrhunderts geschieht, was aber bereits in der Innen-Außen-Funktionsdualität des Vaters angelegt ist), erweist sich jede Abweichung als Problem. »Statt […] ›die göttliche Gestalt‹ […] Individualität zu reproduzieren, produziert sie, und zwar keine Individuen, sondern Kernfamilienmitglieder.« Friedrich A. Kittler: Dichter – Mutter – Kind. München 1991, S. 32.

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Die Autorität wird nicht durch äußere Gebote und Zwangsandrohungen durchgesetzt, sondern durch den emotionalen Zwang des Liebesgebots. Man könnte daher von einer Verinnerlichung der väterlichen Autorität sprechen. Sie bildet ein Zwangssystem, das bewirkt, daß die Wertewelt des Vaters in die eigenen Persönlichkeitsstrukturen übernommen wird.91

Das Konzept des Oszillationssymbols macht deutlich, dass in verschiedenen historischen Formationen unterschiedliche Aspekte dieser Ambivalenz betont und im Text reakzentuiert werden können: In meiner Arbeit wird der repressive Zugriff auf die töchterliche Identität, der sich als Integration darstellt, deswegen nicht ideologisch, sondern konstellativ verstanden. Er rehabilitiert sich unter der Prämisse, dass man die Werte und Normen als unhintergehbar anerkennt,92 wird aber problematisch, sobald der entsprechende Werthorizont an Evidenz und unterstellte Transzen91

92

Karin Wurst: »Familiale Liebe ist die wahre Gewalt.« Zur Repräsentation der Familie in Lessings dramatischem Werk. Amsterdam 1988, S. 114. Wurst unterstellt dem Vater vice versa genau diesen Machtimpuls, indem sie seinen Versuch, die töchterliche Liebe gegen jede Widrigkeiten zurückzugewinnen, als egoistische emotionale Absicherung brandmarkt – ein Aspekt, auf den Sir William bei der letzten Begegnung mit seiner Tochter selbst verweist – und damit hinter sich lässt: »Wenn du mich an mein Vergeben erinnerst, so erinnerst du mich auch daran, daß ich damit gezaudert habe. Warum vergab ich dir nicht gleich? Warum setzte ich dich in die Notwendigkeit, mich zu fliehen? Und noch heute, da ich dir schon vergeben hatte, was zwang mich, erst eine Antwort von dir zu erwarten? Itzt könnte ich dich schon einen Tag wieder genossen haben, wenn ich sogleich deinen Umarmungen zugeeilet wäre. Ein heimlicher Unwille mußte in einer der verborgensten Falten des betrognen Herzens zurückgeblieben sein, daß ich vorher deiner fortdauernden Liebe gewiß sein wollte, ehe ich dir die meinige wiederschenkte. Soll ein Vater so eigennützig handeln? Sollen wir nur die lieben, die uns lieben? Tadle mich, liebste Sara, tadle mich; ich sahe mehr auf meine Freude an dir als auf dich selbst.« Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. In: Werke und Briefe. (Werke 1754–1757). Hrsg. von Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner und Jürgen Stenzel. Bd. 3. Frankfurt am Main 2003, S. 89. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als MSa mit der entsprechenden Seitenzahl. In diesem Fall wäre Saras Identität eine transzendent abgesicherte und nicht nur ein Produkt der weltlichen Vaterordnung. So wie die Sünderin Sara am Ende als »Heilige« in den Tod entlassen wird und damit den übermäßigen Liebesvorschuss Sampsons retrospektiv rechtfertigt, erscheint Sir William nahezu durchgehend als Gesandter einer gottgewollten Ordnung: »Er ist es doch? Oder ist es eine erquickende Erscheinung, vom Himmel gesandt, gleich jenem Engel, der den Starken zu stärken kam? – Segne mich, wer du auch seist, ein Bote des Höchsten, in der Gestalt meines Vaters oder selbst mein Vater!« (MSa 88) Der Vater ist als Bote des Höchsten befugt, das Unrecht nachträglich abzusegnen und antizipiert auf diese Weise das Urteil der höchsten göttlichen Instanz: »SARA: Wiederhole mir alles, was du mir vor einigen Stunden Tröstliches sagtest. Wiederhole mir, daß mein Vater versöhnt ist und mir vergeben hat. Wiederhole es mir, und füge hinzu, daß der ewige himmlische Vater nicht grausamer sein könne.« (MSa 87) Der Text stellt Sir Williams Vorgehen in einen religiösen Kontext, der ihn als Vaterfigur in letzter Instanz unhintergehbar transzendent legitimiert: »Jawohl, einen göttlichen Mann: denn was ist göttlicher als vergeben?« (MSa 52)

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denz einbüßt. Die Ambivalenz in Lessings hier behandelten Stücken ist dabei allerdings keine nachträglich konstruierte, sondern eine bereits im Text angelegte, weil sich ein grundsätzlicher Widerspruch innerhalb des Wertesets abbildet und zudem eine hier für das Folgende entscheidende Konfrontation zweier Integrationsmechanismen stattfindet, die eine Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau gegenüber der Herkunftsfamilie positioniert.93 Nun sind Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie funktional komplementäre Phänomene, die für ein Individuum nicht notwendigerweise in konfliktueller Gleichzeitigkeit, sondern auch als zeitlich klar differenzierbare, gesellschaftlich geregelte Transition wahrgenommen werden können. In den hier vorliegenden Texten kollidieren allerdings die konkurrierenden Inklusionsansprüche der beiden Phasenmodelle. Das bedeutet, dass die familiäre Zugehörigkeit der Tochter/Geliebten/Ehefrau auch eine Frage der Macht ist94 und zwischen Vater und (Schwieger)sohn verhandelt werden muss. Da beide im Grunde über verschiedene Formen der Liebe die Integration regeln,95 wird die Sexualität als distinkte Größe zu einem Crossover-Phänomen: Sie berührt das Machtpostulat des Vaters und schreibt sich seinem Herrschaftsanspruch ein, auch wenn der Inzest ein rein virtueller (und nicht unbedingt ein latenter) bleibt. Aus der Konkurrenz zwischen zwei Integrationsmodellen entsteht ein Machtkonflikt, der – indirekt, aber in hohem Maße – sexuell aufgeladen wird. Michel Foucault hat mit Blick auf Sexualbeziehungen auf die Verquickung von einem Allianzdispositiv (das sich auf einem Regelsystem gründet, »das das Erlaubte und das Verbotene, das Vorgeschriebene und das Ungehörige definiert«96) und einem Sexualitätsdispositiv (das »vermittels mobiler, polymorpher und konjunktureller Machttechniken«97 funktioniert) hingewiesen:

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Genau wie es später die ausgebildete, romantische Liebessemantik zu leisten vermag, scheint die familial zugesprochene Einzigartigkeit im bürgerlichen Trauerspiel Identität und Individualität im Kontrast zu den gesellschaftlichen Verschiebungen vermitteln zu können. Vgl. dazu auch das Kapitel Herrschaft. Bei beiden Zugriffen handelt es sich um individualisierende und werteorientierte Formen der Liebe. Vgl. das Folgende. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Übersetzt von Ulrich Raulff, Walter Seitter. Bd. 1. Frankfurt am Main 1977, S. 128. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 128–129.

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Diese Verhäkelung von Allianz und Sexualität in der Familie macht einige Tatsachen verständlich: daß die Familie seit dem 18. Jahrhundert ein obligatorischer Ort von Empfindungen, Gefühlen, Liebe geworden ist: daß die Sexualität ihre bevorzugte Brutstätte in der Familie hat; und daß sie sich aus diesem Grunde inzestuös entwickelt hat.98

Mit Blick auf Lessings Texte nun wird die Ausgangslage aber noch anders beschreibbar: als komplizierte Aufspaltung zweier Integrationssysteme und einer paradoxen Synchronisierung, in deren Spannungsfeld um die weibliche Identität (als Tochter und Geliebte) gekämpft wird. Zu den Konsequenzen für die Konzeption von Weiblichkeit, die hier funktionsspezifisch99 mitgeformt wird, liegen bereits wichtige Untersuchungen vor.100 Deswegen liegt der Fokus im Folgenden auf einer spezifischen Integrationsvormacht, die Vater und Geliebter konkurrierend beanspruchen. In bezeichnender Weise werden hier Muster der Commedia dell’Arte zitiert und moralisch invertiert, indem der starrsinnige Alte in Sir William zum liebevoll verständigen Vater mutiert, was die Transgression des jugendlichen Paars per se zum Problem werden lässt.101 Gerade dieser Bezug verdeutlicht, wie sehr auch eine identifikatorische Sympathie mit dem neugebildeten Paar als ästhetisch tradierte Möglichkeit in dieser Konstellation mitschwingt und die Ausgangslage ästhetisch kompliziert. Aufgrund narrativer Traditionen und Muster präsentiert sich die ästhetische Analyse des von Foucault beschriebenen Problems anders: Hier kommen durch Konventionen geprägte Lesererwartungen ins Spiel, die es mit Blick auf die Umstellungsprozesse zu adaptieren gilt. Die neue Bedeutung der Entwicklungsdimension (bzw. der bürgerlichen Bildungssemantik) wird thematisch und narrativ zunehmend in einen Fokus auf die Zeugungsfamilie umgelenkt. Gerade der Entwicklungsroman etwa indiziert durch die Paarliebe am Ende das Erreichen eines (oft entelechisch 98

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Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 131. Foucault weist auch darauf hin, dass die Familie ein »Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz [ist]: sie führt das Gesetz und die Dimension des Juridischen in das Sexualitätsdispositiv ein und transportiert umgekehrt die Ökonomie der Lust und Intensität der Empfindungen in das Allianzregime.« Ebd., S. 131. »Das Patriarchat kann biologische Reproduktion nur dann durch die bürgerliche Ehe institutionalisieren, wenn weibliche Sexualität reguliert und überwacht wird.« Frömmer, Vaterfiktionen, S. 67. Zum Projektionscharakter vgl. insbesondere Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen von Weiblichkeit. Frankfurt am Main 1979. Vgl. dazu auch Klaus-Detlef Müller: Das Erbe der Komödie im bürgerlichen Trauerspiel. Lessings ›Emilia Galotti‹ und die commedia dell’arte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972), S. 28–60.

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gefassten) Ziels: Die Erfüllung bürgerlicher Werte ist damit komplexer geworden und straft nicht nur Überschreitungen, sondern mahnt auch eine Selbstentfaltung an, die sich innerhalb der väterlichen Welt nur noch schwer einlösen lässt. Das Verlassen des Elternhauses ist somit auch Prämisse für die männlichen Entwicklungsromane. Gleichzeitig kann mit einem solchen Fokus die in Lessings Dramen entfaltete Paradoxie zeitlich aufgelöst werden, indem klare temporale Zuständigkeitsverweise kreiert werden. Im Zuge der Priorisierung von Entwicklung nach Lessing liegt die Perspektive dann zunehmend beim zukünftigen Vater, dessen potentieller Konflikt mit seiner Herkunftsfamilie nun moralisch anders zu bewerten ist.102 In Lessings Text wird die Selbstentfaltung und -entwicklung als moralische Reifung dargestellt, die sich (auf signifikante Weise beschnitten)103 noch mit der väterlichen Machtsphäre legieren kann, weil beide unter der gemeinsamen Prämisse der evidenten, im Text objektivierten bürgerlichen Moral vereinbar sind. Insofern wird bei Lessing die Herkunftsfamilie noch als dominanter, wenn auch schon insgesamt brüchiger Identitätsrahmen verstanden, der über die Einschließung und Ausschließung im besonderen Maße filiale Identität reguliert; die (Schwieger)söhne treten dabei als im Rahmen des strikten Wertekonzepts ernstzunehmende (d. h. moralisch ebenbürtige) Gegner kaum in Erscheinung.104 Sir William steht für eine spezifische Stabilität ein, die von Sara und Mellefont zunehmend im Zeichen eines sexualisierten Liebesdiskurses dekonstruiert wird. Für die Bewertung der textimmanenten Handlung wird also vor allem die moralische Setzung entscheidend, auf deren Basis die Konkurrenz zwischen Vater und Mellefont verhandelt wird. 102 103 104

Vgl. das Kapitel zu den Majoraten. Insofern sie, wie oben beschrieben, in problematischer Weise das Körperliche ausschließt. Günter Saße etwa deutet Saras dramaturgisch effizient verzögerte Weigerung, die Verzeihung des Vaters anzunehmen, als Identitätskrise, in die sie in der Grauzone zwischen Herkunfts- und Zeugungsfamilie geraten ist. Sie verlange nach der starken patriarchalischen Hand, um in der strafenden Ausgrenzung die Zugehörigkeit zu der gottgegebenen Vaterordnung zu spüren: »Nach Saras Auffassung wäre es allerdings sehr viel, was sie ihm abtrotzen würde, nähme sie die Verzeihung an. Ausgelöscht wäre nämlich die traditionelle Familienordnung in ihrer komplementären Rollenverteilung des anordnenden Vaters und der gehorsamen Tochter […]«. Günter Saße: Die aufgeklärte Familie: Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen 1988, S. 163. Obwohl hier eine andere Deutung hinsichtlich der väterlichen Zärtlichkeit zum Tragen kommt, handelt es sich bei der Analyse der Identitätskrise um einen entscheidenden Hinweis, der im Folgenden näher erläutert wird.

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1.2.

Väterliche Emotion als moralische Wahrheit

Dabei wird die spezifische Emotionalisierung hier zum Schlüssel der väterlichen Macht,105 für deren Austarierung Lessings ›Miß Sara Sampson‹ ein griffiges Beispiel liefert. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts setzt sich Moral immer stärker in sichtbare Emotion106 um – insbesondere im Kontext der »Empfindsamkeit«,107 105

106 107

Nicht zu vergessen ist dabei die immer wieder im moralphilosophischen Kontext eingeforderte Notwendigkeit, das eigene Gefühl zu kontrollieren, vgl. dazu auch das nächste Kapitel. Zur vernunftbeherrschten Emotion vgl. exemplarisch: »Er kann fühlen, er kann im innersten Grund seiner Seele gerührt werden; aber er ist zugleich im Stande diese Bewegung durch die dazwischen kommende Vernunft zu bezähmen, daß sie nicht zu stürmisch werden«. (Anonymus: Von der Zärtlichkeit. In: Carlsruher Beyträge zu den schönen Wissenschaften. 3. Bd. Frankfurt und Leipzig 1765, 2. Stück, S. 126–134, hier S. 133.) Diesen Aspekt betont dann schließlich Immanuel Kant, der das moralische Gefühl in jedem Menschen ursprünglich angelegt sieht: Das moralische Gefühl »ist die Empfänglichkeit für Lust und Unlust bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze. Alle Bestimmung der Willkür aber geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur Tat; wo der ästhetische Zustand (der Affizierung des inneren Sinnes) nun entweder ein pathologisches oder moralisches Gefühl ist. – Das erstere ist dasjenige Gefühl, welches vor der Vorstellung des Gesetzes vorhergeht, das letztere das, was nur auf diese folgen kann.« Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Hrsg. von Bernd Ludwig. Hamburg 1990, S. 33. Alles, was die Freiheit des Urteils kompromittiert und auf Überwältigung basiert, sei dabei dezidiert abzulehnen: »Die Tugend also, sofern sie auf innerer Freiheit gegründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin das Gebot der Herrschaft über sich selbst, welches über das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen […] hinzukommt; weil, ohne daß die Vernunft die Zügel der Regierung in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen.« Ebd., S. 43. Vgl. zur Divergenz und Konvergenz von Kant mit Positionen der Empfindsamkeit Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974. Johann Georg Sulzer ist mit einer ähnlich klaren Präferenz für die moralische Empfindung als durchaus repräsentativer Vertreter der deutschen Empfindsamkeit anzusehen (vgl. dazu wiederum Sauder, Empfindsamkeit, S. 200). »Genöße jemand auch alle sinnlichen und intellektuellen Vergnügungen, es fehlte ihm aber an den moralischen, so würde er des besten Theils der Glückseligkeit beraubt seyn und gerade das Köstlichste in dem Daseyn eines denkenden Wesens nicht erkennen.« Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: Sulzer: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, S. 92. Vgl. dazu Sauder, Empfindsamkeit, S. 193–210. Campe versteht unter Empfindsamkeit »die Fähigkeit sittliche Empfindungen zu haben, und in engerer und gewöhnlicher Bedeutung, eine hohe Empfänglichkeit oder Fertigkeit in lebhaften sittlichen Empfindungen.« Johann Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. 1, Braunschweig 1807/1811, S. 902. Nikolaus Wegmann verweist hier auf die »moralisch positive Emotionalität«. Wegmann.: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 20.

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die den Konnex zwischen Zärtlichkeit und Sittlichkeit besonders betont:108 Zärtlichkeit demonstriert evidente Sittlichkeit.109 Bereits 1749 werden Gefühl und Zärtlichkeit als »Ruhm der Menschheit« verstanden, denn wer »zärtlich fühlt, ahmt die Natur am besten nach«.110 Michael Ringeltaube versteht etwa unter zärtlich »die leichten sinnlichen und vernunftähnlichen Triebe und Empfindungen« einer empfindsamen Natur: Daher ist endlich die moralische Zärtlichkeit überhaupt die Fertigkeit in freyen Handlungen und Empfindungen das Wahre, Gute, Edle, Liebenswürdige und Rührende geschwinde, nach der Wahl des Besten wahrzunehmen, und bald zu entdecken. Dahero hat sie nur freye Empfindungen. Und also denkt sie dabey, auf moralischen Gedanken beruhen alle unsre sittlichen Empfindungen.111

Wenn Zärtlichkeit bzw. Empfindsamkeit – ob in der »maßvoll hedonistischen Moral«112 der Anakreontik, der Freundschaftsrhetorik der 1760er, in der spezifischen Anthropologie des »good nature«-Konzepts, später im Sympathie-Konzept oder in der Theorie vom Mitleid113 – vor allem als proportioniertes, moralisch relevantes (und moralisch edukatives) Gefühl verstanden wird, wird über die väterlichen Empfindungen114 eine direkte Verbindung zur Moral etabliert und aufrecht erhalten.115 108

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Vgl. dazu Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1969. Sauder verfolgt daran anknüpfend die Genese der Empfindsamkeit bis in die fünfziger Jahre gerade mit Blick auf den damals aktuellen Terminus »Zärtlichkeit« zurück. Der zärtliche Vater ist damit ein sittlicher, er verliert nicht Kontrolle, sondern partizipiert via Emotionalität – wie es der Diskurs der 1760er Jahre vorsieht – an einem »moral sense«. Anonymus: Ode an Herrn S**. In: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. 5. Bd. 3. Stück, Bremen und Leipzig 1749, S. 209. Michael Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit. Breßlau, Leipzig 1765, S. 94. Sauder, Empfindsamkeit, S. 194. Dabei weist Sauder (im Sinne von Martens Ergebnis mit Blick auf die moralischen Wochenschriften) darauf hin, dass »die Beurteilung bürgerlicher Praxis im 18. Jahrhundert nicht von dieser Theorie einer Kommunikationsgemeinschaft durch Sympathie absehen kann«. Sauder, Empfindsamkeit, S. 198. Diese Empfindungen stehen dabei im Zeichen der väterlichen Zärtlichkeit und Empfindsamkeit; das diskursive Netz ist allerdings komplex und kann hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Vgl. dazu Sauder, Empfindsamkeit, S. 193–210. Vgl. dazu auch Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001. Vollhardt zeigt die Bedeutung naturrechtlicher Überlegungen auf und demonstriert besonders im Rekurs auf Samuel von Pufendorf, wie Konzepte der frühmodernen Sozialethik in der Literatur aufgenommen und in neuer Weise ausformuliert werden.

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Anders als die anderen gesellschaftlichen Systeme offeriert die Familie in den hier vorliegenden Stücken eine emotionale Identität, die auf alten Vatermodellen116 aufbaut, sie aber zugleich produktiv überschreitet: Vehi116

Hier lohnt ein kurzer Blick auf Christian Wolffs Überlegungen zu Elternschaft. Trotz des pragmatischen Gewands vermengen sich bei Wolff einerseits traditionelle Familienkonzepte, andererseits aber auch bereits neue Implikationen für das Familienmodell. Tatsächlich dominiert die soziale Organisationsform des ›ganzen Hauses‹ auch noch im späten 18. Jahrhundert, was nach Richard van Dülmen den »fiktiven Charakter« der bürgerlichen Familie exponiert. Vgl. Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühe Neuzeit. Bd. 1, S. 230–231. Auf diese Weise scheinen in Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes. Sechste Auflage. Franckfurt 1747 als Bestands- und Momentaufnahme 1721 wesentliche Aspekte in Bezug auf Vaterschaft präfiguriert, anhand derer im Abgleich mit Lessing noch einmal die komplexen und vielschichtigen Folgen der oben beschriebenen Emotionalisierung verdeutlicht werden soll. Das ›ganze Haus‹ stellt bei Wolff entsprechend der sozialen Realität einen wichtigen Zugriff auf das »gesellschafftliche Leben« dar: Folgerichtig deutet er das Eltern-Kind-Verhältnis im Kontext der großen Hausgemeinschaft. Die Dualität von Vater und Hausvater führt bei ihm in diesem Sinn schon zu einer konzeptuellen Doppelung der Vaterrolle. Entscheidend ist dabei allerdings, dass auch die Rolle des Vaters unabhängig von der Rolle des Hausvaters gewürdigt wird. Aber auch diese Eltern-Kind-Beziehung folgt vertragsrechtlichen und »vernünfftigen« Vorstellungen, denen zufolge sich die väterliche Gewalt als unantastbar erweist: »Das Recht die Kinder zu regieren, das ist ihrer Handlungen nach seinem Gutbefinden einzurichten, wird die väterliche Gewalt genennet: welche man nicht mit der väterlichen Gewalt der Römer vermengen muß, als welche nicht bloß die natürliche, sondern eine bürgerliche war.« (Ebd., S. 90) Kinder müssen in diesem Sinne gehorchen, weil sie ohne die väterliche Gewalt nicht bestehen könnten; Ziel ist dabei, den Kindern »Liebe zur Tugend« und »Abscheu vor dem Laster« zu vermitteln. Das umfassend beschriebene Tugendideal ist ein bürgerliches, das Sparsamkeit, Tüchtigkeit, Fleiß, Verschwiegenheit, Aufrichtigkeit ebenso vermittelt, wie es an integrale bürgerliche Werte wie »Gottseligkeit« (als natürlichen Tugendansporn) appelliert und darauf zielt, eine aufrichtige Liebe zu allen Menschen zu vermitteln. Aus diesem als natürlich verstandenen Erziehungsauftrag speist sich die unhinterfragbare, evidente Geltung des väterlichen Gesetzes (vgl. ebd., S. 71). Die Rolle der Eltern erweist sich hierbei als entscheidend: Mit Liebe und Strafe wird das Verhalten der Kinder gemäß der transzendenten Werte koordiniert, wobei ein wesentliches Steuerungsinstrument die kindliche Liebe darstellt, für die Wolff auch wiederum einen »vernünfftigen« Grund anführen kann: zum einen die Wohltaten, die ihnen die Eltern erweisen; zum anderen aber auch die ihnen wiederum entgegengebrachte elterliche Liebe, die Wolff als natürliche Gegebenheit voraussetzt. Allerdings kann von dieser doppelt evozierten Liebe (einmal als Dankbarkeit, einmal als emotionales Mimikry der elterlichen Zuneigung) »die kindliche Furcht nicht abgesondert werden. Derowegen, weil Kinder ihre Eltern lieben sollen […], so sind sie auch verbunden dieselben zu fürchten […] so sind die Mittel der Liebe auch zugleich die Mittel zur kindlichen Furcht.« Wolff, Vernünfftige Gedancken, S. 97. Zusätzlich zu dieser kindlichen Furcht erweist sich allerdings in vielen Fällen auch noch eine »knechtische Furcht« als notwendig, weil bei vielen Kindern die kindliche (aus der Liebe zu den Eltern geborene) Furcht nicht ausreicht, um den elterlichen Anordnungen zu folgen. Trotz dieser Durchmischung von pragmatisierter Emotionalität und Furcht wird immer wieder auf eine gegenseitige Liebe verwiesen, die als Quelle von Glückseligkeit und Vergnügen gedeutet wird. Nur auf der Basis dieser grundsätzlichen Eltern-Kind-Liebe funktionieren die erzieherischen Dogmen, die Wolff vorgibt. Der Vater erscheint als Mediator

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kel für dieses neue Verständnis von Vaterschaft ist genau die eben beschriebene exponentielle und moralisch imprägnierte Emotionalisierung, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts einsetzt und die Moral in einer neuen Form evident macht.117 Dass der Vater durch Zärtlichkeit herrscht, ist seit Bengt Algot Sørensens Monographie zu väterlicher Zärtlichkeit und Herrschaft118 in der Forschung eine eingängige Formel geworden; zum einen ist hier das unmittelbar damit verknüpfte Sittlichkeitsverständ-

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einer spezifischen Moral, als deren Stellvertreter er zu agieren hat. Auch Christian Fürchtegott Gellert formuliert in erstaunlicher faktischer Nähe zu Wolff ähnliche Erziehungskonzepte: so vor allem die Notwendigkeit von Strenge und Güte, von Liebe im Zeichen einer väterlichen Herrschaft, die wiederum einer speziellen Tugendvorstellung dient. Allerdings tut er dies vor allem unter empfindsamem Blickwinkel, wenn er – anders als der streng logisch deduzierende Wolff – zwar auf die schweren Pflichten der Elternschaft verweist, gleichzeitig aber auch die emotionale Seite ausführlich würdigt: Diese Aufgaben werden nämlich »durch einen beständigen Einfluß der Liebe so sehr versüßt, von dem Herzen der Eltern so nachdrücklich anbefohlen, von dem hülflosen Zustande der Kinder, die ein Theil von ihnen selbst sind, so sehr verlanget, von ihrer Dankbarkeit so oft vergütet, von der Freude über das heranwachsende Glück der Kinder so sehr belohnet, von den Schmerzen über die vernachlässigte Wohlfahrt derselben so sehr gerechtfertiget […], daß sie zugleich die natürlichsten und heiligsten, die mühsamsten, aber auch die angenehmsten Pflichten genannt werden können.« (Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Vorlesungen. Moralische Charaktere. In: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Sibylle Späth. Bd. 6. Berlin, New York 1992, S. 231.) Für Wolff wird die Weltordnung über Gott-Herrscher-Hausvater-Vater zur mehrfach gestuften Vaterordnung. Diese Konstruktion stärkt den bürgerlichen Vater, der Sachwalter der Werte-Transzendenz wird. Gerade über den entscheidenden Erziehungsgedanken wird die Herrschaft des Vaters bei Wolff zur moralischen Herrschaft. Die erzieherische Funktion, die im bürgerlichen Sinne zur Moral anhalten soll, bedient sich also zweier Techniken im Zeichen der väterlichen Liebe und Herrschaft: Abschreckung und Liebe. Moraldidaktische Abschreckung oder (praktizierte) Liebe zur Tugend (in Form von Bewunderung oder Mitleid) scheinen auch für zwei verschiedene Typen des bürgerlichen Trauerspiels entscheidend. Vgl. dazu Brigitte Kahl-Pantis: Bauformen des bürgerlichen Trauerspiels. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Dramas im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Bern, Las Vegas 1977. Bürgerliche Trauerspiele sind – ähnlich wie die in ihnen agierenden Väter – dazu angehalten, in ihrem Publikum ein Verständnis und eine natürliche Neigung zu den implizit oder explizit vorgeführten Werten zu schaffen. Auch wenn Cornelia Mönch in ›Abschrecken und Mitleiden‹ die Klassifikation von Trauerspielen in die Kategorien Mitleid und Abschreckung ablehnt, so betont auch sie die jeweilige moraldidaktische Funktionalisierung der jeweiligen Affekte und ihre Kombination. Wenn Lessing als Erziehungsmaxime den mitleidigsten als den besten Menschen voraussetzt, so muss dies innerhalb der patriarchalischen Ordnung notwendigerweise zu einer anderen Präsentationsform der väterlichen Liebe führen. In diesem Sinne gewinnt der Vater bei Lessing nun eine Stellung, die nicht mehr mit dem latent berechnenden Vater in ›Clarissa‹ oder dem zärtlich-gewaltsamen Vater in ›La Nouvelle Héloïse‹ zu vergleichen ist. Bezeichnenderweise ist dieser auch durch den missgünstigen Bruder aufgestachelt und oft absent. Vgl. dazu Florian Stuber: On Fathers and Authority in ›Clarissa‹. In: Studies in English Literature (1500–1900) 25 (1985), S. 557–574. Vgl. dazu insgesamt auch Frömmer, Vaterfiktionen, S. 191–265. Sørensen, Zärtlichkeit und Herrschaft.

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nis und die (auch über Emotion geregelte) Wahrnehmungsfähigkeit der filialen Individualität in diesem moralischen Kontext maßgeblich: Bereits Jean-Jacques Rousseau hatte ja in diesem Sinne die Familie als Ort einer (natürliche Sittlichkeit bedingenden) emotionalen Kommunikation angesehen, ebenso wie deutsche Aufklärungspädagogen in Vernunft, natürlicher Empathie und Güte die Grundlage für die »freiwillige Entscheidung des Menschen zum Guten«119 erkannten. Zum anderen kristallisiert sich ein auffälliger, ebenfalls mit diesem Moralhintergrund verbundener Monopol-Anspruch des Vaters gegenüber emotional konkurrierenden Ansprüchen heraus: Zum einen gegenüber den Müttern, zum anderen gegenüber dem Liebhaber/möglichen Ehemann der Tochter. 1.3.

Abgrenzung gegen die Mütter

Der bürgerliche Vater bei Lessing verkörpert – nach dem obigen Verständnis – ein »natürliches« Sittengesetz, das eine relative Unabhängigkeit von Konventionen beweist und naturalisiert es qua Emotionalität. Über die textliche Eliminierung120 seiner familieninternen Partnerin121 – der Mutter, deren Rolle in vielen bürgerlichen Trauerspielen entweder margi119

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Vgl. Gestrich, Familiale Werteerziehung, S. 127. Ingrid Blanke: Erziehung und Sittlichkeit. Ideengeschichtliche Studien zu den Anfängen heutiger Pädagogik, Heil- und Sozialpädagogik in der späten deutschen Aufklärung. Heinsberg 1984. Unter Umständen ist dies auch partiell dramaturgisch motiviert, vgl. Müller, Erbe der Komödie, S. 40. In ›Kabale und Liebe‹ allerdings erscheint die Eliminationslogik partiell bereits dramaturgisch unbefriedigend und erweist sich insofern auch inhaltlich interpretationsbedürftig. Vgl. Hans Henning: Schillers ›Kabale und Liebe‹ in der zeitgenössischen Rezeption. Leipzig 1976 [Werk und Wirkung. Bd. 1]: Tagebuch der Mainzer Schaubühne (1788): »Aus dem unbegreiflichen Verschwinden der Frau Millerin entsteht einen Lücke im Gange des Stückes. Sie sollte ja […] unter den nämlichen Bedingungen mit ihrem Manne auf freien Fuß gestellt werden, und doch erscheint sie nicht wieder, und Mann und Tochter bekümmern sich auch | nicht weiter um ihr Schicksal! Vermuthlich war sie dem Dichter in den letzten Szenen zu viel. Aber sie war doch nun einmal da, und so wollen wir von ihrem Verschwinden Ursache und Beziehung wissen.« Hier zitiert nach Henning, Schillers ›Kabale und Liebe‹, hier S. 228–229; vgl. dazu auch Streifereyen im Gebiete der Dramaturgie. Veranlasst durch die Vorstellungen der Franz Secondaischen Gesellschaft. Leipzig 1796, in: Henning, Schillers ›Kabale und Liebe‹, S. 270–271. Vgl. dazu Gail K. Hart: Tragedy in Paradise. Family and Gender Politics in German Bourgoise Tragedy 1750–1850. Columbia 1996. Susan E. Gustafson: Absent Mothers and Orphaned Fathers: Narcissism and Abjection in Lessing’s Aesthetic and Dramatic Production. Detroit 1995. Brigitte Prutti: Bild und Körper. Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen ›Emilia Galotti‹ und ›Minna von Barnhelm‹. Würzburg 1996.

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nal, fragwürdig oder inexistent ist122 – gewinnt seine väterliche Zärtlichkeit eine spezifische Qualität, bei der sich Sittlichkeit und Emotion gegenseitig begründen und naturalisieren. Mit dieser Zurückstufung der Mütter in den hier vorliegenden Stücken wird mit Blick auf den wahren moral sense und damit korrespondierender wahrer Zärtlichkeit ein überraschendes123 emotionales Monopol eingeführt, von dem die Ehefrauen in aufschlussreicher Weise ausgeschlossen bleiben müssen.124 Das transitorische125 Familienmodell bei Lessing scheint in diesem Sinne ein weitgehend dyadisches Arrangement zwischen Vater und Tochter, auf das die Mutter wenig oder gar keinen Einfluss hat. Insbesondere in ›Miß Sara Sampson‹ antizipiert die einzigartige Vater-Kind-Beziehung die 122

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Vgl. dazu auch Martha Kaarsberg Wallach: Emilia und ihre Schwestern: Das seltsame Verschwinden der Mutter und die geopferte Tochter. In: Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Hrsg. von Helga Kraft und Elke Liebs. Stuttgart, Weimar 1993, S. 53–72. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, denkt man zum Beispiel an Friederike Sophie Hensels 1772 fertig gestelltes Drama ›Die Entführung, oder: die zärtliche Mutter. Ein Drama in fünf Aufzügen‹, das aus dem 1770 uraufgeführtem Stück ›Die Familie auf dem Lande‹ entstand. In der überarbeiteten Fassung folgt die Mutter einem starren Tugendkonzept, das ironisch durch die Handlungsführung demontiert wird. Anders als bei Lessing gibt es hier keine individualisierte »Tugend«, sondern beide Töchter müssen sich den Vorgaben der Mutter fügen, wobei am Ende der zweiten Fassung zwar zwei Paarungen stehen, das Paar, das sich gegenseitig liebt jedoch aufgespalten und mit jeweils anderen (zwar respektierten, aber ungeliebten) Partnern verkuppelt wird. Insofern steht die »zärtliche Mutter« (der Titel ist eine Referenz auf Lessings ›Miß Sara Sampson‹ und ein expliziter Verweis auf die Tatsache, dass nur wenige Mütter sich im Zentrum eines bürgerlichen Trauerspiels befinden) hier sogar eher unter dem Verdacht, ihre ostentative Zärtlichkeit nicht mit dem bei Lessing etablierten individuellen Gehalt füllen zu können. Genaueres, vor allem auch zur Entstehungsgeschichte und Prätexten, in Anne Fleigs Nachwort zu Friederike Sophie Hensel: Die Entführung, oder: die zärtliche Mutter. Ein Drama in fünf Aufzügen. Mit einem Nachwort hrsg. von Anne Fleig, Hannover 2004, S. 75–86. Vgl. zu dieser Paradoxie auch Susanne Komfort-Hein: ›Miß Sara Sampson‹ »integriert einen Weiblichkeitsdiskurs, der die Frau als genuinen Ort der Authentizität empfindsamer Gefühlsgemeinschaft setzt. Die Vorführung des ›zu sich selbst kommenden Ich‹ in der moralischen Praxis profiliert jedoch den Vater als Agenten jenes Erziehungsprozesses ›zur Natur‹.« Susanne Komfort-Hein: »Sie sei, wer sie sei« – Das bürgerliche Trauerspiel um Individualität. Pfaffenweiler 1995, S. 131. Dies fällt besonders auf, wenn man die weiblichen Geschlechtscharakteristika bedenkt, die bereits im 18. Jahrhundert Emotionalität und übermäßige Zärtlichkeit den Frauen zuweisen, was allerdings offensichtlich mit einer moralischen Entkoppelung Hand in Hand geht, d. h. die weiblichen Gefühle scheinen weniger mit dem Werte-Kanon verbunden, als die des Mannes. In ›Kabale und Liebe‹ und ›Emilia Galotti‹ etwa erscheinen sie als latent eitle Kupplerinnen, die sich durch die Annäherungen der ranghöheren Bewerber um die Töchter leichtfertig geschmeichelt fühlen. Mit den Familienkonzepten um 1800 beginnt sich diese Setzung wieder zu verschieben; die Emotionalisierung des Vaters ist eine affirmative Interpretation seines Machtanspruches, der später motiviert wird. Insofern übernehmen auch die Frauen wieder stärker die ihnen zugewiesene emotionalisierte Position.

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Unbedingtheit der gegenseitigen Zuwendung der romantischen Paarliebe und entfaltet dabei eine maximal inklusive Wirkung, wie Sir Williams Überlegungen zeigen: Wenn sie mich noch liebt, so ist ihr Fehler vergessen. Es war der Fehler eines zärtlichen Mädchens, und ihre Flucht war die Wirkung ihrer Reue. Solche Vergehungen sind besser, als erzwungene Tugenden – Doch ich fühle es, Waitwell, ich fühle es; wenn diese Vergehungen auch wahre Verbrechen, wenn es auch fürchterliche Laster wären: ach! ich würde ihr doch vergeben. Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter, als von keiner, geliebt worden sein wollen. (MSa 434)

Sir Williams Anmerkungen verdeutlichen die komplexe Ausgangslage in mehrerer Hinsicht: Zum einen findet sich hierin die Konzession an die Form der Paarliebe, deren spezifisches Gedeihen in Saras Biographie zweifach motiviert ist. Auf die Rolle der absenten Mutter wird gleich einzugehen sein. Zunächst soll Saras doppelte Liebesfähigkeit genauer untersucht werden. Paradoxerweise indiziert gerade Saras Liebe für den Vater ihre emotionale Wahrhaftigkeit und wertet damit ihre Liebe für Mellefont auf. In ihren Vergehungen, so vermutet der Vater zugunsten der Flüchtigen, äußert sich eine ungebrochen-unschuldige Zärtlichkeit, die hier selbstbestätigend und selbst-evident ist (da sie »besser« als »erzwungene Tugenden« ist). In der emotionalen Authentizität Saras haben ihre beiden wichtigsten menschlichen Beziehungen eine quasi identische Quelle. Der Vater erkennt mit der einen automatisch die grundsätzliche (aber eben nicht die situative) Legitimität der anderen an. Erst konstellativ wird die Situation zum Problem (»ihre Flucht war die Wirkung ihrer Reue«, MSa 434). Sara selbst sieht in der Flucht eine irreparable Beschädigung ihrer töchterlichen Identität und verdächtigt ihren Vater einer zärtlichen Nachgiebigkeit, die letztlich in einer für ihn problematischen Regelverletzung enden müsste. Die entlaufene Tochter zu lieben, so führt sie aus, resultiert damit in einem unüberwindlichen, zwischen Moral und Individuum changierenden Paradox: »Sein sehnliches Verlangen nach mir, verführt ihn vielleicht, zu allem ja zu sagen? Kaum aber würde dieses Verlangen ein wenig beruhiget sein, so würde er sich, seiner Schwäche wegen, vor sich selbst schämen.« (MSa 473) Sara projiziert auf diese Weise einen für sie verlorenen Identitätsrahmen auf die Vater-Tochter-Beziehung.126 Der Text arbeitet sich im Fol126

Das ist auch mit Blick auf Lessings spezifische Konzeption des gemischten Charakters zu sehen, dessen Anlage eher zur Identifikation und zum alles entscheidenden Mitleid einlädt. Vgl. dazu genauer Martin Schenkel: Lessings Poetik des Mitleids im bürgerlichen Trauerspiel ›Miß Sara Sampson‹. Poetisch-poetologische Reflexionen. Mit Interpretationen zu Pirandello, Brecht und Handke. Bonn 1984, S. 55–59.

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genden daran ab, diese komplexe Ausgangslage zu entschärfen, was vor allem über die Transformation der Sünderin Sara zur Heiligen gelingt, die über eine quasi körperlose Zwischenstufe in einer heiligen Verklärung stirbt.127 Die »Entleibung« der Tochter erlaubt gegen Ende die regelkonforme Vaterliebe, die eine umfassende Re-Integration von einer rehabilitierenden Sublimierung der Sinnlichkeit abhängig macht. Textlich impliziert wird damit eine Körperlichkeit,128 die zugleich als störender Faktor abgestreift wird. Auch wenn das Ende tragisch ist, vollzieht sich doch darin zugleich die ephemere Zusammenführung von Vater, Tochter und Liebhaber. Mit ihrer Selbstreinigung beseitigt Sara das von ihr kreierte Problem und markiert auch den Kernkonflikt in der Beziehung zu Mellefont. Ihre emotionale Anfälligkeit stellt sich dabei in einem zweifachen Aufriss dar: Zum einen werden durch ihre Gestik und Mimik physisch beglaubigte Gefühle als wahr kommuniziert; zum anderen erweisen sich die unmittelbaren, physischen Reaktionen (oder emotionale Reaktionen, die physische Konsequenzen haben) nicht immer als verlässlich, vor allem, da hier die Würdigkeit Mellefonts129 per se als problematisch erscheinen muss. Hin- und hergerissen zwischen zwei Werte-Diskursen130 ist Mellefont ein Liebhaber, der vor der Ehe, d. h. vor der Perpetuierung der romantischsinnlichen Liebe, zurückschreckt: Damit verkörpert er in seiner durchaus authentischen Ratlosigkeit einen Übergangsdiskurs, in dem sich Sinnlichkeit,131 Einzigartigkeit und dauerhafte Ehe allmählich (unter den strengen Auflagen der zeitgenössischen Sittlichkeitsgebote) amalgamieren: »Sara Sampson meine Geliebte! Wie viel Seligkeiten liegen in diesen Worten! – Sara Sampson meine Ehegattin! – Die Hälfte dieser Seligkeiten ist verschwunden! Und die andere Hälfte – wird verschwinden. – Ich Ungeheuer!« (MSa 489) 127 128

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Vgl. dazu Frömmer, Vaterfiktionen, S. 161. Vgl. zur insgesamt komplexen Konzeption von Körperlichkeit Veronica Kelly, Dorothea von Mücke (Hrsg.): Body & Text in the Eighteenth Century. Stanford 1994. Auch Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Zu Mellefont als Verführer neuen Typs, der die Liebe über die Sexualität stellt, vgl. Günter Saße: Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert. Darmstadt 1996, S. 120. Mag Sir Williams Antagonist die de facto durch Marwood verkörperte sinnlich-korrupte Wertewelt sein (so argumentiert Frömmer, Vaterfiktionen, S. 133–162), fällt doch bei genauerer Betrachtung auf, dass diese vor allem mittelbar, nämlich über Mellefont, eine Rolle im Text spielt. Diese Form der Sinnlichkeit wird lediglich negativ bestimmt, insofern das abschreckende Beispiel Marwoods dazu dient, eine spezifische Form der Erotik auszuschließen. Vgl. Von Mücke, Virtue and the Veil of Illusion, S. 110–112.

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Topographisch stagniert die Handlung dem Zögern Mellefonts entsprechend nicht nur zwischen Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie, sondern auch in dem »elenden Wirtshaus« (MSa 433). Die im Text zum Schluss unter der Ägide Sir Williams sublimierte Sinnlichkeit wird für die bürgerliche Tochter erst durch den geliebten Verführer zum Verhängnis: In der Paarfiguration Sara und Mellefont wird eine Durchlässigkeit zweier antagonistischer Werte-Sphären zur gemeinsamen Sonderwelt der Liebe erkennbar (eine Paradoxie, die das Produkt, nämlich die romantische Liebe, gerade auch in der Körperlichkeit, problematisiert). Wenn Sir William am Ende die moralische Oberhand behält, so tut er dies, indem er die eigene Wertesphäre bestätigt und eine bedrohliche Sinnlichkeit eliminiert – und genau diese Sinnlichkeit verkörpert sich gerade auch in Mellefont selbst, der sich der eigenen Verwilderung bewusst scheint: »Vermaledeite Einbildungen, die mir durch ein zügelloses Leben so natürlich geworden! Ich will ihrer los werden, oder – nicht leben.« (MSa 490) – Mit der hier formulierten Entschlossenheit, sich der Welt Sir Williams einzugliedern oder – unter der Gerichtsbarkeit dieser Wertesphäre – zu sterben, begibt sich Mellefont in diesem Sinne unter die Obhut der bürgerlichen Welt und damit auch in Sir Williams Machtbereich – darauf wird im nächsten Kapitel noch genauer einzugehen sein. Judith Frömmer hat betont, dass mit Sir Williams Brief an seine Tochter eine Versöhnung auf diskursiver Ebene der eigentlichen Begegnung vorgeschaltet wird. Waitwell bekommt zudem den Auftrag, die mimische und gestische Reaktion der Tochter unter der Prämisse einer (noch) verfügbaren körperlichen Wahrheit132 zu analysieren133 und herauszufinden, ob die Tochter den Vater nicht mehr liebe. Denn allein dies könnte Sir William dazu bewegen, Sara aufzugeben. Frömmer deutet dies im Kontext des väterlichen Bestrebens, eine maximale Vergeistigung zu erreichen: Das väterliche Wort muß sich des ›weiblichen‹ Körpers der Sprache weitgehend entledigen, um die Materialität sinnlicher Signifikanten als Quelle des Irrtums zu reduzieren. […] Setzt Saras Heimkehr zum himmlischen Vater die 132

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Zur eloquentia corporis vgl. Alexander Koˇsenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. [Theatron, Bd. 11] Vor allem für die englische Literatur vgl. außerdem Paul Goring: The Rhetoric of Sensibility in Eighteenth-Century Culture. Cambrigde u. a. 2005. »In der kurzen Entfernung von der Tugend, kann sie die Verstellung noch nicht gelernt haben, zu deren Larven nur das eingewurzelte Laster seine Zuflucht nimmt. Du wirst ihre ganze Seele im Gesichte lesen.« (MSa 468)

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Sublimierung ihres fehlbaren irdischen Körpers voraus, so gründet sich die neue Gattung des bürgerlichen Trauerspiels auf eine Eindämmung der Sinnlichkeit der dramatischen Rede.134

Die Eindämmung der Sinnlichkeit als integrale Voraussetzung der väterlichen Macht (nicht nur als Diskursregelung) wird im Folgenden weniger als textuelle Redeordnung betrachtet, sondern vielmehr als ein textliches Verfahren der Wertvalidierung und -hierarchisierung, mit der sich der Vater vom Liebhaber abgrenzt und den eigenen Herrschaftsbereich affirmiert. Indem Waitwell als Bote eingesetzt wird, ergibt sich eine paradoxe, zeitgleiche Distanzierung und Immediatisierung von den körperlichen Reaktionen: Sind sie auf der einen Seite »wahr« und transportieren die Emotionen ungebrochen, so besteht Sir William doch auf ihrer Rückübersetzung in Sprache durch Waitwell. Damit gewinnt der »zärtliche Vater« Kontrolle und sublimiert intentional die Gefühle, die es zunächst abzustreifen gilt, bevor ein Gespräch stattfinden kann: Ich werde ihrer Gesinnungen dadurch gewiß, und mache ihr Gelegenheit, alles, was ihr die Reue klägliches und errötendes eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, ehe sie mündlich mit mir spricht. Es wird ihr in einem Briefe weniger Verwirrung, und mir vielleicht weniger Tränen kosten. (MSa 467)

Gefühlskontrolle auf beiden Seiten wird der grundsätzlichen Existenz der Emotionen entgegengehalten. Der Vater liebt grenzenlos, kanalisiert dies jedoch in eine briefliche Form, womit er eine Begrenzung demonstriert, die der weiblichen emotionalen Entgrenzung (bedingt in Sara, unbedingt in Marwood) entgegengesetzt ist.135 In der über die Distanz generierten väterlichen Nähe bildet sich emotionale Intimität genauso ab wie ihre Regulierung. Im Abgleich zwischen verschiedenen Sphären von Männlichkeit und Weiblichkeit gewinnt Sir William dabei eine Sonderstellung, die ihn auch besonders gegen die tote Mutter abgrenzt. Das Fehlen der Mutter sieht Sara selbst als entscheidend für ihre (hier primär als Unerfahrenheit markierte) Verfehlung:136 134 135 136

Frömmer, Vaterfiktionen, S. 149. Vgl. zu männlichen und weiblichen Ordnungen der Sprache Frömmer, Vaterfiktionen, S. 133–162. Diese Selbsterklärung bewegt sich ganz im Einklang mit dem zeitgenössischen Umgang mit Verführung. Vgl. dazu exemplarisch auch Pia Schmidt: Verfolgte Unschuld – Ohnmächtiges Weib. Zwei Motive in Frauenzeitschriften um 1800. In: Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte. Hrsg. von Ines Lindner, Sigrid Schade, Silke Wenk, Gabriele Werner. Berlin 1989, S. 415–428.

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Trauriger Vorwurf, den ich mir ohne Zweifel nicht machen dürfte, wenn eine zärtliche Mutter die Führerin meiner Jugend gewesen wäre! Ihre Lehren, ihr Exempel würden mein Herz – So zärtlich blicken Sie mich an, Mellefont? Sie haben Recht; eine Mutter würde mich vielleicht mit lauter Liebe tyrannisiert haben, und ich würde Mellefonts nicht sein. Warum wünsche ich mir denn also das, was mir das weisere Schicksal nur aus Güte versagte? Seine Fügungen sind immer die besten. Lassen Sie uns nur das recht brauchen, was es uns schenkt: einen Vater, der mich noch nie nach einer Mutter seufzen lassen; einen Vater, der auch Sie ungenossene Eltern will vergessen lehren. (MSa 488)

Tyrannisiert von »lauter Liebe« der Mutter hätte die Beziehung zu Mellefont vermieden werden können – eine kontrafaktische Voraussetzung, die zwar von Sara (im Zwiegespräch mit Mellefont) nachteilig gedeutet wird, die aber nach dem Verständnis der zeitgenössischen Tugendvorstellung die Verhinderung der Ausgangskatastrophe bedeutet hätte.137 Angesichts der textlich inszenierten Dynamik der Paarliebe bleibt die Rolle der Mutter nichtsdestoweniger ambivalent und wird beiläufig in ihrer notwendigen, gender-gebundenen Schutzfunktion evaluiert. Zudem erscheint die Qualität der mütterlichen Liebe138 hier als zweifelhaft. Die edukative Funktion der Mutter ist eine zurückgenommene139 und beschränkt sich auf zärtliche »Tyrannei«. Das entspricht dem zeitgenössisch gängigen – besonders auch bei Rousseau propagierten – Ver137

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Diese Deutung muss angesichts der intensiven, schließlich auf Dauer ausgerichteten Beziehung zwischen Mellefont und Sara ambivalent bleiben. Indem auf die konventionelle Schutzfunktion der Mutter in weiblichen Tugendbelangen verwiesen wird, kann eine spezifische dramaturgische Logik generiert werden: Die von Unschuld getragene Verführbarkeit wäre mit einer Mutter in dieser Form nicht denkbar gewesen. Die ernsthafte (und deswegen legitime) Liebe zu Mellefont kann nur unter spezifischen Umständen kultiviert werden, ohne dass Sara als substantiell verdorben erscheinen müsste. Man denke hier an Pestalozzis Roman ›Lienhard und Gertrud‹, der die Bedeutung wahrer Mutterliebe für die sittliche Entfaltung der Kinder betont, vgl. Johann Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud. Ein Versuch, die Grundsätze der Volksbildung zu vereinfachen. Ganz umgearbeitet [1790, 1792], bearbeitet von Gotthilf Stecher. In: Sämtliche Werke (1790–1792). Hrsg. von Artur Buchenau, Eduard Spranger, Hans Stettbacher. Bd. 4. Berlin, Leipzig 1929. In der ›Hamburgischen Dramaturgie‹ weist Lessing mit Blick auf die ›Mütterschule‹ von Marivaux überdies auf die unheilvolle Tendenz hin, Unwissenheit künstlich zu perpetuieren, eine mütterliche Erziehungstechnik, die oftmals zum entgegengesetzten Ergebnis führt: »[…] die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung läßt: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten kann. Das liebe Mädchen hat ein empfindliches Herz; sie weiß keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mamma darum zu fragen, und Mamma mag dem Himmel danken, daß es noch so gut abläuft.« Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Werke 1767–1769. Hrsg. von Klaus Bohnen. Bd. 6. Frankfurt am Main 1985, S. 284.

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ständnis vom Vater als Vernunft- und Moralerzieher,140 das die Frau als Vermittlerin von vernunftgeleitetem Verhalten und Werten ausschließt.141 Insofern betrachtet auch Sara die Rolle und Funktion der verstorbenen Mutter weniger als ein zu unabhängigem Werteurteil anleitendes Vorbild,142 sondern als überzärtlich-protektive Aufsicht. Während die dramaturgische Logik an konventionellen geschlechterspezifischen Kompetenzbereichen hinsichtlich der Erziehung von jungen Mädchen festhält, wird die besondere Liebesfähigkeit der Mutter vom Vater vollständig übernommen und im Sinne seiner Werteethik substantiell ausgefüllt. Der kurze Verweis auf die Mutter macht ihre emotionale Entbehrlichkeit für das Stück vollkommen. Indem der Vater nun in Personalunion eine moralkompatible Emotionalität vertritt, wird literarisch die Emotionalität als »vernünftig« aufgewertet; gleichzeitig wird mit dieser Valorisierung ein holistisches Supremat des Vaters eingefordert, mit dem er zum entscheidenden und alleinigen Verwalter von familiärer Inklusion avanciert; die dabei demonstrierte Emotionalität »beweist« diesen Anspruch qua Evidenz.143 Die eben zitierte Passage ist zum anderen aber auch für den in ihr vertretenen, ge-genderten Tugendbegriff entscheidend. Abgesehen von einer menschlichen »Tugend« (verstanden als generelle Konformität mit den bürgerlichen Werten) lässt sich aus Saras eigener retrospektiver Analyse des Unglücks ein spezifisch weiblicher Tugendbegriff ableiten.144 Obwohl auch später noch in Joachim Heinrich Campes ›Väterlichen Rath für meine Tochter‹ (1789) der Tochter eine allgemeine Menschlichkeit kon140 141

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Gestrich, Familiale Werteerziehung, S. 128. Vgl. dazu Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Vollständige Ausgabe in neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidt. 13Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, besonders die Kapitel: ›Der Vater als Erzieher‹ und ›Erzieher und Zögling‹, S. 22–29. Vgl. zur ideologischen Funktion der literarisch kreierten Väter als »Vorbild« Wild, Vernunft der Väter, S. 243–250. Zu der insgesamt deutlich ambivalenten Einstellung zur Mutterschaft in Abgrenzung zu Elisabeth Badinter: Mutterliebe. Zur Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München 1981, vgl. Claudia Opitz: Mutterschaft und weibliche (Un-)Gleichheit in der Aufklärung. Ein kritischer Blick auf die Forschung. In: Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Hrsg. von Claudia Opitz, Ulrike Weckel. Münster 2000, S. 85–106. Inge Stephan: »So ist die Tugend ein Gespenst«. Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller. In: Lessing Yearbook 17 (1985), S. 1–20.

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zediert wird,145 avanciert doch im Laufe des 18. Jahrhunderts die virgo intacta146 immer deutlicher zum hypostasierten Paradigma weiblicher Tugend – ein pars pro toto-Konzept, das bereits in den bürgerlichen Trauerspielen unübersehbar wird, wenn die konstitutive Kollision zwischen Tugend und Verführung mit Blick auf die Frau als sittlicher Konflikt inszeniert wird. Ihrer »Tugend«147 kommt dabei immer auch eine gesellschaftliche Symbol-Funktion zu,148 die das sozial-familial Destabilisierende im Bereich der Sexualität verortet. Mit Blick auf die Risiken gewinnt der moralisch-emotional legitimierte Vater in diesem Sinne eine wichtige gesamt-regulatorische Funktion. Gleichzeitig erwächst zum anderen die textliche Katastrophe aus einer situativen Fehlkonstruktion, die plötzlich erkennbare, innere Strukturen der Paarbeziehungen nicht per se dementiert. Damit führen Texte wie ›Miß Sara Sampson‹ und ›Emilia Galotti‹ in einem innovativen Schritt über die bisher gültigen Regeln des empfindsamen Liebescodes (der durch »eine scharfe Opposition von Zärtlichkeit und zärtlicher Liebe zu ›Wollust‹ gekennzeichnet war«)149 hinaus und projektieren im Potentialis eine neue Form der Gefühlsregulierung (durch Kanalisierung), die mit der des Vaters konkurriert. 145

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»Du bist ein Mensch – also bestimmt zu Allem, was der allgemeine Beruf der Menschheit mit sich führt. Du bist ein Frauenzimmer – also bestimmt und berufen zu Allem, was das Weib dem Manne, der menschlichen und der bürgerlichen Gesellschaft sein soll.« Hier zitiert nach Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet. Ausgabe der letzten Hand, in der Reihe die siebente. Braunschweig 1809, S. 6–7. Vgl. auch zum symbolischen Wert der virgo intacta mit Blick auf ›Emilia Galotti‹ Christopher J. Wild: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. Freiburg 2003, S. 291–317. In ›Miß Sara Sampson‹ wird diese zumindest ex negativo hervorgehoben, auch wenn die Protagonisten sie selbst als zweitrangig abweisen. Diese Unbefangenheit in einer geschlechtsneutralen Moral kann unter Umständen auch auf Saras exponiert hervorgehobene Mutterlosigkeit zurückgeführt werden. Campe hebt dies ebenfalls dezidiert hervor: »Tausend Äußerungen einer freien, unabhängigen Selbständigkeit sind dem Manne – so will es die Weltsitte – vergönnt oder werden ihm nachgesehn, euch nicht!« Campe, Väterlicher Rath, S. 34. Das deckt sich mit der juristischen Situation, insofern Frauen stärker durch Gesetze und Regeln diszipliniert wurden: »Hier wie in vielen anderen Fragen des Sexualrechts verfolgte die kirchliche und weltliche Moralpolitik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein gemeinsames Ziel: Auch wenn man sich vordergründig um den sittlichen Zustand der Gesellschaft sorgte, diente die Regulierung und Sanktionierung des Sexuellen vor allem der Inszenierung der kirchlichen und weltlichen Herrschaft und der Stabilisierung der Sozial- und Geschlechterhierarchien.« Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. München 2002, S. 53. Frauen müssen dementsprechend nicht nur ihre innere Sittlichkeit kultivieren, sondern immer auch darauf achten, wie man ihre Handlungen beurteilt. Vgl. Jutta Greis: Drama Liebe. Zur Entwicklungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 52. Vgl. auch insgesamt S. 52–60.

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1.4.

Paternale Entsexualisierung und Kulturalisierung der Familienbildung: Konkurrenz zwischen Mellefont und Sampson

Doch der Vater wird damit nicht nur zum entscheidenden emotionalen Elternteil: Er kreiert seinen Machtbereich quasi selbständig. Die fehlende Mutter verweist insofern nicht nur auf die emotionale Sonderstellung des Vaters, sondern – wie Friedrich Kittler anhand von Nathan der Weise hervorhebt150 – er akzentuiert auch schon in der Herkunftsfamilie die kulturelle Familienbildung. Die durch Mellefont ins Spiel gebrachten, sinnlichen Interferenzen werden dementsprechend dezidiert zurückgenommen,151 wenn Saras Vater am Ende eine andere Art der Familie begründet: eine, die sich nicht mehr auf Blutverwandtschaft gründet (denn Mellefont scheidet als vermittelndes Glied am Ende aus), sondern auf einem »Vermächtnis«, das nicht mehr als Spiegelung von Saras Fehltritt erscheint, sondern als konzeptueller Entwurf einer gedanklichen Verbindung. Familie perpetuiert sich hier vor allem durch väterliche Sittlichkeit und Pietät, nicht durch Prokreation. Die neue Familie am Ende ist damit wiederum Sir Williams Werk; sie insinuiert in irritierender Weise die Austauschbarkeit der Tochter im Zeichen der töchterlichen Liebe.152 Die Liebesbeziehung zwischen Partnern wird durch die väterliche Liebe reguliert. Damit definiert sich die Keimzelle der Familie im bürgerlichen Trauerspiel auf symptomatische Weise neu. Der Fokus rückt vom Paar, das als problematische Figuration quasi virtuell zeugungsunfähig wird, auf den Vater, der schließlich im Alleingang die Quintessenz der familialen Liebe abzuspeichern vermag. Wie bereits eingangs betont, bleibt die Paarliebe (und alles, was ihr zugeordnet ist, somit auch die Dichotomie »Tugend« versus Sinnlichkeit) paradoxerweise als legitimer Störfaktor erhalten und konstituiert eine komplexe und zukunftsweisende Formel der

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Kittler, Dichter – Mutter – Kind, S. 26–33. Elena Vogg weist auf die spezifische weibliche Tugendkonzeption hin, die Sexualität grundsätzlich mit einem Makel behaftet sieht und deshalb in der Vater-Tochter-Beziehung die tugendhafte Liebe »in der reinsten Form versinnbildlicht« sieht. Vogg: Die bürgerliche Familie zwischen Tradition und Aufklärung. Perspektiven des ›bürgerlichen Trauerspiels‹ von 1755–1800. In: Bürgerlichkeit und Umbruch. Studien zum deutschsprachigen Drama 1750–1800. Hrsg. von Helmut Koopmann. Tübingen 1993, S. 53–92, hier S. 63. Vgl. Komfort-Hein, »Sie sei, wer sie sei«, S. 132. Komfort-Hein weist darauf hin, dass »der Text […] einen Weiblichkeitsdiskurs [integriert], der die Frau als genuinen Ort der Authentizität empfindsamer Gefühlsgemeinschaft setzt. Die Vorführung des ›zu sich selbst kommenden Ich‹ in der moralischen Praxis profiliert jedoch den Vater als Agenten jenes Erziehungsprozesses ›zur Natur‹.« Ebd., S. 131.

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Konkurrenz zwischen Vater und Geliebtem der Tochter (bzw. zukünftiger Frau des Sohnes).153 Von hier aus muss die Abwesenheit der Mutter neu verhandelt werden, insofern ihre poetische Absenz nicht nur der Monopolisierung der Elternliebe als spezifische Vaterliebe dient. Vielmehr erscheint die biologische Vaterschaft zugunsten einer geistig-emotionalen zurückgestellt: In einer solchen Konstellation wird die Mutter noch in einem anderen Zusammenhang überflüssig.154 Der Vater wird vom biologischen Vater zum kulturellen Vater, als dessen entscheidendes Vermittlungs- und Erziehungsmedium die väterliche Liebe erscheint. Über die Liebe generiert und erhält er seinen einzigartigen Einflussbereich, der sich in ›Miß Sara Sampson‹ bis hin zur per Definition eingeschlossenen Enkelgeneration (Arabella) erstreckt. Der Vater scheint der Tochter allerdings nicht die Sexualität vorenthalten, sondern sie vielmehr zielgerichtet in eine sittlich einwandfreie, eheliche Verbindung kanalisieren zu wollen. Freilich handelt es sich bei den avisierten Ehen zumeist um Verbindungen, die der eigentlichen, krisenhaften Paarbildung in den Trauerspielen entgegengesetzt scheinen: So ist selbst Emilia vom Prinzen in einer anderen Weise angezogen als von ihrem Verlobten Appiani. Der Liebhaber der Tochter durchbricht die dyadische Befriedung mit einer neuen Form der Liebe, die – gerade im Kontext des Trauerspiels – illegitim sexualisiert erscheint.155 Indem deutlich wird, dass der Liebhaber deshalb zum Konkurrenten wird, weil er der Tochter etwas qualitativ anderes bietet als der Vater, findet sich bereits in ›Miß Sara Sampson‹ die latente Konkurrenz zwischen romantischer Liebe und väterlicher Liebe, die zwei verschiedene Modelle der Sinnstiftung offeriert. Gleichzeitig wird deutlich, dass Saras Fehlverhalten ihre grundsätzlich menschliche »Tugendhaftigkeit« nicht in Frage stellt. Bereits Sara und Mellefont fühlen eine gegenseitige Liebe, die den kompensatorischen Validierungstechniken der romantischen Liebe vorgreift. Diese Form der Liebe legitimiert sich qua Existenz; das bürgerliche Trauerspiel ›Miß Sara Sampson‹ akzeptiert unterschwellig diese Legitimation und legt sie der Figurenmotivation zugrunde. Zugleich wird die Frage nach der Priorität 153

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Vgl. zur Sublimierung in der Aufklärung Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Koschorke verweist insgesamt auf eine Schriftkultur, die eine unterdrückte Körperkultur kompensiert. Vgl. dazu die angedeutete Funktion der Mutter als spezifische Tugendwächterin. Diese Liebe wird nicht vollständig negiert, sondern als ambivalente Zuneigung etabliert, die in ›Miß Sara Sampson‹ den Vater schließlich von der (in der Krise freigelegten) Liebesfähigkeit Mellefonts überzeugt.

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eindeutig zugunsten des Vaters geklärt. Letztlich setzt sich Sir Williams dezidierte Entsexualisierungspolitik durch. So wie Odoardo in ›Emilia Galotti‹ (in einer endogamen Einfärbung) sorgfältig den Schwiegersohn zunächst als Sohn und dann erst als Mann der Tochter rekrutiert,156 so intendiert Sir William mit der Anerkennung Mellefonts eine ähnliche Kulturalisierungsleistung, die den Verführer nachträglich als Sohn anerkennt. Er akzentuiert auf diese Weise das Vater-Kind-Verhältnis vor der eigentlichen Paarbeziehung und purifiziert damit den Lapsus der Tochter retrospektiv. Dass der Vater dabei den für die romantische Liebe integralen, sexuellen Bereich kolonialisiert (primär durch Entsexualisierung), bringt ihn indirekt in Verbindung mit diesem Territorium. Die emotionalisierte Konkurrenz zwischen Liebhaber (der im Zeichen der romantischen Liebe ähnlich holistische Liebesvorgaben berücksichtigt wie der Vater) und dem Vater generiert hier eine inzestuöse Aufladung der Vater-Tochter-Beziehung über den väterlich-holistischen Herrschaftsanspruch, die sich in das Oszillationssymbol »Vater« einschreibt und sich rückwirkend diagnostizieren und aktivieren lässt. 1.5.

»Eine modernisirte, von allem Staatsinteresse befreyete Virginia«? – Macht- und Zärtlichkeitsassertion des Vaters

Die vorangegangenen Überlegungen machen deutlich, dass mit dem bürgerlichen Wertemodell Umstellungen in der Gesellschaft verarbeitet werden und dass diese konzeptuelle Restrukturierung auch postulativ wirksam wird. Insofern das Wertemodell ein individuelles ist, erscheint die Familie und die Privatsphäre als »natürlicher« Ort, diese Werte zu leben und zu vermitteln. Bereits in ›Miß Sara Sampson‹ deutet sich allerdings an, wie schwer die Familie um die Jahrhundertmitte als kohärente Wertesphäre aufrechtzuerhalten ist. Besonders deutlich wird das immanente Konfliktpotential nicht nur an der nivellierenden Qualität der Werte, sondern vor allem auch an der Konfrontation von Vater und Geliebtem, eine Auseinandersetzung, die in ›Miß Sara Sampson‹ noch theoretisch inklusiv (wenn auch bezeichnenderweise letztlich tragisch) verläuft. Die Evidenz der »Tugend« (als weiblichem Spezial-Wert) kann sich nämlich nicht allein auf der töchterlichen Initial-Integrität begründen. Sie bedarf des edukativen, um nicht zu sagen restaurativen (bzw. in ›Emilia Galotti‹ eines tödlich endenden) Eingreifens des Vaters. Die Problematik der Tochter besteht dabei 156

Vgl. zur »Adoption des Schwiegersohns« Kittler, Dichter – Mutter – Kind, S. 33–37.

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genau in ihrer transitiven Stellung zwischen Vater und Partner, auf die sich die Stücke kaprizieren. Dass der Übergang zum Problem wird, hängt mit der spezifischen Qualität der Liebhaber zusammen, die im Akt der Verführung157 den Vater als Instanz übergehen. Dass die Richtgewalt an den Vater zurückgespielt wird, ist dabei ein wichtiger Beleg für das Prärogativ paternaler Herrschaft – gerade die töchterliche Teilabweichung ermöglicht seine ultimative Machdemonstration. Zur Erprobung und Bestätigung der Herrschaft gehört allerdings auch ihre Infragestellung durch Mellefont und den Prinzen – beider Macht wird als letztlich illegitime ausgewiesen; dabei wird zugleich eine interne Wertegemeinschaft erzeugt, von der Mellefont und der Prinz menschlich angezogen sind (ganz im Tenor der universalen »Natürlichkeit« der Werte), der sie aber nicht vorgängig angehören. Im Wesentlichen indiziert das Innen also die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, der die Tochter trotz Aberrationen zugehörig bleiben kann. Ein- und Ausschluss wird über den Vater allein geregelt – Mellefont kann im Verlauf des Dramas immerhin vorübergehend auf seine potentielle, korrektive Aufnahme hoffen. In dieser dezidierten Bestimmung des »Innen«, das im vorhin beschriebenen Sinne ontologisiert als das »Natürliche« verstanden wird, liegt die per se politische Dimension des bürgerlichen Trauerspiels. In ›Emilia Galotti‹ wird allerdings deutlich, dass das Außen, die Öffentlichkeit immer mitgedacht werden muss, insofern dieses Drama ähnlich wie ›Kabale und Liebe‹ mit der höfischen Welt eine Sphäre der öffentlichen Gewalt einführt. Beide Wertewelten bestimmen die Handlungen des Prinzen, der damit (wie schon Mellefont) eine Übergangsfigur darstellt. Wenn der Prinz seine Pflichten als Herrscher im Aufruhr der Leidenschaft vernachlässigt bzw. ignoriert, so deutet sich eine neue Qualität des Begehrens158 an, das empfindsame Liebe mit einer radikalisierten Form von Körperlichkeit verbindet.159 Aus dieser partiell individualisierten Zärtlichkeit160 ergibt sich zum einen eine Inkompatibilität der tradier157

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Vgl. Ingrid Walsøe-Engel: Fathers and Daughters. Patterns of Seduction in Tragedies by Gryphius. Lessing, Hebbel and Kroetz. Columbia SC 1993. Die »Verführung« folgt hier allerdings, wie schon angedeutet, anderen Mustern als zuvor. Die Reaktion des Prinzen auf Emilias Porträt beschreibt sein Begehren am besten. Vgl. zum »Begehren des Prinzen« auch ausführlicher Prutti, Bild und Körper, S. 11–63. Vgl. zum Verhältnis von Sensibilité (hier als einer zärtlich-sittlichen Liebe) und Libertinage auch: Frank Baasner: Der Begriff ›sensibilité‹ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg 1988, S. 349–372. Baasner erörtert dieses Phänomen vor allem anhand von Marivaux. Die sich als eine männliche Projektion erweist, aber hier dennoch als Individualisierung verstanden wird, die exklusiv ist, d. h. konkret, eine Weiterführung des Liebesverhältnisses mit Orsina unmöglich macht. Dies schreibt sich durchgehend in die Rhetorik ein. So

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ten Herrschaftsform mit bürgerlich-emotiven Werten. Der emotional affizierte Herrscher, der sich zudem in eine andere, emotionalisierte Existenz träumt, versagt hier in seiner distanzierten Herrscherrolle.161 Zum anderen wird in diesem Lapsus eine grundsätzliche menschliche Anlage zu einem spezifischen Sozial- und Liebesverhalten erkennbar. So propagiert der Prinz eine romantische Liebeswahl des Herzens (die scharf kontrastiert wird mit seinen dynastischen Heiratsplänen).162 Er ist überdies bestrebt, sich noch umfassender in die bürgerliche Sphäre einzuschreiben, indem er Odoardo explizit als Vater und bürgerlichen Freund zu gewinnen wünscht.163 Ganz im Tenor der »romantisch«-exklusiven Liebe weist er Marinellis Vorschlag, Emilia nach ihrer Heirat mit Appiani zu erobern, als »unverschämt« (EG 15) zurück.164 Indem er seine fürstliche potestas nutzt, um seine privaten Wünsche durchzusetzen, hat seine Überschreitung eine politische Komponente. Wenn die zeitgenössische Rezeption den diesbezüglich kritischen Unterton des Stückes nicht wirklich wahrnahm,165 stimmt das mit Lessings Plan eine »modernisirte, von allem Staatsinteresse befreyete Virginia«166 zu schaffen überein. Die Wertewelt des Privaten erweist sich letztlich als undurchlässig für die moralischen Modifikationen der Fürsten; umgekehrt aber greift sie auf die höfische Welt aus, da der Prinz sich (zugegebenermaßen in einem indulgenten Missverständnis) von der (als bürgerlich insinuierten) mensch-

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wird bei der Nachricht von der Heirat »einer Galotti« direkt der Kontrast zwischen Kollektiv und Individuum aufgemacht: »Das Geschlecht der Galotti ist groß. – Eine Galotti kann es seyn: aber nicht Emilia Galotti; nicht Emilia.« Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Elke Monika Bauer. Tübingen 2004, S. 13. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als EG mit der entsprechenden Seitenzahl. Vgl. dazu das Kapitel zu Schiller. »Wer sich den Eindrücken, die Unschuld und Schönheit auf ihn machen, ohne weitere Rücksicht, so ganz überlassen darf; – ich dächte, der wäre eher zu beneiden als zu belachen.« (EG 13, Hervorhebung von C.N.) Während der Prinz Marinellis Freundschaftsbekundungen zurückweist: »O ein Fürst hat keinen Freund!« (EG 14), sucht er als Mensch in Odoardo einen Freund. Seine geplante Heirat dagegen konfligiert nicht mit der Herzenswahl, sondern wird als (menschlich depravierendes) Rollenverhalten eingeführt. So vermerkt Wilhelm Ramler: »Wir hätten aber Lust, an die Spitze diese Stücks jene königlichen Worte zu schreiben: Et nunc reges intelligite! erudimini, qui judicatis terram!« In: Berlinische privilegirte Zeitung. 38. Stück. Samstag, 28. März 1772, S. 185, zitiert nach Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Dokumente zu Emilia Galotti, S. 436. Die hofkritischen Tendenzen wurden von den zeitgenössischen Rezensenten kaum kommentiert, vgl. Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Dokumente zu Emilia Galotti, S. 174. Hier zitiert nach Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Dokumente zu Emilia Galotti, S. 379, Lessing an Karl Gotthelf Lessing, Braunschweig, 1. März 1772, Hervorhebung von C.N.

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lichen Entfaltung (mit der Partnerwahl durch Liebe) quasi »natürlich« angezogen fühlt. Auf den edukativen Mehrwert seiner Liebe verweist der Prinz selbst, wenn er anmerkt: »Ich bin so besser.« (EG 7) Der Prinz wird als Mensch dargestellt und muss sich als Mensch einer moralischen Axiologie stellen, die das zeitgenössische Publikum schon so stark internalisiert hat, dass diese revolutionäre Verschiebung in der Rezeption offensichtlich auf einen blinden Fleck trifft:167 Diese Vorgängigkeit des Menschlichen als Grundlage des Staatlichen (mit all ihren hier noch unausgesprochenen Implikationen) wird somit als selbstverständlich ignoriert. Mit dieser Besetzung des Privaten ist allerdings eine wesentliche Prämisse geschaffen, von der aus entscheidende bürgerliche Tugenden als allgemein menschlich eingefordert werden können.168 Der Prinz wird hier als Mensch und Herrscher fragwürdig, vor allem aber wegen der ungebührlichen und textlich harsch kritisierten Vermischung beider Rollen.169 Diese unglückliche Rolleninterferenz führt allerdings auch dazu, dass Odoardo den Prinzen nicht einfach eliminieren kann, bleibt letzterer doch auch immer noch Mensch; statt dessen wird das grundsätzliche Dilemma eines Herrschers (mit einer modernen Anfälligkeit für zärtlichindividualisierendes Begehren) über die Physis der Tochter reguliert. Politische Herrschaft wird im Kontext eines moralischen Kampfes um ein ideologisches Prärogativ verhandelt und steht hier im politischen wie im physischen Kontext gleichermaßen zur Debatte. Wenn anhand des Körpers der Tochter Zuschreibungen geregelt werden, erscheint die Kon167

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Klaus-Detlef Müller verweist darauf, dass hier Öffentlichkeit auf einer anderen Ebene hergestellt wird, indem das Trauerspiel eine Gemeinschaft adressiert, die Lessing als integratives »wir« in seiner ›Hamburgischen Dramaturgie‹ heraufbeschworen hatte: die bürgerliche Öffentlichkeit. Vgl. dazu Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 6Frankfurt am Main 1999. Vgl. dazu auch Klaus-Detlef Müller: Das Virginia-Motiv in Lessings ›Emilia Galotti‹. Anmerkungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit. In: Orbis Litterarum 42 (1987), S. 305–316. Als konkrete Kritik am Absolutismus deutet Wulf Rüskamp das Stück: »Seine ›Emilia Galotti‹, mit ihrem von allem staatspolitischen Interesse befreiten Sujet, stellt sich im Theater als öffentlicher Skandal, als Kritik des absolutistischen Staates dar.« W.R.: Dramaturgie ohne Publikum. Lessings Dramentheorie und die zeitgenössische Rezeption von ›Minna von Barnhelm‹ und ›Emilia Galotti‹. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Theaters und seines Publikums. Köln, Wien 1984, S. 59. Eine Analyse der privaten und öffentlichen Rezeption ergibt allerdings, dass dieser politische Aspekt dem Publikum weitgehend entgangen sein muss. (Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Apparat zu Emilia Galotti, S. 197). Dies wird aber mit den letzten Worten des Prinzen, die auch die letzten im Trauerspiel sind, latent verallgemeinert: »Ist es zum Unglücke mancher nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« (EG 78)

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frontation zwischen dem Bürger (Odoardo) und dem Prinzen zugleich auch als Kampf zwischen unziemlich sexualisiertem Bewerber um die Tochter und dem Vater. In der Rückbindung auf das Körperliche werden die moralischen Werte des Vaters zugleich bestätigt und problematisiert, so dass die tragisch-triumphale physische Annihilierung der Tochter eine sprechende Konsequenz dieser paradoxen Ausgangslage darstellt, die es nun genauer zu klären gilt. Dass sich beide Ebenen der Macht und Moral (bzw. ihre Voraussetzungen und Funktionen) überkreuzen, trägt zur Komplexität des Finales bei und wurde – neben dem »allgemeinen Beyfall«170 – in der zeitgenössischen Rezeption durchaus auch als »anstößig«171 empfunden. Johann Jakob Bodmers Parodie ›Odoardo Galotti‹, die nach dem Ende ›Emilia Galottis‹ einsetzt, liegt in diesem Sinne eine grundsätzliche Kritik zugrunde.172 Sowohl Odoardo als auch der Prinz werden als Schuldige vorgeführt, die im Prozess der Selbsterkenntnis ihre jeweiligen Überschreitungen akkurat benennen. Während der Prinz sich selbst als korrupter Lüstling anprangert,173 invertiert Bodmers Odoardo Sir Williams 170

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Gnädigst privilegirte Neue Braunschweigische Zeitung, Nr. 43. Montag, 16. März 1772, S. 3. Verfasser unbekannt, zitiert nach Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Dokumente zu Emilia Galotti, S. 427, vgl. dazu generell die dort abgedruckten Rezensionen, die im Tenor der eben zitierten Rezension das Stück preisen. Wird der Prinz dabei genau wie bei Bodmer wegen seiner »Sinnlichkeit und Wollust« angegriffen (etwa in Johann Johannes Eschenburgs Rezension: Gelehrte Sachen. Fortsetzung über Leßings Trauerspiel. In: Gnädigst privilegirte Neue Braunschweigische Zeitung, Nr. 50, Freitag, 27. März 1772, S. 3, hier zitiert nach Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Apparat zu Emilia Galotti, S. 434), aber durchaus auch als »gutherzig« erkannt (vgl. etwa die von einem unbekannten Verfasser formulierte Rezension in Kayserlich-privilegirte Hamburgische Neue Zeitung. 57. Stück. Mittwoch, 8. April 1772, S. 4, zitiert nach Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Dokumente zu Emilia Galotti, S. 442), so wird Odoardo von Eschenburg in seiner Rezension als »Charakter, den wir bewundern« interpretiert. In: Gelehrte Sachen. Fortsetzung der Anzeige von Leßings Emilia Galotti. In: Gnädigst privilegirte Neue Braunschweigische Zeitung, Nr. 49, Donnerstag, 26. März 1772, S. 4, hier zitiert nach Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Dokumente zu Emilia Galotti, S. 433. Vgl. dazu im Überblick auch Rüskamp, Dramaturgie ohne Publikum, zudem Hans Henning: Emilia Galotti in der zeitgenössischen Rezeption. Leipzig 1981. Gegen Kritikpunkte im Sinne der folgenden, vgl. wieder Eschenburg: Gnädigst privilegirte Neue Braunschweigische Zeitung, Nr. 53, Donnerstag, 2. April 1772, S. 3, hier zitiert nach Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Apparat zu Emilia Galotti, S. 440. Für die Richtigstellung und Zurechtweisung der Protagonisten ist Emilia in Bodmers Parodie bezeichnenderweise entbehrlich (nur deswegen funktioniert sein Stück als Appendix zu Lessings Stück). »Meine zaumlose, meine wütende Leidenschaft verursachte alles das Uebel. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß heute Appiani Beylager halten würde.« Johann Jakob Bodmer: Odoardo Galotti. Vater der Emilia. Augsburg 1778, S. 23.

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bekannte, zärtliche Botschaft174 zunächst (»Lieber wollte ich keine Tochter, als ein Kebsweib erzeuget haben! häßliches Wort.«),175 um dann schließlich im letzten Auftritt zur folgenden Einsicht zu gelangen: Ich habe mich von Hitze, von natürlicher Schwärmerey fortreißen lassen, eine Ehre zu retten, deren Verletzung ich nur vermuthete; freylich mit vieler Wahrscheinlichkeit mein Kind nicht einer Versuchung auszusetzen, von der ich fürchtete, daß es darunter erliegen würde; und dieses Mistrauen setzte ich Ungerechter in die reinste, die bewährteste Tugend. Ha! Welche Empfindungen fangen an auf mein Herz zu stürmen!176

Worauf Bodmer in diesem Kontext als Überlagerung von Lastern und Tugenden verweist (und was er als »widersprüchlich« markiert, indem er mit seiner Parodie die, seiner Meinung nach, allzu wohlwollende Präsentation von Vater und Prinzen umkehrt), verdeutlicht allerdings vor allem den Übergangscharakter des Stücks und die ihm inhärente Analyse eines grundsätzlichen Wertekonflikts. Ist Sir Williams vergebende Einschließung ein konsequentes Machtmittel der bürgerlich inklusiven Werte, so ist Odoardos Ermordung der Tochter schwer zu plausibilisieren, veranschaulicht aber um so effektvoller einen bürgerlich-paternalen Herrschaftsanspruch.177 In seiner intertextuellen Livius-Referenz178 insinuiert das Ende nämlich einen Triumph, der die illegitime politische Macht zugunsten der moralischen Macht aushebelt.179 Zugleich – und darauf soll im Folgenden der Schwerpunkt liegen – wird die väterliche Macht an den moralischen Konflikt der Tochter angekoppelt und dadurch zusätzlich komplexer. Es wurde ja bereits mit Blick 174 175 176 177

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»Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter, als von keiner, geliebt worden sein wollen.« (MSa 434) Bodmer, Odoardo Galotti, S. 12. Bodmer, Odoardo Galotti, S. 23. Wenn etwa Odoardo Galotti nicht den Fürsten, sondern seine Tochter ersticht, ist das nur auf den ersten Blick ein entpolitisiertes Vorgehen: Die Auflehnung gegen den Despoten wird nicht vollzogen, an Stelle der offensichtlich politisch konnotierten Rebellion, welche die vom Prinzen verlassene Gräfin Orsina als Rache am Geliebten vorgesehen hat, steht eine radikalere Tat, wenn er der am Rande der sinnlichen Verführung taumelnden Tochter auf ihren eigenen ausdrücklichen Wunsch hin ein vorzeitiges Ende bereitet. Zur genauen Stoffgeschichte und intertextuellen Motiven vgl. Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Apparat zu Emilia Galotti, S. 165–174. Emilia muss sterben, weil sie der Sogkraft der höfischen Sphäre zu erliegen glaubt. Nicht Vergewaltigung, sondern Verführung ist hier die Überschreitung von höfischer Seite: »Verführung ist die wahre Gewalt« (EG 77) betont Emilia mit Blick auf die unterschiedlichen Ebenen des Übergriffs, von denen der ideelle Tugendverlust das eigentliche Problem darstellt, weil sie dadurch aus der bürgerlichen Werteordnung hinausfällt.

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auf ›Miß Sara Sampson‹ offensichtlich, dass die potentiell widersprüchlichen Forderungen von Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie die Tochter in einem (maskulin beherrschten) double bind fesseln. Aber auch das historische Tugendideal selbst wird im Zuge der zunehmenden Erotisierung von Liebe in der Ehe180 problematisch. ›Emilia Galotti‹ übersetzt mit Blick auf das hier entscheidende VaterTochter-Gefüge für beide Seiten (Vater, Tochter) eine widersprüchliche Ausgangslage in eine mehrfach kodierte (inter-)textuelle Figurenmotivation, die trotz der Überschreitungen von beiden Seiten den Sieg des bürgerlichen Wertemodells suggeriert. In ›Emilia Galotti‹ werden zwei Aspekte besonders wichtig: zum einen die inhärenten Widersprüche in der Wertelogik und zum anderen die Rolle des Vaters als präsumptiver Herrscher über diese inkohärente Wertewelt. 1.6.

Bürgerliche Ethik und ihre inhärenten Widersprüche

Die Komplexität und unauflösbare Paradoxie der Einflüsse, die zusammen eine ästhetisch nachvollziehbare Konsequenz der väterlichen und töchterlichen Handlungen insinuieren, weist zurück auf die widersprüchlichen Bestandteile der konkreten bürgerlichen Wertkonzepte. Im Fadenkreuz steht dabei das bereits beschriebene weibliche Tugendkonzept, dessen Gültigkeit ansatzweise von der neuen romantischen Paarliebe ausgehebelt wird. Eine zusätzliche Komplikation entsteht aus der körperlichen »self-possession« und einer neuen Relevanz der sinnlichen Emotionalität und Körperlichkeit. Beide fungierten als Voraussetzung für moderne bürgerliche Konzepte von menschlicher Gleichheit (als Validität und Wahrheit echter, authentischer, körperlich ausgedrückter Emotion), deren nachträgliche bürgerliche Spezifikation allerdings wiederum Aspekte dieser Körperlichkeit negiert. In ›Emilia Galotti‹ zeigen sich die destruktiven Implikationen dieser Doppelkodierung besonders deutlich, weil in ihr die bereits in ›Miß Sara Sampson‹ angedeuteten Werte- und Prioritätsverschiebungen mit Blick auf die Liebessemantik eine (explizit als bedrohlich empfundene) Körperlichkeit annehmen, von der nicht klar wird, inwiefern sie den Charakter Emilias zu beschädigen droht oder schon de facto beschädigt hat. Das Konglomerat bedeutungsschwangerer Prätexte sorgt hier für einen polysemischen Kontext. 180

Vgl. zu den komplizierten Erotisierungsprozessen der Ehe insgesamt Luhmann, Liebe als Passion. Wuthenow, Die gebändigte Flamme, S. 9–20.

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Bei Emilia wird spezifische »Tugendhaftigkeit« zur automatischen Identitätsassumption bzw. -projektion:181 Gerade mit ihrem Beschluss zu sterben (statt der Verführung zu erliegen) evoziert sie verschiedene Tugendkonzepte. Zunächst deutet sie ihre drohende Entehrung im religiösen Kontext als Aufforderung zum Märtyrertum:182 »Nichts Schlimmers zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluthen, und sind Heilige! – Geben Sie mir, mein Vater, geben sie mir diesen Dolch.« (EG 769) Auf den Bezug zu Augustinus’ ›Gottesstaat‹ haben bereits Gerhard vom Hofe und Gesa Dane ausführlich aufmerksam gemacht,183 die entsprechende Stelle, auf die sich Emilia hier zu beziehen scheint, lautet: Doch haben sich, sagt man, einige heilige Frauen in Verfolgungszeiten, um ihre Unschuld vor Angriffen zu retten, in die reißende Strömung geworfen und so ihren Tod gefunden, und doch wird ihr Märtyrertum in der katholischen Kirche verehrungsvoll gefeiert. Über sie möchte ich kein unbesonnenes Urteil abgeben.184

Bei Augustinus ist dies im Rekurs auf seine Erörterungen zum Selbstmord zu lesen, den er zwar grundsätzlich ablehnt, aber zugleich die besagten christlichen Märtyrerinnen (bei denen Gott die Selbsttötung befohlen haben könnte) ausnimmt. Größere Probleme bereitet Augustinus jedoch das Schicksal der Lukretia, das er mit dem göttlichen Heilsplan zu vermitteln bemüht ist, indem er die Schuld bei der Frau sucht (durch mögliche selbstgefällige Überhebung oder eine geheime Schwäche). Insofern Augustinus die Selbsttötung Lukretias aus Scham nicht anerkennt (weil sie sich damit den äußeren Maßstäben der Welt unterwerfen würde), kommt er zur hier entscheidenden Vermutung und Wertung: Lukretia habe insgeheim Lust verspürt und dabei ihre Keuschheit de facto verloren; dementsprechend könne sie allerdings nicht mehr als Inkarnation der Tugend verstanden werden. Damit ist für Augustinus das Dilemma mit Blick auf die Theodizee behoben. 181 182

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Vgl. dazu auch allgemein Prutti, Bild und Körper, S 10–145. Hier geht es wohlgemerkt weniger um die umstrittene Klassifikation der Tugend Emilias (vgl. dazu Joachim Schmitt-Sasse: Das Opfer der Tugend. Zu Lessings ›Emilia Galotti‹ und einer Literaturgeschichte der »Vorstellungskomplexe« im 18. Jahrhundert. Bonn 1983) als vielmehr um die Vehemenz, mit der Emilia sich über ein spezifisches Tugendkonzept definiert. Gerhard vom Hofe: Die ›heiligen Charakter‹ im bürgerlichen Trauerspiel. Zum Problem der poetischen Theodizee bei Lessing. In: Euphorion 77 (1983), S. 380–394, hier S. 393. Gesa Dane: »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung und Recht in der Literatur. Göttingen 2005, S. 57. Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Übersetzt von Wilhelm Thimme, eingeleitet von Carl Andresen. 4München 1997, S. 45–46.

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Für ›Emilia Galotti‹ dagegen resultieren die literarischen Bezüge in einer ungewöhnlich komplexen intertextuellen Situation (zwei römischrepublikanische Mythen, nämlich Virginia und Lukretia, sowie die christliche Erörterung der letzteren im weiteren Kontext der Theodizee): Dieses Bezugsnetz lässt sich nicht mehr eindeutig auflösen, zumal es gerade in seinem Changieren die Rollen von Tochter und Vater in einer bemerkenswerten (und rollenlegitimatorisch entscheidenden) Ambivalenz einfriert. Die christliche Lesart Augustinus’ bedingt eine teilweise Exkulpation der willigen Märtyrerin, wird doch ein Emilia vergleichbares Schicksal zunächst in dem fast wörtlichen Rekurs auf Augustinus von der vehementen Verurteilung des Selbstmords ausgenommen. Der Todeswunsch der Tochter erscheint in diesem Sinne über eine religiöse Endlegitimation ultimativ erklärlich und korrespondiert mit der Deutung von Emilia als Märtyrerin einer christlichen Tugendvorstellung, die zugleich die ultimative Rechtfertigung für den Vater als ein Instrument der göttlichen Vorsehung bietet.185 Diese intertextuelle Legitimation Odoardos geht mit der Quintessenz der von Livius berichteten Lukretia- und Virginia-Legenden Hand in Hand. Die Schändung Lukretias durch den Königssohn Sextus Tarquinius führt nicht nur zum tragischen Selbstmord der keuschen Römerin, sondern auch zum Sturz des tyrannischen Königsregimes der Tarquinier;186 Virginias Schicksal, explizit von Emilia aufgerufen, erweist sich noch enger mit Lessings plot verbunden: Appius Claudius versucht, sich mittels Intrigen Virginias, der Tochter des angesehenen Plebejers Virginius, zu bemächtigen, indem einer seiner Klienten sie unter einem Vorwand als Sklavin zurückfordert. Virginius sei die Tochter damals lediglich untergeschoben worden. Als Dezemvir scheint Appius zunächst imstande, den fingierten Anspruch auf Virginia durchzusetzen. Virginius tötet daraufhin die Tochter, um ihre Freiheit und Ehre zu erhalten. Dies führt zu verstärkten Unruhen in der Stadt, die letztlich mit dem Rücktritt der Dezemviri und der Wiedereinsetzung des Tribunats und der Volksversammlung enden.187 185

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Ganz im Sinne der von Derrida vorgeschlagenen »Opfer der Ökonomie« im Sinne des Kierkegaardschen Isaakopfers, vgl. dazu das Kapitel Opfer der Ökonomie und Ökonomie des Opfers. Vgl. u. a. vom Hofe, Die ›heiligen Charaktere‹, S. 393. Vgl. Titus Livius: Ab vrbe condita. Hrsg. von Robert Seymour Conway und Carl Flamstead Walters. Tom. 1, Libri IV. Verbesserte Ausgabe. Oxford 1960 [scriptorvm classicorvm bibliotheca oxoniensis], hier Buch 3, 44–58. Zum Stoff und seinen Bearbeitungen vgl. Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Apparat zu Emilia Galotti, S. 165–174.

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In beiden Fällen wird ein moralischer Innenraum gegenüber einer moralisch verwerflichen Außenmacht verteidigt, wobei dies in beiden Texten unmittelbar politische Folgen zeitigt. Während Lukretia sich selbst tötet, um nicht als exkulpierendes Beispiel für unkeusche Frauen zu dienen, und dies zudem geschieht, obwohl Vater und Ehemann sie von jeder Schuld freisprechen, kommt es in der Virginia-Legende zu einem Tochtermord, vor dessen Hintergrund das Verhalten Odoardos in einem moralischpolitischen Kontext vollständig motiviert wird. Allerdings klammert die Märtyrer-Lektüre,188 die Odoardo hier partiell legitimiert und gegen den Machtmissbrauch des Prinzen positioniert,189 die sexualisierte Körperlichkeit aus, deren Wurzeln doch eng mit der spezifischen Körperlichkeit verbunden sind, die wahre Gefühle auch als physische Expression gedeutet hatte.190 Wolfgang Lukas hatte, wie schon erwähnt, in seiner Untersuchung des deutschen aufklärerischen Moraldiskurses zwischen 1730 und 1770 darauf hingewiesen, dass bereits in der Frühaufklärung Affektivität und Emotionalität einen autonomen Wert beanspruchen konnten und dass die damit korrespondierende Anthropologisierung eine »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« (Peter Kondylis) bedeutete. Die Ausklammerung der Physis der Tochter191 kompromittiert Odoardos Ehrenrettung nachhaltig, basiert doch eigentlich seine Ermächtigung auf der zärtlichen Einschließung der (auch körperlich ausgedrückten) emotionalen Individualität der Tochter.192 Obwohl diese Doppelkodierung paradox ist, zeigt sie doch auch, wie christliche Positionen (wie etwa Augustinus’ Theodizee) in einem anderen, »bürgerlichen« Kontext eingebunden werden. Zugleich wird die religiöse Ausrichtung von der Kernethik des Textes absorbiert; die religiöse Referenz hatte ja schon in ›Miß Sara Sampson‹ dazu gedient, textliche Positionen zu bestätigen, etwa wenn Sara eine entkörperlichte Heiligkeit erreicht oder der Vater als »Bote des Höchsten« verstanden wird.193 Die Referenz auf das Tugendop188

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Christliche und bürgerliche Ethik vernetzen sich hier. Die bürgerliche Werteevolution ruht fraglos auf der christlichen Ethik und hat entscheidende Aspekte derselben inkorporiert. Dabei weicht ›Emilia Galotti‹ natürlich auch von der Märtyrer-Tragödie ab, vgl. Raimund Neuß: Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung. Märtyrerdrama im 18. Jahrhundert. Bonn 1989. [Literatur und Wirklichkeit 25] Vgl. dazu allgemein Koschorke, Tränenströme und Schriftverkehr. Genau diese Körperlichkeit der Tochter stellt ja hier die Gefährdung ihrer Moral dar. Vgl. ›Miß Sara Sampson‹. In Odoardos Rechtfertigung wird die vor allem legitimierende Qualität der Religion deutlich: »(gegen den Himmel) Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu? Fort! (Er will gehen und sieht wieder Emilien kommen) Zu spät! Ah! er will meine Hand; er will sie!« (EG 74)! Dies mag als Missver-

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fer, das hier legitimierend mitschwingt, wird zur distinkten Tugend einer bürgerlichen Tochter in Abgrenzung zur latent korrumpierten Logik des Prinzen (der sich aber bezeichnenderweise auch nach der Freundschaft mit Odoardo sehnt und somit eher falsch sozialisiert als per se unmoralisch scheint). Die implizierte Theodizee und die beiden zitierten römischen Legenden gehen hier eine Symbiose ein, beide Aspekte müssen zusammenwirken, um zu verhindern, dass Vater oder Tochter als Monstrosität erscheinen. Bezeichnenderweise ist es nicht die prophezeite Verführung der Tochter, die den Vater zum Handeln bewegt, sondern der vorwurfsvolle Verweis auf Virginius,194 der den Fokus von der wahrscheinlichen töchterlichen Entgleisung auf ein potentielles Versagen des bürgerlichen Vaters richtet. Erst dieser Appell an seine Vaterpflichten führt zur Verzweiflungstat:195 Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweyten das Leben gab. Aber solche Thaten sind von ehedem! Solcher Väter giebt es keinen mehr!« (EG 77)

Der Vater kann der Logik Emilias zufolge ihre bedrohte Identität nur perpetuieren, indem er sie ersticht.196 Damit akzentuiert er den von der Tochter selbst artikulierten Wunsch nach einer purifizierten Körperlichkeit. In diesem Kontext wird allerdings Lessings Bezugstext problematisch. Denn Augustinus entlarvt ja genau die komplizenhaft empfundene potentielle Lust, die hier als Verführung beschrieben wird, als Verlust der Tugend. Die Eliminierung wäre dann nicht mehr als tugenderhaltende Maßnahme zu lesen. Beugt die Ermordung der Tochter dem Verlust der Tugendhaftigkeit vor oder reagiert der Vater hier auf eine bereits vollzogene Verirrung der Tochter mit einer physischen Eliminierung? Zwischen den viel be-

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ständnis Odoardos gedeutet werden (vgl. zuletzt Frömmer, Vaterfiktionen S. 180–181), funktioniert aber textintern zumindest als Motivierung und Erklärung von Odoardos Überschreitung. Vgl. dazu Jürgen Schröder, der darauf hinweist, wie der Stoff Lessing zugleich zum Motiv im Sinne des Vorbildlichen und Musterhaften wird – der Stoff werde dabei allerdings zum blinden Motiv. J.S.: Sprache und Drama. München 1972, S. 208–209. Dagegen Gisbert Ter-Nedden, der auf die kritisch-agonale Seite des Verhältnisses zur Tradition verweist. Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986, v. a. S. 173. »Odoardo: […] Gott, was hab’ ich gethan!« EG 77. Diese Zwangsläufigkeit wurde von der zeitgenössischen Rezeption nicht unbedingt wahrgenommen, vgl. exemplarisch Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Dokumente zu Emilia Galotti, S. 632–638.

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schworenen Polen von Tugendrigorismus oder – auf Emilias Seite – Tugendschwärmerei197 lässt sich das Stück in seiner Ambiguität nicht abschließend verorten. Das hängt sicherlich auch mit der sittlich-amorphen Qualität Emilias198 zusammen, deren Projektionscharakter von der feministischen Forschung hervorgehobenen wurde.199 Bereits Emilias erster, entscheidender Auftritt nach dem Übergriff des Prinzen deutet einen selbstdiagnostizierten Kontaminationsprozess an, der für sie nicht steuerbar ist: Claudia. Rede, meine Tochter! – Mach meiner Furcht ein Ende. – Was kann dir da, an heiliger Stäte, so schlimmes begegnet sein? Emilia. Nie hätte meine Andacht inniger, brünstiger seyn sollen, als heute: nie ist sie weniger gewesen, was sie seyn sollte. Claudia. Wir sind Menschen, Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen auch beten. Emilia. Und sündigen wollen auch sündigen. Claudia. Das hat meine Emilia nicht wollen! Emilia. Nein, meine Mutter; so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. – Aber daß fremdes Laster uns, wider unsern Willen, zu Mitschuldigen machen kann! (EG 25, Hervorhebungen von C.N.)200

Emilia beschreibt die Interaktion mit dem Prinzen als ähnlich einschneidende Erfahrung, bei der offensichtliche Panik mit einer die »Sinne« überwältigenden Wirkung einhergeht, so dass sie ihr Gespräch mit ihm nicht wiedergeben kann: »Er sprach; und ich hab ihm geantwortet. Aber was er sprach, was ich ihm geantwortet – fällt mir es noch bei, so ist es gut, so 197 198

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Ritchie Robertson: Virtue versus »Schwärmerei« in Lessing’s ›Emilia Galotti‹. In: German Life and Letters, 62/1 (2009), S. 39–52. Dies wiederum bewegt sich im Einklang mit typischen Geschlechtscharakteren, wie ein Zitat aus Carl Friedrich Pockels ›Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts‹ belegt: »Vornehmlich erwachen schon früh in der weichern Seele des Mädchens gewisse ihr unerklärbare, wehmüthige und zärtliche Empfindungen, die es unwiderstehlich zu uns hinziehen.« Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Ein Sittengemählde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens. Bd. 3. Hannover 1799, S. 179. Vgl. dazu auch Marx, Das Begehren der Unschuld, S. 276–285. Vgl. z. B. Hannelore Scholz: Widersprüche im bürgerlichen Frauenbild. Zur ästhetischen Reflexion und poetischen Praxis bei Lessing, Friedrich Schlegel und Schiller. Weinheim 1992. Zudem: Weiblichkeitsentwürfe und Frauen im Werk Lessings. Aufklärung und Gegenaufklärung bis 1800. Kamenzer Lessing-Tage 1996 und 1997. Hrsg. von Marion Kutter. Kamenz 1997; Prutti, Bild und Körper; Frömmer, Vaterfiktionen. Zur Bild- und Zeichenhaftigkeit Emilias vgl. auch Marx, Das Begehren der Unschuld, S. 88–106. Vgl. dazu auch die Umdeutung der Mutter, die jene eindeutige Situation als zweideutig interpretiert und Emilia damit mit fatalen Folgen ihr Deutungsrecht entzieht: »Ha, du kennest deinen Vater nicht! In seinem Zorne hätt’ er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt’ ich ihm geschienen, das veranlaßt zu haben, was ich weder verhindern noch vorhersehen können.« (EG 26)

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will ich es Ihnen sagen, meine Mutter. Jetzt weiß ich von dem allen nichts. Meine Sinne hatten mich verlassen.« (EG 27) Diese »schuldlose«201 Absorption202 impliziert, dass Emilia in entsprechender Umgebung quasi osmotisch von der bedrohlichen Sinnlichkeit203 befallen wird und plausibilisiert damit die tugendhafte »Entgleisung«, die Emilia selbst vorwegnimmt, sollte sie gezwungen werden, in der Nähe des Prinzen zu verharren. Dies motiviert ihren präemptiven Todesentschluss und nuanciert den Charakter der Protagonistin, die sich nach der vieldeutigen Logik des Textes ein Stück Selbstbestimmung (wenn auch erst im Tod) zu usurpieren versucht. Insofern kann ihre Entwicklung von einer Heldin, die sich ganz im Einklang mit zeitgenössischen Geschlechtscharakteren bewegt, zu einer quasi »männlichen« Heldin (oder einem weiblichen Odoardo)204 sowohl als heteronom (den Gesetzen des Vaters bzw. den Ratschlägen der Mutter geschuldet) und als bedingt autonom gedeutet werden (insofern als Emilia freiwillig objektiv gültigen Gesetzen folgt und sich der Übertretung derselben verweigert). Die Mehrdeutigkeit der einzelnen Argumentationsstränge erweist sich als genaue Bestandsaufnahme einer sich entfaltenden Sinnlichkeit, die hier noch einmal (wenn auch in der beschriebenen Ambivalenz) paternal reguliert werden kann: Wie man diese väterliche Aktion deutet, hängt – obwohl der Text sich intertextuell bemüht, Odoardos Reaktion zu moti201 202

203

204

Als schuldlos könnte man eine automatische, in dem Geschlechts-Charakter als natürlich angelegte Reaktion verstehen. Judith Frömmer zeichnet die männlichen Diskurse nach, die Emilia definieren: »Emilias natürliche Unberührtheit ist der Effekt eines normierenden Weiblichkeitsdiskurses, der die Selbst- und Fremdwahrnehmung Emilias immer schon strukturiert. Auch die ›reale‹ Emilia bleibt immer eine Figur, das weibliche Urbild ist immer schon ein Abbild.« Frömmer, Vaterfiktionen, S. 172. Frömmer vermerkt die Pathologisierung des Körpers, die Emilia zur hysterischen Patientin (ebd., S. 184) werden lässt. Die Lust ist somit eine projizierte und würde damit die Authentifikationsfunktion, die ihr paradoxer Weise in ›Miß Sara Sampson‹ zukam, einbüßen. Im folgenden geht es eher um die kunstvollen Gratwanderungen, die eine klare Zuordnung erschweren, ja unmöglich machen und die damit die unvorstellbare Transgression des Vaters in einem Netz verschiedener Plausibilisierungen still legen. Peter Horst Neumann verweist auf die Passage, in der Emilia von dem Übergriff des Prinzen zu erzählen beginnt und ihn, da sie nur die Stimme beschreibt, als »Es« bezeichnet (»Es sprach von Schönheit, von Liebe« EG 26): »Aber bemerkenswert bleibt es wohl doch, daß Lessing durch den Gebrauch des Fürwortes ›es‹ den Prinzen als Verkörperung des Eros in die Anonymität verweist und so Emilia das Affiziertsein gerade jenes unterdrückten Triebbereiches aussprechen läßt.« Neumann: Der Preis der Mündigkeit. Über Lessings Dramen. Stuttgart 1977, S. 46. »Sie ist der weibliche Odoardo«, wie es Bodmer Odoardo in seiner Parodie (ironisch) verlautbaren lässt. Bodmer, Odoardo Galotti, S. 14.

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vieren und zu legitimieren – letztlich davon ab, wie man die Sinnlichkeit der Tochter deutet. Da diese jedoch ambivalent kodiert ist, verharrt auch der Vater in einer ähnlich mehrdeutigen Position. 1.7.

Herrschaft und Inklusion

Anhand von Emilias Konflikt wird deutlich, dass sich väterliche Herrschaft nicht nur gegen eine politisch-öffentliche Konstellation absetzt, sondern wiederum gegen eine sinnliche Bedrohung durch den Liebhaber der Tochter. Auch hier prallen Konzepte von Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie aufeinander und ringen um das Prärogativ bei den kompensatorischen Individualitätsofferten. Die umfassende Legitimation des Vaters durch einen Wertehorizont, der in sich widersprüchlich ist, führt zu einer argumentativen Gratwanderung, die bei Lessing im »zärtlichen« Tochtermord kulminiert. Damit wird aber zugleich eine Doppelfunktion des Vaters als Herrscher (legitimiert durch die bürgerlichen Werte) und als emotionaler Vater, der individualisierend integriert, wirkungsmächtig etabliert. Liest man Odoardos Handlung vor diesem mehrfach kodierten Hintergrund, so gewinnt die schockierende Handlung zunächst den Charakter einer ostentativen Setzung, bei der sich der Vater (als Exponent der bürgerlichen Wertewelt) als derjenige etabliert, der über Einschließung und Ausschließung entscheidet und mit dieser Entscheidungsfähigkeit eine Macht absorbiert, die analog zu politischer Souveränität funktioniert. Liest man das Stück als Opfer-Text, so muss die »Opferung« der Tochter in diesem Kontext zudem als Einschließungsbewegung sinnfällig werden. Die tugendhafte Tochter wird im Zeichen der Identitätsstiftung aufgeopfert, sie stabilisiert und bestätigt so die vorgängigen Werte. Der Vater präsidiert über eine Wertewelt, welche allein die Identität der Tochter verbürgen kann. Er akzeptiert die Ein- und Ausschlusskriterien und definiert seinen Herrschaftsbereich über die Einhaltung derselben. Nimmt man die körperliche »self-possession« ernst, die ja im direkten Zusammenspiel mit der Individualität und Autonomie entworfen wird, gerät Odoardo in eine ausweglose Situation, in der die Tochter entweder ihre konzeptuelle Identität verliert oder ihre physische Existenz ausgemerzt wird. Zum einen wird im Lichte einer Abkopplung des individuellen vom allgemeinen Wertkontext die Moral teleologisch suspendiert. Mit dem »Opfer der Ökonomie« (Derrida)205 wird eine selbstevidente Transzen205

Vgl. dazu das Kapitel »Opfer der Ökonomie« und Ökonomie des Opfers.

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denz evoziert, die sich sofort in die Ökonomie des Opfers transformieren lässt. Gleichzeitig verstößt der Mord an der eigenen Tochter gegen genau die Wertprinzipien, die (in anderer Form) seine Tat motivieren. Das, was den Vater hier im Sinne der nachvollziehbaren Kausalität des Geschehens legitimiert, ist paradoxerweise seine sittlich eingefärbte Zärtlichkeit. Erst die emotionale Offenheit für die von der Tochter inaugurierte extreme Entfremdung (in der Verführung) lässt ihn zum äußersten Mittel greifen, das er selbst als Rettung ihrer originären Individualität verstehen muss. Die familiale Integration durch Zärtlichkeit resultiert hier über eine Invertierung des Konzepts in der äußersten Gewaltanwendung. Damit wird das Bild alternativer gesellschaftlicher Existenz, das sich zur Utopie einer Familiarisierung der Gesellschaft verdichtet, […] in der ›Emilia Galotti‹ als gebrochenes vorgeführt. Das Paradox einer Selbstauslöschung als Rettung des Selbst legt die Aporien eines Schauplatzes frei, der die Individuen einer folgenreichen Verunsicherung in der Disparatheit der Anforderungen aussetzt. Die Grenze zwischen Intimität und Öffentlichkeit ist in die Körper der Subjekte hineingelegt.206

Diese Gebrochenheit, die in ›Emilia Galotti‹ aufgrund der Engführung väterlicher Liebe und Macht entsteht, beschreibt nichtsdestoweniger einen erstaunlich charakteristischen Zustand der Ambivalenz beider verschalteten, sich wechselseitig legitimierenden Aspekte der Vaterliebe: Herrschaft (im Zeichen der Tugend) in ihrer umfassenden Form sowie Liebe. Sie verdeutlicht auch das Paradoxe dieser labilen Konstruktion. Die spezifische Tragik liegt in ›Emilia Galotti‹ wohl eher in der Ausweglosigkeit als in der ungeheuerlichen Überschreitung des Vaters, die jene Aporie vielmehr verdeutlicht. Dies wird noch komplexer, wenn man Odoardos Rolle unter Kriterien der Ein- und Ausschließung betrachtet. Der Zweischritt, der die Paradoxie Odoardos unter einem bürgerlichen Moralpostulat auflösen könnte, würde also die Ausgrenzung der Tochter unter der operativen Moral ihrer anschließenden Exekution voranstellen. Damit kann die entsetzliche Tat nicht mehr als Mord, sondern muss als Konsequenz der Ausschlussbewegung gelesen werden. Diese basiert – der Implikation Augustinus’ folgend – auf der bereits kompromittierten Tugend Emilias und ihrer daraus folgenden Annihilation als Person. Emilias selbst attestierte Verführbarkeit207 reicht aus, sie moralisch zu destabilisieren und die physische Ausmerzung 206 207

Komfort-Hein, »Sie sei, wer sie sei«, S. 208. Dies mag das Produkt zweier konträrer, männlicher Projektionen sein; letzten Endes wären diese Projektionen nichtsdestoweniger handlungsmotivierend.

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als logischen Schritt nach dem Verlust der Identität zu begreifen. Die bürgerliche Wertethik ist auch hier zentral für die Legitimierung des väterlichen Exekutionsanspruches. Beide Lesarten der Emilia greifen nicht vollständig, ihr Changieren rechtfertigt Vater und Tochter in jeweils unterschiedlichen Kontexten und erlaubt auf diese Weise eine empathische Identifikation, die ein weniger komplexer Intertext in diesem Zusammenhang nicht überzeugend leisten könnte. ›Emilia Galotti‹ bleibt also mehrdeutig. Die väterliche Macht definiert sich dabei im genauen Abgleich mit dem Sittlichkeitsverständnis des Textes – damit wird die Beziehung zwischen Prinz und Emilia als ebenso großer Störfaktor erkennbar wie die kollidierenden Wertewelten. Der Vater grenzt sich nicht nur gegen den »Prinzen« in seinem Machtmissbrauch und in seiner höfisch korrumpierten Moral ab,208 sondern auch gegen den die Tochter sexualisierenden Bewerber. Greifbar wird dabei das bürgerliche Dilemma, das Sexualität im Zuge einer neuen Körperlichkeit bedingt zulässt und zugleich (als Quelle von Deregulierung) ausschließt. Damit wird die Zärtlichkeits-HerrschaftsAmbiguität des Vaters noch auf einer anderen Ebene entscheidend: als Konkurrenz mit dem zukünftigen, exogamen Partner der Tochter (im Gegensatz zum vom Vater als Sohn ausgewählten, quasi-endogamen Appiani) mit Blick auf genau den Integrationsanspruch, den Odoardo in ›Emilia Galotti‹ gegen die Ansprüche des Prinzen/Liebhabers praktiziert. Wie jede Einschließungssemantik sind auch moralische Setzungen auf den Ausschluss des Inkommensurablen angewiesen; der Vater gerät 208

Insofern Sittlichkeit und Tugendhaftigkeit der Tochter hier zum symbolischen Kapital avancieren, erscheint die Frage nach der politischen Ohnmacht in diesem Kontext sekundär, zumal der Vater – ähnlich wie der antike Virginius – einen (wenn auch destruktiven) Weg findet, dieser determinierenden Kraft zu entkommen. Insofern die lateinische Vorlage dieses Ereignis als Auslöser einer Revolution versteht, die ein korruptes Regime ablöst, drängt sich die Frage auf, welche umstürzlerische Wirkung von Odoardos Tat ausgeht: Da der politische Umbruch von Odoardo selbst explizit als Handlungsoption ausgeschlossen wird, erfolgt ein Rückzug in eine anti-höfische Sphäre, in die private Machtsphäre des Vaters. Das innerliche Bezugssystem indes wird dabei mit seinen Konsequenzen in die höfische Welt exportiert. Wenn Reinhart Koselleck in ›Kritik und Krise‹ beschreibt, »wie die Bürger ihr moralisches Reich entfaltet haben und dabei durch eine Polarisierung von Moral und Politik ihren Herrschaftsanspruch ausprägten, zugleich aber jeden Konflikt mit dem Staat […] zu umgehen schienen«, (Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg/München 1959, S. 48) so erscheint es einleuchtend, dass mit der »Privatisierung« der Familie eine politische Kraft freigesetzt wird. »Als Pendant zur Obrigkeit konstituiert sich die bürgerliche Gesellschaft. Die Tätigkeiten und Abhängigkeiten, die bisher im Rahmen der Hauswirtschaft gebannt waren, treten über die Schwelle des Haushalts ins Licht der Öffentlichkeit.« Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 76.

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dadurch von Anfang an in eine problematische Situation, wenn es um Abweichungen geht, insofern er beides zu leisten hat: Integration innerhalb der Familie und Aufrechterhaltung der allgemein verbindlichen Werte. Die an Emilia vollzogene Exekution209 verdeutlicht die Janusköpfigkeit des bürgerlichen Vaters in radikaler Weise, balanciert sie allerdings noch einmal aus, indem die Tochter selbst ihren Identitätsverlust konzediert und um ihre Exekution bittet (die sie einer moralischen Eliminierung vorzieht). Das Bild, das in der Wertelogik des Stückes eine spezifische Evidenz entfaltet, bleibt dabei allerdings auch hier – im oben beschriebenen Sinne – paradox. Der Vater ermordet die Tochter gerade als integrierender, durch Emotionen gerechtfertigter Vater. Das Ergebnis kann nun als Sieg der väterlichen Herrschaft oder als Phyrrus-Sieg210 gedeutet werden – die körperliche Macht des Liebhabers schreibt sich in jedem Fall in das Endszenario ein und kontaminiert die Märtyrer-Selbstdeutung.211 In ›Emilia Galotti‹ ist die grundsätzliche, mehrschichtige Dualität212 des Vaters als zärtlicher und als (im Rekurs auf bürgerliche Werte) zärtlich 209 210 211

212

Zur komplizierten, mehrschichtigen Wirkungsgeschichte insgesamt: Bauer, Emilia Galotti, Historisch-kritische Ausgabe, Apparat zu Emilia Galotti, S. 195–242 und 369–714. Da die Tochter im Ringen um ihre Entsexualisierung letztlich stirbt, kann man das Ende in diesem Sinne als de facto-Niederlage deuten. Diese Macht mag sich der Vater symbolisch aneignen, wenn er mit einem Dolch die Tochter ersticht. Mit der oft betonten phallischen Qualität des Dolches, so könnte man argumentieren, wird die väterliche Macht restauriert und – übergehend in eine latente Inzestsituation – expandiert. Vgl. dazu auch Frömmer, Vaterfiktionen, S. 179. Damit ist der Konflikt, den Lessing in ›Philotas‹ erarbeitet, der ebenfalls zwischen Öffentlichkeit und Privatheit irisiert, unübersehbar und unauflöslich paradox in den Vater hineingewandert: In Lessings ›Philotas‹ trifft die heroische Tugendkonzeption Philotas’ auf die des Aridäus, der ihn gefangen genommen hat (genau wie sein Sohn von Philotas’ Vater gefangen genommen wurde); es bahnt sich eine friedliche Lösung an, allerdings versucht Philotas seinem Vater einen Verhandlungsspielraum zu verschaffen, indem er sich selbst umbringt und damit das Nullsummenspiel, nämlich den Austausch der Söhne, verhindert. Der Kernkonflikt, der oft in Richtung Tugendexzeß aufgelöst wird, kreist um die Sphären der Privatheit und Öffentlichkeit. Während der König eine menschliche Perspektive kultiviert, propagiert der jugendliche Prinz eine heroische. Die Aussage des Königs: Was ist ein König, wenn er kein Vater ist!« (Gotthold Ephraim Lessing: Philotas. In: Werke und Briefe. (Werke 1758–1759). Hrsg. von Gunter E. Grimm. Bd. 4. Frankfurt am Main 1997, S. 31.) formuliert ein Postulat, das sich innerhalb des Stückes nicht vollständig behaupten kann: Das Stück endet mit dem Tod Philotas’ und der Bestürzung des Königs: »Schaffe mir meinen Sohn! Und wenn ich ihn habe, will ich nicht mehr König sein. Glaubt ihr, Menschen, daß man es nicht satt wird?« (Ebd., S. 35) Das Amt des Königs und das Menschliche scheinen hier per se zu konfligieren, eine Konstellation, die Friedrich Schiller in ›Don Karlos‹ noch anders auflösen wird. Noch einmal komplexer wird seine Rolle mit Blick auf den universalen Anspruch, der sich aus der spezifischen Moralkonzeption ergibt: Odoardos transzendent motivierte, private Moral behauptet qua Konzept einen impliziten, ubiquitären Anspruch gegen die öffentliche Macht; unabhängig davon, ob Odoardo diesen formuliert oder dies ostentativ vermeidet. Seine moralische Setzung muss konzeptuell automatisch auch den öffentlichen Raum umfassen.

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herrschender in Anbetracht der sich überlagernden Diskurse klar erschließbar. Diese Form der unauflösbaren Doppelprogrammierung des bürgerlichen Vaters wird in den folgenden Jahrzehnten in verschiedener Weise thematisch, entweder mit einem Fokus auf ein fehlgerichtetes paternales Machtverhalten, das die Grundlage einer authentischen Moral eingebüßt hat213 und statt dessen einer als tyrannisch verstandenen Konvention folgt,214 als utopische Entparadoxierung der Doppelfunktion215 oder als quälende Paradoxie, die sich nicht mehr auflösen lässt.216 Hier ist zunächst entscheidend, dass der Vater die emanzipatorischen Werte unterstützt, indem er sie über seine Herrschaftsleistung im Haus etabliert. Der Blick auf ›Emilia Galotti‹ zeigt, dass dies bereits im Mikrokosmos Familie für latente bzw. manifeste Probleme sorgt. Paradoxerweise ist es der Herrschaftsanspruch des Vaters, der die familial/privat kultivierten Werte kontrastiv in der öffentlichen Gegen(werte)welt exponiert. Der Vater steht einem in sich funktionalen System vor, das die Werte, die hier als natürlich vorausgesetzt werden, bewahren und erhalten kann – damit avanciert die häusliche Sphäre zum ersten Mal zu einer Gegenwelt, die nicht dem Werteset des politischen Systems subsumiert werden kann oder analog zu ihm funktioniert. Es entsteht nicht nur eine »bürgerliche Öffentlichkeit«, sondern zunächst eine bürgerliche Privatheit, die Individualität vor dem Hintergrund der als transzendent empfundenen (bürgerlichen) Werte rezipieren und generieren kann. Die Privatheit, die hier Raum für die gefühlvollen Individuen bietet, findet sich in einem harschen Kontrast mit der öffentlichen Machtkonstellation, antizipiert und etabliert allerdings zugleich eine moralische Öffentlichkeit, die als axiologische Wertegemeinschaft evidenten, natürlichen Regeln folgt. Diese gesellschaftliche Öffentlichkeit wird mit Blick auf das Erfolgsmodell der bürgerlichen Wertkultur eine wichtige Instanz bleiben, deren Entwicklung es weiter zu verfolgen gilt. Die private bürgerliche Moral ist aus Prinzip immer zugleich eine Anweisung auf eine gesellschaftlichöffentliche. Diese Evidenz, die über spezifische Verknüpfungen im Oszillationssymbol »Vater« kreiert und perpetuiert wird, verliert sich bis in das 20. Jahrhundert nicht, das unter anderen Prämissen immer noch an dieser bürgerlichen Setzung laboriert. 213 214 215 216

Vgl. das Kapitel ›Majorate‹. Vgl. die Kapitel zu Hebbel, Fontane. Vgl. die Kapitel zu Stifter und Hebbel. Vgl. das Kapitel zu Kafka.

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Wenn sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker die Akzentuierung der Familie als abgegrenzter Bereich vollzieht, innerhalb deren virtuellen Rahmen die Individuen mit ihrer Persönlichkeit und Überzeugung Raum finden,217 so ergibt sich im Konzept des bürgerlichen Vaters eine wichtige Verknüpfungs-218 und Verkörperungsfunktion, die ›Innen‹ und ›Außen‹ sinnfällig verbindet und damit ein Integrationsmodell anbietet, mit dem die als Entfremdung wahrgenommene Ausdifferenzierung der Gesellschaft um 1800 vermittelt und modellhaft überwunden werden kann.219 Deswegen ist nun ein kurzer Blick auf verschiedene Formen von Herrschaft unabdingbar, auf die sich paternale Herrschaft strukturell bezieht; denn nicht nur mit Blick auf die Herrschaftsberechtigung, sondern auch mit Blick auf die Verkörperung von Herrschaft bleiben Vater-Konzepte gerade im 19. Jahrhundert aktuell.

2.

Der Vater als Herrscher

Der Blick auf ›Emilia Galotti‹ hat bereits deutlich gemacht, wie stark die väterliche Setzungsfunktion (gerade auch mit ihrem legitimierenden Fokus auf die bürgerliche Moral) an Muster der Herrschaft angekoppelt ist. Auch historisch erfüllt der Vater in diesem Sinne in der Privatsphäre eine Rolle, die einem Herrscher (in einer partiellen Fortsetzung der HausvaterTradition) gleicht: Der bürgerliche Familienbegriff entwickelt sich nicht in Abgrenzung zum alten Modell der aristotelischen Ökonomie, sondern in Anlehnung an diese Vorstellung.220 Wenn dort der Hausvater in allen drei Herrschaftsverhältnissen gegenüber der Frau, seinen Kindern, seinem Gesinde dominiert, so greift die ›Deutsche Encyclopädie‹ diese paternale Personalunion auf und markiert die Funktionen des Hausvaters als folgende: Er ist Oberhaupt der Familie, die gewerbetreibende Person, der Ehemann und schließlich auch der Vater.221 Zedlers Universal-Lexi217

218 219 220

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Dass Familie damit schon im zeitgenössischen Kontext mehrfach besetzt wird, trägt zu der komplexen Rolle des Vaters zwischen »Herrschaft und Zärtlichkeit« bei. Vgl. zu dieser Problematik der Individualität Komfort-Hein, »Sie sei, wer sie sei«, S. 38: »Das gezeichnete Tableau väterlicher Autorität markiert auf solche Weise die glatte Oberfläche einer unproblematischen Verschmelzung von Individualität und Sozialität, aber auch von Autorität und Emotionalität.«. Der Vater verknüpft dabei das Individuelle mit dem Kollektiven. Vgl. dazu das Kapitel Der Vater als Herrscher, besonders das Unterkapitel Verkörperung. Zur Abkünftigkeit dieses sozialen Ordnungsmodells vom Römischen Recht und der dort etablierten Stellung des Vaters vgl. auch Mitterauer, Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft, S. 26–29. Deutsche Encyclopädie, Bd. 9, S. 487.

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kon hält fest, dass Familie eine »Anzahl von Personen« sei, »welche der Macht und Gewalt eines Haus=Vaters, entweder von Natur, oder rechtlicher Disposition unterworfen sind«.222 Es wurde bei Lessing deutlich, dass der paternale Führungsanspruch nunmehr anders legitimiert wird223 – nichtsdestoweniger wird er in einer entscheidenden Überlappung mit politischer Herrschaft patriarchalisch weiter kultiviert. Um diese diskursiv-konterdiskursive224 Interferenz zwischen paternaler und politischer Herrschaft und ihre Konsequenzen geht es im Folgenden. Im bürgerlichen Vater fließen verschiedene Herrschafts-Aspekte (im Sinne des Oszillationssymbols) zusammen, die in den nachfolgenden Jahren unterschiedlich reaktiviert, akzentuiert, kombiniert und verschoben werden. Deswegen ist es für das Folgende notwendig, die historischen Verschiebungen ausführlicher zu thematisieren, da der langfristige geschichtliche Umstellungsprozess, in dessen Verlauf sie allmählich hervortreten, zum Archiv der literarischen Konzeptualisierungen gehört. Dabei soll zunächst ein Blick auf die historische Herrschaftsfunktion und ihre inhärente Legitimation geworfen werden (Regierungsfunktion), die im literarischen Kontext strukturell aufgegriffen und (mit öffentlichen, historischen Konsequenzen) inhaltlich transformiert wird. Hand in Hand mit der Frage nach einer »angemessenen« Handhabung der Macht (im Einklang mit den natürlich-moralischen Vorgaben) geht um 1800 auch die Frage nach Herrschaftsrepräsentation und -verkörperung, die sich ebenfalls wieder stärker an familiären Mustern zu orientieren beginnt. Auch dabei werden ältere Repräsentations- und Verkörperungskonzepte evoziert und evidenzsichernd integriert. Wenn anhand der paternalen Herrschaftsfunktion politische Herrschaft im Feld der Literatur und ihren bürgerlichen Deutungsmechanismen evaluierbar wird, so bietet ein paternal-familial strukturierter Verkörperungsmechanismus eine (partiell organisch konzipierte) Vorlage für das zunehmend abstrakte Konzept der politischen Repräsentation. Um beide Aspekte sinnvoll differenzieren zu können, muss auch kurz die Frage nach neuen politischen Repräsentationskonzepten im 18. Jahrhundert aufgeworfen werden, aus der sich die neu akzentuierten Modi der »Verkörperungen« ergeben. Die 222 223 224

Zedlers Universal-Lexikon, Bd. IX, Sp. 205. Vgl. dazu auch die Argumentationen von Filmer und Rousseau sowie von Locke in Anmerkung 287. Zur Literatur als Konterdiskurs, der sich keinem herrschenden Diskurs subsumieren lässt, vgl. auch Rainer Warning: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. Paderborn, München 2009, S. 23–41. Hier geht es primär um die diskursiven Impulse, die in der Literatur unter dem Kriterium der Evidenz in einer zunehmend emotionalen Buchkultur generiert werden.

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ästhetisch versinnbildlichende Kraft des Oszillationssymbols in seinem synergetischen Zusammenklang mit politisch-historischen Entwicklungen und Bedürfnissen wird hier auch für politische Zusammenhänge zu einer »natürlichen«, evidenten Beschreibungsvorlage.225 2.1.

Die Regierungsfunktion

Die folgenden Überlegungen sind für das gesamte Buch entscheidend, weil sie eine herrscherliche Regierungs- und eine Repräsentationsfunktion unterscheiden, beides Aspekte, an die sich das Vaterbild wahlweise oder gleichzeitig anlehnt. Bei der symbolischen Anleihe entsteht immer ein bestimmter Grad an Kontamination, der in den folgenden Jahrzehnten zu einer zusätzlich ambivalenten Aufladung des Vaterbildes beiträgt. Die Differenzierung in Regierungs- und Repräsentationsfunktion ist dabei notwendig, um die zum Teil widersprüchlichen Erwartungen an den Vater besser verorten und erklären zu können. 2.1.1. Landesvater Am deutlichsten erkennbar wird die Herrscher/Vateranalogie im Bild des Landesvaters, das Christian Wolff noch beherzt aufruft: Regierende Personen verhalten sich zu Unterthanen wie Väter zu den Kindern. Denn Vätern lieget ob, den Kindern alle Mittel zu verschaffen, die sie zur Beförderung der Vollkommenheit ihres innern und äusseren Zustandes vonnöthen haben, und ihnen ihre Handlungen zur Erhaltung dieser Absicht einzurichten […]: hingegen die Kinder sind verbunden zu thun und zu lassen, was ihnen von den Eltern in diesem Stücke befohlen wird […], und also den Willen der Eltern in ihren Willen seyn zu lassen.226

Diese Vorstellung wird im 18. Jahrhundert komplizierter und fungiert in den hier behandelten Texten als Gegenpol, der die Aufkündigung der Analogie insinuiert, bzw. ihre sich auch theoretisch herauskristallisierende Problematisierung aufgreift. Das Wort ›Landesvater‹ ist nun zunächst als Analogiebildung zum ›Hausvater‹ zu verstehen:227 Es handelt sich dabei 225 226 227

Die politisch durchaus ihre Funktion verändern kann, vgl. das Kapitel zu Stifter. Wolff, Vernünfftige Gedancken, S. 200. Deshalb würden auch regierende Personen »mit Recht Landes-Väter und Väter des Vaterlandes genennet.« Ebd., S. 201. Vgl. Paul Münch: Die ›Obrigkeit im Vaterstand.‹ – Zu Definition und Kritik des ›Landesvaters‹ während der Frühen Neuzeit. In: Daphnis 11 (1982), S. 15–40, hier S. 18. Vgl. auch ders.: Der Landesvater. Historische Anmerkungen zu einem Topos der deutschen politischen Kultur. In: Journal Geschichte 5 (1986), S. 37–43.

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um einen Transferbegriff, der es erlaubt, die konkrete Erfahrungswelt des Hauses auf die staatliche Sphäre zu übertragen. Diese christliche Konzeption eines (Landes-)Vaters basiert auf der Vorstellung einer vaterrechtlich geordneten Herrschaftspyramide, die Gott (als überirdische) und der Monarch (als weltliche Spitze) anführen. Dabei stellt das Haus mit dem ihm vorstehenden Hausvater die konstitutive Struktureinheit dar,228 so dass die societas domestica jeder politica christiana und politica civilis als Gesellschaftsmodell zugrunde lag.229 Hierbei ist eine repräsentative Dimension von einer Herrschaftskonzeption zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang kommt es zunächst nur auf die herrschaftserklärende und herrschaftslegitimierende Analogie zwischen Hausvater und Herrscher an, nicht auf eine spezifische Repräsentation von Herrschaft.230 Seit Luther im ›Großen Katechismus‹ (1529) die »weltliche […] oberkeit« »ynn den vater stand«231 erhob, ist die obrigkeitliche Legitimation um eine wichtige Facette bereichert, insofern der Vatertitel eine konkrete Erfahrungsdimension aufweist, deren Einfluss »auf die politische Mentalität breiter Bevölkerungsschichten kaum überschätzt«232 werden kann. Auf einer antiken233 und christlichen Tradition gründend nahm der Vatertitel eine entscheidende Position in absolutistischen Staatstheorien ein.234 Besonders prominent hatte Jean Bodin in seinen ›Six livres de la Republique‹ (1576) betont, dass der Herrscher als »Gottes deß Allmächtigen / vnd vnser aller Vatter / rechtes vnd lebendig ebenbild«235 fungiere. Paul Münch 228

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Werner Conze: Monarchie. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, S. 175–214. Vgl. auch den Überblick bei Bengt Algot Sørensen: Die Vaterherrschaft in der früh-aufklärerischen Literatur. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hrsg. von Wilfried Barner. München 1989, S. 189–209. Der moderne Staat gründet sich zwar auf einer solchen patrimonialen, patriarchalen Landesverfassung, weicht aber zunehmend in seinen Konzeptionen und Prinzipien davon ab, vgl. Conze, Monarchie, S. 176–189. Die Repräsentation von Herrschaft ist äußerst vielfältig und komplex, im Kontext der Frühen Neuzeit vgl. Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Karl Drescher. Bd. 30, Abteilung I. Weimar 1910, S. 153. Münch, Obrigkeit im Vaterstand, S. 24. Antonie Wlosok: Vater und Vatervorstellung in der römischen Kultur. In: Das Vaterbild im Abendland. Hrsg. von Hubertus Tellenbach. Bd. 1. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1978, S. 18–54. Vgl. dazu besonders auch die englische Patriarchalismusdebatte, etwa bei Gordon J. Schochet: Patriarchalism in Political Thought. The Authoritarian Family and Political Speculation and Attitudes especially in Seventeenth-Century England. Oxford 1975. Hier zitiert nach Joannes Bodinus: Respublica […] [Ins Deutsche übertragen von] Johann Oswalt. Mumpelgart 1592, S. 21.

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verweist dabei auf die legitimatorische Kippfigur: »So sehr die Begabung des Fürsten mit der väterlichen Würde als Paränese zu einem entsprechend milde konzipierten väterlichen Regiment gedacht werden konnte, so sehr enthob gerade dieser Titel die Obrigkeiten der Kritik.«236 Der Prozess der legitimatorischen Analogisierung vom idealtypisch integren Hausvater und dem einem persönlichen Regiment verpflichteten Herrscher wird im Zuge der »Distanzierung und Tabuisierung«237 des Herrschers zugunsten rationalisierter Herrschaftsprinzipien zunehmend problematischer.238 Foucault ist diesem Phänomen in seinen Überlegungen zur Gouvernementalität239 nachgegangen. 2.1.2. Staatsräson und »gute Regierung« Proleptisch sei darauf hingewiesen, dass der oft kritisierte Terminus Biomacht (bio-pouvoir), den Foucault in seinem Text vorschlägt, keinen unbestimmten Universalismus der Macht insinuiert, sondern »ein Verfahren zur Untersuchung von Machtprozessen in ihrer historischen Immanenz [darstellt], also ohne der Macht so etwas wie einen ›Machthaber‹, eine ›Quelle‹ oder ähnliches zuzuschreiben«.240 Es geht bei Foucault also nicht um die Substanz, sondern um die intrinsischen Relationen von Macht: Es gibt beispielsweise keine Beziehungen familiären Typs mit weiteren Machtmechanismen […]. Die Machtmechanismen sind intrinsischer Bestandteil all dieser Beziehungen, sie umkreisen sie als deren Ursache und Wirkung, selbst wenn es gewiß zwischen den verschiedenen Machtmechanismen, die man in den Produktionsbeziehungen, den familiären und sexuellen Beziehungen etc. finden kann.241

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Münch, Obrigkeit im Vaterstand, S. 28. Münch, Obrigkeit im Vaterstand, S. 31. Die traditionelle Analogie zwischen Vater und Landesvater ist in der deutschen Aufklärung – auch gerade in der Kritik dieses Vergleichs – omnipräsent, wobei Bengt Algot Sørensen auf den Widerspruch im 18. Jahrhunderts hinweist, die »politische Autoritätsstruktur des absolutistischen Staates anzugreifen und gleichzeitig die patriarchalische Familie zu verherrlichen, obwohl sie als Herrschaftsform in ihrem Kern letzten Endes autoritär blieb.« Sørensen, Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 59. Zum Begriff zusammenfassend das Lemma »Gouvernmentalität« in: Michael Ruoff: Foucault-Lexikon. Paderborn 2007, S. 130–136. Vgl. auch insgesamt Susanne Krasmann und Michael Volkmer (Hrsg.): Michel Foucaults ›Geschichte der Gouvernementalität‹ in den Sozialwissenschaften. Internationale Beiträge. Bielefeld 2007. Petra Gehring: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt am Main 2006, S. 10. Foucault, Gouvernementalität, Bd. 1, S. 14.

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In diesem Sinne werden bei Foucault mit Blick auf den historischen Kontext keine Intentionen von Agenten verhandelt, sondern ebenfalls komplexe Machtprozesse, die es »archäologisch«242 zu beschreiben gilt. Für ästhetische Texte nun bietet sich dieses Verfahren nur bedingt an. Die Texte partizipieren zwar an den Diskursen, offerieren aber als KonterDiskurs eine andere Form von »Intention« und Verdichtung. Das heißt, die (ästhetische) Deutung und Beschreibung historisch-sozialer Sachverhalten folgt anderen Zuschreibungsregeln. Bevor die spezifische Korrespondenz zwischen der Geschichte der Denksysteme und den literarischen Texten mit dem Konzept des Oszillationssymbols erläutert wird, ist jedoch nichtsdestoweniger ein kurzer Blick auf Foucaults Verdichtung der konzeptuellen Verschiebungen hilfreich. Foucault fasst eine wichtige Veränderung mit Blick auf die Regierung folgendermaßen zusammen:243 Von einer Regierungskunst, die sich an traditionellen Tugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Achtung vor den göttlichen Gesetzen und den menschlichen Sitten) oder an Alltagsfähigkeiten (Umsicht, Überlegung, Rückgriff auf die besten Ratgeber) orientierte, ging man zu einer Regierungskunst über, deren Rationalität ihre Prinzipien und ihr spezifisches Anwendungsfeld im Bereich des Staates fand.244

Die Konzeption der Staatsräson ist für Foucault die maßgebliche Entwicklung des 16./17. Jahrhunderts. Mit ihr wird der Staat zu einem Teil der reflektierten Praxis des Menschen. Drei entscheidende Herrschaftsanalogien verschieben sich nun laut Foucault im Zuge der Rationalisie242

243

244

Dieser Macht-Diskurs wird in diesem Sinne nicht als die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und das Gedachte aussprechenden Subjekts verstanden: »Im Gegenteil handelt es sich um eine Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst sich bestimmen können.« Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. 8Frankfurt am Main 1997, S. 82. Im Folgenden geht es vor allem um Foucaults Ausführungen zum Thema Gouvernementalität; in seinen Vorlesungen am Collège de France aus dem akademischen Jahr 1975/76 zur Politik als »Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln« (Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975/76). Übersetzt von Michaela Ott. Frankfurt am Main 2001, S. 32), bzw. zur Deutungskraft der Kategorie »Krieg« mit Blick auf die Gesellschaft verzichtet Foucault dezidiert auf eine souveränitätsorientierte Machtanalyse. Er versteht die Souveränität als eine Theorie des Rechts, die allerdings gänzlich inkompatibel wird mit einem im 17. und 18. Jahrhundert auftretenden Phänomen, nämlich einer sich am realen Körper orientierenden Disziplinarmacht (im Gegensatz zum Souveränitätsverhältnis zur Totalität des sozialen Körpers). Die Ausübung der Macht vollzieht sich nach Foucault genau in den Grenzen des Rechts der Souveränität und der Mechanik der Disziplin. Foucault, Gouvernementalität 1, S. 359.

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rung auf dem Weg von einer ratio pastoralis hin zu einer ratio gubernatoria,245 also zu einer gouvernementalen Vernunft. Neben der bekannten Analogie zwischen Gott und Herrscher bilden die Analogie des Königs mit der Lebenskraft eines Organismus und schließlich die hier thematische Analogie des Herrschers mit dem Pastor/Familienvater ein »theologisch-kosmologisches Kontinuum […], in dessen Namen der Souverän autorisiert ist zu regieren, und das Modelle anbietet, denen gemäß der Souverän zu regieren hat.«246 Was Foucault zufolge nun am Ende des 16. Jahrhunderts geschieht, ist ein gleichzeitiger Prozess der Entgouvernementalisierung des Kosmos’ (mit einem in Frage gestellten Anthropozentrismus und sich zunehmend ausbildenden mathematischen und klassifikatorischen Intelligibilitätsformen) und einer Gouvernementalisierung der res publica: In einer rationalisierten Welt regiert Gott nicht pastoral, sondern er herrscht mit den etablierten Gesetzen souverän über die Welt: »Das heißt, daß Gott sie nicht regiert.«247 Mit der konzeptuellen Einführung der »Kunst des Regierens« sind die oben erwähnten Analogien in ihrer alles erschließenden Qualität hinfällig.248 Diese Überlagerungen verschiedener konzeptueller Entwürfe, je nachdem, ob es um eine Legitimation oder um eine Pragmatisierung/Rationalisierung/Abstrahierung des Herrschens geht, sind im Folgenden entscheidend. Der Herrscher als »Regierung« nun richtet die Prinzipien seines Verfahrens an der Staatsräson aus. Foucault führt hier exemplarisch Bogislaus Philipp von Chemnitz an, der Staatsräson als eine gewisse politische Aufmerksamkeit, die man in allen öffentlichen Angelegenheiten haben muß, in all den Ratschlägen und Plänen, und die einzig nach der Erhaltung, nach der Vergrößerung, nach der Glückseligkeit des Staates streben muß und für die man die verträglichsten und geeignetsten Mittel anwenden muß.249

Die Finalität des Staates ist somit der Staat.250 Johann Heinrich Gottlob von Justi formuliert dies 1759 zusammenfassend mit Blick auf die Funktion des Regenten folgendermaßen: 245 246 247 248

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Foucault, Gouvernementalität 1, S. 338. Foucault, Gouvernementalität 1, S. 340. Foucault, Gouvernementalität 1, S. 341. Im Zuge von Reformation und Rekatholisierung bleibt sie bis ins 17. Jahrhundert maßgeblich: »Die politische Herrschaft (Obrigkeit) galt als Stiftung Gottes, eingesetzt zum Wohle und zum Schutz des Menschen; der Fürst als Träger der Obrigkeit war demgemäß ›Gottes Stellvertreter‹«. Conze, Monarchie, S. 173. Zitiert nach Foucault, Gouvernementalität 1, S. 372. Zur Übersicht dazu vgl. auch Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik. 2Wiesbaden 2008, S. 35–43.

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Die hauptsächlichste Eigenschaft eines guten Regenten ist, daß er nur einen Willen vor seinen Staat, niemals aber einen besondern Willen vor sich selbst hat, das ist, sein besonderer Wille muß sich niemals in seine Regentenhandlungen einmischen. Der vereinigte Wille des Volks ist: seine Glückseligkeit zu wollen. Der Regent ist der, dem man diesen vereinigten Willen anvertrauet hat, um denselben zu erklären und zu leiten. Als Regent kann er also keinen andern Willen haben, als den Willen des gesammten Staats, nämlich dessen Glückseligkeit zu wollen.251

Auch Jean-Jacques Rousseau befasst sich in ›Contrat Social‹ im Kapitel ›Kennzeichen einer guten Regierung‹ mit ihrem »Zweck« und kommt dabei sogar zu einem quantitativen Ergebnis, das den biopolitischen Regulierungsanspruch im Grunde explizit formuliert: »Quelle est la fin de l’association politique? C’est la conservation et la prospérité de ses membres. Et quel est le signe le plus sûr qu’ils se conservent et prospèrent? C’est leur nombre et leur population.«252 »Prospérité« (also »Wohlfahrt«), aber noch stärker »Glückseligkeit« sind Termini, die, über die einfache »Erhaltung« hinausgehend, die Komplexität der Anforderungen an eine gute Regierung verdeutlichen. Mit diesen Verschiebungen reichen die herkömmlichen Tugendanweisungen aus den Fürstenspiegeln nicht mehr aus: Um das Heil des Staates zu sichern, muss der Herrscher mit der »Realität des Staates«253 vertraut sein, damit er die Mechanismen seiner Aufrechterhaltung verstehen und perpetuieren kann; neben einer diplomatisch-militärischen Diplomatie, die den Staat über Bündnissysteme nach außen zu sichern und zu erweitern hatte, wird zugleich die innere Regulierung des Staates wichtig: Bevölkerung und Reichtum bilden in der Zeit der Kameralistik und des Merkantilismus einen zentralen Gegenstand des Regierens.254 Das Zusammenspiel von Reichtum und Bevölkerung führen zur Geburt der politischen Ökonomie, mit der wiederum die Technologie der

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Johann Heinrich Gottlob von Justi: Der Grundriß einer guten Regierung in fünf Büchern. Frankfurth, Leipzig 1759, S. 23–24. Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat Social. Hrsg. von Robert Derathé. Paris 1964, S. 241–242, im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als CS mit der entsprechenden Seitenzahl. Foucault, Gouvernementalität 1, S. 397. Biopolitik setzt sich dementsprechend zusammen aus einer Disziplinarmacht (als Optimalnutzung des einzelnen Körpers), die im Folgenden beschrieben wird, und einer Biopolitik der Bevölkerung (als Kontrolle des Kollektivkörpers), die bereits in Rousseaus eben zitierten Überlegungen als Erfolgskriterium des Bevölkerungswachstums antizipiert werden.

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»Polizei«255 Hand in Hand geht. Die Polizei erfüllt dabei eine doppelte Funktion, da ihr zum einen die Maximierung der Kräfte obliegt, zum anderen aber auch ihre stabilisierende Kontrolle.256 Viele pastorale Funktionen werden dabei »in dem Maße, in dem auch die Regierung selbst sich von diesem Moment an daranmachte, die Verhaltensführung der Menschen, ihre Führung in die Hand zu nehmen«,257 weitergeführt.258 Pastorale und politische Macht erscheinen als moderne politische Rationalität verknüpft, wobei mit Blick auf die einzelnen »Glieder« (deren »Wohlfahrt« hier auch kultiviert werden muss) deutlich wird, dass dies nicht nur Entfaltung, sondern auch Begrenzung und Regulierung bedeutet: »Political rationality has grown and imposed itself all throughout the history of Western societies. […] Its inevitable effects are both individualisation and totalisation.«259 Das Paradox einer Policey im Zeichen der Staatsräson besteht in diesem Sinne in der Aufgabe, die Individuen so zu fördern, dass der Staat insgesamt profitiert.260 Wenn im Laufe des 18. Jahrhunderts das Konzept der »Wohlfahrt« (unter Beibehaltung des vollen Verwaltungsanspruchs) immer stärker wird, übernimmt die aufklärerische Policierung ein moralisches, christliches FürsorgeKonzept, das um das Heil der Seelen besorgt ist.261 Im 18. Jahrhundert galten in diesem Sinne alle Lebensbereiche als »policierbar«.262 255

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Foucaults Verständnis von der Polizei als Technologie schließt sich an den Begriff »Polizei« im 17. Jahrhundert als »Zustand guter Ordnung im Gemeinwesen« an: »›Polizei bestand‹, wo der Bürger oder Untertan sich ordentlich, züchtig, gesittet, ehrbar verhielt, wo das Zusammenleben im Gemeinwesen geordnet war«. Vgl. Franz Ludwig Knemeyer: Polizei, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4., S. 875–898, hier S. 877. Vgl. zur Geschichte der Polizei besonders: Michael Stolleis, Karl Härter, Lothar Schilling (Hrsg.): Policey im Europa der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1996. Zu Deutschland vgl. Hans Boldt: Geschichte der Polizei in Deutschland. In: Handbuch des Polizeirechts. Hrsg. von Hans Lisken, Erhard Denninger. München 1992, S. 1–39. Foucault nennt als Aufgabenbereiche die demographische Kontrolle, Bedürfnisse des Lebens, Sicherung der Gesundheit und Kontrolle über die Tätigkeit des Menschen, vgl. Foucault, Gouvernementalität 1, S. 465–467. Foucault, Gouvernementalität 1, S. 286. Vgl. zu dieser Absorption einer christlich-institutionellen Pastoralmacht durch den Staat: Rolf Frankenberger: Gesellschaft – Individuum – Gouvernementalität. Theoretische und empirische Beiträge zur Analyse der Postmoderne. Berlin 2007, S. 177–179. Michel Foucault: Omnes et singulatim. Towards a Critique of ›Political Reason‹. In: The Tanner Lectures on Human Values. Hrsg. von Sterling M. McMurrin. Bd. 2. Salt Lake City, Cambridge 1981, S. 223–254, hier S. 254. Vgl. dazu wiederum Justis Überlegungen von 1759: Johann Heinrich Gottlob von Justi: Grundsätze der Polizeywissenschaft. 3Göttingen 1782. Vgl. zu dieser Entwicklung Knemeyer, Polizei. Sabine Toppe: Polizey und Geschlecht. Der obrigkeitsstaatliche Mutterschaftsdiskurs in der Aufklärung. Weinheim 1999, S. 48.

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Dieses Konzept der »guten Policey«263 gerät gegen Ende des 18. Jahrhundert in die Krise, weil es zunehmend mit dem Verständnis eines freien, bürgerlichen Subjektes kollidierte, dessen Privatsphäre264 sich vehement gegen den Staat abzugrenzen begann.265 Dies rührt unmittelbar an den Gegenstand dieser Arbeit, insofern das Bild des guten Vaters inhaltlich vollständig bürgerlichen Moralvorstellungen verpflichtet war und sich bereits in jener prominent platzierten Privatsphäre befand: Seine Doppelposition im Kontext des familialen Innenraums und einer gesellschaftlichen Außenposition ermöglicht eine diskrete (aber von der Literatur nicht unbeobachtete) Fortsetzung der Disziplinierungsmaßnahmen im Inneren der Familie. Die Funktionalisierung der Familie als politische Größe wird hier in ihrer Ambivalenz ganz deutlich greifbar. Innerhalb der paternal propagierten Moral wird dementsprechend ebenfalls eine Regulierungsmacht identifizierbar, allerdings im Einklang mit den als »natürlich« verstandenen, bürgerlichen Werten. Diese Facette der paternal-pastoralen Macht (als Regulierung) wird bereits in Lessings Texten zu einem latenten Problem. Offensichtlich bieten die bürgerlichen Werte gerade wegen ihrer unterstellten Universalität und Selbstevidenz einen ungemein effizienten Zugriff auf das Individuum.266 Peter Schnyder hat in diesem Sinne hinsichtlich Schillers auf die Fortsetzung der Prinzipien der Gouvernementalität als Pastoraltechnologie, als nach innen verlegte Polizei hingewiesen. Schnyder deutet etwa die Konzeption des ästhetischen Staats bei Schiller vor diesem Hintergrund nicht als Gegenentwurf zur Gouvernementalität, sondern als deren konsequente Umsetzung;267 in diesem Sinne begreift er die Verschiebungen 263 264

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Vgl. dazu auch Andrea Iseli: Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2009. Wichtig ist in diesem Kontext vor allem, dass sich die verschiedenen Formen der Macht (souveräne Macht, Disziplinmacht und Biomacht) nicht ablösen, sondern mit einander interferieren. Dies geht Hand in Hand mit den bürgerlichen Forderungen nach einem »minimalen Staat«, in dem das individuelle Streben dem Staat vorgeordnet waren. Die Aufgabe der Polizei wird damit auf die präventive Gefahrenabwehr als Voraussetzung dieses Glücksstrebens eingeschränkt. Besonders dann, wenn man die Implikationen der Sexualmoral im Zeichen der Biopolitik bedenkt. Peter Schnyder: Schillers »Pastoraltechnologie«. Individualisierung und Totalisierung im Konzept der ästhetischen Erziehung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 234–262. Vgl. dazu auch Wolfgang Schäffner, Joseph Vogl: Policey-Sachen. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg 2006, S. 47–65. Joseph Vogl: Staatsbegehren. Zur Epoche der Policey. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 600–626.

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als Selbst-Policierung des Individuums: »Die gewährte ›Freiheit‹ würde zum sichersten Mittel der Lenkungskontrolle.«268 Allerdings ist dies nur ein retrospektiv problematisierter Machteffekt: Macht als Regulierung wird um 1800 ergänzt von Macht als Ermächtigung. Gerade an der Figur des literarischen Vaters wird diese Assertion des Bürgerlichen als emanzipatorische Bewegung augenfällig. Die wiederum paradoxen Effekte dieses Freiheitsanspruches werden bereits in ›Emilia Galotti‹ greifbar269 und sind mit der doppelten Funktion des Vaters als »Regulierer« und »Ermächtiger« im Modus der Moral auf das Engste verbunden. Die Bewertung des Vaters im Kontext dieser Policierungstechniken verschiebt sich im Verhältnis zur Historisierung des Werte-Verständnisses. Operiert der Vater unter einem transzendenten »Wertehimmel«, ist er »Ermöglicher«. Werden die Werte retrospektiv (und auch das setzt kurz nach der Jahrhundertwende ein) als Fremdwerte gedeutet, wird die paternale Regulierungsfunktion als Repression prominenter. Über das Oszillationssymbol werden diese historischen Verschiebungen textlich bereitgestellt und literarisch re-evaluierbar. Die damit greifbaren Kontinuitäten und Varietäten werden über den Verlauf der nachfolgenden Jahrhunderte noch genauer zu beobachten sein. Literatur kann dabei – obwohl selbst am Machtnetz partizipierend – textimmanent andere Wertungen, Beschreibungen und Interpretationen anbieten. Aus Foucaults Überlegungen ergeben sich auch noch andere Konsequenzen für die »gute Regierung«, denn »Freiheit« wird auch zum integralen Konzept der Gouvernementalität: Man kann nur noch unter der Bedingung gut regieren, daß die Freiheit oder bestimmte Formen der Freiheit wirklich geachtet werden. Die Freiheit nicht zu achten, bedeutet nicht nur, das Recht gegenüber dem Gesetz zu mißbrauchen, sondern vor allem nicht ordentlich regieren zu können. Die Integration der Freiheiten und der Grenzen, die dieser Freiheit eigen sind, in das Feld der gouvernementalen Praxis ist jetzt zu einem Gebot geworden.270

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Peter Schnyder: Schillers »Pastoraltechnologie«, hier S. 253. Dies korrespondiert mit dem »ubiquitären Machtbegriff« Foucaults, der Macht als »de-zentral, ja kapillar« versteht: »Sie kommt von überall her und durchkreuzt, stabilisiert und unterminiert sich in einem unendlichen Spiel der Kräfte, und da sie von überall her kommt, gibt es auch keinen machtfreien Raum.« Thomas Biebricher: Selbstkritik der Moderne. Foucault und Habermas im Vergleich. Frankfurt am Main 2005, S. 100. Foucault, Gouvernementalität 1, S. 506–507.

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In der Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich also ein Wandel vollzogen, der das Prinzip der Begrenzung internalisiert, d. h. die gouvernementale Vernunft wird nicht mehr durch externe Prinzipien,271 sondern durch eine interne Regelung begrenzt. Damit meint Foucault, dass eine gegen die faktische, interne Begrenzung verstoßende Regierung keine rechtliche Transgression begeht, durch die sie illegitim würde, sondern schlechthin »ungeschickt, unangepaßt« sei, »eine Regierung, die eben nicht das Passende tut«.272 Relevante Überschreitungen sind nicht mehr eine rechtliche Frage der Usurpation und der Legitimität des Souveräns (d. h. gegen den Missbrauch von Souveränität), sondern ein Übermaß von Regierungstätigkeit. Foucault bestimmt als Modus der internen Selbstbegrenzung der gouvernementalen Vernunft die politische Ökonomie, anhand der sich bewerten lässt,273 was »die tatsächlichen Wirkungen der Gouvernementalität in ihrer Ausübung« sind; nicht mehr relevant erscheint dagegen die Frage: »Was sind die ursprünglichen Rechte, die diese Gouvernementalität begründen können?«274 Es wurde bereits deutlich, inwiefern die Staatsräson mit ihrer spezifischen Zweckrationalität ein neues Interesse am »Nützlichen« hervorbringt. Als Pastoraltechnik wird dies auch innerhalb der Familie greifbar275 und legt eine Dualität offen, die »Erhaltung und Wohlfahrt« des Einzelnen unter Rückbindung und im Kontext der Finalität des Staates projektiert. Auch diese Dualität der Ermächtigung (Wohlfahrt) und Regulierung 271

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Das – laut Foucault – unbegrenzte Ziel der Staatsräson wird durch zahlreiche Ausgleichmechanismen (auch theologischer Art) reguliert. Von besonderem Interesse für die Begrenzung der Staatsräson ist hier die Funktion des Rechts, insofern die Theorie des Rechts und seine Institutionen »nicht mehr als Multiplikatoren, sondern im Gegenteil als Substrahenden der königlichen Macht« (Foucault, Gouvernementalität 2, S. 22.) dienen. In diesem Sinne versteht Foucault das öffentliche Recht im 17. und 18. Jahrhundert als oppositionell. Foucault, Gouvernementalität 2, S. 26. Dieses »Passende« muss dabei allgemein gültig sein und Prinzipien folgen, die ohne Ausnahme gelten. Nach Foucault wird die Frage nach Legitimität durch das Kriterium des Erfolges ersetzt. Der Markt (im Widerstreit mit der Regierung) wird zum zentralen Ort eines »minimalen Staates«. Im Kontext der Französischen Revolution ergeben sich dann zwei Argumentationslinien mit Blick auf die Regierung: einerseits ein juridisch-deduktiver Weg, dem im weitesten Sinne die Französische Revolution folgt, »um über die Konstitution des Souveräns zur Begrenzung der Gouvernementalität zu kommen« (Foucault, Gouvernementalität 2, S. 66.); zum anderen der radikalere Weg, der sich auf die neue Ökonomie der gouvernementalen Vernunft stützt und die Regierungspraxis im Zeichen der Nützlichkeit evaluiert. Foucault, Gouvernementalität 2, S. 32–33. Diese erweist sich wiederum als wichtiger, gouvernementaler Zugriff auf die Regulierung der Bevölkerung.

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(im Sinne der Policierung) des filialen Individuums spiegelt sich in der Funktion des bürgerlichen Vater wieder, wobei sich in der bürgerlichen Moral ein anderes, literarisch produziertes Beglaubigungsinstrument findet, das die Legitimation, also die »Angemessenheit« des Vaters um 1800 transzendent fasst. Dementsprechend wird die (der Policierung vergleichbare) Disziplinierung der Kinder im Einklang mit der bürgerlichen Moral vollzogen. Das Konzept des »Angemessenen«, das Foucault hier im Kontext seiner Gouvernementalität einführt, hat weitreichende, auch politische Folgen für die axiologische Verortung des Vaters. 2.1.3. Schillers Landesvater: ›Kabale und Liebe‹ Die Vorstellung einer politischen Angemessenheit/Nützlichkeit, die zur Selbsterhaltung des Staates beiträgt, geht also um 1800 Hand in Hand mit einer Werteideologie, auf die oben bereits verwiesen wurde: das Konzept der emotional verbürgten menschlichen Gleichheit qua Individualität in ihrem Ausgriff auf das politische Werteverständnis. D.h. neben der juristisch-pragmatischen Ebene der Gouvernementalitätsbegrenzung kommt eine moralisch-ausdifferenzierte Dimension ins Spiel, die indiziert, wenn das nicht »Passende« getan wird.276 Der historische Synergieeffekt wurde oben beschrieben als internalisierter Herrschaftsmodus: Abstrakte Herrschaftstechnologien bedienen sich spezifischer innerer Selbstdisziplinierungsmethoden, die in diesem Kontext als Produkte der bürgerlichen Moralvorstellungen verstanden werden. Der Staat instrumentalisiert als Disziplinar- und Biomacht die bürgerlichen Werte (im Sinne der Gouvernementalität). Diese Chronologie von einem originären Freiheitskonzept und seiner kollektiven Instrumentalisierung im Kontext der Staatsräson lässt sich zeitlich nicht auflösen. Die Dualität liegt strukturanalog in der universalen Reichweite des individuellen Moralkonzepts, für die der Vater in den Texten einsteht. Hier allerdings wird eine komplexe (und auf eben beschriebene Weise ebenfalls widersprüchliche) Freiheit als freiwillige Annahme eines evidenten Wertekanons denkbar, synchronisiert also Integration und Individualität. Die Polyvalenz steckt zwar in den Texten, ihre potentielle Auflösung erscheint aber kontemporär noch denkbar, wenn man das zeitgenössische moralische Werteset als ontologische Wahrheit akzeptiert. 276

Genau genommen resultiert ja die Evidenz der bürgerliche Moralkonstruktion aus einer Emotionalisierung, die jene Werte als innere, wahre Werte ontologisierend zu bestätigen scheint.

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Schillers Trauerspiel ›Kabale und Liebe‹ gleicht vor diesem Hintergrund drei Vaterkonzepte ab und verpflichtet sie auf eine ähnliche Moralkonzeption, die sich – wie oben ausgeführt – an emotiv konditionierten Individualisierungsvorstellungen orientiert. Abgesehen von der Konfrontation zwischen dem bürgerlichen Musikus Miller und dem (der Hofsphäre zugerechneten) Präsidenten beschäftigt sich Schiller auch noch mit einem anderen Konzept: dem des Landesvaters, für den im Verlauf des plots neue Forderungen impliziert werden. ›Kabale und Liebe‹ lässt dabei mit der Bekehrung des »schlechten Vaters« am Ende trotz Kritik ein systemisches Schlupfloch für die gegebene Herrschaftsform offen. Das Benehmen von Ferdinands Vater wird in diesem Sinne primär zum individuellen Fehlverhalten, das potentiell korrigierbar erscheint. Er erfährt am Ende eine exemplarisch-epiphanische Konversion zum liebenden Vater.277 Damit findet eine legitimatorische Machtverschiebung statt, die der zeitgenössischen Herrschaft die Absolutheit der bürgerlichen Werte als natürlich menschliche (und damit unhintergehbare) entgegenhält.278 Die kleinfamiliale Form generiert den

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Die Entfremdung zwischen Ferdinand und seinem Vater, dem Präsidenten, begründet sich auf dessen als unmoralisch dargestellter Priorisierung von Macht gegenüber väterlicher Fürsorge. Konfrontiert mit der (berechnend vorgetäuschten) liebevollen Nachgiebigkeit des Vaters scheint es für Ferdinand unmöglich, den Wünschen des Vater zu widersprechen: »Was seine Bosheit an meinem Herzen noch ganz ließ, zerreißt seine Güte.« (NA V, S. 23). Folgerichtig kann dem reuigen Vater am Ende in dem Moment vergeben werden, in dem er seine falsche Wertehierarchie erkennt und seinen dieses Mal tief empfundenen väterlichen Gefühlen freien Lauf lässt. Mit dieser Versöhnung wird das vorangegangene Zerwürfnis als widernatürlich ausgewiesen und die emotionale Vater-KindBeziehung wiederhergestellt, wodurch sich die Zärtlichkeit des Vaters unter der Hand naturalisiert. Zugleich allerdings muss eine adäquate, »natürliche« Vaterschaft in diesem Sinn erworben und bewahrt werden, insofern sie nicht mit der biologischen deckungsgleich ist. Sittlich-emotionale Vaterschaft wird hier als symbolisches Kapital eingeführt, die den fragwürdigen Habitus des machtbesessenen Präsidenten als Pervertierung entlarvt. Insofern der Vater Ferdinands am Ende zu der bürgerlichen Vaterschaft bekehrt wird, d. h. väterlicher Fürsorge vor dynastischen Machtspekulationen den Vorzug gibt, und seine Beziehung zum Sohn unter emotionalen Vorzeichen wiederhergestellt wird, erweist sich der bürgerliche Tugendkanon als konvertierbares Kapital, das universal anschlussfähig ist bzw. universal Gültigkeit beansprucht. Wenn Friederike Kuster festhält, dass »die Dekonstruktion absolutistischer Fürstenmacht im Zuge der politischen Aufklärung […] im Hinblick auf die Herrschaft des Hausvaters ein legitimatorisches Vakuum« (Kuster: Vaterschaft und Vaterland. Das Vaterkonzept im Republikanismus des 18. Jahrhunderts. In: Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Hrsg. von Dieter Thomä. Frankfurt am Main 2010, S. 65–83, hier S. 81) erzeugt, so ergeben sich auf einer anderen Ebene diese reziprok affirmierenden Strukturen. Die fehlende Legitimation bezieht sich tatsächlich auf ein dezidiert unbürgerliches Ideal.

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Wertungsrahmen für die Legitimationsbasis im Großen.279 In dieser implizierten, natürlich-moralischen Vorbildfunktion der modernen, emotionalen Kleinfamilie liegt die eigentliche revolutionäre Sprengkraft des Stücks.280 Vice versa wird allerdings auch ein moralisierter Herrschaftsraum für die bürgerliche Familie reklamiert, als deren Oberhaupt der Vater im 279

280

Ostentativ wird die bürgerlich-familiale Welt im bürgerlichen Trauerspiel zur Gegenwelt, die sich von den geltenden Werten und Normen der staatlichen Öffentlichkeit abgrenzt. Sørensen erläutert diese paradoxe Annäherung und Trennung wiederum im Zeichen der Emotionalisierung und Sentimentalisierung: »Dadurch daß der Gefühlsaspekt den Herrschaftsaspekt des Patriarchalismus gleichsam in sich aufsog, so daß selbst die väterliche Herrschaftsausübung als eine uneigennützige Liebeshandlung bewertet werden konnte, war die Voraussetzung für das damals vorherrschende Bild der patriarchalischen Familie als einer humanen und sittlichen Gefühlsgemeinschaft.« Sørensen, Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 59. Vgl. auch das Kapitel zu Schillers ›Don Karlos‹. In Otto Heinrich von Gemmingens Schauspiel ›Der deutsche Hausvater‹ – eine von Schillers Vorlagen für ›Kabale und Liebe‹ – etwa findet sich diese Privatheit als Moralvorstellung bereits produktiv mit einem expliziten politischen Anspruch verbunden. Dies gilt im übrigen als Tendenz auch für viele bürgerliche Trauerspiele, die ähnlich explikativ mit ihren moralischen Leitlinien verfahren. Der Hausvater bei Gemmingen erscheint in diesem Sinn als national profilierter deutscher Hausvater, der sich – wie schon im Personenverzeichnis indiziert – als »ehrlicher Mann« im Privaten und im Öffentlichen überzeugend beweisen kann, gerade weil er gegen Ungerechtigkeiten Stellung bezieht: Er versteht sich dementsprechend als Familienvater immer auch im Kontext der politischen Welt und versteht es, beides als komplementär zu definieren: »Auch ich will kommen [zum Maler auf das Land], wenn es meine Geschäfte erlauben, sonst aber, solange ich Kräfte habe, hier bleiben, dem Staat und meinen Fürsten dienen. Auch zum Dank für diesen Tag [der die Familie in bestmöglicher Form re-arrangiert bzw. ergänzt], höre es, Himmel! weih’ ich mein übriges Leben meiner Familie und dem Vaterlande. Meine Belohnung? – – daß ihr mich liebt? – – und dann, wenn ich einst tot bin, daß ein deutscher Biedermann an meinem Grabe vorbeigehe und sage: er war wert, ein Deutscher zu sein!« Otto Heinrich von Gemmingen: Der deutsche Hausvater. Ein Schauspiel. Neue ganz umgearbeitete Auflage. Mannheim 1782, S. 83. Bürgerliche Tugenden (in Opposition zum Adel, vgl. u. a. Figurenbeschreibung in den dramatis personae: »mehr ehrlicher Mann als Edelmann«; ebd., S. 15) tragen dabei sein Pflichtverständnis; die Herrschaft über die Familie ist – das zeigt am Ende die Aufhebung der Standesgrenzen, wenn der Sohn die Bürgerstochter heiraten darf – vor allem durch gegenseitige Liebe motiviert: Der in Musikus Miller etwas gebrochen re-inkarnierte Maler fügt sich trotz unterschiedlichen Standes nahtlos in die liebende Vaterfront (vgl. Figurenbeschreibung: »Ein herrlicher deutscher Mann, ohne Falsch; warmen und vollen Herzens, das ihm zuweilen überläuft […] viel wahrer Anstand in seinem äußerlichen Wesen; sauber aber einfach gekleidet« (Ebd., S. 15) – es handelt sich hierbei um eine Allianz der Väter, wobei der Maler zunächst Bedenken äußert, sein Kind angesichts der Ungleichheit der Stände in die Hand eines Mannes von Stand zu geben. Der Hausvater scheint aufgrund seiner höheren Stellung dazu befugt: Um der über Standesgrenzen hinweg gestifteten Ehe einen fortdauernden Bestand zu sichern, sendet er seinen Sohn als Verwalter seiner Güter aufs Land. Entscheidend ist sicherlich, dass ein Edelmann die Moral des Bürgertums teilt und sich mit ihm auf dieser Basis vereinigen kann, wie es der Hausvater im Medium des Nationalen (deutsch hier auch als anti-französisch und anti-höfisch) bereits nach dem ersten Gespräch mit dem Maler antizipiert: »Hausvater. […] Wir sind zween teutsche Männer«. Ebd., S. 67.

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herrschaftlichen Gestus fungiert. Die Überlagerung der Systeme funktioniert in diesem Sinne aufgrund ihrer gegenseitigen strukturellen Nähe und den strukturell analogen Anforderungen. Die gleichzeitig totalisierende und individualisierende Wirkung einer Pastoralmacht gilt in gleichem Maße für den bürgerlichen Vater und den Staat, da beide den paradoxen Doppelanspruch des modernen Individuums auf Individualität und Integration im Sinne einer guten Regierung/Vaterschaft einzulösen versuchen. Vaterschaft und politische Herrschaft erscheinen hier zwar nach wie vor als vergleichbar, dies aber nur qua Kontrast: Dem bürgerlichen Vater werden Mittel der Integration und Individualisierung zugeschrieben, die dem anachronistischen Herrscher, der das »Unpassende« tut, nicht zur Verfügung stehen. ›Kabale und Liebe‹ eignet sich so besonders gut für die Dokumentation dieses neuen Ideals, weil keiner der »Väter« im Stück den Forderungen realiter gerecht wird – auch Miller entspricht keineswegs vollständig dem komplexen Vorgabenset für bürgerliche Paternalität. Die Idealvorstellung wird weitgehend abstrakt, als Wertungsmuster etabliert; vor diesem Hintergrund müssen sich die entsprechenden Väter positionieren (oder werden positioniert). Den Rekurs auf ein solches Modell lässt sich aus den Reaktionen und Erwartungen der Kinder rekonstruieren, die die entsprechend naturalisierten Werte vollständig internalisiert zu haben scheinen; im Abgleich mit diesem Ideal ergeben sich dann auch die sinnfälligen, binären (adäquat/nicht adäquat) Gegensätze des Stückes. Dabei wird auch die Notwendigkeit erkennbar, die zentralen Herrschaftselemente des bürgerlichen Vaters auf politischer Ebene zu reproduzieren. Dies erscheint als zwingend, weil in den bürgerlichen Kernwerten bereits der universale Ausgriff eingeschrieben ist. Insofern Schiller die verschiedenen Herrschertypen annähert, impliziert er einen gemeinsamen, moralisch fundierten Urgrund, in dem ihre (strukturell analogen, aber konkret) unterschiedlichen Herrschaftsziele und -methoden wiederum eine gemeinsame Basis haben. Damit bewegt er sich in einem durchaus konventionellen Rahmen.281

281

Auch in den folgenden Jahrzehnten bezieht das Vaterbild seine inhärente Spannung aus den verschiedenen Kontexten und Legitimationshorizonten. Für die Beurteilung von öffentlicher Herrschaft wird diese Definition des Herrschers als Mensch und seine Unterwerfung unter einen Moralkodex ebenfalls entscheidend. Vgl. dazu das Kapitel Revolution und Brüderlichkeit.

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Diese Werte werden bei Schiller als evident inszeniert: Väterlichkeit als verbindendes Element verbürgt bei ihm eine emotive, empathische Wertvorstellung, die den bürgerlichen Konzepten von der Identität emotionaler Wahrhaftigkeit und universaler Wahrheit entspricht. Die Anforderungen an den Landesvater unterstehen damit einem vollständig neu ausgerichteten Wertekonzept, das seine Wahrheit aus einer individualisierten Gefühlsevidenz bezieht. Das traditionelle Motiv eines tugendhaften Herrschers findet wiederum Eingang in diese gesellschaftliche Verkörperung von Herrschaftsbeziehungen, nunmehr vollständig bürgerlich überformt im Zeichen einer menschlichen Egalität. ›Miß Sara Sampson‹ verdeutlicht, dass über den emotionalen Zugriff der hierarchische partiell nivelliert wird. Der Vater wird zum fühlenden Wesen, er wird zum Mensch unter Menschen. In Schillers ›Kabale und Liebe‹ nun wird die Verschaltung postulativ aufgeladen. Dabei ist diese legitimierende, evident emotionale Dimension nicht ohne Weiteres auf den Fürsten übertragbar. Die Vorstellung jedoch, dass es sich bei dem Landesvater um einen Vater, also per se einen Menschen handelt, führt zu einer moralischen Konditionierung, die sich für die gesamte Phase als entscheidend erweisen sollte. Wenn Menschen durch eine selbstevidente Gefühlskultur als Individuen wahrnehmbar werden, die ihre Gefühle innerhalb der bürgerlichen Wertekoordinaten kultivieren, so wird Empathie zu einer der wichtigsten, rezeptiven Kommunikationsformen schlechthin. Empathie jedoch setzt voraus, dass die Emotionen nicht nur »wahr« sind, sondern auch für alle Menschen gelten. Die Voraussetzung für Schillers neues, bürgerliches Modell des Landesvaters ist zunächst die Menschlichkeit des Herrschers. Der Herrscher als bürgerlicher Mensch etabliert bereits vor der Revolution eine konzeptuelle Umstellung, für die der bürgerliche Vater eine Vorlage bietet. Seine Herrschaft nämlich erweist sich als legitim, wenn sie im Gleichklang mit den bürgerlichen Werten und ihrer (diese Werte als natürlich objektivierenden) Gefühlskultur erfolgt. Darin findet sich ein Übergangsparadox. Der Vater ist dann unangefochtener Herrscher des Hauses, wenn er sich über Empathie als Mensch unter Menschen ausweist. Menschliche Egalität wird hier zur Voraussetzung von legitimer Herrschaft. Für den Herrscher ergibt sich daraus im Transfer aber nicht nur eine potentielle Rehabilitation im Rekurs auf eine bürgerliche Rhetorik, sondern auch eine potentielle Anfälligkeit für Kritik.282 Er wird letztlich den282

Die offensichtliche Spiegelung hat hier aber noch zusätzlich eine reziproke, zum einen apologetische, zum anderen legitimierende Funktion, bei der sich beide Machtbereiche in

116

selben Normen unterworfen wie der bürgerliche Vater. Entscheidend ist also die moralische Richtbarkeit des Vaters. Schillers ›Kabale und Liebe‹ verweist mit seiner Väter-Trias auf die moralische Omnivalenz bürgerlicher Wertmaßstäbe. Der gute Herrscher ist hier qua Analogie nur als bürgerlicher Herrscher/Vater denkbar, wobei das Vater-Modell (trotz der im Grunde revolutionären Umstellung) eine konzeptuelle Kontinuität verbürgt.283 Der Vatertopos kann, wie oben ausgeführt, eine postulativnormative Färbung annehmen, die das »Angemessene«, das Foucault als Selbstbegrenzung im Zeichen einer selbsterhaltenden Staatsräson versteht, moralisch umdefiniert.284 2.2.

Repräsentation

Trotz der komplexen Verschiebungen des Verständnisses von Regierungstätigkeit, einem zunehmenden Zusammenwirken verschiedener Machttechnologien und Disziplinar-Gewalten ist also die konkretisierende Vorstellung eines Landesvaters nach wie vor eine überzeugende und ad hoc

283

284

irritierender Weise gegenseitig der Ideologie des Konkurrenten bedienen: Der Versuch, der fürstlichen Herrschaft ein empfindsameres Gesicht zu verleihen, geht mit der Valorisierung der Vaterfigur im Kontext der bürgerlichen Familie Hand in Hand. Beide Haltungen verbindet eine intrinsisch patriarchalische, gesellschaftliche Grundstruktur, welche die Dialektik der bürgerlich-emanzipatorischen Vater-Idee bereits vorbereitet. Ideologisch wird zwar ein Herrschaftsbegriff im Zeichen der Zärtlichkeit modifiziert – er bleibt aber ein Herrschaftsbegriff mit einem spezifischen Anspruch. Der Vater adaptiert – nachdem er im Vollzug der symbolischen Fusion zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in der Para-Welt der Familie als Herrscher etabliert wurde – wesentliche Herrschaftsmerkmale, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend im Kontext einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit gedeutet werden und als solche mit der originären emanzipatorischen Stoßrichtung konfligieren. Die gesellschaftliche Sphäre des Bürgers unterscheidet sich vollkommen von der öffentlichen Sphäre des Staatsbürgers. Bereits vor der Französischen Revolution treten massive Differenzen mit Blick auf den jeweiligen axiologischen Rahmen auf. Die Systeme sind zwar diskursiv trennbar (unter verschiedenen Fragerichtungen), ihre Symbolik allerdings überlagert sich und sorgt für Resonanzen im jeweils anderen Bezugsfeld. Diese Reperkussionen sorgen für eine Gemengelage an Konnotationen, die sich nicht auflösen lassen, sondern in das Bild des bürgerlichen Vaters eingespeist werden. Den Unterschied verdeutlichen Texte wie Karl von Mosers ›Der Herr und der Diener geschildert mit Patriotischer Freyheit‹, in dem Moser zwischen Landesfürst und Landesvater differenziert, wobei der Terminus Landesvater eine moralisch angemessene Herrschaft indiziert. Nichtsdestoweniger wird aber das Gesamtsystem bei ihm über das Landesvater-Konzept als restaurierbar und bewahrenswert gedacht. Bei Moser zeigt sich der Mehrwert der machtkompatiblen Übergangsmetaphorik besonders deutlich, insofern sie nach mehreren Seiten anschlussfähig bleibt. Vgl. Karl von Moser: Der Herr und der Diener geschildert mit Patriotischer Freyheit. Frankfurt 1759.

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sinnstiftende Versinnbildlichung von Herrschaftsbeziehungen,285 obwohl die Analogie286 zwischen Herrscher und Vater schon im 18. Jahrhundert in die Krise gerät,287 wenn sie als buchstäblich übertragbar verstanden wird.288 Die Plausibilität dieses Topos mit Blick auf die komplexen Ausdifferenzierungsprozesse der primär funktional differenzierten Gesellschaft wird also immer erklärungsbedürftiger.289

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Dies gilt vor allem mit Blick auf die mehr und mehr als »mechanisch« diskreditierten Praktiken des Staates, für die ein Gegengewicht etabliert werden soll. Eine konkrete Applikation bedeutet nämlich, so führt Kant aus, dass die Untertanen als »Landeskinder« in einer spezifischen Unmündigkeit gehalten werden, die dann selbst der »größte denkbare Despotismus« ist. Immanuel Kant: Politische Schriften. Hrsg. von Otto Heinrich von der Gablentz. Köln, Opladen 1965, S. 80. Vgl. auch Georg Forster: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit. Vgl. auch Rousseau, der die Übertragung der väterlichen Liebe auf einen Herrschaftskontext ablehnt, ausführlich dazu Sørensen, Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 55. Vgl. auch Joseph von Sonnenfels: Handbuch von der inneren Staatsverwaltung, mit Rücksicht auf die Umstände und Begriffe der Zeit. Bd. 1. Wien 1798, S. 41–42: »Kein uneigentlich angewandter Ausdruck hat die unbegrenzte Gewalt, und die Anmassungen der Unterdrückung stärker begünstigt, als die zum Vorbilde hingestellte Ähnlichkeit der Fürstengewalt mit der väterlichen: und nie waren zwei Gegenstände dem U r s p r u n g e , den Re c h t e n und dem Z w e c k e nach wesentlich unterschieden. […] Der Vater ist vor dem Sohn da, gibt dem Sohn das Daseyn. Die Nation ist immer v o r d e n F ü r s t e n vorhanden, der Fürst erhält sein D a s e y n von der Nation.« In England etwa lehnt John Locke im 17. Jahrhundert Sir Robert Filmers Behauptung, dass die Königspflichten identisch mit denen des Vaters seien, »without any difference at all but only in the latitude or extent of them« dezidiert ab (1680 publiziert, aber schon 1640 verfasst, Sir Robert Filmer: Patriarcha and Other Political Works. Hrsg. von Peter Laslett. Oxford 1949, S. 63): Locke hebt in ›Two Treatises of Gouvernment‹ deutlich hervor, dass väterliche und politische Macht »are built upon different foundations, and given to different ends«. John Locke: Two Treatises of Government. Hrsg. von Peter Laslett. Cambridge 1970, S. 332. Christian Wolff hatte Vater und Kind noch als »Bild« verstanden und dementsprechend ganz im Einklang mit patriarchalischen Vorstellungen gefordert: »Regierende Personen verhalten sich zu Unterthanen wie Väter zu den Kindern. Denn Vätern lieget ob, den Kindern alle Mittel zu verschaffen, die sie zur Beförderung der Vollkommenheit ihres innern und äusseren Zustandes vonnöthen haben, und ihnen ihre Handlungen zur Erhaltung dieser Absicht einzurichten […]: hingegen die Kinder sind verbunden zu thun und zu lassen, was ihnen von den Eltern in diesem Stücke befohlen wird […], und also den Willen der Eltern in ihren Willen seyn zu lassen.« (Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen, S. 200. Vgl. im gleichen Tenor auch Gottscheds: ›Erste Gründe der Weltweisheit‹ (1731) sowie den Artikel unter dem Lemma ›Landes-Vater, Vater des Landes‹ in Zedlers Universallexikon (1735–45), Bd. 46, Sp. 735. Die konsequente Analogie kann schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts allein wegen der obigen Ausführungen nicht mehr überzeugen. Im Diskurs der Begrenzung und Kontrolle manifestieren sich systemische Repräsentationsprobleme, die unter 2) abgehandelt werden.

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Ein entscheidender Umstand,290 den das Bild des »Landesvaters« überspielt, ist die zunehmende Komplexität von repräsentativen Modi im 18. Jahrhundert: Im Folgenden geht es nicht mehr primär um die legitimatorische Dimension, die sich mit juristisch-philosophisch-religiöspragmatischer Ableitung des Rechts zur Herrschaft überhaupt befasst, sondern vor allem um die repräsentative Dimension.291 Unter Repräsentation wird hier zunächst ein staatstheoretischer und rechtlicher Terminus verstanden, der das Handeln von Einzelnen oder Gruppen für und an der Stelle von einer politischen Entität beschreibt. In Demokratien kann der leitende Volkswille durch diese Repräsentation und die Ausbildung entsprechender Organe auch prozessual herausgebildet und nicht einfach nur »vertreten« werden (im Gegensatz zur einfachen Stellvertretung). Um die Entwicklungen im 18. Jahrhundert besser verorten zu können, lohnt ein kurzer Blick zurück ins 16. Jahrhundert. Wenn Jean Bodin als der erste Theoretiker der Souveränität abweichend von der spätmittelalterlichen Korporationslehre postuliert, dass der Herrscher nicht auf den Konsens der Bürger angewiesen sei,292 formuliert er damit die Prämisse für absolute Herrschaft. Für diese Form der Herrschaft kristallisieren sich nun zwei Möglichkeiten heraus, Repräsentanz zu denken:293 zum einen (am prominentesten vertreten von Jacques-Bénigne Bossuet) in einem Verständnis des Herrschers als den Repräsentanten Gottes (und eben nicht als Repräsentanten des Volkes); zum anderen, wie es Thomas Hobbes wirkungsmächtig getan hat, in einem Rückgriff auf 290

291 292

293

Bereits John Locke verweist in ›Two Treatises of Government‹ darauf, dass die Analogie zwischen paternaler und politischer Macht unterschiedlich aufzufassen seien, indem er auf die den Vätern eingepflanzte »affection and tenderness« für seine Kinder aufmerksam macht, während die politische Macht des Fürsten auf freiwillige Übereinkunft gegründet sei. Vgl. Fußnote 287. Entscheidend ist, dass Locke auf die Menschlichkeit des Herrschers verweist, eine Menschlichkeit, die absolute Macht per se fragwürdig macht. Obwohl diese Debatte in England im 18. Jahrhundert weniger virulent ist, findet sie doch über Rousseau und die Enzyklopädisten Eingang in die zentralen Diskurse des prä-revolutionären Frankreichs, wo sie etwa im ›Contrat Social‹ zur dezidierten Kritik am politischen Patriarchalismus dient, da nicht Liebe, sondern Machtwille das politische Regulativ darstellt. Locke, Two Treatises, S. 399. So auch Rousseau in CS, S. 174. Selbstverständlich korrespondiert dieser Aspekt wiederum mit der Basislegitimation von Herrschaft. Jean Bodin: Les six livres de la république. Bd. 1. Paris 1583, S. 142: »le poinct principal de la maisté souveraine, et puissance absolue, gist principalement à donner loy aux subiects en general sans leur cosentment.« Einen umfassenden Überblick zum Thema »Repräsentation« bietet Hasso Hofman in seinem Buch Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Berlin 1974.

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die Korporationslehre (statt auf Gott). Dabei leitet der Fürst seine Legitimation aus dem mit dem Volk geschlossenen Herrschaftsvertrag ab und die Einheit der Körperschaft wiederum aus der »unity of the representer«.294 Im Gegensatz zu der spätmittelalterlichen Korporationslehre stehen sich bei diesem Konzept allerdings nicht Volk und Repräsentant gegenüber (d. h. sind als getrennte Subjekte zu verstehen); das Volk wird vielmehr als im Repräsentanten inkorporiert verstanden. Im Anschluss an Ernst Fraenkel versteht dies Adalbert Podlech als einen extremen Fall der »absorptiven« Repräsentation.295 Beide Strategien werfen grundsätzliche Probleme auf,296 insofern die Konkretisierung des Abstrakten (und vice versa) hier jeweils über Simplifikation erreicht wird. Im 18. Jahrhundert wird die Theorie des Absolutismus, der zufolge in der Repräsentation durch den Herrscher die Nation absorbiert wird, nicht nur de facto aufgrund der oben beschriebenen starken Tendenz zur politischen Partizipation als inadäquat verstanden, sondern auch in ihrem unrealistischen deskriptiven Wert zunehmend in Frage gestellt: »Politisch erwies sich die theoretisch im Monarchen vollzogene Konzentration aller Staatsgewalt und der Versuch der effektiven Durchsetzung dieser theoretischen Konzentration als eine Überforderung des Absolutismus«.297 Nachdem Montesquieu den (zwar noch altständisch fundierten) Begriff der Repräsentation an prominenter Stelle in seinem ›De L’esprit des Loix‹ eingeführt hat,298 stellt Jean-Jacques Rousseaus ›Du contrat social‹ von 1762 eine Idee vor, die einen theoretischen Wendepunkt markiert. Mit dem Gesellschaftsvertrag entsteht eine sittliche Gesamtkörperschaft, die als Staat verstanden wird, wenn sie passiv ist, und als Souverän, wenn

294 295 296

297 298

Thomas Hobbes: Leviathan. Hrsg. von Richard Tuck. 10Cambridge 2007, S. 114. Adalbert Podlech: Repräsentation. In: Geschichtliche Grundbegriffe (1984), Bd. 5, S. 509–547, hier S. 516. Vgl. dazu Albrecht Koschorke: Paradoxien der Souveränität. In: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Hrsg. von Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala Mazza. Frankfurt am Main 2007, S. 113–119. Bei Koschorke geht es dabei besonders um das Mysterium der Verkörperung des Herrschers und auch pragmatisch um seine Stellung innerhalb der Rechtsordnung (insofern er den politischen Raum vertritt und ihn aber zugleich überschreitet, stellt sich die Frage, inwieweit Gesetze auf ihn anwendbar sind). Podlech, Repräsentation, S. 521. Für Montesquieu ist eine (ständische) Repräsentation eine pragmatische, körperschaftlich gedachte Lösung, mit der in einem freien Staat jeder Mensch mit freiem Willen sich eigentlich selbst regieren kann. Dieser Ansatz wurde in der amerikanischen und Französischen Revolution entscheidend.

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sie aktiv in Erscheinung tritt.299 Der Souverän besteht also aus den Einzelnen, aus denen der Staat zusammengesetzt ist,300 wobei Rousseau zugleich von einer irrépresentabilité der Souveränität ausgeht. Der volonté générale kann nicht in repräsentativen Modi »vertreten« werden, da er entweder »elle est la même, ou elle est autre; il n’y a point de milieu.« (CS 251). Rousseau betont: »Je dis donc que la souveraineté, n’étant que l’exercice de la volonté générale, ne peut jamais s’aliéner, et que le souverain, qui n’est qu’un être collectif, ne peut être représenté que par lui-même; le pouvoir peut bien se transmettre, mais non pas la volonté.« (CS 190) Obwohl sich diese Vorstellung von der irrépresentabilité im Kontext der beiden Revolutionen nicht durchsetzt und der Repräsentationsbegriff für die Regierungs- und auch Verfassungstheorie entscheidend wird, avanciert die Frage der Repräsentierbarkeit bei Rousseau zu einem zentralen Thema. Der Souverän, d. h. der durch den Gesellschaftsvertrag entstehende Staat, repräsentiert sich selbst, weil er mit sich identisch ist und nicht veräußert werden kann.301 Aufgabe der Regierung (die nicht identisch mit dem Souverän ist, sondern von ihm beauftragt wird) ist es, den volonté générale zu artikulieren und umzusetzen. Der Gemeinwille ist hier Abstraktum und Konkretum zugleich, insofern er die konkrete Zusammenstimmung aller Einzelwillen ist, die zwar realiter vorhanden, aber nicht greifbar sind (insofern die Körperschaft insgesamt wiederum nach dem organologischen Modell mehr als die einzelnen Teile sind). Dieses Paradox lenkt die Aufmerksamkeit auf das Übertragungsproblem, das mit dem Konzept der Repräsentation immer einhergeht. Denn in die Frage der Repräsentation mengt sich immer die Frage nach der Verkörperung als sinnlicher Evidenz der rechtlichen Repräsentationsleistung. 299

300

301

Mit dem Gesellschaftsvertrag stellt jeder seine Person unter den Gemeinwillen (volonté général) und es entsteht eine sittliche Gesamtkörperschaft: »Cette personne publique qui se forme ainsi par l’union de toutes les autres prenait autrefois le nom de Cité, et prend maintenant celui de République ou de corps politique, lequel est appelé par ses membres Etat quand il est passif, Souverain quand il est actif, Puissance en le comparant à ses semblables. A l’égard des associés ils prennent collectivement le nom de Peuple, et s’appellent en particulier citoyens comme participants à l’autorité souveraine, et sujets comme soumis aux lois de l’État. Mais ces termes se confondent souvent et se prennent l’un pour l’autre; il suffit de les savoir distinguer quand ils sont employés dans toute leur précision.« (CS 183–184). Hier geht es nicht nur um Rousseaus spezifische Stellung zu Volksvertretern, die er für eine Kompromittierung der Freiheit hält (vgl. dazu besonders: »il ne l’est que durant l’élection des membres du parlement: sitôt qu’ils sont élus, il est esclave, il n’est rien. Dans les courts moments de sa liberté, l’usage qu’il en fait mérite bien qu’il la perde.« CS 252), sondern um die ontologische Realpräsenz des Souveräns in sich selbst. Vgl. CS, Livre II, Chapitre 1.

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Dies wird bereits bei Hobbes’ Ansatz deutlich, anhand dessen die Problematik einer abwechselnd logischen, figurativen und rechtlichen Argumentation schlaglichtartig erhellt werden kann. In ›Leviathan‹ bedient sich Hobbes des Terminus der Stellvertretung, um den Gedanken der Verkörperung einer politischen Einheit entwickeln und formulieren zu können. Hobbes benutzt zunächst deswegen den Begriff »repraesentare synonym mit personam alicuius gerere, sustinere«.302 Auf dieser Basis soll der Gemeinwille rechtlich aus den einzelvertraglichen Bindungen der Individualwillen hergeleitet werden. Hasso Hofmann weist auf die Änderung der Bedeutung von Repräsentation und Vertretung hin und erläutert, »daß die ursprüngliche Einheit von Vollmacht, Zuschreibung der Handlung und Zurechnung ihrer Rechtsfolgen auseinanderbricht«. Zugleich beschreibt er, wie die Herleitung souveräner Herrschaft aus der Summierung individuellen Verzichts gegenüber »der Vorstellung allseitiger Rechtsübertragung im Sinne einer wirklichen Willensvereinigung in den Hintergrund [tritt] gegenüber der Theorie der Vereinigung kraft des ausnahmslos akzeptierten Mehrheitsprinzips«, einem »personenhaft verselbständigten Willen, dem Herrscher-Willen als einem Kunstprodukt.«303 Das Ende des tradierten Pars-pro-toto-Begriffs, der eine natürliche Funktionsverteilung insinuiert,304 wird hier greifbar: Der Souverän des Leviathan-Staates überholt den alten korporationsrechtlich begründeten, partikulären ständischen Anspruch auf Identitätsrepräsentation mit der aus der neuen Logik individueller Ermächtigung entwickelten Behauptung eines umfassenden und nationalen Mandats.305

Im Grunde endet diese Bewegung in der höchst aufschlussreichen Feststellung Hobbes’: Rex est populus. Dieses Bild vom Herrscher ist – qualitativ anders noch als die funktionale Pars-pro-Toto-Vorstellung – eine Metapher, die sich nicht mehr restlos in konzeptuell-funktionale oder quantitative Teilbilder zerlegen lässt. Hier interessiert weniger die juristische Implikation des ›Leviathans‹ als Repräsentation, sondern die Ebene der Verkörperung, deren Notwendigkeit sich aber gerade aus dem zunehmend abstrakten Ganzen der Repräsentation verschärft ableitet. Anders als die staatstheoretischen und juristischen Texte arbeitet sich die Literatur nämlich vor allem an der Vergegenwärtigung, Plausibilisierung und Infragestellung der Herrschafts302 303 304 305

Hofmann, Repräsentation, S. 390. Hofmann, Repräsentation, S. 391. Vgl. dazu Koschorke, Die Fabel des Menenius Agrippa. In: Der fiktive Staat, S. 15–21. Hofmann, Repräsentation, S. 392.

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verkörperung ab. Bereits Hobbes greift dabei auf figurative Darstellungstechniken zurück, um seine Konzeption des Leviathans zu erläutern. Friedrich Balke versteht dies in seiner Auslegung wörtlich und wendet sich besonders dem bekannten Titelkupfer zu, das den Leviathan als homo magnus zeigt, der aus winzigen Einzelmenschen zusammengesetzt ist.306 Anknüpfend an die spätmittelalterlichen Diskurse in England (etwa Baldus’ Vorstellung vom populus als einem ›hominum collectio in unum corpus mysticum‹)307 basiert der Leviathan »auf dem Konzept der persona ficta«: Der Leviathan, wie wir ihn auf dem Titelkupfer graphisch realisiert finden, ist ein mystischer Körper, der mehr ist als die Summe der Individuen einer Gemeinschaft […] die Menschen [werden] vom Körper des Riesen gesammelt und [formieren] sich bildlich auf eine Weise […], die der Imago dieses Körpers entspricht.308

Der Kupferstich visualisiert ein abstraktes Herrschaftskonzept, das sich selbst bereits einer Technik der Fiktionalisierung verdankt.309 Erreicht wird damit die Illusion der Realpräsenz des Repräsentierten; Repräsentation und Repräsentiertes werden hier bildlich zusammengelegt. Mit diesem Evidenz-Effekt wird Herrschaft sinnfällig motiviert – obwohl diese Zusammenführung logisch lediglich ein Effekt ist, der bei genauerer Analyse wiederum in die Dilemmata des Unvergleichbaren, der Suche nach dem Tertium comparationis etc. führt. Die Literatur arbeitet mit vergleichbaren Techniken der Verschiebung, Verdichtung und Bildzusammenführung und kreiert ein vibrierendes Feld von möglichen Auflösungen oder Widersprüchen. Entscheidend ist die starke Evidenz-Erfahrung, die eine Untersuchung des »Vaters« im Span306 307 308 309

Vgl. dazu Friedrich Balke: Figuren der Souveränität. München 2009, S. 42–49. Vgl. dazu Ernst Hartwig Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990, S. 221. Balke, Figuren der Souveränität, S. 46. Dazu komplementär Philip Manows Argumentation über die Kontinuität von Körperlichkeit in der demokratischen Repräsentation (im Gegensatz zu den Thesen, die nach der Französischen Revolution von einer Dekorporierung der Repräsentation ausgehen, vgl. dazu das Kapitel Revolution und Brüderlichkeit). Manow deutet das Titelkupfer von Leviathan als »Parlamentsverkörperung«, insofern die Gesellschaftsgliederung auf dem Kupfer ihre Entsprechung in »jenen Sitzordnungen der Städteparlamente [findet], in denen der König als body politic an der Stirnseite positioniert ist und durch den Klerus und Adel zur Rechten und Linken flankiert wird, während der dritte Stand dem König gegenüber und ihm zugewandt Platz findet.« Philip Manow: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt am Main 2008, S. 41–42. Vgl. insgesamt Horst Bredekamp: Thomas Hobbes’ visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Porträts. Berlin 1999.

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nungsfeld von (symbolisch prozessierter) Öffentlichkeit und Privatheit so lohnend macht. Die begriffliche Zweiteilung von Repräsentation und Verkörperung ist im Folgenden ein wichtiges Instrumentarium, da sich die Literatur zwar auch mit Bedingungen und Möglichkeiten von politischer Stellvertretung beschäftigt, diese jedoch per se als verkörperte präsentiert. Genau wie im Fall von Hobbes Titelkupfer fallen dabei das »Repräsentierte« und der Modus der Repräsentation zusammen und werden sinnlich evident. Die natürliche Evidenz des »Vaters« ist in diesem Sinne eine wichtige Voraussetzung für die Verkörperung von Herrschaft;310 Hobbes zeigt in ›Leviathan‹ die doppelte Anforderung an moderne Herrschaft in einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft: die logisch-juristische Legitimation von Repräsentation und die Notwendigkeit einer konkreten Verkörperung von Herrschaft.311 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ergeben sich so viele systemische Umstellungen, dass die Frage nach der Verkörperung davon ebenso wenig ausgenommen bleibt wie die juristische Frage nach Repräsentation. Das Problem, wie man politische Repräsentationen denkt, lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Tatsache, dass die alten Formen der Repräsentation des Absolutismus nun disfunktional erscheinen. Es muss auch die Frage aufwerfen, wieso die absorptive Verkörperung des Volkes/der Nation in einem Fürsten nicht mehr als zeitgemäß erscheint. Diese Frage ist verknüpft mit den Modernisierungsvorgängen, in denen die gesamtgesellschaftliche Regulierung des Verhältnisses der Funktionssysteme zunehmend problematisch wird, insofern kein Teilsystem in seiner Umweltbeziehung eine Struktur oder Symbolik aufweist, die das Ganze repräsentieren könnte:

310 311

Im Folgenden wird noch anhand von Novalis zu zeigen sein, wie ein monarchischer Repräsentationsbegriff in der deutschen Romantik ästhetisiert wird. Hobbes’ Zugriff wird hundert Jahre später in Deutschland zu einer Staatsrepräsentantschaft umgedeutet. Diese wird in den deutschen Fürstentümern (im Lichte einer spezifischen privatrechtlichen Theorie der öffentlichen Herrschaft, die sich ausbildet, weil bestimmte herrschaftsrechtliche Begriffe durch das Reich okkupiert waren) als »das subjektive private Recht des Fürsten auf Verkörperung der Gesamtgesellschaft verstanden« (Hofmann, Repräsentation, S. 394). Diese patrimoniale Repräsentationsgewalt wird um 1800 zunehmend veräußerlicht und – hier im Wortsinne und durchaus im Sinne der rituellen Tradition und Implikation des Wortes »repraesentare« – als symbolische Vergegenwärtigung oder zeremonielle Darstellung gedeutet. Vgl. dazu Hofmann, Repräsentation, S. 393–397. Der Terminus Repräsentationsgewalt/Repräsentationsrecht findet seine Heimat im 19. Jahrhundert im Völkerrecht. Vgl. ebd., S. 402–405.

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Da die Gesellschaft aber nichts anderes ist als die Gesamtheit ihrer internen System/Umwelt-Verhältnisse und nicht selbst in sich selbst als Ganzes nochmals vorkommen kann, bietet sie dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als ›gesellschaftliches Wesen‹ existieren kann. (GS, 158)312

Diese zunehmende Abstraktion, die fehlende, konkretisierende Vergegenwärtigung der Zusammenhänge in einer Zeit, in der das Individuum in der Gesellschaft zunehmend unbehaust wird, wirft ein neues Licht auf die symbolische Kraft der repräsentativen Seite des »Landesvaters«. Wird bei Lessing noch an der Etablierung der privaten Welt, ihrer Autonomie und ihrer spezifischen Gesetze gearbeitet,313 verweisen doch alle Texte bereits auf eine zugrundeliegende, universale Moral, die eine grundsätzliche Verbindung zu einem größeren gesellschaftlichen Ganzen andeutet. D.h. die demonstrierte Wahrheit in der Privatsphäre stellt die Inadäquanz der höfisch repräsentierten Öffentlichkeit aus. Eine funktional differenzierte Gesellschaft, deren Repräsentation im Ganzen unmöglich wird, kann kompensatorisch wiederum analog zur Familie gedacht werden, ein Konzept, das sich (mit allen defizitären und postulativen Implikationen) als literarisches Erfolgsmodell durchsetzt. Die anthropologische Evidenz des sozialen Konstrukts ›Familie‹ im Kontext der privat adaptierten Angemessenheit erlaubt es, das repräsentative Konzept des Königs als Vater weiterzudenken, auch wenn sich die alte repräsentative Metaphorik zu diesem Zeitpunkt überlebt hat.314 Mit Blick auf die »Angemessenheit« von Herrschaft wurde bereits ein modifizierender Faktor der Übertragung genannt: Der König wird zum Menschen und als solcher nach bürgerlichen (nicht nur christlichen, juristischen oder etikette-bezogenen) Wertvorstellungen moralisch richtbar.315 Ganz im Gestus der Natürlichkeit, mit der das Set an bürgerlichen Werten, Geschlechtscharakteren, menschlicher Gleichheit und universalen Normen eingeführt wird, erscheint die bürgerliche Familie als Vorlage für kollektive Beziehungen gerade deshalb als anschlussfähig, weil sie Herrschaft und Egalität zusammen denken kann. Das alte Landesvaterkonzept (dessen Implikationen die aufklärerischen, politischen Texte sondieren) ist damit im Zeichen eines neuen abgelöst.316 312 313 314 315 316

Vgl. dazu die Einleitung. Vgl. dazu auch das Kapitel zu Schillers ›Don Karlos‹ Vgl. dazu auch zusammenfassend Hunt, Family Romance, S. 18. Es wird im Kapitel Brüderlichkeit und Revolution zu zeigen sein, wie auch in der Französischen Revolution die moralische Richtbarkeit der juristischen vorgeschaltet wird. Die speziellen Eigengesetze der Privatsphäre, die sich vollkommen der bürgerlichen Werte-Ethik unterordnen, weichen dementsprechend von den durch Fürstenspiegel etc.

125

Zugleich übernimmt der Vater gerade wegen seiner emotionalen Situierung in der Familie eine im Sinne der spezifisch bürgerlichen Moral disziplinierende Funktion. Das wird mit Blick auf die Verkörperung von Herrschaft in zwei Richtungen wichtig. Denn auf diese Weise fließen nicht nur individualisierende und egalisierende Vorgaben in die Bewertung von öffentlicher Herrschaft ein. Der Vater wird auch zum Teil einer anonymen Funktionsmacht, der die Familie mit den funktionalen Notwendigkeiten innerhalb des Staats kompatibel macht. Die Analogisierung von Herrschaftsmacht und Vatermacht in einem Legitimationsmedium ist überdies die Voraussetzung für eine erfolgreiche Verkörperungsfunktion von Vater/Familie im öffentlichen Bereich – und paradoxerweise zugleich der Ansatz für die in den folgenden Dekaden beobachtbare Abstrahierung der konkreten Vaterfigur zu einer Disziplinarmacht, die mit gesellschaftlichen Bedürfnissen synchronisiert ist.

3.

Schlussfolgerungen und Problemfelder

3.1.

Verkörperung

Trotz aller diskursiven Probleme und deren literarischer Folgen suggeriert die Vaterkonzeption die spontane und evidente Aussöhnung nicht unbedingt kompatibler Systemansprüche sowie der Inklusion des Individuums. Es wird deutlich, dass sich diese Vorstellung eben genau der Mehrfachkodierung verdankt, die es erlaubt, die Ebenen bedarfsweise zu wechseln oder überhaupt in eine symbolische Verweissprache auszuweichen. In diesem Sinne wird die Familie zu einem Modell, das symbolisch die Konflikte der Moderne im Zeichen der universalen Natürlichkeit befrieden kann. Dies ist ein starkes konzeptuelles Fundament, an dem sich das 19. Jahrhundert dann abarbeiten wird. Je stärker sich der Vater als emotional präsente Bezugsgröße aus dem unmittelbaren Umfeld der Familie verabschiedet, desto mehr dominiert die oben beschriebene Verkörperungsfunktion, die sich wiederum nach wie vor am Sollzustand der väterlichen Regierung orientiert. So findet sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine konditionierten Verhaltensregeln eines »guten« Herrschers ab. Die neue Version des landesväterlichen Modells lässt sich im Anschluss an die Französische Revolution beobachten, in der die Königsfamilie nunmehr verbürgerlicht wird, nachdem zuvor der bürgerliche Vater mit speziellen Herrscherrechten und -pflichten ausgestattet wurde.

126

abstrahierende Tendenz sowohl innerhalb der Familie als auch in der Gesellschaft; mit ihr wird die Forderung nach genau der Konkretion laut, die den öffentlichen (sowohl den staatlichen als auch den gesellschaftlichen) Zusammenhängen zunehmend fehlt. Die spontane Evidenz der Vatersymbolik kaschiert diese problematische Entwicklung allerdings nur auf den ersten Blick. Wenn im Folgenden exemplarisch Texte aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert mit Blick auf den Vater untersucht werden, so muss zwischen der spezifischen väterlichen Herrschaft als adäquater Regierung (vor dem Hintergrund einer bürgerlichen Moralität) und als Verkörperung unterschieden werden: Auch wenn die letztere legitimatorisch von der implizierten »Richtigkeit« der ersten herrührt, handelt es sich um zwei Phänomene, die ebenfalls in Widerspruch zueinander geraten können.317 3.2.

Bürgerlichkeit und »souveräne« Vaterherrschaft

Die symbolische Engführung mehrerer Funktionssysteme führt vor allem deshalb zu einer komplexen Kodierung des Vaters (als Oszillationssymbol), weil die Ermächtigungsgrundlage väterlicher Herrschaft der spezifisch »souveränen« Ausübung von paternaler Herrschaft entgegengesetzt ist. Angesichts der traditionellen Nähe von Vater und Herrscher überrascht es wenig, dass sich beide Rollen zu Legitimationszwecken an dem Bilder-Reservoir des jeweils anderen bedienen. Eine solche Symbiose, genährt durch wechselnde, aber immer evidente Bezugnahmen, führt zu einer Analogie (nicht Identität) bestimmter Verfahrensweisen im Zeichen der Angemessenheit. In diesem Sinne (und nur in diesem Sinne) werden im Folgenden die Machttechniken der Väter mit souveränitätstheoretischen Begriffen untersucht. Damit soll die unterschiedliche Nomenklatur der politischen und soziologischen Felder nicht unterminiert werden. Es geht vielmehr vor allem darum, Herrschaftstechniken zu benennen, um sie damit überhaupt in der väterlichen Verfahrensweise ausmachen zu können. 3.3.

Väterliche Macht als souveräne Macht?

Im Vorangegangenen wurde bereits deutlich, dass paternale Macht im 18. Jahrhundert in deutlicher Analogie zum Setzungscharakter der souveränen Macht konstruiert wurde. Insofern die Terminologien der Souve317

Vgl. dazu das Kapitel zu Kafka.

127

ränität sich als heuristisch hilfreich erweisen, wird an dieser von den Texten markierten Korrespondenz festgehalten, auch wenn die Voraussetzungen jeweils grundsätzlich verschieden sind: Souveränität als rechtlicher Begriff ist so stark mit der »politische[n] Ausbildung, [… dem] theoretischen Entwurf und [… der] rechtliche[n] Erfassung der europäischen Staaten der Neuzeit«318 verbunden, dass eine Abkoppelung aus der juristisch-politischen Sphäre nicht ad hoc einleuchten mag. In seiner Untersuchung ›Figuren der Souveränität‹319 bedient sich Friedrich Balke der Souveränität als einer rhetorischen Figur/Figuration, um eine entsprechende Erweiterung des Terminus zu propagieren. Die Verkörperung oder Figuration des Sozialen liegt für Balke den von ihm untersuchten Theorieformationen zugrunde, die sich mit »Souveränität« befassen.320 In dieser Arbeit wird Souveränität als Machtformation verstanden, die sich von der Geschichte des Begriffs Souveränität als »letzte Entscheidungsinstanz innerhalb eines Staates und die völlige Unabhängigkeit des Staates nach außen«321 weitgehend abkoppelt. Es geht um eine souveräne Funktion, die es dem Vater im 18. Jahrhundert erlaubt, sich in Anknüpfung an Muster der väterlichen Macht (aber doch mit neuer Vehemenz) zu definieren und seinen tradierten Machtbereich als letzte Entscheidungsinstanz in der Familie und in völliger Autonomie nach außen neu zu formieren. Der Aspekt der Autonomie wird in diesem Zusammenhang als moralische Unabhängigkeit von außen, aber als Kongruenz mit der sich zunehmend klarer herauskristallisierenden, bürgerlichen Moralideologie verstan-

318

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Diethelm Klippel: Souveränität bis zum 18. Jahrhundert. In dem Artikel: Staat und Souveränität. In: Geschichtliche Grundbegriffe (1990), Bd. 6, S. 98–99, hier 98. Vgl. auch Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität. Die Grundlagen. Bd. 1. Frankfurt am Main 1970. Balke, Figuren der Souveränität, 2009. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen »dem Politischen« und der »Politik«: »Das Politische im Unterschied zur Politik wird in dieser Untersuchung als jene ›poietische Instanz‹ begriffen, der es obliegt, die Gesellschaft imaginär in Szene zu setzen und ihr über zahllose Zeichen eine Quasi-Repräsentation zu verschaffen.« Balke verweist an dieser Stelle auch auf die symbolischen Kollisionen, die hier entscheidend sind: »Gerade weil soziale Kommunikation unweigerlich ›grenzüberschreitend‹ operiert und sich nicht territorialisieren läßt, muß gegen diese spontane Tendenz zur kommunikativen Entgrenzung des sozialen Feldes der politische Exklusivitätsanspruch auf einer Ebene verankert werden, die seiner kommunikativen Problematisierung standhält.« Balke, Figuren der Souveränität, S. 509. So Reinhart Kosellecks, von ihm selbst als »grob« gekennzeichnete Definition der Begriffe in der Vorbemerkung zum Artikel Staat und Souveränität. In: Geschichtliche Grundbegriffe (1990), Bd. 6, S. 1–4, hier S. 1.

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den.322 Die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit erfolgt also auf der Basis eines öffentlich propagierten Konzepts323 des dezidiert Privaten.324 Die Entscheidungsgewalt, die in der über Moral autonomisierten Privatsphäre mitgetragen wird, verdichtet sich nun wiederum nicht nur in der oft besprochenen integrativen Kraft (etwa in ›Miß Sara Sampson‹), sondern auch im potentiellen Ausschluss, dem Gegenstück zur entscheidenden integrativen Kraft des Vaters, wie er in ›Emilia Galotti‹ (als physische Konsequenz) im Gestus der Setzung angedeutet wird. Im Folgenden wird noch stärker zwischen zwei Formen der Ausgrenzung unterschieden werden müssen, von denen die eine als Opfer rituell der Entdifferenzierung entgegenwirkt und die andere als Bann (im Sinne von Giorgo Agambens ›Homo sacer‹) verstanden wird. 3.4.

Das Opfer

Burkhardt Wolf hat in seiner Diskursgeschichte des Opfers zu zeigen versucht,325 wie das Opfer in unterschiedlicher Ausformung (nicht nur als Opferritual, sondern auch als Verzicht) in der Frühen Neuzeit allmählich aus der religiösen Sphäre in den politischen und gesellschaftlichen Bereich eindringt. Als Denkfigur mit spezifischen administrativen Konsequenzen wird das Opfer zur »Sorge des Souveräns«. Wolf zeigt, wie das Opfer zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert zum Ausdruck gesellschaftlicher Probleme wird und dabei eine diskursive Verbindung von Politik und Humanwissenschaft, Literatur, Anthropologie und Ökonomie ermöglicht.326 322

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Diskursiv wird diese Autonomie als Privatheit im Einklang mit einer Ideologie formuliert, die einen soliden Grundstein für die väterlichen Macht legt, nämlich mit der bürgerlichen Moral, die in ihrem Fokus auf menschliche Gleichheit bereits den universalen Anspruch formuliert. Die Position des Vaters, wie sie in ›Emilia Galotti‹ entworfen wird, steht somit – trotz der langen Tradition paternaler Attribute und damit korrespondierender religiöser Konnotationen – im Kontext der besagten Autonomie. Diese Privatsphäre ist natürlich auch eine konzeptuelle Folge des Vertragsrechts und hat somit ein juristisches Pendant, das mit den konzeptuellen Veränderungen einhergeht. Wenn Reinhart Koselleck in ›Kritik und Krise‹ auf die komplexen Politisierungsprozesse des dezidiert Unpolitischen hinweist, gilt dies auch mit Blick auf die sich herausbildende bürgerliche Familie: Am mächtigsten wird sie dort, wo sie auf einer unpolitischen Privatheit besteht. Auf die Entstehung dieser Häuslichkeit als entscheidende Voraussetzung, eine neue rationale und moralische Weltordnung zu begründen, verweist schon Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 1, S. 232. Burkhardt Wolf: Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers. Zürich, Berlin 2004. Vgl. auch Wolfgang Braungart: Vertrauen und Opfer. Zur Begründung und Durchsetzung politischer Herrschaft im Drama des 17. und 18. Jahrhunderts. (Hobbes, Locke, Gryphius, J.E. Schlegel, Lessing, Schiller). In: Zeitschrift für Germanistik 15/2 (2005), S. 277–295.

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Nicht unumstritten hat René Girard mit seiner »heuristische[n] Fiktion«327 eine Lesart der primitiven Opferkulturen vorgeschlagen, die sich hier jedoch – in einer reduktiven Anwendung – als aufschlussreich erweist. Wenn im Folgenden auf Girards mimetische Theorie des Sündenbocks in ›Das Heilige und die Gewalt‹ zurückgegriffen wird,328 so aus folgendem Grund: Die Vorstellung einer der menschlichen Gesellschaft inhärenten Gewalt, die hier329 in den Texten diagnostiziert werden kann, wirft die Frage nach einem entsprechenden gesellschaftlichen bzw. staatlichen Regulativ auf.330 In modernen Gesellschaften wird das Gewaltmonopol nach Girard durch den Staat absorbiert, so dass die Gewaltspirale unterbrochen werden kann. In primitiven Gesellschaften gibt es diese Kondensierung zu einer einzigen »Vergeltungsmaßnahme«,331 mit der das Gerichtswesen (analog zur Rache) die Übertretung abschließend ahndet, nicht. Aber auch in modernen Gesellschaften kann der gerichtlichen Vergeltung die private Rache folgen – Girard nimmt dies zum Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu primitiven Gesellschaften, in denen es per se nur »private Rache« gibt. Wenn das Opfer also einen zur staatlichen Gewalt analogen Mechanismus der Befriedung der zerstörerischen privaten Rache darstellt, so weist das Opferritual, das bei Girard als heilige Prävention verstanden wird, zugleich auch Züge einer Kontrollmacht auf. Um diese latenten Verbindungen zwischen gesellschaftlicher Machtbündelung, die nicht staatlicher Natur ist, und ausschließender und einschlie327

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In Girards Überlegungen führt die Nachahmung, das »désir mimetique« zu einer Konkurrenz um die gleichen Güter und somit zur Krise (in dieser Beschreibung verfährt er analog zu Hobbes’ ›Leviathan‹), aus der lediglich ein Sündenbockmechanismus helfen kann: In der Aggression gegen einen Sündenbock solidarisieren sich die anderen und beschwören diese Einigkeit immer wieder durch eine symbolische Wiederholung in Opferritualen. Ruth Groh: Zum Problem der Entscheidung bei René Girard und Carl Schmitt. In: Das Opfer – Aktuelle Kontroversen. Religions-politischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie. Hrsg. von Bernhard Dieckmann. Berlin, Hamburg, Münster 2001, S. 157–180, hier S. 158. Vgl. dazu das Kapitel zu Fontane. Girards umfassender, anthropologischer Ansatz greift dabei natürlich nur als Modell, mit dem spezifische Implikationen der Texte sichtbar gemacht werden sollen. Walter Burkert entwickelt im übrigen einen anderen, überzeugenden, mit Girards Kulturentstehungstheorie konkurrierenden historisch-philologischen Ansatz, der ebenfalls das verbindende Element in der Aggression hervorhebt. Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin 1972. Vgl. dazu Jesse Goldhammer: The Headless Republic. Sacrificial Violence in Modern French Thought. Ithaca, NY 2005. Goldhammer beschreibt anhand von Joseph de Maistre, Georges Sorel, and Georges Bataille die Attraktivität der Evidenz und die durchaus komplexe Dynamik in der Opfer-Logik. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh. Frankfurt am Main 1992, S. 29.

130

ßender Gewalt wird es im Folgenden gehen. Girards Theorie wird hier allerdings nicht in ihrer anthropologisch-historischen Problematik adaptiert, sondern als heuristischer Zugang zu historischen Gewaltkonstellationen mit besonderem Blick auf die Doppelung von öffentlicher und gesellschaftlicher Gewalt, für die sie sich in ihren strukturellen Annahmen als erstaunlich effizientes Modell erweist.332 3.5.

»Opfer der Ökonomie« und Ökonomie des Opfers

Damit ist die sakrale Dimension des Opfers bereits thematisiert: Der Fortbestand des Theologischen im Politischen, die politische Theologie, auf die mit unterschiedlicher Stoßrichtung von Carl Schmitt bis Claude Lefort viele Theoretiker hingewiesen haben, spielt im Rahmen dieser Arbeit nur bedingt eine Rolle (und dann vor allem mit Blick auf den »Souverän«). Hier geht es primär um die souveräne Gewalt und das Opfer als eine Seite des souveränen Machtdiskurses, der für »Väter« relevant wird.333 In diesem Kontext werden auch die Referenzen auf religiöse Opferdiskurse verstanden334 und interpretiert: Das bedeutet nicht, dass die religiösen Implikationen der Texte nicht ernst genommen werden,335 sie werden hier allerdings mit Blick auf den machtökonomischen Aspekt der Fragestellung interpretiert. Dabei wird deutlich, dass es sowohl eine Ökonomie des Opfers gibt (die als Zweckrationalität erfolgsorientiert ist) als auch »Opfer der Ökonomie« (als Berücksichtigung des transzendent Angemessenen), wie es Derrida mit Blick auf den Kierkegaardschen Abraham formuliert. Bei Kierkegaard geht es – knapp formuliert – um die Frage nach einer teleologischen Suspension der Ethik im Zeichen der Subjektivität, das heißt um die Frage, 332

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Das Opfer gewinnt dabei eine spezifische Dualität von Schuldigkeit und quasi-religiöser Dignität. Diese Aspekte der Sakralisierung des Opfers werden mit Blick auf Freud bedingt relevant. Vgl. dazu auch Walter Burkert, Homo Necans, S. 49. Horkheimer und Adorno haben diesen Fokus in der Dialektik der Aufklärung beschrieben: »Die magisch kollektive Dimension des Opfers, die dessen Rationalität ganz verleugnet, ist seine Rationalisierung«: »Während der Totemismus schon zu seiner Zeit Ideologie war, markiert er doch einen realen Zustand, wo die herrschende Vernunft der Opfer bedurfte.« Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 2Frankfurt am Main 1994, S. 59. Dies gilt etwa, wenn in Hebbels ›Agnes Bernauer‹ auf das Opfer des Isaaks verwiesen wird, vgl. dazu das Kapitel zu Hebbel. Vgl. dazu Jacques Derridas Überlegungen zu Kierkegaard in Donner la mort: »Abraham hatte akzeptiert, den Tod zu erleiden, oder Schlimmeres als den Tod, und dies ohne Kalkül, ohne Investition, ohne Perspektive auf Wiederaneignung: also offensichtlich jenseits von Belohnung oder Bezahlung, jenseits der Ökonomie, ohne Hoffnung auf Lohn. Das Opfer der Ökonomie [statt der Ökonomie des Opfers …]«. Derrida: Den Tod geben. In: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Hrsg. von Anselm Haverkamp, S. 331–445, S. 421.

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ob es ein Ziel geben kann, das das Subjekt legitimiert, das Ethische (als allgemeine Sittlichkeit) auszuhebeln. Das Grundproblem, das Kierkegaard hier verdichtet, gilt auch für die Opfer-Logik einiger Texte: »Der ethische Ausdruck für das, was Abraham getan hat, ist, daß er Isaak morden wollte, der religiöse ist, daß er Isaak opfern wollte«.336 Kierkegaard zufolge kann die Tat Abrahams nicht rational, sondern nur aus dem Glauben heraus gerechtfertigt werden, der als »ungeheuerliches Paradox« verstanden wird: »ein Paradox, welches einen Mord zu einer heiligen, Gott gefälligen Handlung zu machen vermag, […] etwas, dessen sich kein Denken bemächtigen kann, weil der Glaube eben da beginnt, wo das Denken aufhört.«337 Nach Kierkegaard »sündigt« der Einzelne, wenn er sich in »seiner Einzelheit« gegenüber dem Allgemeinen geltend machen will.338 Jenseits der Verzweiflung einer ästhetischen Existenz kann sich der Einzelne nur durch einen die Vernunft transzendierenden Sprung behaupten: Der Glaube ist eben dieses Paradox, daß der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist, doch wohl zu merken dergestalt, daß eben der Einzelne, der als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet gewesen ist, nun durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; daß der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht. Dieser Standpunkt läßt sich nicht vermitteln; denn alle Vermittlung geschieht gerade kraft des Allgemeinen; er ist und bleibt in alle Ewigkeit ein Paradox, unzugänglich dem Denken.339

Diese Paradoxie findet sich in einer Verschiebung auch mit Blick auf die bürgerliche Ethik, die genau das Verhältnis von Individuum und Kollektiv in einer komplementären Koexistenz denkt, die in der Abweichung zum Problem wird. Im Folgenden wird eine strukturell ähnliche Paradoxie (als Dilemma bei der Hierarchisierung von Werten) thematisch, die unterschiedlich formuliert, akzentuiert und aufgelöst wird.340 336 337 338 339 340

Søren Kierkegaard: Furcht und Zittern. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Emmanuel Hirsch und Hayo Gerdes. Bd. 1. Düsseldorf, Köln 1971, S. 27 Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 56. Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 57. Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 59. Immanuel Kant etwa hat dazu eine klare Position und verurteilt die Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn zu opfern, indem er das Individuum priorisiert. Vgl. Immanuel Kant: Streit der Fakultäten. Hrsg. von Piero Giordanetti. Hamburg 2005, S. 72. Dies wird sich Mitte des 19. Jahrhunderts noch einmal verschieben. Vgl. das Kapitel zu Hebbel. Bereits ›Emilia Galotti‹ zeigt dabei, dass die Gemengelage an bürgerlichen Moralvorstellungen durchaus eine gleichzeitige Ökonomie des Opfers (als souveräne Setzung und partieller Relativierung bürgerlicher Werte) und ein »Opfer der Ökonomie« (als Preisgabe der Tochter und partieller Verabsolutierung bürgerlicher Werte) zulässt.

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3.6.

Das Paradox der Souveränität

In seinem Homo-Sacer-Projekt bezieht sich Giorgio Agamben auf die lange Tradition von Souveränitätslehren, die seit der Frühen Neuzeit legitime Herrschaft zu bestimmen versuchen.341 In diesen biopolitischen Überlegungen, die sich – wie schon Foucaults Vorlesungen zur Gouvernementalität342 – aus einer neuen historischen Regulierungsnotwendigkeit mit Blick auf das »nackte Leben« ergeben (Agamben führt hier bereits genannte Vorstellungen Foucaults weiter), knüpft Agambens Konzeptualisierung von Herrschaft als Einschließung und Ausschließung an Carl Schmitts Definition von Souveränität als Herrschaft über die Ausnahme343 an und versteht in diesem Sinne den Bann als ursprünglichste politische Beziehung.344 Die Produktion eines biopolitischen Körpers, der von Foucault insinuierte, moderne Mehrwert des Körpers,345 wird dabei als die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht verstanden:346 »Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich 341

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Vgl. dazu Stephen DeCaroli: Boundary Stones. Giorgio Agamben and the Field of Souvereignty. In: Giorgio Agamben. Souvereignty and Life. Hrsg. von Matthew Calarco, Steven DeCaroli. Stanford 2007, S. 43–69. Vgl. dazu Paul Patton: Agamben and Foucault on Biopower and Biopolitics. In: Giorgio Agamben. Souvereignty and Life, S. 203–218. »Souverän ist, wer über die Ausnahme entscheidet.« Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München 1934, S. 11. »Alle Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung gehen dahin, den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen.« Ebd. S, 13. Schmitt liefert auch die Vorlage für das Konzept für den »Zusammenhang von Ordnung und Ortung«, etwa in C. S.: Der Nomos der Erde im Jus Europaeum. Köln 1950, S. 13. Die Verbindung von Rechts- und Machtgeschichte, die Schmitts Überlegungen leitet, wird hier ebenfalls mittelbar bedeutsam. Da es hier aber wie gesagt nur um Ähnlichkeitseffekte geht, wird auf Schmitt nicht weiter eingegangen, weil sich Agamben strukturell besser für die spezifische Vater-Kind-Beziehung als Machtbeziehung im Opfer/Homo sacer-Kontext eignet. Vgl. das Folgende. Vgl. dazu auch Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer II.1. Übersetzt von Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt am Main 2004. »Wenn unsere Hypothese richtig ist, dann ist die Heiligkeit vielmehr die ursprüngliche Form der Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch-politische Ordnung, und das Syntagma homo sacer benennt etwas wie die ursprüngliche ›politische‹ Beziehung, das heißt das Leben, insofern es in der einschließenden Ausschließung der souveränen Ausnahme als Bezugsgröße dient.« (HS 95). »Man könnte sagen, das alte Recht [des Souveräns] sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.« Hervorhebungen von Foucault; Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 165. »Es wäre nun nach Agamben nichts Geringeres als das Konstituens abendländischer Politik schlechthin, daß sie das ›bloße Leben‹ in die Position dieser fundamentalen Ausnahme bringt.« Susanne Lüdemann: Biopolitik und die Logik der Ausnahme. Zu Giorgio Agambens Konstruktion des »bloßen Lebens«. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Hrsg. von Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza, Albrecht Koschorke. München 2003, S. 230–247, hier S. 234.

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von ihr zurückzieht.« (HS 27) Agamben diagnostiziert aus seiner biopolitischen Perspektive eine Schwelle, an der das Leben gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung steht, und benennt diese als Ort der Souveränität. »Die originäre Beziehung des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwendung, sondern die Verlassenheit. Die unüberbietbare Potenz des nómos, seine originäre ›Gesetzeskraft‹, besteht darin, daß er das Leben in seinem Bann hält, indem er es verläßt.« (HS 39) Im Abgleich mit der Opferterminologie führt Agamben in diesem Sinn eine wichtige Unterscheidung ein: »Der politische Raum der Souveränität hätte sich demnach durch eine doppelte Ausnahme als Exkreszenz des Profanen und Religiösen im Profanen konstituiert, die eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Opfer und Mord bildet. Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.« (HS 93) Agamben legt damit eine paradoxe Logik der Souveränität offen, insofern Leben und Recht einerseits scharf getrennt sind, sich andererseits aber wiederum vermischen in der Sphäre der Souveränität. Für ihn ist es »die Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich«, die »den ursprünglichen – wenn auch verborgenen Kern der souveränen Macht bildet.« (HS 16)347 Auf der Ausschließung des nackten Lebens basiert nach Agamben das Gemeinwesen der Menschen, wobei dieses Moment der Ausschließung erst in der Moderne manifest wird.348 Mit dem Konzept des »Homo sacer« – der von der souveränen Macht Gebannte, der sowohl aus der göttlichen wie auch weltlichen Rechtsordnung fällt – erhält Agambens souveräne Ausnahme ihren notwendigen Gegenpol. Wichtig für die paternale Souveränität dabei ist der Setzungs-Charakter und die im 18. Jahrhundert entscheidende (wert-)problematische, politisch-kreatürliche Differenzierung: das wird besonders anhand der heiklen Exekution von Emilia in ›Emilia Galotti‹ deutlich. Deswegen lohnt ein Blick auf Agamben:349 Mithilfe Agambens Kernparadoxa lassen sich die Chancen und vor allem auch die immanenten 347 348

349

Dabei richtet sich die Biomacht nach Foucault keineswegs auf Individuen, sondern auf die Bevölkerung insgesamt, auf das Gattungswesen Mensch als Teil einer Population. Für Foucault ist diese Ableitung von Souveränität aus der Biomacht nicht sinnfällig, weil sich die Prämissen der Biomacht auf Wissensvoraussetzungen der Moderne begründen. Natürlich weist die Übertragbarkeit von Souveränitätstheorien auf die literarisch entworfene väterliche Gewalt klare Grenzen auf.

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Probleme der paternalen Inklusionstechnik genauer sondieren.350 Insofern es Agamben um die Frage geht, was innerhalb oder außerhalb einer Rechtsordnung liegt, sind seine Schlussfolgerungen nämlich zentral für die Frage nach der Legitimität von souveränen Einschließungsprozessen. Es soll hier schon einmal vorweggenommen werden, dass bei Agamben die duale Erscheinung einer letztlich identischen Gewalt thematisiert wird. Die Ausgangsfragestellung nach der Legitimität der Differenz zwischen sanktionierter und nichtsanktionierter Gewalt (die Agamben in einer hochselektiven Logik351 bis zu Auschwitz als »nomos der Moderne« weiterdenkt) ist für diese Arbeit heuristisch entscheidend, weil sie auch ein Prinzip in der bürgerlichen Paternalität (und auch grundsätzlicher im bürgerlichen Wertenetz) benennt. Mag die diskursive Sanktionierung variieren, zugrunde liegt der paternalen »Souveränität« (im oben definierten Sinne) genau das: eine spezifische Gewalt, mit der kulturelle Vorgaben diskursiv in »natürliche« verwandelt werden. Die Souveränität stellt sich somit wie eine Einverleibung des Naturzustandes der Gesellschaft dar oder, wenn man will, wie eine Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewalt und Gesetz, und genau in dieser Ununterscheidbarkeit liegt das Spezifische der souveränen Gewalt. (HS 46)

Wenn im Folgenden Agambens Terminologie verwendet wird, geschieht dies auch, um dieses Prinzip als strukturelles Grundsatzproblem im Auge zu behalten. Agambens Methode ist für diesen Zusammenhang also gerade deshalb heuristisch hilfreich, weil sie sich einer nachhaltigen Historisierung352 verweigert und in der Strukturanalyse Konstanten sichtbar macht, die hier einen Zugriff auf geschichtlich verschiedene Ausprägungen väterlicher »Souveränität« und ihre jeweiligen diskursiven Axiologien erlauben: Um deren Historisierung soll es dann im Folgenden gehen. 350 351

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Gerade weil Agamben sich im Prinzip (in Anlehnung an Benjamin) auf eine Souveränität des Rechts bezieht, erweist sich sein Zugriff als hilfreich. Vgl. dazu das letzte Kapitel. Insofern sich Agamben vollkommen auf das Paradigma des Lagers (das nackte Leben im Nationalstaat wird dabei zum Fundament desselben) konzentriert, verweigert er sich jeder historischen Konkretion, weil sie seiner Ansicht nach das Paradigma verschleiern würde. Historisch präziser wären hier die (von Agamben aus dem genannten Grund problematisierten) Überlegungen Hannah Arendts. Hier vor allem: Hannah Arendt: Über den Imperialismus. In: Arendt, Die verborgene Tradition. Essays. Frankfurt am Main 1976. Dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München 2001. Vgl. dazu Caroline Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte. Wien 2004, S. 205–237. Damit ist eine nachhaltige Historisierung innerhalb des von ihm etablierten Paradigmas gemeint. Die Politisierung der zoe ist natürlich an sich auch ein historisches Phänomen.

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An dieser Stelle wird dann auch deutlich, wie die beiden leitenden theoretischen Einschließungskonzepte dieser Arbeit zusammenhängen, indem auf der einen Seite die inklusive Seite der väterlichen Macht betont wird (wie beschrieben, im Sinne Luhmanns als Kompensationsmechanismus im Kontext der Moderne), aber auf der anderen Seite die strukturellen, wirkungsmächtigen Paradoxe der Setzung augenfällig werden. Erst die Kombination des hier primär historisch (Luhmann) und des hier primär strukturell verstandenen Modells (Agamben) gibt einen heuristisch angemessenen, analytischen Rahmen vor. Noch in einer anderen Hinsicht wird Agamben in diesem Buch entscheidend: Er versucht die Gleichartigkeit des Souveräns und des Homo sacers in der spezifischen Dualität zu orten, die Girard und Burkert mit Blick auf das Opfer als Sakralisierung bestimmt haben: Die Heiligkeit des Lebens als biopolitisch relevanter »Rest« korrespondiert (in einem in historischer Hinsicht fragwürdigen Kapitel in ›Homo sacer‹) mit dem Überschuss an Leben im Herrscher. Diese asymptotische Annäherung zeigt, dass der Souverän definitionsbedingt eine Schwellenfigur ist, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Macht steht. Ohne auf die Probleme einer solchen Spatialisierung näher einzugehen, muss jetzt schon auf Freud verwiesen werden, der in ›Totem und Tabu‹ eine ähnliche Ambivalenz des ausgegrenzten Herrschers entwickelt.353 Beide Formen des negativen Bezugs (als Opfer oder Homo sacer) sind wichtige Indizien der gesellschaftlichen/väterlichen Macht als Reminiszenz der Macht eines Souveräns, weil jede Setzung immer besonders im Ausschluss erfahrbar wird.354

353 354

Vgl. dazu das Kapitel zu Freud und der Expressionismus. Auch andere Herrschaftstopoi finden sich in ahistorischer Verquickung in den Texten, die von Referenzen auf »Verkörperungen« bis hin zu Regierungsformen bestehen. Besonders zu nennen wäre hier das bekannte Muster der zwei Körper des Königs, ein Bild, das sich – abgespalten von den mittelalterlichen Rechtskonstruktionen, die Ernst Kantarowicz erschließt – als rekurrent erweist. Das wird besonders im Kapitel zu den Majoratserzählungen zu verfolgen sein. In diesem Sinne finden politische Theorien nur als heuristische Detektoren Eingang in diese Arbeit, insofern sie Bildquellen analysieren, mit deren Hilfe moderne väterliche Macht in Analogie zur Macht eines Herrschers gesetzt wird. Im Zuge des symbolischen Kollisionen werden sie bedingt entkoppelt, verweisen aber trotzdem gleichzeitig in dem neuen symbolischen Konglomerat auf historische Umstände, die eine Neuformulierung der väterlichen Rolle notwendig machen. Die Historizität findet sich also in der Funktionalisierung von Souveränitätselementen, die zu extrahieren die Aufgabe der verschiedenen Souveränitätstheorien und -vorstellungen ist.

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3.7.

Menschliche Gleichheit und bürgerliche Werte: Das bürgerliche Paradox

Die Vorstellung, dass ein biopolitisches Substrat überhaupt kreiert wird, ist ein für die hier relevanten Jahrhunderte entscheidendes Konzept. Auch wenn die Politisierung der zoe355 im individualisierenden Zuschnitt der Texte nur bedingt wirksam wird, verdichtet sie doch gewissermaßen das Paradox des Vaters, der sich mit den verschiedenen Facetten der kindlichen Existenz zu beschäftigen hat. Die Produktion eines biopolitischen Körpers findet in jedem Fall einen Reflex in dem Anspruch auf die Regulierung der kindlichen Sexualität im Lichte einer internalisierten bürgerlichen Werteideologie. Die Absonderung des reinen Lebens vollzieht sich als Heiligsprechung: »Die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht als Menschenrecht in jedem fundamentalen Sinn geltend machen möchte, meint ursprünglich gerade die Unterwerfung des Lebens unter eine Macht des Todes.« (HS 93) Agamben beschreibt die Paradoxie dieses Vorgangs, indem er darauf hinweist, dass »die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, […] jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung« (HS 129) bedeuteten. Es wurde eingangs darauf verwiesen, wie stark die Macht des bürgerlichen Vaters auf der zentralen bürgerlichen Tugendvorstellung aufruht. Auf eigentümliche Weise wird auch hier das Individuum als Gattungswesen angesprochen, basiert die Ideologie doch gerade auf der menschlichen Gleichheit, die zugleich einen unausgesprochenen politischen Anspruch impliziert. Der Vater irisiert nun auffällig zwischen den Anforderungen an das Gattungswesen und an das Individuum, er verbürgt die bürgerliche Moral (die seine Legitimation darstellt) und die Individualität (die die Legitimation seiner Legitimation darstellt). Die bürgerliche Moral als Machtmedium kodiert hier zwei verschiedene Postulate, die sich – wie ein Blick auf ›Emilia Galotti‹ gezeigt hat – nicht mehr vollständig auflösen lassen. Die Heiligkeit des Lebens, die laut Agamben über die biopolitische Absonderung der zoe kreiert wird, erfährt in der bürgerlichen Ideologie unterschiedliche Deutungen, die von der nachträglichen Akzeptanz der 355

Die Vorstellung des nackten Lebens, der zoe, im Gegensatz zum bios (als qualifiziertem Leben) bildet Agamben dabei im Rückgriff auf Konzepte bei Aristoteles, Benjamin und Foucault aus. Vgl. auch Eva Geulen: Nacktes Leben/Bare Life. In: Texte zur Kunst 66 (2007), S. 102–107.

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Abweichung unter der Prämisse der Individualität (›Miß Sara Sampson‹) bis hin zur Eliminierung des Individuellen unter der Prämisse der Moralität reichen können (›Emilia Galotti‹, ›Philotas‹). Die Ausnahme, über die der Vater entscheidet, wird allerdings immer zum Problem, weil die bürgerliche Ideologie nur dann individualisiert werden kann, wenn es keine Abweichungen gibt. Menschlichkeit wird also nicht per se zugerechnet, sondern nach Würdigkeit im Sinne der bürgerlichen Wertvorstellungen: »Wer nicht will menschlich seyn, sey auch nicht, werth zu leben«,356 konstatiert so auch der maßlos zärtliche Herrscher Canut in Johann Elias Schlegels gleichnamigen Trauerspiel und schafft damit die Vorlage für alle denkbaren Ausgrenzungstechniken im Zeichen des Menschlichen: Die Definition der »Menschlichkeit« scheint in diesem Sinne auch den Mehrwert abzutrennen, der die Heiligkeit des Lebens abspaltbar macht. Agamben verdeutlicht auf der staatlichen Ebene, dass die Kopplung der Menschenrechte an die Staatsbürgerrechte den universalen Anspruch kupiert: »Im System des Nationalstaates erweisen sich die sogenannten heiligen und unveräußerlichen Menschenrechte, sobald sie nicht als Rechte des Staatsbürgers zu handhaben sind, als bar allen Schutzes.« (HS 135) Aber bereits vorgängig selbst erweist sich die Doppelanlage vom Menschen als Gattungswesen und dem Menschen als Individuum als problematisch, ein Paradox, das die zeitgenössische Literatur durch eine evolutive Hinführung des Individuums zum Sollwert »Mensch« zu lösen versuchte. Das Phänomen der Abweichung jedoch ist hier mit Blick auf die Rolle des bürgerlichen Vaters aufschlussreich im Sinne der Agamben’schen Ausnahme. In einer Inversion wird die politische Sphäre also ausgehend von der privaten neu definiert, dies geschieht allerdings im Gestus einer souveränen Setzung. Der Vater absorbiert in diesem Sinne alle beschriebenen Paradoxien und symbolisiert in besonderer Weise die Widersprüche der modernen Gesellschaft, die auch im Rekurs auf die idealtypische Entität »Familie« nicht aufgelöst werden können. Privatheit und (gesellschaftliche) Öffentlichkeit überlappen sich dabei auf paradoxe Weise in der Gründungsfigur des bürgerlichen Vaters. Die Analogie hinsichtlich der Setzung der väterlichen Macht soll das Augenmerk auf zweierlei richten: zum einen auf die paradoxe Definition von Väterlichkeit zwischen Ermächtigung und Regulierung; zum anderen auf die problematische Konstitution einer privaten Sphäre, die sich im 356

Johann Elias Schlegel: Canut. Ein Trauerspiel. In: J.E.S.: Werke. Hrsg. von Johann Heinrich Schlegel. Bd. 1. Frankfurt am Main 1971 [Faksimiledruck], S. 279.

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19. Jahrhundert immer mehr zu einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit erweitert und deren Expansion die problematische Rolle des Vaters als Sachwalter einer universalen Moral und als individueller Vater manifest werden lässt. Diese kursorischen Betrachtungen zu Moralkonzepten und Herrschaftsvorstellungen erweisen sich mit Blick auf die Verschiebungen, aber auch hinsichtlich der Entsubstantialisierung spezifischer Werte (bürgerliche Ethik) als notwendig, um die Entwicklungen der Vorstellungen von Vaterschaft bis ins 20. Jahrhundert verfolgen zu können. Im Kapitel zu ›Revolution und Brüderlichkeit‹ wird zudem die hier nur angedeutete Verkörperungsdimension des Vaters (und der Familie) für die Vergegenwärtigung und evidente Legitimierung von Herrschaft deutlicher werden: Um ähnliche authentisch-natürliche Versinnlichungstendenzen wird es auch um 1900 verstärkt gehen. Das Konzept des Oszillationssymbols ist für die Entwicklung der Widersprüche und Folgekonzepte entscheidend, weil es deutlich macht, dass die verschiedenen, sich verschiebenden Vorstellungen von Herrschaft zwar nicht in direkter Referenz, aber indirekt in das Bild der väterlichen Macht eingehen: Sie beschreiben eine genetische Linie, die sich nicht teleologisch prognostizieren, aber retrospektiv reaktivieren lässt. Erst wenn sich bestimmte Entwicklungen de facto aus einer unendlichen Reihe von Möglichkeiten herauskristallisieren, kann der entsprechende Strang im Text analytisch extrahiert werden.

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III. Politisierung des Privaten: Bürgerliche Tugend- und Empathiekonzepte in Schillers ›Don Karlos‹

Wenn Vaterschaft zum entscheidenden Strukturmodell für eine Konkretion abstrakter politischer Ordnung wird, handelt es sich dabei um einen Ähnlichkeitseffekt, nicht aber um eine bis ins letzte bestimmbare Analogie. Alle Modelle, die in diesem Sinne Politik und Privatsphäre engführen, sind auf eine persuasive Evidenz angewiesen, die sich aus einem integrativen Familienmodell herleitet. Hatte sich der politische Ausgriff in Lessings ›Emilia Galotti‹ schon angedeutet, so wird er in Schillers ›Don Karlos‹ zum Kernpunkt des Stückes. Im Folgenden geht es um den Anspruch eines privaten Wertemodells, dessen Durchsetzung für die Rolle des Vaters entscheidend sein wird. Die Verankerung der Vatermacht – gerade auch auf der Herrscherebene – wird deutlich innerhalb der Wertesphäre der Familie situiert. Wie bereits oft konstatiert, scheint sich das »Grundproblem« des ›Don Karlos‹ in der Frage zu verdichten, »wie das Verhältnis zwischen dem Familiendrama […] und dem Ideendrama, der theatralischen Inszenierung des Kampfes um Gedankenfreiheit und politischer Selbstbestimmung der flämischen Provinzen (und mit ihnen der ›Menschheit‹) zu bestimmen ist.«1 Mit dem bekannten Zitat, ›Don Karlos‹ sei nichts weniger als ein politisches Stück, sondern eigentlich ein »Familiengemählde in einem fürstlichen Hause«,2 stellt Schiller den Text zunächst selbst in die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels, das allerdings in diesem Kontext konstellativ über seine Grenzen geführt wird.3 Eine weitere, prominente Grabenlinie in der Forschungsdebatte markiert die zweideutige Rolle Marquis de Posas, dessen Ideen und Handlungen als besondere Volte einer »Dialektik der Aufklärung« gedeutet wurde. Als wichtigster Advokat 1

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Michael Hofmann: Bürgerliche Aufklärung als Konditionierung der Gefühle in Schillers ›Don Karlos‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 95–117, hier S. 95. Friedrich Schiller: Briefwechsel. Schillers Briefe. 1772–1785, Schillers Werke, Nationalausgabe in 43 Bänden. Hrsg. von Walter Müller-Seidel. Bd. XXIII. Weimar 1956, S. 144. Vgl. dazu Klaus-Detlef Müller: Die Aufhebung des bürgerlichen Trauerspiels in Schillers ›Don Karlos‹. In: Friedrich Schiller. Hrsg. von Helmut Brandt. Berlin, Weimar 1987, S. 218–234.

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einer »heitre[n] menschliche[n] Philosophie« geboren aus »der Freundschaft«4 ist seine Funktion im Stück fraglos exemplarisch. Ähnlich wie in der von Hans-Jürgen Schings ausführlich dargestellten Krise um die Freimaurer,5 die in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend mit einem Despotismus-Vorwurf zu kämpfen hatten,6 scheint Posa im Namen der Vernunft willkürlich zu handeln und für den in ›Don Karlos‹ einschlägigen Zweck7 (nämlich konkret die Befreiung der Kolonien) die notwendigen Mittel zu heiligen. Am Schnittpunkt dieser beiden Kontroversen steht die thematische Doppelung, die hier entscheidend ist. In eingängiger Weise beschäftigt sich ›Don Karlos‹ sowohl mit einem spezifischen Konzept der Menschlichkeit8 als auch mit der (politischen und herrschaftsrelevanten) Vorstellung von Rechten, die dieser Menschlichkeit entspringen. Mit dem letzteren Anspruch wird eine öffentliche Ordnung9 impliziert, für die und in der jene Rechte gelten. Diese eigentümliche Verschlungenheit von Familiengemälde und Menschenrechtsdiskussion, an deren Schnittstelle Posa besonders exponiert 4 5 6

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Friedrich Schiller: Briefe über den Don Karlos, Schillers Werke, Nationalausgabe in 43 Bänden. Hrsg. von Herbert Meyer. Bd. XXII. Weimar 1958, S. 163. Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996. Dies lässt sich in Abwandlung auch auf den ›Don Karlos‹ beziehen: Despotismus als »Abstraktion, Gleichschaltung der Individuen, Gewalttätigkeit der Vernunft – diesmal aus den besten, lautersten, edelsten Motiven.« Schings, Die Brüder des Marquis de Posa, S. 186. Allerdings nicht vollkommen bedingungslos: vgl. dazu die Szene mit Eboli, in der er sie trotz pragmatischer Erwägungen nicht tötet. Die Postulate, die sich auf die Menschenliebe im Allgemeinen richten, stehen im Stück in einem engen Bezug zu dem, was im bürgerlichen Trauerspiel mit Blick auf das allein menschliche Interesse an den Protagonisten gefordert wurde. Vgl. dazu Lessings ›Hamburgische Dramaturgie‹: »Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unserer Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.« Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 251. »Schiller geht es zunächst nur um die Rückgewinnung des öffentlich-repräsentativen Raumes als eines Feldes wirklich tragischer Konflikte. […]: wenn Karlos sich dem Zwang widersetzt, von der Menschheit durch einen ungeheuren Spalt getrennt zu sein, und also Freundschaft sucht, so schließt das auf der durch seinen Rang gegebenen politischen Ebene die Sorge für die Menschenwürde der religiös Verfolgten notwendig ein: Das Private ist von der Konstellation her notwendig politisch.« Müller, Die Aufhebung des bürgerlichen Trauerspiels in Schillers ›Don Karlos‹, S. 223–225.

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agiert, soll im Folgenden (mit Blick auf die Gratwanderung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit) als eine Positionierung des ›Don Karlos‹ zum Thema Menschenrechte im allgemeinen untersucht werden. Das wiederum lässt Rückschlüsse auf die Rolle der Familie und des Vaters zu. Alle Figuren füllen eine Doppelrolle aus, in der private und öffentliche Funktionen letztlich kollidieren. Bereits bei der ersten Begegnung der beiden Freunde betont Marquis de Posa: »Denn jetzt steh’ ich als Rodrigo nicht hier / nicht als des Knaben Karlos Spielgeselle – / Ein Abgeordneter der ganzen Menschheit / umarm’ ich Sie – es sind die Flandrischen / Provinzen, die an Ihrem Halse weinen, / und feierlich um Rettung Sie bestürmen.«10 Im selben Dialog allerdings scheut er nicht vor einem Komparativ zurück, der seine Liebe und Sorge für den Prinzen über seine repräsentative Funktion als Sachwalter von Menschenrechten zu erheben scheint: »D o n K a r l o s : Wenn eine Thräne, die mir Lindrung giebt, / dir theurer ist als meines Vaters Gnade – / M a r q u i s : O theurer als die ganze Welt.« (NA VI, 18) In dieser scheinbar zunächst in der Freundschaft befriedeten Ambivalenz liegt der Kern aller folgenden Konflikte. Öffentliche und private Rolle11 stehen oftmals in unmittelbarer Opposition, wobei eine unübersehbare Kritik gegen das notorisch inhumane Zeremoniell am spanischen Hof geltend gemacht wird,12 das menschliche Regungen und Emotionen im Keim erstickt und in ein kontrollierbares Rollenverhalten lenkt. Die schiere Machtfülle, die an das Königsamt geknüpft ist – so inauguriert Posa –, sorgt per definitionem für eine Ablösung vom Menschlichen: »Dom Philipp stirbt. Karl erbt das größte Reich / der Christenheit. – Ein ungeheurer Spalt / reißt vom Geschlecht der Sterblichen ihn los, / und Gott ist heut, wer gestern Mensch noch war.« (NA VI, 58) Das Verhalten Philipps als König macht allerdings deutlich, dass diese soziale Transformation lediglich eine Fehlentwicklung des Habitus ist, bei der die menschlichen Wurzeln nicht eliminiert werden. Karlos bereitet diesen Befund 10

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Friedrich Schiller: Don Karlos. In: Schillers Werke, Nationalausgabe. Hrsg. von Paul Böckmann, Gerhard Kluge. Bd. VI. Weimar 1973, S. 16, im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als NA mit der entsprechenden Band- und Seitenzahl. Dieter Borchmeyer betont, dass für den »Verfasser des ›Don Karlos‹ […] Etikette und Zeremoniell des Hofes nur eine die Menschen einander entfremdende Äußerlichkeit« sind. D. B.: Tragödie und Öffentlichkeit. Schillers Dramaturgie im Zusammenhang seiner ästhetisch-politischen Theorie und die rhetorische Tradition. München 1973, S. 81. Die Beispiele dafür sind Legion: Exemplarisch sei hier das Bedürfnis der Königin erwähnt, die ihr Kind sehen möchte und auf das Zeremoniell aufmerksam gemacht wird, das dies nicht gestattet. Hier kollidieren die als natürlich gesetzte Funktion »Mutter« ostentativ mit der höfischen »Königin«: »Noch nicht die Stunde, wo ich Mutter sein darf ?« (NA IV, 24).

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vor, wenn er die Einbuße der Fähigkeit zu weinen als einen möglichen Verlust der Menschlichkeit benennt: »So treu und warm, wie heute dem Infanten, / auch dermaleinst dem König zugethan? […] Dann auch, wenn der Wurm / der Schmeichelei mein unbewachtes Herz / umklammerte – wenn dieses Auge Thränen / verlernte, die es sonst geweint« (NA VI, 60). Dass der König nun seinerseits angesichts des Verrats Posas, (des »Menschens«, nach dem Philipp im Zustand der menschlichen Verwirrung explizit verlangte) weint, weist ihn eben selbst nach Karlos’ Kriterien als »Menschen« aus: »Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen« (NA VI, 66). Dies knüpft an den Empfindsamkeitsdiskurs an, bei dem Tränen als wahrheitsverbürgendes Zeichen13 eine spezifische Menschlichkeit bzw. Tugend indizieren.14 Der König erfährt sich selbst als defizitär und »beglaubigt« das Scheitern seiner ersten menschlichen Interaktion mit Tränen. Diese Depravation artikuliert er mit einer Midas-Anspielung im Dialog mit Posa explizit und benennt dabei zugleich eine problematische Rollendualität: »König! König nur / und wieder König … Keine beßre Antwort / als leeren hohlen Wiederhall? Ich schlage / an diesen Felsen und will Wasser, Wasser / für meinen heißen Fieberdurst – Er giebt / mir glühend Gold.« (NA VI, 152) Mit Philipp sitzt in diesem Sinne ein erstes Opfer15 tiefgreifender Menschlichkeitsbeschneidungen auf dem Thron. Philipps emotionale Bedürftigkeit kompromittiert das System und entlarvt es als inadäquat, wobei gleichzeitig »Menschlichkeit« (im eben definierten Sinne als emotionale Kommunikationsbereitschaft) als anthropologische Qualität inszeniert wird. Selbst der im Zeremoniell sozialisierte König ist offensichtlich zu genau den Gefühlen fähig, die im Text als authentisch menschliche erachtet werden. Die Inhumanität der spanischen Monarchie wird ex negativo durch den Großinquisitor deutlich, wenn die13 14

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Dies gilt, insofern sie die Fähigkeit zu fühlen dokumentieren. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 89, vgl. auch S. 87–95. Vgl. dazu auch Michael Maurer, der vermerkt, dass »das Ausleben der Gefühle der adligen Formkultur« entgegengesetzt war und Tugend indizierte. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 267. Ähnlich argumentiert Paul Böckmann mit Blick auf die Liebe zwischen dem Infanten und seiner ehemaligen Braut, die der politischen Strategie weichen muss, wodurch Böckmann im Stück die Würde des Einzelnen in Frage gestellt sieht: »Wichtig bleibt demnach, daß in diesem Drama, die politische Frage sich nicht am Machtkampf der Völker, Staaten und Stände entzündet, sondern an der Grundsituation des Einzelmenschen, der nach Übereinstimmung mit sich selbst und deshalb nach Freiheit, Duldung und Rechtssicherheit verlangt.« Paul Böckmann: Schillers ›Don Karlos‹. Die politische Idee unter dem Vorzeichen des Inzestmotivs. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, S. 33–47, hier S. 37.

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ser das Gesetz der Empathie als Verbot formuliert (das wiederum seinerseits als Herrschaftsprämisse fungiert): »Wozu Menschen? Menschen sind / für Sie nur Zahlen, weiter nichts. Muß ich / die Elemente der Monarchenkunst / mit meinem grauen Schüler überhören? / Der Erde Gott verlerne zu bedürfen, / was ihm verweigert werden kann. – Wenn Sie / um Mitgefühle wimmern, haben Sie / der Welt nicht Ihres Gleichen zugestanden? / Und welche Rechte, möcht’ ich wissen, haben / Sie aufzuweisen über Ihres Gleichen?« (NA VI, 330–331)

Der König aber stellt fest zu »bedürfen« und antwortet in dem vorletzten Auftritt des Stückes analog zu Posas Ausführungen: »Ich bin ein kleiner Mensch, ich fühl’s – Du foderst / von dem Geschöpf, was nur der Schöpfer leistet.« (NA VI, 331) Mit der Figur des Königs werden die beschriebenen Gefühle der Intimität selbstevident und bezeichnen einen indirekten Anspruch, der sich nicht mehr an ständischen Identitätsvorgaben bemisst, sondern an einer allgemein menschlichen Eigenschaft. Dies scheint eine Prämisse für die Vorstellung, dass Menschen, die an einem gemeinsamen emotionalen Urgrund teilhaben, sich eigentlich nicht in ihrer Qualität als »Menschen« unterscheiden können: Ihre Verschiedenheit liegt somit in der willkürlichen höfischen Zuordnung begründet,16 die sich, was wohl am deutlichsten in der problematischen Familienkonstellation erkennbar wird, ostentativ gegen die Natur entfaltet. Diese »Gleichheit«,17 die wie vorhin beschrieben emotional diagnostiziert (oder als vollständige Entfremdung abgesprochen) wird, bedingt Posas bekannte Forderungen nach Freiheit, in Analogie zu Thomas Jeffersons bekannter Formulierung: »We should hold these truths to be selfevident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.«18 Dieser Selbst-Evidenz schließt sich ›Don Karlos‹ an, ist doch die Überzeugung von unhintergehbaren Menschenrechten diejenige, die im Verlauf des Textes nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr auf ihre Erreichbarkeit in der betreffenden Situation überprüft wird. 16 17

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Diese höfische Kluft trennt zum Beispiel die Freunde Karlos und Roderich, wenn Roderich vor Karlos kniet und anmerkt »Das […] gebührt dem Königssohn.« (NA VI, 19) Auch diese Gleichheit funktioniert natürlich nur unter spezifischen ideologischen Prämissen, die wiederum an die im Folgenden zu entwickelnde Tugendvorstellung gekoppelt sind. Zitiert nach: Hunt, Inventing Human Rights, S. 19.

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Dabei knüpft das spezifische Konzept der Menschlichkeit des 18. Jahrhunderts nahtlos an die Individualisierungsprozesse der Zeit an. Die Vorstellung und Konzeption von Menschenrechten, wie sie sich im 18. Jahrhundert auszubilden beginnen, sind ebenso eine Konsequenz der umfassenden Umstellungen der Gesellschaftsstruktur wie andere Funktionalisierungsprozesse, die das Individuum stärken, um – in einer primär funktional strukturierten Gesellschaft – eine maximale Partizipation aller Individuen in den verschiedenen funktionalen Teilbereichen zu erreichen. Die Gleichheit, die dabei impliziert wird, ist eine »privat«-menschliche, aber – wie oben ausgeführt – natürlich auch zugleich eine hochpolitische. Dies demonstrieren die prominentesten Manifeste des neuen Verständnisses im Zuge der transatlantischen Doppelrevolution: die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte 1789 im Zuge der Französischen Revolution. Ihre unhinterfragbare Legitimität gewinnen diese Manifeste vor allem durch ihr oben beschriebenes, diskursives Umfeld, welches das Natürliche und Originäre dieses Rechtskonzepts insinuiert: »Human rights require three interlocking qualities: rights must be natural (inherent in human beings); equal (the same for everyone); and universal (applicable everywhere).«19 Insofern die drei Prinzipien der Natürlichkeit, Gleichheit und Universalität historisch gebrochen sind, erweist sich die Praxis, mit der die für Menschenrechte entscheidende Selbst-Evidenz eingeübt wird, ihrerseits als ein historisches Phänomen, das auf Gesellschaftsumbrüche reagiert und in diesem Sinne legitimierend seinen eigenen »natürlichen« Ursprung erfindet.20 Wenn Empathie und Autonomie als wesentliche Voraussetzungen für die Konzeption von Menschenrechten verstanden werden, so ist die Fiktion ihrer Selbst-Evidenz unter anderem auch ein »bürgerliches« Phänomen, mit der ein spezifisches Partizipationsrecht vorbereitet, geltend gemacht und anthropologisch (und nicht primär politisch) legitimiert wird. Erste Überlegungen zur gleichen Naturanlage und gleichen Rechten entstammen bereits den naturrechtlichen Überlegungen des 17. Jahrhunderts. Dort sind sie vertragsrechtlich21 konzipiert und leiten sich aus der 19 20

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Hunt, Inventing Human Rights, S. 21. Dass Menschenrechte keineswegs als universal und für alle gleichermaßen geltend betrachtet wurden, verdeutlicht ja bereits exemplarisch der Umgang mit Sklaven in Amerika. Das Natürliche, das die Universalität erzwingt, wird vice versa unterminiert, wenn die Universalität in einer contradictio in adiecto als partielle verstanden wird. In der selektiven Applikation verrät sich schon auf den ersten Blick ein Politikum. Vgl. Gerd Kleinheyer: Grundrechte: In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2 (1975), S. 1057–1060.

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Einsicht ab, dass das Individuum Freiheit und Selbstverwirklichung nur erreichen könne, wenn er bei anderen das gleiche Interesse voraussetze und respektiere. Schiller bezieht sich in ›Don Karlos‹ vor allem auf spätere konzeptuelle Modelle22 des 18. Jahrhunderts (die sich gleichzeitig als zentral für das bürgerliche Selbstverständnis erweisen), um eine allgemeine menschliche Disposition zu begründen. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang genau das bereits genauer beschriebene, folgenreiche Sympathie- und Mitleidskonzept zu nennen,23 das Lessing als »Bereitwilligkeit […], uns an die Stelle des Geliebten zu versetzen«, versteht.24 Diese empathische Gemeinschaft erklärt allerdings zunächst nur eine Konzeption von moralischen Rechten, die nicht per se mit Menschenrechten zusammenfallen. Moralische Rechte gehen von einer individuellen und nicht von einer durch die öffentliche Ordnung institutionalisierten Verantwortung aus.25 In ›Don Karlos‹ werden moralische und menschenrechtliche Konzepte nun grundsätzlich zusammengeführt, denn die öffentliche Ordnung, die das besagte Unrecht institutionalisiert oder toleriert, wird – ganz im Sinne der Menschenrechte – zum Adressaten einer spezifischen Rechtsvorstellung. Das moralische Recht und die es idealiter protegierende Ordnung sind die Utopie, die das Stück implizit propagiert. Mit der Vorstellung von einer »Menschheit« und entsprechenden verbindlichen Ansprüchen auf ihre inhärenten Rechte kolportiert Posa also per se ein Politikum, dessen Legitimität als vorgängiges natürliches, moralisches Recht aber gewissermaßen normativ besteht: Ethik und Politik konvergieren hier. Aus der Evidenz der individuellen, zwischenmenschlichen Moralität wird die Universalität generiert, die (rhetorisch geschickt mit primärem Augenmerk auf die »Menschen«) gleichzeitig die öffentlichen Strukturen einfordert, die Menschenrechte gewähren und garantieren können. 22

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Zusätzlich wird auch die Vernunft als Prämisse für die Anerkennung der Rechte des anderen an zentraler Stelle thematisiert. Zu dieser mit Kant korrelierenden Konzeption vgl. das folgende. Vgl. dazu auch exemplarisch Rousseaus Bemerkung über den Widerwillen, wenn man andere fühlende Wesen leiden oder umkommen sieht: Jean-Jacques Rousseau: Abhandlungen über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. In: J.-J. R.: Schriften zur Kulturkritik. Hrsg. von Kurt Weigand. Hamburg 1971, S. 73. David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, 2 Bde. Hamburg 1978, 1989. Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle. Hrsg. von Walther Eckstein. Hamburg 2004. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 555. Vgl. dazu ausführlich Thomas Pogge: Menschenrechte als moralische Ansprüche an globale Institutionen. In: Philosophie der Menschenrechte. Hrsg. von Stefan Gosepath und Georg Lohmann. Frankfurt am Main 1998, S. 378–400. Resümierend auch: Christoph Menke, Arnd Pollmann: Menschenrechte zur Einführung. Hamburg 2007, S. 31–33.

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Nicht zufällig werden in dem bekannten Gespräch zwischen Posa und dem König die wesentlichen gedanklichen Prämissen von Menschenrechten als normative evoziert und die Rechte selbst als politische Konsequenz benannt.26 Die Selbstevidenz der Tugend, die legitimierende Basis für die »Menschenrechte« in ›Don Karlos‹, wird von Posa27 expressis verbis artikuliert: Mir aber, / mir hat die Tugend eignen Werth. Das Glück, / das der Monarch mit meinen Händen pflanzte, / erschüf ’ ich selbst, und Freude wäre mir / Und eigne Wahl, was mir nur Pflicht sein sollte. / […] Und ist das Ihre Meinung? Können Sie / In Ihrer Schöpfung fremde Schöpfer dulden? / Ich aber soll zum Meißel mich erniedern, / wo ich der Künstler könnte sein? – – Ich liebe / Die Menschheit, und in Monarchieen darf / ich niemand lieben als mich selbst. (NA VI, 181)

Bereits in diesem kurzen Abschnitt werden wesentliche Aspekte der Autonomie (eigne Wahl, Selbstschöpfung des Glücks),28 aber auch de facto der Mitbestimmung thematisiert, wobei sich Posa als Gestalter und eben nicht als Werkzeug29 begreift. Das grundsätzliche Modell der Menschheit firmiert dabei als Singularetantum, zu der Posa »reine Liebe« (NA VI, 182) empfinden kann. Wenn Lynn Hunt »self-possession« als eine essentielle Bedingung der Menschenrechte definiert, so scheint Schiller damit übereinzustimmen, fordert doch zumindest Posa dies selbst als »natürlichen«, als ursprünglichen Zustand ein: »wenn nun der Mensch, sich selbst zurückgegeben, / zu seines Werths Gefühl erwacht – der Freiheit / erhabne, stolze Tugenden gedeihen« (NA VI, 193, Hervorhebungen von C.N.)30 Dabei wird eine originäre, reine Wahrheit gegen eine in der Monarchie »gemachte« abgegrenzt, was die Validität dieser Regierungsform auch politisch kompromittiert (ohne dass sie von Posa explizit angegriffen wird):31 26 27 28

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Zu den politischen Theorien, die im Verlauf des Gesprächs sehr deutlich evoziert werden, vgl. Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Bd. 1. München 2000, S. 440–451. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Philosophie, insbesondere zum Gleichklang mit Rousseau vgl. Böckmann, Schillers ›Don Karlos‹, S. 33–47. Dies entspricht dezidiert dem zentralen bürgerlichen Individuationsgebot. Durch Bildung und Willenskraft erlangt man nach bürgerlichen Vorstellungen eine Position in der Gesellschaft, vgl. Maurer, Biographie des Bürgers, S. 266. »Ich kann nicht Fürstendiener sein.« (NA VI, 120) »Human rights depend both on self-possession and on the recognition that all others are equally self-possessed.« Hunt, Inventing Human Rights, S. 29. Vgl. dazu auch Rousseau in CS, I, 4. »Doch, was der Krone frommen kann – ist das / auch mir genug? Darf meine Bruderliebe / sich zur Verkürzung meines Bruders borgen? / Weiß ich ihn glücklich – eh’ er denken darf ? […] mich wählen Sie nicht, Sire, Glückseligkeit, / die Sie uns prägen, auszustreun. Ich muß / mich weigern diese Stempel auszugeben.« (NA VI, 182)

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Was Eure Majestät durch meine Hand / verbreiten – ist das Menschenglück? – Ist das / daßelbe Glück, das meine reine Liebe / den Menschen gönnt? – – Vor diesem Glücke würde / die Majestät erzittern – Nein! Ein neues / erschuf der Krone Politik – ein Glück, / das sie noch reich genug ist auszutheilen, / und in dem Menschenherzen neue Triebe, / die sich von diesem Glücke stillen lassen. / In ihren Münzen läßt sie Wahrheit schlagen, / die Wahrheit, die sie dulden kann. Verworfen / Sind alle Stempel, die nicht diesem gleichen. (NA VI, 182)

Gleichzeitig wird nicht nur unter der Hand der Tugendbegriff neu besetzt, sondern auch gängige politische Währung (»Adel«) kurzerhand umdefiniert. Das Höfisch-Adelige wird zur defizitären menschlichen Lebensform und erweist sich dem echten Adel somit als entgegengesetzt. Diese höfische Entfremdung32 erscheint als »Verstümmlung« (NA VI, 186) für die Untertanen und den Herrscher, eine durch die spezifische Form der Monarchie implizierte »Verdrehung der Natur« (NA VI, 187). Denn auch der Herrscher beraubt sich mit seiner superioren Stellung der adäquaten emotionalen Kommunikation mit anderen »Menschen« – Empathie, das wird hier deutlich vorausgesetzt, bedarf einer gegenseitigen Anerkennung und natürlich der Möglichkeit, sich als Mensch zu entfalten, ohne dabei einer prudentia im Sinne Gracians zu dienen:33 Da Sie den Menschen aus des Schöpfers Hand / in Ihrer Hände Werk verwandelten / und dieser neugegoßnen Kreatur / zum Gott Sich gaben – da versahen Sie’s / in etwas nur: Sie blieben selbst noch Mensch – / Mensch aus des Schöpfers Hand. Sie fuhren fort / als Sterblicher zu leiden, zu begehren; / Sie brauchen Mitgefühl – und einem Gott / Kann man nur opfern – zittern – zu ihm beten! […] Bereuenswerther Tausch! Unselige / Verdrehung der Natur! – Da Sie den Menschen / zu Ihrem Saitenspiel herunterstürzten, / wer theilt mit Ihnen Harmonie? (NA VI, 186–187)

Posa ruft die »Natur« als Bürgin seiner Ausführungen an. Performativ gewinnen seine Überlegungen vor allem aufgrund der Reaktionen des Königs die größte Glaubwürdigkeit, meint der König doch »etwas wahres […] in diesen Worten« (NA VI, 186) zu finden und artikuliert dementsprechend die große Wirkung, die Posas Worte auf ihn haben: »Bei Gott, / er greift mir in die Seele!« (NA VI, 187) Der Marquis macht 32

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Vgl. resümierend zu den Regeln des Höfischen Karen Beyer: Staatsraison und Moralität. Die Prinzipien höfischen Lebens in ›Don Karlos‹. In: Schiller und die höfische Welt. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 359–377. Vgl. zusammenfassend zu diesen höfischen Kommunikationsformen Alt, Schiller, Bd. 1, S. 452–457. Vgl. zu Posas machiavellistischem Verhalten das Folgende.

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im Gesprächsverlauf deutlich, dass sein politischer Fokus primär auf einer Evolution des Tugendverständnisses in seinem Sinne liegt, das zwischen den »authentischen« und den in einer Monarchie produzierten Werten zu unterscheiden und auf dieser Basis eine neue Menschlichkeit zu kultivieren lernt.34 Dass diese dominante Tugendforderung35 mittelbar eine andere Staatsform fordert, macht der ostentative Bezug auf Montesquieus ›De l’esprit des Loix‹ deutlich:36 Es ist keine große Tüchtigkeit für den Fortbestand oder die Stützung einer monarchischen oder despotischen Regierung erforderlich. Die eine sieht sich durch die Kraft der Gesetze geordnet, die andere durch den stets erhobenen Arm ihres Oberhaupts. In einem Volksstaat aber ist eine zusätzliche Triebfeder nötig: die Tugend.37

In diesem Sinne mag Schiller »alle Grundsätze und Lieblingsgefühle des Marquis« als »r e p u b l i k a n i s c h e Tugend« (NA XXII, 141, Hervorhebung im Text) verstehen – gleichzeitig schwingt die Referenz auf die Staatsform, in der diese Tugend eine zentrale Funktion übernimmt, implizit mit. Allerdings scheint Posa – in dieser Sequenz das Konzept der ›Ästhetischen Briefe‹ antizipierend – die Restitution der Tugend jeder staatlichen Neuerung vorzuordnen. Mit einem edukativen Ausgriff soll Philipp als Monarch Freiheit gewähren. Nicht die Regierungsform steht bei Posa zur Disposition, sondern, in aussagekräftiger Verkehrung, die 34

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»Die lächerliche Wuth / der Neuerung, die nur der Ketten Last, / die sie nicht ganz zerbrechen kann, vergrößert, / wird mein Blut nie erhitzen. Das Jahrhundert / ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe / ein Bürger derer, welche kommen werden.« (NA VI, 184–185) Vgl. auch Thomas Abbt: Vom Verdienste. Berlin, Stettin 1772, mit dem sich Schiller zu dieser Zeit beschäftigt hat. Vgl. dazu Alt, Schiller, S. 447–448. Indirekt macht sich hier zugleich die zentrale Forderung Montesquieus nach einer Teilung der Gewalten bemerkbar, da – wie Martin Kriel in einer politischen Deutung der Menschenrechte deutlich macht – Gewaltenteilung die unerlässliche Voraussetzung dafür ist, dass der Machthaber als Inhaber der Exekutivgewalt an die Gesetze gebunden ist, die ihm von außen vorgegeben werden. Nur dann also kann die Herrschaft an Menschenrechte gekoppelt sein. Während Kriel eine Opposition zwischen herrschaftlicher Toleranz und Menschenrechten postuliert (im Sinne von Kants Bestimmung einer Despotie) und in der Toleranz letztlich nur eine Form der Willkür erkennt, scheint Posa mit dieser Konzeption keine grundsätzlichen Schwierigkeiten zu haben. Martin Kriel: Menschenrechte und Gewaltenteilung. In: Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis. Hrsg. von ErnstWolfgang Böckenförder, Robert Spaemann. Stuttgart 1987, S. 242–249. In einem ähnlichen Kontext diskutiert auch Ernst-Wolfgang Böckenförde den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Demokratie; er versteht nicht die Demokratie als Bedingung für Menschenrechte, sondern »Gewaltenteilung, Machtkontrolle und unabhängige Rechtspflege«. Böckenförde: Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte? In: Philosophie der Menschenrechte, S. 233–243. Zitiert nach Alt, Schiller, S. 446–447.

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damit verbundenen Wertvorstellungen, vor allem aber die Gemeinschaft der »Menschen«, die – unabhängig von politischen Hierarchien – als Menschen kommunizieren, ein »Wahres und Ewiges«, zu dessen »Muster« der König, auch (und gerade)38 als König, werden kann, solange er sich nur primär als Mensch unter Menschen begreift: Werden Sie / von Millionen Königen ein König. / (Er nähert sich ihm kühn, und indem er feste und feurige Blicke auf ihn richtet) / […] Geben Sie / die unnatürliche Vergött’rung auf, / die uns vernichtet! Werden Sie uns Muster / des Ewigen und Wahren. Niemals – niemals / besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich / es zu gebrauchen. Alle Könige / Europens huldigen dem Span’schen Namen. / Gehn Sie Europens Königen voran. / Ein Federzug von dieser Hand, und neu / erschaffen wird die Erde. Geben Sie / Gedankenfreiheit – (NA VI, 191)

Auch die Freiheit wird hier naturalisiert, wenn Posa in einer Analogie zur Natur die Freiheit als unveräußerlich begreift: »in seiner [Gottes] herrlichen Natur. Auf Freiheit / ist sie gegründet – und wie reich ist sie / durch Freiheit!« (NA VI, 192) In signifikanter Weise wird hier das eigentlich Revolutionäre (der König als Mensch unter Menschen) mit dem dezidiert Legitimistischen (der König als König) verbunden, indem die Krone zum Sachwalter und Protektor der neuen Menschlichkeit aufgerufen wird. Deswegen will Posa konsequent auch den Sohn des Monarchen auf seine Befreiungsmission entsenden – ein Zeichen, wie selbstverständlich tradierte Legitimitätsmodelle auch und gerade um 1800 den politischen Diskurs beherrschen: Der Rebell scheint nur als Thronprätendent gerechtfertigt; gleichzeitig subvertiert die Rhetorik, die den Bürger als Zweck der Krone positioniert, die Demutshaltung nachhaltig und entlarvt damit das eigentlich Anstößige, d. h. mittelbar Politische dieses Zugriffs: »Stellen Sie der Menschheit / verlornen Adel wieder her. Der Bürger / Sei wiederum, was er zuvor gewesen, / der Krone Zweck – ihn binde keine Pflicht, / als seiner Brüder gleich ehrwürd’ge Rechte.« (NA VI, 193) Auf die Begegnung mit Posa reagiert der König zum einen als Mensch (indem er das Gesprochene durch seine Betroffenheit als »wahr« ausweist), zum anderen aber auch als König, der nach wie vor im alten Rollenverhalten gefangen bleibt. In diesem Sinne scheint es konsequent, dass 38

Er könnte in diesem Sinne dieses besondere Evangelium verkündigen und verbreiten: »wenn nun der Mensch, sich selbst zurückgegeben, / zu seines Werths Gefühl erwacht – der Freiheit / erhabne, stolze Tugenden gedeihen – […] dann, Sire, wenn Sie zum glücklichsten der Welt / Ihr eignes Königreich gemacht […] dann ist / es Ihre Pflicht, die Welt zu unterwerfen.« (NA VI, 193)

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Posa im Prinzen den zukünftigen monarchischen Vertreter seiner Menschheits-Idee sieht. Die Rollendualität wird am Ende der Audienz deutlich, als der König den Marquis mit einem Auftrag entlässt und dabei das soziale Kapital anführt, das Montesquieu als Basisqualität in einer Monarchie markiert – Ehre: »So tief, als man die Königin bezüchtigt, / herabzusinken, kostet viel. So leicht, / als man mich überreden möchte, reißen / der Ehre feine Bande nicht.« (NA VI, 198) Obwohl der König instinktiv den Wert Posas als Menschen erkennt, misst er gleichzeitig der Ehre besondere Bedeutung zu.39 Dieses Konzept scheint allerdings mit der von Posa vertretenen Menschenrechtsrechtfertigung inkompatibel. Die öffentliche Währung der »Ehre« ist im sozialen Feld nicht in private Empathie und Autonomie konvertierbar, sondern von diesen Aspekten vollständig unabhängig, ja, ihnen unter Umständen entgegengesetzt.40 Was in diesem Dialog vorgeführt wird, bringt den zeitgenössischen Diskurs am Vorabend der Französischen Revolution auf den Punkt und gewährt einen Einblick in eine spezifische Naturalisierungsrhetorik, die auch mit Blick auf den Vater relevant wird. Der Fokus des ›Don Karlos‹ liegt auf der »Wieder«-Herstellung der entfremdeten und durch die Regierungspraxis verkümmerten Individuen sowie deren Verbindung in einer sakrosankten Gemeinschaft. Die implizierte, durch Tugend verbürgte Universalität und Natürlichkeit lassen dabei keine Ausnahme zu. Wenn der König in diesem Sinne sein Vorgehen in Flandern und Brabant im Rekurs auf Mittel-Zweck-Rechtfertigung zu verteidigen sucht, weist Posa dies nachdrücklich zurück: »Sie wollen pflanzen für die Ewigkeit, / und säen Tod? Ein so erzwungnes Werk / wird seines Schöpfers Geist nicht überdauern.« (NA VI, 190) Diese inakzeptable Mittel-Zweck-Relation spielt auch in ›Don Karlos‹ die entscheidende Rolle – und bereits dieses Gespräch antizipiert durch einen hier hellsichtigen Posa die Folgen seiner eigenen späteren Zuwiderhandlung.41 Indem Schiller eine politisch folgenreiche Nor39

40 41

Vgl. auch die letzte Ausgabe von 1805, in der der König ostentativ von der »Ehre heilge Bande« spricht (NA VII.1, 520), ein Wort, das Posa in dieser Fassung ebenfalls für die einzuführenden »natürlichen« Rechte verwendet: »Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten / Des langen Schlummers Bande wird er brechen / Und wieder fordern sein geheiligt Recht.« (NA VII.1, 515) Vgl. auch Hunt, Inventing Human Rights, S. 142: »with the rise of a notion of human rights, the traditional understanding of honor was coming under attack.« Vgl. dazu auch Walter Müller-Seidels präzise und einschlägige Zusammenfassung zur Mittel-Zweck-Relation: Der Zweck und die Mittel. Zum Bild des handelnden Menschen in Schillers ›Don Karlos‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 188–221

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mativität aus der zwischenmenschlich evidenten Moral ableitet, der politische status quo diese Rechte allerdings nicht anerkennt, erzeugt das Stück die unausweichlichen Dilemmata, die im Folgenden das Scheitern Posas kennzeichnen. Die Differenz der öffentlichen und privaten Wertekonzeptionen generieren die Kluft, die Posa in seinem Ansatz vergeblich zu überbrücken versucht und in der er schließlich verschwindet. Darin besteht nun auch die viel beschworene »Dialektik der Aufklärung« in Posas Verhalten:42 Die Mittel-Zweck-Relation, die er mit Blick auf die politischen Konzeptionen des Königs anprangert, findet letztlich auch besonders verhängnisvoll in seine Handlungen Eingang. Dabei erweist sich die Dualität als ausschlaggebend, die das »Familiengemählde in einem fürstlichen Hause« (NA XXIII, 144) von Anfang an kennzeichnet, nämlich die Personalunion von öffentlicher und privater Rolle, die sich bei allen handelnden Figuren feststellen lässt. Auch Posa ist nicht nur Freund, sondern auch Politiker, der dem König und dem Thronfolger stets in genau dieser Doppelrolle begegnet. Obwohl er seine Ideen mit waghalsiger Ehrlichkeit vertritt und in keiner Weise für die Ohren seines royalen Gesprächspartners beschönigt, liegt doch Posas Ambivalenz bereits in der zweideutigen Audienz selbst, in der er den Mann konfrontiert, den er – als Institution – für die Geschehnisse für verantwortlich halten muss. Die Verbindung, die er mit dem König herstellt, ist eine auf revolutionäre Weise menschliche. Die Königin empfindet die harmonische Gesprächskonstellation in diesem Sinne nachträglich als absurd: »Nun so ist die Welt / aus ihrer Bahn gewichen. Sie und Er – / Ich muß gestehen –« (NA VI, 202); mit Posas Antwort auf ihre Bedenken wird der zunächst schwer greifbare doppelte Zugriff auf den König nun artikuliert: Wer sich / den Menschen nützlich machen will, muß doch / zuerst sich ihnen gleich zu stellen suchen. / Wozu der Sekte pralerische Tracht? / Gesetzt – Wer ist von Eitelkeit so frei, / um nicht für seinen Glauben gern zu werben? / – Gesetzt, ich ginge damit um, den meinen / auf einen Thron zu setzen? (NA VI, 203) 42

Vgl. zur umfassenden Diskussion von Posas Charakter und Handlungen besonders Winfried Malsch: Moral und Politik in Schillers ›Don Karlos‹. In: Verantwortung und Utopie. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski. Stuttgart 1988, S. 207–235, ders.: Robespierre ad portas? Zur Deutungsgeschichte der ›Briefe über den Don Karlos‹ von Schiller. In: The Age of Goethe Today. Critical Reexamination and Literary Reflection. Hrsg. von Gertrud Bauer Pickar. München 1990, S. 69–103. Vgl. besonders zur Dialektik des beschriebenen Geschehens: Schings, Die Brüder des Marquis Posa, an dessen Argumentation sich auch Michael Hofmann, Bürgerliche Aufklärung anschließt. Guthke versteht Posa dagegen als Künstlerfigur: Karl S. Guthke: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen, Basel 1994, S. 133–164. Vgl. auch Paul Böckmann, Schillers ›Don Karlos‹, S. 33–47.

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Philipp, der sich als Mensch umworben glaubt, wird hier als König zu lenken versucht und damit genau im Gegensatz zur Posas philosophischer Negation des Utilitarismus’ instrumentalisiert. Während Posa mit dem Menschen und dem König redet und damit nach strategischem Belieben zwischen zwei Funktionszuweisungen oszillieren kann (d. h. bei Bedarf den »König« täuschen), fühlt sich der König intuitiv als Mensch angesprochen und missbraucht. Die Paradoxie von Posas Verhalten liegt folglich auch in der Zweideutigkeit der semi-öffentlichen und semi-privaten Situation begründet. In diesem Sinne meldet die Königin per se Bedenken an, ohne den »kühnen Plan« der Rebellion zu diskreditieren: »Kann die gute Sache schlimme Mittel adeln? / Kann sich – verzeihen Sie mir diesen Zweifel – / Ihr edler Stolz zu diesem Amte borgen? / Kaum glaub’ ich es –« (NA VI, 204). Insofern Posa das Königsamt, die damit verbundene Institution thematisiert, kann er behaupten, dass er den königlichen Ländern (die der »König« repräsentiert, also stellvertretend tatsächlich dem »König«) einen Dienst erweise. In seinem politischen Zugriff handelt es sich hierbei um eine logische Erweiterung, mit der er dem König – als Institution – zu dienen glaubt: »Auch ich nicht, wenn es hier / nur gelten soll, den König zu betrügen. / Doch das ist meine Meinung nicht. Ihm selbst / gedenk’ ich dießmal redlicher zu dienen, / als er mir aufgetragen hat.« (NA VI, 204) Nichtsdestoweniger integriert seine Auseinandersetzung mit dem König im Sinne der oben erwähnten Ambivalenz eine Ebene, die den König als Menschen anspricht – und sich dann dezidiert gegen Philipp (als Menschen) entscheidet.43 Der Betrug, den Posa mit höfischer Weltklugheit begeht,44 ist somit im Changieren der zwei Rollen des Königs nur aufgeschoben, bis er dann später als menschlicher Verrat festgeschrieben wird. Mit der genuinen Verletzung der menschlichen Würde des Königs45 sind die Weichen für das Scheitern gestellt, insofern Posas Zielsetzung in diesem Kontext 43

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Besonders deutlich wird dies in der Version von 1805, in der es heißt: »Den König geb’ ich auf. Was kann ich auch / Dem König seyn? – In diesem starren Boden / Blüht keine meiner Rosen mehr – Europa’s / Verhängniß reift in meinem großen Freunde! / Auf ihn verweis’ ich Spanien – Es blute / Bis dahin unter Philipps Hand! – Doch, weh’! / Weh’ mir und ihm, wenn ich bereuen sollte, / Vielleicht das Schlimmere gewählt! – Nein, nein! / Ich kenne meinen Karlos – das wird nie / Geschehn – und meine Bürginn, Königinn, / Sind Sie!« (NA VII.1, 585) Vgl. dazu Alt, Schiller, S. 452–457. Vgl. Müller, Die Aufhebung des bürgerlichen Trauerspiels, S. 230: »Sein Verrat vermag die Würde des Menschen Philipp zu verletzen: Der Hofstaat macht die unerhörte Erfahrung, daß der König geweint hat.«

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nachhaltig diskreditiert erscheint. In diesem Sinne hätte Posa sich also selbst einer signifikanten Regelverletzung schuldig gemacht, die sowohl gegen das Empathiegebot als auch gegen das Kantische Mittel-ZweckPostulat verstößt.46 Mit seinem konkreten Fehlverhalten beschädigt Posa in den Augen des Königs nicht nur sein eigenes Ansehen, sondern eben auch seinen Menschheitsglauben, zu dessen selbstevidenter Natürlichkeit sich der König hingezogen fühlte. Der menschlich gedemütigte König übergibt seinen Sohn der Inquisition nicht nur im Zeichen der höfischen Machterhaltung, sondern auch expressis verbis gegen Posas Lehren von Menschlichkeit und Natürlichkeit. Während es in der Erstausgabe noch heißt: »Ich gehe / in den Kampf mit der beleidigten Natur. Auch diesen Richterstuhl getrauen Sie / Sich zu bestechen?« (NA VI, 333), lautet die Passage in der Version von 1805 noch prägnanter: »Ich frevle / An der Natur – auch diese mächt’ge Stimme / Willst du zum Schweigen bringen?« (NA VII.1, 640) Der Großinquistor resümiert das Prinzip des Staates, dem Philipp vorsteht: »Vor dem Glauben / gilt keine Stimme der Natur.« (NA VI, 333)47 Mit dieser Ausmerzung ist Karlos Schicksal besiegelt und die vom König zuvor gefühlte und performativ verkörperte »Wahrheit« der Menschenrechte zurückgewiesen. Die höfische Maßnahme, die das Menschliche apodiktisch beschneidet, ist in dieser Situation mit Philipps tiefer Verletzung ostentativ menschlich motiviert. Auch Posas Beziehung zu Karlos erweist sich durch die Mittel-ZweckKorrelation bestimmt, wobei Mittel und Zweck hier aber zunächst – anders als in Posas Beziehung zum König – synergetisch zusammenfallen: »In meines Karlos Seele / schuf ich ein Paradies für Millionen.« (NA VI, 268) Die Fehlkalkulation, die Posa dazu zwingt, den König zu brüskieren, scheint auf den ersten Blick lediglich in der taktischen Entscheidung zu bestehen, Karlos über seine Pläne uninformiert zu lassen. Langfristig allerdings haben die taktischen Erwägungen genau jene Verwirrungen zur Folge, die schließlich in der Katastrophe kulminieren. Aus dieser Interferenz zwischen den verschiedenen Stoßrichtungen der »großen Tat« bezieht auch das Stück seine interne, an Paradoxie grenzende Spannung: 46

47

Die Vernunft fungiert als ein weiteres Modell, mit dem der Anspruch auf Menschenrechte überhaupt erst erklärt und gerechtfertigt wird; diese Auslegung wiederum stellt hier – mit Blick auf die angenommene vorgängige Gültigkeit – ein Komplement zum Empathiegebot dar. Als der König seine Degradierung zum Mittel erkennt, reagiert er zunächst pragmatisch, indem er seine verlorene Würde im Sinne einer unerbittlichen Auge-um-Auge-Maxime rächt: »Er brachte / der Menschheit, seinem Götzen, mich zum Opfer. / Die Menschheit büße mir für ihn!« (NA VI, 321)

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Menschenrechte, so scheint es, können nur gelten, wo Menschenrechte gelten,48 alles andere scheint in die beschriebenen Aporien zwischen Mittel und Zweck zu führen. Damit aber formuliert ›Don Karlos‹ in letzter Instanz keineswegs resigniert einen unauflöslichen Widerspruch, sondern vielmehr eine langfristige Marschrichtung, die bezeichnender Weise zurückführt in den innersten, nicht durch politische Zwecke kontaminierten Kreis der sozialen Nahwelt. Nur hier können die beschriebenen Werte ohne Spannung ausagiert werden, da im Rahmen der idealen, als natürlich insinuierten Intimität das Gesetz, das Ideal und der Gegenstand kongruent sind. Erst mit der Öffnung zur öffentlich-politischen Welt brechen die Typen auseinander und bezeichnen Optionen. Indirekt leitet sich daraus das Defizitäre der beschriebenen geschichtlichen Welt ab, deren grundsätzliche Sanierung – und mit diesen Fakten kollidiert Posa in seiner politisch-privaten Zwickmühle – nur in einem unkompromittierten Privaten seinen Ausgang nehmen kann. Insofern eigentlich alle Protagonisten mehr oder weniger ihre privaten Rollen verraten und ihrer jeweiligen Mission unterordnen (als Sohn, als Freund, als Ehefrau, als Vater), sind die Bemühungen Posas gerade dort zum Scheitern verurteilt, wo sie eigentlich beginnen sollten. Wie die nachhaltigen germanistischen Debatten um Posa (seine Legitimität und sein möglicher Bezug zu spezifischen Problemen der Französischen Revolution) zeigen, wirft Posas Verhalten grundsätzliche Fragen auf. Seine verschiedenen Wertigkeiten kreisen – wie schon Dieter Borchmeyer hervorgehoben hat – um zwei Ethikansätze, die Max Weber mit Verantwortungsethik und Gesinnungsethik umschrieben hat.49 Das Stück belässt es dabei aber keineswegs bei einer performativ vorgeführten Notwendigkeit einer Priorisierung der Gesinnungsethik, sondern stellt dieses individuelle Verhalten in den Kontext der Menschenrechtsdiskurse, die hier im Kontext bürgerlicher Tugenden beschrieben und spezifiziert werden. Der Ort also, an dem die unabdingbare, selbstevidente Tugend ihren Platz hat und ohne Kompromisse ausgeübt werden kann, scheint hier ex negativo die direkte soziale Umgebung zu sein: Familie, Geliebte, Freunde. 48

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Zu dieser spezifischen Paradoxie als »Setzung« vgl. Friedrich A. Kittler: Karlos als Karlsschüler. Ein Familiengemälde in einem fürstlichen Haus. In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hrsg. von Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 241–273. Vgl. zur historischen Kontextualisierung, die hier – auch gerade in ihrer Bedeutung für die im Stück thematisierten politischen Ziele Posas – relevant ist: Ernst Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Friedrich Schillers ›Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹. In: Schiller als Historiker. Hrsg. von Otto Dann. Stuttgart 1995, S. 157–178.

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In der Vermischung mit der öffentlichen Sphäre scheint auch der ideale Impuls zwangsläufig verunreinigt zu werden. Das zeigt paradigmatisch die ins Öffentliche transponierte und damit ad absurdum geführte Familienstruktur, die unter anderem zu den Verwicklungen des Dramas beiträgt. Außerdem muss dieser Befund auf die Theorie der Menschenrechte und ihre Genese zurückbezogen werden, weil die spezifische Tugend, die Posa hier – mit Blick auf Größeres – kompromittiert, eine dezidiert antihöfische,50 bürgerliche ist; das Bürgerliche wird dabei – ganz im Tenor der Zeit – mit dem Natürlichen gleichgesetzt und dadurch umfassend legitimiert.51 Offensichtlich erscheint – noch im Vorfeld ihrer umfassenden Politisierung – Tugend und das damit verbundene Selbstverständnis als privat generiert und privat legitimiert. Die Intimsphäre ist der Ort, an dem Menschlichkeit installiert wird und unverbrüchlich gelten muss bzw. – ohne Eingriffe aus der Sphäre der Öffentlichkeit – gelten kann. Das entspricht durchaus dem komplexen Lösungsmodell im Sinne der ›Ästhetischen Briefe‹. Der Fokus liegt zunächst auf dem Einzelnen und dann erst auf einer aus Einzelnen generierten Gemeinschaft. Erst aus dieser individuellen Menschlichkeit lassen sich menschenrechtliche Ansprüche (im Sinne ihrer Unantastbarkeit) ableiten. Die duale Struktur des ›Don Karlos‹ ist tatsächlich entscheidend, die, wie Schiller beiläufig anmerkte, der eines »Familiengemähldes« gleicht. Insofern sich die dramatischen Verwicklungen aus dem Changieren der öffentlichen und privaten Ebene ergeben, wird die höfisch defizitäre Fa50

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Insgesamt entspricht dies einer Adelskritik, die verstärkt in der Literatur verhandelt wird, insbesondere etwa auch im Trivialroman, vgl. dazu Manuel Frey: »Offene Gesellschaft« und »gemeinsame Klasse«. Adel und Adelskritik im bürgerlichen Trivialroman zwischen 1780 und 1815. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44/6 (1996), S. 502–525. In diesem Kontext ist auch Schillers Auseinandersetzung mit dem Einwand »gegen die Natürlichkeit dieses Charakters [Posa]« zu deuten, den er so versteht, dass »in Philipps des Zweiten Jahrhundert kein Mensch so wie Posa gedacht haben konnte« (NA XXII, 140). Schiller antwortet darauf in seinen ›Briefen über den Don Karlos‹: »Nach dem Beispiel aller großen Köpfe entsteht er zwischen Finsternis und Licht, eine hervorragende isolierte Erscheinung. Der Zeitpunkt, wo er sich bildet, ist allgemeine Gärung der Köpfe, Kampf der Vorurteile mit der Vernunft, Anarchie der Meinungen, Morgendämmerung der Wahrheit – von jeher die Geburtsstunde außerordentlicher Menschen. Die Ideen von Freiheit und Menschenadel, die ein glücklicher Zufall, vielleicht eine günstige Erziehung in diese rein organisierte empfängliche Seele warf, machen sie durch ihre Neuheit erstaunen und würken mit aller Kraft des Ungewohnten und Überraschenden auf sie; selbst das Geheimnis, unter welchem sie ihr wahrscheinlich mitgeteilt wurden, mußte die Stärke ihres Eindrucks erhöhen.« (NA XXII, 140) Schiller arbeitet an dieser Stelle sowohl das Historische als auch das Überhistorische heraus: Die Formulierung »Morgendämmerung der Wahrheit« lässt jedoch keinen Zweifel an der »Natürlichkeit« und Authentizität der vertretenen Ideale.

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milie zum Gegenbild, aus dessen Verzerrungen jenes Idealbild der gelingenden Kommunikation und Anerkennung als Postulat ablesbar wird. In den Koordinaten des Höfischen wird auch die intime Liebesgeschichte zwischen Karlos und der Königin umgeschrieben. Die (von Schiller durch einen unhistorischen, massiven Altersunterschied drastischer als in der historischen Realität gestaltete) dynastische Konvenienzehe zwischen König und Königin transformiert die genuine Liebe zwischen dem Prinzen und seiner ehemaligen Verlobten in eine inzestuöse Beziehung. Erst durch diese Verschiebung vom Privaten zum Öffentlichen wird Karlos Begehren zu einem illegalen.52 Die Korrektur dieses nunmehr faktisch verständlichen, aber fehlgeleiteten Begehrens besteht in der Neuausrichtung von Karlos’ Leidenschaften auf die ›Liebe‹ zu den Niederlanden und Spanien, so dass sich die politisch-philosophische Konzeption direkt aus der privaten Liebeserfahrung ableitet. Diese Transformation kann nun verschieden gedeutet werden: Michael Hofmann spricht von einer »›unnatürlichen‹ Unterdrückung von Gefühl und Spontaneität«.53 Die Liebe, so seine Argumentation, werde nicht als Selbstzweck verstanden, sondern »vielmehr im Dienste eines allgemeinen Menschheitsideals instrumentalisiert.«54 Schillers ›Don Karlos‹ allerdings scheint dagegen gerade die sublimierte Qualität der Beziehung im Sinne einer ›natürlichen‹ Ausgangslage stark zu machen. Deswegen stellt sich im Kontext der oben erwähnten Diskussion, aber auch mit Blick auf die Rhetorik des Stückes selbst die Frage, inwiefern genau dieses Postulat der Natürlichkeit, das Posa auf die Rechte der Menschen anwendet, nicht letztlich von den Beziehungen im Stück entwertet wird. Was versteht das Stück unter den in den Dialogen über die Freiheit in den Niederlanden aufgerufenen, natürlichen Rechten, wenn es gleichzeitig (quasi als Voraussetzung) die natürlichen Gefühle zwischen Karlos und der Königin kastriert? Diese Liebe zwischen beiden firmiert im Text (neben der Freundschaft zwischen Karlos und Posa) offensichtlich als »natürliches« Gefühl, das aber – so die Logik des Stückes – hinter dem politischen Unterfangen zurücktreten muss. Die Entsagung ist in der Tat einer disziplinierenden (gleichzeitig natürlich auch politisch emanzipierenden) Ideologie anhängig, allerdings einer, die im Stück nachhaltig als natürlich propagiert und expliziert wird. 52

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Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Zweyter Theil, Erster Titel, § 5. »Stief- oder Schwieger-Aeltern dürfen sich mit ihren Stief- oder Schwieger-Kindern ohne Unterschied des Grades, nicht verheirathen.« Hofmann, Bürgerliche Aufklärung, S. 103. Hofmann, Bürgerliche Aufklärung, S. 103–104.

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Damit gewinnt die immer wieder beschworene Natürlichkeit, die im Kontext der Menschenrechte postuliert wird, eine deutlich andere Qualität. Was hier evoziert wird, ist das bürgerliche Verständnis von kulturellen Beziehungen, die in ihrer bürgerlichen Sublimierung als »ursprünglich« oder vielmehr als in ihrer Ursprünglichkeit restituiert begriffen werden. Indem diese »Natürlichkeit« aber zugleich als eine zu kultivierende verstanden wird, zielt diese kulturelle Arbeit auf die Herausarbeitung des »Eigentlichen« und »Natürlichen«, das es wiederzugewinnen gilt. Wie schon ein Blick auf die »natürlichen«, familiären Verbindungen erweist, sind es die Blutsbande in ›Don Karlos‹, die sich als repressiv und destruktiv erweisen: die Verbindung von Vater und Königin, die Beziehung von Vater und Sohn. Die historische Deformation verlangt eine Revision, wobei das natürliche Band wiederum nur durch kulturelle Arbeit zum »natürlichen« (d. h. im Sinne der vom Text formulierten Utopien) avancieren kann. Die Freundschaft wird als ein »edler Band als die Natur es schmiedet« (NA VI, 302) verstanden. Im Einklang mit der wiederholten Metaphorik, die sich auf den Menschenadel bezieht, bewährt sich hier das »Edle« als Selbstevidentes und Natürliches. Genauer formuliert müsste dieser Passus also heißen: Die Freundschaft rangiert als ein »natürlicheres« Band, als es die Natur schmieden könnte – es ist die Natürlichkeit auf einem kulturell sublimierten Niveau, die es in den Zeiten der Krise zurückzuerobern gilt, ganz im Sinne eines triadischen Geschichtsbildes. Ihre Authentizität und Selbstevidenz bezieht sie wiederum aus der unterstellten Natürlichkeit des Sublimierten. Das wird in der Unterscheidung von angelernter und »natürlicher« ›Tugend‹ expressis verbis eingeführt, die Posa besonders eindringlich formuliert, wenn er Ebolis Lüsternheit und Initiative gegen das einwandfreie Betragen der Königin abgrenzt: Eboli sei, so Posa, nur tugendhaft aus Eigennutz der Liebe – Diese Tugend, / ich fürchte sehr, ich kenne sie – wie wenig / reicht sie empor zu jenem Ideale, / das aus der Seele mütterlichem Boden, / in stolzer, schöner Grazie empfangen, / freiwillig sproßt und ohne Gärtners Hülfe / verschwenderische Blüten treibt! Es ist / ein fremder Zweig, mit nachgeahmtem Süd / in einem rauhern Himmelsstrich getrieben; / Erziehung, Grundsatz, nenn’ es, wie du willst, / e r wo r b n e U n s c h u l d , dem erhitzten Blut / durch List und durch manchen zweifelhaften Kampf und kriechende Verträge abgerungen, / dem Himmel, der sie fodert und bezahlt, / gewissenhaft, sorgfältig angeschrieben. / […] Wird sie der Königinn / es je vergeben können, daß ein Mann / an ihrer eignen, schwer erkämpften Tugend / vorüberging, sich für Don Philipps Frau / in hoffnungslosen Flammen zu verzehren? (NA VI, 142; Hervorhebung von Schiller)

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In der Beschreibung der Tugend der Königin Elisabeth klingen die oben erwähnten Attribute an, die auch für das Ideal der Menschenrechte entscheidend wurden; die Entsagung der Königin ist in diesem Sinne als wahrhaftiger Liebesbeweis zu deuten: »Die Fürstinn / blieb standhaft, weil sie liebte; Liebe war / in ihre Tugend wörtlich einbedungen.« (NA VI, 143) Vice versa muss von Karlos das gleiche Tugendopfer erwartet werden, gerade wenn seine Liebe – bereits im modernen Sinne mit physisch-psychischer Sehnsucht vermengt – als echt und »natürlich« im obigen Sinne verstanden werden soll. So führt es Posa beim hartnäckigen Insistieren des Infanten aus: O, wie schlecht hab’ ich / bis jetzt auf deine Liebe mich verstanden! […] Ja, einst, / einst war’s ganz anders. Da warst du so reich, / so warm, so reich! ein ganzer Weltkreis hatte / in deinem weiten Busen Raum. Das alles / ist nun dahin, von einer Leidenschaft, / von einem kleinen Eigennutz verschlungen. / Dein Herz ist ausgestorben. Keine Thräne, / dem ungeheuern Schicksal der Provinzen / nicht einmal eine Thräne mehr – O Karl, / wie arm bist du, wie bettelarm geworden, / seitdem du niemand liebst als dich! (NA VI, 146)

In diesem Sinne muss die Liebe in einen sozialen Auftrag kanalisiert werden, ein Übergang, der als natürliche Überschreibung auf einen größeren Kontext verstanden wird. Dass Karlos seine Leidenschaft sublimieren und einem ähnlich würdigen Gegenstand zuwenden muss, ergibt sich insbesondere aus der (fraglos im Horizont der ihrerseits konventionellen Geschlechtscharaktere zu begreifenden) unhintergehbaren Tugend der Königin. Dabei handelt es sich um keine Instrumentalisierung, sondern vielmehr um einen gemeinsamen Zweck, der nur als Selbstzweck funktionieren kann. Insofern Außen und Innen von den gleichen originären Bedürfnissen nach Freiheit und Gleichheit55 geprägt sind, kann die Liebe gleichzeitig auf »Spanien« übertragen werden: »Die Liebe ist Ihr großes Amt. Bis jetzt / verirrte sie zur Mutter. – Bringen Sie, / o, bringen Sie sie Ihren künft’gen Reichen / und fühlen Sie, statt Dolchen des Gewissens, / die Wollust Gott zu sein. Elisabeth / war Ihre erste Liebe. Ihre zwote / sei Spanien!« (NA VI, 49) Die unnatürliche, da dynastische Heirat generiert jene unnatürlichen Konsequenzen. Das Verhalten der beiden Liebenden dagegen wird wie55

Vgl. dazu auch Borchmeyer, Tragödie und Öffentlichkeit, S. 88–89: »Nicht darum geht es also ausschließlich, den privaten Bezirk als Residuum reiner und höherer Menschlichkeit gegen die große Welt auszuspielen, sondern von ihm her das Bild eines besseren Gemeinwesens zu entwerfen.«

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derum in letzter Instanz als (soweit es die Umstände erlauben) »natürliche« Reaktion im Sinne der bürgerlichen Tugendvorgaben vorgeführt. Die Aufspaltung von höfischer Öffentlichkeit und Privatheit kreiert als Ausgangspunkt die Probleme, an denen die Protagonisten scheitern: Darin liegt aber auch zugleich das Potential der Heilung.56 Indem die Menschenrechte in ›Don Karlos‹ auf ihre Genese in der sozialen Nahwelt zurückgeführt, ja mehr noch, ex negativo von der gelingenden Interaktion mit Familie und Freunden abhängig gemacht werden, verdeutlicht der kulturell-naturalisierte Tugendbegriff, der die Wahrheit und Selbstevidenz des Eingeforderten verbürgt, noch einmal das Konstruktive der Rahmenbedingungen in der Menschenrechtskonzeption. In der scheinbaren Universalität naturrechtlicher Ansprüche verbergen sich zahllose kulturell produzierte Vorstellungen, die in ihrer Anspruchshaltung notwendiger Weise politisch werden müssen. Schiller zeigt, dass das nach bürgerlichen Tugendkonzepten entworfene Private das Modell liefern kann, nach dem sich auch die politische Welt im Sinne einer kulturell installierten, authentischen Natürlichkeit reorganisieren muss. ›Don Karlos‹ ist in besonderer Weise einschlägig für die Beziehung von Privatheit und Öffentlichkeit; das Drama etabliert eine Hierarchie, bei der die private Welt in exemplarischer Weise moralische Gesetze beherzigen kann (deren Axiomatik sie natürlich historisch betrachtet auch mitgeneriert), die zunächst in der Opposition gegen die höfischen Werte formuliert bzw. als authentisch eingeführt werden. In diesem Sinne ist auch die besondere kulturelle Einlösung einer scheinbar authentischen Natürlichkeit entscheidend mit Blick auf das Vater-Sohn-Verhältnis, das in seiner Entfremdung mehrfach als »unnatürlich« ausgewiesen wird. Ex negativo wird in ›Don Karlos‹ auch das pervertierte Vater-Sohn-Verhältnis zur Ursache für das vorübergehende Scheitern aller weiterreichenden Ansprüche. Wenn damit vice versa, wie oben ausgeführt, der Aktionsbereich wiederum zurückgeführt wird auf diese zentralen Beziehungen (zu Vater, 56

Auch wenn in ›Don Karlos‹ vor allem auf die korrumpierenden Umstände der höfischen Welt abgehoben wird und damit letztlich jedes Bemühen, diese aktiv zu ändern, mit dem tragischen Scheitern der Protagonisten zurückgewiesen wird, bleiben doch ihre eigentlichen Werte als moralischer Maßstab in Kraft. Insbesondere die Zuwiderhandlungen gegen die private Ethik und gegen individuelle Aufrichtigkeit rächen sich in diesem Sinne unverzüglich. Die implizite Kritik geht also deutlich gegen die Umstände der Zeit; dies wird Schiller später in den ›Ästhetischen Briefen‹ präzise als moderne Form der Entfremdung fassen. Hier ist es die repressive höfische Welt, die nochmals als Popanz stilisiert und – trotz ihrer Prävalenz im Stück (aber dann letzten Endes nicht im Verlauf der Weltgeschichte) – grundlegend sabotiert wird. Denn die »Legitimität« ist ganz auf Seiten des neuen Verständnisses des Individuums und seiner sakrosankten Rechte.

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»Mutter« und Freund), so meint dies keine Einfriedung im Privaten, sondern die ultimative Ermächtigung, die in den scheinbar individuellen Beziehungen eingelassen ist. Nur im Individuellen wird das Universale greifbar. Der öffentliche Vater in ›Don Karlos‹ scheitert – weil er seine Menschlichkeit unterdrückt. Die Macht des »Privaten« (als natürlicher Wertegemeinschaft) scheint hier ad hoc und vor allem auch langfristig – ganz im Sinne der poetologischen Gerechtigkeit – unabweisbar. Diese Ergebnisse gelten für die Familie als ethischen Binnenraum insgesamt; die Vaterfigur allerdings erweist sich in ihrer Rollendualität als wichtiger Knotenpunkt, an dem private Aspekte als unmittelbar applizierbar auf die politische Realität verstanden werden. Diese Zuspitzung ist für Schiller, aber auch für die Re-Akzentuierungen, die sich in den Diskurs (bzw. in die literarischen Konterdiskurse) und damit auch in das Archiv des Oszillationssymbol »Vaters« einschreiben, zentral: Die von Schiller vorausgesetzte Analogisierung zweier Sphären im Rekurs auf ein natürliches Werte-Set hat zugleich eine nachhaltige Politisierung des Privaten bzw. Privatisierung des Politischen zur Folge, die primär über den König/ Vater vermittelt ist.

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IV. Übergänge: Revolution und Brüderlichkeit

Die Französische Revolution knüpft nicht nur an die eben beschriebenen diskursiven Entwicklungen an, wie Lynn Hunt mit Blick auf Frankreich zeigt, sondern beeinflusst natürlich zudem auch die Wahrnehmung und Wertung von Vaterschaft in Deutschland. Auffällig ist in beiden Ländern, dass sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine regelrechte Welle an Väter-Literatur findet, in welcher der Topos »guter Vater« profiliert wird.1 Jeffrey Merrick zeigt dabei für das 18. Jahrhundert, wie ein Rekurs auf Vatermodelle im Parlamentsdiskurs greifbar wird.2 Diese Ergebnisse verdeutlichen, wie sehr die Konzeption von Vaterschaft zu einer Schnittstellengröße wird, die sowohl in der öffentlichen wie auch in der privaten Sphäre symbolische Bedeutung gewinnt. Lynn Hunt versucht in ihrer Studie ›The Family Romance of the French Revolution‹ zu zeigen, dass im kollektiven Unbewussten politische Konstellationen und die Deutungen familialer Strukturen (im Sinne des Freudschen Familienromans) miteinander korrespondieren. Obwohl Lynn Hunt auf diese Weise einen mit meinem Ansatz vergleichbaren Fokus etabliert, indem sie danach fragt, wie literarische Präfigurationen die symbolische Ordnung der Realität mit formieren, erweisen sich ihre konkreten Überlegungen nicht immer als anschlussfähig. Ihre These, »that the novel as it developed in eighteenth-century France was inherently antipatriarchal«,3 lässt sich weder auf die hier vorliegenden Texte übertragen, noch ist sie in dieser allgemeinen Formulierung auf die französische Lite1

2 3

Vgl. zu Frankreich Romuald Szramkiewictz: La Révolution française et la famille. Paris 1978; Ariès, Geschichte der Kindheit sowie den Sammelband: Histoires des pères et de la paternité. Hrsg. von Jean Delumeau, Daniel Roche. Paris 1987. Jeffrey Merrick: Patriarchalism and Constitutionalism in Eighteenth-Century Parlamentary Discourse. In: Studies in Eighteenth-Century Culture 20 (1990), S. 317–330. Hunt, Family Romance, S. 28. Vgl. in diesem Sinne auch Dieter Thomä: Statt einer Einleitung. Stationen einer Geschichte der Vaterlosigkeit von 1700 bis heute. In: Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Hrsg. von Dieter Thomä. Frankfurt am Main 2010, S. 11–64. Thomä geht von einem Phänomen der Vaterlosigkeit seit Shaftesbury aus, wobei er eine Asymmetrie zwischen dem »mühsame[n] Siegeszug der Demokratie« und einem »nichtpatriarchalischen Familienleben[ ]« (Ebd., S, 15) hinweist. Vgl. (davon abweichend) meine folgende Argumentation.

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ratur des 18. Jahrhundert anwendbar.4 Trotzdem erscheinen Hunts Überlegungen zu den Erklärungs- und Rechtfertigungsstrukturen im Vor- und Umfeld der Französischen Revolution gerade in ihrer Rückbindung auf familiale Kategorien hilfreich, weil sie implizieren, dass die symbolische Vorbereitung/Legitimation/Verarbeitung des politischen Umbruchs in Frankreich im Rekurs auf die soziale Nahwelt Familie erfolgt. Die Konzeption des »guten Vaters«, die nach Lynn Hunt seiner diskursiven Eliminierung in Frankreich vorangeht (und damit eine der Voraussetzungen für die anti-patriarchalischen Tendenzen der Revolution darstellt),5 wird im Kontext meiner Arbeit als ein langlebiges Anspruchsmodell verstanden, das gleichzeitig affirmativ (mit Blick auf patriarchalische Strukturen, die Kontinuität suggerieren) und kritisch (in seiner Abgrenzung zu »unbürgerlichen« Vätern) verfahren kann. Die individuellen Väter können in der fiktiven Realität schwach, heldenhaft, zärtlich und hart sein – ihre Bewertung erfolgt aber unvermeidlicherweise im Kontext einer differenzierten bürgerlichen Ideologie. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass ein schwacher, ein moralisch fehlgeleiteter oder ein allzu strenger Vater nicht das väterliche Prinzip generell antastet, sondern im Grunde eine bürgerliche Paternalität als Wertmaßstab affirmiert.6 Diese Axiologie ist besonders gut erkennbar in Schillers ›Kabale und Liebe‹.

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»Rather than what Hunt reads as play with the notion of a world devoid of fathers, the overwhelming evidence in the texts and depiction of a reworking of the myth of the father to me suggests an inner stress in the effort to preserve its now embattled supremacy, embattled primarily because of its own paternal practices. This is the spirit in which I view liberalizing tendencies like those we see in the fathers of Diderot’s plays (who virtually usurp a nurturant maternal role).« Madelyn Gutwirth: Sacred Father; Profane Sons. Lynn Hunt’s French Revolution. In: French Historical Studies 19/2 (1995), S. 261–276, hier S. 266. Gutwirth hebt aus ihrer literaturwissenschaftlichen Perspektive ähnliche Phänomene für Frankreich hervor, wie sie hier für deutsche Autoren nachgezeichnet werden. Vgl. auch Gutwirths Ausführungen über verschiedene, klassenbedingte Strömungen in der französischen Literatur. Vgl. auch Susan Dunn: The Deaths of Louis XVI. Regicide and the French Political Imagination. Princeton 1994. Dunn versteht den Tod des Königs als unbewusstes Opfer an die Republik, wie es auch mit Girard sehr gut erklärt werden könnte. Einschlägig mit Blick auf diese Wertelogik ist auch eine Erzählung von Jean-François Marmontel mit dem Titel ›L’Erreur d’un bon Père‹ aus den zwischen 1790 und 1792 publizierten ›Noveaux contes moreaux‹, in denen ein Vater seinen Sohn durch eine zu starke Involvierung ins Geschäftsleben entfremdet; diese Entfremdung kann (durch einen kühnen Plotverlauf) schließlich aufgehoben werden. Der potentiell gute Vater nutzt die Gelegenheit und gewinnt den Sohn durch Liebe und Aufmerksamkeit zurück. Vgl. dazu auch Hunt, Family Romance, S. 48. Die Kritik am Vater ist möglich im Sinne eines bestimmten Deutungsmusters, der gute Vater als theoretisches Konzept erweist sich dabei auch in Frankreich als ein beharrliches.

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Der Sturz der Monarchie in Frankreich und die Hinrichtung des Königs7 werden auch von deutschen Autoren unter verschiedenen Vorzeichen diskursiv prozessiert; exemplarisch kann hier auf die Dramen des hessischen Offiziers Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buri verwiesen werden, der 1790 den Sturm auf die Bastille noch feierte, auf die Enthauptung des Königs aber mit einem »bürgerlichen Trauerspiel«/Märtyrerdrama reagiert. Nicht nur wird der französische König in ›Ludwig Capet‹ moralisch von allen Regierungsfehlern freigesprochen, die durch Intrigen und Sachzwänge erklärt werden;8 um Sympathie mit dem royalen Opfer wird vor allem auch auf der Basis seiner zärtlichen Paternalität und christlichen Grundeinstellung geworben. Das Drama feiert Ludwig Capet also als bürgerlichen Vater im Zeichen einer quasi privaten Tugendideologie (nämlich abseits der Staatsgeschäfte und doch mit ihnen verbunden), so dass sich die Gattungsbeschreibung im Paratext, nämlich »Bürgerliches Trauerspiel« als durchaus treffend erweist.9 Buris Stück steht im Kontext verschiedener, hier relevanter Diskurse, die bei ihm ostentativ umgewidmet werden. So quittiert der Graf de la Tour (eine wiederkehrende Figur in Buris Werk) die Begrüßung seines Dieners, der ihn als »Gnädiger Herr« anredet, mit der ironischen Frage: »Darfst du mich noch so nennen, seitdem die Gleichheit der Stände in diesem Lande ein7

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Das Regizid wirft eine Vielzahl an diskursiven Problemen auf (vgl. dazu Albrecht Koschorke: Der Körper der Republik. In: Der fiktive Staat, vor allem S. 219–233. Friedrich Balke: Wie man einen König tötet oder: Majesty in Misery. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75 (2001), S. 657–679). Hier geht es vor allem um den König als »Vater« und um die Frage, ob diese pater patriae-Konstruktion per se durch die Ereignisse in Frankreich widerlegt wird. Dies scheint trotz der Verschiebungen in der Repräsentationssymbolik unwahrscheinlich (vgl. dazu auch u. a. Lynn Hunts Kapitel: Band of Brothers. In: Family Romance, S. 53–88, aber auch Koschorke, Der Körper der Republik, S. 227–233), zumal trotz allem zunächst versucht wurde, den König als Vater der Republik zu integrieren (Hunt, Family Romance, S. 44). Buri weist im Übrigen genau diese Implikation mit der Darstellung des guten bürgerlichen Vaters Ludwig in seinem Stück ›Ludwig Capet‹ zurück. »Verzeiht mir, Unglückliche, denen ich die Gatten, Kinder, denen ich die Väter, Väter, denen ich die Söhne aus den Armen riß, und sie dem Staate – oder (bewegt) der Kabale opferte. Ach – ich war entweder gezwungen oder hintergangen, glaubte ich beyden Fällen meine Pflicht zu erfüllen war vielleicht in eben dem Augenblick ein Tyrann, wo ich ein gerechter Statthalter des Königs der Könige zu seyn glaubte? – Unglückliche! ich fühle, was ihr fühltet – ich büße, vergebt mir!« Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buri: Ludwig Capet oder der Königsmord. Ein bürgerliches Trauerspiel in vier Aufzügen. Neuwied 1793, S. 51. Dies gilt, auch wenn der König als bürgerlicher Held zunächst als contradictio in adjecto erscheint. Vgl. dazu auch Albert Meier, der auf die enge Verbindung, aber auch die Unterschiede zu Lessing verweist und Buris Dramen im historischen Kontext verortet, Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1993, S. 356–368.

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geführt ist?«,10 worauf der Diener geflissentlich antwortet: »Ich würde für Gram dahinsterben, wenn ich meinen Wohlthäter nicht mehr als meinen Herrn ehren dürfte. Wenn das Freyheit seyn soll, so wollt ich lieber als ein alter Sklave sterben.«11 Die ständische Hierarchie wird hier – unter revolutionskritischen Vorzeichen12 – durch eine meritorische ersetzt. Nicht nur Ludwig Capet, sondern auch der Graf sind Musterbeispiele bürgerlichen Tugendverhaltens. Dem Vater Ludwig gegenüber, der die ehemals auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe zum Volk13 ausdauernd proklamiert,14 erscheinen die »Tyrannen«15, die ihn inhaftierten, dementsprechend als suspekt. Das Skandalös-Illegitime der humanen Überschreitung, die Buri ausstellt, wird hier gerade anhand der Tötung einer bürgerlichen Vaterfigur16 deutlich. De la Tour beschreibt sein Ziel folgendermaßen: den »besten König […] zum Vater einer freyen, glücklichen Nation zu machen, der er so gerne seyn wollte.«17 Genau diese Proklamation scheint die Hinrichtung des Königs als besonders perfide Verschwörung auszuweisen, weil sie – dies macht Buri umständlich deutlich – als Exekution eines guten Vaters vollzogen wird.18 10

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Buri gelingt es in nicht eben subtiler Form, den Kontrast zwischen Deutschland und Frankreich zu skizzieren, indem er eine der Hauptidentitfikationsfiguren, eben den Grafen, aus Deutschland zurückkehren lässt, wo er statt der französischen »Zügellosigkeit« an »ländliche Sittsamkeit« gewöhnt wurde. Vgl. Buri, Ludwig Capet, S. 29. Buri, Ludwig Capet, S. 16. Vgl. auch ebd., S. 94. Diese Vorzeichen beziehen sich allerdings weniger auf die Abschaffung der Monarchie, sondern vielmehr auf die Blutschuld des Königsmords. So wird zumindest bei Buri deutlich, dass auch ein republikanisches Frankreich für die europäischen Mächte akzeptabel gewesen wäre, vgl. Buri, Ludwig Capet, S. 97. Der Vater-Mythos wird hier sehr bewusst kohärent inszeniert, indem das Volk durchgehend als manipuliert, instrumentalisiert und fehlgeleitet erscheint. Nation, Volk und Mob scheinen hier unterschiedlich kodiert, wobei das Volk das konkrete, emotionale Gegenüber für den König darstellt. Die Kommunikation zwischen diesen beiden Partnern wurde laut Buri durch falsche Repräsentationen verzerrt und unterbrochen. Buri, Ludwig Capet, S. 48. Buri, Ludwig Capet, S. 44. Der König – gefestigt durch den christlichen Glauben – sorgt sich hauptsächlich um die zärtlich geliebte Frau und seine Kinder. Buri, Ludwig Capet, S. 17. Vgl. dazu auch François-Auguste-Marie-Alexis Mignet: Histoire de la révolution française, depuis 1789 jusqu’en 1814. Stuttgart 1838, S. 113–114. In Mignets Buch wird ein Dialog wiedergegeben, in dem sich der König bezeichnenderweise als Vater, Bruder und Freund des Volkes bezeichnet und dann konsequent (vollkommen analog zu Buris Zugriff) zum Bürgerkönig erhoben wird. »Elle ne saurait être mieux, répondit-il, qu’entre les mains de mes chers Bretons; je n’ai jamais douté de leur tendresse et de leur fidélité; assurez-les que je suis le père, le frère, l’ami de tous les Français. ›Sire, ajouta le député, tons les Français vous chéurinent et vous chériront, parce que vous êtes un roi citoyen.‹« (Hervorhebung von C.N.)

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In Frankreich geht der Exekution Ludwigs XVI. eine zunehmend radikale öffentliche Degradation der Königsfamilie in Karikaturen voran.19 Nach Lynn Hunt dokumentieren diese Karikaturen die enttäuschte Hoffnung auf den König als guten Vater, »we see […] the father now being rejected«.20 Präzisierend könnte man argumentieren, dass nicht die Vorstellung des »guten Vaters« hier negiert, sondern vor allem Ludwig XVI. als guter Vater unterminiert wird. Indirekt lässt sich eher eine Beständigkeit des Vater-Modells erkennen, anhand dessen auch der König moralisch gerichtet werden kann: In the late 1791 and 1792, the flood of caricatures denigrating the king and the royal family overwhelmed those depicting the good father. […] In the view of the royalist critic, such engravings did nothing less than prepare the way for the destruction of kingship and political fatherhood, for the murder of the father with ›a parricidal sword‹.21

Das »vatermordende Schwert«, auf das sich Hunt hier bezieht, entstammt einem Zitat von einem royalistischen Kritiker, der sich von der Flut herabsetzender Karikaturen abgrenzte,22 die mit ihren visuellen Beleidigungen den Königsmord antizipieren. Die Grausamkeit der Karikaturisten soll damit rhetorisch ultimativ angeprangert und als das entlarvt werden, was in einem bürgerlichen Wertemodell als unvorstellbare Transgression gilt: als Beihilfe zum Vatermord. Wenn also die Karikaturisten alles tun, um die royale Familie jeder Moral und Würde zu berauben,23 versuchen die Royalisten wiederum, diese Attacken moralisch zu diskreditieren, indem sie den König als Vater entwerfen. Das moderne bürgerliche Vaterbild speist letztlich beide Strategien. Ludwigs Hinrichtung als »guter Vater« ist in diesem Sinne undenkbar; gerichtet aber wird er letztlich dennoch im Rekurs auf das bürgerliche Vater-Konzept, insofern man ihm ein davon eklatant abweichendes Verhalten nachzuweisen versucht.24 19 20 21 22 23 24

Annie Duprat: La dégradation de l’image royale dans la caricature révolutionnaire. In: Les images de la Révolution français. Hrsg. von Michel Vovelle. Paris 1988, S. 167–176. Hunt, Family Romance, S. 49. Hunt, Family Romance, S. 51–52. Vgl. Boyer de Nîmes: Histoire de caricatures de la révolte des Français. Bd. 1. Paris 1792, S. 87 sowie Hunt, Family Romance, S. 51. Der bekannte, an Marie-Antoinette gerichtete Inzestvorwurf wäre dafür ein prominentes Beispiel. Burkes differierende Haltung gegenüber der Amerikanischen bzw. Französischen Revolution ist ebenfalls in diesem Wertungskontext zu verorten, wie es etwa Peter Fritzsche resümiert: »Während Frankreich das Verbrechen der Söhne darin bestand, die Väter und mit ihnen auch Tradition, Erbe und Geschichte abzulehnen [Fritzsche führt dies im übrigen auf Lockes Priorisierung von Erfahrung und Reflexion sowie Rousseaus Verurtei-

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Von diesem weiterhin gültigen Modell des »guten Vaters« muss allerdings die postrevolutionär konsequente Scheu unterschieden werden, auf Paternalität als Repräsentationsmodus zurückzugreifen, da sie mit der (im Schlachtruf »liberté, egalité, fraternité« bereits prominent plazierten) postulierten Gleichheit nicht mehr synchronisiert werden kann.25 Auch wenn im Folgenden die Kraft der paternalen Repräsentation26 im überwiegend nicht-revolutionären Deutschland erhalten bleibt, illuminieren die französischen Befindlichkeiten grundsätzliche Paradoxe in der mehrfach (als Verkörperungs- und Regierungsfunktion) kodierten väterlichen (Vor-)Herrschaft, die ja selbst zwischen Ermöglichungs- und Repressionsfunktion changiert. Nur ein verstärkter Rekurs auf emotionale Eltern-Kind-Beziehungen und Geschlechtscharaktere27 kann diese Schieflage dann über das moderne Familienmodell auflösen.28 Ging es oben vor allem um die moralisch implementierte (fehlende) Legitimation bzw. Rechtfertigung des Königs als Vater, so geht es jetzt um die repräsentative Dimension von Herrschaft.29 Diese Form der Repräsen-

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lung der Gesellschaft als einer Verfälschung der Natur zurück], lag das Verbrechen im Fall der Vereinigten Staaten bei den Vätern, deren Tyrannei und Bruch der Verfassungsmäßigkeit der Revolte Legitimität verschaffte, die die Söhne im Namen der gebrochenen Ideale des Gewohnheitsrechts anzettelten.« Peter Fritzsche: Väter, Waisenkinder, Onkel. Der Vaterverlust und die Grundlagen der Moderne. In: Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Hrsg. von Dieter Thomä. Frankfurt am Main 2010, S. 84–95, hier S. 85–86. Vgl. auch Teile von Fritzsches folgender Argumentation zu den sich einstellenden Problemen der »Vaterlosigkeit«, besonders die Beschreibung der »moralischen Unsicherheit« der Republikaner (so Fritzsche im Anschluss an Biancamaria Fontanas Untersuchungen zu Benjamin Constant). Ebd. S. 91. Vgl. dazu auch Maurice Agulhon: Politics and Images in Post-Revolutionary France. In: Rites of Power. Symbolism, Ritual and Politics since the Middle Ages. Hrsg. von Sean Wilentz. Philadelphia 1985, S. 177–205, besonders S. 180–182. Das ist immer im Kontext der bürgerlichen Gesamtfamilie zu verstehen, vgl. dazu das Folgende. Gerade der Gender-Aspekt wird für das nächste Jahrhundert topisch sein. Vgl. das Kapitel zu Novalis. Hunt schreibt resümierend über die anti-patriarchalische Tendenz der Republik: »The political father had been killed, and ordinary fathers had been subjected to the constraints of the law or replaced by the authority of the state. As the radical revolution proceeded, the drama of the father disappeared from center stage, to be replaced by tensions about the nature of fraternal bonds and the place of women in the new republic.« Hunt, Family Romance, S. 67. – Die »Entrechtung« des Vaters, die sie beschreibt, muss insofern hinterfragt werden, als hier der Bürger als Bürger dem anderen gleichgestellt wird – das kann durchaus als diskursiver Erfolg der in der bürgerlichen Familie kultivierten bürgerlichen Werte verstanden werden. Vgl. dazu Claude Lefort, der in seinem Aufsatz ›L’image du corps et totalitarism‹ betont, dass sich die Gesellschaft des Ancien Régimes im politischen Körper des Königs repräsentierte. Claude Lefort: L’image du corps et le totalitarisme. In: Lefort: L’invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire. Paris 1994, S. 159–178. Auch Bossuet hat

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tation wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts mehr und mehr unterhöhlt, was schließlich in der paradoxen physischen Beseitigung des body politics durch die Exekution Ludwigs XVI. kulminiert. Die Individuen des Ancien Régimes sind damit – so Lefort – desinkorporiert,30 die Stelle der Macht vakant und »impersonnel«.31 Koschorke fasst die diskursive Herausforderung an die »Revolutionäre« folgendermaßen: »Sie mussten Begriffe des Staates, der Öffentlichkeit, der Allgemeinheit und darin eingeschlossen des Gemeinwillens entwickeln, die nicht substanziell an die politische persona des Fürsten gebunden waren«.32 Koschorke beschreibt die Verfassung, auf der sich das neue Gemeinwesen gründet, als abstrakte Gegenfigur zum Monarchen (in diesem Sinne ersetzt ja etwa auch das bekränzte Gesetzbuch bei den republikanischen Festen den König); Hunt verweist dazu komplementär auf öffentliche Repräsentationsstrategien (in Texten, Festen, Ritualen, Bildern), die gezielt die Figur des Vaters ausklammern.33 Mag das Volk auch souverän geworden sein: die Frage nach der Identität,34 die Frage nach einem »natürlichen«, evidenten Integrations- und Selbstverkörperungsmodus bleibt offen. In Deutschland sind diese Fragen der Repräsentation unter anderen Vorzeichen anzusiedeln; wie wichtig die Familie in Deutschland als »moralische Anstalt« ist, hat ein Blick auf ›Don Karlos‹ gezeigt. Dass diese Prinzipien mit Blick auf das Königshaus eingefordert werden und als zentral erscheinen, wenn es um politi-

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in seinem Fürstenspiegel ›La politique tirée de l’écriture sainte‹ in diesem Sinne festgehalten: »La majesté est l’image de la grandeur de Dieu dans le prince. Dieu est infini, Dieu est tout. Le prince, en tant que prince, n’est pas regardé comme un homme particulier: c’est un personnage public, tout l’État est en lui, la volonté de tout le peuple est renfermée dans la sienne; comme en Dieu est réunie toute perfection et toute vertu, ainsi toute la puissance des particuliers est réunie en la personne du prince.« Jacques Bénigne Bossuet: La politique tirée de l’écriture sainte. In: Œuvres complètes de Bossuet. Bd. 23. Hrsg. von François Lachat. Paris 1875. Hier vgl. Buch V, Artikel 4. Vgl. dazu auch Philip Manow, der rekonstruiert, wie der politische Körper des Königs (nach Ernst Kantorowicz) sich im Gesetzgeber als representatio in toto wieder findet: Die zentrale These lautet dabei unter anderem, »daß sich gerade in der parlamentarischen Sitzanordnung das ›Nachleben‹ einer politischen Theorie und Theologie manifestiert, deren zentrales Element die Vorstellung vom (heiligen) politischen Körper (body politic) darstellt.« Manow, Im Schatten des Königs, S. 19. Vgl. auch Eberhard Schmitt: Repräsentation und Revolution. Eine Untersuchung zur Genesis der kontinentalen Theorie und Praxis parlamentarischer Repräsentation aus der Herrschaftspraxis des Ancien régime in Frankreich (1760–1789). München 1969. Marcel Gauchet: Des deux corps du roi au pouvoir sans corps. Christianisme et politique. In: Le débat 14 (1981), S. 133–157, hier S. 148. Koschorke, Der Körper der Republik, S. 236. Vgl. auch zur Rolle der Frauen und abstrakter weiblicher Tugendideale etc. Hunt, Family Romance, S. 67–88, ebenfalls Koschorke, Körper der Republik, S. 250–291. Lefort, L’image du corps, S. 172–173.

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sche Entscheidungen geht, schlägt bereits eine Brücke zu einer öffentlichen Applikationsnotwendigkeit bürgerlicher Werte. Über diese intrinsische Notwendigkeit besteht in der deutschen Literatur nach der Revolution nahezu ungebrochene Einigkeit. Zugleich aber wird auch hier die Familie zum »family model of politics« in Hunts Sinne. Vor diesem Hintergrund ist Buris Ludwig Capet als bürgerlicher Vater eine rhetorisch naheliegende, konservative Konstruktion, die in ihrer offensichtlichen Paradoxie eine wichtige Facette der bürgerlichen Vaterkonstruktion beleuchtet. Das Vaterbild ist dezidiert herrschaftskompatibel und somit in verschiedenen Kontexten polymorph anschlussfähig. Hierarchien sind dann akzeptabel, wenn sie über familiale Konstrukte emotionalisiert werden können. Die emanzipatorischen Ansprüche des bürgerlichen Vaters erscheinen auf diese Weise potentiell mit einer machtaffirmativen und legitimierenden Tendenz verknüpfbar. Im Folgenden werden vier Modelle vorgestellt, die in der Nachfolge der Französischen Revolution in Deutschland Familienstrukturen als symbolische Verdichtung von Politik verstehen und anhand von familialen Konstellation politische Formationen sinnstiftend vergegenwärtigen und legitimieren. Novalis’ ›Glauben und Liebe‹ gehört als prominentes Beispiel in diese Reihe, aber auch Kleists national überformtes Familienkonstrukt in seinem Drama ›Prinz Friedrich von Homburg‹ ist diesen Refigurationen vom Herrscher als bürgerlichem Vater zuzurechnen. Zum Schluss lohnt ein erneuter Blick auf Schiller, in diesem Fall auf ›Wilhelm Tell‹, der idealtypisch die neuen Ideen von Brüderlichkeit integriert, dabei aber die Brüder dezidiert als Väter/zukünftige Väter denkt: Unter diesem Aspekt wird auch kurz Bezug genommen auf Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. Brüderlichkeit kann hier offensichtlich am besten über das Konzept der Väterlichkeit legitimiert und plausibilisiert werden. Im Kontext dieser Arbeit ist dabei die Verschiebung auf der Zeitachse besonders von Bedeutung. Wenn die Brüder-Komponente betont wird, hat sich der Fokus auf synchrone Beziehungen verschoben, wobei intergenerationelle Konflikte, wie sie etwa in ›Don Karlos‹ vorkamen, in den Hintergrund treten. In allen vier Texten zeigt sich, dass ein patriarchalisches Modell nicht nur salonfähig ist, sondern auch eine persuasive Evidenz aufweist.

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Novalis: ›Glauben und Liebe‹

Wenn die bürgerliche Familie als Repräsentationsmodell aktiviert wird, gerät eine diskursive Entwicklung in den Blick, die auch für das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie relevant wird. Die zunehmende Rollenzuweisung für Mann und Frau innerhalb der Familie,35 die den Vater als Schaltstelle zwischen innen und außen positioniert, wird bei Novalis zur Voraussetzung für die Konzeption der Familie als blueprint für einen organischen Staat. Novalis’ Fragmente ›Glauben und Liebe‹, die er im Jahr 1797 auf das preußische Königspaar Friedrich Wilhelm III. und Luise anlässlich der Thronbesteigung des Paares verfasste, erschienen 1798 in der pro-monarchischen Zeitschrift ›Jahrbücher der Preußischen Monarchie‹. Die Fragment-Sammlung zum Lob des Königs und der Königin ist in einer »besonderen Sprache« geschrieben, wie es Novalis gleich in der Vorrede deutlich macht, wenn er die Möglichkeit einer »heimlichen« Kommunikation mit »Wenigen« an eine »Tropen- und Räthselsprache« knüpft.36 Jeder, der sie versteht, »ist von selbst, mit Recht, Eingeweihter«.37 Zugleich wird das, was hier in »Variationen des Ausdrucks« vermittelt werden soll, als uralte Wahrheit gekennzeichnet, die nur in einer neuen, wie es Novalis fasst, »kontrastierenden« Erscheinung eine entsprechend große »Freude des Wiedererkennens« (GuL 485) hervorrufe. Diese offen eingeführte Rätselsprache erweist sich für ›Glauben und Liebe‹ als essentiell; mit ihr vollzieht Novalis nicht nur eine Gratwanderung zwischen mehreren Ebenen – Politik, Familie, Ehe –, sondern iri35

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Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 68. Vgl. zu diesem Komplex auch Barbara Duden: Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Kursbuch 47 (1977), S. 125–140; Anneliese Dick: Weiblichkeit als natürliche Dienstbarkeit. Eine Studie zum klassischen Frauenbild in Goethes ›Wilhelm Meister‹. Bern, New York 1986; Ute Frevert (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988; Ulrike Prokop: Die Illusion vom großen Paar. 2. Bde. Frankfurt am Main 1991; Hans-Peter Schwander: Alles um Liebe? Zur Position Goethes im modernen Liebesdiskurs. Opladen 1997, S. 99. Vgl. Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Hrsg. von Claudia Opitz, Ulrike Weckel. Münster 2000. Vgl. dazu Ludwig Stockinger: »Tropen und Räthselsprache«. Esoterik und Öffentlichkeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller, Gerhard Pasternak, Wulf Segebrecht, Ludwig Stockinger. Tübingen 1988, S. 182–206. Im Folgenden zitiert nach: Novalis: Glauben und Liebe. In: Schriften. Hrsg. von Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl, Gerhard Schulz. Bd. 2. Stuttgart 1960, hier S. 48, im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als GuL mit der entsprechenden Seitenzahl.

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siert vielmehr auch zwischen binären Sphären, die den Ebenen zugeordnet sind: Öffentlichkeit und Privatheit, Monarchie und Republik, Mann und Frau. Die Erkenntnisse, die in den jeweiligen Sphären abgeleitet werden, sind dabei grundsätzlich universal anschlussfähig, basierend auf dem ebenfalls eingangs eingeführten hermetischen Prinzip der allgegenwärtigen Ähnlichkeiten: »Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten. Je größer die Liebe, desto weiter und mannichfaltiger diese ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten«. (GuL 485) Die sich anschließende Frage, ob nicht das Allgemeine durch individuelle, das Individuelle durch allgemeine Beziehungen Bedeutung gewinne, komprimiert dabei noch einmal die poetisch-philosophische Technik der Fragment-Sammlung. Mit dieser Ineinanderspiegelung scheint ein politischer Kommentar im Spiegel privater Beziehungen möglich: Die gegenseitige Durchdringung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, die eine politischgesellschaftliche Utopie anhand der royalen Familienstruktur entwirft, erweist sich in diesem Sinne für Novalis’ politische Problemanalyse als aufschlussreich. Klaus Peter hat überzeugend die verschiedenen Vorteile aufgezeigt, die eine solche politische Nutzbarmachung des modernen Familienkonzepts bietet.38 Mit ›Glauben und Liebe‹ benennt Novalis beiläufig entscheidende Transitstellen im zeitgenössischen Diskurs, an denen sich Monarchie gegen Republik, Öffentlichkeit gegen Privatheit sowie Mann gegen Frau neu abzugrenzen und über genau diese Abgrenzung zu deuten beginnen. Indem Novalis diese Verbindungen aufgreift und die darüber verknüpften Ideen aufeinander abbildet, geraten die verschiedenen Definitionen wiederum in Bewegung. Novalis formuliert poetisch sowohl eine Staatsals auch Familienutopie, die – insofern sie sich überlagern – über die konventionellen oder romantischen Vorgaben hinaus neue Implikationen für beide Bereiche schaffen. Mit Blick auf die Vater- und Mutter-Konzeption in ›Glauben und Liebe‹ lohnt es, alle drei Übergange zu berücksichtigen, da sich in ihnen grundsätzlich ein rhetorisches Verfahren spiegelt, das eine innovative Verschaltung bestimmter Rollenvorgaben begünstigt. Die funktionale Situierung von König und Königin ist dabei zugleich als Transgression spezifischer Rollenvorstellungen und auf diese Weise auch als affirmativ-strategische Ausbalancierung der damit verbundenen kon38

Klaus Peter: Novalis, Fichte, Adam Müller. Zur Staatsphilosophie in Romantik und Aufklärung. In: Novalis und die Wissenschaften. Hrsg. von Herbert Uerlings. Tübingen 1997, S. 239–267.

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temporären Rollenproblematik zu verstehen (die sich an die zeitgenössische Zuschreibung natürlicher Geschlechtscharaktere anschließt). Klaus Peter hat anhand einer Rekonstruktion des zeitgenössischen Familienbegriffs herausgearbeitet, dass Novalis’ Staatsphilosophie auf dem Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie (und insofern auch auf bürgerlichen Moral-Konzepten) beruht.39 Peter kann in Novalis’ Familienkonzept ein Unbehagen nachweisen, das sich gegen Johann Gottlieb Fichtes naturrechtliche Grundlegung der Staatsphilosophie und seine damit verbundene strenge Trennung von Politik und Moral richtet: Hatte Fichtes Philosophie vom absoluten Ich eine Moral insinuiert, deren Überlegenheit über die politischen Belange ebenfalls als absolut zu fassen war, so musste er zwangsläufig ein »Sittengesetz« von einem »deducirten Begriff«40 des Rechts trennen, um den Geltungsbereich des letzteren zu wahren. Dieser Hinweis auf eine spezielle einflussgeschichtliche Situation stimmt überein mit dem selbstläufig expansiven Anspruch der bürgerlichen Moralkonstruktion. Die Harmonisierung beider Sphären erweist sich allerdings als heikel: Das Objekt des gemeinsamen Willens ist die gegenseitige Sicherheit; aber bei jedem Individuum geht, der Voraussetzung nach, indem keine Moralität, sondern nur Eigenliebe stattfindet, das Wollen der Sicherheit des Anderen, von dem Wollen seiner eigenen Sicherheit aus: das erstere ist dem letzteren subordinirt, keinem ist es Angelegenheit, daß der Andere vor ihm sicher sey, nur inwiefern seine eigne Sicherheit vor dem anderen, lediglich unter dieser Bedingung, möglich ist.41

Diese logische Konstruktion lehnt Novalis als »Quadratur des Zirkels« ab, indem er empirisch auf den Maschinenstaat verweist, der wiederum beweise, dass »der rohe Eigennutz […] durchaus unermeßlich, antisystematisch zu sein [scheint]. Er hat sich durchaus nicht beschränken lassen, was doch die Natur jeder Staatseinrichtung nothwendig erfordert«. (GuL 495) 39

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Dabei schließt er an Habermas an, der in den Elementen der Abwesenheit von Zwang, Liebe und Erziehung die entscheidenden Aspekte der bürgerlichen Familiensphäre sieht: »Die drei Momente der Freiwilligkeit, der Liebesgemeinschaft und der Bildung schließen sich zu einem Begriff der Humanität zusammen, die der Menschheit als solcher innewohnen soll und wahrhaft ihre absolute Stellung erst ausmacht: die im Worte des rein und bloß Menschlichen noch anklingende Emanzipation eines nach eigenen Gesetzen sich vollziehenden Inneren von äußerem Zweck jeder Art.« Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 59. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. Bd. 3 [1845/46], Foto-mechanischer Nachdruck. Berlin 1971, S. 54. Fichte, Werke, S. 88.

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Egoismus funktioniert nicht als Ausgleichmechanismus, sondern als zwangsläufiger Subversionsmechanismus des fragilen ephemeren Gleichgewichts, wovon die Gegenwart ein beredtes Zeugnis ablegt. Die fortwährende, nur notdürftig vermittelte Trennung von Legalität und Sittengesetz führt zum Kollaps des Maschinenstaates, von dem die Bürger sittlich entfremdet sind. Novalis zufolge steht hinter der Diskrepanz zwischen Legalität und Moral in letzter Instanz also wiederum die zunehmende Separation zwischen Staat und Gesellschaft, die er in seinem universalen Familienmodell zu kompensieren versucht. Die theoretische Überblendung von Staatsform und modernem Familienmodell kann die drängenden Fragen der modernen Gesellschaftsordnung in einem von Fichte abweichenden Modell der synthetischen Vereinigung von individuellem und allgemeinem Geist vorübergehend still legen. Das Ineinssetzen von Monarchie und Republik ist eine Folge dieser Überblendung, wobei diese einfache und rhetorisch überzeugende Lösung die vielfältigen, verstörenden Folgen der Diskrepanzen, die aus der Trennung von Staat und Gesellschaft resultieren, universal auflösen soll. Novalis’ Zugriff erscheint in diesem Kontext deutlich konservierend, insofern er – allerdings im Rekurs auf moderne Konzepte – eine strukturelle Entwicklung umzukehren versucht.42 Auf die berechtigte Frage, worin die monarchische Struktur der Republik bzw. die republikanische Qualität des neuen Monarchen besteht und inwiefern diese republikanisch-monarchische Doppelstruktur über die Konzeption des Staates als Familie plausibilisiert wird, antwortet Novalis: Es wird eine Zeit kommen und das bald, wo man allgemein überzeugt seyn wird, daß kein König ohne Republik, und keine Republik ohne König bestehn könne, daß beide so untheilbar sind, wie Körper und Seele, und daß ein König ohne Republik, und eine Republik ohne König, nur Worte ohne Bedeutung sind. Daher entstand mit einer ächten Republik immer ein König zugleich, und mit einem ächten König eine Republik zugleich. Der ächte König wird Republik sein, die ächte Republik König. (GuL 490) 42

Wilhelm Riehl nimmt ein halbes Jahrhundert später die Irreversibilität dieses Verlaufs an und akzeptiert die separierten Bereiche Familie und Staat als solche, wobei er eine ähnliche Problemanalyse vorlegt wie Novalis: »Neue Ideen wurden allmächtig: Gleichheit des Rechts, Gleichheit der Stände, Freiheit der Staatsbürger, allgemeine Humanität, allgemeine Weltverbrüderung. Es war eine Periode der Verläugnung des Hauses und der Familie«. Hier zitiert nach Wilhelm Riehl: Die Familie. Vierter unveränderter Abdruck. Stuttgart, Augsburg 1856, S. 128. Statt der Überlagerung benennt er – politisch anschlussfähig – vor allem die Proportionalität des Zusammenspiels von Familie und Staat als unabdingbare Voraussetzung für das allseitige Wohlergehen von Bürgern und Staat. Vgl. dazu das Kapitel zu Stifter.

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Im Mittelpunkt des Staates steht der König und wird als »das gediegene Lebensprinzip des Staats« mit der Sonne im Planetensystem verglichen. Novalis bedient sich hier auf den ersten Blick irritierender, legitimistischer Attribute, wenn er den Glauben an eine qua Geburt gegebene Superiorität formuliert: »Übrigens ist auch ein geborner König besser, als ein gemachter« (GuL 487). Als das entscheidende Element in einer Monarchie wird dann die »freiwillige Annahme eines Idealmenschen« genannt, wobei sich die Hoheit des Königs logisch aus seiner natürlichen Vorrangstellung ergibt, da man »unter Gleichen keinen Oberen« wählen kann. Dass sich Novalis hier nicht als rückwärtsgewandter Apologet versteht, macht seine Warnung im 15. Fragment deutlich, in dem er jede allzu wörtliche Applikation seiner Tendenzen rundweg disqualifiziert: »Wer hier mit seinen historischen Erfahrungen angezogen kömmt, weiß gar nicht, wovon ich rede, und auf welchem Standpunct ich rede« (GuL 488). Damit schwört er seine Leser wiederum auf die symbolische Qualität seiner Argumentation ein und imaginiert zugleich ein utopisches, organisches Staatsgebilde, das analog zur Lebensgemeinschaft »Familie« konstruiert wird. Diese Paradoxie, die das Element der republikanischen Staatsform in das der monarchischen implementiert, lässt sich in diesem Sinne über das bürgerliche Familienkonzept auflösen. Im Naturrecht verstand man etwa das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern nicht als ungleich, wie Karl Ludwig Pörschke in seiner ›Vorbereitung zu einem populären Naturrechte‹ festhält: »Es findet zwischen Eltern und Kindern ebenso wenig als zwischen Bürgern [Ungleichheit statt, C. N.], denn die Eltern befehlen dem Kind nur in seinem Namen das, was das Kind selbst sich bei voller Vernunft befehlen würde.«43 Novalis befindet sich hier im Einklang mit naturrechtlichen Konzepten, wenn er die Vorstellung einer StellvertreterInstanz übernimmt und den König als Symbol begreift, der weniger eine beim Bürger inexistente, bzw. noch nicht existierende Vernunft vertritt, sondern einen antizipierten Idealmenschen – damit bezieht er sich indirekt auf Diskurse, die das Modell des Landesvaters verwerfen, weil die Unmündigkeit der Kinder (die aus der Analogie des Landesvater-Untertan abgeleitet wurde) zu einem aufklärerischen Problem werden musste. Ähnlich wie bei der Familie sind in Novalis’ Konzeption in diesem Sinne zwei Zeitebenen gleichzeitig präsent: Die Zukunft in Gestalt der Kinder und die Gegenwart in Gestalt des Vaters: »Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch … Alle Menschen sollen thronfähig 43

Karl Ludwig Pörschke: Vorbereitung zu einem populären Naturrechte. Königsberg 1795, S. 244.

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werden. Das Erziehungsmittel zu diesem fernen Ziel ist ein König. Er assimiliert sich allmählich die Masse seiner Unterthanen. Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm« (GuL 489). Der Erziehungsgedanke, der dem bürgerlichen Familienkonzept entstammt, ermöglicht die Vorstellung eines menschlichen Leitprinzips, das ein würdevolles Heranwachsen zu republikanischen Staatsbürgern bedingt. Nur in einem König kann sich ein solches Vorbild, ein Symbol, eine Repräsentanz angemessen abspiegeln: »Die Monarchie ist deswegen ein ächtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunct geknüpft ist; an ein Wesen, was zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört« (GuL 489). Die in ›Glauben und Liebe‹ beschriebene Monarchie ist in Novalis’ Sinne also keine Staatsform, sondern ein aus dem Konzept der Familie erwachsenes, menschliches System, der König damit das »Lebensprinzip des Staates«. Novalis benennt diese Transsubstantiation explizit: »Verwandelt sich nicht ein Hof in eine Familie, ein Thron in ein Heiligthum, eine königliche Vermählung in einen ewigen Herzensbund?« (GuL 498) Obwohl sich ›Glauben und Liebe‹ deutlich auf bekannte romantische Innerlichkeitskonzepte gründet, handelt es sich bei den in romantischer Liebe verbundenen Partnern nicht nur um Mann und Frau, sondern eben auch um König und Königin. Sie werden als natürliche Personen zum gesamtgesellschaftlichen Symbol: »Bedarf der mystische Souverain nicht, wie jede Idee, eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein liebenswürdiger treflicher Mensch?« (GuL 487) Insofern ist also ein »wahrhaftes Königspaar […] für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist«. (GuL 487) Das von einem (dem »Buchstaben« übermäßig verpflichteten) Rationalismus geprägte Zeitalter beweist seine Pervertierung insofern, als es sich als widernatürlich unsensibel gegenüber dem Familienleben und der schönsten poetischen Gesellschaftsform zeigt, die später als Monarchie benannt und aus der familialen Konstellation abgeleitet wird. Begünstigt wird diese Herleitung durch die Verdoppelung des jungen Königspaares in ein individuelles Liebespaar und ein Herrscherpaar. Indem die Doppelung als Folge der Symbolisierungspraxis des Textes eingeführt wird, werden die Herrschaftsverbindungen, die sich zwischen allen Mitgliedern des monarchischen Staates ergeben, naturalisiert. Es ist offensichtlich, dass sich über das romantische Analogiedenken aus dem Kleingebilde Familie ein Staatsmodell ableiten lässt, das genau wie sein mikrokosmisches Gegenstück eine integrierende Funktion hat. Familie erscheint als kompensatorische und unhintergehbare Gemeinschaft, die sich aus der staatlichen Wirklichkeit weitestgehend verabschie176

det hat und nun bei Novalis symbolisch re-installiert wird. Die bürgerliche Familie wird bei ihm explizit zu einem zentralen Repräsentations- und Verkörperungsmodus für einen zunehmend abstrakten Staat.

2.

Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹

Bei Kleist findet sich eine analoge Transsubstantiation von Herrscher und Vater, mit der ein »öffentlicher Vater« eingeführt und inszeniert wird. Das zwischen 1809 und 1811 entstandene Drama ›Prinz Friedrich von Homburg‹ verhandelt unter anderem auch einen Generationenkonflikt, der den Vater-Sohn-Konfrontationen bei Kleist – wie sie im nächsten Kapitel noch zu erörtern sind – grundsätzlich zu entsprechen scheint. Das Schauspiel thematisiert in seinen ambivalenten Handlungsschlaufen auf den ersten Blick einen militärischen Zwischenfall, bei dem Prinz Friedrich von Homburg gegen die Anweisung des Kurfürsten voreilig in die Schlacht eingreift, einen Sieg erringt und nach geltendem Kriegsrecht anschließend zum Tode verurteilt wird. Dieser Kernkonflikt zwischen intuitiver Eigeninitiative und Gehorsam44 wird getragen von einer komplexen Reformulierung der Autoritätenfrage als einer Kollision zwischen Vater und Sohn. Ähnlich wie in anderen Texten Kleists haben wir es in ›Prinz Friedrich von Homburg‹ mit zahlreichen Substitutionen zu tun, insofern Mutter-, Vater- und Kindesstelle mit Stellvertretern besetzt werden.45 Die kulturelle Familie, die etwa in Kleists ›Der Findling‹ kompromittiert erscheint,46 wird hier in ihrer repräsentativen Variante zum letztlich erfolgreichen Erziehungsmodell, das schließlich – durch den radikalen Umweg über ein Todesurteil – zum appellativen Ende des Stückes überleitet: »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!«47 Der Kurfürst entscheidet eben nicht nur als Individuum, sondern vor allem als Vertreter eines Regelsystems, einer spezifischen Gesetzeslage, 44 45

46 47

Dieser Konflikt findet in den zeitgenössischen Debatten über das preußische Militär sein offensichtliches Gegenstück. Vielsagend ist der rhetorische Dreischritt Friedrichs: »Natalie! Mein Mädchen! Meine Braut!« und »Friedrich! Mein Fürst! Mein Vater!« (PH 14); auch die Kurfürstin wird mit »O meine Mutter!« (PH 14) in diese Familienkonstellation einbezogen. Vgl. dazu das Kapitel zu Kleist. Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. In: Brandenburger Kleist Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. I/8. Frankfurt am Main 2006, S. 146, im fortlaufenden Text zitiert als PH mit der entsprechenden Seitenzahl.

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von der abzuweichen, seinem Selbstverständnis zufolge, Tyrannei gleichkäme.48 Abgesehen von dieser juristisch repräsentativen Deutung, die der Kurfürst mehr oder weniger überzeugend zum Maßstab seines Handelns macht, deutet sich zudem ein unterschwelliger Machtkampf an.49 Die Traumszene zu Beginn, in der der Kurfürst »aus Neugier« zu handeln vorgibt, ist der dramaturgische Ausgangspunkt der Beinahe-Tragödie, insofern sich der somnambule Prinz dazu hinreißen lässt, seine weitreichenden Ambitionen in einer quasi-öffentlichen (nämlich von Hohenzollern, dem kurfürstlichen Ehepaar und Natalie beobachteten) Pantomime zu präsentieren. Seine Hoffnungen auf ein lorbeergekröntes Heldentum und die Aufnahme in die kurfürstliche Familie durch die Heirat seiner Cousine Natalie, der Ziehtochter des Kurfürsten, werden dabei in einer eigentümlichen Schonungslosigkeit zur Schau gestellt. Der Kurfürst weicht schließlich laut Regieanweisung zurück und resümiert im Abgang die Quintessenz der Szene: »In’s Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, / In’s Nichts, in’s Nichts! In dem Gefild der Schlacht, / Sehn wir, wenn’s dir gefällig ist, uns wieder! / Im Traum erringt man solche Dinge nicht!« (PH 15) Die Reaktion des Kurfürsten bindet das im Traum Errungene nicht nur zurück an die Realität, sondern insgesamt auch an eine klare Leistungsethik. Aus diesem Szenario ergibt sich eine paternal-edukative Rolle für den Kurfürsten, dessen Überlegenheit nicht unbemerkt, aber im Verlauf des Stückes auch nicht unbestritten bleibt. Beim vermeintlichen Tod des Kurfürsten macht sich der Prinz dementsprechend sofort zum »Vollstrecker [seines] letzten Willens«: Ich, Fräulein, übernehme eure Sache!/ Ein Engel will ich, mit dem Flammenschwerdt, / An eures Throns verwais’ten Stufen stehn! / Der Kurfürst wollte, eh das Jahr noch wechselt, / Befreit die Marken sehn; wohlan! ich will der / Vollstrecker solchen letzten Willens sein! (PH 57)

Mit seiner ambitionierten Übernahme des kurfürstlichen Vermächtnisses verbinden sich zugleich auch seine angedeuteten Hoffnungen auf Natalie, wobei er ebenfalls die Funktion des Kurfürsten zu übernehmen anstrebt;50 während der Verlobungsszene allerdings bleiben Natalies Spra48 49

50

Vgl. dazu Kittler, Revolution der Revolution, S. 71–73. Vgl. dazu Walter Hinderers genaue Beschreibung der verschiedenen Widersprüche und Charakterschwächen, besonders auch der Superbia des Prinzen: Ders.: Prinz Friedrich von Homburg. In: Kleists Dramen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1997, S. 144–185. Dies geschieht auf Natalies Klage hin: »Ich ward zum zweitenmale heut verwais’t«, (PH 58).

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che und Körpersprache zweideutig. Sie zieht ihre Hand zurück, legt sich nach seinem Antrag an seine Brust und unterbricht schließlich das naturhafte Einverständnis51 mit einem dezidierten »Hinweg!« (PH 58). Die Romantik der Szene bleibt im Sinne des Verlusts eine gebrochene. Natalie scheint als Ziehtochter des Kurfürsten zwischen Trauer und Freude zu irisieren; am Ende jedoch reißt sie sich von Friedrich los und wendet sich wieder der trauernden Kurfürstin zu.52 Die authentischen Gefühle, die alle Protagonisten füreinander hegen, konfligieren zunächst mit bestimmten immanenten Rollenvorgaben, bei denen der Kurfürst die Ablösung durch den jugendlichen Prinzen fürchten muss – ein Verdacht, der sich nach seinem scheinbaren Tod in der Schlacht (wenn auch mit allfälligem Respekt und echter emotionaler Hingabe verbrämt) bewahrheitet. Im Unterschied zu anderen Texten Kleists verdichtet sich diese intergenerationelle Kollision in einem juristischen Grundsatzkonflikt,53 der mit der familialen Konstellation intrinsisch verbunden bleibt. Wenn am Ende die Einsicht des »Vaters«/des Kurfürsten in die eigene emotional unsensible Rigidität zu einer Versöhnung führt, so geht dem die vollständige Devotion des Prinzen voran, die in einer seltsamen Nebenhandlung in Friedrichs Verzicht auf die Braut kulminiert.54 Rückwirkend versteht der Prinz sogar die eigenmächtige Verlobung mit Natalie als eine Überschreitung: Hohenzollern. Hast du vielleicht jemals je einen Schritt gethan […] Der seinem stolzen Geist zu nah getreten? […] Der Prinz von Homburg. […] Es stürzt der Antrag ins Verderben mich: / An ihrer Weigrung, wisse, bin ich schuld, / Weil mir sich die Prinzessin anverlobt!« (PH 83–84)

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52

53 54

»Der Prinz von Homburg. – Wollt Ihr? Wollt Ihr? / Natalie. – Wenn ich ins innre Mark ihr wachsen darf ? (sie legt sich an seine Brust.) Der Prinz von Homburg. Wie? Was war das?« (PH 58) Diese Zweideutigkeit wird auch vom Prinzen bemerkt, wenn er angesichts seiner merkwürdig deplatzierten Freude den Kurfürsten, dessen Tod ihm diese zweifache Promotion zum »Vollstrecker« und Ehemann erlaubt, als höhere Instanz beschwört: »O Gott, wär er jetzt da, den wir beweinen, / Um diesen Bund zu schauen! Könnten wir / Zu ihm aufstammeln: Vater, segne uns! (er bedeckt sein Gesicht mit seinen Händen; Natalie wendet sich wieder zur Kurfürstin zurück.)« (PH 59) Vgl. das folgende Kapitel zu Kleist zu anderen Erscheinungsformen dieses Konflikts. Betrachtet man die inzestuöse Aufladung der Vater-Tochter-Beziehung in anderen Dramen ist die Kollision zwischen beiden insofern entschärft, als der Prinz dem Kurfürsten unterstellt, Natalie als diplomatische Tauschgabe mit der Hoffnung auf einen Friedensschluss an den schwedischen Feind verheiraten zu wollen. Damit bleibt dem Ersatz-Vater trotzdem das Recht an der Tochter vorbehalten.

179

Indem der Prinz Natalie aufgibt, um sie schließlich erneut aus den Händen des Kurfürsten zu empfangen, indem er also den Ermessensbereich des Kurfürsten umfassend bestätigt und seine Entscheidungen (mit selbsteliminatorischer Konsequenz) bis zum letzten gutheißt, ordnet er sich vollkommen dem Gesetz unter, das der »Vater« vertritt. Der Kurfürst, der nicht länger Insubordination zu fürchten hat, kann sich wieder emotional zugänglich zeigen und das Gesetz den Umständen anpassen. Es ist hier entscheidend, dass der Prinz militärgeschichtlich eine wichtige Veränderung aufgreift, wenn er bei seiner semi-bewussten Gehorsamsverweigerung (i.e. die Entscheidung, voreilig in die Schlacht zu ziehen) auf den Enthusiasmus des Herzens verweist.55 Dies gilt auch, wenn Kleist an anderer Stelle ironisch die Frage aufwirft: »Gilt es den Ruhm eines jungen und unternehmenden Fürsten, der, in dem Duft einer lieblichen Sommernacht, von Lorbeern geträumt hat?«56 und damit die Motivation des Prinzen bis an die Grenze des Fragwürdigen privatisiert. Denn gleichzeitig re-evaluiert der Prinz dabei auch seine Funktion als Befehlsempfänger, indem er sich als Individuum versteht und blinden Gehorsam durch emotionale Verbundenheit substituiert. Der Prinz rechnet mit Vergebung, weil er sich individuell, als Mensch keines Fehlers schuldig gemacht zu haben glaubt; der Kurfürst begreift seine Funktion als öffentlich-politische und fühlt sich in diesem Rahmen zu konsequentem, gesetzestreuem Handeln verpflichtet – auch gegen persönliche Sympathien. Er sieht den Prinzen damit als Militär, für den jede Gehorsamsverweigerung eine kapitale und unverzeihliche Regelverletzung darstellt. Diese Perspektive fällt ihm umso leichter, als er zunächst nicht ahnt, dass sein anonym ausgesprochenes Todesurteil den Prinzen trifft. Der Prinz vermerkt selbst: »Ich bin ihm werth, das weiß ich / Werth wie ein Sohn« (PH 78), und zweifelt auf der Basis dieser menschlichen Bindung dann auch die Ernsthaftigkeit des kurfürstlichen Urteils an, wenn er zu Hohenzollern sagt: »Der Kurfürst hat gethan, was Pflicht erheischte, / Und nun wird er dem Herzen auch gehorchen.« (PH 77) Diese zunächst unerschütterliche Sicherheit stützt der Prinz ganz explizit auf »[s]ein Gefühl von ihm« (PH 80). Nachdem der Kurfürst erfahren hat, wer die fatale Insubordination zu verantworten hat, bleibt er – trotz seines Schocks – bei seinem Entschluss, weil er sich den Gesetzen verpflichtet fühlt und nichts als ab55 56

Vgl. Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg 1987, S. 256–324. Heinrich von Kleist: Was gilt es in diesem Kriege. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembner. Bd. 2. 2München 1994, S. 377.

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schreckender empfindet als »Willkühr« (PH 97). Diese buchstäbliche Gesetzestreue, an die sich der Kurfürst pflichtbewusst klammert, wird im Stück wiederum doppelt gedeutet und spiegelt auf diese Weise die bereits oben erläuterte duale Verpflichtung des »Vaters« gegenüber Individuum und Kollektiv. Begründet der Kurfürst seine Entscheidung im Rekurs auf eine herrscherliche Verpflichtung dem Kollektiv gegenüber, so interpretiert der Prinz denselben Entschluss als eigentlich tyrannische Willkür, weil sie das Individuelle unberücksichtigt lässt: Er könnte – nein! so ungeheuere / Entschließungen in seinem Busen wälzen? / Um eines Fehls, der Brille kaum bemerkbar, / In dem Demanten, den er jüngst empfing, / In Staub den Geber treten? Eine That, / Die weiß den Dey von Algier brennt, mit Flügeln, / Nach Art der Cherubinen, silberglänzig, / Den Sardanapel ziert, und die gesammte / Altrömische Tyrannenreihe, schuldlos, / Wie Kinder, die am Mutterbusen sterben, / Auf Gottes rechter Seit’ hinüberwirft? (PH 83)

Beide Formen der »Willkür« können nun aber in einer Synthese korrigiert werden, wenn das abtrünnige Individuum das Kollektiv anerkennt und sich unter dieser Prämisse mit dem Einverständnis des Herrschers eingliedern darf, der wiederum das nunmehr normenkongruente Individuum als solches akzeptiert. Damit ist die ausgleichende Synthese des Endes bereits beschrieben: Als Medium für dieses prekäre Schlussbild dient eine paternale, emotionale Evaluierung der Intentionen, d. h. die fruchtbringende Konzession des Kurfürsten besteht in einer Emotionalisierung seines Zugriffs. Natalie wehrt in diesem Sinne den Einwand ihres kurfürstlichen Onkel-Vaters ab, wenn dieser auf das »Heiligtum« Vaterland verweist, dessen Wert seiner Meinung nach seine individuellen Gefühle für den geliebten Ziehsohn Friedrich übertreffen muss: »Was du«, so Natalie, »Unordnung nennst, die Tat, den Spruch der Richter, / In diesem Fall willkührlich zu zerreißen, / Erscheint mir als die schönste Ordnung erst: Das Kriegsgesetz […] soll herrschen, / Jedoch die lieblichen Gefühle auch.« (PH 97) Mit dieser Formel wird die Analyse von zeitgenössischen Herrschaftsformen in ›Prinz Friedrich von Homburg‹ resümiert. Bei Kleist führt die Überblendung von Familie und Herrschaftspraktiken zu einer wichtigen Schlussfolgerung. Der öffentliche Bereich scheint nunmehr nur funktionsfähig, sofern er vom privaten überlagert wird. Zugleich kann diese Überlappung gleichsam nur unter Fiktionsvorbehalt stattfinden. Wenn in Novalis’ Text die Tropen- und Rätselsprache jeden wörtlichen Transfer per se verbietet und somit das Problem in einer virtuellen Schlaufe still legt, 181

bleibt in ›Prinz Friedrich von Homburg‹ das fiktional realistische Geschehen auffällig an eine Traummetaphorik zurückgebunden: Hatte er seine anfängliche Traumvision wenn nicht als wirklich, so doch in einem prophetischen Sinne als wahr verstanden, begegnet er sowohl seinem Absturz als auch der tatsächlichen Realisation seiner Träume mit Unglauben (»Ist das ein Traum?«, PH 146) oder Ohnmacht. Resümierend bestätigt Kottwitz am Ende dementsprechend: »Ein Traum, was sonst?« (PH 146) In der Sphäre einer solchen Latenz werden nun die Chancen und Grenzen von einer zwischen Öffentlichkeit und Privatheit changierenden Vaterschaft konkret vorgeführt und – trotz aller Ambivalenzen – im Verlauf des Stückes so weit versöhnt, dass es zu dem im Traum antizipierten Ende kommen kann. Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei der Problematik des Kurfürsten um die eines pater patriae. Hier geht es nicht um allgemeine Sorgfalts- und Aufsichtspflichten im Sinne eines Hausvaters, sondern um individuelle, hochemotionalisierte Beziehungen, die mit seinen öffentlichen Pflichten nicht ad hoc vereinbar sind. Der Kurfürst in seiner de facto57-Dualität als Vater und Herrscher sieht sich mit der Notwendigkeit eines Balanceaktes zwischen Macht und Gefühl konfrontiert, der in ›Prinz Friedrich von Homburg‹ erfolgreich geleistet werden kann. Dass diese Begegnung trotz aller unterschwelligen Konflikte gut ausgeht, hat sicherlich mit dem appellativen Kontext des Stückes zu tun (der in seiner Kritik dem Ansatz von Novalis verwandt scheint). Der Maschinenstaat muss sich zur Familie weiterentwickeln, um den Gefahren der Moderne zu entgehen. Das verdeutlicht Kottwitz mit Blick auf den väterlichen Repräsentanten, wenn er im Rückgriff auf die romantische Körperanalogie die Frage stellt: »Willst du das Heer, das glühend an dir hängt, / Zu einem Werkzeug machen, gleich dem Schwerdte, / Das todt in deinem goldnen Gürtel ruht?/ Der ärmste Geist, der in den Sternen fremd, / Zuerst solch’ eine Lehre gab!« (PH 128) Diese lebende, dem Kurfürsten verbundene Entität ist nur durch eine echte emotionale Verbindung vernünftig zu lenken: »Die schlechte, / Kurzsicht’ge Staatskunst, die, um eines Falles, / Da die Empfindung sich verderblich zeigt, / Zehn andere vergißt, im Lauf der Dinge, / Da die Empfindung einzig retten kann!« (PH 128–129) Die vaterländische Verpflichtung der Soldaten verkörpert und verlebendigt sich allein im Bild des Kurfürsten, dessen öffentliche Symbolik (»Ruhm und Wachsthum« des großen Namens, PH 129) – so führt es Kottwitz weiter aus – mit einer emotionalen Offenheit und Kompatibilität ver57

Bei Lessing handelt es sich lediglich um eine funktionale Dualität, die aber mit den gleichen Problemen belastet ist, vgl. das Kapitel zu Lessing.

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knüpft ist: »Meine Lust hab’ meine Freude ich, / Frei und für mich im Stillen, unabhängig, / An deiner Trefflichkeit und Herrlichkeit, / Am Ruhm und Wachsthum Deines großen Namens! / Das ist der Lohn, dem sich mein Herz verkauft!« (PH 129) Der Prinz sieht das echt »Deutsche« genau in einer emotionalen Disposition begründet, die sich von jeglicher antiken Starrheit unterscheidet. Eben noch in der Eigenwahrnehmung als »Caesar Divus« der Erfüllung nahe, wähnt er im Kurfürsten einen »Brutus« (PH 73); damit überführt er automatisch das Vater-Sohn-Verhältnis in eine Konkurrenzbeziehung, die eine gefühlsmäßige Position als Kind des Kurfürsten nicht mehr zuläßt: Bei Gott, in mir nicht findet er den Sohn, / Der, unterm Beil des Henkers, ihn bewundre. / Ein deutsches Herz, von altem Schrot und Korn, / Bin ich gewohnt an Edelmuth und Liebe, / Und wenn er mir, in diesem Augenblick, / Wie die Antike starr entgegenkömmt, / Thut er mir leid, und ich muß ihn bedauren! (PH 73)

Bei der zweifachen Brutus-Anspielung gerät der Kurfürst, der unter der Ägide des Gesetzes antritt, in den Geruch der Tyrannei.58 Wolf Kittler analysiert diesen Passus sehr präzise, indem er sie mit der oben benannten Frage nach Tyrannei und Rebellion verbindet und dagegen die Rebellion des Prinzen als eigentliche Tyrannei deutet.59 Miteinander konkurrieren hier also zwei zentrale Argumentationen: Der Prinz insistiert auf der Logik der Ausnahme, der Kurfürst auf dem Gesetz (und seiner Ausnahmslosigkeit als Versicherung gegen individuelle Tyrannei). Damit ist das paternale Dilemma im Grunde auf den Punkt gebracht; mehr noch: es kann hier zufriedenstellend gelöst werden. Denn der Prinz wird erst begnadigt, nachdem er die immanente Logik des Gesetzes (und damit die Herrschaft des Landesvaters) begriffen und anerkannt hat; der Kurfürst findet einen Weg, das Gesetz nicht buchstäblich, sondern sinngemäß zu deuten und begnadigt den Prinzen. In diesem Sinne bietet Kottwitz den ersten Ansatz einer möglichen Synthese in seiner Verteidigung 58

59

Peter von Matt verweist zudem auf eine Erzählung in Titus Livius: Römische Geschichte. Deutsch von Franz Dorotheus Gerlach. Bd. 2. Berlin, Stuttgart 1855–1914, S. 148–163. (Buch VIII, Kapitel 7), in der der Sohn Titus Manlius dem Vater den Gehorsam in einer Kampfsituation verweigert (und trotz des väterlichen Verbots angreift). Titus Manlius statuiert ein Exempel, verurteilt den Sohn zu Tode und setzt damit in der Folge in Rom erhöhten, militärischen Gehorsam durch. Von Matt, Verkommene Söhne, S. 85–86. In diesem Sinne expliziert er die mehrdeutigen Identifikationen in der Brutus- und Caesar-Divus-Anspielung. Kittler, Revolution der Revolution, S. 81.

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des Prinzen, wenn er für diese Überlegungen eine Prämisse benennt, die insgesamt für Kleists Stück maßgeblich wird: »Herr, das Gesetz, das höchste, oberste, / Das wirken soll, in deiner Feldherrn Brust, / Das ist der Buchstab deines Willens nicht; / Das ist das Vaterland, das ist die Krone, / Das bist du selber, dessen Haupt sie trägt.« (PH 128) Die verbindlichen Gesetze sind nicht mehr als »Buchstab« des kurfürstlichen Willens zu verstehen – der Kurfürst selbst verkörpert in Personalunion Vaterland und Macht in einer individuellen, liebesfähigen Person. Damit gelingt Kleist die Ausbalancierung einer komplexen Staatsutopie, die sich maschinistischen Gesellschaftslehren verweigert,60 und eine Gratwanderung, bei der die private Vaterrolle nunmehr für die öffentliche fruchtbar gemacht wird. Indem diese empfindsame Zärtlichkeit in die öffentliche Rolle des Vaters eingebunden wird, löst sich das Dilemma, durch das die Handlung zunächst vorangetrieben wurde. Mit dem Transfer des Öffentlichen ins Private (Kurfürst) und des Privaten ins Öffentliche (Prinz) werden die privaten Konflikte purifiziert und in emotionalisierte, harmonische öffentliche Rollenmodelle übergeleitet. Die hier anklingenden Konflikte schreiben sich allerdings auf rein privater Ebene in einer oft weniger versöhnlichen Weise fort: Die Rolle des Vaters im privaten Umkreis scheint Kleist offensichtlich größere Schwierigkeiten zu bereiten, weil dort eine andere Form der Herrschaftsideologie greift. 60

Vgl. zu den organischen Implikationen in der Romantik insgesamt: Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg 1999. Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza, Albrecht Koschorke (Hrsg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München 2003. Hier beschränkt sich allerdings der Fokus auf die Funktion des Vaters in diesem Kontext. Der Vergleich zum Organismus zielt darauf, den Staat als in sich abgeschlossene Einheit darstellbar zu machen, was sich gegen das Konzept einer politischen Herrschaft richtet, die als lineare, ja privatrechtlich strukturierte Beziehung zwischen Fürsten und dem Kollektiv der Untertanen verstanden wird. Dagegen wird der Staat gesetzt als »Organisation eines Volkes zur Erfüllung seiner höheren Lebensaufgaben, [… als] organische Erscheinung, ja Verkörperung des Volks.« Ernst-Wolfgang Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 2006, S. 264. Vgl. dazu auch insgesamt Böckernförde, der auch darauf hinweist, dass mit dem Organismus-Prinzip im Wesentlichen eine De-Personalisierung der Staatsgewalt impliziert ist. Er macht deutlich, dass die Vorstellung des Staates als ethisch-sittlicher Organismus Ergebnisse der Französischen Revolution integrieren konnte und eine gewisse Gestaltungsfreiheit bei der staatlichen Ordnung gewährte; auf der anderen Seite »dominierte bei dem romantisch und naturtheoretisch geprägten Organismusbegriff die Abkehr vom individualistischen Ausgangspunkt und von der Zweckargumentation des Vernunftrechts.« Ebd., S. 267. Die literarischen Überlegungen lassen dabei die Familie als Gegenmodell zu, insofern in ihr die Individualisierung ihrer Mitglieder gegeben ist und gleichzeitig ein Familienoberhaupt denkbar bleibt; später wird man den König auch staatstheoretisch in solch einer organisch-funktionalen Weise deuten. Vgl. dazu das Kapitel zu Stifter.

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Im Gegensatz zu Schillers ›Don Karlos‹ ist es hier eine Reziprozität zwischen einer romantisch gefassten Staatsfamilie und der intimen bürgerlichen Familie, die hilft, die Differenzen zwischen Prinz und Kurfürst auszugleichen. Der Herrschaftsanspruch des »Vaters« erweist sich als genauso legitimierungsbedürftig (nämlich im Rekurs auf die staatliche Herrschaft) wie die Herrschaft des Kurfürsten (die im Rückgriff auf eine kleinfamiliale Emotionalität begründet wird). Novalis und Kleist zeigen, dass die familiale Neuformulierung für die symbolische Konzeptualisierung in Deutschland entscheidend wird und dass letztere auf einer entscheidenden Verknüpfung zwischen familialpaternaler Herrschaft und öffentlicher Herrschaft basiert.

3.

Väter als Brüder I: Schillers ›Wilhelm Tell‹

Wenn das Frankreich der Revolutionszeit eine gänzlich neue Repräsentationskultur einführt und in Ritualen praktiziert, gehört zu diesen neuen Verkörperungsstrategien auch das Konzept der Fraternität, das – ebenfalls im Familienkontext emotionalisiert – eine egalitäre Ordnung unter konkretisierenden, familialen Prämissen erlaubt.61 Mit Blick auf Deutschland lässt sich der Wandel und die Stabilität der entwickelten Vaterkategorie gerade dann gut nachvollziehen, wenn im Zuge der Französischen Revolution Fraternitätsmodelle die starke Betonung der Vaterfigur überlagern. Dies verdeutlicht ein Blick auf Schillers Drama ›Wilhelm Tell‹, das die verschiedenen Ebenen des Diskurses idealtypisch einfriert. In Schillers Stück spiegeln sich nicht nur Reflexe einer Situation, die politischen Konsens abseits der paternalen Macht zu denken versucht; vielmehr wird gerade auch in ›Wilhelm Tell‹ das Beharren einer paternalen Legitimation vorgeführt, aus der sich die Entscheidungsprozesse speisen. Das »Schauspiel« beschwört zunächst das Ideal einer »Revolution«,62 das sich im Einklang mit den aus der Französischen Revolution gewonnenen Lehren bewegt:63 »Schillers Revolutionäre unternehmen große An61 62 63

Hunt, Family Romance, S. 53–88. Vgl. zum Abgleich mit den Ästhetischen Briefen Susanne Lüdemann: Wilhelm Tell und der ästhetische Staat. In: Der fiktive Staat, S. 306–318. Mit Blick auf ›Wilhelm Tell‹ hält Peter André Bloch überzeugend fest: »Tells Tat erscheint denn auch nicht etwa als revolutionärer Akt, sondern als der einzig mögliche – natürliche Weg zur Wiederherstellung von Ordnung und Recht, im Namen des Volkes und der Obrigkeit gegen Machtmißbrauch und Verrat.« Peter André Bloch: Schillers Schauspiel ›Wilhelm Tell‹ oder die Begründung eines natürlichen Rechtsstaats als dramaturgisches Experiment. In: Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hrsg. von

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strengungen, um ihr Tun als die Wiederherstellung eines unvordenklichen väterlichen Rechts erscheinen zu lassen. Revolutio soll bei ihnen im etymologischen Wortsinn die Rückwälzung in einen vorherigen Zustand sein […]. Aber diese Rhetorik der Vatersehnsucht darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Versammelten auf dem Rütli ›die Ablösung der Vaterordnung durch eine Brüderordnung‹ betreiben.«64 Das Überschreiben der Vaterordnung mit der Brüderordnung ist allerdings in seiner palimpsestartigen Durchlässigkeit aussagekräftig für die Diskurse der Zeit. Denn auch wenn hier die Bruder-Ordnung den Herrschaftsmythos begründet, so ist ihre tiefer liegende Legitimation – eine weitere familiale Spielart – weiterhin mit einer konkret familiären Konzeption verbunden. Die meisten der Protagonisten treten als Väter an, die ihre Familie vor herrscherlicher Willkür zu schützen trachten; und somit ist es der Übergriff in die häusliche, private, intime Sphäre, der die Revolte gegen die bestehende Macht überhaupt erst auslöst; die entschlossene Protektion derselben begründet und legitimiert dementsprechend den Brüderbund. Susanne Lüdemann verweist auf die Refamilialisierung des politischen Modells, indem Schiller »die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre aufhebt« und »die ›große Staatsverbindung‹ ins ›Privatleben‹ zurücknimmt«.65 Mag es in ›Wilhelm Tell‹ auch um einen adäquaten Repräsentationsmodus gehen, der sich ausgehend von einer paternalen Legitimation hin zu einer brüderlichen Ko-Regentschaft entwickelt (wobei die letztere wiederum auf einer dezidiert meritorischen Qualitätsselektion basiert):66 Entscheidend ist hierbei die bereits anhand von Schiller, Kleist und Novalis erläuterte Bewegung, bei der das Private zum einzig legitimen Organisationsprinzip des Politischen erklärt wird.

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Georg Braungart, Bernhard Greiner. Hamburg 2005 [Sonderheft 6 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft], S. 255–266, hier S. 258. Vgl. dazu auch seine weiteren Ausführungen zu Tell als einem »seinem Gewissen allein verpflichteten ›demokratischen‹ Staatsbürger[ ]«. Die »Naturkraft des gemeinschaftlichen Gewissens« (ebd., S. 264), von der Bloch ausgeht, wird hier als Rekurs auf eine spezifisch bürgerliche Moral gedeutet. Albrecht Koschorke: Brüderbund und Bann. Das Drama der politischen Inklusion in Schillers Tell. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, S. 106–122, hier S. 113. Vgl. dazu auch Dieter Borchmeyer: Altes Recht und Revolution. Schillers ›Wilhelm Tell‹. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, S. 69–111, hier S. 72. Lüdemann, ›Wilhelm Tell‹ und der ästhetische Staat, S. 312–313. Vgl. dazu zahlreiche Verweise in ›Wilhelm Tell‹, etwa Melchthal: »Ist gleich die Zahl nicht voll, das H e r z ist hier / Des ganzen Volks, die B e s t e n sind zugegen.« Na X, 179. Hervorhebungen von Schiller.

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Deutlich wird an ›Wilhelm Tell‹ zum einen, dass die paternale Regierung als tradierte, öffentliche Herrschaftsform latent problematisch geworden ist. In Schillers Stück ist in diesem Sinne die eigentlich funktionale, integrative und paternal ausgelegte Herrschaftsordnung korrupt; zugleich ist sie dies, weil sie an Abstraktion zugenommen hat und sich von ihren ursprünglichen Werten entfremdet hat. In diesem Sinn geht es zum anderen um eine konkrete, sinngemäße Re-Etablierung der alten Ordnung, die sich aus der alten Vaterordnung herausdifferenziert und als Brüdergesellschaft etabliert. Schiller ist daran gelegen, dies als natürlichen Evolutionsprozess zu konzipieren, wobei die Vaterschaft als legitimierende Substanz im Brüderbund erhalten bleibt, zugleich aber von allen abstrakten Herrschaftsimplikationen befreit wird. Parallel dazu wird durch die Schlusskonstruktion in ›Wilhelm Tell‹, die Väter als Brüder und vice versa denkt, genau das eliminiert, was die neubegründete Ordnung gefährden könnte: der Generationenkonflikt. Diese diskursiv entparadoxierende Strategie funktioniert dabei wie in Novalis’ ›Glauben und Liebe‹ über die nur fiktiv zu leistende Verschmelzung von Privatsphäre und öffentlicher Sphäre.67 Das Entscheidende in ›Wilhelm Tell‹ ist allerdings nicht nur die Bedeutung der Tradition, der Familie als Bastion eines spezifischen, bereits erörterten Wertesystems, sondern – allgemeiner gesprochen – die Aufwertung des Konkreten gegenüber dem Abstrakten, was anhand der bekannten Hut-Episode augenfällig wird, die ja die Krise auslöst: Der Hut als abstrakte Repräsentation der Macht verkörpert dabei das Widernatürliche in Reinform.68 Der Eklat, der Wilhelm Tell zu einer entscheidenden Teilnahme an dem stattfindenden Umsturz bewegt, ist in auffälliger Weise an ein Erlebnis geknüpft, das die mögliche Willkür des Herrschers an der maximalen Transgression misst. Gegenstand des empörenden landvögtlichen Zwangs ist in diesem Sinne Tells Vaterliebe; Anlass der Überschreitung ist der Hut auf der Stange, der »Popanz«, der das Problem herrschaftlicher Repräsentation in nuce verkörpert. Der Hut symbolisiert eine spezifische 67

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»Die private, familiäre Sphäre wird im ›Tell‹ im Hinblick auf den öffentlich-politischen Bereich umgedeutet und weist ihrerseits […] eine rechtliche Dimension auf.« MarieCaroline Foi: Schillers ›Wilhelm Tell‹. Menschenrechte, Menschenwürde und die Würde der Frauen. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 193–223, hier S. 212. Vgl. dagegen die Szene, in der Stauffacher Walter Fürst aufsucht und verkündet, dass er die alten Zeiten und die alte Schweiz suche, worauf Fürst zuversichtlich antwortet: »Die bringt ihr mit euch – Sieh, mir wird so wohl, / Warm geht das Herz mir auf bei eurem Anblick« (Na X, 155).

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Leere als Aberration der Macht, die sich dann wiederum konkret als schändliches Vergehen an der Vaterliebe manifestiert. Die von zahllosen Ellipsen durchsetzte Erwiderung Tells angesichts der bekannten Aufforderung, dem eigenen Sohn einen Apfel vom Kopf zu schießen, deutet in den Auslassungen das Unsagbare des »Ungeheuren« an und markiert zugleich das Evidente der Überschreitung: »Herr – Welches Ungeheure sinnet ihr / Mir an – Ich soll vom Haupte meines Kindes – / Nein, nein doch, lieber Herr, das kömmt euch nicht / Zu Sinn – Verhüts der gnädge Gott – das könnt Ihr / Im Ernst von einem Vater nicht begehren!« (Na X, 213)69 Der Hut auf der Stange, den Tell aus ersichtlichen Gründen übersehen konnte, verdeutlicht so eindrucksvoll die fehlende Präsenz und Menschlichkeit des hier als Schwundzeichen vertretenen Herrschers. Der Hut ist nur ein willkürliches Zeichen (das eine ebenso willkürliche Macht indiziert), dessen Legitimation mittelbar erfolgen muss. Daraus wird nochmals ersichtlich, dass nicht grundsätzliche Herrschaftsformen und -strukturen, sondern die konkrete Ausfüllung der Rolle, nämlich die Anwendung der Herrschaft, in diesem Fall also die Überschreitung der ihr eigenen ethischen Grenzen der eigentliche Gegenstand in ›Wilhelm Tell‹ ist. Am Ende, als man erfährt, dass der Kaiser ermordet wurde, heißt es dementsprechend: »Nicht Dank hat er gesät in diesen Thälern. / Er stand auf einem hohen Platz, er konnte / Ein Vater seiner Völker seyn, doch ihm / Gefiel es, nur zu sorgen für die Seinen« (Na X, 266). – Insgesamt zeigt man sich im Rebellenlager70 allerdings 69

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Marie-Caroline Foi nimmt sich dieser Transgression ebenfalls an und deutet sie im Kontext von Schillers Würde-Begriff und mutterrechtlichen Implikationen (vor allem auch basierend auf der Reaktion von Tells Frau Hedwig, die in Fois Lesart als heimliche Heldin erscheint und ebenso vehement wie unerbittlich ein mütterliches Recht verteidigt). Gesündigt wird nach ihrer Auffassung gegen die Natur in Gestalt der »Magna Mater«, die Bedeutung des Weiblichen an sich. Foi, Schillers ›Wilhelm Tell‹, vgl. besonders S. 215–218. Foi hält fest, dass »dies häusliche Recht […] hier über seine engen bürgerlichen Grenzen hinaus[tritt] und […] die antike Würde eines Rechts der Frauen als Mütter [erlangt], eines kreatürlichen Rechts, das dem, was als männliche Errungenschaft der Emanzipation im modernen Naturrecht angesprochen wurde, ›Wärme‹ verleiht.« Ebd., S. 217–218. Insofern es in meiner ›Wilhelm Tell‹-Interpretation weniger um die tatsächlich ahistorische Komponente der Mutterliebe, sondern allgemein um die als ahistorischnatürlich empfundenen, sich aber realiter wandelnden Verbindungen in der Familie geht, wird diese Rückführung auf ein beleidigtes Mutterrecht hier vernachlässigt, vor allem, weil das Skandalon der Transgression bereits anhand des im Mittelpunkt stehenden Vaters Tell evident wird. Bei seinen Schilderungen der Mütter greift Schiller im Übrigen auf durchaus konventionalisierte Geschlechtscharaktere zurück. Dies gilt trotz anfänglicher Kampfbereitschaft gegen eben jenen Kaiser Rudolf, von dem man einen Rachefeldzug wegen des ermordeten Landvogts erwartet.

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durchaus erfreut, dass eine baldige Ablösung der Habsburger Dynastie ins Haus zu stehen scheint, die ein grundsätzliches Verharren in einem größeren, tradierten strukturellen Rahmen erlaubt. Walter Fürst vermerkt so konsequent: »Wohl uns, daß wir beim Reiche treu gehalten, / Jetzt ist zu hoffen auf Gerechtigkeit.« (Na X, 264)71 Die Diskurse in ›Wilhelm Tell‹ sind vielschichtig und angesichts der enormen semantischen Transition, die sich um 1800 vollzieht, auch unterschiedlich interpretierbar. Es werden Deutungsfelder eröffnet und Legitimationsstrukturen eingeführt, die mehrfach kodiert sind. Wichtig in diesem Kontext ist die Koexistenz von Brüderbund und Vatergesellschaft sowie die damit verbundene Eliminierung des Generationenkonflikts, die das Schluss-Szenario trägt. Der evolutiv von allen möglichen intergenerationellen Differenzen bereinigte Brüderbund dokumentiert aber nichtsdestoweniger die Schichtung der Semantiken, indem die Virulenz der jungen Generation abgeglichen wird mit der Kontinuität und der alten Validität der Vatermacht (die bei Schiller explizit abgegrenzt wird von der Tyrannenmacht). Die Kritik an den Vätern in Deutschland richtet sich in diesem Sinne streng anhand dieses bürgerlich-ethischen Vorbehalts der gerechten und emotionalisierten (im Sinne von: nicht abstrakten) Vaterherrschaft aus. Aber auch wenn in ›Wilhelm Tell‹ der potentielle Generationenkonflikt gebannt wird, den die Französische Revolution nach Lynn Hunts Deutung noch abbildet, so erfordert diese Ausklammerung ein idyllisches setting, das utopischen Labor-Charakter hat.72

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In diesem Sinne hatte Tell zuvor auch schon darauf hingewiesen, dass der König, den man fürchtet, auch der ist, der alle schützt und nährt. Später betont Stauffacher im antirevolutionären Gestus des Stückes: »Denn herrenlos ist auch der Freiste nicht, / Ein Oberhaupt muß seyn, ein höchster Richter, / […] Drum haben unsre Väter für den Boden, / Den sie der alten Wildnis abgewonnen, / Die Ehr’ gegönnt dem Kaiser«, (Na X, 183). Vgl. insgesamt zu diesem Thema Gerhard Kaiser: Väter und Brüder. Weltordnung und gesellschaftlich-politische Ordnung in Schillers Werk. Abhandlung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Bd. 80, Heft 2. Stuttgart, Leipzig 2007.

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4.

»Väter« als Brüder II: Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹

Eine andere, ähnlich utopische Befriedung73 findet sich in ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, ein Text, der sich fast vollständig aus konventionellen Herrschafts- und Erziehungsszenarien zurückzieht und mit der Turmgesellschaft eine diskrete Instanz schafft, die durch ihr geheimes Agieren zunächst keine direkte Reibungsfläche zwischen der leitenden und der geführten Partei bietet74 – verdichtet auf diesen Aspekt der Vater-SohnInteraktion soll Goethes monumentales Projekt (eine »der größten Tendenzen des Zeitalters«)75 im Folgenden kurz verortet (aber natürlich nicht erschöpfend interpretiert) werden. Das Leben Wilhelms ist stärker durch die in der Turmgesellschaft objektivierte paternale Beziehung76 geprägt und abgesichert als über eine konkrete emulative oder konfrontative Beziehung zu seinem Vater. Dass sich Wilhelm gerade auch in seinem Selbstverständnis der Turmgesellschaft gegenüber in einer filialen Rolle sieht, wird besonders greifbar nach seiner Einführung in die besagte Gemeinschaft. Die nachträglich gefühlte Heteronomie, die sich für ihn aus der nunmehr offen gelegten Lenkung 73

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Auch Goethes post-revolutionäres Epos-Projekt ›Hermann und Dorothea‹ funktioniert trotz angedeuteter (aber kontrollierter) Vater-Sohn-Konfrontation in diesem Sinne evasiv, insofern alles im durch die Integrität der Charaktere prästabilisierten Idyll kulminiert. Mit Blick auf Ablösungsprozesse vom Ancien Régime und der alten Vaterordnung erweist sich besonders das Thema der Genealogie in ›Die natürliche Tochter‹ als entscheidend: Matthias Buschmeier hat bereits darauf verwiesen, dass in diesem Stück Familienals Gesellschaftsmodelle diskutiert werden. Matthias Buschmeier: Familien-Ordnung am Ende der Weimarer Klassik. Zum Verhältnis von Genealogie, Politik und Poetik in Schillers ›Die Braut von Messina‹ und Goethes ›Die natürliche Tochter‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008), S. 26–57. »Durch Auslassen der Vatergestalten, wo wir sie der Tradition gemäß erwarten dürften, schafft Goethe das Patriarchat in seiner fiktionalen Welt ab. Er gewinnt dadurch Spielraum, einen relativ autoritätsfernen Raum, in dem er die Ideen der Aufklärung und die Nuancen der zeitgenössischen Psychologie einsetzen kann.« Ruth Klüger: Goethes fehlende Väter. In. Klüger, Frauen lesen anders. Essay. 2München 1997, S. 105–128, hier S. 110. Klüger weist auf den wichtigen Umstand hin, dass sich Referenzen auf väterliche Machtstrukturen dennoch in den Texten finden, gerade auch in ›Wilhelm Meister‹. Wie Friedrich Schlegel im 216. Athenäumsfragment bekanntermaßen pointiert-provokativ anmerkt, in dem er Goethes ›Wilhelm Meister‹ und Fichtes Wissenschaftslehre auf die gleiche Stufe stellt wie die Französische Revolution. In: Charakteristiken und Kritiken. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Hans Eichner. Abt. 1. Bd. 2. München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 198. Im Kontext dieses Kapitels geht es nicht primär um die »patriarchalische Idee«, wie sie konzeptuell den Geschlechtscharakteren oder Gesellschaftsstrukturen zugrunde liegt (vgl. dazu unter anderem: Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen. Berlin, New York 2006, hier S. 177–182), sondern um das spezifische Verhältnis der Generationen.

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ergibt, resultiert bei Wilhelm in einer durchaus ambivalenten Reaktion; Gestalt gewinnt diese letztlich in seinen Heiratsplänen mit Therese, die er den neuen Vertrauten eigensinnig verheimlicht. Gerade die Heimlichkeit, die sowohl eine vollständige Individualisierung beansprucht als auch Widerspruch der anderen zu antizipieren und die Konsequenzen gleichsam in Kauf zu nehmen scheint, erinnert im Ansatz an die Generationskonflikte, die das Thema der Paarliebe topisch begleiten; zudem wird Wilhelms Entschluss im Duktus der Ablösung und Befreiung beschrieben: Nach einigem innerlichen Streit, ob er diese wichtige Sache noch erst mit seinen Freunden, mit Jarno und dem Abbé, beraten solle, entschied er sich zu schweigen. Er war zu fest entschlossen, die Sache war für ihn zu wichtig, als daß er sie noch hätte dem Urtheil des vernünftigsten und besten Mannes unterwerfen mögen; ja, sogar brauchte er die Vorsicht, seinen Brief auf der nächsten Post selbst zu bestellen. Vielleicht hatte ihm der Gedanke, daß er in so vielen Umständen seines Lebens, in denen er frei und im Verborgenen zu handeln glaubte, beobachtet, ja sogar geleitet worden war, wie ihm aus der geschriebenen Rolle nicht undeutlich erschien, einer Art von unangenehmer Empfindung gegeben, und nun wollte er, wenigstens zu Theresens Herzen, rein vom Herzen reden und ihrer Entschließung und Entscheidung sein Schicksal schuldig sein, und so machte er sich kein Gewissen, seine Wächter und Aufseher in diesem wichtigen Punkte wenigstens zu umgehen. (WA I, XXIII, 143)

Wilhelm verkörpert somit einen vertrauten Standpunkt, wenn er auf Jarnos Ankündigung, dass der Abbé, »so wie er überhaupt gern ein wenig Schicksal spielt […] auch nicht von der Liebhaberei [lässt], manchmal eine Heirath zu stiften.« (WA I, XXIII, 219–220) Die »klugen und guten Worte« Jarnos ändern allerdings wenig an Wilhelms »leidenschaftlich[er] und verdrießlich[er] Stimmung«, er entgegnet in der bekannten, filialen Anspruchsrhetorik der romantischen Liebe, die gegen alle paternalen Widerstände Geltung beansprucht: »Ich dächte, man überließe die Liebhaberei, Heiraten zu stiften, Personen, die sich lieb haben.« (WA I, XXII, 220) Wilhelms Entscheidung freilich, ohne die Konsultation der Turmgesellschaft um Thereses Hand zu bitten, entspricht gerade eben nicht dem hier im Sinne der romantischen Liebe Geforderten und verhindert fast die schließlich ins Hause stehende Doppelhochzeit zwischen Lothario und Therese, sowie zwischen ihm und der eigentlich geliebten Natalie. Die Turmgesellschaft kann diese finale Entgleisung letztlich noch rechtzeitig abwenden und bleibt bei diesem angedeuteten, traditionellen Konflikt fest als unhintergehbare, paternal kodierte Instanz erhalten, die selbst in Liebesdingen am besten zu wissen und zu vermitteln scheint, was den »Söhnen« gut tut. 191

Der Sohn als Vater Dabei ist für meine Argumentation entscheidend, dass sich diese leitende, quasi-väterliche Instanz, die Turmgesellschaft, nicht nur aus paternalen Figuren zusammensetzt; hier wird vielmehr auf einer fraternalen Ebene reguliert. Im folgenden Abschnitt soll es kurz um die Besonderheit gehen, in der jene oben beschriebene Überlagerung von Bruder- und Vatergeneration noch einmal verdichtet und ästhetisch gebündelt wird – ausschlaggebend sind dabei unter anderem zwei wiederkehrend thematisierte, ästhetische Formationen: zum einen das Gemälde ›Der kranke Königssohn‹ und zum anderen Shakespeares ›Hamlet‹. In der engen, unterschwellig identifikatorischen Bindung, die Wilhelm an das Bild und den Text entwickelt, wird vor allem eine Qualität in Wilhelm sichtbar: die des Sohnes. Seine Obsession mit dem dänischen Königssohn Hamlet erstreckt sich über eine weite Strecke von Wilhelms »Lehrjahren«; gerade wenn er die Schauspielerei und damit auch die Rolle des Hamlets im Verlauf des Textes abstreift, bleibt doch auffälligerweise seine Affinität zur Rolle des »Sohnes« konsistent. Ein weiterer, ästhetisch durchgehend präsenter »kranker« Königssohn wird bereits zu Beginn des Romans ausführlich eingeführt: In einem Gespräch über Kunst betont Wilhelm die Bedeutsamkeit des dargestellten Gegenstands und lobt auf dieser kunsttheoretischen Basis das Gemälde ›Der kranke Königssohn‹. Dem Narrativ in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹ zufolge ist der Königssohn in seine zukünftige Stiefmutter verliebt und wird von seiner Krankheit geheilt, als der Vater auf die Frau verzichtet.77 Mit Referenz auf dieses Bild wird Wilhelm am Ende des Romans ebenfalls als »kranker Königssohn« identifiziert, wenn Friedrich ein analoges Heilmittel für den liebeskranken Wilhelm einfordert. Dem folgt dann in der Tat die Verbindung mit Natalie. Besonders in der letzten Konstellation gegen Ende werden gleich zwei Szenarien offensichtlich: zum einen bleibt Wilhelm gewissermaßen der Sohn, der – wie Friedrich leichtfertig in Bezugnahme auf das Bild formu77

Im Rückgriff auf einen Stoff bei Plutarch: Antiochus Soter I. ist erkrankt, sein Vater Seleukos I. von Syrien erfährt von einem findigen Arzt von der Liebe seines Sohnes zu seiner Stiefmutter Stratonike; Seleukos trennt sich und ermöglicht so die Heirat. Die Geschichte liegt in vielfachen dichterischen und malerischen Adaptionen vor. Vgl. dazu Erika Nolan: Wilhelm Meisters Lieblingsbild. Der kranke Königssohn. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1979), S. 132–152. Zur Verbindung dieses Motivs mit dem Hamlet-Motiv vgl. ausführlich: Volker Zumbrink: Metamorphosen des kranken Königssohns. Die Shakespeare-Rezeption in Goethes Romanen ›Wilhelm Meisters Theatralische Sendung‹ und ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. Münster 1997 [Zeit und Text. Münstersche Studien zur neueren Literatur, Bd. 10].

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liert – durch die Liebe von seiner »Krankheit« geheilt werden kann; zum anderen sieht sich Wilhelm überhaupt nur zur Vortäuschung dieser Krankheit gezwungen, weil er zuvor (in Anerkennung der Liebe zwischen Lothario und Therese) Verzicht auf Therese übte. In einer paradoxen Doppelung nimmt er also gleichzeitig die vom Bild vorgegebene paternale Verzichthaltung78 und die filiale Empfangshaltung ein, wenn die Krankheit zur eigentlich gewünschten Verbindung zu Natalie führt. Eine vergleichbare, in diesem Fall generationelle Überlagerung findet sich auch bei der Turmgesellschaft, die Leitung und subtile Steuerung exerziert und damit von ihrer Funktionsbestimmung her paternal erscheint, in der Realität aber aus einem Konglomerat verschiedener Generationen besteht, deren Beziehung sich als fraternal erweist. Der Vater als Geist Für diese Synchronisierung zweier Generationsebenen ist es von Bedeutung, dass reale Vaterfiguren auf der Figurenebene vor allem als »Gespenst« (bei der Hamlet-Inszenierung) oder in Träumen in Erscheinung treten – mit diesem Kunstgriff ist bereits eine paradoxe absente Anwesenheit des Paternalen angedeutet, die am deutlichsten bei der zentralen Hamlet-Inszenierung zum Tragen kommt. Insofern sich die Theatergesellschaft schwer tut, die Rolle von Hamlets Vater (der ja als Geist erscheint) zu besetzen, wird zunächst eine offensichtliche Lücke bezeichnet: Angesichts Wilhelms großer Rollenaffinität und Neigung zur vollständigen Immersion in die fiktive Realität des Stückes (Jarno hebt in diesem Sinne später noch ausdrücklich hervor, dass Wilhelm als Schauspieler nur reüssiere, wenn er sich selbst spiele) muss die Suche nach einem geeigneten Vater-Repräsentanten in der Schauspielgruppe auch vor dem Hintergrund von Wilhelms persönlicher Entwicklung gelesen werden. Immerhin gibt diese »Vaterlosigkeit« der Turmgesellschaft dann Gelegenheit, den Geist von Hamlets Vater zu entsenden und (damit diskret eine spezifische Abspruchshaltung signalisierend) symbolisch eine auffällige paternale Leerstelle zu besetzen. Diese solchermaßen prokurierte Geistererscheinung wird von Wilhelm dann ausdrücklich personalisiert, indem er eine besondere, stimmliche Ähnlichkeit des Geistes mit seinem Vater feststellt und somit das Büh78

Die hier quasi fraternal eingeführt wird: »Lothario und seine Freunde können jede Art von Entsagung von mir fordern, ich lege Ihnen hiermit alle meine Ansprüche an Theresen in die Hand« (WA I, XXIII, 233, Hervorhebung von C.N.)

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nen-Phänomen unterschwellig auf sich und seinen kürzlich verstorbenen Vater bezieht. In bizarrer Überlagerung schwebt Wilhelm das Bild des geisterhaften, geharnischten Königs auch bei der nächtlichen Begegnung mit einem anderen »Gespenst« vor, das später als Philine entlarvt wird. An diese erotische Begegnung und die nachfolgende Schwangerschaft Philines wird jedoch am Ende des Romans nicht erneut die Vaterfrage geknüpft; denn die entscheidet sich in diesem Stadium pragmatisch-sozial, indem Friedrich mit Blick auf Wilhelms mögliche Vaterschaft, beschließt, selbst der Vater zu sein: »Die Geschichte [der nächtliche Besuch bei Wilhelm] war mir freilich eine harte Mitgift, doch wenn man sich so etwas nicht mag gefallen lassen, so muß man gar nicht lieben. Die Vaterschaft beruht überhaupt nur auf der Überzeugung; ich bin überzeugt, und also bin ich Vater.« (WA I, XXIII, 228) Gleichwohl wird mit der Präsenz von Wilhelms Vater (als Geist) eine prinzipiell mögliche Genealogie markiert, auch wenn sie hier nicht verifiziert werden kann.79 In diesem Sinne figuriert das »Gespenst« auch noch als Verkünder von Wilhelms Vaterschaft, die letzterer am Ende des Romans anerkennt, indem die Geistererscheinung Mignon den Auftrag erteilt, Felix’ Vater zu rufen, was Mignon in intuitiver Präzision umsetzt, wenn sie Wilhelm hinzuholt.80 Wilhelms eigener Vater wiederum erscheint in einer mysteriösen Traumsequenz, die Wilhelms bisheriges Leben mit seinem zukünftigen verbindet: 79

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Genealogien, ihre Verrätselung und Anagnorisis sind im Text durchgehend thematisch: Zunächst fällt als standardisierte Komponente wiederum die Abwesenheit von biologischen Müttern ins Auge (Mariane stirbt, Frau Melina wird als werdende Mutter von Philine verhöhnt, tritt aber als Mutter selbst nicht in Erscheinung, Philine zieht sich wegen ihrer selbst attestierten Verunstaltung während der Schwangerschaft aus der Romanhandlung zurück). Das Beispiel Thereses, die als illegitimes Kind des Vaters von seiner Frau als das ihre anerkannt wird, demonstriert, dass in ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ nicht nur gilt: pater semper incertus est – sogar biologische Mutterschaft wird deutlich in Frage gezogen. Genealogien werden somit durchweg entscheidend, allerdings in unterschiedlicher Form. Während im Falle Thereses mit der Rektifizierung der Abstammung lediglich ein Hinderungsgrund für die Heirat zwischen ihr und Lothario entfällt (damit aber keineswegs eine eben nicht gegebene, krisenhafte Selbsterfahrung kuriert oder erklärt wird), so ist im Falle des Harfners und Wilhelms an die Herkunft eine konzeptuelle Frage nach Identität geknüpft. Dies ist verknüpft mit der Geschichte des Harfners, der in einer Art ödipalen Inversion nach dem Inzest geistig erkrankt und fest davon überzeugt ist, dass ihm der »Tod durch einen unschuldigen Knaben« (WA I, XXIII, 31) bevorstehe. Auch hier scheinen die Positionen von Vater und Sohn anachronistisch und strukturell versetzt, insofern die inzestuöse Transgression, die der Sohn begeht den alternden Harfner zum Tötungsversuch am jungen Felix bewegt.

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Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Garten, den er als Knabe öfters besucht hatte, und sah mit Vergnügen die bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Mariane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Missverhältnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hieß er den Sohn zwei Stühle aus dem Gartenhaus holen, nahm Mariane bei der Hand und führte sie nach einer Laube. […] Er richtete seinen Weg auf beide zu […]. Sie wollten dessenungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu; der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Flug durch die Allee hinschweben. Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu Hülfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zurück. Wie gern ließ er sich halten! (WA I, XXIII, 10–12)

Auch wenn Wilhelm sich in zunehmender Geschwindigkeit von der alten Geliebten und dem Vater entfernt (und dabei offensichtlich räumlich seiner zukünftigen Frau Natalie annähert), bleibt der Vater im Traum als Prinzip präsent und stellt die entscheidende Genealogie her, indem er hier in Beziehung zur Mutter von Wilhelms Sohn Felix gesetzt wird. Das Prinzip der Vaterschaft wird hervorgehoben, der reale Vater aber verschwindet – Wilhelm scheint dabei automatisch an seine Stelle zu treten. Er tut dies aber genau in der gerade beschriebenen besonderen Eigenschaft, die innovativ auf die oben erläuterten gubernatorischen und repräsentativen Probleme der Sattelzeit reagiert: nämlich als Sohn. Auch wenn der Bildungsgang durch die (soziale und auch – insofern Wilhelm der Turmgesellschaft, die ihm diese Information verbindlich übermittelt, vertraut – biologische) Anerkennung der Vaterschaft abgeschlossen wird, figuriert Wilhelm also über den Großteil des Romans hinweg als Sohn. Wilhelms Beziehung zu seinem eigenen Kind Felix (und gewissermaßen auch sein Verhältnis zu Mignon) installiert ihn nicht primär in der hier relevanten paternalen Rolle, sondern illustriert vielmehr den Bildungsprozess Wilhelms,81 der teleologisch auf die Vaterschaft zuzulaufen scheint, ja in einer eigentümlichen zeitlichen Inversion die Fähigkeit zur paternalen Rollenakzeptanz noch der Beziehung zu Natalie vorschaltet. Gleichzeitig findet er sich in einer Gemeinschaft von »Brüdern« wieder, die sein Leben mitbestimmen und zu deren (im übrigen antirevolutionär stabilisierenden) 81

Dieser setzt sich dann (ausgehend von der verspätet angetretenen Vaterschaft in den ›Lehrjahren‹) in den ›Wanderjahren‹ fort. Nachdem Wilhelm Felix in der Pädagogischen Provinz untergebracht hat und anschließend zum Wundarzt ausgebildet wurde, kann er seinem Sohn mit seinen neu erworbenen Fähigkeiten nach einem Sturz das Leben retten. Indem Wilhelm Felix zum zweiten Mal das Leben schenkt, scheint er hier zum ersten Mal seine Vaterrolle sozial vollständig auszufüllen.

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Projekten er beitragen soll. Das paternale Prinzip ist damit fraternal adaptiert, bleibt aber unterschwellig präsent; in den ›Lehrjahren‹ gelingt damit – wie in ›Wilhelm Tell‹ – eine stabilisierende Kontinuität im Wandel. Vaterund Bruderprinzip werden synchronisiert und die paternale Legitimität auf die Söhne übertragen, die im Umgang miteinander eine spezifische Egalität und Freiheit zu kultivieren scheinen. Bürgerlichkeit als moralische Normierung bleibt auch hier stark an das Paternale gekoppelt. Gerade bei Wilhelm wird Vaterschaft explizit als grundsätzliche moralische Platzierung in der Gesellschaft verstanden: So »waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben« (WA I, XXIII, 137); in diesem Sinne wird auch sein gesamter Bildungsweg dieser Vaterwerdung vorgeordnet.82 Obwohl Goethes Werk damit keineswegs ohne Väter auskommt (tatsächlich gibt es zahllose Figurationen von Vaterschaft),83 ist der Fokus stärker auf die Generation der paternalen »Söhne« gerichtet als auf die problematischen Prozesse der Intergenerationalität.

5.

Schlussfolgerungen

1) Auch die fraternalen Ansätze scheinen somit paternal vermittelt und legitimiert: Diese harmonisierende, konfliktvermeidende Synchronisierung der männlichen Intergenerationalität (die wie oben angedeutet in verschiedenen Variationen auftreten kann) als gleichwertige Partnerschaft und als evolutive Alternative zu den parriziden Ablösungsphänomenen in Frankreich setzt sich in den verschiedensten Variationen fort. 82

83

Vgl. speziell zum Thema Vaterschaft exemplarisch auch: Elisabeth Krimmer: Mama’s baby, Papa’s maybe. Paternity and ›Bildung‹ in Goethe’s ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. In: The German Quarterly 77/3 (2004), S. 257–277. Heidi M. Schlipphacke: »Die Vaterschaft beruht nur überhaupt auf der Überzeugung«. The displaced family in ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. In: Journal of English and Germanic philology 102/3 (2003), S. 390–412. Barbara Becker-Cantarino: The discourse of patriarchy in Goethe’s ›Wilhelm Meister‹. In: Helikon 20/1 (1993), S. 137–153. Das Phänomen des absenten konkreten, aber normativ präsenten Vaterprinzips findet sich auch in Texten, die weitgehend ohne offensichtliche Vaterfiguren auskommen. Vgl. dazu etwa Claudia Nitschke: Corporeality and Emotion in Goethe’s ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Publications of the English Goethe Society 80/1 (2011), S. 38–52, hier S. 50–51. In ›Die Wahlverwandtschaften‹ gewinnt auch ein Phänomen Raum, das in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹ noch nicht greifbar ist: Die unterschwellige Konkurrenz zwischen Ottilies Vater (idealpräsent durch eine Kette mit Bild) und Eduard (der sie auffällig bittet, dieses Bild abzulegen) reproduziert die Spannungen zwischen Vater und Liebhaber und problematisiert die romantische Liebe im Spannungsfeld mit ihren körperlichen Konsequenzen. Vgl. das Folgende.

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Die Synchronisierung zweier Generationen, die bei Schiller und Goethe in einem speziellen Szenario stabilisiert wird, geht allerdings auch Hand in Hand mit einer potentiellen Radikalisierung eines emergenten Problemfeldes: nämlich die Konkurrenz von Vater und Partner.84 2) Die Interferenz von Öffentlichkeit und Privatheit bindet um 1800 die politische Wirkungsmächtigkeit, die von der inszenierten Privatheit ausgegangen war, zurück auf die Familie. Diese Rückkoppelung wird semantisch paradox: Der Vater wird politisch, weil er in seiner autonomen Privatheit neue emotionalisierte Maßstäbe für den Herrscher impliziert. Wurde im 18. Jahrhundert noch ausführlich darauf verwiesen, dass die Herrschaft des Vaters nicht vergleichbar sei mit der eines Landesfürsten, so vollzieht sich die Überlagerung der Attribute folgerichtig umgekehrt. Das Bild des »guten Vaters« gewinnt eine symbolische Eigendynamik, die sich als durchlässig für die öffentliche Sphäre erweist: Schnittstelle und dann gemeinsames Medium, an dem nunmehr beide Sphären partizipieren,85 sind die bürgerliche Wertekonstruktionen, die sich bald auch öffentlich als unhintergehbar erweisen. Die literarische Familienkonzeption im bürgerlichen Wertemilieu ist eine für Herrschaftskonzeptionen entscheidende Arena; die Vielzahl der möglichen und tatsächlichen Widersprüche erklärt die unterschiedlichen Stoßrichtungen, die eine Behandlung des Themas »Vater« erfahren kann. Bei der literarischen Familienkonstruktion gilt das, was auch Mitterauer für die historischen Konstellationen angemerkt hat: Es handelt sich um das »Nebeneinander verschiedener Prozeßverläufe«.86 Trotz dieser Divergenz gilt es festzuhalten, dass alle Vater-Figurationen in erstaunlicher Einhelligkeit an einem bürgerlichen Wertemodell gemessen werden.

84 85 86

Vgl. zu dieser Konkurrenz besonders das folgende Kapitel zu Kleist. Das kann als weitreichendes Ergebnis der Französischen Revolution gewertet werden. Michael Mitterauer: Familie und Arbeitsteilung. Historisch-vergleichende Studien. Wien, Köln, Weimar 1992, S. 180.

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198

V.

Kleist: Romantische Komplikationen

1.

Vaterliebe versus Paarliebe

Die Verschiebungen im semantischen Feld Liebe um 1800 sind inzwischen topisch; mit Blick auf die Entwicklung der literarischen Manifestationen zum Thema Familie allerdings gewinnt die Liebe eine weitere Dimension, die sich besonders in einem neu umrissenen Fokus auf die Paarbeziehung materialisiert. Das komplexe Konstrukt birgt dabei offensichtliche Probleme, die schon mit Blick auf Lessing angedeutet wurden. Noch deutlicher wird dies in zahlreichen Erzählungen um 1800, die um die Ambivalenz zwischen Liebe und körperlichem Begehren kreisen und dabei eine deutlich sexualisierte Leidenschaft und eine tugendhafte romantische Liebe zu differenzieren versuchen. Vor diesem Hintergrund treten etwa bei Kleist ›family of origin‹ (Vater) und ›family of procreation‹ (Liebhaber/Ehemann) noch expliziter als bei Lessing gegeneinander an,1 wobei der Einschließungsanspruch beider Formen stärker als zuvor über Sexualität und ihre moralische Deutung geregelt wird. Dass die semantische Konstellation verschiedene Paradoxe produziert, die in Kleists Texten weiter ausdifferenziert werden, wurde schon angedeutet. Die weibliche Identität zwischen »Tugend« und Sexualität wird bei Kleist zu einem wichtigen Territorium, auf dem die Tragfähigkeit von Familie und Liebe/Ehe (als Integrationsmechanismen) erprobt werden kann.2 Mit Blick auf die Frau wird Sexualität im expliziten Zuweisungsdiskurs (nicht aber im gestisch-mimischen) »ortlos«, d. h. sie 1

2

Vgl. dazu auch Kurt Wais: Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung bis 1880. Berlin, Leipzig 1931, S. 1–14, hier S. 1: »Die revolutionäre aktuelle Bedeutsamkeit des Vater-SohnKonfliktes, als Teil des großen Generationskampfs zwischen Jung und Alt, begann man erst im 18. Jahrhundert zu ahnen; was uns vorher an bewußten Konflikten zwischen Vater und Sohn entgegentritt, trägt mehr oder weniger den Stempel der Zufälligkeit.« Die Möglichkeit einer quasi zugleich tugendhaften und spontanen sexuellen Hingabe der Frau steht insbesondere bei Kleist im Zeichen des Unbewussten, der Täuschung: Sei es Penthesilea, Alkmene oder die Marquise von O…, alle können die sexuelle Tat begehen, ohne ihre jeweiligen Tugendkonzeptionen (die genau diese Überschreitung ausschließen) in Frage zu stellen. Der konstruktive Charakter ist evident und wird im Folgenden nur erörtert, wenn es für die Analyse der Geltungsbereiche von Vater, Liebhaber, Tugend und Sexualität notwendig ist.

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ist mit keinem der beiden Familiensysteme kompatibel und interferiert in einer spezifischen, selbst-expressiven Körperlichkeit3 zunehmend mit beiden werteregulierten Inklusionsmechanismen. Sowohl die Ehefrau als auch die Tochter müssen diesen Vorgaben entsprechen. Nichtsdestoweniger wird bei Kleist die körperliche Affinität zwischen den romantisch Liebenden für die (textlich präordinierte) Paarbeziehung unentbehrlich. Zu den beiden Rollen der Ehefrau und Tochter tritt nun noch die der Geliebten.4 Kleists Texte kaschieren diesen Aspekt allerdings, indem sie Konstellationen entwerfen, in denen die Frauen als Geliebte wichtig werden, gleichzeitig aber diese Funktion unbewusst, unschuldig und tugendhaft erfüllen. Die potentielle Sprengkraft der körperlichen Attraktion innerhalb einer holistisch gedachten Paarbeziehung ist trotzdem unübersehbar. Die Paradoxien, die ein auch physisch konnotiertes und aufgewertetes Liebeskonzept generiert, betreffen dabei in erstaunlicher Weise auch die Vaterfiguren. Im Folgenden sollen anhand mehrerer verschalteter Textbeispiele drei Tendenzen deutlich werden, die sich – mit selektivem Blick auf das Oszillationssymbol »Vater« – in Kleists komplexen Texten abzeichnen: Zum einen soll herausgearbeitet werden, wie (auf der Basis eines physisch im3

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»Nicht um die mündliche Rede eines Graf F…, Käthchen von Heilbronn oder Prinz Friedrich von Homburg scheint Verlaß, sondern allenfalls auf die Sprache ihrer Körper, die sich in unwillkürlichen Zeichen wie Erröten, Erblassen, Ohnmacht und Somnabulismus äußert. An die Stelle der längst zweifelhaft gewordenen ›Lesbarkeit der Welt‹ tritt die Hoffnung auf eine ›Beredsamkeit des Leibes‹, die zumindest im verkleinerten Maßstab einen Ausweg aus der verunsichernden Erfahrung einer kontingenten Welt verheißt.« Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen 2001, S. 153–154. Auch wenn dem körperlichen Ausdruck Authentizität anhaftet, bleiben die korporalen Zeichen trotzdem enigmatische Chiffren, die im Verlauf des Textes auch nicht eindeutig zugewiesen werden können. Damit ist die von Krüger-Fürhoff suggerierte »Lesbarkeit« eine zurückgenommene und fungiert allenfalls als Indiz für eine in sich wieder erläuterungsbedürftige, tiefgreifende Erregung oder Verunsicherung. Vgl. dazu auch insgesamt Dietmar Strotzki: Die Gebärde des Errötens im Werk Heinrich von Kleists. München 1971. Andrea Gnam: Die Rede über den Körper. Zum Körperdiskurs in Kleists Texten ›Die Marquise von O….‹ und ›Über das Marionettentheater‹. In: Text und Kritik. Sonderheft Heinrich von Kleist. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit mit Roland Reuß und Peter Stängle. München 1993, S. 170–176. Vgl. allgemein Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists. Göttingen 2003. Die zweifache Bestimmung der Frau als »Inbegriff der ›unverdorbenen‹ Frau« und der »Vorstellung von ihr als »Triebwesen« und »notorisch[er] Verführerin« betrifft vor allem die Rolle der Frau als Partnerin; gleichzeitig hat diese unterstellte Doppelnatur allerdings auch eine Auswirkung auf ihre Rolle als Tochter. Gerhard Neumann: Skandalon. Geschlechterrolle und soziale Identität in Kleists ›Marquise von O…‹ und in Cervantes’ Novelle ›La fuerza de la sangre‹. In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, S. 149–192, S. 156.

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plementierten romantischen) Liebeskonzepts der zukünftige Partner der Tochter den Vater hinsichtlich der individualisierenden Integrationsfunktion mehr und mehr überlagert und wie der Vater dabei automatisch in das Spannungsfeld zwischen filialer Sexualität und Moral einbezogen wird (›Marquise von O….‹, ›Käthchen von Heilbronn‹). Damit wird die selbstverständliche, soziale Rolle des Vaters in mehrerer Hinsicht fragwürdig. Im Kontext dieser Problematik lässt sich aber nun, zum Zweiten, beobachten, wie auf einer anderen Ebene eine (positiv kodierte) Verkörperungsfunktion des »Vaters« akzentuiert wird (›Käthchen von Heilbronn‹). Zum Dritten lohnt sich auch hier ein gründlicher Blick auf den bei Kleist intensiv beleuchteten Zusammenhang zwischen sozialer und biologischer Vaterschaft (besonders in ›Der Findling‹), der sich nur im nachdrücklichen Rekurs auf die hier entscheidende, bürgerliche WerteOrdnung (und die Ortung/Legitimation des paternalen Herrschaftsbereiches) verstehen lässt.

2.

Konkurrenz zwischen Vater und Schwiegersohn I: Rollenusurpationen in ›Die Marquise von O….‹

Als besonders aussagekräftig mit Blick auf die Vaterrolle erweist sich dabei ›Die Marquise von O….‹, die intertextuell einen Übergang ausstellt.5 Kleists Text evoziert sowohl bei dem vorübergehenden Zerwürfnis von Vater und Tochter (die bezeichnenderweise den Namen Julietta trägt) als auch bei der bald danach erfolgenden Versöhnung Rousseaus ›La Nouvelle Héloïse‹. Rousseaus Briefroman bezieht sich seinerseits auf einen mittelalterlichen Prätext, an dessen Modell der keuschen Ehe6 er anknüpft: Julies leidenschaftlicher Affäre mit Saint-Preux folgt in diesem Sinne die tugendhafte, gesellschaftlich produktive Verbindung7 mit einem älteren Mann.8 5

6

7 8

Die Erzählung folgt insgesamt Aspekten von Montaignes Essai über die Trunkenheit, in dem es um eine Bäuerin geht, die ihren Rausch ausschläft, ebenfalls, ohne es zu bemerken, geschwängert wird und den Verantwortlichen von der Predigerkanzel aus sucht. Die Ohnmacht der Marquise ersetzt hier den offensichtlich fragwürdigen Rausch. Michel Montaigne: De l’yvrognerie. In: Œuvres complètes. Hrsg. von Maurice Rat. Paris 1962. Vgl. Adam Soboczynski: Das Arcanum der ›Marquise von O…‹. Kleists preußische Novelle zwischen Verstellungskunst und Gottesbegehren. In: Kleist-Jahrbuch (2004), S. 62–87. Vgl. dazu Friederike Kuster: Rousseau. Die Konstitution des Privaten. Berlin 2005. Vgl. dazu auch genauer Frömmer, Vaterfiktionen, S. 235–247.

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Religiöse Einsicht und väterliche Lenkung resultieren in einer bruchlosen Überführung der Tochterexistenz in eine purifizierte Mutterexistenz, wobei der Vater Julie mit dem Segen Gottes an den paternal-entsexualisierten Bräutigam übergibt. Sexualität wird in dieser ›family of procreation‹ funktionalisiert und von den Gefahren der Leidenschaften gereinigt. Bis zu ihrem vorzeitigen Tod scheinen somit die verschiedenen Kräfte zufriedenstellend und vorbildlich ausgesöhnt – wenn sich Julie auf dem Sterbebett zu ihrer Jugendliebe bekennt, wird allerdings deutlich, dass es sich dabei um eine mühsam stabilisierte und letztlich auch artifizielle Lösung handelt. Die Gefühle für Saint-Preux, für die es in der vernünftigen, tugendhaften Ehe keinen Raum gibt, erweisen sich als hartnäckig und behaupten sich zuletzt, bezeichnenderweise jedoch auf dem Sterbebett. Erst im Moment der vollständigen Entkörperlichung verlieren sie ihre Bedrohlichkeit für die Gemeinschaft. In Rousseaus Briefroman lassen sich Liebe als Passion und Ehe nicht zwangsläufig synchronisieren, sondern lösen sich chronologisch ab; der Text bietet letztlich keine nachhaltige Lösung für eine substantielle Einfriedung der Begierden.9 Rousseaus Briefroman ist für Kleists ›Marquise von O….‹ in mehrerer Hinsicht relevant.10 Die auffälligste, markierte intertextuelle Entspre9

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Albrecht Koschorke deutet dies als spezifische Praxis der kulturellen Überschreibung des Ursprungs (vgl. dazu insgesamt: Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr) und abweichend von meiner Interpretation hier (in Die Heilige Familie und ihre Folgen) auch als semantische Strategie der Heiligung. Diese Versatzstücke spielen fraglos mit der Konzeption von Geschlechtscharakteren, insofern die Frau zum einen dem Tugendgebot unterliegt, zum anderen aber auf die neue Form der physisch-erotisch aufgeladenen Form der Liebe empfangend reagieren muss. Koschorke, Heilige Familie, S. 57–65. Beide Texte deuten an, wie sehr sich das weibliche Tugendideal aus religiösen Konzeptionen speist. (Vgl. auch Barbara Vinken, Anselm Haverkamp: Die zurechtgelegte Frau. Gottesbegehren und transzendentale Familie in Kleists ›Marquise von O…‹. In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hrsg. von Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau 1994, S. 127–147.) Die Tatsache, dass sich die Marquise als Mutter und Witwe mit dem paradoxen Gedanken an eine unbefleckte Empfängnis bzw. einer »jungfräulichen« Schwangerschaft auseinandersetzen muss, korrespondiert mit Julies ostentativer Frömmigkeit (Vgl. dazu Frömmer, Vaterfiktionen, S. 252–259), die sie in der Ehe kultiviert (und die auch auf den religiösen Intertext ›Abaelard und Heloisa‹ zurückverweist). In beiden Fällen erweist sich der Bezug als problematisch: Die »neue Heloisa« Julie bekennt sich letztlich zu ihrer alten Liebe und markiert die Phase der Heilung als »Irrtum«; die Marquise reagiert auf den Verweis auf die Heilige Jungfrau mit unerklärlicher Panik und etabliert auf diese Weise eine erkennbare Distanz zur unschuldigen Gottesmutter. Vgl. dazu das Folgende. »Sie wolle nur im Allgemeinen wissen, ob diese Erscheinung [unbefleckte Empfängnis] im Reiche der Natur sey? Die Hebamme versetzte, daß dies, außer der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestoßen wäre. Die Marquise zitterte immer heftiger.« Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…. In: Brandenburger Kleist Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Hrsg. von Roland Reuß und

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chung findet sich im Entwurf der beiden Vaterfiguren, obwohl sich bei Kleist die Ausgangssituation merklich verschoben hat; der Kommandant in ›Die Marquise von O….‹ betätigt sich als Eheanbahner und verwaltet den Heiratsantrag des Grafen durchaus wohlgesonnen – natürlich in Unkenntnis der vorangegangenen Geschehnisse.11 Standesgrenzen spielen hier anders als in der ›Nouvelle Héloïse‹ keine Rolle, was den Vater-Tochter-Konflikt auf einer anderen Ebene zuspitzt. Während sich der Eklat zwischen Julie und ihrem Vater aus einer minimal transgressiven Insubordination der Tochter ergibt (Julie fordert den Vater zur Ruhe auf, als er sich über Saint-Preux alteriert), ist der Bruch zwischen dem Kommandanten und der Marquise unmittelbar auf die Schwangerschaft bezogen. Rousseaus Text bietet zwar die Vorlage für die Entzweiung (und später auch die Versöhnung), aber ›Die Marquise von O….‹ akzentuiert beide Vorgänge anders. Zunächst fällt bei Kleists Inszenierung des Zerwürfnisses auf, dass der Schock des Vaters über die Schwangerschaft mit Blick auf den vorgängigen Vertrauensbruch intensiviert scheint. Zu dem Vorwurf der sexuellen Überschreitung kommt nun auch noch der der Täuschung. Aus der artikulierten Sicht des Vaters wiegt der unterstellte Vertrauensbruch sogar schwerer als die unterstellte sexuelle Transgression der Tochter.12 Damit wird die gesamte Vater-Tochter-Beziehung in einem eindeutig empfind-

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Peter Staengle. Bd. II/ 2. Frankfurt am Main 1989, S. 56, im fortlaufenden Text zitiert als MO mit der entsprechenden Seitenzahl. Vgl. dazu auch die Argumentation von Ulrike Zeuch, die alle artikulierten und physischen Regungen der Marquise untersucht und dabei festhält: »Die inneren Seelenregungen bleiben verborgen, wenn sich das Subjekt nicht erinnern kann bzw. nicht erinnern will. An die Oberfläche treten Bilder, Selbstprojektionen, aber nicht das authentisch Gefühlte.« Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen 2000, S. 293–296, hier S. 296. Wenn man zu den authentischen Gefühlen in diesem Sinne keinen Zugriff gewinnen kann, so bleibt hier doch zumindest die Verwirrung ein erkennbarer Zweifel der Marquise an der eigenen postulierten Schuldlosigkeit. Religiöse Verweisstrukturen werden in beiden Texten zwar erzeugt, büßen aber ihre finale Regulierungsmacht ein. Vgl. zur Ironie dieses Umstands Bernd Fischer: Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists. München 1988, S. 38–56. Wenn Wolfgang Wittkowski darauf verweist, dass der Vater weniger die sexuelle Überschreitung als vielmehr die nachträgliche Heuchelei als irreversiblen Bruch der paternalen Ordnung versteht, so beschreibt dies zweifellos einen zentralen Aspekt der paternalen Anspruchshaltung, bei dem der Tochter Fehltritte verziehen werden können, solange sie sich der Vaterordnung emotional weiterhin verbunden fühlt und sich ihr freiwillig wieder unterstellt. Wolfgang Wittkowski: ›Die Marquise von O….‹ und ›Der Findling‹. Zur ethischen Funktion von Erotik und Sexualität im Werk Kleists. In: Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists. Internationales Kolloquium des Kleist-Archivs Sembdner, 22.–24. April 1999 in der Kreissparkasse Heilbronn. Heilbronn 2000 (Heilbronner Kleist-Kolloquien, Bd. 2), S. 192–231, hier S. 207–213.

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sam kodierten Kontext des gegenseitigen Vertrauens verortet, den die brutale Reaktion des Vaters zugleich travestiert und ironisiert. Anders als etwa bei Sir Williams tränenreicher Bereitschaft zu verzeihen, kulminiert die expressive Vaterliebe hier in brutaler Gewalt. Medium für beide Reaktionen ist eine exzessive, paternale Emotionalität, die bei Kleist nachhaltig kompromittiert erscheint. Bei Rousseau verliert Julie nach der physischen Auseinandersetzung mit dem Vater das Kind und mit ihm die stillschweigend gehegte Hoffnung auf eine mögliche Verbindung mit Saint-Preux; bei Kleist kommt es dagegen zu einer intentional aggressiveren, aber eigentümlich wirkungslosen Rache an der »untreuen« Tochter, indem der Kommandant zur Pistole greift, diese aber versehentlich gegen die Zimmerdecke abfeuert.13 Der verfehlte Schuss und ein gleichzeitig umfassend beanspruchter Verfügungsanspruch über die Leib und Leben der Tochter konvergieren hier.14 Dass die Marquise ihr Kind im Gegensatz zu Julie nicht verliert, deutet dabei eine neue Legitimität der physischen Beziehung mit dem Geliebten an. Die »romantische Liebe« mit dem zeitgenössisch entscheidenden Fokus auf die Entwicklung der Protagonisten und damit die zukünftige Familienbildung wird als diskursives Muster immer präsenter und zeichnet auch hier die finale Lösung vor, nämlich die Ehe zwischen dem Grafen und der Marquise und die Geburt weiterer Kinder, »eine[r] ganze[n] Reihe von jungen Russen« (MO 102), wie der Text nicht versäumt zu erwähnen. Aber auch Rousseaus Text gibt in diesem Sinne (trotz des eindeutigen Familienbildes, das ›La Nouvelle Héloïse‹ letztlich insinuiert und rational expliziert) zahlreiche Kodierungen vor, die das Problem der Perpetuierung bzw. Transgression der Vaterordnung ambiguisieren. Die leidenschaftliche Liebe zwischen Saint-Preux und Julie, die beide schließlich in eine Seelenverwandtschaft sublimieren (müssen), wird zwar implizit im 13

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»Der Commendant wandte ihr, bei ihrem Anblick, den Rücken zu, und eilte in sein Schlafgemach. Er rief, als sie ihn dahin verfolgte, hinweg! und wollte die Thüre zuwerfen; doch da sie, unter Jammern und Flehen, daß er sie schließe, verhinderte, so gab er plötzlich nach und eilte, während die Marquise zu ihm hineintrat, nach der hintern Wand. Sie warf sich ihm, der ihr den Rücken zugekehrt hatte, eben zu Füßen, und umfaßte zitternd seine Kniee, als ein Pistol, das er ergriffen hatte, in dem Augenblick, da er es von der Wand herabriß, losging, und der Schuß schmetternd in die Decke fuhr. Herr meines Lebens! rief die Marquise, erhob sich leichenblaß von ihren Knieen, und eilte aus seinen Gemächern wieder hinweg.« (MO 58–59) Darin ergibt sich im übrigen eine empörte, aber wirkungslose Imitation der ursprünglichen Zeugungshandlung.

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Sinne der Übergangssemantik als Krankheit15 verstanden;16 gleichzeitig wird Julies mütterlich-aufopferungsvoller Tod (sie stirbt, nachdem sie ihren Sohn vor dem Ertrinken gerettet hat) als Apotheose zelebriert. Retrospektiv wirft ihr persönlicher Bildungsprozess ein mildes Licht auf ihre amouröse Entgleisung, zumal sie auch im Zustand ihrer charakterlichen Überhöhung an ihrer Liebe festhält.17 In diesem Sinne muss die Aberration einer Heiligen eine lässliche, zumindest aber eine erklärliche und verständliche sein. Bereits bei Rousseau gibt es also Ansätze für eine rückwirkende Legitimation der beiden Liebenden, auch wenn der Text die verschiedenen Implikationen in einer kunstvollen Balance hält, die ein abschließendes Fazit nicht zulässt. ›La Nouvelle Héloïse‹ zeigt in jedem Fall, dass die Frau in ihrer dualen, ja genau genommen dreifachen Funktion (als Geliebte, Ehefrau und Tochter) starke, systemgeschuldete Spannungen aushalten und mit Blick auf die eigene Identität austarieren muss.18 In ›Die Marquise von O….‹ wird die Situation noch einmal komplizierter, insofern sich ihre Rollen als Tochter und Frau (Letzteres wiederum in der Doppelkodierung Unschuld/Sexualisierung) weder räumlich noch zeitlich differenzieren lassen. Die Schwangerschaft der unverheirateten Frau wird dabei zum temporal und topographisch signifikanten Skanda15 16 17

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Vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 71–96. In diesem Sinne spricht Julie auch von ihrer vorübergehenden »Heilung«, vgl. die folgende Fußnote. »Je me suis longtemps fait illusion. Cette illusion me fut salutaire; elle se détruit au moment que je n’en ai plus besoin. Vous m’avez crue guérie, et j’ai cru l’être. Rendons grâces à celui qui fit durer cette erreur autant qu’elle était utile: qui sait si, me voyant si près de l’abîme, la tête ne m’eût point tourné? Oui, j’eus beau vouloir étouffer le premier sentiment qui m’a fait vivre, il s’est concentré dans mon cœur. Il s’y réveille au moment qu’il n’est plus à craindre; il me soutient quand mes forces m’abandonnent; il me ranime quand je me meurs. Mon ami, je fais cet aveu sans honte; ce sentiment resté malgré moi fut involontaire; il n’a rien coûté à mon innocence; tout ce qui dépend de ma volonté fut pour mon devoir: si le cœur qui n’en dépend pas fut pour vous, ce fut mon tourment et non pas mon crime. J’ai fait ce que j’ai dû faire; la vertu me reste sans tache, et l’amour m’est resté sans remords.« Jean-Jacques Rousseau: Julie ou la Nouvelle Héloïse. Hrsg. von Henri Coulet. Paris 1993, hier 385–386. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als NH mit der entsprechenden Seitenzahl. Das gilt natürlich auch für den Mann: Koschorke verweist zudem auf die gespaltene Männlichkeit, »einerseits mit dem Mann als Garanten der patriarchalen Ordnung und andererseits mit dem Mann als begehrendem Wesen«, (Koschorke, Heilige Familie, S. 186) und macht deutlich, dass die Entwicklung des Mannes prozessual als Liebhaber/ zukünftiger Ehemann und Ehemann/Vater ausdifferenziert ist. Kleists Text zeigt ebenfalls, dass sich diese Phasen im Zeichen der Sexualität überlagern. Dahinter verbergen sich nicht nur diskursive Effekte, bei denen man aus der gefühligen familialen Welt eine verstärkte Neigung zu Inzest und physischer Überschreitung ableitet, sondern tatsächlich auch die Überlagerung zweier eigentlich komplementärer Inklusionstechniken, von denen narrativ besonders die ›family of procreation‹ betont wird.

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lon, weil die Marquise beiden Familienformen (›family of origin‹ und ›family of procreation‹) zugleich angehört, während sie noch im Vaterhaus wohnt.19 Die Marquise von O…. als »liminal person«20 bezeichnet dabei ein Irisieren zwischen Tochter und Ehefrau und damit zugleich auch eine abortierte Transition von der Ausgangs- zur Zielfamilie. Der entstehende Konflikt muss in diesem Sinne auch als Rollenkonflikt gedeutet werden.21 Vor diesem Hintergrund scheint der Marquise (die hier als tugenhafte Tochter/Frau und Geliebte handelt) die Quadratur des Kreises zu gelingen: die moralisch einwandfreie Hingabe an den Geliebten unter Befolgung der paternalen Gesetze. In ihrer physischen Präsenz und gleichzeitigen Absenz einer moralischen Rechenschaftspflicht werden beide Ansprüche synchronisiert und das fait accompli geschaffen, das nachträglich mit einer konventionellen Heiratskonstruktion legitimiert wird. Nur unter diesem Vorbehalt kann die vollwertige, sentimental untermauerte Eheschließung nachgeholt werden, denn erst ein Jahr nach der Hochzeit kann sich der Graf bewähren und die Liebe der Marquise zurückgewinnen. Während die sexuelle Transgression Juliettas gegenüber ›La Nouvelle Héloïse‹ gemildert wird (da sich Julietta anders als Julie nicht bewusst hingibt), wird das Verhalten des Grafen radikalisiert: Nachdem er die Marquise vor dem sexuellen Übergriff durch eine Horde Soldaten bewahrt hat, begeht er – von seinen Begierden überwältigt – die Vergewaltigung schließlich selbst. Das initiale Ereignis, die körperliche Begegnung der beiden zukünftigen Geliebten, produziert wiederum ambivalente Folgen für die Bewertung und Bedeutung der Sexualität im Text. Erscheint sie zum einen als gefährliche, unbeherrschbare Dimension der menschlichen Interaktion, ist sie aber zum anderen auch eruptives Produkt einer physi19

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In der Beziehung zwischen dem Kommandanten und seiner Tochter wird dies besonders deutlich, wenn der Kommandant die Kinder der scheinbaren Sünderin einfordert: »als der Forstmeister eintrat, und auf Befehl des Commendanten die Zurücklassung und Überlieferung der Kinder von ihr forderte. Dieser Kinder? fragte sie; und stand auf. Sag deinem unmenschlichen Vater, daß er kommen, und mich niederschießen, nicht aber mir meine Kinder entreißen könne! Und hob, mit dem ganzen Stolz der Unschuld gerüstet, ihre Kinder auf, trug sie ohne daß der Bruder gewagt hätte, sie anzuhalten, in den Wagen, und fuhr ab.« (MO 59) Darin mögen sich Konzepte spiegeln, die auch in ›Miß Sara Sampson‹ relevant scheinen, bei der Arabella anstelle der eigenen Tochter angenommen wird, wobei man die absente, moralisch inadäquate Mutter Marwood in einer für das Kind glücklichen Wendung ersetzt. Die Aberkennung ihres Erziehungsrechts ist die Konsequenz ihres Fehlverhaltens, wobei der Vater wie selbstverständlich einspringt und seinen Enkelkindern als moralischer Führer zur Verfügung steht. Zu Kleist vgl. u. a. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Epistemological Asymmetries and Erotic Stagings. Father-Daughter Incest in Heinrich von Kleist’s ›The Marquise of O….‹ In: Women in German yearbook 12 (1996), S. 71–86, hier S. 76. Vgl. dagegen die Argumentation in Krüger-Fürhoff, Epistomological asymmetries.

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schen Wahrheit;22 am besten wird dieser Tatbestand vermutlich in dem bekannten Bild der Marquise ausgedrückt, wenn sie den emotionalen Kontrast mit Blick auf den Grafen als Engel/Teufel-Dichotomie beschreibt.23 Zugleich wird deutlich, dass die Ohnmacht,24 auch wenn sie auf der Figurenebene als solche anerkannt und ernst genommen wird, textlich ambiguisiert scheint, unter anderem auch, weil eine Anspielung auf eine mögliche unbefleckte Empfängnis eine Panik bei der Marquise induziert, die ein tiefes Unbehagen angesichts dieser unpassenden Vergleichsgröße andeutet. Das Problem der Sexualität bricht sich im Text Bahn, allerdings deutlich ambivalenter als es in anderen zeitgenössischen Texten geschieht, in denen die physische Attraktion einfach separiert und »gebannt« werden kann (wie es etwa besonders deutlich in Joseph von Eichendorffs ›Das Marmorbild‹ geschieht). Diese Ausführungen zur Liebe als Partnerschaft sind unabdingbar für die Erörterung der Vaterfigur, denn erst in diesem textlichen Fokus auf die Paarbeziehung und die ihr inhärente Sexualität wird das väterliche Modell in seiner emotionalen Anspruchshaltung (wie bisher ausgeführt) problematisch. Das starke Vaterbild der Aufklärung, das über das Oszillationssymbol »Vater« in Kleists Texten gegenständlich wird, erweist sich dabei auf bemerkenswerte Weise als reakzentuiert. Zunächst ist der Vater nicht mehr der emotional zuverlässige Partner der Tochter, der sich mit ihr gegen die Anfeindungen einer korrupten äußeren Welt verbündet. Er sitzt vielmehr einem oberflächlichen Irrtum auf und vertraut konventionellen, äußeren Zeichen mehr als der eigenen Tochter. Bereits hier wird die väterlich-sentimentale Zärtlichkeit, die das Entsetzen und die Enttäuschung des Kommandanten trägt, formelhaft. Zugleich wird eine Konkurrenzsituation etabliert, die väterliche und amouröse Zuneigungsbekundung auf problematische Weise analogisiert. Über die zentrale Liebesbeziehung der Tochter nimmt die »dunkle Macht des Sexus« (Michel Foucault) auch Einfluss auf den Anspruch des bürgerlichen Vaters.25 22

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Vgl. Julies Selbstdeutung in: »je suis coupable, mais il est vertueux« (NH 210), die SaintPreux von der Transgression ausnimmt. Dieses exkulpierende Element schwingt auch bei Kleist hinsichtlich des Grafen mit. Vgl. zu der Liebe im Zeichen der Aggression Dirk Grathoff: Die Zeichen der Marquise. In: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Hrsg. von Dirk Grathoff. Opladen 1988, S. 203–229 sowie Neumann, Skandalon, S. 168–169. Vgl. dazu auch Inka Mülder-Bach: Die »Feuerprobe der Wahrheit«. Fall-Studien zur weiblichen Ohnmacht. In: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Inge Baxmann, Michael Franz, Wolfgang Schäffner. Berlin 2000, S. 525–543. Das wird bei Kleist besonders gut erkennbar. Gerade mit Blick auf die neue Komplementarität der Vater- und Mutterrolle, die um 1800 immer wieder verstärkt heraufbeschworen wird, fällt in diesem Kontext auch die Rolle der Mutter ins Auge: Als entscheidende

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Wenn die exzessive Ausschlussgeste des Vaters, bei der – wie bereits erwähnt – eine Pistole abgefeuert wird, als martialisch-ineffektive Machtdemonstration inszeniert ist, so erscheint die Versöhnung mit der Tochter in ihrem emotionalen Überschwang bestenfalls als zweideutig. Die Handlungen des Kommandanten26 intensivieren (und denaturalisieren im Exzess) die (betont als natürlich ausgewiesenen) Geschehnisse des Rousseauschen Prätextes.27 Die Perspektive verschiebt sich bei Kleist zuguns-

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Agentin greift sie beherzt in den Vater-Tochter-Konflikt ein und führt ihn aufgrund dieser Intervention zu einem guten Ende (d. h. zu der bizarren Versöhnung, auf die es gleich näher einzugehen gilt), indem sie der Tochter schließlich doch den Vertrauensvorschuss entgegenbringt, den ihr der Vater so dezidiert vorenthält. In gleichem Maße, in dem die Mutter eine neue Bedeutung als handlungsentscheidende Vertraute gewinnt, wird die Beziehung zwischen Vater und Tochter als vermittlungsbedürftig gekennzeichnet. Diese emotionale Treue, mit der sie der Tochter (zu recht) anhängt, wird dann allerdings im zweiten Teil, eben bei der Versöhnungsszene ambivalent und scheint damit ein Reflex des alten Musters der latent kupplerischen Mutter in einschlägigen bürgerlichen Trauerspielen zu sein; »verkuppelt« werden hier allerdings problematischer Weise Vater und Tochter. »In the reconciliation scene, Frau von G… is surely far removed from the ›würdigen Mutter‹ in the first paragraph of the story.« Erica Swales: The Beleaguered Citadel. A Study of Kleist’s ›Die Marquise von O…‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1979), S. 129–147, hier S. 136–137. Roland Reuß: »Was ist das Kritische an einer kritischen Ausgabe? Erste Gedanken anläßlich der Edition von Kleists Erzählung ›Die Marquise von O….‹. In: Berliner KleistBlätter 2 (1989), S. 3–20, hier S. 18–20. Die Überlegungen von Reuß richten sich auf die unterschiedlichen Schreibweisen von »Kommandant« und »Commendant«, aus denen Reuß eine jeweils unterschiedliche Konditionierung des Vaters ableitet; auf diese Ausführungen wird im Folgenden nicht mehr eingegangen. Die Funktion des Vaters als Kommandant könnte man gerade in der Überlagerung von Liebe und Herrschaft als eine Ironisierung der Herrschaftsfunktion des Vaters interpretieren. Dort beschreibt Julie die Geschehnisse, die als Vorlage für Kleist dienen, folgendermaßen: »Cependant je vis au changement d’air et de voix de mon père, qu’il était mécontent de ce qu’il venait de faire. Il ne revint point à moi par des caresses, la dignité paternelle ne souffrait pas un changement si brusque; mais il revint à ma mère avec de tendres excuses; et je voyais bien, aux regards qu’il jetait furtivement sur moi, que la moitié de tout cela m’était indirectement adressée. Non, ma chère, il n’y a point de confusion si touchante que celle d’un tendre père qui croit s’être mis dans son tort. Le cœur d’un père sent qu’il est fait pour pardonner, et non pour avoir besoin de pardon. Il était l’heure du souper; on le fit retarder pour me donner le temps de me remettre; et mon père, ne voulant pas que les domestiques fussent témoins de mon désordre, m’alla chercher lui-même un verre d’eau, tandis que ma mère me bassinait le visage. Hélas! cette pauvre maman, déjà languissante et valétudinaire, elle se serait bien passée d’une pareille scène, et n’avait guère moins besoin de secours que moi. […] Après le souper, l’air se trouva si froid que ma mère fit faire du feu dans sa chambre. Elle s’assit à l’un des coins de la cheminée, et mon père à l’autre; j’allais prendre une chaise pour me placer entre eux, quand, m’arrêtant par ma robe, et me tirant à lui sans rien dire, il m’assit sur ses genoux. Tout cela se fit si promptement, et par une sorte de mouvement si involontaire, qu’il en eut une espèce de repentir le moment d’après. Cependant, j’étais sur ses genoux, il ne pouvait plus s’en dédire; et, ce qu’il y avait de pis pour la contenance, il fallait me tenir embrassée dans cette gênante attitude. Tout cela se faisait en silence: mais je sentais de temps en temps ses bras

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ten einer voyeuristischen Beobachtung durch die Mutter, die in diesem Zusammenhang in der Funktion einer Kupplerin auftritt und den »Brautleute[n]« geflissentlich bei den nachfolgenden Festivitäten assistiert: Sie vernahm, da sie mit sanft an die Thür gelegtem Ohr horchte, ein leises, eben verhallendes Gelispel, das, wie es ihr schien, von der Marquise kam; und, wie sie durchs Schlüsselloch bemerkte, saß sie auch auf des Commendanten Schooß, was er sonst in seinem Leben nicht zugegeben hatte. Drauf endlich öffnete sie die Thür, und sah nun – und das Herz quoll ihr vor Freuden empor: die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Thränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küßte sie. Die Mutter fühlte sich, wie eine Seelige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden war, zu stören. Sie nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war, sich um den Stuhl herumbeugend, von der Seite an. Der Commendant schlug, bei ihrem Anblick, das Gesicht schon wieder ganz kraus nieder, und wollte etwas sagen; doch sie rief: o was für ein Gesicht ist das! küßte es jetzt auch ihrerseits in Ordnung, und machte der Rührung durch Scherzen ein Ende. Sie lud und führte beide, die wie Brautleute gingen, zur Abendtafel, an welcher der Commendant zwar sehr heiter war, aber noch von Zeit zu Zeit schluchzte, wenig aß und sprach, auf den Teller niedersah, und mit der Hand seiner Tochter spielte.28 (MO 89–91; Hervorhebungen von C.N.)

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se presser contre mes flancs avec un soupir assez mal étouffé. Je ne sais quelle mauvaise honte empêchait ces bras paternels de se livrer à ces douces étreintes. Une certaine gravité qu’on n’osait quitter, une certaine confusion qu’on n’osait vaincre, mettaient entre un père et sa fille ce charmant embarras que la pudeur et l’amour donnent aux amants; tandis qu’une tendre mère, transportée d’aise, dévorait en secret un si doux spectacle. Je voyais, je sentais tout cela, mon ange, et ne pus tenir plus longtemps à l’attendrissement qui me gagnait. Je feignis de glisser; je jetai, pour me retenir, un bras au cou de mon père; je penchai mon visage sur son visage vénérable, et dans un instant il fut couvert de mes baisers et inondé de mes larmes; je sentis à celles qui lui coulaient des yeux qu’il était lui-même soulagé d’une grande peine: ma mère vint partager nos transports. Douce et paisible innocence, tu manquas seule à mon cœur pour faire de cette scène de la nature le plus délicieux moment de ma vie!« (NH 228–229) Es lohnt sich, hier in voller Länge zu zitieren, um die Nähe und gleichzeitig die hyperbolische Distanz deutlich zu machen, die Kleist hier zum Original aufbaut. Zum Voyeurscharakter der Szene und dem Spiel mit zeitgenössischen Lesererwartungen siehe u. a. Krüger-Fürhoff, Epistemologigal Asymmetries. Auch bei Rousseau wird der Vater Julie gegenüber gewalttätig, er ohrfeigt die Tochter mehrfach, bis diese fällt und blutet: »Ici finit le triomphe de la colère et commença celui de la nature. Ma chute, mon sang, mes larmes, celles de ma mère l’émurent.« (NH 228)

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Diese Szene ist in ihren lustvollen Implikationen umfassend kommentiert worden: »heiße lechzende Küsse«, »unsägliche Lust« und ähnliche Attribuisierungen lassen den Kommandanten und seine »heftigen seelischen begierden«29 in der Tat mehr wie einen »Verliebten« und die Tochter eher in der Rolle des »Mädchen[s] seiner ersten Liebe« erscheinen, wodurch Kleists Text die primär empfindsame Sentimentalität30 der Vorlage bis an die Grenze des zeitgenössisch Zumutbaren transzendiert. Im umfassenden emotionalen Anspruch auf die Tochter wird die Rolle des Vaters gerade in ihrer empfindsamen Überzeichnung sexuell ambivalent. Kleist überdehnt und karikiert hier die Vorlage, indem er nicht nur die Brutalität des Vaters verstärkt (mit dem Pistolenschuss), sondern auch sein empfindsames Leiden übertreibt, das nunmehr in grotesker Komik standardisierte sentimentale Gefühle zu parodieren scheint: Und in dem Augenblick trat auch der Commendant schon, das Tuch vor das Gesicht haltend, ein. Die Mutter stellte sich breit vor ihre Tochter, und kehrte ihm den Rücken zu. Mein theuerster Vater! rief die Marquise, und streckte ihre Arme nach ihm aus. Nicht von der Stelle, sagte Frau von G…, du hörst! Der Commendant stand in der Stube und weinte. Er soll dir abbitten, fuhr Frau von G… fort. Warum ist er so heftig! Und warum ist er so hartnäckig! Ich liebe ihn, aber dich auch; ich ehre ihn, aber dich auch. Und muß ich eine Wahl treffen, so bist du vortrefflicher, als er, und ich bleibe bei dir. Der Commendant beugte sich ganz krumm, und heulte, daß die Wände erschallten. Aber mein Gott! rief die Marquise, gab der Mutter plötzlich nach, und nahm ihr Tuch, ihre eigenen Thränen fließen zu lassen. Frau von G… sagte: – er kann nur nicht sprechen! und wich ein wenig zur Seite aus. Hierauf erhob sich die Marquise, umarmte den Commendanten, und bat ihn, sich zu beruhigen. Sie weinte selbst heftig. Sie fragte ihn, ob er sich nicht setzen wolle? sie wollte ihn auf einen Sessel niederziehen; sie schob ihm einen Sessel hin, damit er sich darauf setze: doch er antwortete nicht; er war nicht von der Stelle zu bringen; er setzte sich auch nicht, und stand bloß, das Gesicht tief zur Erde gebeugt, und weinte. Die Marquise sagte, indem sie ihn aufrecht hielt, halb zur Mutter gewandt: er werde krank werden; die Mutter selbst schien, da er sich ganz convulsivisch gebährdete, ihre Standhaftigkeit verlieren zu wollen. (MO 87–88)

Es lohnt sich, diesen Passus in extenso zu zitieren, um in der Anhäufung und Übersteigerung gebräuchlicher, empfindsam-rührender Formeln den karikierenden Aspekt hervorzuheben. Die überzogen komische Schilde29 30

So jedenfalls erläutert Grimms Wörterbuch »lechzen«, Bd. 12, Sp. 473 und auch Lust (letztere auch als »heftiges verlangen, begierde«), Bd. 12, Sp. 1314. Auch Rousseaus Text spielt mit der inzestuösen Implikation, löst diese jedoch in einem empfindsamen Kontext wieder auf. Vgl. Soboczynski, Das arcanum der ›Marquise von O…‹, S. 73.

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rung, die der Versöhnung vorangeht, orientiert sich nicht an einer sentimentalen eloquentia corporis und fügt sich offensichtlich nicht mehr in das Fließen der Tränen, den Tugenddiskurs und -habitus ein; der Text scheint sich vielmehr mit dieser hyperbolischen, körperlichen Inszenierung grundsätzlich über die probaten Formeln einer ausgefeilten physischen Rhetorik lustig zu machen. Gleichzeitig werden die Verschiebungen, die den Vater zu einem impotenten Gläubiger mit Blick auf die töchterliche Sexualität werden lassen, ironisch markiert. Mit dieser eigentümlichen Rückkopplung des Begehrens wird die Vater-Tochter-Beziehung zur Travestie. Liest man nun den sich aggressiv entladenden Pistolenschuss als eine Replik auf den Gedankenstrich, mit dem der Text die Vergewaltigung und Schwängerung impliziert, aber eben nicht beschreibt, so ist der (hier als Quasi-Hochzeit begangenen) Versöhnung von Vater und Tochter die Hochzeitsfeier zwischen Graf und Marquise zugeordnet, die der Liebhaber in der beschriebenen festlichen und emotionalen Opulenz nie feiern wird.31 Der Vater und der Liebhaber scheinen sich in den relevanten Handlungssegmenten auffällig zu entsprechen und in einem merkwürdigen Chiasmus jeweils zu ersetzen. Wurde im bürgerlichen Trauerspiel die integrative Funktion des Vaters mit Blick auf seine individualisierende Emotionalität erörtert, erscheint die totale emotionale Präsenz des Vaters hier bei Kleist als Problem, das sich in einer sexuellen Grauzone manifestiert. Die sexualisierte Wiederannäherung setzt die emotionale Nähe fort, allerdings in einer problematisch ambiguisierten und verfremdeten Form; mit Blick auf den Kommandanten werden auf diese Weise die diskursive Überfrachtung und die Dilemmata der Vaterfunktion deutlich, die aus der paternalen Zärtlichkeit entstehen. Kleinfamiliale Intimität wird in ›Die Marquise von O….‹ ansatzweise umkodiert und aus väterlicher Zärtlichkeit wird hier in einer obskuren Gratwanderung eine latent sexuelle Zärtlichkeit, die der Paarliebe entspricht. Je relevanter die Paarliebe in ihrer dualistischen Verknüpfung von Liebe und Lust wird, desto problematischer wird die Vaterrolle, insofern »die Auflösung des Rätsels weiblichen Begehrens«32 für ihn unmöglich wird. Indem er sich in ›Die Marquise von O….‹ zwei Mal (bei der Vertreibung der Tochter und bei der Versöhnung mit ihr) situativ an die Stelle des Partners/Ehemanns (ver)setzt, trägt er zu einem synchronisierenden Konkurrenzeffekt rückwirkend bei. 31 32

Erika Swales sieht in der Versöhnung die Ausfüllung des Gedankenstrichs, ich würde die dyptichale Struktur hervorheben. Vgl. Swales, Citadel, S. 137. Neumann, Skandalon, S. 161.

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3.

Konkurrenz zwischen Vater und Schwiegersohn II: Die Überlagerung des Vaters in ›Das Käthchen von Heilbronn‹

Diese Verschaltung der ›family of generation‹ and ›family of procreation‹ als (überlappendes und nicht konsekutives) Transitionsphänomen wird auch in ›Das Käthchen von Heilbronn‹ greifbar, wo sich ein Rekurs auf wichtige Aspekte der Vater-Tochter-Problematik des bürgerlichen Trauerspiels findet.33 Das Stück beginnt in medias res mit dem Vehmgericht,34 das Theobald angerufen hat, um den Grafen vom Strahl zu verklagen: Der Graf habe Theobalds Tochter Käthchen mit Hilfe von Magie entführt. Bereits die Ausgangssituation unterscheidet sich signifikant von der Konstellation in den bisher behandelten Texten. Denn auch wenn es sich bei dem Vehmgericht um eine arkane Institution handelt, ist es doch durch seine jurisdiktiv-exekutive Funktion zugleich als semi-öffentliche Sphäre markiert, in der die Gesetze des Staates angewandt und durchgesetzt werden. Im Gegensatz zu den Vätern in den bürgerlichen Trauerspielen erscheint Theobald folglich als Vater, der seine Macht nicht mehr in der Privatsphäre generiert, sondern sie dort vielmehr kompromittiert sieht. Die öffentliche Sphäre soll seine väterliche Macht qua Gerichtsurteil re-etablieren. Hegt der Vater auch sonst keinerlei Erwartungen gegenüber der Obrigkeit, diese spezifische Form der töchterlichen Sittlichkeit hält er doch für öffentlich einklagbar, zumal er das Ausmaß der Transgression als ungeheuerlich einschätzt. Anlässlich des Duells mit dem Grafen vom Strahl beschreibt er den Grafen dementsprechend als Zerstörer einer natürlichen Ordnung (die hier ex negativo als die des Vaters verstanden werden muss): Ein Übermütiger, aus eines Gottes Kuß, / Auf einer Furie Mund gedrückt, entsprungen; / Ein glanzumfloßner Vatermördergeist / An jeder der granitnen Säulen rüttelnd, / In dem urewgen Tempel der Natur; / Ein Sohn der Hölle, den mein gutes Schwert / Entlarven jetzo, oder, rückgewendet, / Mich selbst zur Nacht des Grabes schleudern soll!35 33

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Vgl. dazu Dorothea Mücke, Chris Cullens: Das Käthchen von Heilbronn. »Ein Kind recht nach der Lust Gottes.« In: Kleists Dramen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1997, S. 116–143, hier S. 126. Vgl. dazu Heiner Lück: Feme, Femgericht. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. (HRG) I, 2. Auflage. Sp. 1535–1543 Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembner. Bd. 1. 2München 1994, S. 517. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als KH mit der entsprechenden Seitenzahl. Mit diesen Worten weist Theobald auf das Ausmaß der gräflichen Überschreitung hin, die als Vergewaltigung aller

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Gerd Ueding verweist auf Theobalds Affinität zu »metaphorischen Akrobatenstücken«;36 eben diese »Idolenmontage und hypertrophe Denkweise«37 sind hier insofern bedeutsam, als sie eine intuitive Deutung der Ereignisse verraten und indizieren, wie selbstverständlich Theobald seine Vatervorrechte beansprucht. Er argumentiert dabei im Rekurs auf die bekannten bürgerlichen Kernwerte, allerdings unter einer falschen Prämisse: Der Graf tritt nämlich nicht als Verführer in Erscheinung. Vater und Geliebter vertreten vielmehr moralisch ähnliche Ausgangspositionen,38 so dass Theobalds packende Suada gegenstandslos wird. In deutlichem Gegensatz zu Theobalds eloquent artikulierter Deutung des Geschehens wird die Verbindung zwischen dem Grafen vom Strahl und Käthchen im Text nämlich umfassend legitimiert, nicht zuletzt durch die Tatsache, dass sie durch höhere Mächte inauguriert und realisiert wird.39 Mehr noch: Die Pseudo-Konkurrenz, die Theobald entschlossen als unvereinbare Kollision von Moralvorstellungen heraufbeschwört, wird klar zugunsten des Grafen entschieden. Die Ablösung des Vaters vollzieht

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Naturprinzipien erscheint. In Käthchens eigentümlicher Fixierung auf den Grafen sieht der Zieh-Vater dementsprechend ein korrespondierendes, widernatürliches Fehlverhalten. Käthchens unerklärliches Verschwinden aus dem Vaterhaus macht sie zur »Metze«, insofern die sexualisierte Überschreitung der Tochter topographisch dem eigenmächtigen (oder hier vielmehr als durch den Grafen fremddeterminiert verstandenen) Verlassen der väterlichen Machtsphäre entspricht: »Theobald. Was ihn anklagt? […] Mußt ich vor dem Menschen nicht erbeben, der die Natur, in dem reinsten Herzen, das je geschaffen ward, dergestalt umgekehrt hat, daß sie vor dem Vater, zu ihr gekommen, seiner Liebe Brust ihren Lippen zu reichen, kreideweißen Antlitzes entweicht, wie vor dem Wolfe, der sie zerreißen will?« (KH 439–440) Die Bezeichnung ›Vatermördergeist‹ findet sich im Übrigen auch in ›Katechismus der Deutschen‹, wo er auf Napoleon bezogen ist. Sowohl innerfamilial als auch national bezieht sich diese Benennung auf die größtmögliche Transgression. Gerd Ueding: Zweideutige Bilderwelt. ›Das Käthchen von Heilbronn‹. In: Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1981, S. 172–187, hier S. 177. Ueding, Zweideutige Bilderwelt, S. 177. Das gilt hier, insofern es ja hier nicht einer amourösen Überschreitung (wie etwa beim Grafen in ›Die Marquise von O….‹) oder Verführung (wie bei Mellefont in ›Miss Sara Sampson‹) bedarf, sondern der Realisierung der transzendent vorbestimmten Liebesverbindung, vgl. dazu das Folgende. Im Gegensatz zum zukünftigen Ehemann scheinen die beiden Väter durch ihre Darstellung als gehörnter Ehemann (Theobald) und als Verführer (der Kaiser) latent problematisch. Ludwig Tieck schlägt in diesem Sinne vor – ganz im Einklang mit den wirkungsmächtigen, harmonisierenden Bühnenbearbeitungen u. a. von Heinrich Laube (1852) –, den Ziehvater Käthchens als Großvater auszugeben, um ihm die gefühlte Blamage zu ersparen. Vgl. dazu Dirk Gratthoff (Hrsg.): Heinrich von Kleist. ›Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe‹. Stuttgart 1997, besonders S. 116–117. Ebenfalls als problematisch empfunden wurde die Rolle des Kaisers (der bei der Uraufführung im Wiener Theater 1810 kurzerhand zum Herzog von Schwaben gemacht wurde, vgl. ebd. S. 116).

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sich dann für alle offensichtlich bei dem Gottesgericht, auf das Theobald siegesgewiss besteht. Obwohl der Graf dabei ohne Helm antritt, unterliegt der wutentbrannte Vater. In dieser Konstellation wird Käthchens Rolle im Stück entscheidend. Aufgrund der quasi-transzendenten Setzung des Dramas folgt sie weitgehend reflexionslos,40 dafür aber um so instinktsicherer ihrer vorgezeichneten Bestimmung41 und erzeugt so unabsichtlich die Rivalität zwischen fassungslosem Ziehvater und ahnungslosem Bräutigam.42 Dabei fällt auf, dass sich das weibliche Tugend-Paradigma zwar nicht verschoben hat, aber doch im Zuge einer neuen, virulenten Körperlichkeit neu gedeutet werden muss. Zum einen fungiert »Tugend« auch bei Kleist als primärer, weiblicher Identitätsgarant. Wenn die Marquise die spontane Vereinigung dank Ohnmacht erleben und gleichzeitig ignorieren kann, so erscheint Käthchen als Instinktwesen,43 das sich jeder Problematisierung ihres Verhaltens intellektuell entzieht.44 Die naturhafte Identität jenseits der Zu40

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Obgleich sie dem Vater in Liebe verbunden bleibt, begreift sie sich nicht als Ursache für sein Leiden. Käthchen beweist, dass sie der Einfluss einer höheren Macht keineswegs zur undankbaren Tochter macht: »Käthchen (da sie den Vater erblickt, auf ihn zugehend). Mein teurer Vater! (Sie will seine Hand ergreifen.) / Theobald (streng). Dort ist der Ort jetzt wo du hingehörst! / Käthchen. Weis mich nicht von dir. (Sie faßt seine Hand und küßt sie.) / Theobald. – Kennst du das Haar noch wieder, Das deine Flucht mir jüngsthin grau gefärbt? / Käthchen. Kein Tag verging, daß ich nicht einmal dachte, Wie seine Locken fallen.« (KH 442–443) Sie hat ihren Vaters keineswegs vergessen, sondern folgt lediglich der von einer höheren Instanz (dem Cherub) inaugurierten Prophezeiung; in diesem Sinne entsteht für Käthchen keinerlei Konflikt, da sie der göttlichen Vorgabe folgt, in der sich die irdischen Konflikte bereits zu Beginn ihrer Reise antizipierend auflösen. Hatte im bürgerlichen Trauerspiel die gehorsame Tochter noch mit den Wünschen des Vaters sympathisiert, so lassen die Klagen des Vaters die zuvor gehorsame Tochter hier auffällig unbeeindruckt. Käthchen gewinnt die emotionale Unabhängigkeit von ihrem Ziehvater nur im Fluchtpunkt auf den providentiellen Ehegatten. Aus diesem neuen Zielfokus ergibt sich dann zwangsläufig die Zurücksetzung Theobalds – nicht jedoch eine emanzipatorische Tendenz, insofern hier ja nur die männliche Bezugsperson ausgewechselt wird. »Käthchen (sieht sich in der Versammlung um, und beugt, da sie den Grafen erblickt, ein Knie vor ihm). Mein hoher Herr! / Der Graf vom Strahl. Was willst du? / Käthchen. Vor meinen Richter / hat man mich gerufen. / Der Graf vom Strahl. Dein Richter bin nicht ich. Steh auf, dort sitzt er; Hier steh ich, ein Verklagter, so wie du.« (KH 441, Hervorhebung von Kleist) Kleists Protagonistinnen können allerdings die spezifischen Tugendvorgaben nicht mehr unverfälscht applizieren, insofern die »romantische« Liebe kontextuell so stark aufgewertet wird. Zu der komplizierten Ganzheit, die sich aus der Verquickung von Hystericum und Mystericum im ›Käthchen von Heilbronn‹ ergibt, vgl. Bettina Knauer: Die umgekehrte Natur. Hysterie und Gotteserfindung in Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹. In: Erotik und Sexualität, S. 137–151, hier S. 142–146. »Käthchen weiß von keiner Wunde, die geheilt werden muß. Körper und Seele scheinen unversehrt. […] An ihrer vehementen Verweigerung aller Zuschreibungen scheitert der

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schreibungen45 ist mit Blick auf ihre Handlungen entscheidend, insofern ihre Transgressionen die Qualität einer intellektuell unangekränkelten und unantastbaren Evidenz gewinnen.46 Käthchens umfassende, reflexionslose Unschuld gewährleistet ihre Tugendhaftigkeit selbst im Zustand der äußerlichen Kompromittierung. Zum anderen aber ist unübersehbar, dass die physische Komponente der keuschen Beziehung nichtsdestoweniger eingeschrieben ist.47 Der Graf ist in diesem Sinne auf die Seele und den »makellose[n] Leib« Käthchens48 konzentriert.49 In dieser komplexen Gemengelage physischer Sensationen findet sich auch der Vater. Im Limbus zwischen Zärtlichkeit und paternaler Macht schwingen bei ihm ähnliche Zwischentöne mit, etwa wenn er die Tochter in offensichtlicher Anlehnung an die im Hohelied gepriesene Geliebte beschreibt: »ein Kind recht nach der Lust Gottes, das heraufging aus der Wüsten, am stillen Feierabend meines Lebens, wie ein gerader Rauch von Myrrhen und Wachholdern! Ein Wesen von zarterer, frommerer und lieberer Art müßt ihr euch nicht denken, und kämt ihr, auf Flügeln der Einbildung, zu den lieben, kleinen Engeln, die, mit hellen

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Wissensapparat, scheitert das Gericht, scheitert auch der Vater und der als mesmeristischer Seelenheiler und Verführer auftretende Graf.« Knauer, Die umgekehrte Natur, S. 140. Zum Mesmerismus vgl. auch Heinz Schott: Erotik und Sexualität im Mesmerismus. Anmerkungen zu ›Das Käthchen von Heilbronn‹. In: Erotik und Sexualität, S. 152–174. Dies gilt besonders im Abgleich mit ihrer Rivalin, der »mosaische[n] Arbeit« (KH 520) Kunigunde. Vgl. zum Gegensatz zwischen beiden Protagonistinnen Kittler, Geburt des Partisanen, S. 194: »Das Käthchen ist in alledem das Gegenteil: sprach- und zeichenlos in scheinbar unbewußter Einheit mit sich selbst. Daher gelingt es nicht einmal dem Fehmegericht, ihr die Augen über sich selbst zu öffnen. Ihre jungfräuliche Ignoranz hält – wie bei allen idealen Frauen Kleists – den schärfsten Verhören stand. Nur als Somnabule kann sie die Wahrheit sagen.« Vgl. dazu auch die Überlegungen zum repräsentativen Charakter Käthchens. Insgesamt springt die zotige Sexualisierung von Käthchens Erröten ins Auge: »Ei, spricht sie, gestrenger Herr, und eine Röte, daß ich denke, ihre Schürze wird angehen, flammt über ihr Antlitz empor.« (KH 438–439) Abgesehen von diesen Zuschreibungen spricht die Ohnmacht Käthchens bei der Begegnung mit dem Grafen im intertextuellen Abgleich mit anderen Texten Kleists ebenso für eine erotische Implikation wie ihr ostentativer Fenstersturz, bei dem sie sich sinnig beide Lenden »dicht über des Kniedrunds elfenbeinernem Bau« bricht. (KH 436). Vgl. dazu auch die Formulierung des Kaisers, Käthchen sei angeblich »meiner kaiserlichen Lenden Kind.« (KH 515) Knauer, Die umgekehrte Natur, S. 139. Knauer spricht in diesem Zusammenhang mit Foucault von einer »Biomacht«, die der Graf durchzusetzen versucht. Christina Strauch geht noch weiter und verortet den Grafen »Strahl« selbst als phallische Konnotation im Diskurskontext der Elektrizität. Vgl. zu dem gesamten Komplex, vor allem auch zur Elektrizität (Der Wetterstrahl als himmlischer Phallus) Christina Strauch: Weiblich, trefflich, nervenkrank. Geschlechterbeziehungen und Machtdispositive. Heinrich von Kleists Werk im medizinisch-anthropologischen Diskurst der Zeit um 1800. Diss. Erlangen 2004, S. 73–79.

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Augen, aus den Wolken, unter Gottes Händen und Füßen hervorgucken.« (KH 433)50 Körperlichkeit als ein deutlich greifbarer Teilaspekt von Paar-Liebe beginnt hier zu fluktuieren. Die intime paternale und die intime partnerschaftliche Zärtlichkeit verschwimmen verbal in der väterlichen Beschreibung von Käthchens Vorzügen. Die Frau, natürlich im tugendbewahrenden Modus des Unbewussten, wird intertextuell mit einer spezifischen Qualität aufgeladen, die der Vater bereitwillig kolportiert (und etabliert), wodurch er – qua Bibelzitat – die Perspektive des Begehrens zu imitieren scheint. Mit seiner (palimpsestartig auf das Hohelied verweisenden) Anmerkung macht sich der Vater selbst als »Vater« in der Integrations-Chronologie obsolet. Käthchens Übergang in die Fortpflanzungsfamilie, der sich gerade zu vollziehen beginnt, wird damit indirekt von Theobald antizipiert. Entscheidend für ›Das Käthchen von Heilbronn‹ ist der deutliche Bezug zu vorangegangenen, zärtlichen Vatermodellen, deren partielle Kontinuität die vorgeführte Ablösung umso deutlicher ausstellt. Der jugendliche Ehemann avanciert zum identitätsversichernden Partner für die von Gott persönlich durch alle Krisen geleitete Tochter, wobei der Vater zwangsläufig zweitrangig wird. Wie selbstverständlich versteht Käthchen den Grafen als ihren »Richter«, vor den sie gerufen wird (KH 441)51 und wirft sich ehrerbietig vor ihm nieder wie vor »dem Erlöser hingestreckt.« (KH 444)52 Das ist besonders mit Blick auf ›Miß Sara Sampson‹ eine wichtige Verschiebung, kam doch in Lessings Trauerspiel noch dem Vater diese quasi-göttliche Qualität zu. Auch in diesem Kontext wird der Konflikt zwischen den beiden androzentrischen Gewalten zum Vorteil des Grafen aufgelöst. 50 51

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Vgl. Hoh, 3.6: »Was steigt da herauf aus der Wüste gerader Rauch, wie ein Duft von Myrrhe, Weihrauch und allerlei Gewürz des Krämers?« Nicht nur beim Grafen vom Strahl, der sie mit dieser eben nicht selbstbewussten, traumhaften Proto-Identität ausstattet, sondern auch in anderen Texten Kleists fällt eine starke Sakralisierung des Geliebten ins Auge. Bereits in ›Amphitryon‹ begegnet Alkmene einem vermenschlichten Jupiter und einem göttlich wahrgenommenen Amphitryon; die Marquise von O…. nimmt ihren Retter als Engel wahr. Vgl. zu diesem Festhalten an der engelsgleichen Erscheinung des Grafen und der daraus folgenden Inversion zum Teufel ingesamt Vinken, Haverkamp, Die zurechtgelegte Frau. Günter Oesterle verweist zudem auf eine Begegnung zwischem dem Grafen und Käthchen, bei der er das Mädchen segnet: »Die Pointe ist, daß der Graf vom Strahl die Segensformel aus dem vierten Buch Mose derart verkürzt, daß er selbst die Stelle Gottes zu substituieren in der Lage ist.« G.O: Vision und Verhör. Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹ als Drama der Unterbrechung und Scham. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hrsg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle. Würzburg 2001, S. 303–328, hier S. 316.

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4.

›Das Käthchen von Heilbronn‹: Paternale Repräsentation und Verkörperung

Zugleich ergibt sich die ungewöhnliche Rivalität zwischen zwei Vätern: Gegen Ende des Stückes stellt sich heraus, dass Käthchen die natürliche Tochter des Kaisers ist; Theobald entpuppt sich dementsprechend nur als ihr Zieh-Vater. Der kaiserliche Vater tritt erst am Ende auf, ohne die väterlichen Rechte, die Theobald ins Feld führt, ausgeübt zu haben. Der neue Vater ersetzt den Ziehvater allerdings keineswegs, sondern beide werden in das Schluss-Szenario integriert. In diesem Sinne fordert der Kaiser den Grafen vom Strahl auf, »in deinem Haus den Vater« (2573) aufzunehmen, was der Graf nicht nur zusagt, sondern gewissermaßen übererfüllt, indem er seinen vormaligen Gegner Theobald (zusammen mit dem Kaiser) als »Vater« Käthchens adressiert. In diesem Sinne hat auch Theobald letztlich das entscheidende Wort: »So gib sie ihm! / Was Gott fügt, heißt es, soll der Mensch nicht scheiden.« (KH 526) Insofern stimmt Bettina Knauers Diagnose nur bedingt, wenn sie feststellt, dass Käthchens Abschiedskuss an den Vater nicht nur für ihn ein Todeskuss sei, »sondern die patriarchalisch-symbolische Ordnung insgesamt«53 beträfe. Käthchens Väter werden nichtsdestoweniger beide in ihren Rechten substantiell beschnitten: Ihr biologischer Vater muss als faktischer Erzeuger eine göttliche Intervention befürchten und »adoptiert« Käthchen aus Furcht vor dieser Bloßstellung unter einem beliebigen »Vorwand« (KH 519); Theobald steht am Ende als betrogener Ehemann und Vater, symbolisch entmannt da, überdies final im Duell überwältigt vom gänzlich unbewaffneten, zukünftigen Ehemann der Tochter. Erst in dieser symbolischen Entmachtung wird er wiederum ostentativ in die neue ›family of procreation‹ aufgenommen. Der Machtwechsel zwischen Vater und Graf könnte nicht deutlicher erfolgen.54 Gleichzeitig integriert die Schluss-Szene, wie bereits angedeutet, beide Väter und den Grafen als zukünftigen Ehemann Käthchens harmonisch und löst die Rivalitäten im Sinne einer wiederum naturgegebenen, prästabilierten Ordnung auf. Dies geschieht bezeichnenderweise unter der Füh53 54

Knauer, Die umgekehrte Natur, S. 139. Vaterschaft wird hier zu einer mythisch-sexualisierten Komponente, bei der Theobald auf das Kind allerdings keinerlei Anspruch erhebt, sondern vielmehr dem Anspruch des zukünftigen Ehemannes aus Angst vor himmlischer Insdiskretion des Cherubs Folge leistet. Der Kaiser in seiner öffentlichen Funktion des Landesvaters affirmiert hier lediglich die Ehe zwischen dem Grafen und Käthchen.

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rung des Kaisers, der nicht nur der natürliche Vater ist, sondern auch als Landesvater auf der Repräsentationsebene fungiert. Als Kaiser kann er Käthchen nicht als natürliche Tochter anerkennen – aber doch zumindest so verheiraten, dass Käthchen in der symbolischen Ordnung adäquat platziert wird. Im Transfer auf diese Repräsentationsebene fallen dann die Widersprüche und Missklänge weg, die sich aus der intimen (Zieh-)Vater-Tochter-Beziehung ergeben hatten, wobei der Kaiser und Käthchen hier miteinander korrespondierende Rollen ausfüllen. So beschreibt Theobald Käthchen als natürliches »Erzeugnis« ihrer nationalen Umwelt: »[…] das Käthchen von Heilbronn, ihr Herren, als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt, und von seinem Kuss geschwängert, die Stadt, die unter ihm liegt, sie geboren hätte.« (KH 433) Dementsprechend avanciert sie zur natürlichen Repräsentantin, zur Inkarnation ihrer schwäbischen Umwelt:55 Vettern und Basen, mit welchen die Verwandtschaft, seit drei Menschengeschlechtern, vergessen worden war, nannten sie, auf Kindtaufen und Hochzeiten, ihr liebes Mühmchen, ihr liebes Bäschen; der ganze Markt, auf dem wir wohnten, erschien an ihrem Namenstage, und bedrängte sich und wetteiferte sie zu beschenken; wer sie nur einmal gesehen und einen Gruß im Vorübergehen von ihr empfangen hatte, schloß sie acht folgende Tage lang, als ob sie ihn gebessert hätte, in sein Gebet ein. Eigentümerin eines Landguts, das ihr der Großvater, mit Ausschluß meiner, als einem Goldkinde, dem er sich liebreich bezeigen wollte, vermacht hatte, war sie schon unabhängig von mir, eine der wohlhabendsten Bürgerinnen der Stadt. (KH 433)

Deswegen überzeugt es, wenn Dirk Grathoff auf Käthchens nationale Identität hinweist: »Sie ist ein soziales Nationalprodukt.« Grathoffs Schlussfolgerung, »eine solche Person benötigt eigentlich keinen leiblichen Vater mehr«, übersieht allerdings die biologische Vaterschaft des Kaisers, die diesen nationalen Effekt hier trägt und bestätigt.56 Die natürliche Vaterschaft ist entscheidend, insofern sie die Legitimität kreiert, die Käthchens Besonderheit dynastisch verankert.57 Die vagen Erinnerungen 55

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Insgesamt ist die spezifische Qualität Käthchens, die mit ihrer unbewussten, somnabulen Intaktheit korrespondiert, natürlich wiederum zeitgenössisch gebrochen, vgl. Kittler, Geburt des Partisanen, S. 191–204. Hier geht es um den holistischen Effekt, der auf der Repräsentationsebene trotz aller offensichtlichen Brüche indiziert wird. Dirk Grathoff: Kleist: Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists. Opladen 1999, S. 155. Obwohl wir es im ›Käthchen von Heilbronn‹ mit einer spezifischen Herrschaftsgenealogie zu tun haben, wird hier auf Gesetze der Vorsehung zurückgegriffen, bei denen die ziehväterliche Anspruchshaltung der väterlichen Blutsverwandtschaft weichen muss.

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des Kaisers an seine damalige Geliebte akzentuieren diese Nähe zum Volk über die fast schon entindividualisierte Liebesbegegnung: Das Mädchen ist, wie ich höre, funfzehn Jahr alt; und vor sechszehn Jahren, weniger drei Monaten, genau gezählt, feierte ich der Pfalzgräfin, meiner Schwester, zu Ehren das große Turnier in Heilbronn! Es mochte ohngefähr eilf Uhr abends sein, und der Jupiter ging eben, mit seinem funkelnden Licht, im Osten auf, als ich, vom Tanz sehr ermüdet, aus dem Schloßtor trat, um mich in dem Garten, der daran stößt, unerkannt, unter dem Volk, das ihn erfüllte, zu erlaben; und ein Stern, mild und kräftig, wie der, leuchtete, wie ich gar nicht zweifle, bei ihrer Empfängnis. Gertrud, so viel ich mich erinnere, hieß sie, mit der ich mich in einem, von dem Volk minder besuchten, Teil des Gartens, beim Schein verlöschender Lampen, während die Musik, fern von dem Tanzsaal her, in den Duft der Linden niedersäuselte, unterhielt […]. (KH 519–520)

Der Übergang in den Garten mag dabei die Transition in eine nicht-repräsentative Sphäre der Anonymität bzw. intimen Zweisamkeit kennzeichnen (und auf diese Weise die spontane Liebesvereinigung legitimieren);58 über Gertrud59 bleibt der Kaiser aber nichtsdestoweniger mit dem Volk verbunden. Käthchen erbt damit als Kind des Landes und des Volkes die repräsentativen Qualitäten des leiblichen Vaters und der Mutter. Hier berühren sich die ätiologische Zeugungsbeschreibung Theobalds und die Erinnerung des Kaisers an sein Abenteuer auffällig. Auch wenn sich der Kaiser an die Mutter Käthchens kaum erinnert, indiziert der Geburtsstern, der bei der Zeugung leuchtet, eine innere, transzendent abgesicherte Logik des Liebesaktes. Die Sternmetaphorik bekräftigt nachträglich die providentielle Rhetorik des Stückes und expliziert sie. Das heißt auch, dass die komplexe Körperlichkeit Käthchens auf eine andere Ebene projiziert werden kann, wo sie als eine Art »Volkskörper« inklusive Eigenschaften entfaltet. Dies steht in einem deutlichen Kontrast zu ihrer individuellen Rolle als Tochter bzw. Geliebter, durch deren Doppelkonnotation in den innerfamiliären Beziehungen die bedrohlich-sexualisierten und versehrten Aspekte zu Tage treten und das problematische Konkurrenzverhältnis der Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie überhaupt erst etabliert wird. Ähnlich wird die Konkurrenz zwischen Theobald und dem Grafen befriedet, weil der Kaiser den Konflikt in einem anderen symbolischen Kontext relokalisiert. Wenn der Kaiser die verschiedenen konkurrieren58 59

Vgl. dazu Cullens, von Mücke, Das Käthchen von Heilbronn, S. 140–142. Auffälligerweise erinnert sich der Kaiser nicht mehr sicher an den Namen, der erst spät eingeführt wird, zuvor figuriert sie sehr allgemein als das »Mädchen«.

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den Rollenanteile (Käthchens Vater bleibt Vater und der Kaiser wird zum dynastischen Vater) austariert, kommt eine vorbestimmte Ordnung zustande, von der alle profitieren. Die »abstrakten« Funktionen überlagern dabei die intimen Interaktionen und erscheinen nichtsdestoweniger ad hoc plausibel. Die Integrationskraft des abstrakten Vaterbegriffes wird in ›Das Käthchen von Heilbronn‹ nachhaltiger wirksam als die konkreten Funktionen der realen (Zieh-)Väter, insofern sie die bedrohliche Synchronisierung der Zeitebenen (Vater/Geliebter) symbolisch ausgleicht.

5.

Natürliche versus kulturelle Väter in ›Der Findling‹

Dass die Familie zu einem entscheidenden Medium wird, um die historische Krisenzeit in der Zuspitzung auf das Private anschaulich zu machen, mag ein Grund für Kleists eigentümliche Thematisierung familialer Zusammenhänge sein. Seine Präsentation der komplizierten FamilienGemengelage entspricht dabei der eigenen verwirrenden Zeit, für die Perversionen, Vertrauensbrüche und Inzest logische Derivate einer aus den Fugen geratenen Welt darstellen, die jedwede »Natürlichkeit« längst eingebüßt hat, wie es Rupert in ›Die Familie Schroffenstein‹ resümiert: Doch nichts mehr von Natur. / […] – Selbst das Band, / Das heilige, der Blutsverwandtschaft riß, / Und Vettern, Kinder eines Vaters, zielen, / Mit Dolchen zielen sie auf ihre Brüste. / Ja sieh, die letzte Menschenregung für / Das Wesen in der Wiege ist erloschen. / Man spricht von Wölfen, welche Kinder säugten, / Von Löwen, die das Einzige der Mutter / Verschonten […] Und weil doch alles sich gewandelt, Menschen / Mit Thieren die Natur gewechselt, wechsle / Denn auch das Weib, die ihrige – verdränge / Das Kleinod Liebe, das nicht üblich ist, / Aus ihrem Herzen, um die Folie, / Den Haß, hineinzusetzen.60

Das heilige Band der Blutsverwandtschaft, das in ›Die Familie Schroffensteins‹ zerrissen scheint, wird in anderen Texten Kleists durch soziale Verwandtschaftsbeziehungen ersetzt, die im diskursiven Kontext der Aufklärung eine ähnliche (wenn nicht höhere Wertigkeit) wie die natürlichen beanspruchen. Damit knüpft Kleist an ein Muster in der Aufklärung an, das »in der Adoptionsfigur den Primat der Leistung über die Geburt (in soziologischer Begrifflichkeit von ›achievement‹ über ›ascription‹) zum 60

Heinrich von Kleist: Die Familie Schroffenstein. In: Brandenburger Kleist Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. I/ 1. Frankfurt am Main 2003, S. 12.

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Ausdruck brachte. Das Adoptivkind repräsentierte den Triumph der Vernunft und Kultur über die Mächte des Blutes, der Herkunft und der blinden Gewohnheit.«61 Helmut Jürgen Schneider deutet die Kleistsche Familienwelt mit Blick auf Prokreation und Adoption als intertextuelle Zurücknahme von Lessings »Humanitätsdrama«,62 das den »Verlust der Natur (symbolisiert im Verlust der natürlichen Eltern)« konvertiert in den »Gewinn der Menschheit«.63 Ebenso wie sich in ›Die Marquise von O….‹ eine Travestie der Rousseauschen Versöhnungsszene findet, demontiert Kleists ›Der Findling‹ mit seiner intertextuellen Referenz auf ›Nathan der Weise‹ zentrale Aspekte eines einschlägigen Aufklärungstextes, bei deren Familienbildung die nachträglich offengelegte Blutsverwandtschaft zwischen Recha und dem Tempelritter nur die Validität der zuvor kreierten sozialen Familie bestärkt. Mit dieser Vorstellung spielt Kleist bereits in ›Das Erdbeben in Chili‹, wo diese Welt-Familie ostentativ aus der Krise hervorgeht, »als ob das allgemeine Unglück Alles, was ihm entronnen war, zu e i n e r Familie gemacht hätte«,64 um danach umso nachdrücklicher an den Ereignissen zu zerschellen. Don Fernando bleibt am Ende nur der Säugling Philipp, den er unter Aufopferung seines eigenen Sohns Juan gerettet hat: »und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.« (EC 43)65 Dieser optimistische Ausklang ist allerdings wiederum gebrochen durch die ungewöhnliche Gewalt, mit der nicht nur die natürlichen Eltern des unehelich geborenen Philipps, sondern auch der hilflose Säugling Juan zu Tode gekommen sind. Die Rettung scheint den Stiefsohn dabei mit einem Mehrwert zu versehen, der dem heldenhaften Verhalten Fernandos entspricht. 61 62 63 64

65

Helmut Jürgen Schneider: Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist. In: Kleist-Jahrbuch (2002), S. 21–41, hier S. 25. Vgl. dazu auch Fischer, Ironie, S. 115, Fußnote 230. Schneider, Geburt und Adoption, S. 25. Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. In: Brandenburger Kleist Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II/ 3. Frankfurt am Main 1993, S. 27, Hervorhebung von Kleist, im fortlaufenden Text zitiert als EC mit der entsprechenden Seitenzahl. Bereits Eva-Maria Anker-Mader verweist im Anschluss an Anthony Stephens auf die »Parodie auf die Versöhnlichkeit des bürgerlichen Trauerspiels, das die mit der Durchsetzung der familiären Grundstruktur verbundene Gewalt verkennt und als Idee der einen Menschheitsfamilie camoufliert.« Dabei bezieht sie sich bei der Analyse von ›Das Erdbeben von Chili‹ vor allem auf das Adoptionsmodell in ›Miß Sara Sampson‹. Eva-Maria Anker-Mader: Kleists Familienmodelle. Im Spannungsfeld zwischen Krise und Persistenz. München 1992, S. 50.

221

Je mehr für ein Kind geopfert wird, desto höher kann sein kulturell determinierter Wert veranschlagt werden. Lessings ›Nathan der Weise‹ etabliert gleich zu Beginn des Dramas eine spezifische Wertigkeit seiner Funktion als Pflegevater, die mit Kleists impliziter Hierarchie zu korrespondieren scheint: Wenn ich mich wieder je entwöhnen müßte, / Dies Kind mein Kind zu nennen! Daja: Nennt Ihr alles, / Was Ihr besitzt, mit eben so viel Rechte / Das Eure? / Nathan: Nichts mit größerm! Alles, was / Ich sonst besitze, hat Natur und Glück / Mir zugeteilt. Dies Eigentum allein / Dank’ ich der Tugend.66

Wenn allerdings bei Lessing die besagte kulturelle Vaterfunktion als letztlich dominierende und alles befriedende, harmonische Kraft erscheint, so geraten die Adoptivväter – genau wie die biologischen Väter – bei Kleist ins Zwielicht. In Kleists Konstellationen beginnen sich natürliche und kulturelle Vaterschaft im Textverlauf auszuschließen. Erst im (durch Mut bzw. Mitleid verursachten) Verlust der eigenen Söhne erwerben die Kleistschen Väter in ›Das Erdbeben in Chili‹ und in ›Der Findling‹ ihre Ziehsöhne. Damit erscheint die implizierte Leistungsethik, die sich indirekt in der Rettung des fremden Kindes spiegelt, in eigentümlicher Weise fragwürdig, insofern sie nicht das Kind priorisiert, sondern den Verdienst, der sich an den Erwerb der Vaterschaft knüpft. Die Inklusion des biologischen Fremden erfolgt nur über die merkwürdige Ausmerzung des biologisch Eigenen, sie wird auf spezifische Weise aggressiv.67 Die kulturelle Vaterschaft steht in den folgenden Texten in jedem Fall im Zeichen der Katastrophe (ähnlich wie die natürliche Vaterschaft in der ›Marquise von O….‹ auf andere Weise als ambivalent wahrgenommen werden 66

67

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Werke und Briefe. Hrsg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Bd. 9. Frankfurt am Main 1993, S. 486, im fortlaufenden Text unter NW und der entsprechenden Seitenzahl. Dieses Zitat scheint ein entscheidender Bezugspunkt für das spezifische Glück, das die Lessingschen Väter bei dem »Tausch« des eigenen Kindes gegen das fremde empfinden, in ›Miß Sara Sampson‹ wird unter einer ähnlichen Prämisse Marwoods Tochter Arabella von Sir William angenommen. Das führt dazu, dass Carl Niekerk von einer Logik der Ansteckung ausgeht, deren Herd ausgemerzt werden muss; so betrachtet wird Nicolo in ›Der Findling‹ zu einer kontaminierenden Quelle des Unfriedens, die Piachi im Sinne einer bürgerlichen Ethik zu recht eliminieren kann. Vgl. zur hier abweichenden Deutung Piachis das folgende. Die Kontaminationslogik, die den an einem pestartigen Leiden erkrankten Nicolo in die streng nach bürgerlichen Wertemustern organisierte Ehe verpflanzt, ist aber eine stimmige Deutung für die pathologische Vorbereitung des »Ausbruchs« Piachis und der fehlgeschlagenen Eindämmung einer Gefahr, die es im Folgenden noch näher zu bestimmen gilt. Vgl. Carl Niekerk: Men in Pain. Disease and Displacement in ›Der Findling‹. In: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Hrsg. von Paul Michael Lützeler, David Pan. Würzburg 2001, S. 107–119.

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muss) und auch in ›Das Erdbeben in Chili‹ kann sie das zuvor Geschehene nicht vollständig kompensieren. Insofern die illegitime Zeugung Philipps letztlich zur mörderischen Ekstase des Mobs führt, drängt sich die Sexualität der Eltern als gesellschaftlicher Sündenfall immer wieder in den Vordergrund;68 analog dazu erfolgt auch die nachgeschaltete Austreibung von Josephe und Jeronimo aus der Notgemeinschaft, die sich nach dem Erdbeben zeitweise gebildet hatte. Zunächst ist eine Inversion erreicht, in der die Sünde zurückgenommen scheint: Die Menschen begegnen sich vorübergehend mit einer »natürlichen« Güte, die von den gesellschaftlichen Restriktionen und Wertungen unangetastet bleibt, ja quasi den Naturzustand re-etabliert. Dabei sind die verschiedenen religiösen Bildwelten zeitlich innovativ verschachtelt; die paradiesische Szene folgt der Logik des Garten Edens (wobei sich der Sündenfall hier vor dem Eintritt ins Paradies abgespielt hat) und der bekannten Ikonographie des einschlägigen Motivs »Ruhe auf der Flucht«, bei der die heilige Familie vor ihrer (ungerechten) Verfolgung nach Ägypten flieht. Jeronimos und Josephes sexuelle Transgression wird also hier doppelt apologetisch kontextualisiert (im Verweis auf Adam und Eva vor dem Sündenfall und auf Maria und Josefs als unschuldig Verfolgte). Zugleich wird die Situation über dieselbe Intertextualität als instabil ausgewiesen, kann doch der menschliche Aufenthalt im Paradies gemäß dem biblischen Narrativ nur ein vorübergehender sein. Die Folgen ihrer Tat holen die beiden Liebenden in diesem Sinne letztlich ein. Im vielfältigen Bildfeld und seiner alogischen Anachronizität (mit Blick auf die religiösen Narrative) ist damit eine klare moralische Verurteilung des Paares nicht mehr möglich; trotzdem sterben die beiden Liebenden in dem Moment, in dem sie bereits gerettet scheinen, gerade wegen ihres Impulses, Gott für die Rettung zu danken. In der gleichzeitig greifenden, auffälligen Überlagerung von Fleischlichkeit und unbefleckter Empfängnis findet sich ein entscheidendes Thema der Erzählung, insofern Kleist beide Aspekte zu Ende denkt. 68

Wenn Schneider vermutet, dass bei Kleist letztlich alles um das »rätselhafte Faktum« der Sexualität und der Reproduktion kreise, benennt er damit in der Tat eine wichtige Facette der hier vorliegenden Texte. »Sowohl in der Marquise von O… wie im ›Erdbeben in Chili‹ wird ein illegitim empfangenes Kind schließlich legitimiert und so von derselben Gesellschaft akzeptiert, deren Ordnung durch sein Entstehen herausgefordert und bedroht war. Dabei geht es nicht primär um die Bestätigung des verletzten Gesetzes, sondern um die Spannung zwischen der für die Gesellschaft unerlässlichen Reproduktion und dem Bedürfnis derselben Gesellschaft, diese krude Körperlichkeit aus ihrer symbolischen Selbstrepräsentation zu verbannen. Daher die Suche in vielen Kleistischen Texten nach einem kulturellen Vater, der den bloßen Erzeuger ersetzt.« Schneider, Geburt und Adoption, S. 24.

223

Die apologetische Inszenierung der romantischen Liebe und der tatsächliche Untergang aufgrund der initialen, physischen Überschreitung (und der inhärenten Frömmigkeit der Liebenden) hängen somit auf das engste zusammen. Dass schließlich der kulturelle Vater überlebt, wird an den in diesem Kontext paradoxen Triumph einer Vorstellung gekoppelt, die sich aus Reflexen der Aufklärungswelt speist, nämlich die Sublimierung der Natur im Sinne einer kulturellen Prägung. Zugleich wird diese Konstellation bereits hier kontextuell (nicht zuletzt durch den tragischen und unnötigen Tod des Liebespaares und des Säuglings) sabotiert und kontaminiert. In der komplexen Vermischung der Zeitebenen werden überdies die zuvor genannten Aspekte wieder aufgerufen: die starke Positionierung des Paares (sogar in der sexuellen Aberration) und die partielle Kompromittierung eines meritorischen Vatergedankens. Im Folgenden geht es um genau diese Invertierung eines väterlichen Paradigmas. Dort, wo die Erzählung um die befleckte Empfängnis aufhört, setzt nun ›Der Findling‹ als Geschichte einer kulturellen Vaterschaft ein, wobei gleich zu Anfang mit einem ähnlichen Kalkül69 der Wert des Adoptivsohns mit dem Verlust des eigenen Kindes verrechnet wird:70 »Da er, auf eine leicht begreifliche Weise, den Jungen in dem Maaße lieb gewonnen, als er ihm theuer zu stehen gekommen war, so adoptierte er ihn«.71 Der Hinweis, diese Empfindung gegenüber dem angenommenen Kind sei angesichts der Vorgeschichte »leicht« verständlich, fällt besonders mit Blick auf Don Fernandos ganz ähnlich artikulierte Gefühle in ›Das Erdbeben in Chili‹ auf. In gewisser Weise steht damit die kulturelle Vaterschaft als elaborierte Version eines natürlichen Gefühls zur Disposition. Insofern 69

70 71

Auf die in ›Der Findling‹ auffällig vorherrschende Tauschlogik wurde in der Sekundärliteratur ausgiebig verwiesen; vgl. dazu auch Adam Soboczynski: Die Impotenz des Händlers und eine treffliche Frau. Ökonomie und Verstellung in Kleists Novelle ›Der Findling‹. In: Kleist-Jahrbuch (2000), S. 118–135, hier S. 120: »Piachi, Vertreter des kaufmännischen Bürgertums, definiert sich und seine Geschlechtsrolle durch ökonomischen Gewinn. In keiner anderen Erzählung werden die (bereits oft besprochenen) Substitutionsfiguren derart offensichtlich mit Ökonomie und (männlicher) Potenz des aufgeklärten Bürgertums um 1800 versponnen.« Auch die religiöse Implikation wird mitgeliefert, indem auf Nicolo, den später durch Antonio angenommenen Waisen als »Gottes Sohn« (DF 22) Bezug genommen wird. Heinrich von Kleist: Der Findling. In: Brandenburger Kleist Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II/ 5. Frankfurt am Main 1997, S. 24; Hervorhebung von C.N. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als DF mit der entsprechenden Seitenzahl.

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diese Tugendrechnung offengelegt wird, erscheint sie als brutale Annihilierung der natürlichen, menschlichen Bindungen, die durch die meritorischen Surrogatskonstruktionen nicht ersetzt werden können. Indem jedoch die Kommensurabilität suggeriert wird, erzeugen die Texte eine Gleichzeitigkeit, bei der die (meritorisch »erworbenen«) neuen Familienmitglieder die alten überlagern, ja geradezu ausmerzen.72 Auf diese Weise wird die Evidenz und »Natürlichkeit« der aufklärerischen Logik radikal hinterfragt. Helmut Jürgen Schneider hat sehr ausführlich auf die innerfamiliäre Dynamik und die Intertextualität zwischen ›Nathan der Weise‹ und ›Der Findling‹ verwiesen, dabei die Rolle des Vaters aber nur bedingt beleuchtet. Wie bereits im ›Käthchen von Heilbronn‹ scheint der Pflegevater, der das Kind nicht gezeugt hat, in vielerlei Weise als impotent. Die Entmachtung, die an ihm vollzogen wird, steht in Zusammenhang mit der zurückgenommenen biologischen Vaterschaft – die kulturelle Familienbildung kann nun nur glücken, wenn sich alle Mitglieder der Grundidee unterwerfen, die für die bürgerliche Kleinfamilie zum entscheidenden Richtwert wurde: tugendhaftes Verhalten. Nicolo, integriert und geliebt, kann sich in wesentlichen Charaktereigenschaften nicht den bürgerlichen Forderungen anpassen.73 Seine Wollust und seine Bigotterie bereiten dem Vater frühzeitig Sorgen, ohne dass eine Werte-Assimilation im Kontext der neuen Kleinfamilie herbeigeführt werden kann. Mit der Zurücknahme dieser vorgängigen Erziehbarkeitsprämisse (ein zentraler Grundwert der Aufklärung) setzt die Erzählung ein. Der neue Sohn kann nicht vollständig auf die familiären Werte eingeschworen werden, obwohl sie von den Pflegeeltern vehement vertreten, vorgelebt und anempfohlen werden.74 Dabei fällt auf, dass man Nicolo sehr wohl von der den kaufmännischen 72

73 74

Bettina Knauer benennt die Adoptionssituation als Ausgangspunkt für diese Entwicklung, wenn sie feststellt, dass Piachis Handlung »weit entfernt [ist] von einer Tat der Liebe und des Mitleids. Er ist Spiegel einer metaphysisch erkalteten Welt, in der der nominelle Wert substantielle Bindungen wie natürlich-sinnliche und kulturelle Zusammenhänge aufgesogen und zerstört hat, und in der es angezeigt ist, die Verluste und Leerstellen möglichst schnell zu substituieren.« Bettina Knauer: »… ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß«. Substitutionen und Legitimationsstrategien bei Kleist. In: Gewagte Experimente, S. 137–148, hier S. 143. Vgl. dazu auch Ingeborg Harms: Kleists Findling zwischen Krypta und Handelsgewölbe. In: Gewagte Experimente, S. 149–167. Zur Perspektive Nicolos vgl. exemplarisch Jürgen Schröder: Kleists Novelle ›Der Findling‹. Ein Plädoyer für Nicolo. In: Kleist-Jahrbuch (1985), S. 109–127. »Nichts hatte der Vater, der ein geschworner Feind aller Bigotterie war, an ihm auszusetzen, als den Umgang mit den Mönchen des Carmeliterklosters […] und nichts ihrer Seits die Mutter, als einen früh, wie es ihr schien, in der Brust desselben sich regenden Hang für das weibliche Geschlecht.« (DF, 24–25)

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Geschäften zugrundeliegenden Tauschlogik überzeugen kann;75 dass diese, abgelöst von der entsprechenden Ethik, geradezu wertedeviant wird, wirft ein Licht auf eine inhärente Paradoxie in den initialen Tauschvorgängen zu Beginn des Textes, die zugleich meritorische Individualität akzentuierten (beim Agenten) und negierten (beim Tauschobjekt). Ebenso wie bei den anderen Erzählung wird in ›Der Findling‹ eine Verschmelzung der diachronen und synchronen Ebene erreicht, in diesem Fall nicht nur über das inzestuöse Begehren des Sohnes, sondern auch über die ambivalente Rolle der Mutter. Ähnlich wie Recha wurde sie als junge Frau aus einem brennenden Haus gerettet. Der Patrizier, der ihr zu Hilfe kommt, stirbt allerdings infolge seines heldenhaften Eingreifens. In einer spezifischen Idolatrie bleibt sie dem Toten verbunden, wobei auch diese Quasi-Anbetung an Lessings Drama erinnert, wo diese Schwärmerei von Nathan noch explizit verurteilt wird: »Begreifst du aber, / Wieviel a n d ä c h t i g s c h w ä r m e n leichter, als / G u t h a n d e l n ist?« (NW 497, Hervorhebung Lessing) Bezeichnenderweise aber pflegt die junge Elvira (anders als Recha in ›Nathan der Weise‹) den schwer verletzten Retter aufopferungsvoll, bevor dieser »nach einem dreijährigen höchst schmerzvollen Krankenlager, während dessen das Mädchen nicht von seiner Seite wich, […] verschied […].« (DF 29) Alle ärztliche »Kunst war, durch eine unbegreifliche Schickung des Himmels, vergeblich« (DF 28–29). Schwer verständlich wäre diese »Schickung des Himmels« fraglos auch Nathan erschienen, der Recha, nachdem er sie pädagogisch subtil aus ihrer Schwärmerhaltung aufgerüttelt hat, verbindlich versichert: »Gott lohnt Gutes hier / Getan, auch hier noch.« (NW 497) Die spätere Leidenschaft des Tempelritters für Recha wird im Verlauf des Lessingschen Dramas nahezu bruchlos in eine unverhandelbare BruderSchwester-Beziehung überführt, in der statt Passion eine geschwisterliche und demzufolge sozial regulierte Liebe vorherrscht – der Tod des Retters in ›Der Findling‹ hat erstaunlicher Weise eine ähnlich platonische Konstellation zur Folge: Auf dem Verlust, den Elvira in ihrer Jugend erleidet, gründet sich eine allerdings hier als Defizit verstandene, asexuelle Tugend, die durch die Heirat mit Piachi perpetuiert wird. In der keuschen Ehe, die beide führen, bleibt Raum für Elviras sakralisierte Beziehung zu ihrem Retter, die vor dem Hintergrund des Geschehens ambivalent bleiben muss und in diesem Sinne auch von Nicolo als zweideutig wahrgenommen wird: 75

Bernd Fischer verweist auf diesen Kontext und betont dabei, dass die Vermittlung der geschäftlichen Vernunft gelingt, nicht aber ihre ethische Fundierung. Vgl. Fischer, Ironische Metaphysik, S. 115.

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Piachi, der mit dem Hause dieses Herrn in Handelsverbindungen stand, und Elviren eben dort, da sie ihn pflegte, kennen gelernt und zwei Jahre darauf geheirathet hatte, hütete sich sehr, seinen Namen vor ihr zu nennen, oder sie sonst an ihn zu erinnern, weil er wußte, daß es ihr schönes und empfindliches Gemüth auf das heftigste bewegte. Die mindeste Veranlassung, die sie auch nur von fern an die Zeit erinnerte, da der Jüngling für sie litt und starb, rührte sie immer bis zu Thränen, und alsdann gab es keinen Trost und keine Beruhigung für sie; sie brach, wo sie auch sein mogte, auf, und keiner folgte ihr, weil man schon erprobt hatte, daß jedes andere Mittel vergeblich war, als sie still für sich, in der Einsamkeit, ihren Schmerz ausweinen zu lassen. Niemand, außer Piachi, kannte die Ursache dieser sonderbaren und häufigen Erschütterungen, denn niemals, so lange sie lebte, war ein Wort, jene Begebenheit betreffend, über ihre Lippen gekommen. Man war gewohnt, sie auf Rechnung eines überreizten Nervensystems zu setzen, das ihr aus einem hitzigen Fieber, in welches sie gleich nach ihrer Verheirathung verfiel, zurückgeblieben war, und somit allen Nachforschungen über die Veranlassung derselben ein Ende zu machen. (DF 29–30)

In der Überreiztheit des Nervensystems spiegelt sich ein durch den Text expliziertes Begehren, das sich der Kontrolle, ja dem Verständnis ihres Mannes ironisch entzieht.76 Dementsprechend ist die Heirat mit Piachi auffällig mit dem rekurrenten Nervenfieber verknüpft, mit dem sich Elvira bei jeder Erwähnung ihres Retters aus der Realität zu flüchten pflegt. Dabei scheint die unspezifische Unpässlichkeit unausgesprochene Hoffnungen und Wünsche in einer paradoxen Gratwanderung offenzulegen und doch das, was man heute als produzierte, hysterogene Veranlagung Elviras77 beschreiben würde, zugleich zu chiffrieren. Elviras Bindung78 an ihren toten Retter erweist sich letzten Endes als eine weitere Machtdemonstration der konzeptuell beharrlichen und dominanten Paarliebe. In der finalen Konfrontation mit dem als Colino kostümierten Nicolo ruft sie dementsprechend aus: »Colino! Mein Ge76

77 78

Damit verstößt sie gegen das Transparenzgebot, mit dem der Mann Einblick in die weibliche Psyche beansprucht. Vgl. Bovenschen, Imaginierte Weiblichkeit, besonders S. 24. Vgl. dazu insgesamt Bronfen, The Knotted Subject. Vgl. auch: »Nichts störte ihn in dem Taumel, der ihn ergriffen hatte, als die bestimmte Erinnerung, daß Elvire das Bild, vor dem sie auf Knieen lag, damals, als er sie durch das Schlüsselloch belauschte: Colino, genannt hatte; doch auch in dem Klang dieses, im Lande nicht eben gebräuchlichen Namens, lag mancherlei, das sein Herz, er wußte nicht warum, in süße Träume wiegte, und in der Alternative, einem von beiden Sinnen, seinem Auge oder seinem Ohr zu mißtrauen, neigte er sich, wie natürlich, zu demjenigen hinüber, der seiner Begierde am lebhaftesten schmeichelte.« (DF 43) Nicolo ist durchaus imstande, aus dem an Colino gerichteten Worten eine unbestimmte Hoffnung abzuleiten, die ihn, als erklärten Wollüstling, in »süße Träume« wiegt. Für ihn als erfahrenen Verführer scheint das Begehren Elviras aus deren Gesten und Worten ableitbar.

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liebter!« und sinkt »ohnmächtig auf das Getäfel des Bodens nieder […].« (DF 51)79 Piachis und Elviras Eheschließung erscheint zuvor auf mehreren Ebenen als Anachronismus: Zum einen als Vermengung zweier inkompatibler Altersstufen (eine Absurdität, die durch die familiale ménage à trois mit dem nahezu gleichaltrigen Stiefsohn den plot speist) und zum anderen als eine inadäquate Vorstellung von Ehe. Indem sie die Liebe in Kameradschaft, ja eine Wertegemeinschaft verwandeln, bereiten sie Nicolos Aberration indirekt mit vor.80 Wenn Nicolo im Kostüm Colinos seine Stiefmutter zu vergewaltigen versucht, inkorporiert er seinen eigentlichen Konkurrenten bereits in der Verkleidung: Nicht Piachi ist hier der zu überwindende Gegner, sondern der – ganz ihm Sinne der Kleistschen weiblichen Liebesdevotion – vergöttlichte Colino. Der Familienvater steht als Hahnrei bezeichnenderweise außerhalb der sexuell aufgeladenen Konstellation. Nicolo wird in der anschließenden Konfrontation mit dem Vater als »Tartüffe« (DF 53) bezeichnet, denn der »Imposteur« Nicolo hat sich, ganz wie im gleichnamigen Stück Molières, das gesamte Vermögen des Vaters in weiser Voraussicht vorzeitig überschreiben lassen. Dieser wenig schmeichelhafte Vergleich verrät wenig Neues über Nicolo, dessen charakterliche Unebenheiten über weite Teile Gegenstand der Erzählung sind, hat aber eine signifikante Auswirkung auf die Deutung der Rolle Piachis. Im Abgleich mit der Personenkonstellation in Molières ›Tartuffe‹ würde er Orgon entsprechen, der sich in selbstzufrieden-naiver Verkennung für die Einflüsterungen des bigotten Betrügers Tartuffe anfällig zeigt und dabei bereit ist, die eigene Familie gravierend zu benachteiligen (durch Enterbung des Sohnes und durch die marriage forcé der Tochter mit Tartuffe). In dieser Gegenüberstellung erscheint nun auch das Verhalten Piachis als problematisch. Ist Molières Orgon anfällig für religiöse Heuchelei, so erweist sich Piachi den aufklärerischen Vorstellungen von der Erziehbarkeit, der Überzeugung von der Macht der Sozialisierung als hörig. Mit Piachis Schwächung erfährt auch dieses zugrunde liegende paternal-moralische Modell im Text einen irreversiblen Schlag. Wichtig in diesem Kontext ist Tartuffes Liebe zu Orgons tugendhafter Frau Elmire, die in Kleists Adaption dem fehlgeleiteten Begehren des »Tartuffes« Nicolo gleicht; wenn Orgon klagend die Vorrechte aufzählt, 79 80

Die Ohnmacht erweist sich hier intertextuell als sexualisiert konnotiert (besonders mit Blick auf die Marquise von O….). Vgl. dazu auch Anker-Mader, Kleists Familienmodelle, S. 67.

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die er Tartuffe gewährt hatte, entspricht das auffällig Piachis und Nicolos Situation: Ein Mensch, ohne Vaterland, ohne Freunde, in tiefer Armuth, kaum bekleidet, erscheint mir, als Märtyrer seiner Religion und seiner Anhänglichkeit an Recht und Ordnung. Ich nehm’ ihn auf in mein Haus; ich kleid‹ ihn; ich überhäufe ihn mit meinen Wohlthaten; will ihm meine Tochter geben; bereichre ihn mit dem größten Theil meines Vermögens – und in eben der Zeit macht er den Verführungsplan gegen die Gattin seines Beschüzzers, seines Wohlthäters. Gedemühtigt durch die Tugend meines Weibes, entlarvt durch sie und dargestellt in seiner ganzen Häßlichkeit, entbrennt seine Rachsucht – mit eben den Wohlthaten, die er von mir empfing, will er meinen Untergang; will mich aus dem Hause vertreiben, wo ich ihm das erste Obdach gab; will mich in den Stand der Verachtung und des Elends hinausstoßen, aus dem ihn meine Hand errettet hat.81

Das groteske Scheitern dieses Konzepts führt dann zum Racheexzess, der nicht nur auf das bizarr-versöhnliche Ende des ›Erdbebens von Chili‹ zurückverweist, sondern auch kontrastiv auf Moliéres ›Tartuffe‹: Piachi hatte gerade Tags zuvor die unglückliche Elvire begraben, die an den Folgen eines hitzigen Fiebers, das ihr jener Vorfall zugezogen hatte, gestorben war. Durch diesen doppelten Schmerz gereizt, ging er, das Dekret in der Tasche, in das Haus, und stark, wie die Wuth ihn machte, warf er den von Natur schwächeren Nicolo nieder und drückte ihm das Gehirn an der Wand ein. Die Leute die im Hause waren, bemerkten ihn nicht eher, als bis die That geschehen war; sie fanden ihn noch, da er den Nicolo zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den Mund stopfte. (DF 55, Hervorhebung von C.N.)

In ›Das Erdbeben in Chili‹ wird der »göttliche Held« (EC 41) Don Fernando mit einer ähnlichen Todesursache seines Sohnes konfrontiert.82 Freute sich Don Fernando in ›Das Erdbeben in Chili‹ noch abschließend über den (durch den so grausamen Verlust des Sohnes) geretteten Philipp (»so war ihm fast, als müßt er sich freuen«, EC 43), so erscheint diese Freude in ›Der Findling‹ ultimativ kompromittiert. Der ähnlich »erworbene« Nicolo bestätigt nicht die kulturelle Aura der bürgerlichen Vaterordnung, er annihiliert sie in drastischer Weise. Das Ausmaß dieser Überschreitung spiegelt sich in Piachis Rache, die mit dem Mord am Pflegesohn nicht endet: 81 82

Molières Lustspiele und Possen. Für die deutsche Bühne von Heinrich Zschokke. Zürich 1805, S. 97–98. »Don Fernando, als er seinen kleinen Juan vor sich liegen sah, mit aus dem Hirne vorquellenden Mark, hob, voll namenlosen Schmerzes, seine Augen gen Himmel.« (EC 41)

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»Willst du der Wohltat der Erlösung theilhaftig werden?« fragten ihn beide. »Willst du das Abendmahl empfangen?« – Nein, antwortete Piachi. – »Warum nicht?« – »Ich will nicht selig sein. Ich will in den untersten Grund der Hölle hinabfahren. Ich will den Nicolo, der nicht im Himmel sein wird, wiederfinden, und meine Rache, die ich hier nur unvollständig befriedigen konnte, wieder aufnehmen!« (DF 56–57)

In Zschokkes Molière-Übersetzung heißt es dagegen: JUSTIZRATH [Orgon]: (Tartüffen nachdrohend) Jezt, Verräther, bekömmst du deinen Lohn! OBRIST [Cléante]: Nicht doch, Bruder. Triumphire nicht – Ueberlaß den Elenden seinem Schiksal, und wünsche, daß er besser werde. Eile lieber zum Fürsten, wirf dich zu seinen Füßen, danke dem Erhabnen für seine Gnade, und fleh um milde Behandlung dessen, der deinen Untergang wollte. JUSTIZRATH: (drükt ihm die Hand) Bruder, Sie gehn selten zwar zur Kirche – aber, bei Gott, Sie sind ein beßrer Christ, als ich. Sie haben recht! Wir wollen zum Fürsten – o mein liebes Weib, meine Kinder, verzeiht auch ihr, wie er [der Fürst] mir verzieh. Schmerzlicher, als ihn, hatte ich euch beleidigt. Ich war schwach. – Und der erste Schritt zu meiner Buße sei dieser. (er umarmt Blendheimen [Valère, Verlobter der Tochter] Sie sind mein Sohn! (er führt ihn zu Celestinen [Marianne, Tochter Orgons] und legt ihre Hände zusammen) Euer Glük ist das meinige. – (er umarmt Elmiren) Ich war bisher ein Andächtler; ich will anfangen ein Christ zu werden!83

Intertextuelle Parallelen und Divergenzen zwischen Tartuffe und Nicolo stellen letztlich die gesamte Motivation und Charakterisierung Piachis in Frage. Er empfindet die Transgression des Sohnes als so maßlos, dass nur die Vorstellung einer perpetuierten Rache in der Hölle sein Gerechtigkeitsgefühl befriedigen kann. Die Moralvorstellungen, deren Verletzung ihn hier erzürnt, gewinnen in dem transzendenten Kontext von Himmel und Hölle den Wert des Absoluten; indem er sich allerdings gleichzeitig freiwillig für die Hölle entscheidet, relativiert er seine Normen inhaltlich – seine grausame Empörung wirkt auf diese Weise merkwürdig formal und oberflächlich. Dem Glauben an eine unumstößliche bürgerliche Werteordnung folgt der hier der unversöhnliche Bruch mit ihr; im Rekurs auf Orgon wird Piachis bedingungsloses Vertrauen in spezifi83

Vgl. dazu Zschokkes ›Tartüffe‹. Molières Lustspiele und Possen. Für die deutsche Bühne von Heinrich Zschokke. Zürich 1805, S. 116. In der Münchner Ausgabe von 1784 (Tartüffe. Ein Lustpiel von Moliere, neu und frey übersetzt. München 1784) fehlt diese Mäßigungsauflage. Vgl. zum genauen Hintergrund der Übersetzungen und zu inhaltlichen Abweichungen gegenüber Molière Nicola Denis: Tartuffe in Deutschland. Molières Komödie in Übersetzungen, in der Wissenschaft und auf der Bühne vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Münster, Hamburg, London 2001, besonders S. 93–123 und S. 147–190.

230

sche Normen als eine ähnlich naive Aberration lesbar wie Orgons religiöse Leichtgläubigkeit. Beide Ideologien scheinen damit als vergleichbar problematisch: Einen drastischeren Persönlichkeitswandel durchläuft allerdings Piachi, wenn der ehemals ehrbare Mann zum fragwürdigen Rächer mutiert – mit dieser unheimlichen Wendung stellt der Text die Tragfähigkeit der evidenten Kultur-Familien-Konzeption nachhaltig zur Debatte.84

6.

Schlussfolgerungen

1)

Semantisch neu kodierte Konkurrenz zwischen paternaler und »romantischer« Integrationsfunktion um 1800

Die sich auf neue Weise bahnbrechende Form des physischen Begehrens, die sich über die kulturell gesetzten Grenzen hinwegsetzt, kompromittiert bei Kleist den kulturellen Vater ebenso wie den biologischen Vater. Der moralisch fundierte paternale Regulierungsanspruch, wie er in den hier behandelten Texten etabliert wurde, kollabiert angesichts der rekodierten Bedeutung der Zeugungsfamilie. In Anbetracht des textlich inszenierten Vorrangs der Paarbeziehung wird Vaterschaft mit Blick auf die erwachsene Tochter problematisch, insofern bei Kleist ihre Sexualisierung unausweichlich scheint; das damit entfesselte physische Begehren gewinnt in den Texten Raum und lädt die Vater-Tochter-Beziehung neu auf, insofern der Vater es nunmehr mit einer (unter der Hand) begehrenden und begehrten Tochter zu tun hat, was problematisch mit den paternalen Tugendauflagen interferiert. Aufgelöst werden kann diese Konstellation nur im realen Transfer der Tochter in die Fortpflanzungsgemeinschaft, also durch die Überführung in eine entparadoxierende zeitliche Ordnung, die allerdings in den Texten oftmals, zumindest vorübergehend, verweigert wird. Dadurch wird eine Konkurrenz85 zwischen Vater und Geliebten/ Eheanwärter unausweichlich, aus der schließlich der Geliebte (zumindest 84

85

Das deutet auch Bernd Fischer an: Fischer, Ironische Metaphysik, S. 115, Fußnote 230: »Die Ersatzbindungen im Hause Piachi werfen zudem ein skeptisches Licht auf die optimistische Toleranz- und Vernunftpsychologie in Lessings ›Nathan‹«. In der oben erwähnten Überblendung zweier zeitlich auflösbarer Machtansprüche des Vaters und des zukünftigen Ehemanns auf die Frau als Tochter und Geliebte, die sich hier zeitlich überlagern und damit zum diskursiven Problem werden, liegt auch der Grund für die in ›Die Marquise von O….‹ gezeigte Sexualisierung der Vater-TochterBeziehung. Über die immer deutlicher greifbare Präsenz einer zunehmend entscheidend werdenden Körperlichkeit wird diese Tendenz verstärkt.

231

konzeptuell)86 erfolgreich hervorgeht. Es spiegeln sich in dieser Beziehung die Nachbeben einer entscheidenden semantischen Verschiebung und Aufwertung der Paarliebe als zunehmend erfolgsversprechendem individuellem Integrationsmodus (insofern sie sowohl sexuelle Körperlichkeit integrieren als auch – aufgrund ihrer spezifischen Konzeption – eine evolutive Individualität dauerhaft bestätigen kann).87 Eine entscheidende Strategie, diesen paradoxen Vater-Partner-Konflikt88 zu entfalten und zu entparadoxieren, ist die Ausklammerung der Sexualität, durch die Konflikte um Macht und Hierarchie unterbunden werden können. Die bürgerliche Fortpflanzungsgemeinschaft wird so auf paradoxe Weise purifiziert – vor allem auch im Abgleich mit den Entwicklungen in Frankreich. Es ist kein Zufall, dass sexuelle Überschreitungen in romantischen Texten oftmals mit der Entgleisung der Französischen Revolution in Verbindung gebracht werden. Lynn Hunt hat auf die politische, demokratisierende Bedeutung von Pornographie in der Französischen Revolution hingewiesen.89 Wenn sie zeigt, dass etwa die Verunglimpfung Marie Antoinettes90 zunächst klassische Stereo86

87

88 89

90

Ein mögliches Scheitern des Geliebten oder der Paarliebe hat wiederum mit der desolaten Einschätzung der eigenen Zeit zu tun, vgl. dazu etwa noch einmal ›Das Erdbeben in Chili‹ oder auch ›Die Verlobung in St. Domingo‹ (Letzteres mit dezidiertem Revolutionsbezug). In diesem Zusammenhang verschiebt sich zwangsläufig die Rolle der Mutter, auf die der Vater nunmehr ausschließlichen emotionalen Anspruch hat, während seine Kinder a priori auf dem Weg aus seiner Zeugungsfamilie in die ihrige sind. Die Mutter in der ›Marquise von O….‹ wird somit zur eigentlichen Vermittlerin zwischen Vater und Tochter, deren Beziehung andernfalls an einen irreversiblen Endpunkt gekommen wäre. Dieser Widerspruch ergibt sich aus der gleichzeitigen Betonung der Herkunftsfamilie (mit dem Vater) und der Fortpflanzungsfamilie (mit dem Ehemann/zukünftigen Vater). »After the end of the Terror, French pornographers’ attention shifted almost exclusively to the depiction of sexual pleasure as an end in itself. This shift marked the beginning of truly modern pornography, with its mass-produced text or images devoted to the explicit description of sexual organs or activities with the sole aim of producing sexual arousal in the reader or viewer. Paradoxically, once political pornography had become democratized, it ceased being political.« Lynn Hunt: Pornography and the French Revolution. In: The Invention of Pornography, Obscenity and the Origins of Modernity. 1500–1800. Hrsg. von Lynn Hunt. New York 1993, S. 301–340, hier S. 305. Vgl. dazu Hunt: »Although there is much merit in this analysis and its attention to the modes and means of publishing, it overlooks entirely the gender dimension of the new forms of democratization. Democracy was established against monarchy through pornographic attacks on the feminization of both the aristocracy and monarchy. It was accelerated in and after 1789 by especially vicious attacks against the leading female figure of the ancien regime, the queen herself. At the same time, the fraternal bonds of democracy were established – in pornography, at least and perhaps more broadly – through the circulation of images of women’s bodies, especially through print media and the effect of visualization through pornographic writing. The fantasies of multiple sexual partners and

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typen91 des adeligen Exzesses aufgreift, wird gleichzeitig deutlich, dass das subversiv-kritische Element im Vorfeld der Revolution tatsächlich stark an eine offen propagierte Sexualität gekoppelt war. Auch deutsche Texte greifen in ihrer Zurückhaltung auf diese Implikation im Zuge einer Entdifferenzierungsfurcht92 zurück. In diesem Sinne fällt in anderen Texten der Romantik, in der die Liebe besonders exponiert inszeniert wird, die Ausgrenzung des Sexus auf, der als Lust markiert und aus den Texten ausgetrieben wird.93 Diese Methode gewinnt im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine gewisse Eigendynamik (vgl. besonders das Kapitel zu Stifter). 2)

Prävalenz des Vaters im Verkörperungsmodus

Während die intimen familialen Beziehungen also immer problematischer werden, ergibt sich mit Blick auf die paternale Verkörperungsfunktion eine deutlich harmonisierendere Tendenz. Erfolgreiche Ausgleichsbewegungen der verschiedenen Ansprüche finden sich vor allem dann, wenn es sich um nationale Vaterfiguren handelt (vgl. nicht nur ›Das Käthchen von Heilbronn‹, sondern auch ›Prinz Friedrich von Homburg‹). Diese paternale Verkörperungsfunktion gründet sich zwar auf der aufklärerisch-empfindsam kodierten paternalen »Regierungsfunktion«, erweist sich aber nur in einer Distanzierung von den zunehmend verworrenen und komplexen Intimstrukturen als effizient und integrierend. Diese bei Kleist bereits implizierte Spaltung von einer väterlichen Regierungs- und Verkörperungsfunktion ist für das folgende Jahrhundert von grundsätzlicher Bedeutung. 3)

Werte-Ordnung und Ortung: Öffentlichkeit und Privatheit bei Kleist

Bei Kleist gerät der Vater als Vertreter einer egalitären, emanzipatorischen Moral zunehmend unter Beschuss. Die im 18. Jahrhundert literarisch kultivierte Evidenz eines spezifisch bürgerlichen Wertesets wird damit hinterfragt und thematisch ambiguisiert. Das hängt eng mit dem hier zu-

91 92

93

of sex across class lines, like other privileged preserves of the aristocracy such as hunting, were now available to everyone, but especially to every man.« Hunt, Pornography, S. 329. Im Verlauf der Revolution erweist sich dies als Modus der Herabsetzung auf die Fraktion der Revolutionäre übertragbar. Entdifferenzierung wird als Destabilisierung verstanden und muss im Kontext klarer Vorgaben und Hierarchien diskursiv eingebunden werden. Auch die Demokratisierung wäre in diesem Sinne als gefährliche Entdifferenzierung zu werten. Claudia Nitschke: Unanständige Wiedergänger. Liebe und Revolution in Erzählungen von Arnim und Eichendorff. In: Weimarer Beiträge 55 (2009), S. 221–249.

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grunde liegenden Privatheits-Begriff als Wertegemeinschaft zusammen; Öffentlichkeit gewinnt in einer anderen Form als im bürgerlichen Trauerspiel an Bedeutung. Sowohl das prekäre Inserat der Marquise, mit der sie ihr Unglück im Unschuldsgestus öffentlich ausstellt, als auch Theobalds aggressiv formulierter Anspruch auf die eigene Tochter vor dem Vehmgericht sind drastische öffentliche Maßnahmen, die auf die öffentliche Rektifizierung eines privaten Unrechts zielen. Die Sphären lassen sich bei Kleist nicht genau trennen und tragen damit zu der Unübersichtlichkeit der textlichen Moralordnung bei. Die starke Profilierung der Werteordnung im bürgerlichen Trauerspiel erfolgte eben auch als Ortung. Bereits in Lessings Texten wird deutlich, dass jenes egalisierende Werteset beim Transfer auf eine größere Wertegemeinschaft seine individualisierende und integrierende Wirkung verliert.94 Intimität und öffentliche Ordnung scheinen in einer neuen Weise verschaltet und erschweren die moralische Verortung, von der wiederum – wie die bürgerlichen Trauerspiele gezeigt haben – die klare und legitime Bestimmung des väterlichen Machtfeldes abhängt.95 Mit ihr verschwimmt auch die Evidenz des ihn legitimierenden Wertesets. Besonders deutlich wird dies im Kontext von Kleists Problematisierung des kulturellen Vaterkonzepts in ›Der Findling‹. Die Erzählung knüpft in diesem Sinne nicht nur an die entscheidende Synchronisierung von Vater und Partner an; vielmehr handelt es sich bei Nicolo um einen offensichtlichen Renegaten, der sich gegenüber den elterlichen Erziehungsbemühungen als resistent erweist; gleichzeitig ist sein einst so tugendobservanter Adoptivvater in der Lage, die bürgerlichen Werte in einem axiologischen Amoklauf nachgerade beiläufig abzustreifen: Mit beiden Figuren wird die Vorstellung von der ›Natürlichkeit‹ und ›Evidenz‹ jener bürgerlichen moralischen Grundausrichtung effektiv unterlaufen; Letztere wird zu einem primär öffentlich Postulat, das ein emotional nachhaltiges (privates) Fundament eingebüßt hat. 94

95

Der Vater der Marquise, vor eine ähnliche Problematik gestellt wie die Lessingschen Väter, reagiert mit einem dezidiert ausschließenden Gestus, der die (problematische) »Individualisierung« von Lessings Texten zu imitieren scheint (indem er sich moralisch und nicht sittlich von der Tochter enttäuscht fühlt, also die persönliche Kränkung vor der sexuellen Überschreitung akzentuiert); aus dieser Zuspitzung, die den sexuellen Fehltritt als persönliche Täuschung des Vaters markiert, folgt fast zwangsläufig die radikale Ausgrenzung der Tochter, deren Überwindung wiederum durch die öffentliche Anzeige angestoßen (und – somit doppelt vermittelt – von der Mutter weitergetrieben) wird. Auch Theobalds Anrufung eines heimlichen Gerichts dokumentiert in ähnlicher Weise eine väterliche Gratwanderung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, bei der die ursprünglich deutlich bezeichnete paternale Machtformation des Privaten notwendigerweise verloren geht.

234

VI. Majoratserzählungen

Wenn die Geburt, im Unterschied von den anderen Bestimmungen, dem Menschen unmittelbar eine Stellung gibt, so macht ihn sein Körper zu diesem bestimmten sozialen Funktionär. Sein Körper ist sein soziales Recht. […] Es ist daher bei dem Adel natürlich der Stolz auf das Blut, die Abstammung, kurz die Lebensgeschichte ihres Körpers; es ist natürlich diese zoologische Anschauungsweise, die in der Heraldik die ihr entsprechende Wissenschaft besitzt. Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie.1

In seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843/44 verbindet Karl Marx eine körperliche und eine soziale Dimension der Vererbung.2 Er deutet damit die Überlappungen an, die sich mit Blick auf die hier zugrunde liegenden Majoratserzählungen ergeben, indem sich alte Machtbewahrungsstrategien und neue biologische Vererbungskonzepte zusammenschließen. Vererbung wird dabei also, wie es bei Johann Christoph Adelung ausgeführt wird, gleich doppelt relevant: »Eines Verstorbenen Güter eigenthümlich bekommen, in welchem Sinne dieses Wort am üblichsten ist. […] Ingleichen figürlich, durch die Zeugung, mit der Geburt überkommen, von Eigenschaften und Umständen des Leibes und des Gemüthes.«3 Insofern Marx die juristische Institution des Majorats zudem als »Superlativ des Privateigenthums«4 verstanden hat, kommt zusätzlich eine 1

2

3

4

Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe. Karl Marx: Werke, Artikel, Entwürfe, März 1843 bis August 1844. Bearbeitet von Inge Taubert u. a. Abteilung I, Bd. 2. Berlin 1982, hier S. 115. François Jacob hat auf den deutlichen Bruch zwischen Zeugungs- und Vererbungsdenken um 1800 hingewiesen. Vgl. Jacob: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung. Frankfurt am Main 2002. Lemma »Erben«. In: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten. Rev. und berichtiget von Franz Xaver Schönberger. Wien 1808, Sp. 1859–1860. Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille verweisen darauf, dass noch im 1746 erschienen 47. Band von Zedlers Universal-Lexicon »vererben« lediglich den juristischen Prozess der Transmission beschreibt. Bei Adelung findet sich also eine um 1800 neue Dimension des Terminus »Erben« in einer Anwendung des »Hereditätsbegriffs auf biologische Phänomene«. Hans-Jörg Rheinberger, Staffan Müller-Wille: Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Frankfurt am Main 2009, S. 67–68. Marx, Gesamtausgabe. I, Bd. 2, S. 109.

235

neue, monetäre Dimension ins Spiel, die in den romantischen Majoratserzählungen von Hoffmann und Arnim wichtig wird; hier muss sich das »kapitalistische« Prinzip genau wie das Majoratsprinzip einer kritischen Analyse unterziehen lassen.5 Mit Blick auf die Eigentums- und Vererbungsdimension treten entscheidende neue Diskurselemente in alle hier behandelten Texte ein, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend herauskristallisieren: In Stifters ›Die Narrenburg‹ etwa spielen biologische Gesetzlichkeiten bereits eine zentrale Rolle. In diesen textlichen Veränderungen deuten sich grundlegende, dynamische und semantische Verschiebungen an, die später (etwa bei Darwin oder Marx) eine spezifische, diskursive Ausdrucksform finden. Insbesondere die ökonomische Macht wird in diesem Kontext zu einem facettenreichen konzeptuellen Problem, das allerdings nicht zwangsläufig in eigentumskritischer Richtung6 aufgelöst werden muss; das zeigen die Texte Tiecks und Stifters. Obwohl diese kapitalistisch-autoritären und genetisch-evolutiven Komponenten das Vaterbild der folgenden Jahrhunderte entscheidend geprägt haben, ist entscheidend, dass hier das Konzept des »bürgerlichen Vaters« mit seinem Fokus auf emotional generierte Herrschaft (als Inklusions- und Ermöglichungsfunktion) weiterhin deutlich dominiert, auch wenn es sich partiell an die biologischen bzw. materiellen Diskurse anschließt. Im Gegensatz zu Kleists Dekonstruktionen werden hier spezifische Vererbungsmodi mit Blick auf eine unterschwellig postulierte »natürliche« Legitimität des bürgerlichen Individualitätsprinzips destruiert; d. h. aber auch, dass bei allen hier vorliegenden Texten dieses Prinzip (entweder als in sich problematisches oder als universale Kontrastfolie zu zeitgenössischen Aberrationen) im Fadenkreuz des textlichen Diskurses steht. 5

6

In Tiecks und Stifters Erzählungen erweist sich das Geldprinzip als peripher, das Majorat wird unter anderen Kriterien relevant, durch die eine Beibehaltung des Rechtsinstituts in partiell modernisierter und umfunktionierter Form möglich wird. Indirekt wird Eigentum damit sicherlich bürgerlich motiviert und legitimiert. Horkheimer formuliert es im Kontext der Frankfurter Schule folgendermaßen: »Infolge der scheinbaren Natürlichkeit der väterlichen Macht, die aus der doppelten Wurzel seiner ökonomischen Position und seiner juristisch sekundierten physischen Stärke hervorgeht, bildet die Erziehung in der Kleinfamilie eine ausgezeichnete Schule für das spezifisch autoritäre Verhalten in dieser Gesellschaft. Auch im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wo die Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit noch nicht in einer auch dem Kind fühlbaren Weise relativiert oder von den Eltern offenkundig als sekundär betrachtet wurden, lernen die bürgerlichen Söhne und Töchter trotz alles Redens von diesen Idealen, die sie in ihr eigenes Innere aufnahmen, daß die Erfüllung aller Wünsche in Wirklichkeit von Geld und Stellung abhängen.« Max Horkheimer: Familie und Autorität. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Alfred Schmidt. Bd. 3. Frankfurt am Main 1988, S. 336–417, hier S. 397.

236

Obgleich im Folgenden mit Blick auf die Texte äußerst verschiedene Konstellationen (allerdings mit rekurrenten Parametern) in den Blick geraten,7 geht es in diesem Kapitel vor allem um eine Gemeinsamkeit: Der Vater wird in allen Texten an die Schnittstelle von Norm und Individualität gesetzt, die er dann mehr oder weniger erfolgreich ausfüllt. Hier findet sich bereits eine spezifische Absenz-Präsenz-Dichotomie, deren Bedeutsamkeit in den folgenden Jahrzehnten immer mehr zu Tage tritt.

1.

E.T.A. Hoffmanns ›Das Majorat‹

Wie Ulrike Vedder herausgearbeitet hat, handelt es sich bei E.T.A Hoffmanns ›Das Majorat‹ und Ludwig Achim von Arnims ›Die Majoratsherren‹, um eine Bestandsaufnahme der innerhalb des titelgebenden Rechtsinstituts greifenden Erbregelungen;8 Elemente dieser Analysen werden dann von Ludwig Tiecks ›Die Ahnenprobe‹ und Stifters ›Die Narrenburg‹ aufgegriffen, wobei sich diesen Texten unterschiedliche Aspekte einschreiben. Wenn es sich in Hoffmanns Erzählung um ein konkretes familiäres Dilemma handelt, bei dem das Gesetz des Primogeniturs mit dem Gebot der Gleichberechtigung und individuellen Berücksichtigung aller Kinder in Konflikt gerät, und bei Arnim die biologische Mutterschaft als individualisierter Kontrapunkt eines väterlichen Erbgesetzes thematisiert wird, so erlaubt der bürgerlich umformulierte Fideikommiss9 in Tiecks ›Die Ahnenprobe‹ schließlich den Eintritt des bürgerlichen Helden in die komplexe Erbregelung. Tiecks Text ist dabei als Brückenglied zu ›Der Narrenburg‹ besonders aufschlussreich, weil er Voraussetzungen für 7

8

9

Diese Ausdifferenzierung der vier Erzählungen erweist sich für das Folgende als ebenfalls wichtig. Nicht nur die bürgerlich transformierten Eigentumskonzeptionen, sondern auch die biologischen Prämissen stellen ja, wie angedeutet, Anknüpfungspunkte dar, die spätere Texte weiterentwickeln. Ulrike Vedder: Majorate. Erbrecht und Literatur im 19. Jahrhundert. In: Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie. Hrsg. von Sigrid Weigel, Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer. München 2005, S. 91–107. Majorat und Primogenitur bezeichnen im Folgenden die Erbfolgeordnung, die dem früher Geborenen (major natu) bevorzugt. Das Majorat benennt das Gut, dass der gleichnamigen Erbregelung zufolge vererbt wird. Fideikomiss meint auch genau das auf diese Weise vererbte unveräußerliche, unteilbare Vermögen. (Vgl. zu dieser kompakten Definition die jeweiligen Lemmata in Eugen Haberkern, Joseph Friedrich Wallach: Hilfswörterbuch für Historiker, Mittelalter und Neuzeit, 2 Bde. 2Tübingen 1987.) Vgl. zu einer präziseren Erfassung der Begriffe Peter Philipp Riedl, der die historischen Untersuchungen im Kontext von Arnims und Hoffmanns Erzählungen ausführlich auswertet: Riedl: Die Zeichen der Krise. Erbe und Eigentum in Achim von Arnims ›Die Majoratsherren‹ und E. T. A. Hoffmanns ›Das Majorat‹. In: Aurora 52 (1992), S. 17–50.

237

das mögliche Überleben der Majorate (das auch bei Stifter sondiert wird) anführt, die bürgerliche Verdienstprämissen in das Fideikommiss integrieren. Die Wiederbelebung eines anachronistischen Rechtsinstituts, das im Laufe der Französischen Revolution in Frankreich dezidiert abgeschafft wurde, muss in diesem Kontext auffallen. Mit einem Fokus auf die legalen Implikationen und konzeptuellen Widersprüche, die sich in der Abweichung vom Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz ergeben, weist schon die Einleitung eines entsprechenden in die Assemblée nationale eingebrachten Gesetzesentwurfes sehr deutlich auf die bei Hoffmann und Arnim literarisch ausgeleuchteten, fatalen familiären Konsequenzen dieser Institution hin:10 Considérant que l’origine des fidéicommis est odieuse; qu’ils sont plus funeste de tous les fléaux dans les fortunes particulières; qu’ils allument les haines et jettent la désolation dans les familles, où ils sont la source de mille procès ruineux; qu’ils servent à établir une monstrueuse inégalité des richesses; que leur conservation est incompatible avec les principes sacrés de la liberté et de l’égalité, et que la saine politique en réclame la plus active proscription, décrète qu’il y a urgence.11

Insofern Majorate eine patrilineare Genealogie stark machen, symbolisieren sie in besonderer Weise das Ancien Régime und die dort vorherrschende Vaterordnung.12 Was um 1800 in Frankreich konzeptuell als un10 11

12

Dieser Entwurf stammt aus dem August des Jahres 1792, im November wurden dann alle Fideikommisse mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Arch. Parl. 1 Serie, t. 49, S. 55. Vgl. Jens Beckert: Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt am Main 2004, S. 148. Vgl. dazu auch den verbindlichen Justiziar in Hoffmanns Erzählung, der das Fragwürdige der Stiftung konstatiert: »V. bemühte sich, dem Unzufriedenen darzutun, daß der Freiherr doch in der Tat alles tue, ihn, durch die Abtretung des freien Vermögens, so viel als möglich, zu entschädigen, und daß er über ihn sich durchaus nicht zu beklagen habe, wenn er gleich bekennen müsse, daß jede Stiftung, die den Erstgeborenen so vorwiegend begünstige, und die andern Kinder in den Hintergrund stelle, etwas Gehässiges habe.« E.T.A. Hoffmann: Das Majorat. In: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Bd. 3. Frankfurt am Main 1985, S. 259. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als M mit der entsprechenden Seitenzahl. Das »Gehässige der Stiftung«, das V. hier diagnostiziert, generiert Hass; folgerichtig bemerkt der frisch eingesetzte Majoratsherr Wolfgang vor seiner Ermordung, dass ihn der Bruder, seit die Stiftung des Majorats bekannt worden sei, mit Haß verfolgt habe (vgl. M 257). Hunt, Family Romance, S. 40. Vgl. auch Sara Paulson Eigen: A Mother’s Love, a Father’s Line. Law, Medicine and the 18th-Century Fictions of Patrilineal Genealogy. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Kilian Heck, Bernhard Jahn. Tübingen 2000, S. 87–107, hier S. 87: »The position of an individual within the genealogical line functioned as that person’s regulative identity«.

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rettbar galt,13 nämlich die Bewahrung der problematischen juristischen Bevorzugung14 eines Erben, wird in ›Die Ahnenprobe‹ und in ›Die Narrenburg‹ modifiziert, aber im Grunde erhalten. Die allgemein im Zeitalter der Individualisierung und der zunehmend (bürgerlich) propagierten kleinfamiliären Werte empfundene Ungerechtigkeit wird dabei narrativ entschärft durch den fehlenden familiären Zwist (der etwa noch in Schillers ›Die Räuber‹, aber auch in Hoffmanns ›Das Majorat‹ und Arnims ›Die Majoratsherren‹ für Unfrieden sorgt) und durch den expliziten Rekurs auf Moralkonzepte, die den rigiden Erbregelungen zusätzlich eingeschrieben werden. Der Impetus richtet sich nicht mehr gegen die unzeitgemäßen Institutionen (die sowohl in Deutschland als auch in Österreich ununterbrochen bis ins 20. Jahrhundert hinein bestanden),15 sondern es wird vielmehr versucht, das Prinzip des Primogeniturs unter veränderten Voraussetzungen zukunftstauglich zu machen. Die wichtigste Bedingung dafür ist offensichtlich die Vermeidung des direkten (Hoffmann) oder mittelbaren (Arnim) (Zieh-)Vater-Sohn-Konflikts, der sich bei Tieck zu einem wohltemperierten und lösbaren Vater-Schwiegersohn-Konflikt verschiebt und bei Stifter gänzlich entfällt. In allen vier Fällen ist die Geschichte um das Primogenitur an eine Liebesgeschichte geknüpft, die die bestehende Rechtsinstitution bestätigt und eben auch fortsetzt (durch Heirat, Erben etc.), wenn die Stiftung die individuelle Liebe zulässt; die Unterdrückung der romantischen Liebe16 führt dabei letztlich zu einer unvermeidlichen Selbst-Zerstörung der jeweiligen Majorate. 13

14

15

16

Vgl. zur Geschichte in Deutschland auch Beckert, Unverdientes Vermögen, S. 159–186. Erst 1919 wurde die Auflösung der Fideikommisse in Deutschland festgeschrieben, der tatsächliche Abbau kam erst nach 1945 zum Abschluss. Vgl. dazu das »Lemma« Majorat in Adelungs Wörterbuch: »Das Recht des Ältesten in einer Familie, ohne Plural; besonders dasjenige Recht, vermöge dessen alle oder doch die vornehmsten Güter mit ihren Hoheiten dem nächsten ältesten Erben übertragen werden, wohin in weiterer Bedeutung auch das Recht der Erstgeburt gehöret, wenn die ganze Erbschaft auf den Erstgeborenen und dessen Erben, dann erst auf den zweyten Erben u. s. f. kommt.« Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 3. Leipzig 1793, Sp. 37. Vgl. dazu knapp Beckert, Unverdientes Vermögen, S. 159–186. Vgl. insgesamt zur Geschichte des Majorats in Deutschland Jörn Eckert: Der Kampf um die FamilienFideikommisse in Deutschland. Studien zum Absterben eines Rechtsinstitutes. Frankfurt am Main 1992. (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 104). Zu Österreich Hans Stekl: Adel und Bürgertum in der Habsburgermonarchie. 18. bis 20. Jahrhundert. München 2004, S. 130. Bei dieser Unterdrückung mag es sich um eine den Umständen geschuldete Folge wie bei Arnim handeln, in dessen Erzählung die vertauschten Kinder in ein sozial-inzestuöses Verhältnis katapultiert werden, oder um ein direktes Verbot des Vaters wie bei Hoffmann.

239

Zwei Aspekte sind in diesem Kontext von Belang: Zum einen wird die Majoratsstiftung in den Erzählungen Hoffmanns und Arnims als ein willkürlicher, juristischer Abstraktionsprozess attackiert, der die individuellen Vater-Sohn-Beziehungen durch ein als ›unnatürlich‹ eingeführtes Herrschaftskonzept ersetzt. Zum zweiten werden in beiden Erzählungen alternative intime Bindungen angeführt, die der entfremdeten Vater-SohnBeziehung entgegenstehen; besonders in Hoffmanns ›Das Majorat‹ wird dabei die Krise an die Forderung des Sohnes geknüpft, seine Ehefrau frei wählen zu dürfen. Der Vater-Sohn-Konflikt verdichtet sich hier im Zeichen der romantischen Liebe, wobei paternale Machtassertion und filiale Individualität irreversibel auseinander treten. In der dabei vollzogenen indirekten Priorisierung der romantischen Liebe (als dem entscheidenden und letztlich vorrangigen identitätsverbürgenden Integrationsmechanismus) finden sich deutliche Anknüpfungspunkte an Kleists Umgewichtung von Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie. In Hoffmanns narratologisch komplizierter Bestandsaufnahme werden in der ersten Generation ganz explizit zwei Vatermodelle aufgerufen. Der Majoratsbegründer verkörpert realiter einen machtbewussten Patriarchen, der über das Wohlergehen des »Geschlechts« wacht.17 Gegen dieses paternale Selbstverständnis führt der Sohn als Postulat ein emotionalindividualisierendes Vatermodell an. Insgesamt kreist ›Das Majorat‹ um den Zustand verschiedener disfunktionaler Familienbeziehungen, die als epigenetische Effekte aus dem brachial etablierten Herrschaftsanspruch des Vaters abgeleitet werden.18 17

18

Im Folgenden wird zwischen abstraktem Geschlecht und konketer Familie unterschieden, vgl. das Lemma »Geschlecht« bei Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch Bd. 2, Sp. 610: »Die Gleichheit des Herkommens, so wohl im Abstract, als auch die von einem gemeinschaftlichen Stammvater entsprossenen Personen selbst, als ein Ganzes betrachtet, in Concreto; eine Familie. Das menschliche Geschlecht, alle Menschen, so fern sie von Adam, ihrem gemeinschaftlichen Stammvater, abstammen. Ein gräfliches, ein adeliges, ein bürgerliches Geschlecht. Eigentlich gehören zu einem Geschlecht nur diejenigen Personen, welche erweislich von einem gemeinschaftlichen Stammvater entsprungen sind, ob man gleich auch zuweilen die Verwandten weiblicher Seite mit dahin zu rechnen pfleget.« Erst das letzte Drittel des Textes beschäftigt sich mit der Vorgeschichte des Majorats, dessen Stiftung bereits auf einer verfehlten Wahrnehmung der paternalen Rolle beruht: Es ist der Wunsch des Vaters, »für die Zukunft wenigstens das Haupt der Familie an das Stammhaus zu fesseln« und deswegen »bestimmte er es zu einem Majoratsbesitztum« (M 200). Die Wahl des Verbums »fesseln« impliziert bereits einen Entschluss, der gegen die Entscheidungsfreiheit des zukünftigen Majoratsherren gerichtet ist, denn in der Tat »mochte [Roderichs Sohn, Hubert] indessen [nicht] in dem Stammschlosse hausen« (M 200). Die rechtliche Perpetuierung des Stammsitzes kommt einer Perpetuierung der

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Die Majoratsstiftung ist in diesem Kontext besonders aussagekräftig, weil sie (zugunsten einer die zukünftigen Geschicke der Familie bedingenden Setzung) die individuelle Handlungsfähigkeit einschränkt. Roderich selbst ist unter keinen Umständen mehr »ermächtigt«, »dem ältesten Sohn die Rechte der Erstgeburt zu entreißen« (M 279). Die Majoratsstiftung erscheint in diesem Sinne in zweierlei Hinsicht von zentraler Bedeutung: Zum einen ist sie an eine konzeptuelle Vorstellung des »Hauses« gekoppelt, dessen Erhaltung es im Sinne einer anachronistischen Machtpolitik19 zu sichern gilt; zum anderen führt diese Abstraktion zu einer Nachordnung, ja vollständigen Deklassierung der individuellen Familienbande. Selbstermächtigte Planung siegt über emotionale Nähe, der Fortbestand des Hauses wird zu einer öffentlichen Machtfrage, die gezielt private Modalitäten absorbiert. Der Verlust der paternalen Nähe und die Transformation des Vaters in eine repräsentative öffentliche Person, die allein von strategischen Interessen geleitet agiert, wird in der epilogartigen Enthüllung über die Geschichte des Majorats andeutungsweise als Entfremdung nachvollzogen. Bereits der Tod des Majoratsstifters führt verschiedene Stränge der Erzählung zusammen. Insofern er von seinem astrologischen Turm erschlagen wird, in dem er die Zukunft der Familie zu berechnen suchte, ist dies einerseits als konsequente Absage an seine Kontrollphantasien zu lesen; zugleich aber hat er in einer paradoxen Verdopplung seinen eigenen Untergang so präzise vorhergesehen, dass er seinen Söhnen in einem Brief genaue Auskunft darüber geben kann. Insgesamt wird damit zum anderen eine zweite Deutungsebene eingezogen, die Kontingenzbewältigung zwar außerhalb menschlicher Reichweite ansiedelt, zugleich aber noch eine auf transzendenter Ebene zugängliche Sinnhaftigkeit andeutet. Der Verfall des Majorats wird in diesem Sinne inhärent aus der unzeitgemäßen Form der Einrichtung abgeleitet.20

19

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eigenen Macht gleich, die der Majoratsbegründer auch über seinen Tod hinweg zu begründen versucht. Seine geradezu pathologische Obsession mit okkulten Phänomenen und Astrologie scheint mit diesem Wahn, die eigenen Geschicke bis ins Letzte kontrollieren und steuern zu können, auf das Engste verknüpft. Diese paranormale Sphäre gehört zu der Geistergeschichte, die in ›Das Majorat‹ erzählt wird und mit der der Niedergang des Majorats nach der spezifischen Logik dieses Erzählgenres plausibilisiert und durch transzendente Kriterien legitimiert wird. Vgl. dazu Rheinberger, Müller-Wille, Vererbung, S. 69–77. Grundsätzlich zur Entstehung und ursprünglichen Funktion vgl. Jack Goody: The Development of the Family and Marriage in Europe. Cambridge 1983. Diese Konzession jedoch resultiert in einer noch vehementeren Modernitätskritik: Das neue, restaurativ befriedete Zeitalter hat dem Verfall der alten Institution nichts entgegenzusetzen.

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Die Erzählung verfährt schonungslos mit allen Vertretern des Majorats, die – so zeigt das Schicksal des letzten Majoratsherren – ihr Amt nicht mit ihrem Privatleben in Einklang bringen können. Die Majoratsherren nehmen bezeichnenderweise allesamt ein »rauhe[s], wilde[s] Wesen« (M 202) an, das auch »der alte Herr gehabt und das sich auf die ganze Familie zu vererben schiene, da selbst der jetzige Majoratsherr, den er als sanftmütigen, beinahe weichlichen Jüngling gekannt von Jahr zu Jahr mehr davon ergriffen werde.« (M 202) Es gelingt den unterschiedlichen Majoratsherren nicht, der Stiftung ein individuelles Gepräge zu verleihen; vielmehr scheint ihre Persönlichkeit nach der Inbesitznahme ihres Erbes von einem brutalen Machtverhalten kompromittiert. Die entfremdende Wirkung des Rechtsinstituts wird in dieser vereinheitlichenden Veränderung klar erkennbar, mit der das Individuelle dem Rollenhaften gespenstisch weicht. Insbesondere die Aufbahrungsszene, in der Wolfgang, der designierte Erbe, mit dem verstorbenen Majoratsherren konfrontiert wird, inszeniert die Spaltung zwischen Individuum und Rolle; die festliche Prothesis entspricht hier einer repräsentativen Zurschaustellung der Funktion des Majoratsstifters: »Der Hausverwalter hatte den großen Saal schwarz ausschlagen, und den alten Freiherrn in den Kleidern, wie man ihn gefunden, auf ein prächtiges Paradebette, das hohe silberne Leuchter mit brennenden Kerzen umgaben, legen lassen.« (M 248) Diese öffentliche Ausstellung verweist auf die Tatsache, dass innerhalb der Majorats eine spezifische Macht weitervererbt wird. Hinter den Machtinsignien wird in dieser Szene nichtsdestoweniger auch der individuelle Vater als sterblicher Körper (»Leiche«) erkennbar, auf dessen physische Präsenz diese kurze, aber zentrale Passage auffällig deutlich Bezug nimmt: Schweigend schritt Wolfgang die Treppe herauf, in den Saal hinein, und dicht hinan an die Leiche des Vaters. Da blieb er mit über die Brust verschränkten Armen stehen, und schaute starr und düster, mit zusammengezogenen Augenbrauen, dem Vater ins bleiche Antlitz. Er glich einer Bildsäule, keine Träne kam in seine Augen. Endlich, mit einer beinahe krampfhaften Bewegung, den rechten Arm hin nach der Leiche zuckend, murmelte er dumpf: »Zwangen dich die Gestirne, den Sohn, den du liebtest, elend zu machen?« (M 248; Hervorhebungen von C.N.)

Die bezeichnende Synchronizität, in der sowohl paternale Funktion als auch die Person verbunden sind, sorgt für eine entsprechend ambivalente Reaktion des Sohnes auf das sich darbietende Spektakel. Denn im Kon242

trast zwischen der repräsentativen Inszenierung und der mehrfach erwähnten Körperlichkeit wird ein Element besonders gut erkennbar: die väterliche Macht. Die plötzlich evidente Dualität erinnert an Ernst H. Kantorowicz’ Zugriff auf die Situation in England, wo die mittelalterliche Zwei-KörperLehre eine besondere Form annahm, weil es hier galt, die Rolle des Parlaments und seine Partizipationsrechte mit einzubinden. Im Vorfeld der Revolution, die schließlich 1649 in der Hinrichtung des Königs kulminiert, setzt sich damit eine zunehmende Abstraktion des body politics durch (unter Absehung der realen Verkörperung im body natural): Ohne diese spezifische Differenzierung »wäre es für das Parlament kaum möglich gewesen, […] im Namen und mit der Autorität von Charles I., dem politischen König, die Armee einzuberufen, die eben diesen Charles I., den natürlichen König bekämpfen sollte«.21 Diese Abstrahierungsbewegung bildet auch bei Hoffmann eine ähnlich unabdingbare, nur eben invertierte Voraussetzung für den Ungehorsam des Sohnes. Die Ablösung einer spezifischen Macht-Funktion (nicht als Verkörperung, wie es bei Kantorowicz geschieht) wird hier ebenfalls unter Abspaltung des natürlichen Körpers vollzogen. Kantorowicz verweist in seinen Überlegungen22 zu den zwei Körpern des Königs auf zwei Rituale, »das Ritual der Kirche, das, vom Klerus wahrgenommen, der Erbärmlichkeit eines armen nackten oder halbnackten Mannes im Sarge galt […], und das Staatsritual, das im Abbild die unsterbliche königliche Dignität auf dem Sarg feierte […].«23 Im Text wird die paternale Doppelpräsenz zwar weder figural noch räumlich24 ausdifferenziert: In der repräsentativen Aufbahrung der Körpers und der Fragilität der »bleichen« Leiche jedoch findet sich ebenso 21 22

23 24

Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 21. Die einflussreichen Überlegungen in ›Die zwei Körper des Königs‹ von Ernst Kantorowicz wurden zwar seit dem Erscheinen des Buches immer wieder historisch präzisiert und müssen in der beanspruchten Faktizität als problematisch gelten, wenn nicht partiell als falsifizierbar; die von ihm unterstellte Dualität (die neuerdings zu einer Theorie von einem dreifachen (politischen, natürlichen und heiligen) Körper ausgebaut wurde, vgl. dazu Kristin Marek: Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit. München 2009) allerdings trägt zur Differenzierung des hier vorliegenden Textes bei. Hilfreich sind hier auch die Überlegungen zu Effigien bei Agamben, der – ähnlich wie Marek – eine, allerdings unchristliche, Heiligkeit in den Herrschaftskörpern aufspürt. Marek fügt den heiligen Körper zu dem body natural und body politic hinzu. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 420. Später wird dann der Sarg mit der Leiche zudem aus dem öffentlichen Raum entfernt, während in der Halle »eine lebensgroße Figur [effigy] des Königs« (Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 420) aufgebahrt wurde, was die Dualität des sterblichen und des unvergänglichen Anteils und ihre jeweils spatial spezifizierte Relevanz noch deutlicher macht.

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eine simultane Referenz auf den nunmehr toten, individuellen Vater (der den »Sohn« »liebte« und den der Sohn nun »mit gesenkter, beinahe weicher Stimme« immerhin noch semi-empathisch als »arme[n], betörte[n] Greis« anspricht) und auf den unnachgiebigen Majoratsherren. Giorgio Agamben hat das Surplus, das sich an die zwei »Leiber« des Königs knüpft, als nacktes, heiliges Leben (der Souveränität) gefasst und dabei (in einem analytischen Anachronismus) auf die zusätzliche, zeremonielle Bestattung von Effigien verwiesen.25 Auch hier folgt dem natürlichen Tod des Individuums ein eigentümlich demonstratives Ritual, das einen (hier: Macht-) Überschuss zu vernichten scheint: Die Hände zurückgeworfen, einen kleinen Schritt hinter sich getreten, warf nun der Baron den Blick in die Höhe, und sprach mit gesenkter, beinahe weicher Stimme: »Armer, betörter Greis! – Das Fastnachtsspiel mit seinen läppischen Täuschungen ist nun vorüber! – Nun magst du erkennen, daß das kärglich zugemessene Besitztum hienieden nichts gemein hat mit dem Jenseits über den Sternen – Welcher Wille, welche Kraft reicht hinaus über das Grab?« – Wieder schwieg der Baron einige Sekunden – dann rief er heftig: »Nein, nicht ein Quentlein meines Erdenglücks, das du zu vernichten trachtetest, soll mir dein Starrsinn rauben«, und damit riß er ein zusammengelegtes Papier aus der Tasche, und hielt es zwischen zwei Fingern hoch empor an eine dicht bei der Leiche stehende brennende Kerze. Das Papier, von der Kerze ergriffen, flackerte hoch auf, und als der Widerschein der Flamme auf dem Gesicht des Leichnams hin und her zuckte und spielte, war es, als rührten sich die Muskeln und der Alte spräche tonlose Worte, so daß der entfernt stehenden Dienerschaft tiefes Grauen und Entsetzen ankam. Der Baron vollendete sein Geschäft mit Ruhe, indem er das letzte Stückchen Papier, das er flammend zu Boden fallen lassen, mit dem Fuße sorglich austrat. Dann warf er noch einen düstern Blick auf den Vater und eilte mit schnellen Schritten zum Saal hinaus. (M 249)

Mit dem Stück Papier wird hier symbolisch die Verfügungsgewalt des Majoratsstifters verbrannt, ein Faktum, auf das der Sohn explizit verweist. Die gesetzlich perpetuierte Macht, auf der das Majoratskonzept juristisch 25

In einem häufig kritisierten Kapitel greift Agamben auf römische Begräbnisrituale zurück, aus denen er einen Überschuss an heiligem Leben ableitet, der bei dem Tod des Kaisers freigesetzt wird: »Allem Anschein nach hat also der Kaiser nicht zwei Körper in sich, sondern zwei Leben in einem einzigen Körper, ein natürliches Leben und ein heiliges Leben.« (HS 110) Homo sacer und Souverän verschmelzen zu einem Paradigma aufgrund dieser Entkontextualisierung des »heiligen Lebens«. Hier geht es allerdings weniger um Agambens Konzeption vom heiligen Leben als vielmehr um die analoge Zweiteilung, die den beiden Körpern auch unterschiedliche Gefühlssphären zuordnet, die als ebenso dual wahrgenommen werden wie der reale und der symbolische Körper: Extrahiert und gebannt wird dabei die Essenz der Herrschaft, die nicht väterlich vermittelt wurde.

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basiert, wird zurückgewiesen; sie hat die Liebe des Sohnes zum Verstorbenen unumkehrbar korrumpiert. Die dem Schattenspiel geschuldete stumme Reaktion des Toten auf die Verbrennung kann der Baron dementsprechend »mit Ruhe« ignorieren. Erst auf der Basis der Segregation wird die Weitergabe (oder hier eigentlich auch: Usurpation) der Macht denkbar, indem der problematische Faktor der menschlichen Seite des Vaters subtrahiert wird. Indirekt beleuchtet dies auch Quelle und Legitimation paternaler Macht: Denn hintergangen wird hier nicht der Vater, sondern der Majoratsherr. In diesem Sinne ist der Streitanlass topisch. Die Auseinandersetzung eskaliert angesichts einer »romantischen« Liebesgeschichte. Wolfgang verliebt sich in Genf in Julie St. Val – die Reminiszenz an Julie, die »neue Héloïse«, und den in Genf geborenen Rousseau scheint in der Namenswahl evident. Die heimliche Liebesheirat muss gegen den Willen des Vaters erfolgen, der auch und gerade in diesem Fortpflanzungskontext primär in genealogischen Größen denkt. Die Fortsetzung des »Hauses« mit einer Kaufmannstochter kollidiert mit seinem freiherrlichen Selbstverständnis und seinem im Majorat kondensierten Zukunftskonzept: Denn nur die Verbindung mit einer der ältesten Familien des Vaterlandes [konnte] nach dem Sinn des alten Roderich den Glanz des Majorats auf ewige Zeiten begründen […]. Der Alte hatte diese Verbindung in den Gestirnen gelesen, und jedes freveliche Zerstören der Konstellation konnte nur Verderben bringen über die Stiftung. (M 279)

In dieser Vorrangstellung der Majoratszwecke vor den persönlichen emotionalen Beziehungen gewinnt die entindividualisierende Tendenz der Majoratsstiftung Gestalt. Der in seiner Macht reinkarnierte, rollenbewusste Majoratsherr muss das Konzept ›Ehe‹ primär im Kontext eines Allianzdispositivs26 begreifen – auf diese Weise lebt das herrschaftliche Kontinuitätsprinzip weiter, auch wenn die Individuen sterben. Roderich stellt sich in diesem Sinne der Liebesverbindung mit der Vehemenz entgegen, die ihm geboten scheint, indem er das hier als »dämonisch«27 ver26 27

Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 128. Ähnlich wie das Gottesgnadentum wird die Majoratsmacht legitimiert durch eine Potenz, auf die im Text als »Macht« Bezug genommen wird; diese »Macht« ist so selbstverständlich mit dem Majorat und seinem Fortbestand verbunden, dass alles sich diesem Prinzip Widersetzende als »dämonisch« bekämpft wird: »Wolfgangs Verbindung mit Julien erschien in dieser Art dem Alten ein verbrecherisches Attentat, wider Beschlüsse der Macht gerichtet, die ihm beigestanden im irdischen Beginnen, und jeder Anschlag, Julien, die wie ein dämonisches Prinzip sich ihm entgegengeworfen, zu verderben, gerechtfertigt.« (M 279)

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standene, auf Liebe basierende Ehebündnis negiert. Die Beziehung ist angesichts der dynastischen Axiologie des Vaters: »in dem Briefe, der dem Sohn befahl, am bestimmten Tage nach R..sitten zu kommen, um das Majorat anzutreten, fluchte er ihm, wenn er nicht jene Verbindung zerreißen werde. Diesen Brief verbrannte Wolfgang bei der Leiche des Vaters.« (M 280) Dem väterlichen Befehl ist Folge zu leisten, der romantisch liebende Sohn erweist sich als inkommensurabel und wird aus dem Majoratssystem eliminiert. Mit der Verbrennung des Briefes jedoch weist Wolfgang symbolisch genau diese Unterwerfung unter das Herrschaftsprinzip zurück. Paradoxerweise geht die Verweigerung einher mit einer eigentümlich nicht-reflektierten, automatischen Adaption dieses Machtanspruchs, eine Transformation, die sich ad hoc mit dem Majoratsantritt vollzieht.28 Der paternale Machtüberschuss wird eben nur symbolisch in einer spezifischen Ausprägung (dem Heiratsverbot) vernichtet, letztlich aber internalisiert und perpetuiert. Das Machtsystem und seine Rollenvergaben erweisen sich als absorptiv. In diesem Sinne ist auch die Rivalität der Brüder zu interpretieren, zwischen denen die Majoratsstiftung Unfrieden stiftet. Die Konstellation der feindlichen Brüder gründet sich hier zudem auf einer amourösen Konkurrenz, die jene oben beschriebenen Entfremdungsvorgänge noch deutlicher erkennbar werden lässt. Explizit nimmt ›Das Majorat‹ Bezug auf eine Episode in Schillers ›Der Geisterseher‹, in welcher der benachteiligte jüngere der beiden Erben seinen älteren Bruder umbringt, nicht nur um dessen Vermögen zu erben, sondern auch dessen schöne Braut zu heiraten.29 Den eifersüchtigen, nachgeborenen Brüdern geht es in beiden 28

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War der alte Majoratsherr besessen von der möglichen Steuerbarkeit irdischer Geschicke, so entwickelt der neue Majoratsherr Wolfgang eine Faszination für eine andere, moderne Machtinsignie: Gold. Ebenso wie seinem Vater wird ihm dieses Verlangen zum Verhängnis. Seine Ermordung erscheint, wie bei seinem Vater, als Folge seiner Goldobsession. Und genau wie die väterliche Besessenheit mit den Sternen, aus denen der Vater verbindliche Handlungsanweisungen abzuleiten glaubte, mit der historisch neuen Überzeugung, dass Menschen Geschichte gestalten können (die vom Text dezidiert zurückgewiesen wird) korrespondiert, steht der Goldhunger für eine buchstäblich neue Währung im sozialen Gefüge: Geld. Die damit einhergehende Kritik der modernen Umbruchszeit geht Hand in Hand mit dem Spukphänomen im Majorat und dessen Niedergang; indirekt allerdings verweist sie wiederum auf die bürgerliche Kernfamilie als natürliches Antidot zu den beschriebenen entfremdenden Tendenzen in der Majoratsfamilie. ›Das Majorat‹ evoziert über die Namensgebung des Dieners Daniel zudem eine weniger offensichtliche Intertextualität mit Schillers ›Die Räuber‹, denen als initialer Kernkonflikt die Eifersucht von Franz auf den privilegierten Karl zugrunde liegt. Mit seiner Intrige gegen seinen Bruder hofft Franz dementsprechend ebenfalls, Vermögen, Liebe des Vaters und Amalia, Karls Braut, zu erringen.

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Fällen um einen doppelten Einsatz; steht der Neid auf das Recht des Erstgeborenen zunächst im Vordergrund, geht damit doch offensichtlich auch Eifersucht bzw. die Liebe zur brüderlichen Braut einher. Diese Verkennung der emotionalen Befindlichkeiten, die unterstellt, man könne die für eine Person empfundene Liebe auf eine andere übertragen, so wie man das Majorat im Todesfall weitervererbt, gründet sich – bei allem modernen Begehren, das Hubert empfinden mag30 – auf ein menschlich depraviertes, quasi dynastisches Allianz-Verständnis. Dieser Anachronismus scheint als Wahrnehmungsdeformation in Analogie zum Selbstverständnis des Majorats generiert worden zu sein, was bedingt ebenfalls für den neuen Majoratsherren gilt.31 Die paternale Priorisierung von Machtstrukturen korrumpiert in der Folge zwangsläufig alle Familienbeziehungen (ähnlich wie in Schillers ›Don Karlos‹) und macht nicht nur alle Beteiligten nachhaltig unglücklich,32 sondern führt auch, genau aus dieser spezifischen individuellen, emotionalen Isolation heraus, zum finalen Zerfall der scheinbar soliden Machtbastion. Das Majorat erlischt, nachdem der letzte Majoratsherr an gebrochenem Herzen gestorben ist. ›Das Majorat‹ erscheint nicht zuletzt mit Blick auf diese Gefühlsdepravation als Anachronismus. Der alte Majoratsherr scheitert mit seinen Plä30

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»Hubert kannte des Bruders an Wahnsinn streifende Liebe zu Julien, ihr Verlust mußte ihn elend machen, vielleicht töten, und um so lieber wurde er tätiger Helfershelfer bei den Plänen des Alten, als er selbst sträfliche Neigung zu Julien gefaßt und sie für sich zu gewinnen hoffte. Eine besondere Schickung des Himmels wollt’ es, daß die giftigsten Anschläge an Wolfgangs Entschlossenheit scheiterten, ja daß es ihm gelang, den Bruder zu täuschen. Für Hubert blieb Wolfgangs wirklich vollzogene Ehe, so wie die Geburt eines Sohnes ein Geheimnis. […] An Hubert schrieb der Alte, daß Wolfgang Julien geheiratet habe, er werde aber diese Verbindung zerreißen. Hubert hielt dies für die Einbildung des träumerischen Vaters, erschrak aber nicht wenig, als Wolfgang in R..sitten selbst mit vieler Freimütigkeit die Ahnung des Alten […] bestätigte«. (M 279–280) Die Identität des Majoratsherren scheint insbesondere in der Sphäre des Stammschlosses gefährdet, wenn er in eine emotionale Abwehrposition verfällt. In dieser partiell aufscheinenden Unverbundenheit scheint die Macht des Vaters auf. Trotz seiner Liebe zu seiner Frau und seiner Entschlossenheit, sie vor jedem Übel zu bewahren, kann er sie nicht vor dem schützen, was ihm als äußeres und inneres Erbteil mitgegeben ist. Ihre Verwirrung, ihre Reizbarkeit, ihre intuitive Furcht vor dem Verhängnis kulminieren notwendigerweise in ihrem Unfalltod, offensichtlich herbeigeführt durch das Gespenst Daniel – damit ist das Majorat de facto ausgelöscht, insofern Roderich allen Lebenswillen verliert; »seine Ruhe ist die eines Sterbenden« (M 283). Dieser indirekt mit dem Majorats-Gespenst verbundene Tod des letzten Majoratsherren emotionalisiert die Vorgänge retrospektiv, indem das letztendliche Scheitern des Majorats auf dem Gefühlsvakuum begründet ist, das jetzt mit dem Tod der Geliebten irreversibel Oberhand gewinnt. »Ich habe meines Bruders Tod gewünscht, weil der Vater ihm den besten Teil des Erbes zugewandt durch eine törigte Stiftung – jetzt hat er seinen Tod gefunden auf schreckliche Weise – ich bin Majoratsherr, aber mein Herz ist zermalmt, ich kann, ich werde niemals glücklich sein.« M 262.

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nen, weil er angesichts dieser Vorentscheidung seine Flexibilität als Vater aufgibt und seine väterliche Rollendualität mit Blick auf seine öffentliche Funktion verengt. Die paternale Legitimität liegt damit deutlich in der Familie begründet und kann nicht per se rechtlich vorausgesetzt und postuliert werden.

2.

Ludwig Achim von Arnims ›Die Majoratsherren‹

In Arnims ›Die Majoratsherren‹ ist die Herrschaft des Majorats nun zu einem abstrakten Gesetz geworden, das lediglich Absurditäten generiert.33 Auch Arnims ›Die Majoratsherren‹ ranken sich unter anderem um eine scheiternde Liebesgeschichte, die sich zwischen zwei nach der Geburt vertauschten Kindern entspinnt. Der junge Majoratsherr, eigentlich der Sohn einer eigentümlich überalterten, fratzenhaften Hofdame, wurde als Säugling gegen Esther ausgetauscht, die aufgrund der (für das Majorat entscheidenden) männlichen Erbfolge keinen Anspruch auf das Erbe gehabt hätte. Sie wird an einen jüdischen Pferdehändler abgegeben und der illegitime Sohn der Hofdame kann als angeblicher Erbe fürs Erste die agnatische Kontinuität des Majorats garantieren. Während in Hoffmanns ›Das Majorat‹ der Vater noch direkt mit seinen Söhnen interagiert, taucht Arnims Majoratsherr nicht mehr als handelnde Person auf, sondern präformiert die Handlung lediglich indirekt mit der dem Narrativ vorgängigen, fragwürdigen Entscheidung, die beiden Kinder zu vertauschen.34 Mit Blick auf seine Nachfolge setzt Arnims alter 33

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»Überhaupt schien das Majorat wenig Segen zu bringen, denn die reichen Besitzer waren selten ihres Reichtums froh geworden, während die Nichtbesitzer mit Neid zu ihnen aufblickten.« Achim von Arnim: Die Majoratsherren. In: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Renate Moering. Frankfurt am Main 1992 Moering. Bd. 4. Frankfurt am Main 1992, S. 108. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als MH mit der entsprechenden Seitenzahl. Gleich eingangs berichtet der junge Majoratsherr von seiner Ankunft in der Stadt, bei der er seinem Vater als einer Art Geistererscheinung begegnet: »Als ich mit schwellendem Gefühl, was mir in der Stadt bevorstehe, in welcher der Kreis meines Lebens angefangen, die große Straße herabfuhr, da begegneten mir ausgemergelte Leute, die sich kaum zu den Kaffeehäusern hinbewegen konnten, denn sie wurden fast gewaltsam an den Röcken von unglücklichen Seelen zurückgezogen, die wegen ungeendigter Prozesse nicht zur Ruhe kommen konnten und jammervolle Vorstellungen ihnen nachtrugen. Auch meinen Vater sah ich dabei wegen des einen Konkurs-Prozesses, dessen Ende wohl keiner erleben wird. Schaffen Sie Ruhe seiner Seele, lieber Vetter, ich bin zu schwach. – Wahrhaftig, rief der Vetter, zu dem Tore gehen Sonntags die Räte, Schreiber und Calkulatoren des großen Gerichts gewöhnlich mit ihren Frauen und Kindern zum Kaffeegarten hinaus. – Der Postillon meinte auch, das wären Kinder, die sich ihnen an die Röcke gehangen, fuhr

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Majoratsherr auf eine Herrschaftstaktik, die, obwohl sie vom Prinzip der Blutslinie abweicht, Macht stabilisieren soll. Johann Heinrich Zedlers ›Universallexicon‹ zufolge handelt es sich beim Majorat bzw. beim Majorats-Recht um das »Vorzugs-Recht, welches der älteste eines Geschlechtes hat, und darinnen bestehet, daß er gantz allein die Stamm-Güther besitzet […]. Es ist daßelbe mit dem Recht der Erst-Geburt […] fast in gantz Europa eingeführet, um die Geschlechter bey gutem Vermögen, Wohlstand und Autorität zu erhalten.«35 Zedlers ›Universallexicon‹ weist zudem darauf hin, dass Majorate zunächst nur unter »den grossen Fürsten und Potentaten gebräuchlich« gewesen seien, dann aber auch von vielen »reiche[n] und ansehnliche[n] Familien« eingerichtet wurden. Neben anderen potentiellen Nachteilen betont Zedler in diesem Sinne auch, dass die »starcken Obligationen« es unmöglich machten, das Testament so auszustellen, wie »er gerne wolte […] sonderlich wenn er keine Söhne, sondern nur Töchter hat«.36 Das Vertauschen der Kinder, das, wie Vashti weiß, »allein« der alte Majoratsherr ausführte (MH 132), scheint somit ein Verhaltensanachronismus, der in seinen unterschwelligen Motivationen und Intentionen nur als abstrus zu bezeichnen ist. Der alte Majoratsherr lehnt auf der einen Seite die mit dem Majorat einhergehenden Restriktionen ebenso substantiell ab, wie er sie formal einhält (mit einem eingetauschten Nachfolger). Hauptfunktion des Majorats ist die Unteilbarkeit des Besitzes und der damit verbundene Macht- und Autoritätserhalt des »Geschlechts«, wie Zedler es formuliert. Und tatsächlich betrifft die Handlung des alten Majorats-

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der Majoratsherr fort, aber solche jammervolle Gesichter haben Kinder nicht, das sind die Plagegeister, die sie wegen ihrer Nachlässigkeit umgeben. Lieber Vetter! befriedigen Sie meines Vaters, Ihres Oheims, arme Seele.« (MH 115) Die Tatsache, dass der alte Majoratsherr – angesichts der materiellen Sicherheit des Majorats offensichtlich als Gläubiger und nicht als Schuldner – aufgrund eines ausbleibenden Betrags in Folge eines Konkurs-Prozesses keine Ruhe findet, ist bezeichnend. Dieser Fokus auf ein finanzielles Gewinnstreben erweist sich hier deswegen als zentral, weil damit der väterliche Machtanspruch ein modernes Gepräge erhält. Das Geld wird nicht benötigt, aber dennoch als Kapital angehäuft, ja so gierig zurückverlangt, dass die Summe aus dem Prozess als etwas erscheint, was dem Vater die entbehrte ewige Ruhe zusichern kann. Wie der alte Roderich in Hoffmanns ›Das Majorat‹, der von der Vorstellung einer Gestaltbarkeit der Zukunft besessen ist, erweist sich auch der alte Majoratsherr bei Arnim einem modernen Machtimpuls verpflichtet. Beide Texte stehen diesem genau so kritisch gegenüber wie der Institution des Majorats. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste / Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden […]. Bd. 19. Halle, Leipzig 1732–1754, Sp. 629. Genau wie bei Hoffmann wird im Zedler im Übrigen wörtlich das »Gehäßige« angemerkt, da ein Vater mit vielen »lieben Söhnen« diese nicht gleich versorgen kann. Ebd., Sp. 630.

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herren allein die Zeit nach seinem Tod, d. h. im weitesten Sinne das Majorat und das damit materiell abgesicherte »Geschlecht«. Nun ist aber in dieser Konstellation offensichtlich, dass es dieser Manipulation mit Blick auf die grundsätzliche Perpetuierung der Majoratsgüter nicht bedurft hätte. Der später eingesetzte legitime Erbe, der Vetter des jungen Majoratsherren, wird bei dem Betrug ja dezidiert übergangen. Außer einer Antipathie des alten Majoratsherren gegenüber dem Vetter spielt dabei noch eine andere Form des Machtwillens hinein, die Esther diagnostiziert: »Sie verfluchen die Eitelkeit des männlichen Geschlechts, seinen Namen in Ansehen erhalten zu wollen?« (MH 129) Der vom alten Majoratsherren mehr oder weniger zufällig ausgewählte Säugling scheint in diesem Sinn in die Familie ebenso einpassbar wie ein natürlicher Sohn. Damit hofiert der alte Majoratsherr allerdings weniger der Ideologie einer entsprechenden Sozialisierung, sondern suggeriert vielmehr die komplette Austauschbarkeit der Kinder. Dass gegen diese Willkür in ›Die Majoratsherren‹ eine offensichtlich biologische Wahrheit thematisiert wird, kristallisiert sich in der Beschreibung Esthers heraus. Ihre vom jungen Majoratsherren mehrfach bemerkte Ähnlichkeit mit seiner Mutter (also ihrer biologischen Mutter) erscheint in diesem Zusammenhang nicht trivial, sondern als empirische Valorisierung eines biologischen Zusammenhangs, der vom alten Majoratsherren rücksichtslos ausgehebelt wurde. Die zärtliche Liebe für die Mutter reinkarniert sich beim jungen Mann in einer problematischen Affinität zu Esther. Dadurch mag diese zarte Romanze zwischen den beiden betrogenen Kindern a priori inzestuös kontaminiert sein (was auch das Scheitern dieser Verbindung antizipiert) – gleichzeitig jedoch steht die wiederholt visuell und emotional wahrgenommene Ähnlichkeit der beiden Frauen für eine »Erbschaft«, die nicht nur eine phänomenologische Abbildlichkeit insinuiert,37 sondern auch eine Kontinuität der mütterlichen Essenz, die vor allem in einer Spukszene verdeutlicht wird. Esther und der Majoratsherr, der die imaginäre Abendgesellschaft, die sie um sich versammelt, als »zartbeflügelte […] Gestalten« (MH 118) wahrnehmen kann, sind in ihrer hypersensitiven Offenheit für Bereiche jenseits der sichtbaren Realität miteinander verbunden. So überrascht es nicht, dass die physische Ähnlichkeit zur Mutter im Kontext dieser Episode zu

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»Der Klang der Stimme schien dem Majoratsherrn nun erst bekannt, nun er sie so nahe hörte; noch deutlicher als aus dem Fenster, durchdrang ihn die Ähnlichkeit mit seiner Mutter.« (MH 123) Ähnlich ist auch die Bemerkung des Majoratsherren über das Mädchen Esther zu werten, »das mich in jeder Miene und Bewegung an meine Mutter erinnert« (MH 113).

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einer (durch das zweite, hellsichtige Augenpaar des Majoratsherren aufgewerteten) substantiellen Verbindung der Frauen wird: Er hörte zuerst einen Schuß, oder einen ähnlichen Schlag; da sprang sie auf […] als sie sich in ihr Bett gestreckt, wie ein gaukelnder Kreis, um ihr Haupt schwebten, bis sie immer blässer und blässer sich im Dampfe der erlöschenden Nachtlampe verloren, in welchem ihm dagegen die Gestalt seiner Mutter erschien, die von der Stirn des Mädchens eine kleine beflügelte Lichtgestalt aufhob, und in ihre Arme nahm, – wie das Bild der Nacht, die das Kindlein Schlaf in ihrem Gewande trägt, – und in dem Zimmer bis zur Mitternacht damit auf und niederschwebte, als wenn sie ihm die unruhigen Träume vertreiben wollte, es dann aber über den schwindelnden Straßenabgrund, dicht an das Auge des Staunenden trug, der Esthers verklärte Züge in der Lichtgestalt deutlich erblickte, sie aber mit einem Schrei des Staunens unwiderruflich zerstreute. Denn mit diesem Schrei war er aus dem höhern Seelenzustande, aus dem Kern in die Schale zurückgesunken, und kein Wunsch führte ihm diesen seligen Anblick zurück. (MH 118–119)

Diese Vision impliziert eine spezifische Mutter-Tochter-Beziehung, bei der die Tochter virtuell als »verklärte« Version ihrer selbst aus dem eigenen Kopfe noch einmal geboren und in die Arme der Mutter zurückgeführt wird. Es wird eine Form der unhintergehbaren Elternschaft (in diesem Falle bezeichnenderweise Mutterschaft) insinuiert, die aus der biologischen Verbindung eine Beziehung ableitet, deren Innigkeit lediglich einem »höhern Seelenzustande« (MH 119) zugänglich ist.38 Geht es auf der einen Seite gerade um die individuelle Beziehung zwischen Mutter und Kind, wird zugleich ein anthropologisches Faktum aufgerufen, das in seiner dualen Anlage allumfassend scheint: Ein typisches Motiv in der bildenden Kunst ist das der Nacht (Nyx), die sie ihre beiden Söhne, Tod und Schlaf (Thanatos und Hypnos), an ihrem Busen und unter dem Mantel birgt. Wie die Nacht den Schlaf nimmt die Mutter die Tochter Esther als »Lichtgestalt« in die Arme. Die mythologische Dichte des Bildes (der Schlaf als Kind der Nacht) authentifiziert und perpetuiert das Bild der mythisch-originären Mutter-Kind-Beziehung, die hier durch das kontextuelle setting im Bereich der Nacht, des Schlafes und des Todes erscheint. Damit ist unabhängig von der Konstellation in der Erzählung eine Vorstellung aufgerufen, die das biologische Faktum der Abstammung an eine Form der Mutterliebe knüpft. Diese nimmt, wenn auch in 38

Die Authentizität der Mutter auf der einen, der lichthafte Charakter Esthers in ihrer kindlichen Reinkarnation auf der anderen Seite verbürgen den Wahrheitsgehalt dieser Szene, auch wenn der junge Majoratsherr mit seiner komisch-überspannten Phantasie gleich mehrfach ein Beispiel für die grenzenlose Überinterpretation banaler Sachverhalte gibt.

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einer traditionellen Bildlichkeit konkretisiert, auf moderne Bedürfnisse Bezug. Indem die Mutter die Tochter von ihrer »Kopfgeburt« entbindet, scheint sie Esthers Persönlichkeit in ihrer Essenz zu verdichten und in der vollständig protektiven Umarmung ganz sinnbildlich zu integrieren. Die Individualität geht auf in der mütterlichen Fürsorge, die mit dem Mutterbild der Romantik korrespondiert.39 Der emotional erreichbare Vater ist in dieser Konstellation durch eigenes Verschulden marginalisiert, was auch den immer stärker greifenden Geschlechtscharakteren40 entspricht; gleichzeitig aber wird ex negativo auch hier neben der intuitiven Sehnsucht nach der verstorbenen Mutter eine emotionale Forderung an den Vater erkennbar. Die explizite, »biologische« Dimension wird im Gespräch zwischen Esther und dem Majoratsherren wiederum auf Lessings kulturelle Familienbildung in ›Nathan der Weise‹ zurückbezogen; sowohl die intertextuelle Konstellation (das von einem Juden aufgezogene Christenmädchen), als auch die Abweichung vom Original (hauptsächlich mit Blick auf die fragwürdige Existenz Esthers unter der Herrschaft Vashtis) werden auf diese Weise ostentativ hervorgehoben. Lessings ›Nathan der Weise‹ erhält in diesem Sinn ein Pendant im jüdischen Pferdehändler, der seinen kaufmännischen Erfolg auf diesem dubiosen Geschäft begründen kann. Der Ziehtochter hinterlässt er zwar mehr als ihren rechtmäßigen, durch die Majoratsstiftung zugedachten Erbanteil, gleichzeitig aber nur ein Drittel der Ablösesumme, die der Majoratsherr (angeblich) an ihn gezahlt hat. Die vorgebliche Motivation des Pferdehändlers, der das Kind nicht nur 39

40

Hier geht es primär um eine binäre Opposition innerhalb des Vaterbildes und nicht um die Geschlechtscharaktere, die der Frau immer stärker eine spezifische Emotionalität zusprechen. Wichtig ist hier also, dass der Anspruch gegenüber dem Vater erhalten bleibt. Zur Rolle der Mutter, die von Brentanos ›Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter‹ bis hin zu Novalis ›Heinrich von Ofterdingen‹ eine zentrale Bedeutung einnimmt, vgl. Hannelore Schlaffer: Mutterbild Marmorbild. Die Mythisierung der Liebe in der Romantik. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 36 (1986), S. 304–319 sowie exemplarisch Ortrud Gutjahr: Der romantische Dichter als Mutter-Sohn in Novalis’ Bildungsroman ›Heinrich von Ofterdingen‹. In: Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Fantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli. Hrsg. von Irmgard Roebling, Wolfram Mauser. Würzburg 1996, S. 165–185. Auch für die Mutter ergeben sich dabei im Übrigen die für die Zeit um 1800 entscheidenden inzestuösen Überlagerungen. Das lässt sich ebenfalls anhand von Novalis’ ›Glauben und Liebe‹ verdeutlichen: Vgl. dazu etwa Claudia Nitschke: Der häusliche Wirkungskreis im Großen«. Die Funktion der preußischen Königin in der symbolischen Politisierung von Familie in Novalis ›Glaube und Liebe‹. In: Familienbande – Familienschande. Geschlechterbeziehungen in Familie und Verwandtschaft. Hrsg. von Eva Labouvie, Ramona Myrrhe. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 55–73.

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wegen dieses pekuniären »Vorteils«, sondern auch wegen der Hoffnung, »seiner Religion dadurch etwas zuzuwenden« (MH 128), annahm, wird durch das quasi einbehaltene Geld fragwürdig. Die vermeintliche Menschenfreundlichkeit und Toleranz, die durch das Umfeld der Judengasse bereits als kompromittiert erscheinen, werden dementsprechend als Strategie und Berechnung entlarvt. »Haben sie Nathan den Weisen gelesen?« (MH 128) fragt Esther im unmittelbaren Kontext und verzichtet dann vielsagend auf die Ausführung dieser Andeutung. Die utilitaristische Lesehaltung des Pferdehändlers, der auf groteske und wenig substantielle Weise Lessings ›Nathan der Weise‹ als plump adaptierte Werbestrategie imitiert, lässt sich dabei nicht von der Hand weisen und ist fraglos antisemitisch gebrochen. Lessings ›Nathan der Weise‹ wird hier als eine allgemein anerkannte, pseudo-moralische Rechtfertigung für ein pragmatisches Geschäft instrumentalisiert. In diesen Kontext eingeflochten ist eine weitere biologische Anspielung auf den Kindertausch, der Lessings harmonisches Familienkonzept zumindest im Kontext von ›Die Majoratsherren‹ umwertet. Die kulturelle Familie in ›Nathan der Weise‹ erweist sich am Ende doch als biologisch vernetzt, so dass die kulturelle Leistung der gegenseitigen Toleranz nachträglich durch Blutsbande bestätigt wird. Dem Majoratsherren, der auf die Frage nach Lessings Trauerspiel zugeben muss, es nicht gelesen zu haben, wird in diesem Sinne entgegnet: »Nun gut, Sie werden der Mutter an die Brust gegeben, wie die Nachtigall auch Kuckuckseier ausbrütet; doch versteht es sich, ohne etwas Böses damit sagen zu wollen.« (MH 128) Das biologische Ergebnis in ›Nathan der Weise‹ wird hier aufgegriffen und zum Indikator umgedeutet, der in diesem Fall das Scheitern der kulturellen Beziehungen markiert, in deren Zusammenhang sich der Majoratsherr als Kuckucksei an der Brust der Nachtigall erweist. Die genuine Differenz zwischen eigenem und fremdem Kind wird nirgends deutlicher als in der Kuckucksmetapher, da die Sozialisation hier nichts an der genetischen Disposition zu ändern vermag. Auch der von der Nachtigall aufgezogene Kuckuck bleibt letztlich ein Kuckuck. Die genetische Verwandtschaft wird in diesem Sinne ontologisch aufgeladen, während die Möglichkeit einer rein kulturellen Familienbildung in Frage gestellt scheint. Am Ende dominiert die Identitätskrise, die sich aus der Vernachlässigung der biologischen Zuordnung ergibt, wie Esther resümiert: »Ich bin Sie und Sie sind ich« (MH 128). Da der Text also eine biologisch unabweisbare Abstammungsstruktur etabliert, wird das Vergehen des Vaters um so frevelhafter: In ›Die Majoratsherren‹ manifestiert sich die väterliche Gewalt als distinktes, ja einzi253

ges paternales Attribut: Sie wird hier als absolute Verfügungsgewalt über das Kind umgedeutet, die sich über zunehmend genauer beobachtete,41 biologische Wahrheiten erhebt. Arnims Text betont diesen biologischen Aspekt, indem er an der Evidenz der natürlichen Vererbung die konstruierte legale scheitern lässt. Dass nämlich genau die biologische Dimension für das Aussterben des Geschlechts verantwortlich sein wird, ist der textliche Beweis für die Fehlkalkulation des Alten. Gegen den paternalen Machtinstinkt greift die Vorstellung von einer biologischen Kontinuität. Esther und der junge Majoratsherr stehen in ihrer durch den Alten verursachten, instinktiv erspürten Fehlplaziertheit, der daraus resultierenden Verlorenheit und Verwirrung für die Aberration des Majoratsherren ein und fallen ihr zugleich unwiderruflich zum Opfer. Indirekt erweist sich schon Arnims Erzählung ›Die Majoratsherren‹ in ihrer kryptisch-geisterhaften Anlage als unwiderlegliches Indiz eines biologischen Paradigmenwechsels. Zusammen mit dem alten Majoratsherren war auch die natürliche Mutter des jungen Majoratsherren an dem Betrug beteiligt, bei dem sie zum einen die Geburt ihres unehelichen Kindes vertuschen konnte, zum anderen aber die Gelegenheit nutzte, dem verhassten Vetter, der ihren Liebhaber im Duell tötete, das Erbe vorzuenthalten. Der junge Majoratsherr wird unwissend zum Rächer seines natürlichen Vaters (eine Mission, die zu übernehmen er ablehnt, zu deren Erfüllung er aber letztlich indirekt beiträgt), vor allem aber zu einem Instrument, mit dem nach Belieben verfahren werden kann. Die im Hofzeremoniell verharrende, aristokratische Mutter (ein intertextueller Verweis auf die alten Tanten in Hoffmanns ›Das Majorat‹), die als museales, furchterregendes Relikt vergangener Zeiten erscheint, und der skrupellose Majoratsherr bilden hier das komplementäre Paar, das mit ihren Plänen die finale Katastrophe heraufbeschwört. Das biologisch verbindliche Idealbild in dieser Erzählung findet sich in der Frau des alten Majoratsherren. Diese figuriert als eine in eine höhere Sphäre projizierte Ideal-Mutter, die in exemplarischer Weise ihren natürlichen Mutterpflichten nachkommt und sich im Kontrast zum übrigen Personal als quasi bürgerliche Mutter etabliert, d. h. als Mutter, die alle 41

Erst mit einem biologischen Vater-Konzept »konnte die Vorstellung vom Fortleben in den Nachkommen entstehen. Während zuvor die historische Kontinuität an die Körperschaften der Gemeinschaften gebunden und vom Leben und Tod des Einzelnen gleichsam unabhängig war, konnten sich in dem Moment, als die Bestands- und Zukunftssicherung der Gemeinschaft auf die Reproduktion der ›natürlichen Familie‹ verlagert wurde, auch individuelle Phantasien über ein Nachleben im Erbe entfalten.« Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, S. 63. Vgl. dazu auch den Abschnitt zu ›Die Narrenburg‹.

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bürgerlichen Intimitäts- und Individualitätskriterien erfüllt. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass damit das aristokratisch bedeutsame Merkmal der Blutsverwandtschaft vergeistigt und bürgerlich adaptiert wird. Unter veränderten Vorzeichen wird hier ein biologisches Vererbungskonzept gutgeheißen (das mit emotionaler Nähe gleich- und bloßen Machtkonstruktionen entgegengesetzt wird), das aus dem hereditären Machtdiskurs des Ancien Régimes ausschert: Aus dem legalen42 wird hier zudem ein natürlich-moralisches Kriterium. Gleichzeitig steht dabei die nach Textaxiologie falsche und fatale Akzentuierung der väterlichen Macht im Fadenkreuz des Textes. Im Vergleich zu Hoffmanns ›Das Majorat‹ fällt auf, dass der Vater, der für die fatalen Konsequenzen in Arnims Erzählung vollständig verantwortlich zeichnet, in der Handlung nicht auftaucht: Der alte Majoratsherr scheint insofern lediglich in der unheilvollen Institution präsent. In beiden Erzählungen kommt die Rechtsinstitution an ein natürliches Ende, das gerade von den geschlechts- bzw. machtbewussten (und damit notwendigerweise die konkrete Familie vernachlässigenden) Vätern katalysiert wird. Mögen sich dabei die beiden Texte als sehr unterschiedlich erweisen, so wird doch in beiden Fällen das gestörte Verhältnis der Familienmitglieder auf eine historische, aber eben auch familiale Konstellation zurückgeführt. Spezifische bürgerliche Werte wie Nähe und Liebe werden ex negativo gegen die adlige Rechtsinstitution geltend gemacht und bei Arnim biologisch naturalisiert. Auch die Angehörigen der Majoratsfamilie sind in diesem Sinne nur Menschen (d. h. im zeitgenössischen Verständnis: menschlich als quintessentiell bürgerlich), die vor den entfremdenden Machtmechanismen geschützt werden müssen. Der bürgerliche Vater wird im Versagen der Majoratsherren indirekt als Postulat erkennbar.

3.

Ludwig Tiecks ›Die Ahnenburg‹

Eine besonders aufschlussreiche Erörterung der Institution des Primogeniturs in einem bürgerlich gewendeten familialen Kontext, in dem an der bisher propagierten genealogischen Conditio sine qua non unter neuen Prämissen festgehalten wird, ist Ludwig Tiecks ›Die Ahnenprobe‹. Tiecks 42

»An absolute state relies upon its genealogical ›family‹ structure to define the relations between ruler, citizens, and the collective state itself. A bastard, however, can be tolerated as a rights-bearing citizen with equal access to resources only when birth is no longer of consequence, when parentage no longer determines a child’s identity.« Paulson Eigen, A mother’s love, a father’s line, S. 94.

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Erzählung vom unerbittlichen adligen Vater, der dem bürgerlichen Verehrer die Hand seiner Tochter verweigert, scheint sich – mit leichten Verschiebungen – an dem bisherigen Muster der Majoratserzählungen zu orientieren, indem auch hier die legale Tradition als unhintergehbar, aber im status quo als unannehmbar erscheint. Das Rechtsinstitut wird im Verlauf der Geschichte genau evaluiert und zunächst in eine bürgerliche Form konvertiert, bevor schließlich der bürgerliche Protagonist Eduard mit Adelsdiplom ausgestattet zu einem Teil der meritokratisch umdefinierten Aristokratie werden kann. Obwohl der Text seine Adelskritik bereits expliziter und nachhaltiger vorbringt als Hoffmanns und Arnims Majoratsgeschichten (und in den stereotypen Formeln ein Großteil der dem Text partiell anhängigen Ironie produziert), lassen sich doch am Ende die verschiedenen Werte gut harmonisieren.43 Das liegt fraglos auch an der Eliminierung des Vater-Sohn-Gegensatzes, der hier durch die Konfrontation von Vater und Schwiegersohn ersetzt wird.44 Erstaunlicherweise ist es gerade der später so starrköpfige Graf Seestern, der Eduard in sein Haus aufgenommen hat und ihn – ganz im Sinne einer Lessing’schen Familienkonstruktion – wie einen Sohn liebt. Dass seine emotionale Zuwendung einen substantiellen Grund hat, wird im Verlauf des Textes klar, insofern das Vater-Sohn-ähnliche Verhältnis im Rekurs auf die romantische Liebe zwischen ihm und Eduards Mutter erklärt wird. Das Liebesverhältnis von Graf Seestern und Eduards bürgerlicher Mutter Jakoba wurde von Jakoba aus plausiblen Gründen beendet. Ihre Argumentation steht im Zeichen der Standeszugehörigkeit, deren Missachtung sie zu diesem Zeitpunkt für problematisch hält. Es zeigt sich, dass sich die eigensinnige Gesinnung des alten Grafen hinsichtlich der Verheiratung seiner Tochter mit einem Bürgerlichen weniger an individuellen Konstellationen orientiert als vielmehr an historischen Makrostrukturen. Die Ordnung, an welcher der Graf so sichtbar hängt, stellt für ihn »das innerste Grundwesen unserer Seele« dar; »und das Erringen der Freiheit, das Vernichten und Hemmen der Ordnung, die in unserem Leben auch äußerlich gestalten muss, ist nichts als ein Streben, das Chaos und das Nichtsein wiederherzustellen.«45 43

44 45

Vgl. dazu auch Heinz Reif: Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland. 1815–1874. In: Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848. Hrsg. von Elisabeth Fehrenbach, Elisabeth Müller-Luckner. München 1994, S. 203–230. Reif verweist auf die Politik der Adelsrestauration in Preußen besonders nach 1830. Vgl. dazu auch das Kapitel zu Stifter. Ludwig Tieck: Die Ahnenprobe. In: Ludwig Tieck’s gesammelte Novellen. Bd. 6. 6Berlin 1853, S. 77. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als AP mit der entsprechenden Seitenzahl.

256

In dem langen Streitgespräch, das sich der Weigerung Seesterns anschließt, auf Eduards Brautwerbung einzugehen, bezieht Eduard zunächst eine moderne Position, indem er den Grafen beschwört, seine »Vorurteile« aufzugeben: Und sehen wir auf die Welt und unsere Zeit – wie hat sich seit mehr als zwanzig Jahren Alles verwandelt! Wie sind die Säulen gefallen, von denen man wähnte, daß sie Reiche und Welttheile stützten! Sie sind gefallen, und die Geschichte geht ihren Gang, und die neueren Geschlechter gedeihen. Ein unbekannter Emporkömmling beherrscht die mächtigste Nation von Europa, und durch sie unseren Welttheil, unser Deutschland wenigstens. (AP 75)46

In dieser initialen Diskussion werden zwei Wertehorizonte heraufbeschworen, die sich im Verlauf der Ereignisse zunehmend vermischen. Eduards Vorfahre nämlich hat vor dreihundert Jahren ein bürgerliches »Fideikomiß« in einem expliziten Wertabgleich mit dem Adel gestiftet. Der entscheidende Aspekt ist dabei nicht nur die Vererbung der »Reichthümer« (AP 159), sondern auch die Überlieferung der »Tugenden«. Der Erbstifter Johannes Frimann vertritt dabei eine eigentümliche These, die eine andere Form der Familienbildung insinuiert, als sie eingangs durch das quasi bürgerliche Adoptionsverhalten des Grafen beschrieben wurde: Die fortgesetzte Erniedrigung bürgerlicher Familien könne, so Frimann, »wohl im Blute selbst endlich Bosheit und Niedrigkeit erzeugen und sich den Verwandten und Erben schon als einheimisch gewordene Schlechtigkeit mittheilen« (AP 159–160). In diesem Sinne sei es sogar begreiflich und auch wohl zu entschuldigen, wenn der Vornehme bei gewissen Umständen Widerwillen und Geringschätzung der Bürgerlichen äußere, weil bei der Dunkelheit der Familienverhältnisse es nicht unmöglich scheine, daß Buben oder schlechtes Volk ganz nah mit Dem verschwägert oder verwandt sind, der sich dem Grafen oder Freiherren gegenüber etwas herausnehmen wolle. (AP 160)

Familie wird hier als Vererbungsmechanismus ernst genommen; tatsächlich geht laut Frimann – in einer Lamarckisch anmutenden Theorie – der an bestimmten Werten und Normen orientierte Habitus über kurz oder lang in einen Pool von Erbanlagen über, der seinen Überlegungen zufolge über das Blut perpetuiert werden kann. 46

Die Rhetorik und Argumente aus dem Umfeld der Französischen Revolution werden im Text insgesamt pejorativ behandelt, ist doch eine andere prominente Figur im Text, nämlich der Baron, ein schlechter Vater; auffällig ist dabei, dass er sich rühmt, Rousseaus ›Émile‹ gelesen zu haben.

257

In einer überraschenden Volte spricht nun Frimann dem Adel seinen »Hochmut« mit Blick auf Stand und Vorfahren ab, da die Aufzeichnungen in falscher Priorität zwar die Besitzregelungen festhalten, nicht aber das tatsächliche Verhalten der Ahnen;47 dieses aber müsste genau genommen den eigentlich legitimierenden Erbteil darstellen: Am seltsamsten aber sei, daß Räuberei, Mordbrand, Verrath und Empörung gegen Fürsten und Vaterland, Verschwörung, Meineid und dergleichen schwere Verbrechen, welche auch in so vielen Landes- und Familiengeschichten vorkommen, den Stamm und den Abkömmling in den Augen der Welt nicht zu entehren scheine. (AP 160)

In einer Art verbesserten Version der adligen Erbregelung führt Frimann ein (ebenfalls genealogisches) Leistungsprinzip ein, das er konsequenterweise als »Bürgeradel« (AP 161) versteht: »und wie es des Regenten schönste und bitterste Sorge ist, seinen Enkeln ein unzerrüttbares Reich zu hinterlassen, so schien es mir wichtig, einen guten Namen den Meinigen zu stiften und zu erhalten.« (AP 161) In einer bezeichnenden post-revolutionären Gratwanderung wird somit das Prinzip des Adels bewahrt, inhaltlich allerdings im Sinne von bürgerlichen Verhaltenserwartungen zur Meritokratie umgedeutet. Diese Synthese findet in der finalen Eheschließung von der Tochter Seesterns mit Eduard Frimann einen beredten Ausdruck. Zum einen muss sich Graf Seestern inhaltlich geschlagen geben: Immer war mir dieser theure Herr Frimann wie ein Sohn. Er ist ein Bürgerlicher, aber meine Liebe zu ihm […], seine Abkunft von einer Bürgerfamilie, die seit mehr als dreihundert Jahren beweisen kann, daß kein Unredlicher unter ihnen war, kein Unwürdiger, der dem Stamme Schande machte (etwas, das vielleicht kein adeliges Haus, oder nur wenige, von sich rühmen können), […] hat mich […] bewogen, von meinen bisherigen Grundsätzen abzuweichen und dieses Bündnis zu schließen.« (AP 165)

Diese Verheiratung wird nun allerdings zum anderen mit einem Adelsdiplom48 abgeschlossen, das die meritokratischen Überlegungen wiederum in eine aristokratische Logik überführt (bzw. sie in diesem Kontext aufwertet). Der König insistiert angesichts von Frimanns Geschichte auf der Ausstellung des Adelsdiploms (AP 166), obwohl Seestern sich diese 47 48

»So hochmüthig sie auf ihren Stand und ihre Ahnen wären, so wenig wüßten sie doch eigentlich von ihnen zu erzählen« (AP 160). Diese Wendung mag man als ironische Referenz auf Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ lesen.

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»Gnade« geradezu »verbat«: »Er hat mir mit übergroßer Gnade ein Adelsdiplom für meinen Eidam aufgezwungen« (AP 166).49 Während das Institut des Majorats in Hoffmanns und Arnims Erzählungen erlöschen muss, weil sich seine inhärente Ordnung als nicht überlebensfähig erweist, führt Tiecks Erzählung vor, wie durch die Integration eines bürgerlichen Sohnes eine Amalgamierung von Inhalt (bürgerliche Werte) und Form (fideikomiss-artige Übertragung des Besitzes, d. h. der Geschichte der Tugenden) erzielt werden kann, die dem Institut wieder eine inhaltliche Basis gibt. In der Auswahl des Sohnes nach dem Prinzip einer bürgerlichen Verdienstethik scheint die genealogische Konstruktion des Fideikommisses noch einmal in seiner Existenz legitimiert. Die Liebeswahl kann das Verhältnis zwischen Vater- und Ziehsohn nur vorübergehend stören; die Legitimität des Vaters (und des Instituts) knüpft sich hier unmittelbar an die Zulassung der romantischen Liebe. Während Arnim und Hoffmann die Problematik des Majorats aus einer konkreten Situation entwickeln, führt Tiecks Erzählung grundsätzliche, bereits stark konventionalisierte (und in der Übererfüllung latent ironisierte) Parameter vor, in deren Kontext eine Fortsetzung des Majorats denkbar wird. Die legitime Fortführung wird dabei an spezifische bürgerliche Tugenden geknüpft.50 Bei Tieck deutet sich das erste Mal explizit und affirmativ die (schon bei Lessing entscheidende) Kippfigur an, bei der eine durch klare Tugend-Restriktionen begrenzte Individualität zu dem generellen Paradox einer normierten Individualität führt: In einer Majoratsregelung, die an das Verdienstethos gekoppelt wird, realisiert sich die homogenisierende Verbindung zwischen Innen und Außen, Individualität und Regel besonders anschaulich. 49

50

Vgl. dagegen Martina Schwarz, die betont, dass der alte Graf den Schwiegersohn erst mit Adelsdiplom (das er vom König aufgezwungen bekommt) anzunehmen bereit ist. Schwarz: Die bürgerliche Familie im Spätwerk Ludwig Tiecks. ›Familie‹ als Medium der Zeitkritik. Würzburg 2002, S. 124. In diesem Zusammenhang ist es eher von Bedeutung, dass der König mit dieser Nobilitierung ebenfalls die bürgerlichen Werteerwartungen gutheißt. Dieter Langewiesche beschreibt den Grundzug einer reformorientierten bürgerlichen Adelskritik dementsprechend: »Der Adel darf in der Verfassungsordnung eine herausgehobene Position behaupten, aber er soll dafür mit einer Verbürgerlichung seiner Wertordnung seiner Mentalität zahlen. Von den sechs Säulen des alteuropäischen Adels wäre nur eine verfassungsrechtlich klar begrenzte politische Sonderrolle und der Besitz übriggeblieben – allerdings durch Majorat und Fideikommiß gesichert und damit über den bürgerlichen Besitz hervorgehoben.« Dieter Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung. In: Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, S. 10–28, hier S. 16. Indem Tieck in seiner Erzählung einen Bürgerlichen direkt in das Zentrum des genealogischen Instituts setzt, imaginiert der Text dagegen eine Usurpation des Besitzes im bürgerlichen Sinne.

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4.

Adalbert Stifter ›Die Narrenburg‹

Die bei Tieck vorgeführte reziproke Infiltration zweier Wertehorizonte (im Zeichen von Tradition und Individualisierung) erklärt auch den Anachronismus in Adalbert Stifters Majoratserzählung ›Die Narrenburg‹, die zuerst im ›Iris‹-Taschenbuch für 1843 erschien.51 Ebenso wie bei Tieck kommt es in Stifters Erzählung zu einer genuinen Wiederbelebung des Fideikommisses.52 Der junge Naturforscher und Maler Heinrich entdeckt auf einer Reise die Narrenburg und erkennt bei einer Besichtigung seine genealogische Zugehörigkeit zu der vermeintlich ausgestorbenen Linie, kann diese Abstammung sowohl rekonstruieren als auch beweisen und tritt schließlich das Erbe zusammen mit seiner jungen Frau, der Wirtstochter Anna, an. Das Fideikommiss bei Stifter hat dabei gegenüber den bei Arnim und Hoffmann beschriebenen Majoraten eine maßgebliche Besonderheit, die bei Stifter als »lächerlich« eingeführt wird: Hanns von Scharnast hatte ein lächerliches Fideicommiß gestiftet. Seine Burg Rothenstein sammt Zugehör an Unterthanen, an Jagd-, Fisch- und Berggerechtigkeit solle sich in gerader Linie immer auf den ältesten Sohn forterben; ist kein Sohn da, auf Töchter, und in Ermanglung dieser auf die älteste Seitenlinie und so fort, bis etwa einmal der Fall eintritt, daß weder ein Cognat, noch ein Agnat von benanntem Hause übrig ist, wo sodann die Burg sammt Zugehör an den Fiscus fällt. Bis hieher wäre Alles richtig; aber eine Bedingung fügte er dem Fideicommisse bei, welche der ganzen Sache eine andere Wendung gibt. Jeder nämlich, dem die Burg als Erbschaft zufiel, mußte, ehe sie ihm ausgeantwortet würde, zweierlei Dinge leisten: e r s t e n s mußte er schwören, daß er getreu und ohne geringsten Abbruch der Wahrheit seine Lebensgeschichte aufschreiben wolle, und zwar von der Zeit seiner ersten Erinnerung an bis zu jener, da er nur noch die Feder zu halten im Stande war. Diese Lebensbeschreibung solle er dann Heft für Heft, wie sie fertig wird, in dem feuerfesten Gemache hinterlegen, das zu diesem Zwecke in den rothen Marmorfels gehauen war, der sich innerhalb der Burg erhebt; – z w e i t e n s mußte er schwören, daß er sämmtliche bereits in dem rothen Steine befindlichen Lebensbeschreibungen lesen wolle, wobei es ihm aber nicht gestattet ist, irgend eine von dem Gemache ihrer Aufbewahrung wegzutragen. […] Der Grund, der Hannsen leitete, eine so seltsame Klausel an sein Fideicommiß zu hängen, war ein zweifacher. Erstens, obwohl er ein sehr frommer und tugendhafter Mann war, so hatte er doch in seinem Leben so viele Narrheiten und Uebereilungen begangen, und 51

52

Hier liegt die ausführlichere Studienbuch-Fassung zugrunde. Adalbert Stifter: Die Narrenburg. In: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Bd. 1,4. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980. Im Folgenden im fortlaufenden Text als NB zitiert mit der entsprechenden Seitenzahl. Die Erzählung ist in ihrer widersprüchlichen Anlage hochgradig ambivalent und kann in diesem Kontext nicht vollständig ausgedeutet werden.

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es war ihm daraus so viel Beschämung und Verdruß zugewachsen, daß er beschloß, alles haarklein aufzuschreiben, ja auch seinen Nachfolgern die Pflicht aufzulegen, daß sie ihr Leben beschreiben, damit sich Jeder, der nach ihnen käme, daran zu spiegeln und zu hüten vermöge. Der z w e i t e Grund war: daß sich jeder, der nur die entfernteste Anwartschaft auf Rothenstein hätte, gar wohl von Laster und Unsitte fern halten würde, damit er nicht dereinst in die Lage käme, sie beschreiben zu müssen, oder sie doch halbwegs einzugestehen, wenn er den Eid von sich schiebe. (NB 321–322)

Diese Bestimmungen sind nicht nur mit Blick auf die Individualitätsproblematik aufschlussreich. Obwohl Hanns von Scharnast hier augenfällig nicht als individueller Vater namentlich erwähnter Kinder in Erscheinung tritt, sondern als Stifter eines sehr präzise erläuterten Rechtsinstituts, erhellt seine Stiftung wesentliche Aspekte der oben behandelten Erzählungen rückwirkend. Die Anweisungen richten sich hier zwar an ein ganzes Geschlecht (als dessen figurativer Vater er hier firmiert), gleichwohl ist ihre Ausführung nur als individuelle Handlung denkbar. Die Autobiographie fungiert auch als Chiffre für das moderne Bedürfnis nach Identität. Letztere wiederum wird konstruiert aus den selektiv prozessierten Ereignissen des eigenen Lebens. Die biographische Konzeption re-organisiert sich in einer evolutionären Verlaufsform, in der Individualität quasi-historisch in einer Entwicklungsdimension aufgefasst wird. Ziel dieser Selbstanalyse und Präsentation ist zum einen ein disziplinarischer Effekt, wobei die potentielle Bloßstellung der posthumen Fremdüberwachung durch eine vorgängige Selbstrestriktion reguliert werden soll. Zum anderen gilt es, diese individuelle Entwicklung auf das Ganze anzuwenden und – vollständig im Einklang mit der Vorstellung von Geschichte als magistra vitae – die ontogenetisch vermerkten Fehler und Schwächen als Lehren produktiv in das phylogenetische Wachstum des Geschlechts einzuspeisen. Mit dieser Transposition nimmt Hanns von Scharnast im Grunde die geradezu modern erscheinende Forderung nach Individualisierung zurück, basiert doch die Vorstellung einer generellen Applizierbarkeit der Lebenserfahrungen wiederum auf der individuellen grundsätzlichen Vergleichbarkeit und also Austauschbarkeit der Protagonisten.53 Die Integration 53

Vgl. dazu auch grundsätzlich zum Geschichtsbild in ›Die Narrenburg‹ Katharina Grätz: Traditionsschwund und Rekonstruktion von Vergangenheit im Zeichen des Historismus. Zu Adalbert Stifters ›Narrenburg‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 607–634. Genau diese intergenerationelle Kommunikation wird dann in Stifters ›Die Mappe‹ spezifiziert. Dort befolgt der Obrist das Aufschreiben der eigenen Gefühle genau nach dem Scharnastschen Modell, wendet es allerdings auf sich selbst an, d. h. er versiegelt seine Aufzeichnungen und studiert sie fünf Jahre später zu seiner eigenen Erbauung und Gefühlsregulierung. Vgl. dazu auch das Kapitel zu Stifter.

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von individuellen Lebensläufen in das Rechtsinstitut erweist sich wiederum als Machtgestus, der nicht nur die Niederschrift des eigenen Lebens ausbedingt, sondern auch die Interpretation der anderen Lebensläufe vordefiniert, ohne sie zu kennen. Indem er das Lernziel festlegt, nimmt er das evolutive Element zurück und ebnet die Einzigartigkeit jedes Lebens ein. In diesem Sinne greift hier auch die im Text durchgängig präsente, gegenseitige Durchdringung oder Opposition von Natur und Kultur. Nicht das Leben zählt in den Augen des Majoratsstifters, sondern nur dessen Verschriftlichung: »Wer eine von diesen Bedingungen nicht erfüllen könne oder wolle, der wird betrachtet, als sei er im Augenblicke des Anfalles des Fideicommisses gestorben«, wer sie gar nach dem Antritt des Erbes nicht erfüllt, der wird sogar »als gar nicht geboren betrachtet, also ist auch seine ganze Nachkommenschaft nicht geboren, und das Fideicommiß geht an ihnen vorüber den Weg Rechtens weiter.« (NB 322) Die juristische Formulierung erweist sich hier als intrikat: Es heißt eben nicht, dass die Erbberechtigten vom Erbe ausgeschlossen werden, sondern sie gelten »als gestorben« oder, im schlimmeren Fall der Zuwiderhandlung gegen die Regeln, sogar als »nicht geboren«. Damit etabliert die Institution ein virtuelles Recht auf Leben und Tod, das nicht nur das Leben in der Sphäre des Fideikomisses ausradieren (durch Ausschließung vom Erbe), sondern es sogar komplett zurücknehmen, es als a priori inexistent betrachten kann. Die Kontrolle und Anerkennung des Erben im Rechtsinstitut erfolgt dabei in der Verschriftlichung, über die die jeweiligen Erben Eingang in die spezifische Ordnung des Fideikomisses finden und eine Art Avatar auf Rechtsebene erhalten, der in diesem Sinne eliminiert oder validiert werden kann: Das bezieht sich zwar nicht auf die physische Existenz, etabliert aber doch für die Sphäre des Majorats das Recht auf Leben und Tod bzw., in der Metaphorik des Rechtsdokuments, Tod oder gar Zurücknahme der Geburt.54 Der »Stifter« des Fideikommisses erscheint in diesem Kontext vollständig abstrahiert und ersetzt durch ein komplexes Regelwerk, das alle Erben in der Nachfolge unerbittlich nor54

Die durch die rechtlichen Auflagen oktroyierte Schrift fungiert damit wiederum als symbolische Präsenz des Blutes: »›Die Bücher, so in dem Gewölbe dieses roten Steines sind,‹ sagte Ruprecht, ›reden nur zu den Leuten, die aus dem Blute unsrer Grafen stammen, und jeder Tropfen ist aufgeschrieben, der seit siebenhundert Jahren aus einem ihrer Herzen rann, und keiner darf die Schrift lesen, der nicht ein Kind desselben Geschlechtes ist. Ihr seht, daß die Thore des Steines versiegelt sind, ihr könnt nicht hinein, aber zu dem andern habe ich die Schlüssel.‹« (NB 375) In diesem Sinne wird die durch die Stiftung kreierte Parallelwelt trotz ihrer Abstraktion durch die Transsubstantiation von Blut in Schrift metaphorisch an ihr lebendiges Pendant angeglichen.

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miert.55 Ähnlich wie in den romantischen Erzählungen Hoffmanns und Arnims werden die expliziten Ziele des Stifters, der für sie nicht mehr als Person einstehen kann, im Folgenden von seinen Erben auf den Kopf gestellt. Das Urteil der Zeitgenossen über das »lächerliche« Rechtsinstitut und seine Erben scheint zumindest einhellig: Was nun den ersten Punkt anlangt, so hatte Hanns das Unglück, das schnurgerade Gegentheil von dem zu erreichen, was er erzielen wollte. Es mußte nämlich von ihrem Ahnherrn her so viel tolles Blut, und so viel Ansatz zur Narrheit in den Scharnasts gelegen haben, daß sie, statt durch die Lebensbeschreibungen abgeschreckt zu werden, sich ordentlich daran ein Exempel nahmen, und so viel verrücktes Zeugs thaten, als nur immer in eine Lebensbeschreibung hineingeht – ja selbst Die, welche bisher ein stilles und manierliches Leben geführt hatten, schlugen in dem Augenblicke um, als sie in den Besitz der verwetterten Burg kamen, und die Sache wurde immer ärger, je mehr Besitzer bereits gewesen waren, und mit je mehr Wust sich der neue den Kopf anfüllen mußte. (NB 322)

Die Irrungen und Wirrungen werden in diesem Sinne nicht als abschreckendes Beispiel gelesen, sondern in einer erstaunlichen Verkehrung der Intention des Stifters als Vorlage, die es zu überbieten gilt. Der Majoratsstifter kann in diesem Sinne zwar die Anweisung zu einem genauen Studium der Lebensberichte geben, die individuelle intentio lectoris allerdings bleibt dabei offensichtlich unkontrollierbar. Die gleichzeitig angestrebte Selbstdisziplinierung ist für die Zeitgenossen nicht nachvollziehbar.56 Ein stimmgewaltiges Zeugnis indes weist die Anlage des Majorats mit seinem Lektüre- und Rechtfertigungszwang als dramatisch gescheitert aus. Das Selbstzeugnis Jodokus’ rechnet schonungslos mit den Vorgaben ab: Für seine Vorfahren »kann [er] keinen Dank haben«, 55

56

Das Fideikommiss wird dabei eigentümlich an eine spezifische biologische Disposition herangeführt, die hier als doppelte Genealogie lesbar wird: Sigrid Weigel verweist auf den darin implizierten Übergang zwischen »verschiedenen Registern von Genealogie: zwischen der überlieferten symbolischen Form der Genealogie, dem Geschlechtsregister, das mit Hilfe einer Aufzeichnung von ›gerade Linien‹ über mehrere Generationen hinweg dem Beweis der adligen Ahnenprobe diente, einerseits und andererseits der Aufstellung biologischer Vererbungsregeln, mit denen ein für die Verbesserung der Arten nutzbares Wissen erarbeitet werden sollte.« Auf diese entscheidende, biologische Implikation wird im Folgenden noch genauer einzugehen sein, da sich in ihr eine Zuspitzung von Hoffmanns und Arnims Majoratskonzepten findet. Weigel, Genea-Logik, S. 151. »In Bezug des zweiten Punktes, der Tugend nämlich, war es nicht recht klar, in wie weit der Gründer seinen Zweck erreicht habe; man sagte wohl den Scharnasts verschiedenes Böse nach, allein es kroch immer nur so im Dunkel herum: andrerseits stand aber auch die Thatsache fest, daß man sich nie einer Zeit erinnern konnte, wo einer von ihnen als ausnahmsweises Muster der Tugend wäre aufgestellt worden.« (NB 323)

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denn der Dämon der Thaten steht jederzeit in einer neuen Gestalt vor uns, und wir erkennen ihn nicht, daß er einer sei, der auch schon euch erschienen war – und eure Schriften sind mir unnütz. Jedes Leben ist ein neues, und was der Jüngling fühlt und thut, ist ihm zum ersten Male auf der Welt: ein entzückend Wunderwerk, das nie war und nie mehr sein wird – aber wenn es vorüber ist, legen es die Söhne zu dem andern Trödel der Jahrtausende, und es ist eben nichts als Trödel; denn jeder wirkt sich das Wunder seines Lebens aufs Neue.« (NB 410)

Jodokus erkennt die generalisierende Tendenz dieses Fideikomisses, die jedes Leben zum Lehrstück im Sinne einer einheitlichen und universal applizierbaren Moral abstrahiert und damit die Einzigartigkeit der Lebensläufe einzuziehen scheint; insbesondere gegen die Perpetuierung der eigenen Geschichte wehrt er sich vehement, indem er darauf verweist, dass die verschriftlichten Lebensläufe »Gespenster«57 generieren. Die Texte, die als Rechtsdokumente die Existenz der juristisch eingeforderten Stellvertreter (d. h. der Erbberechtigten, die den Forderungen nachgekommen sind und damit als ihre eigenen Avatare in der Rechtssphäre des Majorats anerkannt wurden) verbürgen, bestehen für die begrenzte Leserschaft weiter als Platzhalter, in der Tat abgelöst von ihrer physischen Existenz: Dort liegen die Schläfer, von ihrem Ahnherrn verurtheilt, daß sie nicht sterben können; eine schauderhaft durcheinanderredende Gesellschaft liegt dort, vor jedem Ankömmling müssen sie ihre Thaten wieder neu thun, sie seien groß oder klein; – diese Thaten, genug, sie waren ihr Leben, und verzehrten dieses Leben« (NB 411).

Den paranormalen Phänomenen in den beiden romantischen Majoratserzählung setzt Stifter hier die imaginären »Gespenster« einer letztlich depravierenden Dokumentationspraxis entgegen. Jodokus’ Vorschlag, sämtliche Aufzeichnungen zu verbrennen, entspricht in diesem Sinne der Handlung Wolfgangs im Majorat, der den Brief des Vaters vernichtet und damit die hartnäckige Macht des Vaters, die über seinen Tod hinausreicht, zu brechen versucht: »Wenn es dein Gewissen zulässt, später Enkel, so verbrenne die Rollen, und sprenge den Saal in die Luft. Ich thäte es selber, aber mir schaudert vor meinem Eide.« (NB 411–412) Von dem Archiv und seinem Inhalt wird das Fideikommiss getragen und perpetuiert – in diesem Sinne stimmt die Funktion jener Zusatzregeln mit den Intentionen des Stifters überein; deshalb ist der zweite mögliche Schritt, die Macht 57

Als solche bezeichnet nicht nur Jodokus diese in die Schriftsphäre projizierten Figuren nach der Lektüre von Jodokus Lebensbericht, sondern später auch Heinrich.

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des Fideikommissgründers zu brechen, das absichtsvolle Vergessen: »Kannst es aber auch du nicht thun, so vergiß doch augenblicklich das Gelesene, daß sich die Gespenster all ihres Thuns nicht in dein Leben mischen und es trüben, sondern daß du es lieber rein und anfangsfähig aus der Hand deines Schöpfers trinkest.« (NB 412) Das Archiv und sein Inhalt werden somit zum Zeichen einer spezifischen Tyrannei, die es zu überwinden gilt. Die bei Tieck postulierte moralisch-edukative Regulierung der Individualität führt in der ›Die Narrenburg‹ zu tragischen Lebensläufen. Individualität und Norm sind in dieser widersprüchlichen Erzählung trotz des glücklich befriedeten Endes nicht per se kompatibel. Bei der Binnenerzählung, die Jodokus’ Leben beschreibt, handelt es sich um eine kunstvolle Verblendung der Themen Natur, Kulturalisierung und massiver Kulturkritik, die vom verzweifelten Jodokus selbst vorgegeben wird. Die letzten Worte seines Lebensberichtes,58 der sich jener abstrakten Genealogie einfügen soll, steht wiederum die natürliche Vaterschaft gegenüber, die mit den Worten: »ach, ich sehne mich nach meinem Sohne« (NB 426) als Interjektion etabliert wird. Damit wird das Zirkulieren um Natur und Kultur, um das es auch in Jodokus’ ergreifender Lebensgeschichte geht, wieder aufgenommen.59 Das »natürliche«, allerdings unerfüllte Gefühl bildet somit den Schlussstein dieses Lebensdokuments. Genau diese natürlichen Gefühle werden allerdings wiederum in der Verschriftlichung greifbar und fühlbar, wenn Heinrich nach der Lektüre schlussfolgert: »wenn alle ähnlich diesem Jodok sind, wie wenig verdient ihr Haus den Namen, den ihm die Leute draußen geben – ihre Narrheit ist ihr Unglück, und ihr Herz.« (NB 427) Das Unglück und Herz, das Hein58

59

Dabei handelt es sich vor allem um eine Liebesgeschichte: Jodokus, ein übersättigter Europäer, findet in Indien bei der Paria Chelion sein ungetrübtes, »natürliches« Glück, versucht dieses allerdings wiederum zurück in die Fichtau zu exportieren, wo Chelion eine entschuldbare, erotische Begegnung mit seinem Bruder Sixtus hat. Jodokus, entschlossen, sie zu töten, erkennt ihre eigentliche, unkulturalisierte Unschuld und kann sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen. Sie entnimmt den ursprünglichen Plan wiederum seinem Gesichtsausdruck und stirbt im Folgenden tragisch. Die Binnenerzählung greift den Kontrast zwischen Kultur- und Natur noch einmal nachdrücklich auf. Darauf kann in diesem Kontext nicht näher eingegangen werden, die »grüne Fichtau« ist einerseits geprägt von Geschichtslosigkeit und einem alles regenerierenden Zyklus (z. B. durch die wörtliche und markierte Wiederholung einer Naturdarstellung zu Beginn und gegen Ende des Texts, vgl. dazu auch Grätz, Traditionsschwund, S. 629), aber auch andererseits von einer musealen Kultur mit Bild- und Schriftarchiv. Vgl. dazu auch Michael Titzmann: Text und Kryptotext. Zur Interpretation von Stifters Erzählung ›Die Narrenburg‹. In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Hrsg. von Hartmut Laufhütte, Karl Möseneder. Heidelberg 1968, S. 335–373. Vgl. zur generellen Verortung von ›Die Narrenburg‹: Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart, Weimar 1995, S. 210–241.

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rich hier aus der Vita entnimmt, entspringt einer Individualisierung, die sich eben nicht vollständig als adaptierbare Erfahrung einebnen lässt, sondern die monolithisch als Fremderfahrung hervorsticht – ebenso wie die architektonische Konstruktion der Narrenburg,60 die Baustile nicht harmonisch integriert, sondern ihre Heterogenität museal ausstellt. »Das ist keine gute Einrichtung unserer Vorfahren«, dachte er, als er den von so vielen Lesern und Schreibern betretenen Pfad durch den alten Garten zurückging und im Schutte die Fußstapfen drückte, die so viele vor ihm drückt. Er konnte dem Rate des Jodok nicht folgen und das Gelesene in die Winde streuen, sondern mit beschwertem Herzen überall die Gestalt des Jodokus sehend, der vor kurzem hier gewandelt, dachte er: »wie viele Gestalten mögen sich noch hinzugesellen, bis der Garten voll Gespenster ist? […] Wie fürchte ich schon die Geschichte jenes Prokopus mit dem düsteren, funkelnd dürstenden Auge, das vielleicht zuletzt aus Verzweiflung nach den Sternen geschaut –?« (NB 427)

Mag die Einrichtung (die allgemein den »Vorfahren« zugerechnet wird) auch für nicht »gut« befunden und die vom Fideikommiss produzierten »Gespenster« sogar als bedrohlich empfunden werden: Das Fideikommiss bewährt sich letztlich und die Gespenster bilden das Extrakt, das seinen Fortbestand sichert. Denn die eigentümliche Ahnengalerie im Gebäudekomplex der Narrenburg, in der die Porträts von den Majoratsherren und ihren Familien aufbewahrt werden, bewegt Heinrich schließlich dazu (nachdem er seine Gesichtszüge in Jodokus’ Bruder Sixtus erkannt hat), seiner eigenen Ahnenreihe nachzugehen, das Erbe anzutreten und damit das Fideikomiss zu neuem Leben zu erwecken. Die Porträts folgen dabei in ihrer Verschiedenheit einem Prinzip: Sie sind »alle mit einem sonderbaren Zuge von Ueberschwenglichkeit [behaftet], wie mit einem Familienzeichen« (NB 384); insofern der Text den »Familienzug« mehrfach erwähnt,61 fällt auf, dass diese Familienporträts »aus dem Individuellen das Charakteristische und Typische herausstellen«.62 Damit bezeichnen sie zwar auf der einen Seite den Familienzug, gleichzei60

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62

»[U]nd was euer Schloß anlangt, junger Ohm, so würdet ihr Style genug sehen, wenn euch Ruprecht einmal hineinließe, ja ihr würdet Schlösser genug drinnen sehen, eine Sammlung von Schlössern, eine halbe Stadt von Schlössern, wie sie da herum auf allerlei rothe Steine angeklebt sind.« (NB 328) Dabei wird auch nicht die »Beobachtung« verschwiegen, dass die Porträts »augenscheinlich viel später gemalt wurden, als die Urbilder lebten, aber wahrscheinlich von vorhandenen, wenn auch schlechten Originalen« (NB 383); die einschlägige Mittelbarkeit, durch die sich die Narrative der Lebensberichte trotz aller prätendierten Unmittelbarkeit auszeichnen, bleibt auf diese Weise auch im visuellen Medium erhalten. Grätz, Traditionsschwund, S. 616,

266

tig aber auch das nicht gänzlich einzudämmende Individuelle, das durch die Avatar-Regelungen des Fideikommisses gleichsam eingehegt, d. h. eingefriedet und bewahrt wird. Nur auf diese Weise kann Heinrich seine Herkunft erkennen und sich wieder in die Genealogie einordnen, in der er offensichtlich eine wichtige Funktion erfüllt. Heinrich, der als »lesender Naturforscher oder naturforschender Leser«63 selbst eine Art Synthese der Natur-Kulturopposition bildet, befreit sich durch seine Entdeckung von den bedrohlichen Geistern, beginnt ein originäres, eigenes Leben und bildet somit den genauen Kontrast zur Tragik der Binnenerzählung, die mit dem Exempel der Scharnastschen Entgleisungen das Zentrum des Textes konstituiert.64 Diese Kontrasterfahrung korreliert mit der vieldiskutierten Geschichtserfahrung des Textes, die insgesamt ambivalent bleibt. Katharina Grätz etwa verweist auf den Verlust der Gegenwart und Vergangenheit (und damit eine Distanz zur Geschichte): Stifter entwirft also zwei antagonistische Modelle von Gegenwart: die zeitlosgültige der Fichtau und die traditionsüberladene des Rothensteins. Sie bleiben bis zuletzt unvermittelt und sind auch nicht wirklich integrationsfähig, da sie auf diametral entgegengesetzten Auffassungen von Geschichte beruhen.65

Tatsächlich ist die Geschichtslosigkeit des Endes im Kontext der entfalteten Handlung auf den ersten Blick frappant; Heinrich und Anna beziehen die »Narrenburg« in der Fichtau, wo es »ist, wie es immer gewesen, und wie es noch hunderte von Jahren sein wird.« (NB 436) Das Glück des Paares wird dabei zwar impliziert, der Erzähler verweigert hier allerdings eine sichere Prognose und schließt allein mit guten Wünschen: »Und so, du glückliches Paar, lebe wohl! Gott der Herr segne dich, und führe noch unzählige glückliche Tage über deinen Berg und die Herzen der Deinen empor.« (NB 436)

63 64

65

Weigel, Genea-Logik, S. 151. »Sieh nur, welch düstere Geschichten diese Trümmer reden« (NB 320), heißt es zu Beginn der Erzählung, später wird der erzählerische Perspektivwechsel von Gegenwart und Vergangenheit als Kontrast eingeführt: »Allein der Zweck der vorliegenden Blätter führt uns aus dieser harmlosen Gegenwart, die wir mit Vorliebe beschrieben haben, einer dunklen schwermüthigen Vergangenheit entgegen, die uns hie und da von einer zerrissenen Sage, oder einem stummen Mauerstücke erzählet wird, denen wir es wieder nur ebenso dunkel und mangelhaft nacherzählen können.« (NB 361) Grätz, Traditionsschwund, S. 629. Die Polyvalenz dieser Erzählung soll und kann hier nicht eingefriedet werden. Grätz verweist in diesem Sinne auf die letztlich fehlende Integration der verschiedenen Aspekte.

267

Mit diesem zuversichtlich-offenen Schlusstableau, das sich so nahtlos in die ahistorische Zyklizität der Fichtau einfügt, gelingt dem Text erneut die ambivalente Gratwanderung zwischen den Dichotomien: Heinrich, die sublimierte Narrenfigur des Textes, wird in seiner Eigentümlichkeit vom Wirt bereits zu Beginn scherzhaft als Spross des ausgestorbenen Geschlechts identifiziert, ein hellsichtiger Spass, der Heinrich allerdings auf die richtige Spur bringt. Die Formulierung des Wirtes basiert in der Tat auf einer bäuerlichen Beobachtung, die ebenfalls primär zyklisch scheint, dabei aber gleichzeitig entscheidende Konzepte einer evolutiven Veränderung benennt und auf das »Geschlecht« der Scharnasts überträgt: »Ich dachte mir, wenn der Julius eine Bauerndirne geheirathet hat, so könnte uns, weil die Art gewechselt wurde, wie man es mit dem Samenkorn der Felder thut, daß es wieder frisch anschlägt – es könnte uns so, was man sagt … ein gesetzterer Herr kommen.« (NB 335) Das Fideikommiss erscheint genau aus diesem biologisch-evolutiven Grund fortsetzbar. Es hat einen Erben erhalten, der blutsverwandt, aber genetisch wiederbelebt ist: »denn wenn es wahr ist, was ihm ein gesendeter Zufall erst kürzlich geoffenbaret, wenn er ein später Sprosse all dieser Männer ist, so war es dieser Jüngling Julius, durch den der Strom in sein fernes, abgelegenes Heimatthal geleitet wurde, daß er selbst nun heute, nach mehr als anderthalb Jahrhunderten, ein verschlagner, unbeachteter, letzter Tropfen desselben, vor der reichen Quelle stehe, aus der er kam.« (NB 384–385) Heinrich erweist sich als der gesuchte »gesetztere Herr«, der die Narrenburg übernehmen kann; und er ist nicht die einzige biologische Veredelung, die der Text vermerkt. Eine der Handlung seltsam unverbundene Nebenfigur wird explizit im Modus der »Vollendung« beschrieben:66 In der hohen Frau, die mit zwei blühenden Knaben wandelt, würde Niemand mehr die einstige Anna aus der grünen Fichtau erkennen; denn sie wird in Heinrichs Schule fast ein halbes Wunderwerk – aber ein anderes vollendetes Wunder steht neben ihr, ein Mädchen, namenlos schön, wie ein Engel, und rein und sanft blickend wie ein Engel; es ist Pia, die Tochter Narcissa’s und des unglücklichen Grafen Christophs, der eher gestorben, ehe er seine Sünde gut machen konnte. Heinrich hatte sie an Kindesstatt angenommen, nachdem er sie und den alten Ruprecht, die sich bei seiner Ankunft in dem Kastellanhäuschen verkrochen hatten, an sich gelockt und an sein Wesen und Thun gewöhnt hatte. Durch ein seltsa66

Vgl. dazu Gunter H. Hertling: Mignons Schwestern im Erzählwerk Adalbert Stifters. ›Katzensilber‹, ›Der Waldbrunnen‹, ›Die Narrenburg‹. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretation und Rezeption. Hrsg. von Gerhart Hoffmeister. New York 1993, S. 165–197.

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mes Naturspiel ist sie ihrer Großmutter Chelion ähnlich geworden, und zugleich ihrem Großvater Jodok, so daß man sie den Bildern nach für ein Kind dieser Beiden halten mußte; aber sie ist minder dunkel als Chelion, und noch um vieles schöner als das Bild derselben, was aber vielleicht nur der Jugend zuzuschreiben ist. Das Bild des zweiten Sixtus steht nun im grünen Saale auch offen, daneben Heinrichs und Anna’s, und jeder, der den Rothenstein besucht, kann sich von der vollendeten Aehnlichkeit Heinrichs und Sixtus überzeugen. (NB 435; gesperrte Hervorhebungen von Stifter, kursivierte von C.N.)

Chelion, die edle, wilde Ehefrau von Jodokus, ging in der zivilisierten, überfremdeten Welt zugrunde. Offensichtlich gelingt es Heinrich nun aber, diesen genetischen Pool erneut nutzbar zu machen und die Anlagen in einer harmonisch befriedeten Welt angemessen zu kulturalisieren. Der komplizierte Antagonismus von Natur und Kultur wird unter Heinrichs Hand versöhnt, befriedet und stillgelegt. Heinrichs »Wesen und Tun« scheint zur Entwicklung des verstörten Kindes ebenso beigetragen zu haben wie zu dem »halben Wunder«, seiner Ehefrau, die ihre neue Würde explizit »Heinrichs Schule« zu verdanken hat. Dass Pia allerdings in einer augenfälligen Hierarchisierung als »vollendetes Wunder« firmiert und durch ein »Naturspiel« eine schönere, d. h. auch optisch perfektionierte Version ihrer Großmutter wird, verdankt sich nicht nur dem kulturalisierenden Einfluss Heinrichs (der ja auch auf Anna einwirkt), sondern offensichtlich einer genetischen Disposition, die Pia – wie Heinrich – an das Geschlecht des Fideikommisses anbindet. Das Rechtsinstitut überlebt in seiner »lächerlichen« Anlage aufgrund der Erneuerungskraft der Natur; die »Mischung« hat das Geschlecht stark gemacht und in der Abweichung affirmiert. Nichtsdestoweniger ist die teleologische Vollendung offensichtlich einem kulturellen, nicht einem selbstläufig-evolutiven biologischen Einfluss geschuldet. Damit weicht die Erzählung dem übernommenen Tugendparadox aus, das Ubiquität der Normen und Individualität zugleich postuliert:67 Es wird ersetzt durch eine hier beherrschbar gemachte Natur-/Kultur-Dichotomie.68 67 68

Bei Stifter wird dies greifbar in der Regelung, die selbstverfassten individuellen Viten zur Voraussetzung des Erbantritts zu machen. Dies gelingt, weil unter der Hand ein neues Prinzip stark gemacht wird, das Herrschaft perpetuiert, nämlich eine biologische Kraft, die den Fortbestand der Scharnastschen Stiftung sichert. Damit erscheint die Verschriftlichung der Viten, die letztlich einem ähnlichen Zweck dienen sollte, zunächst als disfunktional. Langfristig allerdings macht sie die Individualität verfügbar (und würdigt sie so gewissermaßen), die Heinrich bezeichnenderweise als »Herz« wahrnehmen kann. Insofern die erzwungene Schrift beim Leser wieder in Emotion und Empathie transformierbar ist, ermöglicht das Archiv der Stellvertreter eine genuine Verbindung zur individuellen Verfassung des jeweiligen Autobiographen. Dass Heinrich die entscheidende Konversion in Individualität und Gefühl

269

Biologische Fakten kommen auf diese Weise als ein virulenter Aspekt von Vaterschaft ins Spiel – changierend zwischen Konstanz (Heinrich sieht aus wie Sixtus) und Mutation. Deutlicher noch als bei Tieck werden die Mängel des Rechtsinstituts auch biologisch kompensiert. Das Produkt der natürlichen Wiederbelebung, Heinrich, ist nun in der Lage, die Tradition der Narrenburg in eine sinnhafte umzuwandeln, wodurch die traditionsbegründende Setzung des Stifters nachträglich (bürgerlich) adaptiert und legitimiert wird.

5.

Schlussfolgerungen

Im Verlauf der Jahrzehnte wird die spezifische gesetzgebende ›Vaterschaft‹, die sich besonders nachhaltig im Kontext des Rechtsinstituts des Majorats manifestiert, nicht nur im Sinne bürgerlicher Verhaltenserwartungen umdefiniert, sondern sie wird auch zunehmend zu einer Entität, die sich immer mehr entzieht. Ausgehend von der konkreten Interaktion zwischen Vater und Sohn (im Kontext der institutsgeschuldeten Entfremdung der beiden) reicht die Entwicklung von einer grundsätzlichen Infragestellung dieser Rechtseinrichtung über ihre Verbürgerlichung bis hin zu einer ambivalenten Präsentation ihres museal-edukativen Wertes. Weder Eduard noch Heinrich begegnen dabei ihren Vätern: Sie werden in eine funktionierende Institution integriert, die jene in Hoffmanns und Arnims Erzählungen noch angeprangerten Mängel behoben hat. Es fällt auf, dass die Aussöhnung und Einschließung in dem Moment erfolgt, in dem der bürgerliche Sohn (oder der quasi-bürgerliche Sohn in der ›Die Narrenburg‹) das alte Rechtsinstitut übernimmt und dabei zugleich qualitativ verändert. Zudem scheint die bei Hoffmann einschlägige Konfrontation von Vater und Sohn zunehmend eliminiert, tauchen doch die konkreten biologischen Väter in den drei anderen Erzählungen nur noch als Reminiszenz vornehmen kann, liegt indes weniger an der Vorsorge des Fideikomissstifters, als vielmehr an jener bereits benannten biologischen Kraft der Regeneration (die im Kontext der Erzählung eine quasi providentielle Qualität gewinnt). Ulrike Vedder verweist auf die paradoxe Anlage des Rechtsinstituts, nämlich dass »das Fideikommiß alle Erben in eine Tradition zwingt, die ihre Kontinuität der Entindividualisierung qua Wiederholung verdankt, obwohl doch ein Mittel dieser Unterwerfung unter die Tradition ausgerechnet das Lesen und Verfassen von Lebensgeschichten darstellt, mithin eines Genres der Individualisierung.« Ulrike Vedder: Erbschaft und Gabe, Schriften und Plunder. Stifters testamentarische Schreibweise. In: Publications of the Institute of Germanic Studies 88 (2006) [zugleich Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 11(2004)], S. 22–34, hier S. 26.

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bzw. gar nicht auf. Nicht ganz zufällig ist in ›Die Narrenburg‹ der Stifter des Instituts auch in die ferne Vergangenheit gerückt und als Vorfahre kaum noch greifbar. Diese Entwicklung korrespondiert mit der zunehmenden Absenz des Vaters im bürgerlichen Haushalt (wie es bei Stifter ja auch historisch präzise für Heinrichs Kindheit angedeutet wird). Sowohl mit Blick auf die spezifische Anlage von Eduards bürgerlichem Majorat69 als auch auf die Ausgangssituation bei Heinrich hat die natürliche Vaterschaft nur noch als genealogische Legitimationsstrategie Bedeutung. Alle Erzählungen demonstrieren kunstvoll, dass diese Genealogie im Text zwar unbestritten bleibt, aber gleichzeitig einen Aspekt von Vaterschaft inszeniert, der bürgerlichen Intimitäts- und Individualitätsvorstellungen entsprechen muss. Gerade auch in Stifters biologisch motivierter Wiederbelebung70 wird die menschliche Interaktion zur Voraussetzung einer inhaltlich überzeugenden Neubegründung der als Erbgesetz tradierten Genealogie gemacht.71 »Vererbung« kann nur noch in einem bürgerlichen Wertekontext Sinn stiften und Legitimität perpetuieren. Damit usurpieren die Texte ein zentrales genealogisches Legitimations-Instrument des Ancien Régimes und definieren es um. Auffällig ist, dass die konkreten biologischen Väter bei Tieck und Stifter keine aktive Rolle spielen, sondern einen blinden Fleck darstellen. Gibt es bei Tieck noch den Grafen Seestern, der Eduard als Sohn betrachtet und der gleich zweimal durch eine bürgerliche Werteschulung gehen muss (erst mit Blick auf Pflicht, Entsagung und Tradition bei Jakoba, dann bezogen auf Tugend und Liebe bei Eduard), so entbehrt ›Die Narrenburg‹ jeder konkreten väterlichen Orientierungsfigur, bis schließlich in Heinrich ein neuer Stammvater Kontur gewinnt, der ganz im Sinne Stif69

70

71

»Immer der Aelteste, wenn mehr Söhne da sind, soll diese Aufgabe erfüllen, und die Tochter, wenn nur eine solche lebt, endigt das Verzeichniß und der Stamm gilt als ausgestorben.« (AP 161). Dabei erweist sich das Natürliche als das Richtige, vgl. die Stifter-Biographie von Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. München, Wien 1995, S. 177. Zur Stellung Stifters im Kontext der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert vgl. Monika Ritzer: Darwin und Darwinismus in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Der Materialismusstreit. Hrsg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke. Hamburg 2007, S. 154–185, hier besonders S. 155–156 zu Stifters ›Der Hochwald‹. Mit Blick auf die Positionierung der Natur muss hier auch auf die Krise der Teleologie im 19. Jahrhundert verwiesen werden. In ›Der Nachsommer‹ wird eine prästabilierte Ordnung mit Heinrich Drendorfs Bildungsgang korrespondieren. Vgl. dazu auch Jakob Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus. Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Göttingen 2007, S. 267.

271

ters kultiviert, sammelt, bewahrt und sich dabei zugleich als aktiver, individueller Vater und besonders auch Adoptiv-Vater bewährt. Sowohl im Scheitern als auch in der erneuten Legitimation des Majorats bzw. Fideikommisses werden damit postulativ Forderungen an eine legitime Form von Vaterschaft gestellt, die jedoch – gerade mit Blick auf das Juristische – noch keine konkrete Gestalt gewinnt. Die Aussöhnung zwischen VaterGesetz und filialem Individuum erfolgt zunächst noch abstrakt und verweist damit als Übergang noch auf die grundsätzliche Kollision beider Generationen, wie sie bei Hoffmann und Arnim evoziert wurde. Gleichzeitig wird hier bereits die Rückkehr der Vaterordnung im Sinne einer konfliktlosen Anerkennung der (nunmehr zu einer bürgerlich mutierten) väterlichen Macht angedeutet, die eine Versöhnung der intragenerationellen Rivalen im Rekurs auf einen bürgerlichen, intimen, individuellen Wertekontext wiederum zulassen würde, wie dies Stifters ›Der Nachsommer‹ vorführt.72 Die Majorate bei Tieck und Stifter funktionieren, zumindest nach ihrer Überholung, tatsächlich als semi-öffentliche Einrichtung, die Familie und legale Ermöglichungsstruktur zur Deckung bringt, eine Kongruenz, in der die inhärente Paradoxie allerdings nur punktuell, im Rekurs auf Hilfskonstruktionen, stillgelegt werden kann.

6.

Übergänge

In der Abfolge dieser vier hier vorliegenden Majorats-Erzählungen lassen sich massive historische Verschiebungen erkennen, die auch zu einer neuen Bewertung der Familie insgesamt führen und die romantische Ausgangskonstellation bei Hoffmann73 deutlich modifizieren. Bei Stifter er72

73

Martina Schwarz hält für Tieck fest, dass die Konflikte von Eltern und Kindern »meist ganz im Sinne der jüngeren Generation enden.« Schwarz, Die bürgerliche Familie im Spätwerk Ludwig Tiecks, S. 124. ›Die Ahnenprobe‹ erweist sich allerdings als komplizierter, insofern hier zwar auf der Personenebene der junge Mann triumphiert, er sich aber gleichzeitig einer traditionellen Ordnung einfügt. Da er diese durch seinen Eintritt auch zugleich verändert, handelt es sich bei Tiecks ›Die Ahnenprobe‹ um einen Transitionstext, der die Koexistenz beider Generationen als Kompromiss im Kontext der bürgerlichen Werte andenkt. Stifter bezieht sich auffällig auf Hoffmanns ›Das Majorat‹, etwa, indem er mehrdeutig den Vater von Julius als Musiker und Astronom einführt, dessen Aufenthaltsort ein Turm ist: »Mein Großvater hat uns erzählt, daß der Vater des Julius und Julianus, Graf Prokopus, oft ganze Nächte auf einem hohen Thurme saß – der Thurm steht noch – dort habe er lange Röhre auf die Sterne gerichtet, oder auf einem Instrumente musicirt, das lange, furchtbare Töne gab, die man Nachts weit im Gebirge hörte, als stöhnten alle Wälder.« (NB 333)

272

weist sich die Liebesgeschichte als nahezu vollständig konfliktlos. Die Reibungsfläche ist im Vergleich zu Hoffmanns Konstellation geschwunden. Dies muss auch mit einer Tendenz der Restaurationszeit zusammengedacht werden, nämlich dem ephemeren Bedeutungsverlust der Liebe zwischen Mann und Frau, die einer grundsätzlichen filial-paternalen Aussöhnung potentiell entgegensteht.74 Karl Immermann hat die zeitgenössische Familie 1840 in seinen ›Memorabilien‹ in diesem Sinne untersucht; er verweist bedauernd darauf, dass die Liebe […] eine leise Schattirung von der Freundschaft angenommen [hat], die Ehe daher, der Keim und Ausgangspunct der Familie, etwas von ihrem universellen Gehalte eingebüßt. Denn die Freundschaft läßt Mancherlei, ja sogar oft sehr Vieles neben sich zu, die wahre Liebe duldet eigentlich nichts Zweites in der Seele.75

Für Stifter läßt sich diese »leise Schattirung« zumindest mit Blick auf das Element der Passion bestätigen, die in den Texten (sowohl mit Blick auf verschiedene Arbeitsstufen als auch mit Blick auf textinhärente Gegenüberstellungen) entscheidend gezähmt wird und auf diese Weise besonders zur konfliktfreien Rückgewinnung der Familie und einer grundsätzlichen Stabilisierung der Lebensverhältnisse beiträgt.76 Auch in ›Die Narrenburg‹, in der Heinrich und Anna durch eine typisch »romantische« Liebe verbunden sind,77 wird diese sorgfältig abgegrenzt von der fatalen, 74

75

76 77

Vgl. dazu immer noch grundlegend Friedrich Sengle zur Biedermeier-Zeit: »Die Freundeskreise sind, auch abgesehen von religiösen Zielsetzungen, für diese Zeit ebenso charakteristisch wie für das 18. Jahrhundert und die Romantik: denn nur im kleinen geselligen Kreise kann sich sachliche Arbeit, sachliches Interesse mit den Bedürfnissen des Gemüts verbinden. Die Liebe zwischen Mann und Frau freilich spielt in diesen Kreisen keine so große Rolle mehr.« Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 1. Stuttgart 1971, S. 56. Sengle erklärt aus dem zunehmenden »erotischen Dämonismus« den Kult der Familie in der Biedermeierzeit. Ebd., S. 56. Karl Immermann: Memorabilien. Erster Theil, Hamburg 1840, S. 126. Vgl. auch: »Die Familie der Gegenwart hat also von dem schönen Grundschema der Liebe, welches ich früher aufzeichnete, eine Ausbeugung nach der Rechts- und Verstandessphäre hin genommen. Gewisse Normen treten in ihr marquirter hervor und bringen sie einem contractlichen oder verfassungsartigen Verhältnisse näher. Alles ist einfacher im Hause geworden; wenn man will, vernünftiger, aber auch nüchterner, kälter.« Ebd., S. 146. Vgl. dazu das Kapitel zu ›Der Nachsommer‹. »Gegen die Natur, geliebtes Herz, kann man nicht falsch sein, man ist es nur gegen Wiederfalsches – man verläßt nur den, der uns verließ, noch ehe er uns fand, weil er in uns nur s e i n e Freude suchte. Du liebst, wie die Sonne scheint; du siehst mich an, wie sich das gränzenlose Himmelblau der Luft ergießt; du kommst, wie der Bach zum Flusse hüpft, und wandelst, wie der Falter flattert: und gegen den schönen Falter, gegen den Bach, die Luft und gegen das goldne Sonnenlicht bin ich nie falsch gewesen, und gegen dich ver-

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illegitimen Liebe zwischen Jodokus’ Bruder Sixtus und Chelion, die im quasi unschuldig begangenen Ehebruch der einsamen Fremden kulminiert und tragisch scheitert. Wurde in den vorangegangenen Kapiteln die unkontrollierbare Sexualität zu einem Status-Problem für den Vater, so wird sie in ›Die Narrenburg‹ (in der Annas Vater, der Wirt, keine tragende Rolle innehat) in der narrativ vorgegebenen Evolution beseitigt.78 Noch in einer anderen Hinsicht ist Immermanns Zeitkritik eine interessante Quelle für die Verschiebungen in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, nämlich mit Blick auf das Verhältnis von Familie und Staat. Immermann konzentriert sich vor allem auf die gegenseitige Durchdringung von Staat und Familie, die gegenseitig von den Strukturüberlappungen profitieren und auf diese Weise den problematischen Modernisierungserscheinungen trotzen können: Zwischen beiden göttlichen Momenten, nämlich zwischen dem Sacramente der Treue und dem Sacramente der Hoffnung, wächst und quillt unsere Familie, denn mit Mann, Weib und Kind ist die Familie binnen ihrer notwendigen Grenzen vollendet. Es folgt daraus, daß während sie bei anderen Völkern »ehr Mittel zum Zweck oder äußere Veranstaltung ist, sie bei uns selbst den Zweck bildet und alles Aenßerliche in ihr dem Innerlichsten eingeschrieben und aufgetragen erscheint. Es folgt ferner, daß der Deutsche über sie hinaus sich schwerlich einen Zweck sehen kann, denn zu allen Zeiten kam es dem Volke in seinen besten Repräsentanten nur darauf an, daß diese sich als Person hatten und besaßen und folglich auch Andere als Personen erkannten, in dieser Erkenntniß aber sie hatten und besaßen. Mithin wird die deutsche Familie die unselbstische, erweiterte Person. Endlich folgt, daß, wenn gesagt worden ist, auf den Familien ruhe der Staat und solle darauf ruhen, dieß für uns nur folgende Bedeutung haben kann: Staat und Familie sollen auch bei uns in das engste Bündniß geschlungen werden, so jedoch, daß der Staat das nothwendige, ehrwürdige und heilige Mittel bildet, um das Familiendaseyn zu erschaffen, freilich nicht das abgelegene und kümmerliche, egoistische eines Pfahlbürgers, sondern das sich in reicher Liebe Mitteilende, Stattliche, Selbstvergessene. Keinesweges aber kann jemals das Umgekehrte bei uns gelten. Nie kann die Familie das leblose Gerüst werden, auf welchem man in die luftige Region eines unter solchen Voraussetzungen auch gar nicht bei uns möglichen politischen Lebens emporklimmt. Von den Beziehungen

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möcht’ ich’s nicht zu sein um alle Reiche dieser Erde – siehe, Anna, es ist so: – – aber, Anna, sage, liebst du mich denn auch wirklich so, so unaussprechlich, so über alles Maß, wie ich dich liebe? – – so sag es doch, Anna – – nicht?!« (NB 348) Sogar ein inniger Kuss wird schließlich ausgetauscht; zugleich verweigert Anna konsequent weitere heimliche Treffen mit der Begründung: »Nein, Heinrich, es ist nicht recht.« (NB 352) In diesem Sinne lässt sich hier tatsächlich mit Friedrich Sengle festhalten: »In der erweiterten Familie liegt die seelisch-geistige Grundlage der Biedermeierkultur.« Sengle, Biedermeierzeit, S. 57; Hervorhebung von C.N.

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zum Staate aus soll die Familie entledigt werden aller Kleinlichkeit, in den Staat hinüber soll dagegen der Mann alle Warme tragen, die er in seinem Hause empfing, und für Alles, was er da draußen leistete, soll ihn wieder die Blüthe des Hausgeistes belohnen. Diese wäre wohl die richtigste und schönste Wechselwirkung zwischen germanischem Staat und germanischem Hause, und auf solche Weise konnte sich ein modernes Ritterthum erzeugen, weniger phantastisch und glänzend als das der Tafelrunde, aber tugendhafter, solider und vor allen Dingen aufrichtiger als Jenes. Wenn die deutsche Hausfrau die Dame würde, um deren Dank der Mann im Turnier des öffentlichen Lebens seinen Speer verstäche, so wäre jenes Ritterthum eingesetzt.79

Auch hier findet sich der Verweis auf ein »modernes Ritterthum«, dessen Realisierungsoptionen schon bei Tieck durchgespielt wurden: Hier soll es aus der »Wechselwirkung« zwischen »germanischem Staat« und »germanischem Haus« generiert werden, in einer Verschmelzung häuslicher »Wärme« und staatlicher Würde. Obwohl der Staat den Familien als Bedingung vorgeordnet wird, findet sich auch hier die ideologische Kernzelle der Familie in der Verbindung zwischen Hausfrau und Mann, die im Sinne eines gediegenen, »soliden« und »tugendhaften« »Ritterthums« veredelt werden sollen. Der Staat wird zum (heiligen) »Mittel« der Familienbildung und ist auf diese strukturbildende Weise den Familien verbunden. Entscheidend dabei erscheint die Implementierung der »Tugend«, der »Intimität« und der sakralen Paarliebe, die wiederum, vice versa, zu staatlich relevanten Kernwerten avancieren. Zentrale Normen werden damit zugleich für beide Sphären relevant, ähnlich wie in den Erzählungen, wo öffentlich-rechtliche Strukturen (Majorat) und privat-rechtliche Strukturen (Familie) mit identischen substantiellen Inklusionsmustern funktionieren. Die erfolgreiche Perpetuierung des Majorats hängt also genau an diesem Inklusionsprinzip, d. h. an der Kompatibilität mit der familialen Individualität und den bürgerlichen Tugenden, und scheitert bei Hoffmann und Arnim dementsprechend am ent-individualisierenden Machtmissbrauch der Väter. Die von Immermann beschriebene, gegenseitige Überlagerung von Staat und Familie verschiebt sich wiederum auffällig nach 1848/49, wenn sich zunehmend eine politisch-öffentliche Sphäre im dezidierten Gegensatz zur privaten herausbildet, in der die Rolle des Vaters nochmals neu positioniert wird. Im nächsten Kapitel sollen die damit verbundenden Ethiken mit Blick auf öffentliche und private paternale Rollen genauer untersucht werden. 79

Immermann, Memorabilien, S. 107–109; Hervorhebungen von C.N.

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VII. Hebbel: Die beherrschte Schizophrenie

1.

›Agnes Bernauer‹: Vater, Sohn und Schwiegertochter

›Agnes Bernauer‹ knüpft an die Frage von Menschenrechten an, wie sie in Schillers Don Karlos aufgeworfen wurde und fügt sich dabei hochaktuell in die neuakzentierten Fragestellungen um 1850 ein.1 Gleichwohl hat sich die Konstellation bei Hebbel entscheidend verändert, insofern die individuellen Rechte, die unverbrüchlich schienen, zugunsten einer spezifischen Staatsräson2 (ganz im Sinne der von Foucault beschriebenen Umstellung auf die rationalen Prinzipien des Regierens)3 aufgeopfert werden. Die Geschichte um Agnes Bernauer ist hinreichend bekannt, in ihrem historischen Kern in der ›Bayerischen Chronik‹4 verbürgt und liegt in zahl1

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3 4

Dabei handelt es sich um das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft, wie es etwa auch von John Stuart Mills in seinem einleitendem Passus zu ›On Liberty‹ skizziert wird: »The subject of this Essay is not the so-called ›Liberty of the Will‹, so unfortunately opposed to the misnamed doctrine of Philosophical Necessity; but Civil, or Social Liberty: the nature and limits of the power which can be legitimately exercised by society over the individual. A question seldom stated, and hardly ever discussed, in general terms, but which profoundly influences the practical controversies of the age by its latent presence, and is likely soon to make itself recognised as the vital question of the future. It is so far from being new, that, in a certain sense, it has divided mankind, almost from the remotest ages; but in the stage of progress into which the more civilised portions of the species have now entered, it presents itself under new conditions, and requires a different and more fundamental treatment.« John Stuart Mill: On Liberty. 4London 1985, S. 59. Helmut Kreuzer: Hebbels ›Agnes Bernauer‹ (und andere Dramen der Staatsraison und des politischen Notstandsmordes). In: Hebbel in neuer Sicht. Hrsg. von Helmut Kreuzer. 2Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1969, S. 267–293. Kreuzer geht dabei auch auf die Trennung der Sphären Öffentlichkeit und Privatheit ein, insofern Agnes ein rein privater Verantwortlichkeitsbereich zugewiesen wird, in dem sie tugendhaft existieren kann, vgl. insbesondere S. 275. Dazu auch Kreuzers Synopse von Agnes’ Aussagen und Bibelstellen ebd., S. 281–282. Vgl. zu Agnes’ Opferstatus auch die folgende Argumentation. Zur Opposition von Liebe und Staatsräson vgl. den Aufsatz von Heinz Stolte: Liebestod und Staatsräson. Zur Interpretation von Hebbels ›Agnes Bernauer‹. In: Hebbel-Jahrbuch (1988), S. 9–30. Stolte negiert den Triumph der Staatsräson und stellt dagegen die »Verherrlichung der über alle menschliche Satzung im Tode triumphierenden Unbedingtheit irdisch-himmlischer Liebe als einer unmittelbar gottgewollten Kraft« heraus. Ebd., S. 27. Foucault, Gouvernementalität I, S. 359. Vgl. dazu Karl Pörnbacher: Agnes Bernauer – Literatur und Wirklichkeit. In: Hebbel Jahrbuch (1976), S. 107–123.

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reichen literarischen Adaptionen vor.5 Bei Hebbel verliebt sich der junge Albrecht, der Sohn des regierenden Herzogs von Bayern, in die schöne und tugendhafte Agnes, heiratet sie entgegen allen Standes- und Vernunftvorgaben und löst mit dieser dynastischen mesalliance eine Staatskrise aus, die der Vater Ernst zunächst mit einer Änderung der Erbfolge beherrschbar zu machen versucht. Als der letzte mögliche Anwärter auf die Herrschaft in Bayern stirbt und Ernst einen Erbfolgekrieg befürchten muss,6 unterschreibt er ein rechtliches Gutachten, das Agnes’ Hinrichtung als Hexe anordnet. Agnes stirbt, die Versöhnung von Vater und Sohn folgt nach einer profunden Erörterung der (landes-)väterlichen Beweggründe. Das Stück ›Agnes Bernauer‹ knüpft an den Individualisierungsgestus bei Kleist und in den Majoratserzählungen an und stellt mit Blick auf die Moral und ihre bisher beschriebene Ein- und Ausschlussfunktion eine aufschlussreiche Inversion der Lessingschen Trauerspielkonstellation7 dar.8 Ernst »opfert« seine (Schwieger-)Tochter nicht, weil sie in ihrer Tugend als bedroht erscheint, sondern, weil sie konsequent und im Einklang mit allen bürgerlich ge-genderten Tugendvorgaben an der privaten Sonderwelt festhält und sich weigert, ihren Mann im Zuge eines Quid-proQuos (im Tausch gegen ihr Leben) aufzugeben. Als Ehefrau in einem dynastischen Kontext ist sie zwar per se unhaltbar, als verstorbene geliebte Gattin in sentimentaler Hinsicht allerdings wird sie damit verehrungswür5

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Vgl. dazu als Überblick Alfons Huber: Agnes Bernauer im Spiegel der Quellen, Chronisten, Historiker und Literaten vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Ein Quellen- und Lesebuch. Attenkofer, Straubing 1999. Dieser Krieg wäre angesichts der fehlenden Legitimation immer unumgänglich, ob das junge Paar nun Kinder zeugt oder nicht. Das intertextuelle Bezugssystem erweist sich hier als komplex. Besonders der Gattungskontext muss im Zusammenhang mit der nationalen-staatsrechtlichen Auslegung des Stücks konsistenter beleuchtet werden. Andrea Rudolph etwa untersucht besonders die intertextuellen Bezüge zu ›Die Wahlverwandtschaften‹ und ›Prinz Friedrich von Homburg‹, vgl. Rudolph: Friedrich Hebbels Drama ›Agnes Bernauer‹ im Licht seiner Goetheund Kleistlektüre. In: Hebbel Jahrbuch (1994), S. 48–81. Die Parallelen, die Rudolph zwischen beiden Stücken zieht, sind zwar überzeugend, werden hier aber zugunsten eines anderen Kontextes vernachlässigt. Vgl. auch Andrea Rudolph: Genreentscheidung und Symbolgehalt im Werk Friedrich Hebbels. Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a. 2000, S. 359–396. Eine beständige Referenz auf ›Emilia Galotti‹ findet sich u. a. in Claudia Pillings Dissertation: Hebbels Dramen. Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a. 1998. Bezüge zu Sophokles wurden ausgehend von Hebbels Aussage, dass es sich bei ›Agnes Bernauer‹ um eine moderne ›Antigone‹ handle, ausführlich diskutiert. Legion ist zugleich die Literatur zu den Gattungsparallelen zwischen ›Agnes Bernauer‹ und dem bürgerlichen Trauerspiel. Zudem handelt es sich auch um eine Umkehrung der Schillerschen Schlussfolgerungen, vgl. das Folgende.

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dig. Ernst signalisiert mit der uneingeschränkten Anerkennung post festum sein Einverständnis mit den bürgerlichen Werten und Tugenden, die sie9 verkörpert.10 Sein doppelter Zugriff stellt dabei durchaus eine Herausforderung für das Publikum dar,11 das sich an bestimmte literarische Konventionen und Plotstrukturen gewöhnt hatte.12 Die dabei aktualisierten Wertehorizonte sind, ex negativo, ein konstitutiver Bestandteil der Hebbelschen Analyse von Herrschaft, Macht und Familie.13 Bei Hebbels Drama handelt es sich in diesem Sinne auch um eine präzise Untersuchung der Paradoxie von Väterlichkeit und bürgerlichen Werten. Es bestätigt die Ideologeme bürgerlicher Identität, führt aber zugleich im Zuge der historischen Umbrüche ein noch umfassenderes Konzept ein: persönliche Entsagung14 und Subordination des Individuellen unter das Allgemeine (nämlich dann, wenn sich das Individuelle und das Allgemeine als inkongruent erweisen). 9

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Anders als ›Emilia Galotti‹ (zumindest in der Hebbelschen Perspektive) erscheint die Protagonistin des Hebbelschen Stückes – ausgehend von bürgerlichen Tugendkonzepten – ohne jeden Makel. Vgl. dazu Manfred Durzaks Zusammenfassung von Hebbels Äußerungen zu ›Emilia Galotti‹: Durzak: »Außer der Bernauerin ist Niemand naß geworden.« Hebbels problematischer Beitrag zur Geschichte des Bürgerlichen Trauerspiels in ›Agnes Bernauer‹. In: Hebbel-Jahrbuch (2001), S. 83–102, hier besonders S. 87–90. Auffällig ist dabei die intertextuelle Verbindung zu Kleists Stück ›Käthchen von Heilbronn‹, das Hebbel aufgrund der Traumszenen nicht besonders schätzte: Ähnlich wie Agnes als »Engel von Augsburg« mit einem kollektiven Beinamen ausgestattet, erweist sich Käthchen jedoch als die natürliche Tochter des Kaisers; Agnes dagegen bleibt die Badertochter, auch wenn Albrecht in ihr eine Kaiserin sieht: »noch dieses Armband, und (er führt sie ritterlich vor.) die Kaiserin ist fertig! Denn, das ahntest du nicht, eine Kaiserin wollt’ ich machen, und sie steht da, setz’ dich auf den ersten Thron der Welt, und in tausend Jahren wird nicht kommen, die sagen darf: erhebe dich!« Friedrich Hebbel: Agnes Bernauer. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Richard Maria Werner. 1. Abteilung, Bd. 3. Berlin 1904, S. 187. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als AB mit entsprechender Seitenzahl. Öffentliche Würde und private Schönheit sind nicht wie bei Käthchen miteinander verknüpft, sondern bilden die tiefe Kluft zwischen öffentlicher Legitimation und privater Motivation, die im Stück auf der Herrscherebene streng getrennt werden. Georg Gottfried Gervinus beschreibt wie bei der Erstaufführung »Hunderte das Haus« verließen, weil Hebbel dem »traurige[n] Ereignis« die Glorie der Gerechtigkeit verliehen hatte. Vgl. Pörnbacher, Erläuterungen und Dokumente, S. 91. Ähnlich motiviert sahen zeitgenössische Kritiker diesen Bruch und prangerten den moralischen Mord im Sinne eines politischen Stratagems als unmoralisch an. Vgl. Pörnbacher, Erläuterungen und Dokumente, S. 94. Die wirkungsästhetischen Aspekte sind hier zwar indirekt wichtig, weil sie das Ungewohnte an der Darstellung des gegen das Selbstverständnis des Bürgertums handelnden Herzogs zeigen, können hier aber nicht weiter erschlossen werden, vgl. dazu Rudolph, Agnes Bernauer, besonders S. 68–69. Vgl. dazu ebenfalls genauer Rudolph, Agnes Bernauer, S. 63–67. Rudolph liest das Entsagungskonzept mit Blick auf Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Im Folgenden wird allerdings terminologisch davon abweichend der Terminus »Opfer« in einem anderen Zusammenhang verwendet.

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Um die Rolle Ernsts im Kontext des Dramas bewerten zu können, müssen die Rahmenbedingungen des Textes kursorisch beleuchtet werden. Das Stück, das nach dem einschneidenden Erlebnis der Revolution 1848, die Hebbel in Wien erlebte, verfasst wurde,15 positioniert sich politisch in der Gegenwart der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts.16 Aspekte der Handlung verweisen auf diesen Kontext, so etwa der auffällig zusammenhanglose, die Handlung retardierende Dialog zwischen dem Bürgermeister von Augsburg und einem Ritter Albrechts:17 B ü r g e r m e i s t e r : Ja, Herr Ritter, so läuft nun alles seit jenem unseligen Katharinen-Abend, wo wir den Pöbel mit in den Rath aufnehmen mußten, bei uns durcheinander! Perlen und Erbsen in Einem Sack, der Herzog wird das Ausklauben mühsam finden, mich wundert, daß er kommt! N o t h h a f f t v o n We r n b e r g : Ihr habt Euch noch immer nicht gewöhnt? Es ist doch schon lange her. B ü r g e r m e i s t e r : Noch nicht lange genug, daß die Hoffnung auf die Rückkehr der guten alten Zeit schon ganz erstickt sein sollte. Seht den Dicken da, das ist der Zunftmeister der Bäcker, der macht die Ehre der Stadt. Seht doch hin! Wenn er dem ankommenden Gast, den er zu begrüßen hat, nicht mit seinem Stierkopf den Brustkasten einstößt, so zerschmettert er einem schon anwesenden ganz sicher durch den Kratzfuß das Schienbein! Was sagt Ihr? Ist’s nicht, als wenn ein Pferd ausschlüge? Und das sollte man gewöhnen! N o t h h a f f t v o n We r n b e r g : Ihr hättet Euch besser wehren sollen! B ü r g e r m e i s t e r. Wir wurden überrumpelt! Kaiser und Reich hätten uns besser beistehen sollen! Was nöthigte die Majestät, den vermaledeiten Zunftbrief, der uns abgezwungen wurde, hinterher mit Ihrem Siegel zu versehen? Wir hatten genug zu thun, daß wir uns nur nicht selbst unter die Metzger und Handschuhmacher aufnehmen lassen und unsere alten Namen mit neuen vertauschen mußten. Denn das wurde verlangt. (AB 152–153)

Es ist nötig, diese Szene ausführlicher zu zitieren, weil sie den legitimatorischen zeitgenössischen Kontext darstellt, in dem Ernst agiert: Wenn der Bürgermeister gegen die unzukömmliche Teilhabe der Zünfte protestiert, so ist diese Form der politischen Partizipation auch als eines der Ziele der bürgerlichen Revolution von 1848 zu verstehen. Der Bürgermeister wird in seinem Dünkel nachhaltig ironisiert und gegen die Volksverbundenheit des Herzogs abgegrenzt. Manfred Durzak deutet das Bestreben des Her15

16 17

Hans Wißkirchen: »Ich weiß sehr wohl, daß Blut nicht unter allen Umständen ein zu kostbarer Saft ist«. Friedrich Hebbel und die Gewalt in der Revolution von 1848. In: Alles Leben ist Raub. Aspekte der Gewalt bei Friedrich Hebbel. Hrsg. von Günter Häntzschel. München 1992, S. 241–256. Vgl. dazu auch Martin E. Smith: Das Zeitbewußtsein und seine symbolische Gestaltung in Hebbels ›Agnes Bernauer‹. In: Hebbel-Jahrbuch (1971/72), S. 93–130. Dies gilt auch, wenn die Grundkonstellation, die dynastisches Gottesgnadentum über die Blutslinie definiert, anachronistisch erscheint und sich deswegen die mittelalterlichen Verhältnisse nicht als vollständig übertragbar erweisen.

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zogs, die territoriale Integrität seines Landes wiederherzustellen, als restauratives Unterfangen, das der konservativen Einstellung des Bürgermeisters auf einer anderen Ebene entspricht: »Der oberste Repräsentant des Bürgertums in der Stadt Augsburg und der oberste Repräsentant Bayerns werden gleichermaßen von den Wunschvorstellung einer Restauration der alten Zustände beherrscht.«18 Ernsts Hoffnung auf die Restitution des ursprünglichen Staatsgebiets ist allerdings kaum als intendierte Rückkehr zum Alten zu verstehen, sondern scheint vielmehr als Protektion der Interessen der Untertanen gedacht, von denen Ernst in einer bezeichnenden Reziprozität dann auch ekstatisch empfangen wird.19 Damit kollidieren in meiner Lesart nicht ein modernes, individuelles Liebeskonzept und eine veraltete Territorialpolitik, sondern vielmehr wird das moderne Individualitätskonzept mit einer spezifischen20 Vorstellung vom Staat kurzgeschlossen. Die für die Schürzung des tragischen Knotens unentbehrliche dynastische Frage erweist sich in der Axiologie des Stückes ebenfalls nicht als obsolet. Sie berührt im Konflikt zwischen einem (hier anachronistisch als dynastisch gefassten) überindividuellen Konzept der Repräsentation und der individuellen Liebesheirat vielmehr Kernfragen des Stückes. Ernst ist in erster Instanz der Repräsentant des Staates, so lautet die Eigenwahrnehmung und das herrscherliche Selbstverständnis. An dieser Motivation läßt er selbst keinen Zweifel, indem er zunächst die Verheiratung des Sohnes nach machtpolitischen Kriterien betreibt und dann dessen heimliche Liebesheirat gewaltsam annihiliert. Ernst sieht sich dem Volk gegenüber als Vollstrecker einer gouvernementalen Politik, die zwar nicht direkt dem Volkswillen entspringt, aber das Beste für Volk und Staat intendiert. Der Staat erscheint bei Hebbel folgerichtig als Instrument der sittlichen Idee und als Grundbedingung allen »menschlichen Gedeihens«.21 Das Volk steht als passive Kontrollinstanz im Hintergrund, an ihm werden die Erfolge der Politik messbar.22 18 19 20 21

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Manfred Durzak: Politisches oder politisiertes Drama? Bemerkungen zu Hebbels ›Agnes Bernauer‹. In: Hebbel-Jahrbuch (1973), S. 9–31, hier S. 22. Vgl. dazu Martin Neufelder: Die Staatsauffassung Friedrich Hebbels. In: Hebbel-Jahrbuch (1975), S. 62–111. Trotz der de facto monarchischen Staatsform ist die Staatsauffassung im Wesentlichen durch bürgerliche Werte gespeist, vgl. dazu das Folgende. Neufelder, Die Staatsauffassung Friedrich Hebbels, S. 94. »Nach Anschauung Hebbels ist Staat die metaphysisch und historisch begründete, dem Individuum übergeordnete in seiner Form nicht festgelegte und mit Macht ausgestattete, soziale Realität mit der Aufgabe, die Menschenrechte grundsätzlich zu achten und das Wohl der Staatsbürger zu fördern.« Ebd., S. 103. Eine aktive Mitbestimmung ist dabei angedacht und im Parlament von Augsburg andeutungsweise vorgeführt.

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Ernsts Macht ist dabei aus verschieden legitimierten Anteilen zusammengesetzt: Peter Schneider23 und (an seine Überlegungen anknüpfend) Axel Schmitt24 haben die »Legitimierung der Gewalt« in ›Agnes Bernauer‹ untersucht und sich dabei an der Dreiteilung auctoritas, veritas und divinitas orientiert. Alle drei Aspekte erweisen sich als zentral in Ernsts Überlegungen zur Rolle der Fürsten im Staat: Schau’ dies Banner an, es ist Dein Bild und kann dich’s lehren! Es ward aus demselben Faden gesponnen, woraus der letzte Reiter, der ihm folgt, sein Wamms trägt, es wird einst zerfallen und im Wind zerstäuben, wie dieß! Aber das deutsche Volk hat in tausend Schlachten unter ihm gesiegt, und wird noch in tausend Schlachten unter ihm siegen, darum kann nur ein Bube es zerzupfen, nur ein Narr es flicken wollen, statt sein Blut dafür zu verspritzen und jeden Fetzen heilig zu haken! So ist’s auch mit dem Fürsten, der es trägt. Wir Menschen in uns’rer Bedürftigkeit können keinen Stern vom Himmel herunter reißen, um ihn auf die Standarte zu nageln, und der Cherub mit dem Flammenschwert, der uns aus dem Paradies in die Wüste hinaus stieß, ist nicht bei uns geblieben, um über uns zu richten. Wir müssen das an sich Werthlose stempeln und ihm einen Wert beilegen, wir müssen den Staub über den Staub erhöhen, bis wir wieder vor dem stehen, der nicht Könige und Bettler, nur Gute und Böse kennt, und der seine Stellvertreter am strengsten zur Rechenschaft zieht. Weh’ dem, der diese Uebereinkunft der Völker nicht versteht, Fluch dem, der sie nicht ehrt! (AB 233–234)

Aus diesen Ausführungen ergeben sich einige wichtige Schlussfolgerungen: Das Banner wird als Entsprechung Albrechts verstanden. Die materielle Identität des Stoffes, aus dem sowohl das Banner als auch die Wämser des Heeres gefertigt sind, verweist auf den symbolisch-repräsentativen Unterschied, der eben kein substantieller, sondern ein akzidenteller ist. Zugleich ist das Banner auf dieser symbolischen Ebene eben nicht identisch mit dem Heer, sondern repräsentiert es vielmehr. Wenn Ernst betont, dass die physische Integrität dieser Standarte im Vergleich zur ihrer unzerstörbaren Essenz unerheblich ist, verlässt er auf der Gleichnisebene die real-körperliche Sphäre und evoziert eine geläufige Doppelung, die an die duale Qualität des Königsleibes als unvergänglichen body politic und sterblichen body natural erinnert.25 Innerhalb dieses Zitates wird die stoff23 24 25

Peter Schneider: »… einzig ein Volk von Brüdern«. Recht und Staat in der Literatur. Frankfurt am Main 1987. Axel Schmitt: »Auctoritas«, »Veritas« oder »Divinitas«? Zur Legitimierung der Gewalt in Hebbels ›Agnes Bernauer‹. In: Alles Leben ist Raub, S. 165–182. Die christliche Theologie des Mittelalters kontruierte in einer kasuistischen Auslegung der Plowden Reports die Dualität des Königskörpers, geleitet von dem Mysterium der zwei Körper Christi: »Das Theologumenon, daß die Menschen im Körper Christi eine

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liche Identität des Banners (metonymisch für Führer) mit den Wämsern (metonymisch für das Heer) postuliert und auf diese Weise auch die »Menschlichkeit« des Herrschers impliziert. Diese spezifische Qualität setzt sich auf der Regierungsebene fort. Zwischen Rechtsvorgaben und Gottesurteilen26 bleiben auch die Ratschlüsse des Herzogs menschlich, aber auf (das Streben nach) Werte(n) verwiesen, anhand derer man in einem transzendent gefassten Jenseits gemessen wird. Seine auctoritas versteht sich als Anweisung auf veritas (die von der divinitas im Jenseits festgestellt wird) und ist nur als solche legitimierbar. Die Deutung im Diesseits wird der auctoritas überanwortet (was die relative moralische Flexibilität Ernsts erklärt). Eine diesbezügliche, wertesetzende und -protegierende Verantwortung des Herrschers wird hier besonders betont und von Ernst auch in diesem Sinne wahrgenommen. Er begreift seine Verpflichtung zu handeln als unabweisbaren Schutzauftrag, da ihm die Sicherheit und das Wohlergehen seines Volkes obliegt;27 er wird zum wichtigsten Exekutivorgan:28

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Einheit bilden, die wiederum in der ecclesia ihren sozialen Ausdruck findet, wurde seit dem Spätmittelalter auf die Konstruktion des Königstums übertragen. Der politische Leib der Monarchie repräsentiert das Gefäß für die physische Existenz der Untertanen, stellt mithin einen Rahmen dar, der das natürliche Leben umgibt und zur institutionellen Gestalt formt.« Peter-André Alt: Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. Berlin, New York 2004, S. 10. Nur die Legitimation, die dieses Staatsgebilde einsetzt, speist sich noch aus dem alten Legitimitätsdenken (und natürlich aus einer spezifischen Gerechtigkeits- und Wahrheitskonzeption) des Stücks, das auf eine partielle metaphysische Valorisierung der vorgetragenen Konzepte angewiesen ist. Hier geht es nicht mehr um dynastische Machtspiele, was deutlich wird, wenn Ernst erwägt, seinen verhassten Konkurrenten Ludwig von Ingolstadt und Heinrich von Landshut auf der legitimistischen Basis des Blutrechts die Herrschaft zu übertragen: »E r n s t : Ihr greift mich hart an, Ihr meint, ich könnte noch mehr thun! Und wahr ist’s: in den Adern Ludwigs von Ingolstadt und Heinrichs von Landshut fließt das Blut des Geschlechts ebenso rein, wie in meinem eig’nen! P r e i s i n g : Daran hab’ ich noch nicht gedacht! E r n s t : Aber ich! Zwar wär’s so arg, daß wohl auch ein Heiliger fragen würde: Herr, warum das mir? Doch, wenn’s nun wär’? Der letzte Hohenstaufe starb durch Henkers Hand, mit Gottes dunklem Rathschluß kann viel bestehen, was der Mensch nicht faßt. Aber dieß kann Gottes Rathschluß nicht sein, denn es hälfe Nichts, und das ist mein Trost! Spräche ich zu Heinrich: Komm, Fuchs, Du hast mir mein ganzes Leben lang Fallstricke gelegt und Gruben gegraben, nimm mein Herzogthum zum Lohn! so führe Ludwig dazwischen. Spräche ich zu Ludwig: Ich bin dir noch den Dank für so manchen Schlag schuldig, der von hinten kam, hier ist er! so griffe Heinrich mit zu, und Einer könnt’s doch nur sein! Oder ist’s nicht so?« (AB 202–203) Insgesamt deutet sich Ernst in diesem Sinne vor allem als Diener des Staates/Volkes. Das bewegt sich im Einklang mit organischen Vorstellungen, die den König als ein Organ des Staates verstehen, vgl. dazu ausführlicher das Kapitel zu Stifter.

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Wer’s [das Schwert] unnütz zieht, dem wird’s aus der Hand genommen, aber wer’s nicht braucht, wenn’s Zeit ist, der ruft alle zehn Plagen Egyptens auf sein Volk herab, und die treffen dann Gerechte und Ungerechte zugleich, denn unser Herrgott jätet nicht, wenn er selbst strafen muß, er mäht nur! (Er setzt sich.) (AB 201; Hervorhebung von C.N.)29

Die Rechtfertigung Ernsts wird dabei nicht nur durch die entsprechende plot-Konstruktion,30 sondern vor allem durch die übergeordnete Motivation seines Handelns erreicht, die auf einer Ethik der Empathie und Fürsorge für das Volk beruht. Das Volk gewinnt (wenn auch in absentia) eine seltsam konkrete Gestalt in einer kurzen, scheinbar digressiven Episode, in der Ernst auf den Vollzug des Todesurteils wartet und dabei eine Bauernhütte betritt: »Ich will doch einmal sehen, wie die Leute leben! (Er geht auf die Hütte zu, findet sie aber verschlossen.) Zu! Alles auf ’m Felde bei der Arbeit. Wer kocht denn Essen? Oder hab’ ich sie schon verjagt? (Er kommt zurück.)« (AB 223) Die persönliche Neugier31 transponiert seine Motivation in einen konkret-menschlichen Kontext und legt so eine wichtige Schnittstelle zwischen Herrscher und Mensch offen. Im Grausen, das gleichzeitig an die Entscheidung, Agnes ihrem fatalen Schicksal zu überantworten, geknüpft ist, drückt sich das übermenschliche Ausmaß dieser herrscherlichen Verantwortung aus: »Ich bin ein Mensch, und hätt’s wohl verdient, daß es mir erspart worden wäre. Aber wenn Du Dich wider göttliche und menschliche Ordnung empörst: ich bin gesetzt, sie aufrecht zu erhalten, und darf nicht fragen, was es mich kostet!« (AB 229) Persönliche Emotionen verweisen durchgehend auf Ernst als Menschen und Vater – sentimentale Erinnerungen an die seinerzeit liebens-

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Die göttlich abgesicherte Verpflichtung, das Schwert zu ziehen, wenn es die Situation verlangt, erinnert an Odoardos ähnlich motivierte Rede, die ihn als Instrument Gottes rechtfertigt: »(gegen den Himmel) Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu? Fort! (Er will gehen und sieht wieder Emilien kommen) Zu spät! Ah! er will meine Hand; er will sie! (EG 74), vgl. dazu auch das Folgende. Agnes’ grausame Exekution wird schließlich durch das sang- und klanglose Hinwegsterben des letzten, legitimen Thronprätendenten unabdingbar. Bereits in Ernsts Ansprache an Albrecht wird deutlich, dass auch die herrschlicher Verantwortung nur menschlich ausgefüllt werden kann. Das ›Gottesurteil‹ demonstriert die fehlende Evidenz in den menschlichen Erwägungen. Daß Ernst – ansonsten ein rationaler, aufgeklärter Herrscher – dieser zusätzlichen Bestätigung bedarf, zeigt die Tragweite des Urteils und zugleich die Befangenheit, die Ernst als Mensch an den Tag legt. Das Interesse an der bäuerlichen Lebensart konvergiert hier im Übrigen mit der politisch-abstrakten Verantwortung für das Volk.

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würdigen Respektlosigkeiten32 seines Jungen Albrecht gehen Hand in Hand mit der deutlichen Anerkennung von Agnes’ Schuldlosigkeit: Unten das förmliche Todesurtheil, dem nur noch der Name des Herzogs fehlt! Der wird nun wohl bald hinzu kommen! Mich graus’t! Manch ähnliches Blatt hielt ich schon in der Hand, aber da ging dem strengen Spruch jedes Mal eine Reihe schnöder Gewaltthaten voran, man las viel von Raub, Mord, Brand und Friedensbruch, ehe man an die Strafe kam. Hier könnte höchstens stehen: sie trug keinen Schleier und schnitt sich die Haare nicht ab! Ich weiß jetzt ja recht gut, wie’s zugegangen ist!« (AB 199–200)

Das Changieren zwischen Persönlichem und Politischem ist bei Ernst omnipräsent und konstitutiv, insofern die Staatsräson hier moralisch dual kodiert wird. In Ernst begegnet man einem nach Foucault effizienten Herrscher, der sich für das Ergebnis verantwortlich fühlt, der aber gleichzeitig seine handlungsleitenden Werte an einem bürgerlichen EmpathieKonzept ausrichtet. Das »Passende« (wie es Foucault in seinen Überlegungen zur Gouvernementalität bezeichnen würde) ist hier doppelt kodiert:33 Gegenüber Schiller hat sich bei Ernst die Gesinnungsethik in eine Verantwortungsethik verwandelt – diese allerdings ist gesinnungsethisch imprägniert und nur so legitim. Ein emotionalisiertes Konzept von Verantwortung bereitet den Boden für das drastische Vorgehen gegen eben jene subjektiven Rechte, die den Vater und (in Hebbels Logik auch den) Landesvater eigentlich legitimieren.34 Staatsräson erscheint in diesem Sinne als menschliche Empathie und väterliche Fürsorge, die ins Öffentliche transferiert wurde. Damit erweist sie sich in letzter Instanz als 32

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»Aber – was trieb mein Albrecht schon Alles, als er vier Jahr alt war! Da kam kein Bart ungerupft vom Schloß, und kein Fenster blieb ganz, wo er herum hanthierte. Freilich, jetzt ist’s weit mit ihm gekommen, er hat sein Nest beschmutzt, und das hätt’ ich nie gedacht, ich hielt ihn für einen bessern Vogel. Nun, es soll schon wieder rein werden, und später kann ich dafür auch um so mehr von ihm fordern, denn alle zehn Gebote zusammen peitschen den Mann nicht so vorwärts, wie die Jugend-Thorheiten, die ihm rechts und links über die Schultern kuken, wenn er den Kopf einmal dreht.« (AB 182) Im Sinne dieser Metaphorik konstatiert Ernst, nachdem sein Konstrukt einer Sohn- bzw. Nachfolgersubstitution kollabiert: »Ja! Darum stellt’ ich’s Gott anheim. Er hat gesprochen. Ich warf mein eig’nes Junges aus dem Nest und legte ein fremdes hinein. Es ist todt!« (AB 202) Vgl. das Kapitel Der Vater als Herrscher. Auf dieser Basis gelingt es ihm schließlich auch, den tobenden Albrecht zu überzeugen, indem er den Konnex zwischen Agnes und dem Volk erläutert: »Dann wird der Baier sie doch gewiß verfluchen, sonst hätt’ er sie vielleicht beweint. Ihre Brüder sind’s, die du erwürgst, nicht die meinigen, und ob Du die ganze Menschheit abschlachtest: in ihren Adern wird nicht ein Blutstropfe wieder warm davon! Aber dahin kannst Du’s bringen, daß ihr eigener Vater die Stunde vermaledeit, in der sie ihm geboren ward, und daß sie selbst sich aus dem Paradies, wenn sie’s schon betreten hat, schaudernd und schaamroth wieder hinaus stiehlt, die Erste und Letzte, die’s thut, ohne verdammt zu sein!« (AB 230)

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inklusiv. Der romantischen Paar-Liebe wird hier nicht per se, sondern akzidentell opponiert, die Liebe wird konzeptuell eingeschmolzen in die übergreifende Währung der väterlich-empathischen Verantwortung gegenüber dem Volk. Die bürgerlichen Werte werden zwar a priori anerkannt, aber in der privaten Ehe des Herrschers ausgehebelt. Der Vater, der hier präsentiert wird, ist ein primär öffentlicher Vater, der seiner eigenen Kleinfamilie die Empathie abziehen muss, die er dem »Volk« zu erstatten hofft. Das Menschliche erweist sich damit zwar als pervasiv, das Herrscherprinzip aber bleibt letztlich dominant. Damit ergibt sich ein paradoxer Zirkelschluss, denn die spezifische Verantwortlichkeit Ernsts wird aus einer natürlichen Werte-Evidenz generiert. Die sakrosankte »Übereinkunft der Völker«, die sich in ›Agnes Bernauer‹ als Staatsräson präsentiert, schließt die physisch-psychische Integrität von Albrecht und Agnes nicht ein. Evidente, individuelle Grundrechte verlieren sich selbstverständlich vor dem Hintergrund des Staatsganzen. »Natürliche« Privatheit und öffentlich-politische Verantwortung sind in Ernst nicht harmonisch vereinigt, sondern zunächst in ihrer Dualität verkörpert. Nichtsdestoweniger wägt Ernst die Implikationen gewissenhaft ab und kommt zu einer eindeutigen, reflektierten Entscheidung. Von Joseph August Graf Törrings ›Agnes Bernauerin‹ (1780) etwa weicht Hebbel damit signifikant ab, indem er die Intrige, die bei Törring zum Tod Agnes’ führt35 nachdrücklich in eine bewusste und rechtmäßige Handlung Ernsts transformiert.36 Die »Gewalt des Rechts«, die bei der fingierten Beweislage für die Exekution Agnes’ zum Tragen kommt, ist ein wichtiger Aspekt, dessen Legitimation es im Folgenden genauer zu untersuchen gilt. Wenn Agamben konstatiert, dass »der Punkt der Ununterscheidbarkeit zwischen Gewalt und Recht« (HS 42) »souverän« ist, so beschreibt dies die politische Machtdimension von Ernsts Ausnahmehandlung präzise. Die Formulierung skizziert zugleich die Paradoxie der Setzung, bei der letztlich (wie bei Hobbes) die auctoritas über die veritas siegt. Obwohl Ernst großen Wert darauf legt, dass die Rechtlichkeit seiner Handlung unwiderleglich scheint, so handelt es sich dabei doch um eine Manipulation, die auf die intrinsischen Probleme der Setzung verweist. Er kompromittiert das individuelle Recht, um das allgemeine Recht aufrechtzuerhalten. Im Folgenden wird allerdings 35 36

In Toerrings Drama zeichnet dafür allein der Vicedom verantwortlich. Rezensionen beklagten diese von Hebbel als entscheidend empfundene rechtliche Seite, »weil sie den rein menschlichen Eindruck der tief greifenden Handlung erkälten.« Vgl. dazu Karl Pörnbacher (Hrsg.): Erläuterungen und Dokumente. Friedrich Hebbel. ›Agnes Bernauer‹. Stuttgart 1974, S. 85.

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dieses Paradox noch zuzuspitzen sein, da er nämlich an dem allgemeinen Recht festhält, weil es das spezifische individuelle Recht beinhaltet. Anhand Hebbels ›Agnes Bernauer‹ wird auf diese Weise exemplarisch ein grundsätzlicher Widerspruch in der »bürgerlichen« Staatlichkeit37 erkennbar, insofern Ernsts Vaterschaft eine von bürgerlichen Werten geprägte Monarchie konstituiert – diese Überlagerung ist für den Text entscheidend. Die symbolische Verschmelzung von Familie als emotionalem Innenraum und einer staatlichen Öffentlichkeit38 kann in Hebbels Szenario nicht gelingen, weil hier die machttechnischen Aspekte im Transfer auf die größere Einheit anderen Gesetzen unterliegen, die sich nicht mehr auf das individuelle Recht des Einzelnen herunterbrechen lassen. Logik des Staates und der Familie treten auseinander und lassen sich in diesem speziellen Anwendungsfall eben gerade deswegen nicht wechselseitig applizieren, weil der Vater zugleich der König ist (d. h. dynastische und private Liebeslogik divergieren). Trotzdem zeigt Hebbels Zugriff hier eine Stärkung des Vaters als Verkörperungsmodus, der den Staat »vermenschlicht« und die machina legislatoria wiederum in einen legislator humanus verwandelt. Carl Schmitt hatte zum ›Leviathan‹ angemerkt: Die innere Logik des von Menschen hergestellten Kunstproduktes ›Staat‹ führt nicht zur Person, sondern zur Maschine. Nicht die Repräsentation durch eine Person, sondern die faktisch-gegenwärtige Leistung des wirklichen Schutzes ist das, worauf es ankommt. […] Bei Hobbes ist nicht der Staat als Ganzes Person; die souverän-repräsentative Person ist nur die Seele des ›großen Menschen‹ Staat.39

Für Schmitt zerbrach der Mythos Maschine an der Unterscheidung von Staat und individueller Freiheit, die den deus mortalis Leviathan (der als anti-individualistische Macht fungiert) wiederum eliminiert.40 In den Texten um 1800 wird zudem augenfällig, daß das problematische Auseinandertreten zwischen Staat und Gesellschaft41 anderer Verkörperungsmodi 37 38 39 40 41

Dieser Widerspruch ergibt sich hier zwar konkret aus einer obsoleten dynastischen Problematik, wird aber doch als grundsätzlicheres Problem eingeführt. Dies hatte Novalis in ›Glauben und Liebe‹ noch als mit sich identische Synthese impliziert. Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Stuttgart 1982, S. 52–53. Schmitt, Leviathan, S. 118. Vgl. dazu Niklas Luhmann: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. In: Luhmann: Soziologische Aufklärung. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Bd. 4. Opladen 1987, S. 67–73.

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bedarf als den des deus mortalis, dessen Maschinenhaftigkeit zunehmend angegriffen wird. Bei Hebbel wiederum erweist sich Ernst als eine souveräne, paternale Herrschaftsverkörperung, die ein elementares individualistisches Postulat in einem anti-individualistischen Gestus umsetzen kann. Obwohl damit die private Konstellation im Stück42 das politische Handeln motiviert, plausibilisiert und legitimiert, wird das Private de facto (wie bei Hobbes) nur toleriert, »solange es [nicht] die Grenzlinie zur öffentlichen Sphäre der Repräsentation«43 überschreitet.44 In diesem Sinne ist Agnes Bernauers Verhalten ein politischer Akt »und das um so mehr, als sie ihre Tat nicht aus politischen Motiven heraus begeht.«45 Staat und Privatsphäre46 stehen hier in einem Einschlussverhältnis, d. h. der Staat schließt die Rechte der Einzelnen innerhalb des Privaten ein und protegiert sie, kann sie aber damit auch aussetzen. Er garantiert Recht durch Gewalt und hebt durch Gewalt Recht auf. Zugleich bleibt das individuelle Recht, das als emanzipatorische Kernforderung der bürgerlichen Selbstermächtigung gelten kann, als abstraktes Konzept erhalten und auf die Protektion durch den Souverän angewiesen. Die Rechte des Kollektivs müssen im Sinne von Hobbes gegen den drohenden »Naturzustand« verteidigt werden. Die Gewalt, die sich jederzeit (ohne Recht zu haben, 42

43 44

45 46

Die Verortung Agnes’ wird vor allem dann komplex, wenn man sie in dem Geflecht von Metaphysik und Geschichte lokalisiert. Vgl. u. a. Herbert Kraft: Agnes Bernauer. In: Friedrich Hebbel. Hrsg. von Helmut Kreuzer unter Mitwirkung von Roland Koch. Darmstadt 1989, S. 257. Gerhard Fricke: Agnes Bernauer. In: Hebbel-Jahrbuch (1951), S. 29–59, hier S. 51. Kreuzer, Agnes Bernauer, S. 284–291. Der Sinnbildcharakter soll hier nicht vollständig aufgegeben werden, sondern nur historischer gefasst und demzufolge anders nuanciert werden. Albrechts Überschreitung macht deutlich, dass das Leben der Untertanen unter dem Vorbehalt des Souveräns steht. Balke, Figuren der Souveränität, S. 97. Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Überlegungen Judith Butlers zu der Frage: »Whether there can be kinship – and by kinship I do not mean the ›family‹ in any specific form – without the support and the mediation of the state, and whether there can be the state without the family as its support and mediation.« Judith Butler: Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death. New York 2000, S. 5. Balke, Figuren der Souveränität, S. 107. Balke formuliert das mit Blick auf Sophokles’ ›Antigone‹, die Hebbel explizit mit seinem Stück in Verbindung bringt. Vgl. dazu auch Hegels Zuspitzung mit Blick auf Sophokles’ ›Antigone‹, die als zeitgenössische Aussage erstaunlich präzise wichtige Knotenpunkte des Stücks ›Agnes Bernauer‹ benennt: »Die vollständigste Art dieser Entwicklung ist dann möglich, wenn die streitenden Individuen, ihrem konkreten Dasein nach, an sich selbst jedes als Totalität auftreten, so daß sie an sich selber in der Gewalt dessen stehen, wogegen sie ankämpfen, und daher das verletzten, was sie ihrer eigenen Existenz gemäß ehren sollten. […] So ist beiden an ihnen selbst das immanent, wogegen sie sich wechselseitig erheben, und sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreise ihres eigenen Daseins gehört.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Werke. Hrsg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Bd. 15. Frankfurt am Main 1986, S. 549.

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wie es Carl Schmitt im dezisionistischen Sinne der Ausnahme postuliert) gegen den Einzelnen richten kann, ist überhaupt die Prämisse für die Existenz der Rechte des Einzelnen. Emanzipation und Protektion sowie potentielle Entrechtung des Einzelnen gehen Hand in Hand und gehören integral zur spezifischen Rechtsetzung, die innerhalb einer bürgerlichen Wertekonzeption paradox wird.47 Der Herzog, der beide Rollen in sich vereinigt, sieht sich dementsprechend mit einem konkreten Gewissensdilemma konfrontiert, das mit Blick auf die Personenkonstellation an das bürgerliche Trauerspiel erinnert, hier allerdings perspektivisch anders gewendet wird.48 Die über jeden Zweifel erhabenen Liebe49 funktioniert nämlich nicht im moralischen Vakuum, sondern kollidiert mit dem sozialen Kontext, in den sie letztlich eingelassen bleibt. Der Herrscher rückt gleichzeitig als Mensch, so wie es Lessing postulierte, und als menschlicher (=bürgerlicher) Herrscher ins Fadenkreuz, ja genau aus diesem doppelten Fokus ergibt sich die moderne, tragische Konstellation. Das bedeutet auch, dass die Sonderwelt der Liebe nicht mehr moralisch autonom funktioniert. Sie ist realiter angekoppelt an ein größeres System, gegen dessen auferlegte Gesetze sie sich (auch moralisch) nicht durchsetzen kann, weil die öffentliche Moral – 47

48

49

Die daraus resultierenden Probleme versteht Hebbel in seiner Selbstauslegung als eine von der Moderne produzierte, grundsätzliche tragische Kollision. Vgl. dazu auch das Folgende. Die Nähe des Hebbelschen Stücks zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts hebt besonders Manfred Durzak hervor. Nachdem er die »musterhaften Ingredienzien eines bürgerlichen Trauerspiels« benannt hat, schlussfolgert er, dass die Zuspitzung bei Hebbel in einer Weise erfolge, bei der die für das bürgerliche Trauerspiel bedeutsame »aufklärerische Perspektive« verlorengehe, »daß es nämlich die emanzipatorischen Hoffnungen der Aufklärung im poetischen Diskurs nachhaltig benennt und von daher auch den Horizont einer geschichtlichen Zukunft einbringt, in der das Bürgertum sich aus der feudalistischen Verkettung seiner Lebensumstände allmählich befreit«. Durzak, »Außer der Bernauerin ist Niemand naß geworden«, S. 85. In diesem Sinne deutet Kreuzer das Drama als regressiv mit Blick auf die bürgerliche Emanzipationsforderung. Vgl. dazu auch die folgende, von Durzak abweichende Argumentation. Als zu enges Raster empfindet dagegen Hans Richard Brittnacher die Referenz auf das bürgerliche Trauerspiel, das die historische Dimension unterschlage, vgl. Brittnacher: Sündenbock oder Opferlamm. Soziologischer Realismus in Hebbels ›Agnes Bernauer‹. In: Hebbel-Jahrbuch (1996), S. 77–99. Die Liebe zwischen Adligem und bürgerlich tugendhafter Tochter allerdings gefährdet in ›Agnes Bernauer‹ keineswegs Agnes’ Tugend, sondern verabsolutiert sie vielmehr. Vgl. dazu auch besonders Rudolph, Agnes Bernauer, S. 60–63. Die Heirat ist von Anfang an die Bedingung der Möglichkeit einer Liebesbeziehung; im Stück ist es die Figur Toerring, die Albrecht den Vorschlag macht, mit Agnes lediglich ein Liebesverhältnis zu unterhalten (statt die problematische Ehe anzustreben), was nicht nur von Caspar und Agnes Bernauer empört zurückgewiesen wird, sondern überdies auch mit ehrlichem Entsetzen von Albrecht selbst. Toerring entgeht dabei nur knapp der Duellforderung durch Albrecht, indem er sein Anerbieten als Tugendprobe ausweist und legitimiert.

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über die Vermittlung des (Landes-)Vaters – nach denselben Gesetzen funktioniert. Im Herrschaftsmilieu kollidieren Rollenmodelle, das System der Politik und der intimen Kleinfamilie. Dabei ist die Liebe zwischen Agnes und Albrecht zugleich Ausdruck und Folge einer Individuation, die im Stück gleichermaßen als ontologisch unhintergehbar präsentiert und problematisiert wird.50 Die Konfrontation von Staat von Individuum ist gerade mit Bezug auf die ›Agnes Bernauer‹ topisch. Hebbel selbst eröffnete in verschiedenen Selbsterläuterungen dieses Bezugsfeld, das die gesamte Struktur des Trauerspiels konturiert. Nie habe er »das Verhältniß, worin das Individuum zum Staat steht, so deutlich erkannt, wie jetzt«,51 vermerkt Hebbel in seinem Tagebuch. An den Literaturhistoriker G. Gervinus schreibt er 1853: »Ich bin freilich der Ueberzeugung, daß der Staat in einer Situation, wie ich sie darstellte und wie sie in aller Form darstellbar möglich ist, das Recht auf ein Opfer hat, wie es ihm in meinem Stück gebracht wird. Aber wohl mag mich die wahnsinnige Emancipationssucht des Individuums, die sich in unseren Tagen bei Democraten und Conservativen gleichmäßig äußert, verführt haben, das Gesetz zu scharf zu betonen und ich hoffe, noch einige Mitteltinten zu finden.«52 Die Konfrontation Individuum und Staat wird also gleichermaßen im Zeichen der legitimen Geltung und Begrenzung beider Sphären durchgespielt. Abweichend von ›Emilia Galotti‹ allerdings liegt die Tragik53 in einem anderen Zusammenspiel von Ein- und Ausschlussprozessen begründet, insofern sich die Sphäre der politischen Zusammenhänge als vorrangig präsentiert. Paradoxerweise ergibt sich aber auch bei Hebbel die Priorisie50

51 52 53

Anhand der Herrscher-Familie wird eine grundsätzliche Diskrepanz vorgeführt, die Hebbel in seiner Tragödien- und Schuldkonzeption genauer beleuchtet, wenn er Schuld vom Handeln abgekoppelt. Individuelles Leben wird hier grundsätzlich als Abspaltung vom allgemeinen verstanden. Eine entsprechende Re-Harmonisierung kann dieser Logik zufolge allein im Tod erfolgen. »Hiebei ist nicht zu übersehen, daß die dramatische Schuld nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens entspringt, sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs, hervorgeht, und daß es daher dramatisch völlig gleichgültig ist, ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung scheitert.« Hebbel, Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 4. Friedrich Hebbel: Tagebücher (1948–1863). 3 Bde. Hrsg. von Karl Pörnbacher. München 1984, hier Bd. 3, S. 103, Eintrag 4982. Friedrich Hebbels Briefwechsel mit Freunden und berühmten Zeitgenossen. Mit einem Vorwort herausgegeben von Felix Bamberg. Bd. 1. Berlin 1890, S. 456. Vgl. zusammenfassend zum komplexen Begriff der Tragik bei Hebbel Jian Wang: Das Tragische bei Hebbel – eine textimmanente Kategorie? Zur Inszenierung des Tragischen bei ›Maria Magdalene‹. In: Hebbel-Jahrbuch (2002), S. 139–163.

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rung des Staats aus der vorgängigen Aufwertung der Intimsphäre, die nun als Ganze der öffentlichen untergeordnet wird. Beide aber beziehen sich letztlich auf ein analoges Wertenetz. Anhand Hebbels Trauerspiel kann man besonders gut beobachten, wie ein Hybrid generiert wird, nämlich eine Form der »gesellschaftlichen Öffentlichkeit«54 (oder einer kollektiven Privatheit), in der die individuell generierten Werte auf ein Kollektiv übertragen werden. In ›Agnes Bernauer‹ enden die individuellen Rechte dort, wo der Staat als Protektionsmechanismus die gesellschaftliche Öffentlichkeit schützt. Hier dient die gesellschaftliche Öffentlichkeit noch als legitimierende und erläuternde Folie, vor der ein pragmatischer Zugriff gerechtfertigt werden kann. Prinzipiell jedoch bereitet diese Überlappung eine potentielle, grundsätzliche Kappung jener Gelenkstelle vor. Denn im Grunde verdeckt das moralisch untermauerte Konzept der gesellschaftlichen Öffentlichkeit55 bei Hebbel eine Bruchstelle, an der private und staatliche Moral bereits auseinander getreten sind.56 Deutlich wird, dass Ernst derjenige ist, dem die Entscheidung in der Krisensituation anheimfällt und der – hierin ganz mit Carl Schmitts politischer Theologie57 übereinstimmend – über Leben und Tod entscheidet. Rechtlich folgt die von Ernst angeordnete Exekution Agnes’ den legalen Codices, die sorgfältig die Richtigkeit und Notwendigkeit juristischer Prämissen anerkennen und affirmieren.58 Um den erspürten, politisch aber dennoch notwendigen Bruch mit den bürgerlichen Individual-Werten zu rechtfertigen, muss Ernst dabei tautologisch auf sie zurückgreifen. Dadurch werden sie offen paradox: Der Wert des Volkes (das wiederum natürlich zusammengesetzt ist aus Individuen mit Rechtsanspruch) überwiegt den Wert des exzeptionell Individuellen – und das gemessen an genau jenen Werten, die Agnes’ Rechte als Individuum eigentlich schützen sollten. In der Erweiterung, im Transfer auf die größere Einheit von Individuen liegt der offensichtliche Widerspruch. 54 55

56 57 58

Vgl. dazu die Terminologie in der Einführung. Im Kapitel zu Fontane wird überdies noch deutlicher werden, wie sich die gesellschaftliche Öffentlichkeit als von der Staatlichkeit abgetrennte para-souveräne Sphäre verselbstständigt und repressive Normierungstendenzen verstärkt. Vgl. dazu das folgende Kapitel. Vgl. das einschlägig bekannte Zitat: »Souverän ist, wer über die Ausnahme entscheidet.« Schmitt, Politische Theologie, S. 11. Ein Urteil wird von Juristen aufgesetzt, im Anschluss von Ernst unterschrieben und damit – rechtlich einwandfrei – rechtskräftig. Auf der Gewissensebene wird dieses legale Vorgehen zusätzlich als »Opfer« ausgewiesen und damit moralisch justifizierbar gemacht. Vgl. dazu auch die Machtübergabe vom Vater an den Sohn: »Halt! Erst nimm den da! (Er reicht ihm den Herzogsstab, den Albrecht unwillkürlich faßt.) Der macht Dich zum Richter deines Vaters! Warum willst Du sein Mörder werden!« (AB 234)

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Was hier mit logisch eindringlicher Konsequenz vorgeführt wird, ist eine partielle Entmoralisierung, eine Verantwortungsethik, die unter der Ägide einer deutenden auctoritas einzelne Schritte moralisch verhandelbar macht. Gerade die emotionalisierte Staatsräson, die sich von bürgerlichen Werten leiten lässt, antizipiert hier in der dezidierten Trennung der Moralbereiche das Konzept der Realpolitik (vgl. das folgende Kapitel) und zeigt die vorgängige, zweckethische Rechtfertigung für die Bereichsspaltung. Das für die häusliche Sphäre wie für den großpolitischen Kontext gleichermaßen entscheidende Schlüsselkonzept der bürgerlichen Werte erzeugt im Transfer in die Politik die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit der individuellen Exemption eben dieser Werte. Die Applikation der Werte erfolgt eben nicht ubiquitär, sondern hierarchisch. Plausibel wird die »schizophrene« (Herbert Kraft) Doppelkodierung bei Hebbel in einer Trennung der Sphären und in einer Trennung der Vaterrollen realisiert: Die Staatsräson, die hier noch human motiviert ist, geht bereits über zu einer neuen Beschreibung von Politik. Hebbel leitet die tragische Schuld direkt aus dem bloßen Faktum der menschlichen Existenz ab und proklamiert die »Selbstaufhebung« des Individuellen durch »Maßlosigkeit«:59 »Leben ist der Versuch des trotzigwiderspenstigen Teils, sich vom Ganzen loszureißen und für sich zu existieren, ein Versuch, der so lange glückt, als die dem Ganzen durch die individ. Absonderung geraubte Kraft ausreicht.«60 Gleichzeitig ist das Individuum getrieben von der Suche nach dem Universellen: Wenn der Mensch sein universelles Verhältnis zum Universum in seiner Notwendigkeit begreift, so hat er seine Bildung vollendet und eigentlich schon aufgehört ein Individuum zu sein, denn der Begriff dieser Notwendigkeit, die Fähigkeit, sich zu ihm durchzuarbeiten und die Kraft, ihn festzuhalten, ist eben das Universelle im Individuellen, löscht allen unberechtigten Egoismus aus und befreit den Geist vom Tode, indem er diesen im wesentlichen antizipiert.61

Dieses grundsätzliche Konzept des Tragischen hebt die paradoxe Situation des Individuums in der Moderne hervor und markiert sie als unausweichlich. Hier ist es von entscheidender Bedeutung, dass Hebbel diese tragische Konstellation in ›Agnes Bernauer‹ in Ernst kondensiert präsentiert und zugleich den individuellen Moralkonflikt auflöst, indem er zwei Vatermodelle auf Ernst projiziert, die seine tragische Analyse verdichten und in einer 59 60 61

Hebbel, Tagebücher 1843–1847, Bd. 2, S. 117. [3158] Hebbel, Tagebücher 1835–1843, Bd. 1, S. 426. [2262] Hebbel, Tagebücher, Bd. 2, S. 353. [4274]

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Person bündeln.62 Dabei kann man feststellen, dass Ernst die modernen Paradoxien nicht nur primär aufgebürdet bekommt, sondern auch über sein Rollenverhalten kompetent verwaltet; das Irisieren zwischen beiden Rollen wird nicht als Partialmoral verworfen, sondern zumindest teilweise über die tragische Konstellation als Verantwortungsethik legitimiert. Der Vater (als individueller und Landesvater) wird somit nicht nur zum Signum der Widersprüche, sondern zugleich auch zu einem effizienten, staatlich instrumentalisierbaren Modell, mit dem die Widersprüche funktional verwaltet und ins allgemein Nützliche umgeleitet werden können.

2.

Vom Opfer der Ökonomie zur Ökonomie des Opfers: ›Emilia Galotti‹ und ›Agnes Bernauer‹

Diese Verschiebungen sollen nun noch einmal im Rekurs auf ›Emilia Galotti‹ präzisiert werden, da sich anhand der beiden eponymischen »Opfer« Emilia und Agnes Kontinuität und Wandel von moralisch implementierter, paternaler Herrschaft exemplarisch verdeutlichen lässt. Ernst deutet sein Vorgehen selbst mit einer besonderen Zuspitzung: Die rituelle Absicherung63 bezieht dabei explizit den wohl bekanntesten biblischen Opfermythos ein – die Geschichte von Abraham und Isaak (Gen 12–25): Das eine vielleicht, das And’re gewiß, ich thu’, was ich muß, der Ausgang ist Gottes. Ich setz’ ihn daran, wie Abraham den Isaak, geht er in der ersten Verzweiflung unter, und es ist sehr möglich, daß er’s thut, so lasse ich ihn begraben, wie sie, tritt er mir im Felde entgegen, so werf ’ ich ihn oder halte ihn auf, bis der Kaiser kommt. Dem meld ich’s, noch eh’ es geschieht, und er wird nicht säumen, denn wie ich Ordnung im Hause will, so will er Ordnung im Reich. Es ist ein Unglück für sie und kein Glück für mich, aber im Namen der Wittwen und Waisen, die der Krieg machen würde, im Namen der Städte, die er in Asche legte, der Dörfer, die er zerstörte: Agnes Bernauer, fahr hin! (AB 204) 62

63

Der Staat und sein Herrscher sind bürgerlich geworden, die Rollenteilung aber verharrt bei Hebbel weiterhin im Dualismus einer bürgerlich adaptierten Zwei-Körper-Lehre. Auf dieser Basis wird der König als Landesvater anschaulich aus der emotionalen Grundverankerung des Vaters abgeleitet und legitimiert. Diese Dualität des Herrschers wird instrumentalisiert und modernisiert, um Macht und Staat zu konkretisieren und analog zum Muster der Familie zu plausibilisieren. Die Übertragung wird an der Stelle brüchig, an der Agnes der Makrostruktur zum Opfer fällt. Was in Hebbels Überlegungen als tragisch erscheint, ist in diesem spezifischen Fall eine präzise Beschreibung der sich nun überdeutlich entfaltenden Widersprüche beim Übergang eines zunehmend allgemein akzeptierten Werte- und Inklusionsmodells auf die Ebene des Staates (der durch den Landesvater sinnfällig verkörpert wird). Vgl. dazu Brittnacher, Sündenbock, S. 80–81.

293

Die biblische Beinahe-Opferung Isaaks erfolgt unter der Ägide einer höheren Instanz und greift damit auf eine metaphysische Kontingenzbewältigung zurück. Ernsts Wille zum Opfer wird somit in den Kontext jener höheren Gewalt eingelesen und exekutiert. Noch entscheidender ist, dass die Schwiegertochter nach dieser Repräsentationslogik gänzlich eliminiert scheint. Agnes wird also hier bereits als moralischer Kollateralschaden markiert. Als eigentliches Opfer wird, nicht zufällig, der legitimierenden biblischen Vorlage entsprechend, Albrecht benannt (»Ich setz ihn daran, wie Abraham den Isaak«).64 Nichtsdestoweniger handelt es sich bei Ernsts Zwangslage um kein absolutes, sondern um ein politisches Dilemma,65 das sich entgegen der Rhetorik eben nicht religiös in einem »Opfer der Ökonomie« (Derrida) auflösen lässt, sondern vielmehr ganz im Sinne der Ökonomie des Opfers funktioniert. In einem quantitativen Zugriff wird durch den Tod eines Menschen das Leben einer Vielzahl geschützt; anders als in Lessings ›Emilia Galotti‹ ist damit das »Absolute« als relative Verhandlungsgröße in den Bereich der Politik eingetreten. Zieht man Agambens Überlegungen zur souveränen Macht hinzu, wird damit insbesondere im Abgleich mit ›Emilia Galotti‹ eine wichtige Verschiebung deutlich. Nach Agamben geht es bei der souveränen Macht (und der Ausnahme im Sinne von Carl Schmitt) nicht darum, die Überschreitung zu kontrollieren oder zu neutralisieren, sondern um die Schaffung und Bestimmung des Ortes selbst. Ortung wird hier verstanden als Einziehung einer Schwelle zwischen Innen und Außen, ein Übergang in »komplexe topologische Beziehungen […], welche die Gültigkeit der Rechtsordnung ermöglichen.« (HS 29) Odoardo macht mit der Tötung der Tochter eine Sphäre greifbar, die eine (eben auch politisch relevante) Totalgeltung usurpiert hat. Obwohl man Odoardos spezifische Machtdemonstration nicht vollständig in die Sphäre der Staatlichkeit und Souveränität transferieren kann, bleiben 64

65

Das ist auch für die von Hebbel vollzogene Invertierung der Hierarchie von Individualität und Kollektiv entscheidend – als Opfer (bzw. Märtyrer) wird hier eben nicht mehr primär Agnes (als Antigone) gedeutet, sondern letztlich der Sohn, der den individuellen Verlust verschmerzen muss. Kant etwa entscheidet dieses Problem noch eindeutig: »Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abraham auf göttlichen Befehl durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes (das arme Kind trug unwissend noch das Holz hinzu) – bringen wollte. Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ›Daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.‹« Kant, Streit der Fakultäten, S. 72.

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doch strukturell ähnliche Elemente in seinem Handeln erkennbar.66 Mit der Etablierung der Schwelle, des Ausnahmezustands, definiert er Innen und Außen, bezieht aber das Außen irreversibel auf das Innen. Analog zu Agambens Souveränitätstheorem wird auch das von Odoardo lancierte Tugendgesetz omnipräsent und erstreckt sich auf das Außen, von dem es ostentativ abgegrenzt wird.67 Odoardo folgt damit nicht notwendigerweise einer Opferhandlung, die per se als Ritus funktioniert – auch wenn sie intertextuell bedingt als solche kodiert scheint –,68 sondern in jedem Fall eine Machtsphäre konstituiert, mit der eine für diesen Zusammenhang entscheidende Ordnung definiert wird. In der Tötung der Tochter wird die Figur der souveränen Ausnahme erkennbar, »die radikale Krise jeglicher Möglichkeit, deutlich zwischen Zugehörigkeit und Einschließung, zwischen dem, was draußen, und dem, was drinnen ist, zwischen Ausnahme und Norm zu unterscheiden.« (HS 35) Agamben führt die ursprüngliche Struktur der Souveränität auf die Figur des Bannes zurück; Verlassenheit bleibt dabei auf die paradoxe Etablierung einer Beziehung der Nicht-Beziehung beschränkt: Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen [abbandonato], das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen. Von ihm läßt sich buchstäblich nicht sagen, ob er außerhalb oder innerhalb der Ordnung ist […] Deshalb kann auch das Paradox der Souveränität die Form annehmen: ›Es gibt kein Außerhalb des Gesetzes‹. (HS 39)

Mit der souveränen Setzung des eigenen Ein- und (darauf bezogenen) Ausschlussbereiches etabliert Odoardo jene moralische Privatsphäre (und als Trabanten im Agambenschen Sinne auch die politisch relevante, indirekte moralische Unterwerfung der Öffentlichkeit unter ihre Regeln), an die Ernst inhaltlich anknüpft. 66

67

68

Entscheidend ist hier nicht die genaue Applikation von Agambens Terminologie, die sich, angesichts der verschiedenen Gesetzlichkeiten, innerhalb derer der poetische Text und die politische Theorie operieren, im Einzelnen nicht präzise übertragen lässt, sondern die konzeptuelle Analogie. »Der politische Raum der Souveränität hätte sich demnach durch eine doppelte Ausnahme als Exkreszenz des Profanen und Religiösen im Profanen konstituiert, die eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Opfer und Mord bildet. Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.« (HS 93). Von dem ostentativ religiösen Legitimationskontext weicht bereits ›Emilia Galotti‹ vollständig ab, wenn die politisch bedeutsame Ermordung Virginias durch ihren Vater in einem revolutionären Zusammenhang evoziert wird. Vgl. das Kapitel zu ›Emilia Galotti‹.

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Ernst wiederum invertiert diese Setzung durch die Tötung Agnes’. Auf der Basis der grundsätzlich akzeptierten Werte wird die neu etablierte gesellschaftliche Öffentlichkeit unter der Protektion des Staates zum Prärogativ, zur eigentlichen Setzung, und die Privatheit wird darauf bezogen (quasi vorgängig und nachträglich zugleich). Festzuhalten bleibt dabei, dass sich Staat und Privatsphäre bei Hebbel nicht mehr nach dem Prinzip der insinuierten Quasi-Identität (wie es Novalis mit seinem Bürger-König postulierte) oder der potentiellen Analogie verhalten (wie es Schiller mit seiner Gewissensethik forderte), sondern nach dem des paradoxen Enthaltenseins. Bei Emilias Exekution bleibt – wie beim Bann (als ursprünglichster politischer Beziehung) – das Ausgeschlossene auf das Eingeschlossene bezogen. In Lessings Trauerspiel ist es die gesellschaftliche Öffentlichkeit (immer als Wertegemeinschaft verstanden), die in Odoardos Setzung auf die individuellen, bürgerlichen Werte ausgerichtet wird, bei Ernst ist es die individuelle Privatheit, die auf die bürgerliche gesellschaftliche Öffentlichkeit bezogen wird. Das eingeschlossene Ausgeschlossene ist dabei entscheidend und zugleich die Figur, die in den Komponenten invertiert wird. Bei Hebbel wird deswegen die Privatsphäre als in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit eingeschlossen gedacht. Indem diese Privatsphäre (unter öffentlichem Vorbehalt) erhalten bleibt, gelingt zugleich eine Separation der Sphären, in denen unter einem grundsätzlich anerkannten »Werte-Himmel« zwei völlig unterschiedliche, logisch trennbare Anwendungsräume geschaffen werden. Damit deutet auch Hebbel – noch mit einem anti-individualistischen und moralischen Anspruch – die grundsätzliche moralische Separation der Sphären an, die nur noch locker durch einen utilitaristischen Gesamtnutzen miteinander verbunden bleiben.

3.

Neu akzentuierte Probleme bei Hebbel: ›Maria Magdalene‹

Genau diese Sphärentrennung wird auf einer anderen Ebene wiederum zum Problem. In Hebbels Stück ›Maria Magdalene‹ wird die Artifizialität der nunmehr kondensierten, bürgerlichen Werte im Kontext einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit thematisch.69 Als gattungsspezifisches Ende, 69

Die Forschung hat diese Dimension ausführlich erörtert, deswegen wird im Folgenden nur kurz auf die Texte eingegangen. Vgl. zu ›Maria Magdalene‹ exemplarisch Hart, Tragedy in Paradise, S. 107–125 und Durzak, Kleist und Hebbel, S. 189–201.

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ja als Abgesang auf die Prinzipien des Bürgerlichen Trauerspiels wurde ›Maria Magdalene‹ aus ersichtlichen Gründen ins Feld geführt.70 Die Familienkonstellation, die im Stück vorgeführt wird, weicht deutlich von den wirkungsmächtigen Trauerspielszenarien ab. Der Bruder der Protagonisten Klara wird zwar zu Unrecht eines Diebstahls bezichtigt, aber seine nach bürgerlichen Standards skandalöse Lebensführung, bei der Spielschulden und Gottesdienstabsenz Hand in Hand gehen, scheinen den falschen Verdacht weitgehend zu rechtfertigen. Dieser Umstand treibt die Katastrophe im Text voran, insofern die Mutter stirbt und der Vater eine rigorose moralische Reinigung der Familie anstrebt. In diesem Sinne schwört Klara, vom Vater »mit schrecklicher Kälte« gedrängt, »fast wahnsinnig«, »daß – ich – Dir – nie – Schande machen – will!«71; der Vater erhöht den Druck auf die Tochter, indem er seine persönlichen Konsequenzen angesichts einer möglichen töchterlichen Schande in aller Drastik pantomimisch andeutet: Werde Du ein Weib, wie Deine Mutter war, dann wird man sprechen: an den Eltern hat’s nicht gelegen, daß der Bube abseits ging, denn die Tochter wandelt den rechten Weg, und ist allen Andern vorauf. (mit schrecklicher Kälte) Und ich will das Meinige dazu thun, ich will Dir die Sache leichter machen, als den Uebrigen. In dem Augenblick, wo ich bemerke, daß man auch auf Dich mit Fingern zeigt, werd’ ich – (mit einer Bewegung an den Hals) mich rasiren, und dann, das schwör’ ich Dir zu, rasir’ ich den ganzen Kerl weg, Du kannst sagen, es sei aus 70

71

Hebbel legt im Vorwort großen Wert auf die repräsentative Bedeutung des Stückes für das Allgemeine; auf die hegelianisch inspirierte, historisch-philosophische Verortung des Dramas kann hier nicht näher eingegangen werden: »Aber freilich, wenn in der heroischen Tragödie die Schwere des Stoffs, das Gewicht der sich unmittelbar daran knüpfenden Reflexionen eher bis auf einen gewissen Grad für die Mängel der tragischen Form entschädigt, so hängt im bürgerlichen Trauerspiel Alles davon ab, ob der Ring der tragischen Form geschlossen, d. h. ob der Punct erreicht wurde, wo uns einestheils nicht mehr die kümmerliche Theilnahme an dem Einzel-Geschick einer von dem Dichter willkürlich aufgegriffenen Person zugemuthet, sondern dieses in ein allgemein menschliches, wenn auch nur in extremen Fällen so schneidend hervortretendes, aufgelös’t wird, und wo uns anderntheils neben dem, von der sogenannten Versöhnung unserer Aesthetici, welche sie in einem in der wahren Tragödie – die es mit dem durchaus Unauflöslichen und nur durch ein unfruchtbares Hinwegdenken des von vorn herein zuzugebenden Factums zu Beseitigenden zu thun hat – unmöglichen, in der auf conventionelle Verwirrungen gebauten aber leicht herbei zu führenden schließlichen Embrassement der Anfangs auf Tod und Leben entzweiten Gegensätze zu erblicken pflegen, auf ’s Strengste zu unterscheidenden Resultat des Kampfes, zugleich auch die Nothwendigkeit, es gerade auf diesem und keinem andern Wege zu erreichen, entgegen tritt.« Friedrich Hebbel: Vorwort zur ›Maria Magdalene‹. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Richard Maria Werner. Bd. 11. Berlin 1904, S. 63–64. Friedrich Hebbel: Maria Magdalene. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Dramen II (1844–1851). Hrsg. von Richard Maria Werner. 1. Abteilung, Bd. 2. Berlin 1904, S. 36, im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als MM mit der entsprechenden Seitenzahl.

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Schreck geschehen, weil auf der Straße ein Pferd durchging, oder weil die Katze auf dem Boden einen Stuhl umwarf, oder weil mir eine Maus an den Beinen hinauflief. Wer mich kennt, wird freilich den Kopf dazu schütteln, denn ich bin nicht sonderlich schreckhaft, aber was thut’s? Ich kann’s in einer Welt nicht aushalten, wo die Leute mitleidig sein müßten, wenn sie nicht vor mir ausspucken sollen. (MM 40)

Zu diesem Zeitpunkt erwartet Klara bereits ein Kind vom zwielichtigen Leonard; als sie von ihm verlassen wird, begeht sie schließlich Selbstmord,72 eine Tat, die in ihren Augen dem Vater-»Mord« vorzuziehen ist.73 Die emotionale Verbindlichkeit, die Klara dem Vater gegenüber empfindet, wird hier ad absurdum geführt und wendet sich ins Autoaggressive. Denn es ist bezeichnenderweise weder der als unerträglich empfundene, traumatisierende Verlust der Tugend (als Identitätsverlust), noch die traditionelle Furcht vor der öffentlichen Meinung. Grund für den Selbstmord ist vielmehr ein filiales Selbstverständnis, das sich nicht primär aus der sexuellen Übertretung speist, sondern aus der dem Vater geschuldeten Liebe. Insofern vermittelt der Vater in ›Maria Magdalene‹ zwischen einer gesellschaftlichen Norm und ihrer individuellen Applikation. Paternale und filiale Moral allerdings treten hier auseinander, der Beschluss der Tochter ist ein mediatisierter, d. h. er entspringt nicht einer substantiellen Wertekongruenz von Vater und Tochter (wie etwa in ›Emilia Galotti‹), sondern lediglich der Angst, den Vater zu enttäuschen. In der Figur des Vaters, an den die undankbare Tugendfrage zunächst delegiert wird, verdichtet sich Hebbels Analyse. Die problematische Konstellation im Text ergibt sich dabei aus der Rolle des Vaters in der Familie, wo er als wichtiger Exponent der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auftritt. Als solcher ist er gleichermaßen aggressiv und effizient, weil er mit seinem emotionalen Zugriff auf die Tochter die standardisierten Forderungen nachhaltig im72

73

Damit ermordet sie natürlich auch gleichzeitig ihr ungeborenes Kind. Dieses Motiv verweist zurück auf die formative Periode bürgerlicher Werte und zitiert hier einen historisch und literarisch zentralen Aspekt, der eine Kollision von Außenwerten und individuellen Werten deutlich zeigt. Das besondere juristische Interesse an diesem Phänomen im 18. Jahrhundert geht Hand in Hand mit entscheidenden Konzepten von Biopolitik und Individualität, wobei es besonders auf den Konflikt zwischen Individuum und Norm ankommt. Vgl. zu dem historischen Kontext des prominenten Motives des Kindsmordes gerade im Kontext der Sattelzeit: Isabel V. Hull: Sexuality, State, and Civil Society in Germany. Ithaca 1996, S. 111–126; ein Überblick über die Texte findet sich bei Kirsten Peters: Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet. Eine motivgeschichtliche Untersuchung der Literatur des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2001. Immer noch hilfreich: Jan Matthias Ramerckers: Der Kindsmord in der Literatur der Sturm- und Drang-Periode. Ein Beitrag zur Kultur- und Literatur-Geschichte des 18. Jahrhunderts. Rotterdam 1927. So hält sie fest: »Beides lieber als Vater-Mörderin!« (MM 59)

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plementieren kann; nicht nur die Last des normierten Verhalten wird dabei wieder an die Tochter abgegeben; überdies werden die Widersprüchlichkeiten des bürgerlichen Wertesets vollständig ausgeblendet und die Folgeprobleme für die Tochter ignoriert. Klaras Vater demonstriert damit (die dann kontextuell »bigotte«) konsequente Anwendung eines öffentlich geprägten, bürgerlichen Selbstverständnisses, das im Regelkanon keine Abweichung verorten kann. Der Vater besteht in diesem Sinne folgerichtig auf der Inexistenz, ja der vorgängigen Unmöglichkeit des Problems.74 Vor diesem Hintergrund muss er dem finalen Unglück ratlos gegenüberstehen: »Ich verstehe die Welt nicht mehr!« (MM 71), sind seine letzten, das Stück letztlich resümierenden Worte. In ›Maria Magdalene‹ ist der Vater damit nicht mehr in der Lage, das Individuelle gegen die öffentlichen Normvorgaben zu beherbergen. Sein paternales Selbstverständnis erweist sich als unhintergehbar von den gesellschaftlichen Dogmen generiert. Insofern der Vater in seiner spezifischen »Bürgerlichkeit« Akzidentielles und Substantielles nach den gleichen Standards bewertet, werden seine Regeln willkürlich, wie der Sohn in seiner ironischen Kritik am Vater prägnant festhält: Das Feuerzeug ist noch auf dem alten Platz, ich wette, denn wir haben hier im Hause zwei Mal zehn Gebote. Der Hut gehört auf den dritten Nagel, nicht auf den vierten! Um halb zehn Uhr muß man müde seyn! Vor Martini darf man nicht frieren, nach Martini nicht schwitzen! Das steht in einer Reihe mit: Du sollst Gott fürchten und lieben! (MM 62)

Die pertinenten Werte werden nicht mehr autonom generiert, sondern sie werden gemäß der öffentlichen Erwartung appliziert und erweisen sich so für alle Beteiligten als fatal. Genau in diesem Sinn fordert Hebbel ein besseres »Fundament« für die »Institutionen«, eine Re-authentifikation jener Werte, die mit einer transzendenten (»nothwendigen«) »Sittlichkeit« dann auch das individuelle Verhalten legitim bestimmen: […] der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld giebt, neue und unerhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen, er will, daß sie sich auf Nichts, als auf Sittlichkeit und Nothwen74

Der Druck für Klara speist sich genau aus dieser weitgehenden Logik der Kontrollierbarkeit, die schon in Kleists Texten ad absurdum geführt wurde. Erweist sich die Tochter als nicht tugendhaft, so muss der Vater seine Rolle schlecht versehen haben; wird sie zum Paradebeispiel tugendhaften Verhaltens, ist eine Rehabilitation in Sicht: »Dein Bruder ist der schlechteste Sohn, werde Du die beste Tochter! Wie ein nichtswürdiger Banquerottirer steh’ ich vor dem Angesicht der Welt, einen braven Mann, der in die Stelle dieses Invaliden treten könne, war ich ihr schuldig, mit einem Schelm hab’ ich sie betrogen.« (MM 39–40)

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digkeit, die identisch sind, stützen und also den äußeren Haken, an dem sie bis jetzt zum Theil befestigt waren, gegen den inneren Schwerpunct, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen.75

Die kurze Erzählung ›Die Kuh‹ dokumentiert diese Folgen der Veräußerlichung und Heteronomie noch prägnanter als ›Maria Magdalene‹. Der Vater verbrennt in diesem Text nach dem Geldzählen ein Stück Zeitungspapier, in das die Geldscheine eingewickelt waren; sein kleiner Sohn zündet schließlich, den Vater imitierend, im Spiel die Geldscheine an und wird vom Vater daraufhin im Affekt erschlagen – in dieser kausalen Kette wird diese neue Determination unübersehbar: Der Vater stürzte auf sein Söhnchen zu, faßte es, seiner selbst nicht mehr mächtig, bei den Haaren und schleuderte es ingrimmig gegen die Wand, als ob es eine giftige Schlange wäre, deren Stich er eben gefühlt hätte […] riß den am Ofen-Gestell hängenden neuen Strick herunter […] denn ein schneller, scheuer Blick zur Wand hinüber hatte ihn gezeigt, daß das Kind laut- und leblos mit geborstenem Schädel und mit verspritztem Gehirn am Boden lag.76

Anders als bei früheren Texten, vor allem bei Kleist,77 der hochkomplexe familienimmanente Konflikt ebenfalls in einer als Problem verstandenen Applikation bürgerlicher Werte verhandelt, scheint die momentane geistige Verwirrung des Vaters bei Hebbel aus der beruflich-sozialen Situation zu resultieren, d. h. ist klar von außen forciert. Der Vater, der mit dem Geld die materielle Stellung der Familie zu verbessern hofft, hat die intime Einbindung in den Kontext der Familie verlassen und nähert sich ihr in einer anderen, fremdbestimmten Rolle – der Verlust der intimen Freiheit im Familienkontext drückt sich hier als entfremdete väterliche Übermacht aus. Auf eine vergleichbare Weise beginnen die bürgerlichen Werte in ihrer allgemeinen, gesellschaftlichen Applikation zu einem entindividualisierenden öffentlichen Machtfaktor zu werden. Ihr emanzipatorischer Anteil verschiebt sich nach und nach zu einem repressiv-ideologischen. Im Zentrum der Paradoxie steht dabei der Vater, der zwischen öffentlicher und privater Sphäre changiert und droht, zum Tyrannen zu werden, sofern er diese Doppelung nicht durch eine klare funktionale Priorisierung auflösen und rationalisieren kann wie Ernst in ›Agnes Bernauer‹. 75 76 77

Hebbel, Vorwort zur ›Maria Magdalene‹, S. 43. Friedrich Hebbel: Die Kuh. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Richard Maria Werner. Bd. 8. Berlin 1904, S. 247–248. Das schockierende Bild des verspritzten Gehirns verweist lose auf zwei Kleist-Erzählungen (›Erdbeben von Chili‹ und ›Der Findling‹) zurück, in denen Vaterschaft verhandelt wird. Vgl. dazu das Kapitel zu Kleist.

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VIII. Adalbert Stifter: Koexistenz der Generationen durch Regulierung der Leidenschaften

Auch wenn sich diese Arbeit nicht auf Vaterschaft in einem poetologischen Sinne bezieht, ist es bei Stifter nützlich, eine Verbindung zwischen dem Thema »Vaterschaft«, Filiation und seiner spezifische Text-Ästhetik1 herzustellen, die inhaltlich präsentierte Genealogien performativ wieder aufgreift. Die von Peter Schäublin für Stifter indizierte »familial determinierte Einbildungskraft«2 wird von Cornelia Blasberg dementsprechend auch »für die Bestimmung der inneren Ordnung der Dichtungen, ihres strukturellen Zusammenhangs und ihres Verhältnisses zu den jeweils eingeblendeten Prätexten«3 genutzt. Blasberg zeigt in ihrer Monographie, dass die bei Stifter omnipräsente »Tradition«4 als mise en abyme auf der Handlungsebene und auf der Strukturebene inszeniert wird: »Stifters Erzählungen konstituieren und legitimieren sich durch ihren Rekurs auf zitierte Vorlagen«.5 Eine Intertextualität und ein deutlicher Fokus auf Vererbungen, Besitzübergaben, Tagebucheintragungen, die nachträglich gelesen werden etc., gehen somit Hand in Hand und positionieren Stifters Texte in einem selbst etablierten Kontinuum, in einer Tradition, die sich weniger auf eine explizite geschichtliche Kontinuität gründet, als vielmehr auf das Konzept einer geachteten und verstandenen Abkünftigkeit, die Stifters Texte auch in einer werkimmanenten Intertextualität ausstellen. Genealogische Ordnungen6 erscheinen dabei auf der Handlungsebene 1

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3 4 5 6

Dabei geht es tatsächlich weniger um einen in theoretischen Schriften oder auf der Handlungsebene der Texte artikulierten Kunstbegriff, sondern um die durch die Texte implizierte Ästhetik. Zu Stifters Kunstbegriff vgl. Christian Begemann: »Realismus« oder »Idealismus«? Über einige Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion von Stifters Kunstbegriff. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Hrsg. von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder. Tübingen 1996, S. 3–17. Peter Schäublin: Familiales in Stifters ›Nachsommer‹. In: Adalbert Stifter heute. Londoner Symposion 1983. Hrsg. von Alexander Stillmark, Johann Lachinger, Alfred Doppler. Linz 1985, S. 86–100, hier S. 89. Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg 1998, S. 33. Zum Traditionsbegriff im 19. Jahrhundert vgl. Blasberg, Erschriebene Tradition, S. 179–209. Blasberg, Erschriebene Tradition, S. 10. Vgl. dazu auch Weigel, Genea-Logik.

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der Texte in einer doppelten Phänomenologie. Parallel zum biologischgenealogischen Konzept nehmen auch konstruierte Genealogien einen großen Stellenwert ein. Indem die Texte ihre eigene Derivation strukturell und motivisch betonen, gewinnen Motive der Abstammung auf der Handlungsebene in der Inhalt-Form-Verdoppelung eine quasi-ontologische und damit eine stabilisierende (keineswegs aber per se eine restaurative) Qualität.7 Mit dem Blick auf das Phänomen Vater ist die Doppelung eine entscheidende, weil es im Folgenden um Stifters Restituierungsversuch eines zunehmend problematischen Vaterkonzepts geht. Die neue Aufwertung von Vaterfiguren bei Stifter korrespondiert in gewissem Sinne inhaltlich mit Aspekten des »bürgerlichen Realismus«, insofern sie auf das drängende Problem der zunehmenden Erosion als sinnhaft empfundener gesellschaftlicher Strukturen reagiert.8 Zuvor soll aber kurz eine hier einschlägige Konsequenz der Revolution von 1848/49 (und der nachfolgenden Selbstverortung und Funktionsbestimmung realistischer Literatur) untersucht werden: die nochmals akzentuierte Abgrenzung von Privatsphäre und Öffentlichkeit unter veränderten Prämissen.9 Das bürgerliche »Haus« avanciert zu einer Größe, die jene bürgerlichen Wertehorizonte um 1800 auf eigentümliche Weise verdinglicht und in dieser Hypostasierung zuspitzt und verändert. Wilhelm Heinrich Riehl ist wohl der bekannteste Vertreter einer »Haus«-Philosophie, die er »in einer Mischung aus politisch-historischer Reflexion, empirischer Beobachtung und nostalgischer Beschwörung« in ›Die Familie‹ vermittelt und dabei jene »sentimentale Familienidylle [skizziert], die man gewohnt ist, dem 19. Jahrhundert zuzuschreiben.«10 Riehls Überlegungen stellen die Familie ins Zentrum einer dringend gebotenen gesellschaftlichen Regeneration, wobei er kunstvoll die Widersprüche der Zeit in metaphorischen Zuschreibungen auflöst, denen zufolge der Staat als dezi7

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Was eben nicht bedeuten soll, dass die Texte insgesamt diese Stabilisierung nicht wieder in Frage stellen, vgl. dazu Jochen Berendes: Ironie – Komik – Skepsis. Studien zum Werk Adalbert Stifters. Tübingen 2009. Um die Tragfähigkeit eines weiterhin klassisch geprägten Literaturverständnisses des ›bürgerlichen Realismus‹, das beansprucht, eine purifizierte Essenz der komplexen zeitgenössischen Realität, in der die Möglichkeit individueller und autonomer Mitgestaltung fragwürdig geworden ist, (mimetisch) zu präsentieren, wird es im Folgenden nicht gehen. Vgl. generell zu den historischen Veränderungen Heide Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1990. Ulrich Kinzel: Ethische Projekte. Literatur und Selbstgestaltung im Kontext des Regierungsdenkens: Humboldt, Goethe, Stifter, Raabe. Frankfurt am Main 2000, S. 354.

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diert männlich,11 die Familie aber als weiblich verstanden wird.12 Damit impliziert er für die Dissonanz von Privatheit und Öffentlichkeit eine Lösung, die auf das besonders um 1800 prominente Konzept der Komplementarität zurückgeht. Die Sphären werden also figural harmonisiert, an die Stelle der (weiblich determinierten) Familie allerdings tritt nicht nur das beschworene Modell der gefühligen Intimität und Privatheit, sondern auch – in erstaunlicher Weise – die Adaption einer älteren Institution: nämlich die des »ganzen Hauses«, die das bürgerliche Familienmodell in der Hausgemeinschaft verortet. Als partielle Integrationsideologie überbrückt Riehls Glorifizierung des »alten« (natürlich aber realiter anachronistischen) Familienmodells die signifikante Kluft, die er als Differenz von Staat, Gesellschaft und Familie diagnostiziert. Insofern Stifter in einigen Punkten an Riehls konkrete, volkskundliche Exempla eines gelungenen häuslichen Lebens anknüpft, ist der Versuch des Letzteren, Familie mit Aspekten der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und des Staates zusammen zu denken im Folgenden zentral. Der Zeit um 1800 mit dem komplexen Entwurf eines bürgerlichen Tugendkanons, der auf eine öffentliche Installation drang, folgte auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts keine staatliche Applikation.13 Vielmehr sicherte das Überleben einer ostentativ privaten Moralsphäre die Dignität und zweckgerichtete Moral des Politischen als abgekoppeltes System.14 Für die öffentliche Seite der historisch komplexen Entwicklung15 zur Trennung von den Werten im System der Politik und der »gesellschaftlichen Öffentlichkeit«, wie ich sie eben im Rekurs auf Hebbel beschrieben 11 12

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Riehl, Die Familie, S. 6. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als R mit der entsprechenden Seitenzahl. »Die Familie setzt nur das Individuum voraus; Staat und Gesellschaft aber setzen bereits die Familie voraus; und haben es darnach im Allgemeinen nur mit dem öffentlichen Stellvertreter der Familie zu thun, mit dem Manne.« (R 11). Dementsprechend fasst Dieter Langewiesche die drei zentralen Anliegen der gescheiterten Revolution auch als »Staatenbildung nach dem Nationalitätenprinzip, Demokratisierung des politischen Herrschaftssystems und Neuordnung der Sozialverfassung.« Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution. 1815–1849. 3München 1993. Jeder Fokus auf die Möglichkeit eines moralisch untadeligen Lebens kann deswegen mit gleichem Recht als apologetisch-affirmativ wie auch als veränderungsorientiert gedeutet werden. Die Opposition von einer staatlichen Machtsphäre und einer privaten ethischen Sphäre ist mit Blick auf Stifters Adaption dieses Problems im ›Nachsommer‹ genau zu sondieren. Vgl. dazu als Überblick Eric Hobsbawn: Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1875. Frankfurt am Main 1980. Insgesamt auch Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. 5München 1990, besonders S. 674–683.

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habe, liefert Ludwig August von Rochau16 1853 mit »Realpolitik«17 ein zukunftsträchtiges Stichwort, das sich für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als äußerst wirkungsmächtig erweisen sollte. Die von Rochau propagierte Selbsterhaltung als Naturgesetz des Staates und als vorgeschlagene Staatslegitimation durch Funktionstüchtigkeit wehrten die (ohnehin diskreditieren) »Phantasiebilder«18 des Vormärzes und der Revolution dezidiert ab und stellten Theoreme der Machterhaltung jeder moralischen Handlungsreflexion voran. Das hatte für den Funktionshorizont von Literatur weitreichende Folgen, die Gerhard Plumpe folgendermaßen resümiert: »Überspitzt formuliert: Der literarische Realismus war die Kompensation des politischen Realismus; denn der Literatur wurde die Aufgabe zugemutet, gerade angesichts einer als ›undurchsichtig‹, ›abstrakt‹ oder ›diffus‹ erfahrenen Lebenswirklichkeit die Möglichkeit einer harmonischen und in der Realität wieder erkennbaren Ordnung zu vergegenwärtigen.«19 Plumpes prägnante »Überspitzung« antizipiert einen Untersuchungsschwerpunkt dieses Kapitels, insofern sich mit einem pragmatischen Machtbegriff in der Öffentlichkeit entscheidende Veränderungen für das bürgerliche Selbstverständnis ergeben, das in seiner moralischen Ausfächerung wiederum im (nunmehr aber kollektiv gefassten) Privaten relokalisiert wird: Bei diesem Schritt musste natürlich der einstmals konstitutive universale Anspruch (vorübergehend) aufgegeben werden. Obwohl die weiterhin zunehmende Entfremdung von Staat und Gesellschaft ausgiebig beklagt wurde, konnte sie nun insofern instrumentalisiert werden, als sie die Aufrechterhaltung des moralischen Anspruchs und der zweckrationalen »Realpolitik« perfekt austarierte. Die bürgerlichen Werte, wie sie um 1800 ausgebildet wurden, waren dabei nicht mehr geeignet, die beiden Sphären zu assimilieren: Formulieren sie im Kontext der Menschenrechtsbewegung im Zeitalter der Französi16

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18 19

Zu Rochau und zu einer detaillierten Bestandsaufnahme von Moral und Politik vgl. Natascha Doll: Recht, Politik und »Realpolitik« bei August Ludwig von Rochau (1810–1873). Frankfurt am Main 2005, S. 38–41. Der nachhaltige Erfolg und das populäre Verständnis dieses Terminus weichen von Rochaus differenzierter Analyse ab. Ludwig August von Rochau: Grundsätze der Realpolitik angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1972. In seinen Grundsätzen zur Realpolitik vertritt Rochau die Auffassung, dass die Zersplitterung Deutschlands nur durch Gewalt, nicht auf rechtlichem oder vertraglichem Weg überwunden werden könnte. Die Gleichsetzung von Staat und Macht wird im Folgenden noch eine Rolle spielen. Rochau, Grundsätze, S. 24. Gerhard Plumpe: Einleitung. In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Hrsg. von Gerhard Plumpe. Stuttgart 1985, S. 16.

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schen Revolution noch einen allgemeinen Anspruch, der aus der Privatsphäre selbstverständlich auf die (bürgerliche) Öffentlichkeit übertragen wurde, so werden nun die inhärenten Paradoxien und Übertragungsprobleme zunehmend deutlicher. Individuum und Gruppenmoral konnten schon bei Lessing auseinander treten; insofern wurden bereits bei ihm zwei letztlich interferierende Aspekte (Individualität und partielle Normenkonformität bei der Liebeswahl) der bürgerlichen Wertegenese greifbar. Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts koppelt sich das kondensierte Wertesystem in einem Abstraktionsprozess von den Individuen ab. D.h. die »gesellschaftliche Öffentlichkeit« divergiert von dem Kollektiv der Individuen, auf das sie als Normierung anwendbar wird – sie wird zu einer abstrakten Gruppenmoral. Aus diesem Prozess lässt sich auch die eben bei Hebbel beschriebene Legitimation der zweckethischen Inversion ableiten.20 Mit der »gesellschaftlichen Öffentlichkeit« als moralischem Movens bietet Hebbel eine Konstruktion für dieses Phänomen an, in der die Unversöhnbarkeit der Sphären trotzdem augenfällig wird (nämlich als Tragödie). In einer Imitation der Strategie um 1800 wird im »Haus« dann wiederum der Ausgangspunkt für eine Modellbildung gesucht, die zwischen den heterogenen Feldern Staat, Gesellschaft und Familie vermitteln konnte.21

1.

Souveränität – Verschiebung ins Private: ›Der Nachsommer‹ im Kontext

In Wilhelm Heinrich Riehls Überlegungen zur Familie sind einige Anachronismen erkennbar, die sich als äußerst aufschlussreich für die Lektüre Stifters erweisen. Riehls Untersuchung gründet sich auf den Krisenbefund eines gesellschaftlichen Niedergangs, für den seiner Meinung nach besonders die Emanzipation der Frau verantwortlich zeichnet. Diese gegenderte Anamnese weist der Frau die »aristokratische« Rolle der Bewahrerin zu, während die Männer die Kräfte der »Bewegung« verkörpern: 20 21

Vgl. dazu das Kapitel zu Hebbel. Dies mag dezidiert rückwärtsgewandte Elemente haben, kann aber nichtsdestoweniger entwicklungsorientiert sein, wie anhand von Stifters »Utopie« in ›Der Nachsommer‹ exemplarisch zu zeigen sein wird. Für die zeitgenössischen Entwicklungen, insbesondere die Trennung von Staat und Gesellschaft etc., können fraglos zahllose Textbeispiele angeführt werden; der Fokus auf Stifters ›Nachsommer‹ scheint aber besonders ertragreich, weil hier eine tatsächliche Interaktion zwischen Vater/Vaterfigur und Sohn ausführlich beschrieben wird.

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»Der Mann also stellt in der Familie die Potenz dar, welche das Bürgertum hauptsächlich in der Gesellschaft vertritt.« (R 13) Diese Technik, politischen Phänomenen private Entsprechungen zuzuweisen, ist zentral, weil Riehl durch sie einen Versöhnungsansatz formulieren kann, der, ohne die grundsätzlichen strukturellen und konzeptuellen Probleme der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirklich zu benennen oder zu lösen, sowohl einen Beschreibungsmodus entwickelt als auch ein Korrektiv insinuiert. Auffällig ist der Rekurs Riehls auf eine moralische Erneuerung, eine sittliche Öffentlichkeit, die getragen und gespeist wird durch »die Familie«. Diese »gesellschaftliche Öffentlichkeit«, die von verschiedenen Autoren heraufbeschworen und – postulativ oder kritisch – mit verschiedenen Facetten ausgestattet wird, erweist sich als eine rekurrente analytische Kategorie in den Texten. Sie erscheint zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits als dringend erneuerungsbedürftig.22 Riehls »emanzipatorisches« Credo lautet nun: Reinstallation der Familie und prominente Platzierung der Frau als ihr entscheidendes Element, das die »Sitte« in der Familie bestimmt. Dies ist im Folgenden maßgeblich, weil sich durch Riehls Technik der Analogisierung und Parallelisierung auch die wichtige Vernetzung von Familie und Gesellschaft ergibt, der seine Überlegungen eigentlich gelten. Die Restituierung der Familie ist ein Antidot gegen den beobachteten »Verfall«, gegen die gefürchtete und als schädlich empfundene Modernisierung einer Gemeinschaft, die in ihrer öffentlichen Erscheinungsform die »Sitte« eingebüßt hat. Riehl geht es also um die Genesung und Re-Authentifizierung der Moral (wie sie auch Hebbel fordern würde) in der »gesellschaftlichen Öffentlichkeit«, die abseits des Politischen im Gesellschaftlichen existiert. Bei Riehl wird die neue moralfreie Sphäre des Staates deshalb von der geforderten Purifizierung der Sitten nicht berührt, weil er mit seiner rhetorisch als Komplement ausgewiesenen Vorstellung von Staat und Gesellschaft23 deren Trennung und Verschiedenheit analytisch voraussetzt und 22

23

Auf die Frage, inwieweit sie allerdings auch erneuerungsfähig ist, finden die Autoren verschiedene Antworten. Mehrere Jahrzehnte später nimmt Fontane die »gesellschaftliche Öffentlichkeit« als monolithische, repressive Einheit wahr, während Stifter in ›Der Nachsommer‹ noch einen Versuch vorlegt, der zunehmend abstrakten Größe eine konkrete familiale Grundlage zu geben. Vgl. zu den verschiedenen historischen Konzeptionen von ›Gesellschaft‹ Manfred Riedel: Der Begriff der »bürgerlichen Gesellschaft« und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs. In: Staat und Gesellschaft. Hrsg. von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Darmstadt 1976, S. 77–108. Dort besonders auch die Verortung von Hegel: »Was Hegel mit dem ›bürgerlichen Begriff Gesellschaft‹ in das Bewußtsein der Zeit erhob, war nichts Ge-

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bestätigt. Staatsrecht – so Riehl – sei »Formenlehre« (R 9), während »Wissenschaft vom Volke« als Lehre »von den politischen Stoffen« verstanden wird (R 10). Er besteht auf dem Recht der theoretischen Sonderung, insofern sich zwar im Staatsleben Stoff und Form »fortwährend durchdringen« wie in einem Kunstwerk. Da man allerdings auch dem »Ästhetiker« konzediert, diese Unterscheidung zu treffen, insistiert Riehl ebenfalls auf der »wissenschaftliche[n] Schärfe« seines Analysemodells. Auffallend bleibt dabei, dass die Durchdringung postuliert und vorausgesetzt, jedoch nie konzeptuell beleuchtet wird: »Familienleben und Staatsleben bedingen sich nicht in ihrem Prinzip, wohl aber in ihren Wirkungen. […] Und doch handelt es sich hier um eine wahre Naturmacht zur Stütze der erhaltenden Staatskunst […].« (R 11) Stattdessen werden beiden Sphären explizit unterschiedliche Legitimationshorizonte zugewiesen. Familie hat dabei mehrere Implikationen. Metaphorisch steht sie für die Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft (also quasi für die »Ehe« zwischen männlichem Staat und weiblicher Familie), konkret für die historisch-reale Familieneinheit und postulativ für die regulierbare kleinste Entität als »Vorgebilde« der »bürgerlichen Gesellschaft« (in der Terminologie dieser Arbeit: »gesellschaftliche Öffentlichkeit«): Die Familie ist nur das natürliche Vorgebilde der Volkspersönlichkeit, d. h. der bürgerlichen Gesellschaft. Beide sind, gleichsam als Naturprodukte unserer geschichtlichen Entwickelung, bestimmt durch die Sitte; der Staat dagegen ruht auf der Idee des Rechtes. So verkehrt es daher ist, den Staat als eine erweiterte Familie zu betrachten, so verkehrt ist es, bei der Familie oder der bürgerlichen Gesellschaft nach der beiden Organismen zu Grunde liegenden Rechtsidee zu fragen. (R 144)

Eine Konzeption des Staates als erweiterter Familie also ist expressis verbis nicht die Vision von Riehls Buch, sondern verkörpert für ihn vielmehr eine »höchst niedrige[ ] politische[ ] Entwicklungsstufe des patriarchaliringeres als das Resultat der modernen Revolution: die Entstehung einer entpolitisierten Gesellschaft durch die Zentralisierung der Politik im fürstlichen bzw. revolutionären Staat und die Verlagerung des Schwerpunktes auf die Ökonomie, die eben zur selben Zeit diese Gesellschaft mit der industriellen Revolution, in der ›Staats-‹ bzw. ›National-Ökonomie‹ erfuhr. Erst in diesem Vorgang traten innerhalb der europäischen Gesellschaft ihre ›politische‹ und ›bürgerliche‹ Verfassung auseinander, die vordem, im sprachlichen Paradigma der alten Politik, ein und dasselbe bedeutet hatten.« Ebd., S. 99. Zur historischen Dimension auch Erich Angermann: Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft im Denken des 18. Jahrhunderts. In: Staat und Gesellschaft, S. 109–130. Werner Conze: Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands. In: Staat und Gesellschaft, S. 37–76.

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schen Staates« (R 144). Die notwendige Regulierung der Diskrepanzen erfolgt vielmehr über das Modell der »gesellschaftlichen Öffentlichkeit«. Die Inkompatibilität der Sphären (die, wie schon Hebbel impliziert, in einem bloßen Inklusionsverhältnis stehen)24 bestätigt die Trennung zwischen »Form« und »Stoff«, entwirft »Sitte« und »Recht« als komplementäre Gegensätze und bestärkt dabei wiederum das Recht und nicht die Sitte als Urgrund des Staates. Die Familie ist dagegen »auf den Schwerpunkt der sich ergänzenden Liebe und der auf diese gegründeten bewegenden Mächte der Autorität und Pietät [ausgerichtet].« (R 144)25 Auch wenn der Vater als Gelenkstelle zwischen den Sphären Staat und Familie/ Gesellschaft fungiert, unterliegt er in beiden Sphären unterschiedlichen Verhaltensnormen.26 Mit Blick auf die Familie werden dabei integrale Komponenten der bürgerlichen Kleinfamilie im destruktiven Sinne als »modern« interpretiert. Es lohnt sich hier, ausführlicher zu zitieren, weil Riehls Überlegungen zur Liebesheirat eine deutliche Differenz zur topischen Bedeutsamkeit einer emotional begründeten Ehe in der Literatur seit dem 18. Jahrhundert artikulieren: Im Bürgerthum tritt die sociale Geltung der Familie in den Hintergrund. Die Ehe hat allenfalls noch ihre Romantik, aber nicht mehr ihre Politik. Die Neigungsheirathen überwiegen in eben dem Grade, wie bei den Bauern und Edelleuten die Standes- und Konvenienzheirathen. […] Die moderne bürgerliche Sitte hat die patriarchalische Gewalt des Hausvaters möglichst abgeschwächt. Die altfränkische Forderung eines ›Segens der Eltern‹ ist hier in der Oper und dem Schauspiel fast zu größerem Ansehen und drastischerer Wirksamkeit gekommen, als im wirklichen Leben. Ein Liebender, der nach altbürgerlicher Art zuerst beim Vater um die Hand der Tochter anhielte, um hintendrein seine Ehewerbung bei jener zu beginnen, würde sich geradezu lächerlich machen. Bei dem Bürgerthum verengert sich die historische und sociale Anschauung von der im Stamme und allen seinen Zweigen erst abgeschlossenen Familie zu der des vereinzelten häuslichen Kreises. (R 53) 24

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Weder in der Familie noch in der bürgerlichen Gesellschaft findet sich eine »Rechtsidee, wohl aber kann und muß der Staat die Familie wie die Gesellschaft hinüberziehen in seine Rechtsphäre.« (R 144) Vgl. dazu auch Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart 1961, der die Epoche resümiert mit dem Satz, »daß die ›Bürgerliche Gesellschaft‹ durchaus nicht gleichbedeutend sey mit der ›politischen Gesellschaft‹, daß der Begriff der ›Gesellschaft‹ im engeren Sinne, so oft er thatsächlich hinüberleiten mag zum Begriffe des Staates, doch theoretisch von demselben zu trennen sey.« Ebd. S. 5. »Die Familie setzt mir das Individuum voraus; Staat und Gesellschaft aber setzen bereits die Familie voraus, und haben es darnach im Allgemeinen nur mit dem öffentlichen Stellvertreter der Familie zu thun, mit dem Manne.« (R 11)

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Die implizierte Isolation des häuslichen Lebens erweist sich nicht nur als problematisch, weil mit ihr sowohl die »Abspannung des öffentlichen Lebens« als auch die Erschlaffung der »Sitte« (R 64) des Hauses einhergeht (immer bezogen auf die hier beschriebene, durchlässige27 Doppelsphäre Familie/Gesellschaft). Hier wird eine Dynamik kritisiert, die jene für die bürgerlichen Werte zentrale romantische Liebe von der Macht des Vaters entkoppelt. Riehl formuliert die Notwendigkeit, die potentiell »asoziale« Paarliebe a priori im Kontext der Herkunftsfamilie einzufrieden. Damit deutet er (ohne die Implikation einer »sexuellen« Verwilderung) eine Problematik an, die eine Konkurrenz von Herkunfts- und Zeugungsfamilie grundsätzlich zugunsten der Herkunftsfamilie aufheben will. Obwohl die »romantische Liebe« bei Stifter zentral bleibt, ist gerade für den ›Nachsommer‹ die Zustimmung zur Ehe, die beide »Väter«28 geben, in dem von Riehl wehmütig angedeuteten Sinne maßgeblich. Darauf wird zurückzukommen sein.29 Entscheidend ist bei Riehl zudem die Rolle des Hausvaters, wobei dessen Funktionen auch für die Rolle des staatlichen Souveräns von Bedeutung sind. Der Hausvater übernimmt Elemente herrschaftlicher Macht im häuslichen Kontext, konkretisiert sie und lädt sie auf diese Weise mit authentischer moralischer und individueller Bedeutung auf. Zu dieser impliziten Dimension einer quasi-staatlichen Autorität lohnt noch einmal ein kurzer Rekurs auf die historische Entwicklung der Repräsentations- und Verkörperungsprozesse, die sich in ihrer komplexen Mehrschichtigkeit gut anhand des Verfassungsstreits in Hannover (1837) beschreiben lassen. Mit ihm kann exemplarisch die Souveränitätsdebatte der Zeit und damit die Stellung Stifters und Riehls im Kontext der Modernisierungsprozesse beleuchtet, aber auch die Grenzen der verwendeten Topoi angesichts der verfassungsrechtlichen Realität aufgezeigt werden. Der Verfassungsstreit ist politisch als Manifestation der sich solidarisierenden freiheitlich-nationalen Kräfte zu sehen, die gegen die autoritäre Willkür des Monarchen protestierten.30 Um diese Ebene der Debatte soll es hier nur bedingt gehen, denn unterschwellig werden anhand der Argumentation auch zwei andere, gleichlaufende Entwicklungen deutlich: zum einen die Abstrahierung einer Gewalt (die hier auch positiv 27 28 29 30

Insofern das »ächte Familienleben« schon immer »eine Form des öffentlichen« (R 77) ist. Damit sind hier Heinrichs Vater und Risach gemeint, der sowohl für Heinrich als auch Natalie als kulturelle Vaterfigur fungiert. Vgl. dazu das Kapitel Quasi-Endogamie. Jürgen Müller: Deutscher Bund. 1815–1866. München 2006, S. 23.

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als Prozess der Liberalisierung verstanden werden kann) und zum anderen die Gegenrhetorik, auf die der König im Modus einer legitimatorischen Inszenierung zurückgreift. 1837 kassiert der frisch inthronisierte König Ernst August das seit 1819 konzedierte und seit 1833 erweiterte Staatsgrundgesetz (das mehr Repräsentativ-Rechte einräumt). Bekanntlich weigerten sich unter anderem sieben Göttinger Professoren, diese unilaterale Aufkündigung anzuerkennen. Während der König seine Handlungen in tradierter Rhetorik mit paternalen »Gefühlen«31 rechtfertigt, formuliert Wilhelm Eduard Albrecht, einer der »Göttinger Sieben«, eine juristische Analyse, in der er den Staat als eine neutrale, juristische Person definiert: Die ältere ›privatrechtliche‹ Auffassung vom Staat, in ihren politischen Konsequenzen reaktionär, steht gegen die neuere öffentlichrechtliche, die den Staat aus dem Dualismus von Fürst und Volk herausnimmt […]. Damit ist der dogmatische Zentralpunkt verschoben. Der Monarch ist juristisch nicht mehr (Privat-)Eigentümer des Staates, was er ja im Grunde schon während der gesamten frühen Neuzeit nicht war, sondern Organ der juristischen Person, und staatsethisch ist er Diener eines konstitutionell verfaßten Ganzen.32

Im Unterschied zur Volkssouveränität oder Fürstensouveränität entwirft Albrecht somit eine Art »Staatssouveränität«.33 Diese Diskussion ist historisch im Kontext eines deutschen Typs der konstitutionellen Monarchie zu betrachten, wie ihm unter anderem Ernst Rudolf Huber nachgegangen ist.34 Dies gilt besonders für die Staaten des deutschen Bundes, in denen, wie etwa in Bayern, der Monarch »quoad usum unter der Verfassung, quoad substantiam aber über der Verfassung« 31

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Ernst Rudolf Huber: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850. 3. neubearbeitete und vermehrte Ausgabe. Bd. 1. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1978, S. 294: »Dieses hat auf Unser Gemüth einen tiefen Eindruck gemacht, der nie daraus verschwinden wird, und Unsere treuen Unterthanen mögen dagegen versichert sein, daß Unsere Gefühle für sie die eines Vaters für seine Kinder sind, und daß Wir den unwandelbaren Entschluß gefaßt haben, Alles zu thun, was die Landes-Verfassung auf eine solche Art begründen kann, daß das ursprüngliche Zutrauen zwischen dem Regenten und Seinem Volke bewahrt und immer mehr befestigt werde.« Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. München 1988, S. 91. Thomas Frank: Der Staat als juristische Person. In: Der fiktive Staat, S. 319–382, hier S. 328. Vgl. auch Ebd., S. 349: »Die nun möglich gewordene Anwendung der PersonenMetapher auf den Staat ist die juristische Konsequenz aus jenen Vorgängen der Dekorporation, denen die Französische Revolution die Monarchie und die Gesellschaft ausgesetzt hatte.« Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 3. Stuttgart 1963, S. 4ff.

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steht.35 Im Gegensatz dazu wäre etwa in der konstitutionellen Monarchie Belgiens der König »nicht Souverän, sondern Staatsorgan, König der Belgier, nicht König von Belgien.«36 Für die nachrevolutionäre Realität (post 1848/49) erweisen sich dann genau die antagonistischen Anspruchshaltungen als entscheidend, die mit diesen unterschiedlichen Souveränitätskonzepten Hand in Hand gehen: zum einen ein zunehmendes Machtgefühl der Monarchen (die sich substantiell über der Verfassung wähnen)37 und zum anderen das Selbstbewusstsein der bürgerlichen Bildungsschichten (für die der König lediglich ein Staatsorgan darstellt). In diesem Sinne ist hier das Beispiel des Verfassungsstreits von 1837 aussagekräftig.38 Das monarchische Anspruchsdenken artikuliert sich nun im Verfassungskonflikt auf einschlägige Weise. Die Abstraktionsbewegung, die im juristischen Diskurs als emanzipatorisch (d. h. im Einklang mit den Grundwerten der Partizipation) verstanden werden kann, wird vom König anders akzentuiert. Er rekurriert auf eine tradierte Rhetorik, die das Integrationsbedürfnis statt des Partizipationsbedürfnis anspricht, und begründet seinen Machtvorteil mithilfe der bekannten paternal-pastoralen Symbolik: Unsere getreuen Unterthanen können sich davon überzeugt halten, daß Wir die Erfüllung einer heiligen, Unserm landesväterlichen Herzen theuern, Pflicht darin gesucht haben, bei dieser Prüfung alle in Betracht zu ziehenden Verhältnisse auf das sorgfältigste zu berücksichtigen, und daß Unsere Wünsche dabei stets auf das Glück und die Zufriedenheit Unsers treuen Volkes gerichtet gewesen sind.39 35 36

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Laut der Tit. II § 1 der Verfassung von 1818, vgl. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 278. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 279. Die belgische Verfassung geht auf die französische Verfassung von 1791 zurück und hält fest: »Tous les pouvoirs émanent de la nation.« Belgische Verfassung von 1831, Art. 25. Gerade auch in Österreich zeigen mehrere kaiserliche Erlasse 1851 eine deutlich konsolidierte kaiserliche Macht, die sich auf dem Weg in einen Neo-Absolutismus befindet. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 206. Geopolitisch sind die folgenden zentralen Texte natürlich im Kontext von Österreich und Preußen anzusiedeln sind und nicht – wie Hannover – in der rechtlichen Sphäre des Deutschen Bundes – die exemplarische Bedeutsamkeit des Hannoveraner Beispiels gilt hier dennoch. Vgl. auch Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 292. Weiter heißt es: »Da Wir auf die Liebe, das Vertrauen und die Ergebenheit Unserer geliebten Unterthanen einen sehr hohen Werth legen, so haben die vielfachen Beweise, welche Wir davon seit Unserer Thronbesteigung erhielten, Uns mit lebhafter Freude erfüllt, und Wir bezeugen gern dafür Unserm treuen Volke Unsern vollen Dank.« Ebd., S. 294. Auch im politischen Kontext können dabei mehrere Argumentationsmodelle und -ebenen gleichzeitig evoziert werden. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat u. a. darauf hingewiesen, dass bereits in organischen Staatskonzepten eine De-Personalisierung der Staatsgewalt enthalten ist. Das schließt allerdings nicht

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Ernst Augusts bemühte Rhetorik zeigt deutlich, dass Versinnbildlichungstechniken – mehr oder weniger überzeugend – gerade auch in der Sphäre der Politik eine Geltung beanspruchen, insofern hier kollektive Identitäten/Rollen verhandelt werden.40 Politische Partizipationsansprüche (gespeist aus dem folgenreichen Individualitätskonzept) und Integrationsbedürfnis können auseinander treten oder zumindest (wie hier) taktisch gegeneinander ausgespielt werden. Politisch jedenfalls greifen die bisher beschriebenen Dilemmata ebenfalls und manifestieren sich hier in augenfälliger Nähe zu familialen Mustern. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 gestaltet sich die Situation nun nochmals komplexer, insofern die hier schon des Öfteren in den Texten beobachtete, allmähliche Abkopplung des Politischen (Staatlichen) vom Gesellschaftlichen nunmehr politisch (als »Realpolitik«) umgesetzt wird.41 Diese komplizierte historische Bewegung in ihren bürgerlichen Chancen (als Partizipation) und Grenzen (als zunehmende Abstrahierung)

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aus, dass sich die Vorstellung wiederum an ein organisches Familienmodell ankoppelt. Vgl. dazu besonders die späteren Überlegungen von Carl Friedrich Gerber zur Persönlichkeit des Staates, in der die Vernetzung der verschiedenen Bezugspunkte noch deutlicher wird: »Keineswegs aber wurden aus der Lehre von der juristischen Persönlichkeit des Staates stets die gleichen rechtlichen Ableitungen gezogen. Sie diente vielmehr unterschiedlichen politischen Kräften zur juristischen Fundamentierung ihres Programms. Noch Albrecht verfolgte mit seiner Theorie die Absicht, den Fürsten juristisch als Staatsorgan an die Verfassung zu binden und wird daher heutzutage als liberaler Verfechter der konstitutionellen Idee im Hannoverschen Verfassungskonflikt geehrt. Wenige Jahrzehnte später aber finden wir die Staatspersönlichkeitslehre als Grundlage einer einseitig auf die Staatsgewalt und die monarchische Herrschaft ausgerichteten Staatsrechtslehre.« Henning Uhlenbrock: Der Staat als juristische Person. Dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff der deutschen Staatsrechtslehre. Berlin 2000, S. 17–18. »Mit Hilfe der Organismustheorie und der Lehre vom Staat als juristischer Person gelingt es, die Souveränität auf eine abstrakte Ebene zu heben und dem Staat als Bezugspunkt zuzuweisen. […] Nach dieser neuen Vorstellung ist Träger der Staatsgewalt der Staat und niemand anders; natürliche Personen können nicht Inhaber oder Subjekte der Staatsgewalt sein, sondern nur ›Organe‹ der juristischen Person ›Staat‹ sein.« Utz Schliesky: Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt. Tübingen 2004, S. 99. Die Rolle, die Ernst August als Desiderat impliziert und in seiner Logik im Text instrumentalisiert, wird dagegen – so zeigt es Riehl – in der Gesellschaft, in der (erweiterten) Familie verankert. Damit allerdings bleibt sie auch für den politischen Kontext weiter verfügbar (wie es etwa die Festkultur exemplarisch zeigt), um Herrschaft zu versinnbildlichen. Diese bewährt sich als Legitimationsrhetorik bis ins 19. Jahrhundert. Vgl. etwa Simone Mergen: Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern. Leipzig 2005, S. 129–153. Damit werden die bürgerlichen Werte, wie sie sich um die Jahrhundertmitte darstellen, auf der einen Seite kupiert, da sich die politisch logischen Konsequenzen in ihrer Realisierung als problematisch erweisen; auf der anderen Seite aber erhalten sie gleichzeitig in einer neuen konventionalisierten Form ihren festen Platz in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

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wird bei Stifter nun literarisch prozessiert. In der Dialektik von einer kunstsystemischen Ein- und Ausbettung in eine diskursive Umwelt wird eine Beobachtungsrealität kreiert, die wiederum partiell im Kunst-System und partiell in der Realität der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung zu verorten ist. Das Oszillationssymbol bezieht seine Wirkungsmächtigkeit und Evidenz aus dieser Dialektik,42 so dass sowohl in politisch-strategischen Argumentationstopoi (wie hier exemplarisch bei Ernst August) als auch in Riehls kulturhistorischen Überlegungen sowie in ›Der Nachsommer‹ ähnliche rekurrente Muster erkennbar sind, auch wenn sie sich systemspezifisch anders ausdifferenzieren. In diesem Sinne bleiben die beschriebenen politisch-historischen Entwicklungen in Stifters Text präsent, gerade auch in der vollständigen, ostentativen Abwendung vom politischen Geschehen. Stifter knüpft seine Überlegungen eng an das mittlerweile fest etablierte Paradigma der Privatheit (das sich hier zur Gesellschaft ausgewachsen hat). Innerhalb dieser re-naturalisierten Sphäre werden nun aber grundsätzliche Probleme berührt und verwaltet, die sich auf die Regulierung menschlichen Zusammenlebens beziehen. Auch bei Stifter wird das häusliche Leben zum Modell des »richtigen« Lebens (gerade auch im Kollektiv), da sich Regulierung in einer konkreten Situation an den bürgerlichen Normen orientiert, ohne dass diese ausgesetzt werden können (bzw. ausgesetzt werden müssen, wie bei Hebbel). Stifter vollführt also eine politisch induzierte Spaltungsbewegung (mit der unterschiedliche Aktionsparadigmen für Staat und Gesellschaft postuliert werden) und zieht sich mit seinem bürgerlichen Wertesystem auf eine gesellschaftlich erweiterte Privatwelt zurück. Damit reagiert er zum einen unmittelbar auf die Ereignisse nach der Revolution, faltet aber zum anderen das Element des Staatlichen, des Politischen ins Private zurück und imitiert damit eine Strategie, die auch im 18. Jahrhundert gängig war. Paradoxerweise wird die Abkoppelung (als Folge) wiederum zugleich zur Voraussetzung, verschiedene Ansprüche (sinnhafte Herrschaft, Integration, Werte) konkret für einen Mikrokosmos zusammenzudenken.

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Es stellt damit ein Modus für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung bereit, die sich, wie bereits in der Einleitung angedeutet, als Produkt einer Systeme-Umwelt-Interferenz nicht mehr systemtheoretisch verorten lässt. Die Lokalisierung dieser Selbstbeschreibung bleibt eben auch deswegen unmöglich, weil Elemente von ihnen gleichzeitig in verschiedenen Systemzusammenhängen genutzt werden. Aus der gleichzeitigen Präsenz sich überlappender Elemente ergibt sich ein Synergieeffekt, der übersystemisch relevant, aber wiederum nur als Reflex in den verschiedenen Systemen beobachtbar wird.

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Offensichtlich bereitet die gesellschaftliche Konsequenz der konzeptuellen Vaterlosigkeit, nämlich ein dekorporiertes Souveränitätskonzept, vor allem im Kontext der gescheiterten Revolution von 1848/49 Schwierigkeiten, die nicht juristischer Natur sind – das ist es, was im Verfassungsstreit bei der Kollision zweier verschiedener Rhetoriken sehr deutlich ableitbar wird. Es bezeichnet ex negativo eine Leerstelle, die allen staatlichen Handlungen einen impliziten, letztlich pastoral abgesicherten Sinn gibt. Wenn das Landesvatermodell die Integration von Staat und Gesellschaft in der dualen Verantwortung des Königs leisten könnte (was auch Hebbel in ›Agnes Bernauer‹ eindrucksvoll dokumentiert), dieses Modell sich aber von der zunehmend komplexen Realität entfernt, so versucht Riehl nun, es zumindest in der gesellschaftlichen Nahwelt zu re-etablieren, um in dieser Sphäre wiederum von einer »natürlichen« Evidenz zu profitieren. Jürgen Habermas betont, dass sich die bürgerliche Öffentlichkeit im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft entfalte, »aber so, daß sie selbst Teil des privaten Bereichs bleibt«.43 Er beschreibt damit genau die Phänomene der Separation und Integration über das Modell der »gesellschaftlichen Öffentlichkeit« als Werte-Gemeinschaft, die von den pragmatischen Werten im System theoretisch abgekoppelt werden kann.44 Die »Wieder«-Einsetzung des ganzen Hauses bei Riehl scheint dementsprechend die Vision einer Gesellschaft in der Gesellschaft zu sein, in welcher die häusliche Intimität (die sich als so tyrannisch im Individualisierungsprozess45 erwiesen hatte) das normierte Rollenverhalten neu legitimiert und authentifiziert.46 Mit seiner Fusion einer spezifischen individualitätskompatiblen Familienkonzeption und dem »Haus«-Konzept wird ein Abbild der gesellschaftlichen Öffentlichkeit geschaffen, bei der aber die »Staatssouveränität«, die sich als Opposition zum Ganzen gestellt hatte, einfach in Form der Machtvollkommenheit des Hausvaters ins Haus hineingeholt wird. Im Kontext der nachhaltigen Auseinandersetzungen mit Repräsentationsformen scheint der Vater immer noch ein 43 44 45

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Habermas, Strukturwandel, S. 225. Vgl. dazu auch die Gratwanderung bei Hebbel. Richard Sennett sieht in dieser Veränderung bekanntlich den Verfall der Öffentlichkeit und ihre Usurpation durch eine Intimsphäre, die letztlich zur »Tyrannei der Intimität« führt und die Basis einer funktionierenden Öffentlichkeit zerstört. Sennett, Der Verfall des öffentlichen Lebens. Riehls Modell integriert die problematische Tatsache, dass die monetären Resourcen im Privaten hier in der Herrschaftssphäre des »ganzen Hauses« verbleiben und ignoriert damit in seinem Zugang die Habermas’sche Problematik, dass private Interessenkonflikte nicht mehr privat ausgefochten werden können, sondern der staatlichen Interventionen bedürfen (weswegen die Öffentlichkeit zunehmend zum Austragungsort verschiedener Interessen wird).

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Modell zu sein, das an diesem Punkt die verschiedenen Ansprüche der Moderne ausbalancieren kann. Damit wird die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft natürlich nicht wirklich überbrückt; obwohl Riehl eine postulative Strategie verfolgt (und damit die alleviative Wirkungsmacht seines Modells hervorhebt), geht es hier vor allem um die indirekte Krisenanalyse, die Riehl leistet und an die Stifter mit seinem komplexeren Entwurf anknüpft. Stifters ›Nachsommer‹ ist dabei weder betulich noch restaurativ; ebenso wenig kann man Riehls Positionen in ihrem suggestiv-postulativen Charakter als de facto »restaurativ« bezeichnen, auch wenn die ihnen anhängige Rhetorik dies selbstlegitimierend behauptet. Mit der familialen Idylle wird dagegen vielmehr ein konzeptuell weitreichendes Modell eingeführt,47 das auf die wesentlichen Defizite der Zeit reagiert. Ausgangspunkt im Allgemeinen ist die Familie, im Besonderen aber auch gerade ein spezifisches väterliches Macht-Konzept. Im Folgenden soll es mit Blick auf die Verschiebungen bei der Wahrnehmung und Bedeutung der Vaterfigur besonders um die neue Macht gehen, die dem »Vater« (insbesondere Risach in ›Der Nachsommer‹) eingeräumt wird.48 Den vollständigen Rekurs auf das Private kann man als implizite Anerkennung des problematischen Auseinanderbrechens von Staat und Gesellschaft49 deuten. Die Lebbarkeit eines wirkungsmächtigen Lebens könnte so – trotz Gegenbildlichkeit und trotz impliziter Kritik – auch als eine Fluchtutopie, ja als affirmativ gelesen werden, insofern die entscheidende Prämisse der Problematik als unabänderlich anerkannt wird. In Stifters ›Nachsommer‹ wird indes mehrfach explizit die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels konstatiert und damit ein expliziter Veränderungsanspruch formuliert. Stifters textliche Konzeption irisiert also zwischen ihren affirmativen Prämissen und ihrem postulativem Anspruch. Der Veränderungsanspruch markiert dabei – gerade auch über Heinrichs Entwicklungsgeschichte, die in der Aufnahme in Risachs Hausge47

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Vgl. dazu auch Brigid Haines, die mit Blick auf familale Konstellationen eine – hier nicht weiter ausgeführte, aber doch wegweisende – intertextuelle Verknüpfung mit ›King Lear‹ hervorhebt: »Heinrich’s response to the performance of ›King Lear‹ is totally in terms of the family. […] Heinrich and Natalie exchange looks for the first time in the presence of the suffering father, Lear.« Haines: Dialogue and Narrative Design in the Works of Adalbert Stifter. London 1991, S. 57. Vgl. zur Familie im ›Nachsommer‹ Günter Saße: Familie als Traum und Trauma. Adalbert Stifters ›Nachsommer‹. In: Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hrsg. von Sabina Becker, Katharina Grätz. Heidelberg 2007, S. 211–233. Damit entsteht auch die unterschiedliche Validität von Moral in der öffentlichen und privaten Sphäre.

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meinschaft kulminiert – eine zeitliche Dimension,50 die das im Asperhof Bestehende zwar als Ideal ausweist, damit aber eher einen Wirkungsanspruch formuliert, als einen Rückzug. Risach selbst sieht die Familie als Ausgangspunkt, wie er selbst (noch recht konventionell) propagiert: Die Familie ist es, die unsern Zeiten noth thut, sie thut mehr noth als Kunst und Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt, oder wie alles heißt, was begehrungswerth erscheint. Auf der Familie ruht die Kunst, die Wissenschaft der menschliche Fortschritt der Staat. Wenn Ehen nicht beglücktes Familienleben werden, so bringst du vergeblich das Höchste in der Wissenschaft und Kunst hervor, du reichst es einem Geschlechte, das sittlich verkommt, dem deine Gabe endlich nichts mehr nüzt, und das zulezt unterläßt, solche Güter hervor zu bringen. Wenn du auf dem Boden der Familie einmal stehend – viele schließen keine Ehe, und wirken doch Großes – wenn du aber auf dem Boden der Familie einmal stehst, so bist du nur Mensch, wenn du ganz und rein auf ihm stehst. Wirke dann auch für die Kunst oder für die Wissenschaft, und wenn du Ungewöhnliches und Ausgezeichnetes leistest, so wirst du mit Recht gepriesen, nüze dann auch deinen Nachbarn in gemeinschaftlichen Angelegenheiten, und folge dem Rufe des Staates, wenn es noth thut. Dann hast du dir gelebt und allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens wie bisher, und alles wird sich wohlgestalten. (Na III 263–264)51

Diese Aussage korrespondiert mit Riehls Ansatz in wesentlichen Aspekten – inwiefern aber geht ›Der Nachsommer‹ mit der von Risach konstituierten, zentralen familien-ähnlichen Struktur über Riehls Entwürfe hinaus? Mit dem Asperhof und in seiner Vernetzung mit den angrenzenden Höfen, die sich am Ende des Romans herausgebildet haben, generiert Risach eine quasi-autonome, souveräne Sphäre, in der die Dichotomie zwischen individualisierten Handlungsentscheidungen und abstrakten Handlungsvorgaben, die den Bestand eines über die Familie hinausgehenden Kollektivs betreffen, eingeschmolzen werden kann. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit (als Wertesystem), auf die Riehl (und letztlich auch Hebbel in ›Agnes Bernauer‹) konzeptuell als Modus einer kollektiven Sittlichkeit zurückgreifen muss, wird bei Stifter zurück konvertiert in eine konkrete familienartige Werte-Gemeinschaft. Dies ge50

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Vgl. zu den Termini Idylle, Utopie und Bildungsroman auch Klaus-Detlef Müller: Utopie und Bildungsroman. Strukturuntersuchungen zu Stifters ›Nachsommer‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 90 (1971), S. 199–228. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. In: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald. Stuttgart, Berlin, Köln 1997–2000. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als Na und der entsprechenden Band- und Seitenzahl.

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lingt unter der Prämisse, dass Risach als väterlicher »Regent« auftritt. Anders als bei Hebbels Herzog Ernst, der Vater sein muss, um kollektiv adäquate und privat verheerende Entscheidungen zu treffen, muss Risach Herrscher sein, um die beklemmende Entfremdung zwischen Wertegemeinschaft und »politischen« Entscheidungen zu vermitteln. Risach konkretisiert abstrakte politische Entscheidungsprozesse, indem er sie auf ein übersichtliches Kollektiv projiziert. Damit wird exemplarisch das Desiderat einer sich zunehmend entziehenden Sphäre der Politik52 deutlich, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit und die inhärente Problematik einer konzeptuellen »gesellschaftlichen Öffentlichkeit«. Autoren wie Stifter, Hebbel und Riehl begegnen sich auf diese Weise partiell in ihrer kritischen Problemanalyse der modernen Gesellschaft, legen jedoch über die Vaterfigur grundsätzlich andere Entparadoxierungsstrategien nahe. Hebbel setzt der entfremdenden Verdoppelung der Existenz (im privaten und im staatlichen Kontext) eine duale Vaterfigur entgegen, in der Herrscher und Vater, Landesvater und Mensch dezidiert getrennt werden (sich aber gegenseitig legitimieren). Stifter holt die abstrakte Welt der politischen Sachzwänge wiederum in den familiären Kontext und legt Herrscher und Vater ostentativ zusammen.53 Hatte noch Novalis die bürgerliche Familie als Legitimierung für die Monarchie als Regierungsform verstanden und somit das Innere nach Außen projiziert, so geschieht bei Stifter genau das Gegenteil: In Risachs Modell-Hof werden Aspekte souveräner Herrschaft in die Sphäre des Hauses transponiert, wo sie im Kontext der bürgerlichen Innerlichkeit ebenfalls neu beglaubigt werden können. War der König bei Novalis als Vater maßgeblich, so ist der Vater bei Stifter als Souverän entscheidend. Risach hat sich mit dem Asperhof ein physisches und konzeptuelles Reich geschaffen,54 das in einem deutlich akzentuierten Kontrast zu seinem Leben im Staatsdienst angelegt ist. Seine selbstattestierte »Schaffenslust« verhindert, dass er sich – trotz respektabler Erfolge – langfristig in den Staatsdienst einfügt. Die Begründung dafür folgt wiederum der Logik der Entfremdung von Staat und Gesellschaft: 52 53

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Der Staat wird hier – mit Luhmann – als territoriale Organisation innerhalb der Politik verstanden. Vgl. Luhmann, Politik der Gesellschaft. Es wird im Kapitel Quasi-Endogamie zu klären sein, unter welchen Prämissen eine solche Vaterfigur im intergenerationellen Kontext wiederum funktionieren kann, ohne die bereits beschriebene Vater-Sohn-Konkurrenz auszulösen. Bei Riehl ist in diesem Sinne die Familie als »Haus« Ort und (tradiertes Herrschafts-) Konzept zugleich.

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So wie aber der Staat selber die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ist, also nicht eine Gestalt, sondern eine Fassung: so beziehen sich die Ergebnisse der Arbeiten der Staatsmänner meist auf Beziehungen und Verhältnisse der Staatsglieder oder der Staaten, sie liefern daher Fassungen, nicht Gestalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen Begriffen eine Gestalt leihen mußte um sie halten zu können, so habe ich oft in gereiften Jahren im Staatsdienste, wenn es sich um Staatsbeziehungen, um Forderungen anderer Staaten an uns oder unseres Staates an andere handelte, mir die Staaten als einen Körper und eine Gestalt gedacht, und ihre Beziehungen dann an ihre Gestalten angeknüpft. Auch habe ich nie vermocht, die bloßen eigenen Beziehungen oder den Nuzen unseres Staates allein als das höchste Gesez und die Richtschnur meiner Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind, war bei mir so groß, daß ich bei Verwicklungen, streitigen Ansprüchen und bei der Nothwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht auf unsern Nuzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, ohne welchem sie nicht sein können, was sie sind. Diese meine Eigenschaft hat mir manchen Kummer bereitet, sie hat mir hohen Tadel zugezogen; aber sie hat mir auch Achtung und Anerkennung eingebracht. Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk gesezt worden war, so hatte die neue Ordnung der Dinge, weil sie auf das Wesentliche ihrer Natur gegründet war, Bestand, sie brachte in so ferne, weil wir vor erneuerten Unordnungen, also vor wiederholter Kraftanstrengung geschüzt waren, unserem Staate einen größeren Nuzen, als wenn wir früher den einseitigen angestrebt hätten, und ich erhielt Ehrenzeichen, Lob und Beförderung. (Na III 145–146)

Risach bestätigt den Staat als legitime Rechtssphäre, der als Form (»Fassung«) die gesellschaftlichen Beziehungen regelt und dabei den Inhalt, die Essenz (»die Dinge, wie sie sind«) vernachlässigt. Während er in seiner für ihn charakteristischen Fixierung auf die »Gestalt« letztlich seine fehlende Eignung zum Staatsdienst betont (den Staat damit allerdings keinesfalls expressis verbis in Frage stellt), weist er im gleichen Atemzug darauf hin, dass eine Aussöhnung zwischen Ordnung und Gestalt, zwischen Form und Inhalt denkbar, ja erstrebenswert sei: Dies ist eine explizite Negation der Sphärentrennung zwischen öffentlicher und »privater« Moral, da der staatliche Egoismus in seiner langfristigen Funktionsfähigkeit indirekt angezweifelt wird. Ulrich Kinzel sieht in dieser spezifischen Überzeugung Risachs die Kontinuität der alten Ökonomik des »Hauses« in der »Sorge um sich selbst«. Greifbar werde dies in den Formeln, »mit denen Risach seine Doppelrolle als ›Herr meiner Handlungen‹ und ›Herr des Hauses‹ bezeichnet. In beiden Fällen – als ethisches und ökonomisches Subjekt und in der Umkehrung seiner Rolle als Staatsdiener – ist er Regent.«55 Die 55

Kinzel, Ethische Projekte, S. 401.

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Verbindung von oikos und ethos restituieren das Haus als »ethisches Regierungsmodell«.56 Die Lösung, die Risach in seiner Funktion als »Regent« für sich selbst (und doch gleichsam als Paradigma) findet, ist bezeichnenderweise wiederum in einer Art Familienmodell angesiedelt, das Elemente der bürgerlichen Kleinfamilie mit einer imitatio societatis im Privaten, dem »ganzen Haus« verbindet.57 Allerdings geht es hier nicht um eine Privatsphäre abseits der Gesellschaft, sondern um eine kollektive (Werte-)Gemeinschaft abseits des sich ausdifferenzierenden Staatsmodells. In der Absenz des Staates absorbiert Risach in seiner als autonom und autark gekennzeichneten Sphäre Herrschaftsaspekte, die Elemente der staatlichen Sphäre für das Private adaptieren.58 Kurz: Mit dem verbürgerlichten Hausvatermodell kann im Privaten eine Quasi-Rekonstruktion des Privaten und Öffentlichen (als Politischen) erfolgen, wobei in eben dieser Privatsphäre beide Aspekte nach wie vor durch eine Führungsfigur vermittelbar und – mit Risachs Worten – »gestaltbar« sind. Damit setzt Stifter wiederum auf eine personalisierte Vermittlung, die das Abstraktum »Staat« im Kleinen adaptiert und zugänglich macht für bürgerliche Werte und Normen – fraglos in signifikanter Verkürzung.59 Das Hineinholen des Öffentlichen ins Private ist hier als (gebrochene)60 Kompensationsstrategie zu verstehen, an deren Ende die vollständige Assimilation beider Bereiche im Zeichen 56 57

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Kinzel, Ethische Projekte, S. 414. Ulrich Kinzel fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: »Mit Smith und der politischen Ökonomie gilt nur noch die Arbeit als produktiv, die kommerzielle Güter erzeugt. Damit verlieren Haus und Hausarbeit – die Einheit von Regieren und Wirtschaften – ihre Bedeutung [… der Familie] hat sich verlagert vom Diskurs der Ökonomik zu dem der Sozialwissenschaft, von den praktischen Abweisungen zum Hausregiment zur Sozialpolitik.« Kinzel, Ethische Projekte, S. 355–356. Vgl. dazu auch Kinzel, Ethische Projekte, S. 392, der die Wiedereinführung von »Macht« in das »Subjekt« an das Thema der »Lebenswahl« knüpft. Er hebt in diesem Zusammenhang auch die Rolle des »Operators« hervor, »der anderen die Kräfte vermittelt, durch deren Gebrauch er sich als Subjekt konstituieren kann.« Im Folgenden soll es weniger um diese Subjektkonstitution gehen, als vielmehr um die Harmonisierung von den Bedürfnissen des Subjekts und seiner Rolle innerhalb des »Hauses«. In diesem Sinne schließt sich das Folgende mit anderer Terminologie und Fragerichtung an Kinzels These von der entscheidenden Trennung »von ethischer und politischer Finalität« (Ebd. 394) an; Kinzel sieht aber das Primat des Sozialen als Gegenbild zur Souveränität. Kinzel diagnostiziert hier zwei Reduktionen, von denen die erste sich auf Risachs Bedauern bezieht, dass die Dienstleute nicht mehr seiner Souveränität unterstehen: »Die zweite Reduktion – sie läßt die Differenz zum laus ruris erkennen – besteht darin, daß der Besitz nicht mehr die materielle Grundlage der persönlichen Autonomie bildet. Finanziert aus anderswo erworbenem Vermögen, ist er außerhalb der sozialen Wirklichkeit angesiedelt.« Kinzel, Ethische Projekte, S. 414. Vgl. dazu auch insgesamt Berendes, Ironie.

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einer spezifischen Natürlichkeit und Evidenz steht. Eben dies wird durch das Familiemodell geleistet. Risachs Hauswesen, das nach so vielen Regeln (alle streng am Wesen der Dinge ausgerichtet) »gestaltet« ist, erweist sich als ostentativ kulturalisierte Natur, die in der Tradition einer »Erfindung des Ursprungs« steht, sich aber dann wiederum von der ursprünglichen Natur unterscheidet.61 Die Tatsache, dass Risach einen Lebensbereich erschafft, der die eigentliche Natur funktional für die Bedürfnisse der Menschen optimiert, ist hierbei ebenso auffällig wie maßgeblich. So hängt etwa die Makellosigkeit und Schönheit der Rosenwand, einer der zentralen Metaphern des Romans, von der besonderen und mühsam erdachten Pflege und einer auf dem Asperhof produzierten, nahezu ungezieferfreien Umgebung ab. Die Vögel, die als natürliche Helfer rekrutiert werden und (zu ihrem eigenen Vorteil) an der landschaftlichen Idylle mitwirken, sind ein wiederkehrendes Motiv, dem im Kontext von Risachs Philosophie eine paradigmatische Stellung zukommt. Denn in der Vogelwelt gewinnt seine Herrschaftsform eine greifbare Kontur und fällt in ihrer Analogie zum souveränen Herrscher auf. Risach obliegt es, nach eigener Einschätzung (im interpretierenden Einklang mit der Natur und ihren Bedürfnissen) spezifische Vogelarten an den Asperhof zu binden oder andere zu eliminieren, wobei beides dem tadellosen Zustand des Hofes zugutekommt. Risach scheint damit einen privaten Herrscher zu verkörpern, der die Entfremdungsprozesse kompensieren und sinnhaft bündeln kann, insofern der sichtbare Erfolg62 ihm Recht gibt. Diese Kompensation findet in einer Sphäre statt, die Stifter als nahezu vollständig gestaltbar einführt: dem Asperhof. Zugleich aber wird die kleinfamiliale Struktur aufgebrochen und um eine öffentliche Dimension erweitert, die sich für die spezifische Ökologie des Asperhofes ebenso bedeutsam erweist. Wenn Richard Sennett mit der Opposition von Kultur und Natur operiert und eine positive Wirkung der Öffentlichkeit unter anderem auch in der positiven »Zivilisation« des Menschen als Naturwesen sieht,63 so trifft der zivilisierende Gestus der Ordnung, der sich genau einer individualisierten »Tyrannei« der Emotionen entzieht, nicht nur auf 61

62 63

Vgl dazu Koschorke, Körperströme – und in diesem Sinne auf ›Der Nachsommer‹ bezogen Sebastian Susteck: Die Vögel des Freiherrn von Risach: Jean-Jacques Rousseaus ›Julie oder die neue Héloïse‹ und Aporien der Vogelhaltung in Adalbert Stifters ›Der Nachsommer‹. In: Sprachkunst 34/2 (2003), S. 219–231. Die Erfolgsdefinition richtet sich hier streng nach dem Werte- und Vorstellungsmodell des Buches, das diese spezifische Ontologie vermittelt. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 125.

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die verschiedenen Rollenerwartungen der Protagonisten zu (die auffällig an Risach orientiert bleiben). Vielmehr legt bereits die Anlage des Asperhofs, wo Natur bis zur Perfektion reguliert und zivilisiert wird, einen Vorschlag mit Blick auf die Ko-Existenz von Natur und Kultur in einer modellhaft kulturalisierten Natur vor. Über diese Ordnung wacht Risach als ein »Hausvater«, der basierend auf einer genauen Kenntnis der Natur eine weitgehende Unabhängigkeit von ihren Anfälligkeiten generiert. Sebastian Susteck hat im Anschluss an Albrecht Koschorke auf die Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Julies Garten in Rousseaus ›Nouvelle Héloïse‹ hingewiesen. Julies Garten als »Ort kulturell erzeugter Natur«64 versucht die Spuren kultureller Bearbeitung zu verbergen und dient trotz der hergestellten Natürlichkeit als Ort, der Julies Leidenschaft für SaintPreux zähmt bzw. vergessen machen kann. In Risachs Rosenhaus gedeihen die Rosen überdies in einer Pracht, die sofort als kulturelles Produkt auffällt. Der Effekt ist somit ein expliziter, der die Zähmung als Sublimierung ausstellt und zelebriert.65 Die zivilisierende Wirkung, die gegenüber der Natürlichkeit eingefordert wird, ist auch auf die Rollen der einzelnen Protagonisten übertragbar: Die Rosen mögen für die Liebe zu Mathilde stehen, gleichzeitig jedoch beziehen sie sich auf das erste Hauswesen zurück (nämlich das »Rosenhaus«), dem Risach sich als Erwachsener emotional anschließt. Die sofortige Neigung zu Mathildes Mutter66 verdeutlicht das intergenerationelle Geflecht, das Risach die Verbindlichkeit gegenüber den Eltern als stärker empfinden lässt als seine Verpflichtung der Geliebten gegenüber.67 An dieser Stelle scheinen sich Rolle und Natur im Gestus der Zivilisation zu überschneiden. Risach fügt sich der elterlichen Ordnung und verzichtet auf das ersehnte, sofortige Liebesglück mit Mathilde, das sich jedoch trotzdem dauerhaft entzieht, weil Mathilde ihre Leidenschaft nicht entsprechend zügeln will und kann. Die immer wieder thematische Rosenwand an Risachs Rosenhaus (als eine mit äußerster Pflege bedachte Imitation der spezifischen hortikulturellen Besonderheit in Mathildes 64 65 66

67

Koschorke, Körperströme, S. 432. Vgl. dazu Helga Volkmann: Unterwegs nach Eden. Von Gärtnern und Gärten in der Literatur. Göttingen 2000, S. 130. »Sie war sehr schön, noch ziemlich jung, und was mir am meisten auffiel, war, daß sie sehr schöne braune Haare aber tief dunkle große schwarze Augen hatte. Ich erschrak ein wenig, wußte aber nicht warum. […] Ich konnte auf diese Worte nichts antworten; ich war sehr erröthet. […]« (Na III 167–168) In diesem Sinne scheint Mathilde als eine Verlassene, als eine »Nausikaa« und damit als eine Antizipation jener evokativen Statue, mit deren Hilfe Heinrich einen Zugang zur Kunst gewinnt.

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Elternhaus) steht auch für die purifizierte Form der Liebe und die nunmehr entkörperlichte Beziehung zwischen einer (mittlerweile bekehrten) Mathilde und Risach. Mit dieser Sublimierung führt ›Der Nachsommer‹ allerdings auch eine Form der gesellschaftlichen Restriktion ein. Obwohl die Anerkennungsrituale innerhalb der Kernfamilie ablaufen, wird doch die Gründung der ›family of procreation‹ zu einem sozialen Ereignis, das der gesellschaftlichen Einbindung bedarf. Die Macht des Hausvaters bildet im Kleinen die Einheit von Regierung und Intimität ab, sie ist zugleich privat und gesellschaftlich und legt damit eine konkrete Form der »gesellschaftlichen Öffentlichkeit« im Privaten vor. Obwohl sie im Kontrast zum Staat als »privat« erscheinen muss, wird eine universale, moralische, hoch individualisierte Intimität durch eine rollenförmige, öffentlich kompatible Intimität in Kongruenz mit dem gesellschaftlichen Werteset ersetzt, die im Idealfall (wie bei Risach) Formen der Individualität zulassen kann.68 Der potentiellen Entfremdung wird eine prästabilisierte Harmonie in einem konkreten setting entgegengesetzt. Die Erfahrung von Macht ist hier immer individuell gebrochen, konkret und sinnhaft. Risach erscheint als maßgeblicher Faktor bei dieser Transformation; abgesehen davon, dass er den Asperhof autonom und autark regiert, fällt zudem auf, dass er seine Sphäre nicht biologisch erweitert, also keine eigene Familie mit leiblichen Kindern gründet.69 Heinrich hat einen leiblichen Vater, der seinem Tagwerk nachgeht und dabei idealtypisch die Rolle des bürgerlichen Vaters verkörpert. Er gewährt seinem Sohn Orientierung, scheint dabei allerdings nichtsdestoweniger durch seinen Beruf, den er gewissenhaft versieht, der Familie entzogen: »Der Vater war die meiste Zeit in dem Verkaufsgewölbe und in der Schreibstube.« (Na I 9) Die Absenz des Vaters verdeutlicht als Gratwanderung die Diskrepanz zwischen Ist- und Sollzustand, die der Roman umkreist: Erweist sich Drendorf als besonders ehrenhafter Kaufmann, der vorbildlich für seine Familie sorgt und in abgewogenen Entscheidungen Heinrich zu einem pflicht- und wertebewussten Sohn erzieht, so ist er doch gleichzeitig primär durch die von ihm implementierten Regeln im Buch präsent. Was Drendorf im bürgerlichen Haus beginnt, kann Risach auf dem Asperhof 68 69

Etwa in Form einer regulierten romantischen Liebe, vgl. dazu auch das Kapitel QuasiEndogamie. Vgl. dazu auch Thomas Keller: Die Schrift in Stifters ›Nachsommer‹. Buchstäblichkeit und Bildlichkeit des Romantextes. Köln, Wien 1982, besonders 255–256. Keller hebt hier die konzeptuelle Absenz problematischer menschlicher Passion hervor.

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in direkter menschlicher Interaktion fortsetzen. Die Gespräche mit Risach bereiten erst vergleichbare inhaltliche Gespräche mit dem Vater vor (diese lassen dann allerdings eine grundsätzliche Kompatibilität beider paternaler Figuren erahnen). Respekt für den Vater und eine gleichzeitig mehr oder weniger subtile Inszenierung der Überlegenheit Risachs halten sich dabei die Waage. Zugleich wird deutlich, dass Drendorfs Position eine latent durch Arbeit entfremdete ist. Ausgleich bietet ihm seine Liebe zur Kunst und zum Kunsthandwerk. Beidem geht er schließlich folgerichtig in seinem Ruhestand als einer Hauptbeschäftigung nach. Der Rückzug aus der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich im Übrigen in Drendorfs Lebensführung historisch akkurat abbildet,70 benennt ein Defizit und suggeriert eine Kur, die allerdings der Finanzierung bedarf. Ordentliches Haushalten ermöglicht Drendorf den Übergang in die totale Privatsphäre, die er dann ähnlich wie Risach zu bewirtschaften plant. Damit wird durchaus eine Verbundenheit mit der (bürgerlich-kapitalistisch organisierten) Gegenwart und ihren spezifisch bürgerlichen Sekundärtugenden indiziert,71 die deutlich macht, dass es sich um einen dezidiert abgegrenzten Lebensbereich handelt, von dem ausgehend eben keine Restauration der feudalen Agrarstruktur angestrebt wird.72 In jedem Fall unterstreicht Drendorfs Nachahmung von Risachs Modell den utopischen Impetus des Textes, der einen Ausweg aus der bürgerlichen Arbeitsfalle vorschlägt. Markiert Drendorf das Potential, so füllt es Risach vollständig aus. Dieses Kräfteverhältnis wird bis zum Ende durchgehalten, an dem beide »Väter« ihren Brautschmuck präsentieren und Drendorf nur durch die beigefügten Ohrringe von der im Text umständlich propagierten Ornament- und Rahmungsfunktion des Schmucks abweicht und sich somit auf den letzten Metern des freundschaftlichen Geschenkduells als Risach unterlegen erkennen muss.73 Dass in ›Der Nachsommer‹ der eigentliche Bildungsprozess zwischen Risach und Heinrich stattfindet, trägt zu dem neu eingeführten zivilisie70 71 72

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Vgl. z. B. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. In dieser Beschreibung ergeben sich offensichtliche Bezüge zu den »bürgerlichen Sekundärtugenden«, vgl. Münch, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Vgl. dazu auch Müller, Utopie und Bildungsroman, S. 116. Indirekt entfällt in der Inszenierung des Textes auch die als unüberbrückbar inszenierte und legitimierte Differenz von Staat und Gesellschaft; man bedenke, dass Mathilde ihre Bauern in die Freiheit entlassen kann, eine quasi öffentlich-rechtliche Geste, die hier ins Private hineingeholt wird. Stifters Vorstellung ist vielmehr auf die Sphäre der Gesellschaft begrenzt, in der er eine authentische Öffentlichkeit restitutiert, deren natürlicher Herrscher der Vater bzw. die vater-ähnliche Autorität darstellt. Vgl. dazu auch Berendes, Ironie, S. 354–360.

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renden Rollenverhalten bei. Die respektvolle Distanz von Vater und Sohn wird hier noch einmal intensiviert und ritualisiert. Die Rituale zähmen und befrieden das Naturwesen Mensch und fügen es in die kulturalisierte Umwelt ein.74 Die »Rolle« Sohn kann auf dem Asperhof, wo sie sich als eine angenommene Rolle erweist, besser eingeübt werden.

2.

Quasi-Endogamie: ›Der Hochwald‹ und ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹

In Hebbels ›Agnes Bernauer‹ ist die Restituierung des Vaters in einer Trennung von Vater und Landesvater möglich. Bei Stifter besteht die Voraussetzung für eine intergenerationelle Aussöhnung in einer souverän gefassten Vaterrolle, die Intimität zugleich zulässt und kontrolliert. Beides gründet sich auf eine Eliminierung des Konkurrenzverhältnisses von Vater und Sohn, wobei der Sohn den Vater uneingeschränkt anerkennt und infolgedessen als Juniorpartner ernst genommen wird. Diese Neuausrichtung korrespondiert mit einem auffälligen, wiederkehrenden Lernprozess in Stifters Texten, der persönliche Reifung als eine Reinigung von Leidenschaften inszeniert. Als für dieses Phänomen besonders aufschlussreich erweisen sich Stifters Erzählung ›Der Hochwald‹ und der Roman ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹. ›Der Hochwald‹ inszeniert die Rivalität von ›family of procreation‹ und ›family of origin‹ noch einmal mit einem letalen Ausgang, weicht aber von der romantischen Kernkonstellation75 insofern ab, als sich keine direkte Konkurrenz zwischen dem Vater und dem Geliebten der Tochter ergibt.76 74

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So wird auch die Natur in ›Der Nachsommer‹ zivilisiert und bezwungen: Auch wenn – wie bei Heinrichs Schneewanderung – Extreme gesucht werden, gelingt es dem Protagonisten doch, diesen Extremen standzuhalten. Vgl. dazu Alfred Doppler: Das sanfte Gesetz und die unsanfte Natur in Stifters Erzählungen. In: Geborgenheit und Gefährdung in der epischen Welt Adalbert Stifters. Hrsg. von Jattie Enklaar, Hans Ester. Würzburg 2006, S. 13–22. Zur »romantischen Entromantisierung«, d. h. zu Stifters Einsatz und Adaption romantischer Erzähltechniken vgl. Begemann, Welt der Zeichen, S. 164–209. Vgl. dazu auch Wolfgang Lukas: »Anthropologische Restauration«. Adalbert Stifters Erzählung ›Der Hochwald‹ im Kontext der zeitgenössischen Novellistik. In: History, Text, Value. Essays on Adalbert Stifter. London Symposium 2003. Linz 2006 [= Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 11 (2004)], S. 105–125. Lukas konzentriert sich dabei mit einer ähnlichen Fragestellung wie diese Arbeit auf ›Der Hochwald‹, nämlich mit einem Fokus auf »die Rivalität zwischen (Herkunfts-)Familie und Erotik« (ebd., S. 105), wobei er eine anthropologie- und psychologiegeschichtliche Zäsur um 1825 ansetzt, nach der Familie und Erotik zunehmend inkompatibel werden. Lukas’ Aufsatz ist deswegen in diesem Kontext so wichtig, weil er ein Netz von Bezugstexten ein-

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Die Geschichte spielt im Dreißigjährigen Krieg und beschreibt, wie Heinrich seine beiden Töchter vor den Krieghandlungen in Sicherheit zu bringen versucht, indem er sie in einem unzugänglichen Stück Natur in einem Waldhaus einquartiert. Dort überlässt der fürsorgliche Heinrich die beiden Mädchen dem vertrauenswürdigen Ersatzvater Gregor.77 Innerhalb der Familie sind nun Reminiszenzen an die Überlagerung von Ausgangs- und Herkunftsfamilie feststellbar (wie sie etwa bei Kleist erkennbar wurden), insofern das Verhalten Heinrichs gegenüber Clarissa und Johanna explizit inzestuöse Züge annimmt78 und Clarissa überdies (damit korrespondierend) die Stellung der Mutter gegenüber Johanna beansprucht.79 Mit Ronald tritt der einstmals verschwundene Geliebte Clarissas, der als unehelicher Sohn des Schwedenkönigs Gustav Adolfs auf der Gegenseite von Clarissas Vater kämpft, wieder auf den Plan und hofft vergeblich, ein Wiedersehen mit der Geliebten arrangieren zu können. Ronald strebt dabei nach dem »Scheinding« (HW St 285), also einem »ding, das nur

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führt, die strukturell in Analogie zu Stifters hier behandelten Texten interpretiert werden, u. a. Heinrich Daniel Zschokkes ›Addrich im Moor‹, Ferdinand Gustav Kühnes ›Die Geschwister‹, Ludwig Rellstabs ›Der Wildschütz‹, Joseph von Eichendorffs ›Das Schloß Dürande‹ und Theodor Fontanes ›Geschwisterliebe‹. Lukas weist nach, wie sich Erotik über Fremdheit im Eigenen konstituiert und erst erschlossen werden muss, eine Deutung, die auch für ›Der Hochwald‹ entscheidend wird. Insofern die familiären Bande die Sexualität überlagern und erst ein Entwicklungsprozess das Begehren freilegt, wird hier ein »Fremdwerden der Sexualität« (ebd., S. 109) vorgeführt. Zugleich zeigt er, wie es zu einem Prozess der Psychologisierung kommt, indem die Konflikte im Verlauf der Jahrzehnte zunehmend in einen Charakter projiziert werden: »Die Konstellation des unschuldigen Kindheitsidylls zwischen Bruder und Schwester (bzw. zwischen Vater und Tochter) und seine Störung, ja Beendigung durch das Eindringen eines familienfremden (männlichen) Elements aus dem Außenraum erweist sich gleichsam als ein ›archetypisches‹ narratives Modell aus dem Biedermeier.« (ebd., S. 117) Gregor ist dabei im übrigen ebenso mit der Natur verwachsen, wie der Vater der Mädchen seinerseits mit seinem kulturellen Umfeld. Begemann analysiert den Natur-KulturGegensatz in der Erzählung und kommt zu dem Schluss dass ›Der Hochwald‹ zwar auf der einen Seite »von dem rousseauistischen Gegensatz von guter Natur und schlechter Kultur, bzw. Geschichte strukturiert wird, daß er diesen Dualismus [aber auch …] ständig unterläuft.« Begemann, Welt der Zeichen, S. 188. Vgl. dazu auch umfassend Marianne Wünsch: Normenkonflikt zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹. Zur Interpretation von Stifters Erzählung ›Der Hochwald‹. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Schulmann und Denkmalpfleger, S. 311–334. An einer Stelle wird betont, »daß er […] mit der Sorge des Vaters um seine Töchter auch fast eine Scheu vor ihnen darlegte, wie ein Geliebter«, Adalbert Stifter: Der Hochwald. In: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1,4. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980, S. 226. Im fortlaufenden Text zitiert als HW mit der entsprechenden Seitenzahl. Vgl. dazu Wünsch, Normenkonflikt, S. 315–316.

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dem anscheine nach, nicht in wirklichkeit existiert«,80 so wie es sein natürlicher Vater nennt: nämlich nach der Vereinigung mit Clarissa trotz der Kriegssituation, durch die beide Liebenden letztlich zwei verfeindeten Lagern angehören. Dass sich Ronald schließlich den Vorbehalten beider Vaterfiguren widersetzt (dem eigenen, »der befehlen konnte«, und auch Gregor, den Ronald liebt »wie ein Sohn« HW St 285),81 deutet das grundsätzlich Problematische der Beziehung an. Bereits die Freischütz-Geschichte, welche die jüngere Schwester (mit dem sprechenden »jungfräulichen« Namen Johanna), zu Beginn des Textes nacherzählt, verbindet den jungen Ronald, der sich im Laufe des plots ähnlicher Freischuss-Kugeln bedient, in unvorteilhafter Weise mit der Legende.82 Diese Analogie muss im Folgenden mit Blick auf die spezifisch autistische Form83 der Liebe zwischen Ronald und Clarissa gedeutet werden, da Ronald sich ansonsten als ehrenhafter und treuer junger Mann erweist. Sein Plan aber, den politischen Frieden mit Clarissas Vater zu besiegeln, kulminiert in der finalen Katastrophe. Als Ronald an der Spitze eines schwedischen Kriegsheeres bei der Burg Wittinghausen eintrifft, tötet ihn der Vater mit einer Lanze, was unverzüglich den Sturm auf die Festung und dann auch ihren Untergang besiegelt.84 Am Ende der geplanten Aussöhnung zwischen dem Vater und den Schweden und der damit implizierten Möglichkeit einer Ehe zwischen Clarissa und Ronald (dem »Scheinding« also) steht die gleichzeitige Auslöschung des Vaters und des Geliebten. Obwohl sich die beiden jungen Leute in Liebe zugetan scheinen, ist es, wie gesagt, der amouröse Überschuss, die Leidenschaft, die jene Bezie80 81

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Grimmsches Wörterbuch, Bd. 14, Sp. 2441. Über Gregors Verbindung zu ihm heißt es, dass »keine Macht der Überredung […] ihn [Gregor] dahin bringen [konnte], daß er euch von mir [Roland] eine Botschaft brächte – ja er verrammelte und bewachte das Haus nun vorsichtiger, als je, so daß ich ihn, der mich einst so liebte, gar nicht begriff. – Ich selbst mußte mir nun […] Gelegenheit verschaffen, euch meine Anwesenheit kund zu thun, ob ihr etwa freiwillig gewährtet, was ich nicht rauben wollte, und von ihm nicht erbitten konnte.« (HW St 283) Ludwig Rellstabs Erzählung ›Der Wildschütz‹ (1835) zählt zu den Vorlagen für ›Der Hochwald‹, wobei die Geschichte bei Rellstab mit einer glücklichen Vereinigung des Liebespaars endet. Vgl. zu den Korrespondenzen mit dem ›Hochwald‹ Lukas, Anthropologisierung, S. 111. Vgl. dazu auch Begemann, Welt der Zeichen, S. 169. Begemann verweist auf die »verderbliche[n] Züge« ihrer Liebe mit Blick auf die Abschottung der Liebenden gegenüber ihrer Umwelt. Dabei hebt er zugleich den kosmischen Aspekt der Liebesbeziehung hervor, aus dem die ambivalente Stellung der Natur abgeleitet werden kann. Die Belagerung setzt Wünsch metaphorisch mit dem Begehren der Tochter gleich, was die Überreaktion des Vaters auf einer metaphorischen Ebene erläutert. Wünsch, Normenkonflikt, S. 319. Wünschs Referenz auf Kleists ›Marquise von O….‹ bestätigt die Relevanz und Ambivalenz romantischer Modelle im Text.

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hung fragwürdig macht: Das Freischütz-Motiv, die verabredete, makabre Erkennungsmelodie zwischen den beiden,85 nicht zuletzt Clarissas Name, der über die Namensgleichheit mit Richardsons ›Clarissa‹ paradigmatisch auf bedrohte Tugend verweist, stellen das Natürliche der Verbindung in Frage, das noch Gregor (in seiner wichtigen Funktion als Vater-Stellvertreter) der aufgelösten Johanna gegenüber betont: so trat Gregor hinzu, und sagte zu ihr: ›Beruhigt euch nur, liebe Jungfrau, es ist in dem Ganzen kein Arg: denn es ist so der Wille Gottes – darum wird der Mensch Vater und Mutter verlassen, und dem Weibe anhängen – es ist schon so die Natur – beruhiget euch nur, und sehet sie freundlich an, die immer so mütterlich und liebreich gewesen ist. (HW St 290)

Marianne Wünsch hat darauf verwiesen, dass dieser Aussage des »permissiven Naturvaters« der Verlauf der Geschichte – wenn auch implizit – entgegensteht: »Mit dem Segen der Erzählinstanz setzt sich die nicht legitimierbare väterliche Ordnung gegen die legitimierte göttliche und natürliche Ordnung durch«.86 Das gilt es jedoch zu differenzieren: Denn in der Tat stellt die nächtliche Begegnung der Liebenden Gregors Ordnungsanalyse des göttlich regulierten Naturraums bedingt in Frage, insofern das »Natürliche« mit einer unübersehbaren Ambivalenz aufgeladen wird: Wie schwach und wie herrlich ist der Mensch, wenn ein allmächtig Gefühl seine Seele bewegt, und ihr mehr Schimmer und Macht verleiht, als im ganzen andern todten Weltall liegt! – Der ganze Wald, die lauschenden Ahornen, die glänzende Steinwand, selbst Johanna und Gregor versanken um Clarissa, wie wesenlose Flitter, nichts war auf der Welt als zwei klopfende Herzen, – allvergessen neigte sie das liebeschimmernde Antlitz und die dunklen, strömenden Augen immer mehr gegen ihn, und in Tönen, worüber Johanna erschrack, sagte sie: »o Ronald, ich liebe dich ja, ich kann mir nicht helfen, und hättest du tausend Fehler, ich liebte dich doch – ich lieb dich unermeßlich, mehr als Vater und Geschwister, mehr als mich selbst und alles, mehr als ich es begreifen kann …« »Und ich,« erwiderte er, ihr in die Rede fallend, »[…] nimm mir mein Leben, nimm mir die Seele aus dem Leibe, damit du nur siehest, wie ich dich liebe. – –« Er zog sie gegen sich – machtlos folgte sie – und beide zitternd vor Uebermacht des Gefühles stürzten sich in die Arme, so fest umschlingend und klammernd, daß seine blonden Locken auf das Sammtkleid ihrer Schultern niederwallten. Die beiden Zeugen dieser Scene sahen sich verwirrt und staunend an – aber Johanna, die bisher mit steigender Angst zugehört hatte, sprang 85

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Der Text zur Melodie handelt von einem König, der seine Geliebte ermordet hat, wobei es sich um ein Selbstzitat Stifters handelt, der hier auf seine Schauerballade von 1831 rekurriert. Wünsch, Normenkonflikt, S. 332.

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plötzlich auf, und mit den zornesmuthigen Tränenfunken in den Augen rief sie: »Clarissa, was thust du denn?!« Diese, wie aufgeschreckt, fuhr empor, wendete sich um, und wie sie das Kind, dessen Lehrerin und Vorbild sie bisher war, vor sich stehen sah – nein, nicht mehr das Kind, sondern die Jungfrau mit der Purpurglut der Scham im Gesichte, so warf sie sich demüthig, und doch strahlend vom Triumphe an ihre Brust. – (HW St 289–290)

Es lohnt sich, die Rhetorik dieses Ereignisses mit Blick auf die romantischen Bezüge genauer zu erörtern.87 Die Hingabe an den Geliebten wird hier als Selbst-, als Kontrollverlust greifbar (»allvergessen«, »ich kann mir nicht helfen«, »machtlos folgte sie«). Es wird deutlich dokumentiert, wie Clarissa weniger von Ronalds Argumenten als vielmehr von ihren eigenen Gefühlen überwältigt wird. Überdies wird die handfeste körperliche Berührung, die in Johanna schließlich »Scham« hervorruft, eingeleitet von Clarissas auffälliger Liebeshierarchisierung, die ihre Gefühle für Vater, Geschwister und – besonders bemerkenswert – auch sich selbst88 der Liebe zu Ronald unterordnet. Diese Entgleisung erscheint trotz aller Vieldeutigkeit unheilverkündend und deutet die Notwendigkeit der Sublimierung ihrer Leidenschaft89 bereits an.90 Das Unnatürliche der Liebe zwischen Clarissa und Ronald ist in jedem Fall gerade im Rekurs auf die Liebesrhetorik der Romantik offenkundig, wird doch bei letzterer die Identität und Selbstbestärkung des Ichs in der erfolgreichen Liebeskommunikation betont, auf dessen Basis romantische Liebe überhaupt erst gedacht und von pathologischen Partikeln befreit werden kann. Wolfgang Lukas’ Schlussfolgerung, dass in ›Der Hochwald‹ ein »Restaurationsmodell« eingeführt wird, dessen Ziel »die gewaltsame Wiederherstellung der endogam-familiären Idylle mittels Abtötung dessen, was sich in der Zwischenphase als Entwicklungsmöglichkeit präsentiert: […] die volle 87

88 89 90

Auch in romantischen Erzählungen wurde die romantische Liebe mit einer entgleisten Form des Begehrens kontrastiert, vgl. dazu Nitschke, Liebe und Revolution. Hier allerdings wird die romantisch-individualisierende Liebe mit der negativ unkontrollierbaren Macht parallelisiert. Damit ist hier kein Altruismus evoziert, sondern vielmehr ein problematischer Ich-Verlust. Vgl. dazu Begemann, Die Welt der Zeichen, S. 170. Insofern Clarissa eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen sozialen Beziehungen ihres Lebens etabliert, wird hier auch grundsätzlich vage auf die romantische Inzestfigur Bezug genommen, die insbesondere bei Kleist Vater und zukünftigen Gatten kollidieren lässt. Die psychologische Ebene wird textuell auf die politische Machtebene projiziert, kann dort aber nicht eindeutig entschieden werden, da letztlich beide Antagonisten in der kriegerischen Auseinandersetzung ihr Ende finden. Vgl. dazu auch Hermann Sottong: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethe-Zeit bis zum Realismus. München 1992. Auf die ebenfalls entscheidenden subjektinternen Faktoren wurde ja bereits hingewiesen – genauer dazu Lukas, Anthropologische Restauration, S. 106–109.

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Entfaltung des Individuums in seiner Subjektivität durch eine intensive leidenschaftliche Liebe«,91 ist damit nur bedingt zuzustimmen, da die Erzählung den Selbstverlust Clarissas in der Liebesbeziehung bereits antizipiert. ›Der Hochwald‹ nimmt lediglich die erotische Priorisierung des Fremden vor dem Eigenen zurück, nicht die romantische Liebeskonzeption an sich. Nur die solchermaßen problematisierte Liebe als Passion erweist sich als inkompatibel mit der eigenen Identität (was per se untypisch für das Konzept der »romantischen Liebe« ist) und der Herkunftsfamilie; die erotisierte Form muss in einer funktionierenden Liebe/Ehe eliminiert und durch eine quasi-endogame ersetzt werden (weswegen Natalie und Heinrich als Adoptivkinder Risachs im Grunde »Geschwister« sind). In ›Der Hochwald‹ werden bereits entscheidende Parameter eingeführt, an denen sich auch spätere Texte abarbeiten. Die spezifische Leidenschaft etwa, die der Text inszeniert, taucht im Folgenden bei Stifter des Öfteren wieder auf und ist fast ausschließlich negativ konnotiert. ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ nimmt in diesem Sinne die unglückliche Verknüpfung von Liebe und Leidenschaft erneut auf und formuliert eine implizite Vorgabe, die auch den ›Nachsommer‹ bestimmen wird: Disziplinierung und soziale Regulierung der Triebe. Die ›Hochwald‹-Erzählung gehört zum Scharnast-Komplex und organisiert sich wie ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ »um biographische Modelle, von denen ein therapeutischer und erzieherischer Einfluss erwartet wird.«92 Christian Begemann verweist auf die Unterschiedlichkeit der Modelle, die sich einmal »wohltätig« (in ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹) und einmal potentiell verheerend (in ›Die Narrenburg‹) auswirken. Im Kontrast zu ›Die Narrenburg‹ führt ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ kein verpflichtendes Aufschreibegebot ein, sondern das Exempel einer Praxis, die eine Dokumentation des Lernprozesses und ein Verarbeitungsmodus von emotional überwältigenden Erlebnissen offeriert. Verkörpert wird die regulierende Selbstbeobachtung im zweiten Fall von einem Mann, der im Gegensatz zum Gründer des Fideikommisses in ›Die Narrenburg‹ die Validität seines Konzepts persönlich vertritt.93 Während 91 92 93

Lukas, Anthropologisierung, S. 119. Begemann, Welt der Zeichen, S. 242. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Studienfassung der ›Mappe meines Urgroßvaters‹, nicht auf die Journalfassung oder den Roman; zu einem genaueren Vergleich der drei Versionen vgl. den Überblick bei Mathias Mayer: Adalbert Stifter. Erzählen als Erkennen. Stuttgart 2001, S. 92–114. Vgl. auch Mathias Mayer: Gedächtnis-Kunst. Stifters Studien-Mappe. In: JASILO 3 (1996), S. 8–23. Zusätzlich auch Oliver Fischer: Ins Leben geschrieben – Zäsuren und Revisionen. Poetik privater Geschichte bei Adalbert Stifter und Wilhelm Raabe. Würzburg 1999, S. 49–175. Im Gegensatz zur »Narrengeschichte« der

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in ›Die Narrenburg‹ das Aufschreiben der Lebensgeschichten einen edukativen Beispielwert beanspruchte, hat das Vorgehen des Obristen mit der analysierenden Selbstbeobachtung eine doppelte Funktion, die nicht nur in der nachhaltigen Selbstedukation und Evolution besteht, sondern auch sofort als Mittel der Affektbeherrschung greift, wie es der Ursprung der Aufschreibe-Idee besonders deutlich macht: Das Mittel gewinnt besondere Bedeutung, da der Obrist schier alles, was ich geworden, durch dieses Mittel geworden bin. Es besteht darin, daß einer sein gegenwärtiges Leben, das ist, alle Gedanken und Begebnisse, wie sie eben kommen, aufschreibt, dann aber einen Umschlag darum siegelt und das Gelöbnis macht, die Schrift erst in drei bis vier Jahren aufzubrechen und zu lesen. Ein alter Kriegsmann rieth es in meiner Gegenwart lachend einer Jungfrau an, die gerade in Liebeskummer befangen war, und sagte, daß es in diesen Fällen eine gute Wirkung tue.94 (Mst 50)

Diesen Ratschlag gibt der Obrist an den Protagonisten relativ zu Beginn von ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ weiter, nachdem er eine wichtige Analogie in beider Leben aufgedeckt hat: Ebenso wie der junge Protagonist Augustinus hatte sich auch der Obrist als junger Mann aus Liebeskummer umbringen wollen. Den Selbstmordversuch Augustinus’, den der Obrist vor der eben zitierten Aussprache verhindert hatte, erweist sich, wie die später erzählte Vorgeschichte erklärt, als verzweifelte Reaktion auf die Abweisung durch Margarita, bei der es sich wiederum um die Tochter des Obristen handelt. Zu Beginn der Studienfassung steht damit die (in die paternale Welt) initiierende Begegnung mit dem zukünftigen Schwiegervater dezidiert vor der Aussöhnung mit der Geliebten. Das Kapitel ›Der sanftmüthige Obrist‹ enthält im Titel bereits die Quintessenz des erreichten Entwicklungsziels, das sich der beschriebenen Selbstbeleuchtungstechnik verdankt. Die Sublimierung der Leidenschaften ist in diesem Sinne die Grundlage für die Ehe des Obristen, der die geliebte, ihm aber zunächst nicht gewo-

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Journalfassung und der wiederum erweiterten Perspektive im Romanfragment ist in der Studienfassung der Fokus auf die Entwicklungsgeschichte des jungen Mannes am deutlichsten ausgeprägt. Die explizite Verbindung der Journalfassung mit ›Die Narrenburg‹ (insofern der Obrist zur Familie Scharnast gehört) wird deswegen hier nicht berücksichtigt. Im Folgenden geht es vor allem um eine Untersuchung der spezifischen Disziplinierung der erotischen Triebe. Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1,5. Hrsg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als Mst mit der entsprechenden Seitenzahl.

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gene Frau95 durch Nachsicht, Geduld und Sanftmut für sich gewinnt, wie sie abschließend resümiert: »Wie dank ich Gott, daß du so gut, so gar gut bist« (Mst 54). Auch in ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ finden widersprüchliche Aspekte hinsichtlich der zulässigen Körperlichkeit Eingang in den Text. So wird diese erfolgreiche Zügelung von Leidenschaft und selbstauferlegte Zurückhaltung in der Todesszene geradezu umkehrt, wenn der Obrist seiner toten Frau nach ihrem tödlichen Sturz in die Schlucht »das weiße Mieder« aufreißt: »aber die Schulter war schon kalt, und die Brust war so kalt, wie Eis« (Mst 60).96 Die Passage fällt aus zweierlei Gründen auf: zum einen wird schon, bevor man die Leiche birgt, konstatiert, dass kein Mensch einen solchen Sturz überleben könne (vgl. Mst 59), so dass das Aufreißen des Mieders merkwürdig deplatziert erscheint. Zum anderen bedient sich die Erzählung hier eines im weiteren Text nicht vorkommenden Details: Der kleine Hund der Ehefrau, den sie selbstlos während des Falls gerettet hat, bewacht nun, anscheinend »wahnsinnig« geworden, den toten Körper (vgl. Mst 60) und muss erschossen werden, bevor der Obrist sich der Leiche nähern kann. In die thematische körperliche Zurückhaltung, welche die Ehe zwischen beiden begründet, wird schließlich transgressiv die Leiblichkeit wieder eingeführt, die jene vorgängige Enthaltsamkeit umso deutlicher als Disziplinierungsleistung markiert. Diese physisch ausgedrückte Anhänglichkeit an die Gattin spiegelt sich darüber hinaus in den Gedanken des Obristen über »das alte Volk der Ägypter«, »die ihre Todten einbalsamierten, und warum sie es gethan.« (Mst 61). Erst nach dem Verlust seiner Frau rückt für den Obristen seine Tochter ins Zentrum, allerdings steht dabei seine Wahrnehmung erneut im Kontext der mütterlichen Körperlichkeit, die sich in ihr inkarniert findet. Diese physischen Implikationen sind hier von Belang, weil sie die Bindung an die Tochter explizit inzestuös aufladen: »Seht, Doktor, ich bin recht freudig über die Güte dieses Kindes. Ich habe sie vielleicht zu sündhaft lieb, aber es ist ein Naturspiel da, das wunderbar ist. Ich habe Euch schon gesagt, daß ich am Begräbnistage meines Weibes bemerkt hatte, daß auf dem Munde der dreijährigen Margarita die Knospe der Rose war, 95 96

»Sie hatte mich nicht geliebt« (Mst 54). Nichtsdestoweniger führt der Verlust der Gattin nicht in die Krise, die ihn Jahre zuvor angesichts einer verlorenen Liebe fast in den Selbstmord getrieben hätte, sondern bestätigt den heilsamen Einfluss der permanenten Selbstbeschreibung: »Und wie ich in jener Zeit mit Gott haderte, hatte ich gar nichts, als daß ich mir fest dachte, ich wolle so gut werden wie sie und wolle tun, wie sie täte, wenn sie noch lebte. Seht, Doctor, ich habe mir damals eingebildet, Gott brauche einen Engel im Himmel und einen guten Menschen auf Erden: deßhalb mußte sie sterben.« (Mst 62)

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die sie eben begraben hatten, und daß in ihrem Haupte die Augen ihrer Mutter standen. Nach und nach ist sie ihr immer ähnlicher geworden; und seit sie fort war, ward sie ihr vollkommenes Ebenbild. Als wir dieser Tage so durch die Wiesen und Wälder wandelten, bemerkte ich, daß sie den Gang ihrer Mutter habe, daß sie dieselben Worte sage, und daß sie bei Gelegenheit den Arm so hebe, den Leib so beuge, gerade wie sie. Ich mußte meine runzligen Hände anschauen, um nicht zu glauben, ich sei jung, und es gehe mein junges Weib neben mir, und sammle mir Blumen, und pflücke Nüsse, wie einst in jenem Walde. Darum liebe ich sie gar so sehr. – (Mst 216)

Diese expressis verbis »sündhafte« Verwechslung der Lebensalter, die ihn in der genetischen Verdoppelung seiner Gattin wiederum die Partnerin und nicht die Tochter sehen lässt, ist hier von entscheidender Bedeutung. Sie endet bemerkenswerter Weise nicht in einer Konkurrenz zwischen dem Obristen und Augustinus (wie man sie – wenn auch lediglich mit Blick auf den plot – noch für ›Der Hochwald‹ konstatieren kann).97 Der Modus der Gleichzeitigkeit, den der Obrist einführt, begründet vielmehr nachhaltig die Partnerschaft zwischen Vater und (Schwieger-)Sohn. Die Überblendung und Assimilierung beider Lebensumstände macht die Ehe zwischen Margarita und Augustinus zu einer Wiederholung der Obristen-Ehe, Vater und Sohn werden nicht zu Rivalen, sondern zu Verbündeten.98 Der Vater lebt die Entwicklung zur Sanftmut99 vor und gibt damit ein Beispiel, das die initiale Krise zwischen den Liebenden löst und sublimiert. Während Margarita, in ihrer Reinheit und Perfektion der »Perle« 97 98

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Dort muss die Tötung des jungen Geliebten durch den Vater allerdings einem der Kriegssituation geschuldeten Missverständnis zugeschrieben werden. Auch Mathias Mayer verweist auf dieses Phänomen: »Der Konstellation Obrist-Margarita-Doktor kommt dabei auch der Charakter einer Ersatzfamilie zu, indem das künstliche Verhältnis zwischen Schwiegervater und Sohn den ödipalen Konflikt ausspart; das Mädchen nimmt die Stelle der Mutter ein.« Mayer, Adalbert Stifter, S. 105. Vgl. zu dieser inzestuösen Aufladung mit anderen Belegen Wolfgang Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle. Der Entwurf einer neuen Anthropologie in Adalbert Stifters Erzählung ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann, S. 374–394, hier S. 382. Meine Arbeit geht davon aus, dass der ödipale Konflikt ausgehebelt wird über die väterlich vermittelte Disziplinierung der Leidenschaft. Lukas, Geschlechterrolle und Erzählerrolle. Lukas hebt das Ziel der radikalen Entsexualisierung und das damit kompatible Erlernen der Sanftmut (vgl. ebd., S. 375) im Zuge einer zunehmenden Familialisierung hervor (vgl. ebd., S. 382). Er demonstriert dabei, dass die Journalfassung oft als ein Kommentar zur Studienfassung gelesen werden kann, insofern in der Journalfassung einige der psychologischen Prozesse ausführlicher thematisiert werden – darunter fällt etwa die stark differierende Beschreibung des ersten, in der Studienfassung nahezu geschwisterlichen Kusses, der in der Journalfassung als »so heiß, so angepreßt, so überirdisch, wie nie in der Vergangenheit« (Adalbert Stifter: Der Hochwald. In: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1, 2. Hrsg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald. Stuttgart, Berlin, Köln Mainz 1979, S. 101) gepriesen wird.

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entspricht, für die ihr Name etymologisch steht, ist Augustinus von Eifersucht getrieben und sorgt mit der eruptiven Artikulation seiner leidenschaftlichen Gefühle für den Eklat und den Abbruch der Beziehung. Das stellt auch die Vorgeschichte zu seinem Selbstmordversuch dar. Margarita, die dagegen rhetorisch präzise ihre Liebe bekennt, indem sie sie angemessen hierarchisiert, formuliert es folgendermaßen: »›Ich liebe euch sehr,‹ antwortete sie, ›ich hab’ euch über alles lieb. Nach meinem Vater seid ihr mir der liebste Mann auf der Welt.‹« (Mst 171). Sie folgt damit (anders als Clarissa) genau abgewogenen Prinzipien und ist von dem emotionalen Ausbruch Augustinus’ nachhaltig verstört: Erst als er sich – unterstützt und betreut vom Obristen – läutert, wird die Beziehung zwischen beiden wieder vorstellbar. Die Konstruktion einer kleinen Kapelle, die der Heiligen Margarita geweiht ist, manifestiert dabei nicht nur Augustinus’ Liebe und Sehnsucht, wie der Obrist es deutet,100 sondern vor allem auch eine perzeptive Verschiebung. Zentral ist hier die Purifikation des Wunschbildes, das sich nunmehr a priori von allen sündigen Leidenschaften befreit hat. Das zwischenzeitliche Scheitern der Liebe zwischen Margarita und Augustinus antizipiert nun Komponenten des ›Nachsommers‹, sowohl mit Blick auf die Liebe zwischen Mathilde und Risach als auch mit Blick auf Natalie und Heinrich.101 Angesichts der zentralen Funktion, die Risach im Roman einnimmt, ist es entscheidend, dass sich nicht Risach seinen Leidenschaften vorbehaltlos hingibt, sondern Mathilde (deren Temperament schließlich in Natalie als vorteilhaft sublimiert erscheint). Allerdings fallen bei der ersten Liebesbegegnung von Risach und Mathilde bei beiden die typischen Redemittel der Passion und des Selbstverlustes ins Auge: Im Gegensatz zu Margarita formuliert Mathilde ihre Gefühle mit einem kontra-familiären Ansatz der Gleichwertigkeit: »›Man liebt den Vater die Mutter die Geschwister‹, sagte sie, ›und andere Leute.‹« (Na III 186). Risachs 100

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»Ich weiß auch, wie es mit Euch ist, und wußte es immer. Ich erkannte es, weil Ihr schwieget – ich kenne das männliche Verschließen in der Brust, anstatt zu klagen – und das treuliche Erfüllen seines Berufes. Ich wußte es, wenn ich auch bei mir stille schwieg. Ich muß Euch, weil ich jetzt rede, meine ganze Schwäche sagen. Da ich einmal von Euch fort ging, kamen mir bitterliche Tränen in die Augen, weil ich gesehen habe, daß Ihr eine heilige Margarita, deren Sinnbild ich gar wohl kenne, auf Euren Hausaltar gestellt habt, um Euer Herz zu trösten.« (Mst 216) Natalies und Heinrichs Liebe wird hier nicht weiter spezifiziert, es geht im Folgenden vor allem um die Vaterbeziehung. Die spezifische Sublimierung der Liebe wurde von der Forschung immer wieder (mit verschiedenen Perspektiven auf den Text) nachgewiesen. Vgl. dazu u. a. Gerhard Neumann: Archäologie der Passion. Zum Liebeskonzept in Stifters ›Nachsommer‹. In: History, Text, Value, S. 69–79.

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Worte: »Mathilde, liebst du denn auch mich?« sind ihm – wie er es beschreibt – nahezu unwillkürlich von einer »fremden Macht« in den Mund gelegt. Die sich anschließende beredte Sprachlosigkeit, die in der bloßen Namensnennung kulminiert, greift Muster der romantischen Inkommunikabilität auf, inszeniert sie jedoch deutlich im Modus der Ich-Entfremdung und physischen Transgression: Kaum hatte ich sie [die Worte] gesagt, so rief sie: »Gustav, Gustav«, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.‹ Mir brachen die heftigsten Thränen hervor. Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte. […] Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend in unsäglicher Scham […] kein Kind stand mehr vor mir sondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte mich beklommen.« (Na III 187)

Die Beklommenheit deutet bei Risach bereits sein instinktsicheres Gefühl des Inadäquaten an, dessen Anerkennung Mathilde zunächst schwer fällt.102 Wiesen die Erlebnisse vom Obristen und Augustinus eine bemerkenswerte Homologie auf, so verlaufen Risachs und Heinrichs Lebenswege diametral entgegengesetzt. Während Risach und Mathilde ihre geheime Ursprungs-Beziehung nicht in eine sozial verträgliche transformieren können (eine Möglichkeit, die Mathildes Eltern für die Zukunft offen gelassen hatten),103 zeigen sich Heinrich und Natalie von vornherein als so abgewogen, dass sich die Krise erst gar nicht einstellt. Beide stimmen einvernehmlich darin überein, dass man den Eltern die Entscheidung über eine zukünftige Beziehung überlassen solle. Damit vollziehen sie eine Annäherung, die ebenfalls im Zeichen der regulierten Triebe die soziale Möglichkeit der Integration ihrer Liebe der eigentlichen Leidenschaft voranstellt.104 102

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Im Gegensatz dazu nähert sich Heinrich Natalie bezeichnenderweise graduell über eine ästhetisch sublimierte Wahrnehmung an, wobei bezeichnenderweise zwei Marmorbilder eine Vermittlungsrolle übernehmen; zum einen Risachs Nausikaa-Statue, zum anderen Mathildes Nymphen-Statue. Dies wurde in der Sekundärliteratur bereits ausführlich aufgearbeitet. Vgl. dazu exemplarisch Peter M. McIsaac: The Museal Path to Bildung: Collecting, Exhibiting and Exchange in Stifter’s ›Nachsommer‹. In: German Life and Letters 57/3 (2004), S. 268–289, hier S. 279; Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München 1991, S. 145–156. Mathilde sieht Risachs Respekt vor den Entscheidungen ihrer Eltern als Verrat und verstößt den Geliebten. Dass sie ihren Sohn Gustav (dabei handelt es sich um Risachs Vornamen) nennt und Risach zur Erziehung überlässt, verleiht ihrem diesbezüglichen Schuldbekenntnis noch mehr Gewicht. Ihr Verhalten wird im Text als Entgleisung nach der Entgleisung gewertet, so dass es eigentlich Mathilde ist, welche die Beziehung schließlich blockiert. Vgl. Franziska Schößler: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros. Sinnlichkeit und Ordnung im Werk Adalbert Stifters. Würzburg 1995.

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Wie ausschlaggebend dabei die väterliche Führung ist,105 kann wiederum an Margaritas tadellosem Verhalten demonstriert werden, das in einem aufschlussreichen Detail mit Stifters Erzählung ›Das alte Siegel‹ korrespondiert.106 In diesem Text verliebt sich die junge Cöleste, gefangen in einer freudlosen Ehe mit einem älteren Mann, der auf Nachwuchs drängt (ihn aber nicht zu zeugen vermag), in den unschuldig-ahnungslosen Hugo und begeht mit ihm schließlich Ehebruch. Der junge Hugo wurde von seinem Vater nach Maßstäben einer althergebrachten, aber sinnentfremdeten Tradition erzogen, die sich sinnfällig in dem Siegel des Titels ausdrückt: Dessen Mitte bleibt leer, da die nicht-adelige Familie Hugos über kein Wappen verfügt.107 Obwohl aus der Affäre ein Kind hervorgeht, das die Züge Hugos erkennbar reproduziert, ist die Beziehung aufgrund des initialen Ehebruchs irreversibel zum Scheitern verurteilt. Das Siegel wird von Hugo schließlich demonstrativ in einer Schlucht entsorgt, um das genealogische Ende seiner Familie zu indizieren.108 Die aus der leidenschaftlichen Begegnung mit Cöleste entstammende Tochter ist weder mit der Genea-Logik seiner Familie noch mit der »Reinheit« (AS St 355) seiner Ehre vereinbar. Gleichzeitig findet sich die gemeinsame 105

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Heinrich genießt seit frühester Jugend eine disziplinierende Erziehung, die ihn – anders als die anderen männlichen Protagonisten – in die Lage versetzt, besonnen und rollenkonform zu handeln. Auch hier liegt – wie im Falle von ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ – die Studienfassung zugrunde, obwohl anzumerken ist, dass in der Journalfassung die erotischen Begegnungen zwischen Cöleste und Hugo mehr Kontur gewinnen: »Am seligsten war sie und auch er, wenn die Flammen über beiden loderten«. Adalbert Stifter: Das alte Siegel. In: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1,2. Hrsg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1979. Im Folgenden zugrunde liegt: Adalbert Stifter: Das alte Siegel. In: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1,5. Hrsg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als AS mit der entsprechenden Seitenzahl. Mathias Mayer weist in diesem Zusammenhang auf eine »De-Erotisierung« (Mayer, Adalbert Stifter, S. 62) des Schreibens hin, die als ästhetisches Programm hier im Ergebnis als ebenso relevant erscheint, wie die Triebdisziplinierung auf der Textebene, ohne dass sie im Kontext dieser Arbeit weiter untersucht werden kann. »In dem Fache des Siegels lag ein Blättchen Papier mit der eigenen Handschrift des Vaters beschrieben. Das Feld des Siegels, dessen Stiel von kunstreicher Arbeit in Stahl war, trug mit sehr schönen klaren Buchstaben im Halbkreise herum die Worte: ›Servandus tantummodo honos‹, unterhalb des Bogens der Buchstaben war ein ganz blankes Schild, um die Reinheit der Ehre anzuzeigen. Denn die Familie Almot war nicht von Adel und hatte kein Wappen.« (AS St 355) Die Reinheit der Ehre ist eine Lesart des Wappens, die im Verlauf durch die erotische Transgression nichtig wird. Auch hier geht es nicht um eine genaue Re-Lektüre von ›Das alte Siegel‹, sondern lediglich um die Gründe für die Entgleisung der Protagonisten, wie sie in dem hier angeführten Netz von Texten relevant wird. Intertextuelle Bezüge bleiben dabei unberücksichtigt, obwohl der Konnex mit der Romantik hier ebenfalls entscheidend wird. Vgl. dazu besonders Blasberg, Erschriebene Tradition, S. 232–247.

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Wurzel für seinen eigenwilligen Ehrbegriff und seinen erotischen Fehltritt in seiner besonderen familiären Situation (die seine zwar liebevolle, aber doch anachronistisch-weltfremde Erziehung bedingt): Ungleich vielen Kriegern seiner Zeit hatte er sich so viele wissenschaftliche und Staatsbildung eigen gemacht, als damals möglich war, und da er seinen Sohn selber unter richtete und erzog, weil er meinte, daß es niemand so gut zu tun vermöchte als er, so trug er alles, was er wußte, auf diesen über. Freilich wäre bei dem indessen vorgerückten Stande der Wissenschaften mancher andere gewesen, der den Unterricht weit besser hätte führen können als er; allein neben dem Unterrichte gab er seinem Sohne unversehens auch ein anderes Kleinod mit, welches ein Fremder nicht hatte geben können, nämlich sein eigenes einfältiges, metallstarkes, goldreines Männerherz, welches Hugo unsäglich liebte und unbemerkt in sich sog, so daß er schon als Knabe etwas Eisenfestes und Altkluges an sich hatte, wie ein Obrist des vorigen Jahrhunderts, aber auch noch als Mann von zwanzig Jahren etwas so einsam Unschuldiges, wie es heut zu Tage selbst tief auf dem Lande kaum vierzehnjährige Knaben besitzen. Das Herz und seine Leidenschaften waren bei dem Vater schon entschlummert, daher blieben sie bei dem Sohne ungeweckt und ungebraucht in der Brust liegen, und er hatte von dem Vater sonst nichts geerbt als den Tag für Tag gleichen Frohsinn und die Freude an der Welt. (AS St 345–346)

Dieser ausführlich zitierte Passus macht bereits eingangs deutlich, dass der altersbedingte Verlust von Leidenschaften nicht gleichzusetzen ist mit der erlernten und anerzogenen Gefühlsregulierung, die produktiv weitergegeben werden kann. Sexualität markiert hier eine Leerstelle, die sich im Verlauf der Erzählung für den naiven Hugo als fatal erweist. Der Vater, selbst nicht mehr Teil der zeitgenössischen Welt, sondern vielmehr Relikt des Ancien Régime, verstirbt schließlich und überlässt seinen Sohn der Welt, die mit der von ihm vermittelten schon längst nicht mehr kompatibel ist. Auch Cöleste (deren Name einer der »Perle« Margarita verwandte, himmlische Reinheit anzeigt) erweist sich als vater- und damit führungslos, zumal sich ihr »Ersatzvater« mit dem sprechenden Namen Dionys als Kuppler erweist. Cölestes Disposition wird an einem scheinbar nebensächlichen, aber wiederkehrenden Detail greifbar, das hier für den Subtext der Triebdisziplinierung entscheidend ist – sie trägt keine Handschuhe: Sie hatte schon damals, als er ihr in der einsamen Gasse das verlorene Blättchen darreichte, keine Handschuhe gehabt, später, da sie ihm aus dem schwarzen Aermeln hervor zum ersten Male die Hand gab, hatte sie auch keine, und eben so hatte sie die beiden Male keine, da er sie besuchte. Sie reichte ihm die Hand, und wie er dieselbe in seinen beiden faßte, herzlich drückte, und zum Kusse an seine Lippen führte, rannen reichliche Thränen über ihre Wangen herab. (AS St 381)

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Margarita dagegen ist selbst bei der Wiederbegegnung mit Augustinus nach drei Jahren imstande, das Protokoll zu wahren. Das Ausziehen der Handschuhe ist hier ein bedeutsamer Vertrauensbeweis, dem Jahre der Bekanntschaft und Freundschaft vorausgehen, und markiert sowohl die Liebe (das kurzfristige Entblößen der Hände) als auch die Kontrolle, die mit den gesellschaftlichen Rollenerwartungen einhergeht: Sie war aufgestanden, als ich zu ihr getreten war, und zog den Handschuh aus, um mir die Hand zu reichen. Sie war errötet, und die Hand, die sie mir reichte, zitterte sehr. »Seid mir auch gegrüßt«, antwortete sie. »Ich war schon drei Tage zu Hause, während Ihr fort waret, und heute morgens sind wir bei Euch gewesen, um Euch selber meine Ankunft zu sagen; aber Ihr seid sehr früh ausgefahren, und waret schon lange fort, da wir kamen. Seid mir vielmal gegrüßt.« Wir faßten uns bei den wechselseitig dargereichten Händen und drückten uns dieselben recht freundlich. Sie zog dann den Handschuh wieder an und setzte sich nieder. Obwohl sie zu Hause immer in bloßen Händen ist, und uns auch so auf unsere Spaziergänge und zum Pflücken der Blumen begleitet hatte, so hielt der Obrist doch bei solchen Gelegenheiten darauf, daß sie den Anstand beobachte und die Anwesenden ehre. (Mst 219–220, Hervorhebungen von C.N.)

Es ist nicht überraschend, dass hier an bedeutsamer Stelle auf den Obristen verwiesen wird, der noch in absentia das Verhalten der Tochter kontrolliert. Die nackte Hand wird zu einer sozialkompatiblen Geste des tiefsten Vertrauens, die jener entfesselten Leidenschaft, die in ›Das alte Siegel‹ verhängnisvoll ausgelebt wird, widerspricht. Wenn die Rolle des Vaters bei dieser Sozialisation hervorgehoben wird, klärt sich auch mit Blick auf Mathildes Temperament eine textliche Besonderheit des ›Nachsommers‹: Der Eheschließung Heinrichs und Natalies geht ja in der Elterngeneration eine schwerwiegende Übertretung durch Risachs und Mathildes geheime und eigenmächtige Zukunftsplanung voran. An keiner Stelle setzt sich Mathildes Vater in dieser prekären Situation direkt mit Risach auseinander, er scheint überhaupt nur teilweise in die Erziehung der Kinder einbezogen, wie er selbst Risach gegenüber ausführt: Mit Erzieherinnen hatten wir kein Glück. Wir gaben es daher auf, für Mathilden eine Gesellschafterin zu suchen. Sie ist bei der Mutter. […] Wie es mit dem Knaben ist, werdet ihr wohl sehen. […] Ich beschäftige mich mit einigen wissenschaftlichen Dingen, und wenn euch ein Gespräch hierin, falls wir in den Gegenständen zusammentreffen, nicht unangenehm ist, so betrachtet mich als euren älteren Bruder, und zwar nicht blos hierin, sondern auch in allen anderen Dingen. (Na III 170)

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Dass Mathildes Vater dem neuen Mitglied gegenüber egalitär auf die Hausvaterrolle verzichtet und statt dessen ein brüderliches Verhältnis anstrebt, erspart Risach nun (dramaturgisch geschickt) zum einen die direkte Auseinandersetzung mit dem Vater der Geliebten, gleichzeitig deutet sich zum anderen in dieser Krisensituation ein problematischer Autoritätsschwund des Vaters an. Denn diese indirekte Positionierung von Mathildes Vater bestärkt die Vorstellung, dass die erfolgreiche soziale Verhaltenskompatibilität vom Vater reguliert werden muss. Diese Aufgabe nun übernimmt Risach für seine Ziehtochter Natalie, die zwar bei der Mutter wohnt, aber nichtsdestoweniger auch im Wertekreis des Asperhofes erzogen wird. Wenn Risach abschließend auf die Tatsache verweist, dass er Heinrich als zukünftigen Schwiegersohn »ausgesucht« hat, verbindet er in dem kurzen Dialog die bisher genannten Aspekte in einem vielsagenden Absatz: »Habe ich es gut gemacht, Natta,« sagte mein einstiger Gastfreund, »daß ich dir den rechten Mann ausgesucht habe? Du meintest immer, ich verstände mich nicht auf diese Dinge, aber ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt. Nicht blos die Liebe ist so schnell wie die Electricität, sondern auch der Geschäftsblick.« »Aber Vater,« sagte Natalie erröthend, »wir haben ja über diesen Gegenstand nie gestritten, und ich konnte dir die Fähigkeit nicht absprechen.« »So hast du dir es gewiß gedacht,« erwiederte er, »aber richtig habe ich doch geurtheilt: er war immer sehr bescheiden, hat nie vorlaut geforscht und gedrängt, und wird gewiß ein sanfter Mann werden.« (Na III 265–266)

Der auffällige, hier erstmals verwendete Kosename »Natta«, verbunden mit der Implikation, dass es an ihm gewesen sei, den Bräutigam für Natalie auszuwählen, inthronisieren Risach als emotional und gesellschaftlich Verantwortlichen. Sein »Geschäftsblick« hat dementsprechend sofort die Sanftmut Heinrichs erkannt, die hier zum zentralen Attribut des Ehemanns wird, genau wie es ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ antizipiert und demonstriert. In der (zieh-)väterlichen Anspruchshaltung spiegelt sich Riehls eingangs zitierte Auffassung der Familie wider. Wenn sich Riehl gegen die zu Beginn des 19. Jahrhunderts (diskursiv) populäre Liebesheirat ausspricht, versucht er vor allem, die regulierende Macht des Hausvaters zu re-etablieren. In diesem Sinne wird eine primär erotisch konnotierte Liebesheirat auch bei Stifter zugunsten einer paternal vermittelten, abgewogenen Wahl diskreditiert – das macht sowohl der Rückblick auf Risachs Biographie (besonders auf seine jugendliche Leidensgeschichte) als auch auf die Erfahrungen des Protagonisten in ›Die Mappe‹ schlaglichtartig deutlich. 338

Sowohl in ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ als auch in ›Der Nachsommer‹ gründet sich die väterliche Wahl109 auf dem konstanten Kriterium der Sanftmut. Die vehemente Konkurrenz, die bei Kleist noch die Vater-Sohn-Beziehung bestimmte, wird bei Stifter gerade mit Blick auf die regulier- und verwaltbaren Emotionen entschärft und harmonisch stabilisiert. Denn (wie es Margarita bereits in der ›Mappe meines Urgroßvaters‹ konstatierte) es ist einzig die Leidenschaft, die mit ihrer qualitativen Sonderwelt ein Ausscheren aus der Vater-Sphäre provoziert. Eine ›sanfte‹, sublimierte Form der Liebe dagegen unterstellt die Liebe zum zukünftigen Mann der Liebe zum Vater (»ich hab’ euch über alles lieb. Nach meinem Vater seid ihr mir der liebste Mann auf der Welt«). Indem die qualitative Besonderheit getilgt ist und die entsexualisierte Beziehung Raum für die Prävalenz des Vaters lässt, ist die Rivalität in einer klaren Hierarchisierung und Chronologisierung aufgehoben.

3.

Schlussfolgerungen

Insgesamt fällt auf, wie stark meritokratische Ideen Eingang in Stifters Familienkonzeptionen finden;110 Tiecks ›Ahnenprobe‹ propagierte noch eine bürgerliche Verdienstethik im Abgleich mit der aristokratischen Herrschaftslegitimation qua Geburt. Weitergedacht muss die konsequente Einführung zu einem »Verdienstadel« führen, der sich durch Qualifikation und nicht länger durch Prokreation etabliert. Die Adoptivstrukturen in Stifters Texten weisen auf ein solches Prinzip hin. Insbesondere ›Das alte Siegel‹ belegt nachhaltig, dass eine biologische Vernetzung nicht automatisch eine Wertegemeinschaft garantiert – sogar in ›Die Narrenburg‹, die im Majoratskontext grundsätzliche individuell-moralische Quantensprünge denkt und biologisch konzipiert, um einen Ausweg aus der Majoratskrise zu konstruieren, bedarf es eines Adoptivvaters, der die biologisch produzierten Chancen kulturell ausnutzt: Heinrich gelingt ja genau in diesem Sinne durch seine Erziehung Pias Vollendung als »Wunder« (NB 435). Dieser Transfer in eine meritorisch überformte Vaterschaft findet sich auch in Stifters eigentümlicher Verdoppelung der Vaterfiguren in ›Der Nachsommer‹: Nicht der biologische Vater ist der prominente Gesprächspartner seines Sohnes, er stellt lediglich die Weichen, die diesem 109

110

Denn auch in ›Die Mappe meines Urgroßvaters‹ ist es der Obrist, der schließlich die Wandlung des zukünftigen Schwiegersohns initiiert und damit die Voraussetzung für die spätere Ehe zwischen seiner Tochter und ihm schafft. Vgl. dazu das Kapitel zu den Majoratserzählungen (speziell zu Tiecks ›Die Ahnenprobe‹).

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den nahtlosen Übergang in die von Ordnungen und Ritualen geprägte Welt des Asperhofes erlaubt. Risachs eigentümliche Verdienstdynastie inszeniert sich wiederum als Familie, die ihre bürgerlich-biologische Bestätigung in Heinrich und Natalie findet, wobei gleich zwei Adoptivkinder (geschwisterlich unter einem ›Wertehimmel‹ erzogen) zusammengegeben werden. Der Herrscher als Vater ist deswegen besonders überzeugend vor dem bürgerlichen Wertehorizont legitimiert, weil er nicht der biologische Vater ist, sondern die Rechte des Adoptivvaters allmählich akquiriert. Für die Souveränitätsattribute, die Risachs Herrschaft über den Asperhof vom Wirkungsanspruch her gesehen über ein bloßes Idyll der Zurückgezogenheit hin zu einem neuen Gesellschaftsmodell hinaustragen könnten, ist diese Dynastie-Bildung entscheidend, greift sie doch elementare bürgerliche Wertkonzepte auf und führt Herrschaft im Zeichen einer individualisierenden (para-)verwandtschaftlichen Beziehung ein. Dem Zeitalter der Söhne und Brüder folgt bei Stifter wieder eines der Väter. Denn diese, und das wird erst in ›Der Nachsommer‹ bis ins letzte Detail vorgeführt, stehen für eine »Tradition«, um deren existentielles, identitätsstiftendes Weiterbestehen man sich in der Krise sorgen muss. Die dem ›Nachsommer‹ eigene museale Qualität ist auch in diesem Sinne von Bedeutung. Hier entscheidend sind jedoch weniger die Details der Risachschen Sammelprinzipien, als vielmehr die analytische Qualität des Textes: Im Kontext dieser Argumentation ist es gerade der Titel »Nachsommer«, der ein wichtiges Element der Risachschen Gemeinschaftskonzeption symbolisch aufgreift. Hatte Cornelia Blasberg den Titel auf das »Nichtgeschehene«111 bezogen, so scheint sich komplementär auch eine Interpretation im Zeichen der Mäßigung anzubieten, bei dem der Nachsommer für eine sublimierte Form der Leidenschaften steht, die rollenförmiges Verhalten in einer stabilisierten Hausvaterwelt erlaubt.112 Erst im »Nachsommer« lässt sich die enterotisierte Familienbildung bis ins Letzte realisieren.113 Das markiert das Gelingen allerdings als Kompro111 112

113

Blasberg, Erschriebene Tradition, S. 332. Vgl. zu dem Konzept der Mäßigung auch die bei Grimm zitierte Verwendung des Begriffs ›Nachsommer‹: »sommerwetter im herbste, spätsommer STIELER 2060: bei dem herrlichen wetter, das sich nun bald in den ächten mäszigen zustand des nachsommers setzen wird. GÖTHE 43, 53 (19. august); bildlich: ihr fürsten setzet in diesem jahrhundert fort, was ihr schon im nachsommer des vorigen angefangen, nämlich die grosze freilassung der freigeborenen gedanken. J. PAUL freiheitsb. 144; die erinnerung, dieser nachsommer der menschenfreude. Hesp. 1, 147; seit einigen tagen war nämlich Schoppe in eine andre tonart umgesetzt und sein eigener restant und nachsommer geworden (es hatte sich spät endlich die liebe bei ihm eingestellt). Titan 4, 3.« Grimm, Bd. 13, Sp. 128. Vgl. dazu auch Müller, Utopie und Bildungsroman. Müller verweist darauf, dass sich die Utopie des ›Nachsommers‹ in einem abgegrenzten Bereich entfaltet.

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miss und bricht das ganze Unterfangen wiederum in unauflöslicher Ambivalenz.114 Nichtsdestoweniger gelingt Stifter im Kontext der ›Nachsommer‹-Utopie die Vision einer Verschmelzung von individualisierender Zuneigung und moralischer Lenkung:115 Es ist die im Text etablierte Kongruenz zwischen »Innen« und »Außen«, die jene störungsfreie Ausübung von werteregulierter Integration und Individualität erlaubt. In der Macht des Vaters liegt bei Stifter symbolisch das soziale Antidot zu den Gefahren der Zeit, insofern er in der symbolischen Verwobenheit mit altersweiser Traditionsvermittlung einen Raum abseits der Gesellschaft schafft, der ebenso als Zeit- wie auch als Raumutopie gelesen werden kann. Der Zerfaserung der Gesellschaft im Zeichen einer radikalen Vereinzelung (zu der Konzepte wie die Liebesheirat beitragen) wird in einem Lösungsmodell aufgefangen, das trotz Rekurs auf das Hausvatermodell gänzlich neue Probleme thematisiert und neuartige Antworten findet.

114 115

Vgl. dazu allgemein Berendes, Ironie. Dadurch nimmt Risach nach der von Riehl propagierten Geschlechterlogik gewissermaßen weibliche und männliche Züge an, indem er Innen und Außen überblendet: »Auf die idealisierten Adoptivvaterfiguren scheint Stifter alle seine positiven Elternwünsche und vielleicht auch -erfahrungen produziert zu haben, neben den väterlichen auch die mütterlichen.« Michael Kaiser: Adalbert Stifter. Eine literaturpsychologische Untersuchung seiner Erzählungen. Bonn 1971, S. 44.

341

342

IX. Fontane: Das »Gesellschafts-Etwas« und die gesellschaftliche Öffentlichkeit

1.

Paternalisierung der Gesellschaft: ›Effi Briest‹ und ›L’adultera‹

Auch wenn sich Adalbert Stifters und Theodor Fontanes Krisenbefunde mit Blick auf Familie und Gesellschaft trotz geopolitisch und zeitlich unterschiedlicher Voraussetzungen ex negativo gleichen, weicht Fontane weitgehend von Stifters Versöhnungskonzepten ab und konzentriert sich vor allem auf die analytische Erfassung eines defizitären Zustands. Wie im Kapitel zu Hebbel beschrieben wurde, verschieben sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Funktionen der Privatsphäre im Gegensatz zum 18. Jahrhundert vollständig.1 Das Private wird zunehmend zu einer als problematisch empfundenen »gesellschaftlichen Öffentlichkeit«, zur Projektionsfläche für Werte und Normen, die wenig Anwendungsspielraum lassen. Für diese öffentliche Durchdringung des Privaten ist Fontanes Obsession mit gesellschaftlichen Konformierungsund Ausscherungsvorgängen sicherlich paradigmatisch. Diese starke Regulierung und Disziplinierung erfolgt dabei besonders hinsichtlich der Sexualität. Wie bereits im Kontext der Biopolitik erörtert, weist Michel Foucault in ›Wille zum Wissen‹ auf den Umstand hin, dass im 18. Jahrhundert die »Bevölkerung« in ihren demographischen Verschiebungen zum Gegenstand von Regulierungsversuchen wird:2 Im 19. Jahrhundert dann ist der »Sex […] zum Einsatz, zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden« (WW 39). Diese Beobachtung deckt sich mit Restriktionen, die in Stifters quasi-endogamen Vorgaben besonders deutlich greifbar wurden. Foucault verweist nun in ›Wille zum Wissen‹ auf die Repräsentationen der Macht, die im Grunde 1 2

Vgl. dazu Helgard Mahrdt: Öffentlichkeit, Gender und Moral. Von der Aufklärung zu Ingeborg Bachmann. Göttingen 1998, S. 88–94. Foucault, Wille zum Wissen, S. 37–39. Im fortlaufenden Text zitiert als WW mit der entsprechenden Seitenzahl.

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über die unterschiedlichen Epochen und Zielsetzungen hinweg doch im Bann der Monarchie verblieben. Im politischen Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch nicht gerollt. Daher rührt die Bedeutung, die man in der Theorie der Macht immer noch dem Problem des Rechts und der Gewalt beimißt, dem Problem des Gesetzes und der Gesetzwidrigkeit, des Willens und der Freiheit und vor allem dem Problem des Staates und der Souveränität (auch wenn diese nicht mehr in der Person des Königs sondern in einem kollektiven Wesen gesucht wird). (WW 110)

Von dieser »theoretischen Privilegierung des Gesetzes und der Souveränität muß man sich lösen, wenn man eine Analyse der Macht durchführen will, die das konkrete und historische Spiel ihrer Verfahren erfassen soll.« (WW 110) In diesem Sinne versteht Foucault seine »Geschichte der Sexualität« als »Studien über die historischen Beziehungen zwischen der Macht und dem Diskurs über den Sex« und insofern als zirkulär, da sich beide wechselseitig bedingen (WW 111–112). Da es hier nicht um die konkreten, historischen Formen geht, sondern vor allem um die diskursive Platzierung des Vaterkonzepts, erweist sich die Anbindung an Rechtsförmigkeit und Souveränität mit Blick auf väterliche Legitimierungsstrategien in Deutschland allerdings als aufschlussreich, auch und gerade, wenn es sich dabei weniger um »ursprüngliche Gegebenheiten«, sondern um »Endformen« handelt (WW 113). Wenn Foucault weiter ausführt, dass Machtbeziehungen anderen Typen von Verhältnissen nicht äußerlich, sondern ihnen inhärent sind, wird offensichtlich, dass die vielfältigen Kräfteverhältnisse, »die sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spaltungen dienen« (WW 115). Dieser Fokus macht allerdings auch deutlich, dass Foucaults Überlegungen zwar auf der einen Seite hilfreich sind, wenn es um Aussagen geht, die das sprachliche Korrelat von institutionellen Praktiken bilden. Diese Form der Wissensarchäologie kann einen wesentlichen diskursiven Strang zu Tage fördern, der das Oszillationssymbol im Text mit trägt und formt (ob affirmativ, kritisch, analytisch und/oder deskriptiv). Nichtsdestoweniger treten diese Diskurse als Element des Archivs des Oszillationssymbols in die operative Geschlossenheit des Kunstsystems ein und werden dort anders prozessiert. Auch hier3 ermöglicht das Oszillationssymbol als textinterne Schaltstelle die gleichzeitige Berücksichti3

Das gilt auch für Luhmanns systemtheoretischen Zugriff, vgl. dazu die Einleitung dieser Arbeit.

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gung von Diskursen4 und textinternen Operationen (die letztlich das Kunstsystem ausmachen). Damit funktioniert das Oszillationssystem unter anderen Prämissen als die Diskursarchäologie und erlaubt den Blick auf die konzeptuelle Rolle der Vaterfiguren innerhalb der gesellschaftlichen Öffentlichkeit bei Fontane unter gleichzeitiger Einbeziehung textexterner Aussagesysteme im Sinne von Foucault. Letztere werden über das Oszillationssymbol »Vater« mediatisiert, gebrochen und verarbeitet, aber auch ästhetisch verfügbar gemacht. Im Vorangegangenen wurde immer wieder auf die Regulierung von Sexualität als väterlicher Machttechnik eingegangen.5 Die Bewegungen hin zur väterlich bestimmten, quasi-endogamen Reproduktionsgemeinschaft sind besonders in Stifters Texten beobachtbar. In ihr wird die Generation der Söhne unter dem Vorbehalt der Mäßigung akzeptiert. In Fontanes Texten stellt sich die diskursive Rolle des Vaters und die innerfamiliale Machtstruktur besonders in Bezug auf das intergenerationelle Element6 noch einmal anders dar.7 Dabei fällt auf, wie oft Männer, die bereits der Vatergeneration angehören (könnten), zeitverzögert zur (manchmal zweiten) Familiengründung ansetzen.8 4

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8

Laut Foucault will die Archäologie eben die geschichtlich einschlägige Ebene ans Licht bringen, »auf der die Geschichte begrenzte Diskurstypen verursachen kann, die ihren eigenen Typ von Historizität haben und mit einer Menge verschiedener Historizitäten in Beziehung stehen.« Foucault, Archäologie des Wissens, S. 235. Vgl. besonders die Kapitel zu Kleist, den Majoratserzählungen und Stifter. Mit ›intergenerationell‹ ist hier die spezifische (Macht-)Beziehung zwischen Vater und Sohn/Schwiegersohn gemeint. Grundsätzlich wird mit der Entstehung der »modernen Jugend« im Kaiserreich natürlich auch eine andere Kraft virulent, die im folgenden Kapitel zum Expressionismus erörtert werden soll. Vgl. dazu zunächst allgemein Winfried Speitkamp: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1998, S. 118–161. »67 % der Bürgerfrauen, deren Lebenslauf hier nachgegangen wird, waren zehn oder mehr Jahre jünger als ihre Männer, wobei darunter bei rund 13 % der Ehen die Altersdifferenz bei über zwanzig Jahren lag.« Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 41. Sie betont dabei auch: »Der jedoch generell in beiden Ländern bleibende relativ große Altersunterschied zwischen Bürgerfrauen und -männern leistete einem Autoritätsgefälle zwischen den Eheleuten Vorschub. Die gängige Anrede ›mein liebes Kind‹, mit dem Bürgermänner vielfach ihre Briefe oder ihre Ermahnungen einleiteten, reflektiert diese Hierarchie. Doch diese Altersdifferenz konnte ambivalent wirken: einerseits prägte sie ungleichgewichtige Machtstrukturen, andererseits schienen die älteren Männer nicht selten von der Unsicherheit verfolgt, ihren jüngeren Frauen und deren Ansprüchen nicht gerecht werden zu können.« Ebd., S. 40–41. Budde beschreibt das emotionale Postulat, das hinter der bürgerlichen Ehe stand, folgendermaßen: »Nicht als politische und ökonomische Herrschaftssicherung, wie sie der an geburtsständischen Privilegien und äußeren Konventionen orientierte Adel noch bis ins 19. Jahrhundert hinein instrumentalisierte, sondern als eine von allen sachlichen Interessen freie emotionale Beziehung zwischen zwei Partnern sollte gemäß dem bürgerlichen Gesellschaftsentwurf der Bund fürs Leben geschlossen werden. […] Auch wenn im deutschen und englischen Bürgertum im Laufe

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Die Eheschließung von Innstetten und Effi in ›Effi Briest‹ etwa wird in einer merkwürdigen Verschiebung zur ursprünglichen Liebesverbindung zwischen Innstetten und Effis Mutter Luise geplant und vollzogen. Von Luise ehemals aufgrund mangelnden sozialen Prestiges abgewiesen, kehrt Innstetten zurück und bittet um die Hand der (ihm bis dahin unbekannten) Tochter. Das Narrativ dieser gescheiterten Verbindung wird in einer absurden Volte ausgerechnet von Effi kolportiert (und offensichtlich auch kreativ in Übereinstimmung mit konventionalisierten Liebesvorstellungen überformt). Innstetten firmiert so nicht als beliebiger Gast, sondern a priori als ehemaliger Verehrer der Mutter: Wie sie euch schon sagte, sie wäre doch gegangen; sie erwartet nämlich Besuch, einen alten Freund aus ihren Mädchentagen her, von dem ich euch nachher erzählen muß, eine Liebesgeschichte mit Held und Heldin, und zuletzt mit Entsagung. Ihr werdet Augen machen und euch wundern.9

In ihren Ausführungen legt Effi großes Gewicht auf die adäquate Präsentation der »sonderbaren«, »beinahe romantischen« Geschichte, in der Mutter und Innstetten als jugendliche Protagonisten fungieren. Die digressive, »unterhaltliche« Weise, in der sie die spärlichen Details mitteilt, antizipiert nebenbei auch entscheidende Aspekte von Effis Schicksal: Die Stachelbeer-»Schlusen« (EF 10), die sie die Freundinnen auffordert wegzuräumen, um einen Fall zu vermeiden, bilden nicht nur den etwas gezwungenen Themenwechsel von der literalen zur übertragenen Bedeutung des Wortes »Fall«, sondern schließlich auch den rhetorischen Übergang zu Effis eigener Hochzeit: »Mama kann es nicht leiden, wenn die Schlusen so überall herumliegen, und sagt immer, man könne dabei ausgleiten und ein Bein brechen.« »Glaub ich nicht«, sagte Hertha, während sie den Stachelbeeren fleißig zusprach. »Ich auch nicht«, bestätigte Effi. »Denkt doch mal nach, ich falle jeden Tag wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen. Was ein richtiges Bein ist, das bricht nicht so leicht, meines gewiß nicht und deines auch nicht, Hertha.

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des 19. Jahrhunderts immer stärker und erfolgreicher von den heiratswilligen Kindern der Vorrang des Gefühls eingeklagt wurde und nur noch selten reine Vernunfts- und Geschäftsehen geschlossen wurden, blieben es doch im allgemeinen Konvenienzehen. ›Mesalliance‹, also nach Eltern und Gesellschaftsansicht nicht-standesgemäße Beziehungen, waren wenig wahrscheinlich.« Ebd., S. 26–31 Theodor Fontane: Effi Briest. In: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Abteilung 1: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte und Nachgelassenes. Bd. 4. München 1974, S. 10. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als EF mit der entsprechenden Seitenzahl.

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Was meinst du, Hulda?« »Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall.« »Immer Gouvernante; du bist doch die geborene alte Jungfer.« »Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du.« »Meinetwegen. Denkst du, daß ich darauf warte? Das fehlte noch. Übrigens, ich kriege schon einen und vielleicht bald. Da ist mir nicht bange. Neulich erst hat mir der kleine Ventivegni von drüben gesagt: ›Fräulein Effi, was gilt die Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.‹« »Und was sagtest du da?« »›Wohl möglich‹, sagt’ ich, ›wohl möglich; Hulda ist die Älteste und kann sich jeden Tag verheiraten.‹ Aber er wollte davon nichts wissen und sagte: ›Nein, bei einer anderen jungen Dame, die geradeso brünett ist, wie Fräulein Hulda blond ist.‹ Und dabei sah er mich ganz ernsthaft an … Aber ich komme vom Hundertsten aufs Tausendste und vergesse die Geschichte.« »Ja, du brichst immer wieder ab; am Ende willst du nicht.« »Oh, ich will schon, aber freilich, ich breche immer wieder ab, weil es alles ein bißchen sonderbar ist, ja beinah romantisch.« (EF 10–11)

Effis eigentümliche Mischung aus kindlicher Unbefangenheit und ehrgeiziger Normenkonformität, die auch ihren späteren »Fall« mitbedingt, springt hier angesichts ihrer abwertenden Zurechtweisung der vorsichtigen Hulda als »Gouvernante« und alter »Jungfer« besonders ins Auge, insofern sie damit ihre vorgängige Überzeugung von der unausweichlichen Notwendigkeit einer Heirat dokumentiert. Damit reproduziert sie in größtmöglicher Naivität spezifische gesellschaftliche Dogmen (und nährt das daraus resultierende agonale Element zwischen ihr und Hulda). In jedem Fall wird die enge Verschaltung von »Fall« und »Ehe« im Kontext der mütterlichen Liebesgeschichte eingeführt: »Also Baron Innstetten! Als er noch keine Zwanzig war, stand er drüben bei den Rathenowern und verkehrte viel auf den Gütern hier herum, und am liebsten war er in Schwantikow drüben bei meinem Großvater Belling. Natürlich war es nicht des Großvaters wegen, daß er so oft drüben war, und wenn die Mama davon erzählt, so kann jeder leicht sehen, um wen es eigentlich war. Und ich glaube, es war auch gegenseitig.« […] »Nun, es kam, wie’s kommen mußte, wie’s immer kommt. Er war ja noch viel zu jung, und als mein Papa sich einfand, der schon Ritterschaftsrat war und Hohen-Cremmen hatte, da war kein langes Besinnen mehr, und sie nahm ihn und wurde Frau von Briest … Und das andere, was sonst noch kam, nun, das wißt ihr … das andere bin ich.« (EF 12–13)

Auch hier klingt das vertraute Motiv der Vernunftehe an, allerdings wird hier die gesellschaftlich als richtig indizierte Wahl mit einem Konzept konfrontiert, das auf »gegenseitiger« Neigung basiert. Damit wird im Folgenden Sexualität und Familie (vor allem auch die hier ostentativ hervorgehobene Geburt Effis als Resultat der Vernunftehe) entkoppelt von der 347

gegenseitigen Liebe. Dass Effi das Konzept als Entsagung10 stilisiert (»Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm.«),11 mag zunächst als Abschwächung der Ereignisse gesehen werden, dient aber eigentlich zur impliziten Bestärkung der Tragödie ohne tödlichen Ausgang und der nochmaligen Aufwertung eines Liebeskonzepts, dem angesichts gesellschaftlicher Konstellationen entsagt werden muss; gleichzeitig erscheinen die Konsequenzen der Trennung – besonders im Rekurs auf die erdverbundene Ansicht des alten Briests – eher profan: »[…] das Leben hat er sich nicht genommen. Aber ein bißchen war es doch so was.« »Hat er einen Versuch gemacht?« »Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht länger hier in der Nähe bleiben, und das ganze Soldatenleben überhaupt muß ihm damals wie verleidet gewesen sein. […] Kurz und gut, er nahm den Abschied und fing an, Juristerei zu studieren, wie Papa sagt, mit einem ›wahren Biereifer‹ […].« (EF 13)

Effis jugendliche Lesart der mütterlichen Beziehung zu Innstetten erfolgt also – trotz einiger inkommensurabler Details – nach dem Muster tragischer Liebesgeschichten. Wenn Innstetten in diesem Sinne der eigentlich legitime Partner der Mutter war, so muss die Geburt Effis darauf zurückbezogen werden. Immerhin sichert der Text das quasi-»wahlverwandtschaftliche« Verhältnis von Mutter und jungem Innstetten ab, indem beide den gleichen Geburtstag haben und auf den Tag genau gleich alt sind.12 Mit anderen Worten: Es ist nicht die große Altersdifferenz, die bei Innstetten und Effi in ein Vater-Tochter-Verhältnis insinuiert, sondern vor allem seine spezifische Beziehung zur Mutter, die der Begegnung von 10

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Vgl. dazu Jürgen Kolbe: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und der Roman des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1968, S. 183. Kolbe verweist auf die Bedeutsamkeit dieses Goethe-Verweises, deutet ihn jedoch als Ankündigung, dass Entsagung in Effis Fall nicht stattfinden wird. Vgl. dazu Brian Holbeche: Innstetten’s ›Geschichte mit Entsagung‹ and its significance in Fontane’s ›Effi Briest‹. In: German Life and Letters 41 (1987), S. 21–32. Holbeche entwickelt psychologisch aus der Grundsituation von Innstettens Entsagung dessen Verhaltensweisen gegenüber Effi. Vgl. etwa auch Walter Müller-Seidel: Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1979, S. 361. Diese spezifische Gleichaltrigkeit erinnert insofern an ›Die Wahlverwandtschaften‹, als dort das Geburtsdatum Ottilies besonders hervorgehoben wird: An genau diesem Tag pflanzte Eduard seine ersten Bäume – dieses Faktum impliziert eine paternal-filiale Beziehung zwischen den beiden Liebenden. Mit dieser Synchronizität wird also die besondere Verbindung zwischen Ottilie und Eduard aufgewertet, aber auch zugleich problematisiert (mit Blick auf die latent inzestuös eingefärbte Intergenerationalität). In der triadischen Konstellation in ›Effi Briest‹ wird nun diese duale Struktur gespalten und auf zwei Frauen verteilt. Die Gleichaltrigkeit verbindet Mutter und Innstetten und wertet ihre Beziehung auf, gleichzeitig wird so die Vater-Tochter-Komponente zwischen Innstetten und Effi betont.

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Effi und Innstetten als Narrativ vorangestellt wird.13 Die Problematik des Altersunterschiedes wird in diesem Roman durch das Alter von Innstettens Rivalen ausgehebelt, insofern Effis Affäre Crampas nochmals älter ist als Innstetten. In einer weiteren Dialogsequenz wird in diesem Sinne auch die mögliche Attraktion zwischen zwei Generationen thematisiert, wenn Effi die Schönheit der Mutter hervorhebt: »Er ist geradeso alt wie Mama, auf den Tag.« »Und wie alt ist denn eigentlich deine Mama?« »Achtunddreißig.« »Ein schönes Alter.« »Ist es auch, namentlich wenn man noch so aussieht wie die Mama. Sie ist doch eigentlich eine schöne Frau, findet ihr nicht auch? Und wie sie alles so weg hat, immer so sicher und dabei so fein und nie unpassend wie Papa. Wenn ich ein junger Leutnant wäre, so würd’ ich mich in die Mama verlieben.« »Aber Effi, wie kannst du nur so was sagen«, sagte Hulda. »Das ist ja gegen das vierte Gebot.« (EF 12)

Dieser merkwürdige Fokus führt textlich Innstetten und die Mutter zusammen und legt bei Effi eine (wiederum an bestimmten Mustern geschulte) romantische Vorstellungskraft offen, die allerdings rein hypothetisch verfährt. Ebenso knöchern wie hellsichtig antwortet Hulda darauf mit dem Verweis auf das Vierte Gebot, das Vater und Mutter zu ehren vorschreibt: Darin findet sich nun wiederum ein abstruser Übergang, indem Hulda Effis unzukömmliche erotische Perspektive auf die Mutter offenlegt und als Verstoß interpretiert, worauf Effi »Unsinn« entgegnet und die Frage aufwirft, »Wie kann das gegen das vierte Gebot sein? Ich glaube, Mama würde sich freuen, wenn sie wüßte, daß ich so was gesagt habe.« (EF 12) Dass Effi die Implikationen ihrer eigenen Aussage nicht verstehen kann, zeigt deutlich, wie grundlegend eine romantisch-kolportageartige Deutung der Geschehnisse und ihre eigene emotionale Reife auseinander treten. Außerdem aber lädt die Äußerung zu einer Spiegelung ein, die wiederum auf die »wahlverwandtschaftliche« Verquickung zurückverweist. Könnte Effi sich als junger Leutnant in die Mutter verlieben, so muss auch implizit der Umkehrschluss mitgedacht werden, der ein junges Mädchen ähnlich enthusiasmiert von dem »schönen Alter« und der zuvor 13

Andere Beispiele außer ›Effi Briest‹ werden genannt bei Helen Chambers: The Child Bride. Engagements 1890s-style in Fontane, Böhlau, Ebner-Eschenbach, and Huch. In: The Text and Its Context. Studies in German Literature and Society presented to Ronald Speirs on the occasion of his 65th birthday. Hrsg. von Nigel Harris, Joanne Sayner. Oxford, Frankfurt am Main, Berlin u. a. 2008, S. 49–62. Vgl. dazu allgemein Sigrid SchmidBortenschlager: Varianten und Variationen des Topos ›Alter Mann – junge Frau‹. In: Schwierige Verhältnisse. Liebe und Sexualität in der Frauenliteratur um 1900. Hrsg. von Theresia Klugsbeger. Stuttgart 1992, S. 5–18.

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betonten Männlichkeit Innstettens schwärmen lässt – eine solche Aufwertung Innstettens bleibt im Text allerdings aus.14 Innstetten verharrt so eigentümlich im Hintergrund als ehemaliger Verehrer der Mutter, der in einer »beinahe« tragischen Wendung um sein Liebesglück gebracht wurde. Dieses Faktum führt a priori zu einer Kontamination seiner Rolle gegenüber Effi; insofern aber die Ehe für Effi zwar nicht konzeptuell (man bedenke ihren merkwürdigen Plan, rote Lampen für das Schlafzimmer anzuschaffen), aber doch de facto gefühlsmäßig entkoppelt ist von ihrer romantischen Liebeskonzeption, ergeben sich für sie vor der Hochzeit zu keinem Zeitpunkt Bedenken. Hier lohnt ein kurzer Blick auf Fontanes ›L’adultera‹, wo eine ähnlich rollen-inzestuöse Implikation literarisch eingeführt wird. Zu Beginn des Textes verweist einer der Protagonisten explizit auf einen Namensvetter: Mit Karl Gutzkows Dramenfigur Vanderstraaten (aus dem 1846 erschienenen Stück ›Uriel Acosta‹) allerdings verbindet Fontanes van der Straaten nach eigener Auskunft keine Verwandtschaft, erstens weil er seinen Namen nicht einwortig, sondern dreiwortig schreibe, zweitens weil er, trotz seines Vornamens Ezechiel, nicht bloß überhaupt getauft worden sei, sondern auch das nicht jedem Preußen zuteil werdende Glück gehabt habe, durch einen evangelischen Bischof, und zwar durch den alten Bischof Roß, in die christliche Gemeinschaft aufgenommen zu sein, und drittens und letztens, weil er seit längerer Zeit des Vorzugs genieße, die Honneurs seines Hauses nicht durch eine Judith, sondern durch eine Melanie machen lassen zu können, durch eine Melanie, die, zu weiterem Unterschiede, nicht seine Tochter, sondern seine »Gemahlin« sei. Und dies Wort sprach er dann mit einer gewissen Feierlichkeit, in der Scherz und Ernst geschickt zusammenklangen.15

Nichtsdestoweniger weist Manasse Vanderstraaten in Gutzkows Stück offensichtliche Ähnlichkeiten zu van der Straaten auf, was das Dementi auffällig markiert. Manasse, ein reicher jüdischer Kaufmann, der einer Intrige zum Opfer fällt, sein Vermögen verliert und die drohende Schande nur durch die Verheiratung der Tochter an den Intriganten De Silva abwenden kann, teilt mit van der Straaten eine distinkte Sammelleidenschaft und Faszination für Kunst. In ›L’adultera‹ wird die Entfremdung der Ehe14

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Der Hinweis auf die Männlichkeit jedoch antizipiert Innstettens Bereitwilligkeit zum Duell, das oftmals explizit als Maßnahme gegen die Feminisierung der modernen Männlichkeit gesehen wurde. Vgl. dazu das Folgende sowie Frevert, Ehrenmänner, S. 230. Theodor Fontane: L’adultera. In: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. Abteilung 1. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 2. München 1971, S. 8. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als AD mit entsprechender Seitenzahl.

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gatten im Übrigen gerade auch über die Opposition von Musik und Bildender Kunst greifbar. Melanie und Rubehn finden dagegen über die Musik (als Kommunikator der Inkommunikabilität) zusammen, einem Medium, von dem der geradlinige van der Straaten ausgeschlossen bleibt. Melanie selbst führt diese spielerische Gegnerschaft mit einer sprechenden literarischen Referenz ein: »Ei, da dürfen wir Sie, wenn ich recht verstanden habe, wohl gar zu den Unseren zählen? Anastasia, das träfe sich gut! Sie müssen nämlich wissen, Herr Rubehn, daß wir hier in zwei Lagern stehen und daß sich das van der Straatensche Haus, das nun auch das Ihrige sein wird, in bilderschwärmende Montecchi und musikschwärmende Capuletti teilt. Ich, tout à fait Capulet und Julia. Doch mit untragischem Ausgang.« (AD 49)

Mag auf den ersten Blick angesichts der Evokation einer Capuletschen Julia van der Straaten als Romeo figurieren, scheint der Vergleich doch mit Blick auf die dezidierte Opposition Melanies und van der Straatens verzogen. Deutlich aussagekräftiger wird deren spezifische Verbindung im Rückgriff auf Gutzkows Stück illustriert. Obwohl ursprünglich mit De Silva verlobt, wendet sich hier die Tochter Judith aus Liebe dem Religionsrenegaten und Philosophen Uriel Acosta zu. Sie findet aus dem Dilemma, sich zwischen romantischer Liebe und Tochterliebe zu entscheiden, einen fatalen Ausweg und vergiftet sich. Obwohl Uriel ihretwegen seine Irrlehren entgegen seiner Überzeugung widerrufen hat, heiratet sie den erpresserischen De Silva, um sich dann das Leben zu nehmen. Uriel erschießt sich daraufhin. Der Doppelselbstmord zweier Liebender verweist damit intertextuell zurück auf ›Romeo und Julia‹. Der finanziell gerettete Vater ist in ›Uriel Acosta‹ von der Vereinigung des Liebespaares im Tod ausgeschlossen. Trotz charakterlicher Makel16 hängt er allerdings mit inniger Liebe an seiner Tochter; van der Straaten liebt seine junge Gattin mit einer ähnlichen Zärtlichkeit. Kurz: Mit der augenfälligen Bezugnahme auf Gutzkows Stück wird im Ehemann van der Straaten palimpsestartig eine andere Qualität erkennbar, nämlich die des Vaters. Das Unbehagen in der Ehe scheint durch diesen intertextuellen Verweis mehrfach motiviert und Melanies explizit »untragische« Befreiung, ihre Scheidung und Wiederverheiratung mit einem geliebten Mann, verweist wiederum zurück auf 16

Er entschließt sich dazu, seiner Tochter zu Liebe Uriel Asyl in seinem Haus zu gewähren, was die Tochter nicht als Gefallen interpretieren will, sondern als bewusste Entscheidung einer reflektierten Menschlichkeit, worauf Manasse entgegnet: »Da irrst Du wohl, mein Kind! Die Menschen hass’ ich nicht, Doch hab’ ich auch den Drang nicht, sie zu lieben.« Karl Gutzkow: Uriel Acosta. Achtzehnte Auflage. Jena 1901, S. 40.

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Judiths im Tod kulminierende Entscheidung für den Geliebten. Obwohl beide Vaterfiguren durchaus liebenswerte Züge aufweisen (besonders in ihrer rückhaltlosen Wertschätzung der Tochter/Gattin), verschwimmen sie doch gleichzeitig strukturell mit dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie agieren. Darauf wird gleich noch zurückzukommen sein. Für ›Effi Briest‹ gilt nun, dass die Eheschließung von Effi und Innstetten die offizielle Eliminierung des Unanständigen voraussetzt, nämlich der Reduktion auf ein pragmatisches Ehebündnis, das von vorgängigen emotionalen Affiziertheiten zwischen den Ehepartnern entkoppelt ist – so wie es Effi selbst zu Beginn etabliert. Das Prinzip einer intergenerationellen Rollen-Endogamie17 wird in diesem Sinne bei Fontane als purifizierte (entsexualisierte) Quasi-Exogamie verborgen, aber in der analytischen Beschreibung als Problem erfasst. Zugleich wird bei Fontane eine Rückkehr des Sublimierten oder Unterdrückten inszeniert. Die Spaltung von Eros und Ehe avanciert hier zum nachhaltigen Problem,18 in dem sich strukturelle gesellschaftliche Defizite spiegeln.19 Der Trend zur quasi-endogamen Ehe, wie sie noch bei Stifter konstatiert wurde, wird hier also mit anderen Mitteln fortgesetzt. Geht es bei Stifter um eine familiale Gesamtkonstruktion, die zwar eine freie Liebeswahl voraussetzt, aber nicht durch Sexualität destabilisiert werden kann, so erlaubt die konsequente Anwendung des endogamen Prinzips die eben beschriebene intergenerationelle Ehe, die Rekrutierung der Tochtergeneration als Ehefrau und steht damit für eine virile Ermächtigung der Vatergeneration und die Erweiterung ihres Heiratsrechts. Dies kann besonders deshalb anstandslos geschehen, weil die Sexualität der Ehe umfassend tabuisiert wird. Die missglückten Ehen zwischen väterlichem Mann und junger Frau rühren an ein machtbezogenes Grundproblem, das an den Vater/Ehemann als Vorstand des Hauses geknüpft ist. Anders als bei Stifter wird die intime Innerlichkeit von außen perforiert. Grundsätzlich erweist sie sich als gleichgeschaltet mit einem bürgerlichen Wertesystem, dessen Valenzen sich vollständig in einem bis ins Detail ausgearbeiteten Repräsentationssystem zu erschöpfen scheinen. Jede Handlung ist mit Blick auf 17

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Damit ist hier gemeint, dass Innstetten, welcher der Vatergeneration zugerechnet werden muss (das ergibt sich, wie gesagt, aus seiner Beziehung zu Effis Mutter), und Effi, die wiederum zur Tochtergeneration gehört, eine Beziehung eingehen. Explizit geschieht dies etwa in ›Graf Petöfy‹. Diese theoretische Entkoppelung legitimiert die auffällig inzestuös kodierten Eheverbindungen; gleichzeitig jedoch werden sie als abwegig markiert und in einer Kollision der realen Bedürfnisse als instabil und defizitär vorgeführt.

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diesen speziellen Wertungshorizont zu evaluieren. Bei Fontane gibt es eine individualisierte familiale Intimität vor allem als problematische gesellschaftliche Abweichung. Hatte die Familie ehemals – vor allem durch die romantische Ehekonzeption – eine ideologische Bastion geboten, innerhalb der Individualität und Intimität kultiviert und generiert werden konnte, so überlebt diese Form bei Fontane nur noch in Einzelfällen, wenn sich zwei unabhängige Individuen in einer devianten Alternativfamilie zusammenfinden. In ›L’adultera‹ verkörpern Rubehn und Melanie diese Form der auf Individualität und Wahl begründeten Liebesgemeinschaft, die aber Melanies ursprüngliche ›family of procreation‹ irreversibel aufbricht und die Kinder als offensichtlichen Kollateralschaden zurücklässt. Die Familie, vormals Hort deutscher Innerlichkeit, ist in Fontanes Texten mit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verschmolzen und folgt in der Regel den Codes, die in dieser Dimension oktroyiert werden. Dabei wird die im Sinne der Gesellschaft verstandene väterliche Gewalt abstrahiert und selbstläufig. Hier wird ein Blick auf Innstettens eigenes Rollenverständnis notwendig – sein Entschluss, sich mit dem Rivalen zu duellieren, obwohl dessen Affäre mit Effi zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre zurückliegt, ist für das Folgende maßgeblich: Ute Frevert versteht in ihrem Buch ›Ehrenmänner‹ das Duell als signifikantes »›Handlungsparadigma‹ gesellschaftlicher Oberschichten des 19. Jahrhunderts«,20 dessen Geschichte eng mit dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft verbunden ist. Als symbolische Praxis und Distinktionsstrategie erfreute sich das Duell im 19. Jahrhundert auch einer großen Beliebtheit unter Bürgerlichen.21

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Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991, S. 16. Frevert konstatiert das zunehmende öffentliche Interesse am Duell um 1800 und verfolgt die um die Legitimität dieser gesellschaftlichen Praxis kreisenden Argumentationen ausführlich. Vgl. Frevert, Ehrenmänner, besonders S. 35–64. In vielen Punkten erscheint diese Argumentation auch für die vorliegende Arbeit relevant, was die Applikation des Ehrbegriffs, innerliche und äußerliche Konzepte von Ehre, die bürgerliche Usurpation von Standesprivilegien als »Versöhnung der Stände« etc. angeht. Im Folgenden beschränkt sich diese Arbeit vor allem auf den Status im 19. Jahrhundert. Auf der Basis der (fragmentarischen) Duellstatistik, die ihrem Buch zugrunde liegt, stellt Frevert fest, »daß das Duell im Verlauf des 19. Jahrhunderts sein adliges Profil weitgehend verlor und sich [mit einem adligen Anteil von 44 % zwischen 1800–1869 und lediglich 19 % zwischen 1870–1914] zu einer Veranstaltung des Bürgertums entwickelte.« Frevert, Ehrenmänner, S. 179.

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Ohne im Folgenden von einer Fusion der Stände auszugehen, wie es Frevert tut,22 oder eine Feudalisierung des Bürgertums bzw. eine Verbürgerlichung des Adels zu implizieren,23 ist es doch entscheidend, dass Duelle von einem Ehrbegriff geleitet werden, der sich – was angesichts der massiven staatlichen Wandlungen nicht überraschend ist – vollständig vom feudalen Duellverständnis gelöst hat. Frevert beschreibt, wie sich gerade für das individualisierte Selbstverständnis des Bürgers das Duell als adäquate Ausdrucksform anbot, mit dem man die eigene Person behaupten konnte.24 Zentrales Kennzeichen dieser Ehre war vor allem die antimaterialistische und autonome Ausrichtung, die sich gegen die zeitgenössischen Differenzierungsprozesse und die Allgegenwärtigkeit des Staates zur Wehr zu setzten suchte, indem sie ein ganzheitliches, moralisch unabhängiges Individuum etablierte, dem Verdienst über Dienst bzw. Ehre über Interesse ging.25 Fraglos spielt dabei auch die Betonung des Männlichen26 für die Duellkultur des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle, erwiesen sich doch derartige Ehrenhändel als ein martialisches Antidot gegen eine zunehmend artikulierte Furcht vor einer Feminisierung der Gesellschaft. Im Duell konnte jene Macht und Autonomie ausgelebt werden, die gemäß den zeitgenössischen Geschlechtscharakteren als männlich verstanden wurden.27 Dabei greifen unter dem Label der Individualität und Autonomie bereits nachhaltige gesellschaftliche Normierungsvorgänge, wie sie Fontane besonders deutlich macht. Bei aller Betonung der individuellen, männlichen Autonomie ist zunächst offensichtlich, »daß ein Duell niemals nur eine intime Privatangelegenheit war, 22 23

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Frevert, Ehrenmänner, S. 180. Vgl. dazu zusammenfassend Heinz Reif: »Was als vom Adel ausgehende Feudalisierung des Bürgertums wahrgenommen wurde, läßt sich weit besser als der nicht allzu erfolgreiche Versuch einer neuen, stark staatsbezogenen Aristokratiebildung verstehen, an welcher der Adel, wie z. B. das Salonleben im Berlin der Kaiserzeit zeigt, nur sehr begrenzt aktiv teilnahm.« Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999, S. 67. Das wird allerdings mit Blick auf ›Effi Briest‹ noch zu spezifizieren sein. Frevert hat dabei das Konzept der Ehre nochmals gegen die Moral als Normensystem »reiner Innerlichkeit« (nach Georg Simmel) abgegrenzt. Vgl. Ute Frevert: »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995, S. 175. Frevert, Ehrenmänner, S. 185. Dies ist im Übrigen ganz im Sinne der Briestschen Redewendung zu sehen, nach der die Männer männlich und die Weiber weiblich zu sein haben. (EF 10) Besonders aufschlussreich als Artikulation der »Männlichkeit« wird das Duell mit Blick auf Céciles erotisch desinteressierten Haudegen, der kompensatorisch den Rivalen durch das Duell eliminiert und damit – um scheinbar die Ehre seiner Frau zu verteidigen (deren Reputation darunter eher leiden dürfte) – seine eigene Männlichkeit restituiert.

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sondern eine gesellschaftliche Inszenierung vor einer repräsentativen Öffentlichkeit von Standesgenossen.«28 Vor diesem Hintergrund nun nimmt sich Fontanes ›Effi Briest‹ tatsächlich analytisch aus, obwohl die Textkoordinaten auf den ersten Blick als konventionelles Szenario erscheinen: die Geschichte eines Ehebruchs, der vom betrogenen Gatten entdeckt und im Duell geahndet wird.29 Innstettens Reaktion scheint jedoch dabei »gestisch« die Implikationen des Duells offenzulegen. War dem Duell ein Machtkonzept eingeschrieben, das sich von der staatlichen Sphäre bewusst abgrenzte, um eine individuelle (männliche) Autonomie zu wahren, so erweist sich diese »Autonomie« in Innstettens Analyse als vorrangig gesellschaftlich determiniert. Aus Autonomie vom Staat wird gesellschaftliche Heteronomie. Die gesellschaftliche Gewalt mag dabei die staatliche limitieren, sie wird nun allerdings von Innstetten keineswegs als individualisierbar wahrgenommen. In seinem Gespräch mit Wüllersdorf betont Innstetten zwar seine Liebe, erörtert aber gleichzeitig in reflektiver Distanz seine Optionen angesichts Effis Affäre. Dabei spielt die »Verjährung«, wie er es nennt, bereits eine entscheidende Rolle: Ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar von Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht? so kann ich zunächst nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht immer von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiß falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt, daß die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne. Und dann als zweites: ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen, ich liebe sie noch, und so furchtbar ich alles finde, was geschehen, ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr eigenen heiteren Charmes, daß ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle. (EF 235; Hervorhebung von Fontane)

Innstetten verortet die Kränkung im privaten Bereich, er ist weder von Hass oder Rache getrieben, sondern von Kränkung und dem Gefühl, »schändlich« (EF 235) hintergangen zu sein. Unabhängig von seinen Handlungen ist ihm das private Glück durch den Verrat Effis genommen und nicht restituierbar: »den, der einem das Glück genommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen« (EF 235–236).

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Frevert, Ehrenmänner, S. 214. Vgl. zur Inszenierung des bürgerlichen Lebens generell Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen von 1870 bis 1933. Tübingen 2008. Vgl. dazu auch Jeffrey Schneider: Masculinity, Male Friendship, and the Paranoid Logic of Honor in Theodor Fontane’s ›Effi Briest‹. In: The German Quarterly 75/3 (2002), S. 265–281.

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Wenn Innstetten also das private Glück in jedem Fall verloren gibt, zugleich aber die Möglichkeit einer privaten Versöhnung nicht ausschließt, stellt sich die Frage, warum er auf dem Duell besteht. Bekanntermaßen erklärt Innstetten seinen Entschluss zunächst mit dem tyrannisierenden »Gesellschafts-Etwas«: Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas gebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. […] Also noch einmal, nichts von Haß oder dergleichen, und um eines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß. (EF 236)

Dass er sich für diese ausführlichen Erörterungen zugleich aufgrund ihrer Evidenz und ihrer allgemeinen Akzeptanz, die er ihnen unterstellt, entschuldigt, verdeutlicht den Anspruch, den Innstetten damit auf eine repräsentative Gesellschaftsanalyse erhebt. Hier kommt es vor allem auf die von ihm diagnostizierte Durchdringung an, die bis in die Privatsphäre so durchreguliert ist, dass Innstetten nach eigenen Angaben keine Wahl bleibt. Die viel beschworene Autonomie und Individualität, die das Duell zuzusichern schien, verschwinden in Innstettens Überlegungen hinter sozialen Inszenierungsvorgaben, die in diesem Fall als »tyrannisch« gedeutet werden, weil sie einen gesellschaftlich oktroyierten Ehrenkodex exekutieren. Innstetten räumt zugleich ein, »das Spiel in der Hand gehabt zu haben«, bevor er Wüllersdorf einweihte. Damit verfolgt er eine doppelte Argumentationsstrategie, bei der unklar bleibt, wo die häusliche Intimität beginnt. Außen- und Innenwahrnehmung greifen hier so eng ineinander, dass jenes öffentlich omnipräsente Regelsystem auch durch einen verschwiegenen Freund Einfluss auf Innstettens Selbstwahrnehmung gewinnt; diese Argumentation zumindest kann Wüllersdorf mühelos nachvollziehen. Innstetten aber setzt die Grenze offensichtlich noch dezidierter im Individuum an. In diesem Sinne hatte er sich auch entschieden, Wüllersdorf einzuweihen und dürfte sich dabei über die Konsequenzen im Klaren gewesen sein. Das Etwas, »das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben alles zu beurteilen, die andern und uns selbst«, zieht jegliche persönliche Autonomie und Individualität ein. Für Innstetten 356

kann es damit kein Außerhalb der Gesellschaft mehr geben.30 Wenn er sich selbst in diesem Sinne zu einem konventionellen sozial kodierten Instrument der Ahndung macht, wird deutlich, dass das Duell in ›Effi Briest‹ als eine selbstläufige Regelapplikation vorgeführt wird. Dass Innstetten sich überhaupt mit der Frage nach der Verjährung und der Legitimation seiner Handlung quält, berührt die Frage nach Recht und Unrecht, die der Duellkultur eigentlich entgegengesetzt ist. Die Regeln sind so engmaschig und die Vorgaben so klar, dass der mechanisierte und regulierte Ablauf jede Frage nach Gerechtigkeit substituiert, eine Beobachtung, die Carl Schmitt in seinen Überlegungen zum ›Leviathan‹ mit Blick auf das zwischenstaatliche Völkerrecht betont: In einer Rechtsordnung, die das Duell als Rechtseinrichtung anerkennt, [hat] ein solches Duell seine inneren Rechtsgarantien darin […], daß bei jedem Duellanten bestimmte Qualitäten vorausgesetzt werden, daß es mit anderen Worten ›satisfaktionsfähige‹ Männer sind, die sich duellieren und deshalb jedes wirkliche Duell als solches weder gerecht noch ungerecht genannt werden kann.31

An Innstetten wird also die Zweiteilung vorgeführt, in der sich das gesellschaftliche Regel-Ich von einem anderen abtrennt, das diese Regelhaftigkeit reflektieren und von den eigenen Wert-Codizes trennen kann. Damit begreift sich Innstetten aktiv als Produkt einer Gesellschaft, deren Werte die eigenen Instinkte überlagern und überwiegen. Bürgerliche Werte und natürliche Werte sind in dem von Innstetten unterstellten Zivilisationsprozess auseinandergetreten. Das Häusliche ist nicht länger die Sphäre, in der sich jene Überlegungen behaupten können, vielmehr wird die öffentliche Ordnung unmittelbar ins Herz der Familie verlagert, wo sie ihre regulierende Wirkung ungebremst entfaltet. Annies Erziehung gemäß der gesellschaftlichen Normen scheint in diesem Sinne eine logische Konsequenz zu sein. Während die Briests (ganz im Sinne des alten Briests) Effi zu sich holen, weil am Ende »eins« Vorrang haben müsse, nämlich die »Liebe der Eltern zu ihren Kindern«, ein Satz, den Briest seiner Frau gegenüber dezidiert gegen die Regeln der

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In ›L’adultera‹ erscheint der verlassene Ehemann dagegen am Ende als Verlierer, während das unkonventionelle Liebespaar von der Gesellschaft schließlich trotz des (oder absurderweise auch gerade wegen) des Bankrotts hofiert wird. Vgl. dazu das Folgende. Schmitt, Leviathan, S. 74.

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Gesellschaft vertritt,32 wird Innstettens Erziehungsmaxime nur indirekt bei der Begegnung Annies und Effis kommentiert – und zwar mit vernichtender Kritik von Effis Seite, die das unnatürlich-dressierte Verhalten der Tochter als verzögerte, unmenschliche Bestrafung des Ehemannes deutet:33 »[…] ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab’ es auch gewußt, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, … aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kinde, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, daß er ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, daß er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat recht gehabt. ›O gewiß, wenn ich darf.‹ Du brauchst nicht zu dürfen; ich will euch nicht mehr, ich haß’ euch, auch mein eigen Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts. – Ehre, Ehre, Ehre … und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind, weil er einer Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind schickt, richtet er’s ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei ›wenn ich darf‹. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch.« (EF 275; Hervorhebungen von Fontane)

Angesichts dieses Übergriffs auf ihre natürlichen Mutterrechte klaffen für Effi eine Moral, die sie hier durch »Gott« verkörpert sieht, und eine gesellschaftlich-nüchterne Moral auseinander – die Projektion auf eine göttliche Strafe verweist auf ihr Unrechtsbewusstsein und belegt zusätzlich, dass sie ihre gesellschaftliche Überschreitung immer instinktiv als Transgression verstanden hat. Von der »gesellschaftlich« vorgegebenen Tugend der anderen allerdings will Effi ihr Vergehen nicht bewertet wissen. In den Überlegungen von Innstetten und Effi steht damit eine natürliche Tugend (hier mit dem religiösen Verweis als transzendent indiziert) und ein damit korrespondierender Verhaltenskodex einer gesellschaftlich bindenden Tugend gegenüber. Auf ihrem Totenbett wird Effi diese Anschuldigung noch einmal verständnisvoller modifizieren, nicht ohne ihre 32

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Die Mutter hingegen scheint sich hier in einem merkwürdigen Einklang mit Innstetten zu befinden: »Dann ist es vorbei mit Katechismus und Moral und mit dem Anspruch der ›Gesellschaft‹.« Briest entgegnet darauf im oben erwähnten Sinne: »Ach Luise komme mir mit Katechismus, soviel du willst; aber komme mir nicht mit ›Gesellschaft‹« (EF 277). In ›L’adultera‹ dagegen lehnt sich die unversöhnliche Tochter gegen die Mutter, die sie verlässt, auf.

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Unterscheidung zwischen Berechnung und Nüchternheit gegen »rechte Liebe« abzugrenzen: »Und es liegt mir daran, daß er erfährt, wie mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie mir hier klargeworden, daß er in allem recht gehandelt. In der Geschichte mit dem armen Crampas – ja, was sollt’ er am Ende anders tun? Und dann, womit er mich am tiefsten verletzte, daß er mein eigen Kind in einer Art Abwehr gegen mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so weh es mir tut, er hat auch darin recht gehabt. Laß ihn das wissen, daß ich in dieser Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten, aufrichten, vielleicht versöhnen. Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.« (EF 294)

Die Ambivalenz, die auch Innstetten durchgehend fühlt, wird hier von Effi aufgegriffen und ultimativ auf die Spitze getrieben, indem sie Innstettens genuine Priorisierung der gesellschaftlichen Regeln zunächst für richtig erklärt, abschließend aber in der Charakterbeschreibung die Absenz eines »rechten« Gefühls konstatiert und damit die partielle Legitimierung zurücknimmt. Roswithas rührende briefliche Bitte, ihrer Herrin Effi zumindest den geliebten Hund Rollo zu senden, kommentiert Innstetten mit einer ähnlichen gedanklichen Stoßrichtung, insofern er Wüllersdorfs prägnanter Bemerkung: »die ist uns über« (EF 287) beipflichtet: »Es geht mir schon lange durch den Kopf, und diese schlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht auch nicht gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus dem Häuschen gebracht. Es quält mich seit Jahr und Tag schon […] Mein Leben ist verpfuscht, und so hab’ ich mir im stillen ausgedacht, ich müßte mit all den Strebungen und Eitelkeiten überhaupt nichts mehr zu tun haben und mein Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentlichestes ist, als ein höherer Sittendirektor verwenden können.« (EF 287)

Wenn er daraufhin konstatiert, selbst nicht »intakt« zu sein (EF 287) und zudem unfähig, den »Mann im Büßerhemd herauszubringen«, bleibt ihm noch die Flucht vor »Kultur und Ehre«: »weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle« (EF 288). Je einfacher das Gemüt, desto unaffizierter erscheint es von den Regeln der Gesellschaft. In diesem Sinne sind es Roswitha und Rollo (der als Tier weniger abgerichtet erscheint als Effis Tochter), die an Effis »Fall« keinen Anstoß nehmen: Die Ambivalenz dieser Situation ist nicht zu übersehen. Das Zivilisierende und Kultivierende führt in letzter Konsequenz in die totale Konformität mit der Gesellschaft, die Innstetten selbst als Grund359

pfeiler des Zusammenseins legitimiert.34 Insofern erscheint er – gegenläufig zum oberflächlichen Selbstbeschreibungsdiskurs der zeitgenössischen Duellkultur – weniger ein Beispiel für virile Autonomie und Individualität zu sein, als vielmehr ein Sachwalter gesellschaftlicher Anliegen. Was aber genau verbirgt sich nun hinter dem rigiden Retributionsanspruch, der sexuelle Übertretungen (oder Verhaltensweisen, die eine solche Übertretung antizipieren bzw. implizieren) ahndet? Mit diesem gesellschaftlichen Versöhnungsritual wird auf der einen Seite Ehre reinstalliert; auf der anderen Seite allerdings wird ein Phänomen an die Gesellschaft zurückgebunden, das ihre potentielle Auflösung in Chaos mit sich bringt. Die offensichtlich in der (realen oder drohenden) sexuellen Überschreitung implizierte Einebnung der familialen Differenzierungen und der gesellschaftlichen Ordnung wird in einem gesellschaftlichen Ritual aufgefangen und die drohende Gewalteruption der entdifferenzierenden Überschreitungen (Ehebruch etc.) in einem einzelnen Akt kanalisiert.35 Eine entsprechende (religiöse) Gewalttheorie hat René Girard mit fraglos kontroversem anthropologischem Geltungsanspruch eingeführt. Für ihn ist die Religion, das Opfer und die Sakralisierung des Opfers die Antwort auf jede durch Begehren ausgelöste Krise der Gewalt. In Teilen erweisen sich seine Überlegungen hier als übertragbar und helfen, ein Phänomen beobachtbar zu machen, das für meine Überlegungen entscheidend ist: nämlich die Gesellschaft als para-souveräne Sphäre. René Girard deutet die Funktion des rituellen Opfers in primitiven Gesellschaften als Bündelung und Stilllegung von omnipräsenter Gewalt,36 34

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Mit der Abstrahierung der gesellschaftlichen Macht, die des Öfteren als Götze wahrgenommen wird, korrespondiert wiederum Girards Beschreibung einer abgetrennten und somit legitimierten Gewalttätigkeit: »Die Menschen können ihre Gewalttätigkeit nicht als ihnen äußerliche, getrennte, souveräne und erlösende Größe darstellen, gäbe es nicht das versöhnende Opfer, verliehe ihnen die Gewalt nicht gewissermaßen eine Art Aufschub, der zugleich ein Neubeginn ist: der Beginn eines Ritualzyklus, der auf den Zyklus der Gewalt folgt.« Girard, Opfer, S. 200–201. Die Gesellschaft muss also Gewalt abwenden, indem sie eine Hierarchisierung von Legitimität einführt, die sich wiederum auf genau die Begehrensstrukturen (als affektiven Bewertungsstrukturen) beziehen muss: D.h. die Struktur des mimetischen Begehrens bringt die Gewalt hervor und bietet über Differenzierung eine Lösung. Vgl. René Girard: Mimesis and Violence. Perspectives in Cultural Criticism. In: Review 14 (1979), S. 9–19. Vgl. dazu William Schweiker: Heilige Gewalt und der Wert der Macht. René Girards Opfertheorie und die Theologie der Kultur. In: Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte. Hrsg. von Bernd Janowski, Michael Welker. Frankfurt am Main 2000, S. 108–125. Schweiker will Girard nicht in seiner anthropologischen oder historischen Angemessenheit überprüfen, sondern konzentriert sich auf die »Axiologie der Macht«, als die Girard die Religion versteht: »Eine Axiologie der Macht ist die Bewertung und Legitimation von Macht in menschlichem Tun. Sie bestimmt eine Werteskala und definiert so den ›moralischen Raum‹, in dem menschliches Leben stattfindet.« Ebd., S. 110. Insofern Macht als

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die eine Spirale von Rache unterbindet. Auch die von Carl Schmitt konstatierte Regelhaftigkeit des Duells wird in diesem Sinne als Ritualisierung verstanden, die gesellschaftliche Bedürfnisse abseits der staatlichen Machtsphäre bedient. Damit dupliziert sich die staatliche Gewalt in der öffentlich-gesellschaftlichen Sphäre mit ihrem unverbrüchlichen und universal applizierbaren Regelsystem. Da sie wiederum durch die zahllosen Regeln und Vorgaben so lückenlos kodifiziert ist, dass sie die Gewalt, die sie ahndet damit auch gleichzeitig stillstellt, kollidiert sie nicht mit der staatlichen »Zentralgewalt«, sondern ergänzt sie.37 Carl Schmitts Vergleich des Duells zwischen Männern mit Kriegen zwischen Staaten hebt das souveräne Element dieser spezifischen Gewalt hervor. Zudem ist das »Opfer« gleichzeitig der Täter (nämlich der, der wegen einer gesellschaftlichen, juristisch nicht sanktionierbaren Transgression das Duell provozierte). Er wird symbolisch für eine konzeptuelle Entgleisung haftbar gemacht (und, je nach Duellausgang, bestraft), wobei nicht das Einzeldelikt entscheidend ist, sondern der Symbolwert des Affronts. Diese para-juristische Ordnung kann nur in einer Gesellschaft greifen, die den rituellen Wert der Selbstreinigung akzeptiert und mit trägt. Anders als in der staatlichen Rechtsordnung werden andere Vergehen vom sozialen Radar erfasst, die gegen eine »moralische Ordnung«, gegen die gesellschaftliche Hygiene verstoßen. Wichtig ist hier aber nochmals, dass die Autonomie, Individualität (hier im Gegensatz zur staatlichen Ordnung) und Männlichkeit nur im Gleichklang mit gesellschaftlicher Ordnung (also gesellschaftlich heteronom) dieser purgatorischen Funktion der Versöhnung gerecht werden können. Inwiefern ist dies für meine Fragestellung relevant? Das Duell ist eine im Wesentlichen mit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit kompatible Institution. Sie greift in einem Zwischenbereich, der

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»Fähigkeit, auf Wirklichkeit zu reagieren« verstanden wird, ist dieses Konzept trotz der starken religionshistorischen Implikation von Girards Ansatz hier applizierbar und heuristisch ertragreich. Es soll im Folgenden um die Schaffung, um die ›Ortung‹ eines »souveränen« moralischen Raums gehen. Anders als bei Schweiker drehen sich die Überlegungen damit nicht um »Orientierungen für eine theologische Reflexion, die die Frage nach dem Wert heiliger Gewalt Ernst nimmt« (ebd., S. 112), sondern vor allem um die Etablierung und Legitimierung eines Wertesystems im Ritual. »Das Gerichtswesen allein zögert nie, die Gewalt in ihrem Nerv zu treffen, besitzt es doch das absolute Gewaltmonopol. Kraft dieses Monopols gelingt es ihm normalerweise die Rache im Keim zu ersticken, sie also nicht zu reizen, zu verbreiten und zu vervielfachen, was bei einem analogen Vorgehen in der primitiven Gesellschaft unweigerlich der Fall wäre.« Girard, Das Heilige und die Gewalt, S. 39. In ›Effi Briest‹ wird allerdings eine andere Macht evoziert, der hier nachgegangen werden soll: Sie stellt andere, ausgeklügelte Modelle zur Stilllegung der Gewalt bereit. Vgl. das Folgende.

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nicht mehr Intimität kodiert, sondern vielmehr Intimität und Individualität öffentlich bindet und reguliert. Vermieden wird mit dem Duell vor allem eines: gesellschaftlicher Ehrverlust. In diesem Sinne erlaubt es dem geforderten Duellanten, ein Abgleiten ins gesellschaftliche Abseits zu verhindern, das sich als gravierender erweist als die Möglichkeit des Todes. Wichtig ist in diesem Zusammenhang also, dass es sich beim Duell im Grunde um keinen Ausschließungs-, sondern einen Einschließungsmechanismus handelt. Wie es Victoire in Fontanes Erzählung ›Schach von Wuthenow‹ festhält: »Die Gesellschaft ist souverän. Was sie gelten läßt, gilt, was sie verwirft, ist verwerflich.«38 Das Duell erlaubt die gesellschaftliche Reintegration, wenn auch unter Umständen im Moment des Todes. Das Duell in ›Effi Briest‹ ist noch in einer anderen Hinsicht aufschlussreich. Wenn die Gesellschaft hier als souveräne Entität im Staat erkennbar wird, so verdeutlicht sich gerade mit Blick auf Crampas und Effi der Unterschied zwischen Opfer und Homo sacer, den Giorgio Agamben hervorhebt.39 Effi wird in einem Reflex souveräner Macht gebannt. Sie wird aus dem gesellschaftlich-öffentlichen Zusammenhang eliminiert, ohne ein Opfer (im Sinne Agambens) zu sein. Anders als bei Emilia Galotti, deren Tod (zumindest der eigenen Deutung nach) eine moralische Integrität garantieren sollte, basiert Innstettens Vorgehen auf der perpetuierten Immoralität Effis. Obwohl es allenfalls zivilrechtliche Konsequenzen gibt, Effi also nach allen Kriterien des öffentlichen Rechts außer ihrem Ehestand keine Statusveränderung erfährt, fällt sie gesellschaftlich in Ungnade. Im Gegensatz zu Crampas ist ihr der Rückweg in die Gesellschaft verstellt, auch wenn sie überlebt. Für Agamben ist der Bann die Vorgabe für die ursprüngliche Verräumlichung, »die jede Lokalisierung und Territorialisierung ermöglicht und lenkt« (HS 121). Tatsächlich wird hier der 38

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Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. In: Werke, Schriften, Briefe. Hrsg. von Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. Abteilung 1. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 1. München 1970, S. 615. »Die Tatsache, daß Frauen das Recht und die Fähigkeit abgesprochen wurden, ihre Ehre mit eigener Kraft zu verteidigen, rührte aber zum anderen von der spezifischen Qualität dieser Ehre her. Weibliche Ehre war in noch viel stärkerem Ausmaß als die Ehre von Männern als Geschlechtsehre definiert, die an die körperlich-sexuelle Integrität der Frau gebunden war. Verlor sie diese Integrität, indem sie ihren Körper einem Mann hingab (oder hinzugeben gezwungen war), der dazu kein ›Recht‹ hatte, büßte sie auch ihre Ehre ein. Es war nur folgerichtig, daß solcherart verlorene Körper-Ehre nicht durch körperlichen Einsatz wiederhergestellt werden durfte. Die durch einen Mann verletzte Ehre durfte nur durch einen Mann ›geheilt‹ werden: entweder, bei unverheirateten Frauen, auf dem Weg der Eheschließung oder, bei verheirateten Frauen, durch ein Duell zwischen Ehebrecher und Ehemann.« Frevert, Ehrenmänner, S. 224.

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Raum der Gesellschaft greifbar als virtuelles Territorium, auf dem eine Bannung vollzogen werden kann (neben all den Räumen, die gesellschaftliche Öffentlichkeit realiter verkörpern).40 Nach Agamben ist die Beziehung, die etwas nur durch Ausschließung einschließt, eine Ausnahmebeziehung. Für ihn liegt die Funktion der Ausnahmebeziehung weniger darin, Überschreitung zu kontrollieren oder zu neutralisieren, sondern vielmehr in der Ortung, Schaffung und Bestimmung des Ortes. Diese homologe Ausprägung des gesellschaftlichen und des staatlichen Raums ist auch für Fontanes Erfassung der Ein- und Ausgrenzungsphänomene entscheidend. Während Effi (quasi analog zu Agambens Überlegungen als »Homo sacer«) aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, bezieht sich das eigentliche Duell auf einen anderen Aspekt der Gewalt, der nach Girard auf Bündelung und Kontrolle ausgerichtet ist. Von besonderem Interesse ist dies für meine Fragestellung mit Blick auf die Sexualität. An ihr wird die immanente Bedeutung des Duells noch einmal besonders gut erkennbar. Der intime Vertrauensbruch wird als Ehrverletzung in die Sphäre der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verschoben und dort mit einer rituellen Inszenierung gestraft. Eingedämmt wird zwar der sexuelle Anspruch des »Rivalen«, der sich in der Übertretung als reine Sexualität präsentiert; dieser ehebrecherische Anspruch scheint aber nicht mit seiner sozialen Identität zu kollidieren, die er im Duell bewahren kann (selbst wenn er stirbt). Effi dagegen verliert eben diese Identität aufgrund der publik gewordenen Sexualisierung ihrer Person. Die Versöhnung im Duell macht die Konkurrenten auf diese Weise quasi zu Bundesgenossen; grundsätzlich ist das Duell eine Re-Assertion des Männlichen und steht damit gleichberechtigt für brüderliche, väterliche oder filiale Vergeltungsinitiativen.41 40 41

Vgl. dazu auch Marx, Ein theatralisches Zeitalter. Girard, Heilige und Gewalt, S. 209. Am deutlichsten wird diese Entwicklung, wenn man sich die explosive Konfrontation in ›Ellernklipp‹ vergegenwärtigt, in der nicht nur das Begehren des Vaters, sondern auch die direkte Auseinandersetzung mit dem Sohn thematisch wird: Bei Baltzer Bocholt, dem virilen Adoptivvater, ist dabei zugleich noch die Inzestthematik greifbar, handelt es sich doch bei der heranwachsenden Hilde um seine Ziehtochter, die er nach dem Mord an seinem Sohn heiratet und mit der er ein Kind zeugt. Die Mesalliance endet schließlich mit dem Tod aller Beteiligten, denn auch das »Inzestkind« erweist sich als nicht lebensfähig. Die Übermacht des Vaters demontiert sich selbst. Bereits hier ist das Brüchige der Konstellation a priori eingeschrieben. ›Ellernklipp‹ legt ex negativo die Notwendigkeit des Ausgleichs und der Stilllegung offen, indem das Buch den Kollaps einer rechtlich und gesellschaftlich zulässigen Inzestsituation vorführt. Die offene Konkurrenz von Vater und Sohn ist über Sexualität kodiert und führt in die familiale Katastrophe. Indirekt wird auch hier die Sexualität als potentielle Störstelle mar-

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Wenn das Duell in seiner doppelten Funktion (Opfer, Homo sacer) in ›Effi Briest‹ als Exekution eines souveränen, tyrannisierenden »Gesellschafts-Etwas« gedeutet wird, so wird also der gesellschaftskonforme Mann zum Verwalter, ja zum vorübergehenden Träger42 dieser abstrakten Macht. Er muss die Situation letztlich als Imperativ deuten und wird zur personellen Verdichtung der Gewalt der Gesellschaft.43 Die Last dieser Anwendungspflicht lässt sich aus Innstettens Zögern klar ableiten. In Fontanes Inszenierung wird die Sphäre der Gesellschaft als Ort (im Sinne von Agamben) erkennbar. Die Spiegelung der staatlichen Gewalt in der Zwischensphäre einer öffentlichen Privatheit sorgt dafür, dass die Gewalt des Mannes innerhalb seiner Familie von außen nach innen gestützt wird. Folgerichtig dominiert die Regelhaftigkeit die Individualität. Zugleich wird außerdem, genau wie es Girard in ›Mimesis and Violence‹ betont, der Ursprung der eigenen Gewalt verborgen und einer fremden Macht (in Girards Lesart: den Göttern) zugeschrieben.44 Die Verschleierung des Ursprungs der sozialen Krise konstituiert eine für das 19. Jahrhundert und die Jahrhundertwende zentrale Geheimnisstruktur, die sich hier allerdings nicht mehr über eine metaphysische Verschiebung lösen lässt; trotz des ostentativen Automatismus der gesellschaftlichen Abläufe wird sie zu einer Chiffre, deren Hinterfragung naheliegt. Die Befriedung der Sexualität bleibt dabei ein essentielles Kriterium für die Texte: In ›L’adultera‹ wird die Selbstständigkeit der Charaktere thematisch, bis hin zur ungewöhnlichen Lösung, bei der die geschiedene Frau schließlich ein neues Glück mit dem Geliebten findet. Zu Beginn dieses Kapitels wurde ›L’adultera‹ als Beispiel für eine ansatzweise Verwischung der Grenzen von Vater- und Gattenrolle angeführt. Allerdings entspinnt sich aus diesem Ausgangskonflikt eine vollkommen andere Geschichte, die der unkonventionellen Einstellung beider Ehepartner geschuldet ist. Der seiner Frau zärtlich zugetane van der Straaten akzeptiert Melanies Entschluss, die Familie zu verlassen, ohne mit irgendwelchen Sanktionen zu drohen. Sichert ihm dies zunächst allgemeines Mitgefühl, so gelingt es ihm doch nicht, dieses Gefühl auf

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kiert, ohne dass die Gewalt stillgelegt werden kann. Damit unterscheidet sich ›Effi Briest‹ von ›Ellernklipp‹, wo die Lust des Vaters augenfällig und zugleich auch strafrechtlich relevant wird. Auch hier konvergieren, wie bei Kantorowitz, zwei Größen, der individuelle Mann (body natural) und seine spezifische Exekutionsmacht, die auch unabhängig von seiner Aktion erhalten bleibt und damit an den body politic erinnert. Die Gesellschaft hatte ja Victoire in ›Schach von Wuthenow‹ dementsprechend auch als souverän verstanden. Girard, Mimesis, S. 161.

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Dauer umzustellen. Auch wenn sich van der Straaten wie Innstetten über »die Wandlungen in dem Geschmacke der Gesellschaft, über ihr GötzenSchaffen und Götzen-Stürzen« im Klaren ist, so ist er doch keinesfalls bereit, sich der Gesellschaft zu unterwerfen: »Er war immer eine selbständige Natur gewesen, frei und fest, und so war er geblieben.« (AD 138) Fontane beschreibt die Wiederaufnahme von Melanie und Rubehn als Laune der »Gesellschaft«, bei der die beiden Kriterien der Ausschließung zur paradoxen Voraussetzung der Einschließung werden: Man kümmerte sich wieder um sie, ließ sie gesellschaftlich wieder aufleben, und selbst solche, die bei dem Zusammenbrechen der Rubehnschen Finanzherrlichkeit nur Schadenfreude gehabt und je nach ihrer klassischen oder christlichen Bildung und Veranlagung von »Nemesis« oder »Finger Gottes« gesprochen hatten, bequemten sich jetzt, sich mit dem hübschen Paare zu versöhnen, »das so glücklich und so gescheit sei und nie klage und sich so liebe«. Ja, sich so liebe. Das war es, was doch schließlich den Ausschlag gab, und wenn vorher ihre Neigung nur Neid und Zweifel geweckt hatte, so schlug jetzt die Stimmung in ihr Gegenteil um. Und nicht zu verwundern! War es doch ein und dasselbe Gefühl, was bei Verurteilung und Begnadigung zu Gerichte saß, und wenn es anfangs eine sensationelle Befriedigung gewährt hatte, sich in Indignation zu stürzen, so war es jetzt eine kaum geringere Freude, von den »Inséparables« sprechen und über ihre »treue Liebe« sentimentalisieren zu können. Eine kleine Zahl Esoterischer aber führte den ganzen Fall auf die Wahlverwandtschaften zurück und stellte wissenschaftlich fest, daß einfach seitens des stärkeren und deshalb berechtigteren Elements das schwächere verdrängt worden sei. Das Naturgesetzliche habe wieder mal gesiegt. (AD 137; Hervorhebung von Fontane)45

Waren die Liebe zwischen Melanie und Rubehn und der nachfolgende Bankrott zunächst Aspekte, die zur gesellschaftlichen Ausgrenzung beitrugen, so wird in diese Passage betont, dass es in einer Art invertierten Neuzuschreibung genau diese Elemente sind, die zur Reintegration beitragen. Die Liebe, zunächst als moralisch-transzendenter Katalysator für den finanziellen Niedergang gedeutet, wird schließlich auf gesellschaftlichem Parkett zu einem nach konventionellen Mustern interpretierten erlösenden Faktor. Denn einer retrospektiven, gesellschaftlich gefälligen Liebesapotheose wird gerade die Katastrophe zu einem ultimativen Beleg für die unanfechtbare Dauerhaftigkeit des Gefühls. Angesichts dieser außergewöhnlichen Wendungen beginnen bekannte, narrative Muster zu greifen; über die entsprechenden Lesegewohnheiten beginnt man die Be45

Vgl. zu dem erneuten Verweis auf Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, auf die ›L’adultera‹ auch in expliziten Zitaten Bezug nimmt, Kolbe, Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 163–165.

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ziehung der Liebenden als legitim zu verstehen. Das ist fraglos ein Grund für die sich verschiebende Gewichtung und Deutung der Bewertungskriterien in ›L’adultera‹; es scheint allerdings nicht nur um eine spezifische Willkür zu gehen, sondern auch um ein anderes Moment der Ahndung und Stillstellung. Denn die auffälligste Konsequenz bleibt, dass van der Straaten, der Verlassene, sich ebenfalls mit einer kausal invertierten Neuplatzierung konfrontiert sieht: Und hiermit sah sich denn auch der einen Winter lang auf den Schild gehobene van der Straaten abgefunden und teilte das Schicksal aller Saisonlieblinge, noch schneller vergessen als erhoben zu werden. Ja, der Spott und die Bosheit begannen jetzt ihre Pfeile gegen ihn zu richten, und wenn des Falles ausnahmsweise noch gedacht wurde, so hieß es: »Er hat es nicht anders gewollt. Wie kam er nur dazu? Sie war siebzehn! Allerdings, er soll einmal ein lion gewesen sein. Nun gut. Aber wenn dem ›Löwen‹ zu wohl wird …« Und dann lachten sie und freuten sich, daß es so gekommen, wie es gekommen. (AD 137)

Das Anzügliche der Deutung van der Straatens als gealtertem Löwen verweist zurück auf das Sexuelle, das sich hinter dem Skandal mehr schlecht als recht verbirgt: Hatte Innstetten diese sexuelle Valenz noch im Duell gebunden,46 so tritt van der Straaten einfach hinter dem Phänomen zurück und überlässt dem Gegner Rubehn das Feld. Entscheidet sich die Gesellschaft gegen die Ausgrenzung des Paares, so muss die Legitimation umgeschrieben und der sexuelle Überschuss, den die Gesellschaft zu verarbeiten versucht, auf van der Straaten zurückbezogen werden. Mit der Ridikülisierung des ehemaligen Ehemannes wird die Sexualität stillgelegt und unschädlich gemacht. Auch wenn van der Straaten nicht als Opfer (insofern er letztlich nicht eingeschlossen wird) im oben beschriebenen Sinne gedeutet werden kann, fällt doch strukturell auf, dass die freigesetzte Gewalt mit ihm assoziiert und mit seiner ins Komische gedrängten Rolle entschärft scheint. Das quasi-»endogame« Prinzip wird hier retrospektiv zum Skandal, weil es erkennbar sexualisiert wird.

1.1. Schlussfolgerungen In ›Effi Briest‹ überlagern sich Vater und Ehegatte nicht nur hinsichtlich des Alters, sondern vor allem auch in Bezug auf einen spezifischen, väterlichen Verhaltensmodus, der hier als Paternalisierung des Ehemannes ver46

Dass es sich dabei zugleich um eine Männlichkeitsrückversicherung handelt, wird deutlicher in ›Cécile‹, in der Arnaud als ewiger Junggeselle und duellerprobter Haudegen den Rivalen eliminiert und dabei, ohne wirkliches Interesse an seiner jungen Frau, sein Prärogativ beansprucht.

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standen wird. Wenn der Habitus des Vaters und Gatten konvergieren (obwohl natürlich biologisch mit dem alten Briest und Innstetten zwei verschiedene Repräsentanten der ›family of origin‹ and ›family of procreation‹ erhalten bleiben), knüpft das an drei Entwicklungsstränge an: 1) Der Ehemann als Stellvertreter des Vaters steht zum einen im Kontext der endogamen Konfliktbefriedigung, die sich in der väterlichen Beziehung zur Frau ausdrückt. Sexualität muss im Konfliktfall ostentativ stillgelegt werden. Mit der spezifischen Opfer-Struktur des Duells gelingt es, die männlichen Konflikte zu versöhnen, während das sexualisierte Weibliche dezidiert aus der Gesellschaft herausgeschrieben wird.47 Bei Fontane ist die Befriedung (anders als bei Stifters postulativem Zugriff) ein artifizieller Regulierungsprozess auf der gesellschaftlichen Oberfläche, der den weiterhin schwelenden Konflikt nur noch verwaltet und unterdrückt, nicht aber genuin transformiert. 2) Die gesellschaftliche Öffentlichkeit ist – wie es Victoire in ›Schach von Wuthenow‹ formuliert – »souverän« und vorgängig, die individualisierte Integration in eine Familie ist nur noch in der Abweichung erreichbar. Die ursprünglich emanzipatorische, bürgerliche Intimität und Privatsphäre ist damit invertiert und bietet kein individuelles, sondern ein generisches Normenmodell, das im Krisenfall – in einer Anwendungsrichtung von außen nach innen – für die Privatsphäre ostentativ selbstläufig wird. Damit übt der Vater eine zunehmend regelhafte Gewalt aus, die zugleich dazu beiträgt, dass er selbst als abstrakte Größe wahrnehmbar wird. 3) Auf diese Weise werden zwei Diskurse verschaltet: Die väterliche Macht wird auch als Macht des Ehemanns ausgeübt, beide Generationen sind damit auf eigentümliche Weise verknüpft (vgl. 1). Strukturell wird darunter eine Referenz auf den Vater sichtbar, die sich jedoch gleichzeitig wieder entzieht. Der männliche Repräsentant der Gesellschaft erscheint zwar in der fiktiven Realität des Textes nicht mehr als Vater (d. h. hier, dass der Konflikt auf der Ebene der Eheleute stattfindet), wohl aber in der textlichen Inszenierung.

47

Das deutet sich auch bei ›Cécile‹ an. Vgl. dazu mit Blick auf die Begehrensstrukturen auch Albrecht Koschorke: Die Figur des Dritten bei Freud und Girard, der die Eliminierung der Frau mit Blick auf expressionistische Stücke beobachtet. In: Bündnis und Begehren. Ein Symposion über die Liebe. Hrsg. von Andreas Kraß, Alexandra Tischel. Berlin 2002, S. 23–34.

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1.2. Verkörperungsfunktion des Vaters: ›Die Poggenpuhls‹ Damit – und das ist für die zentrale Verkörperungsfunktion des Vatermodells entscheidend – verschwindet der Vater zunehmend aus dem Fokus der Texte und verblendet sich immer stärker mit der zugrunde liegenden Macht der Gesellschaft. Als eben solche gesellschaftliche Macht greifbar, aber als familiale Größe zunehmend abstrakt, werden die Väter in den hier vorliegenden Texten auf einer intergenerationellen Ebene (zwischen Vater und Kindern) als handlungstragende Protagonisten irrelevant. Für das gesellschaftliche Selbstverständnis wiederum erweisen sie sich dagegen als prägend. Wie sehr die soziale Inszenierung der Familie die konkreten Mitglieder ersetzen kann, zeigt ein Blick auf ›Die Poggenpuhls‹, ein Text, der sich in den langen Dialogen in besonderem Maße um eine familial kodierte Identitätsbewahrung zentriert. Hier wird der konkrete Vater aus den Selbstexplikationsmustern und Verortungsprinzipien der Familie gänzlich eliminiert. Diese Absenz macht innerhalb der zahllosen aufgerufenen Traditionen das Artifizielle der Familienhistorie deutlich.48 Wenn die jüngste Tochter Manon Poggenpuhl am Ende des Romans eine zuversichtliche Prognose für die Poggenpuhls wagt und dabei eine versöhnliche Brücke zwischen der glorreichen Vergangenheit und der Zukunft zu schlagen versucht, unterläuft ihr in diesem Sinne ein auffälliger Fehler: »Und so leben wir glücklich und zufrieden weiter, bis Wendelin und Leo etwas Ordentliches geworden sind und wir wieder ein paar andere Größen haben als den Sohrschen und den Hochkircher.« »Du vergißt einen dritten, deinen Vater«, sagte die Majorin, in der sich bei dieser Übergehung zum erstenmal das Poggenpuhlsche regte. »Ja, meinen Vater, den hatt’ ich vergessen. Sonderbar, Väter werden fast immer vergessen.«49 48

49

Eine Beobachtung, die sich hier angesichts der engen Amalgamierung von Familiengeschichte und Preußens Historie auch als Diagnose mit Blick auf die weiterhin »konstruktive Phase« des Deutschen Reiches lesen lässt. Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. Abteilung 1. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 4. München 1974, S. 567, im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als PG mit entsprechender Seitenzahl. Die jüdische Freundin Manons Flora hat im Text somit indirekt das letzte Wort, insofern sie zitiert und aufgewertet wird von der jungen Manon Poggenpuhl, genau in dem Moment, in dem Manon versucht, zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Poggenpuhls eine Brücke zu schlagen: In der – aus Poggenpuhlschen Sicht absurden – Referenz auf Floras Aperçu der vergessenen Väter wird die familiale Identitätskonstruktion (in ihrem preußisch-protestantischen Anspruch) geöffnet (und dabei zugleich natürlich substantiell entwertet) für eine pekuniäre Perspektive, in der das vorgängige Selbstverständnis umgemünzt wird auf das durchgehend präsente Thema finanzieller Stabilität. Vgl. dagegen die Verortung von Sylvain Guarda, der darin eine »geistige Vaterverwandtschaft zwischen dem Judentum und dem

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Überdies wird – ähnlich wie in ›Der Stechlin‹, wenn der alte Stechlin stirbt – die einzig reale Vaterfigur des Textes eliminiert: Der Onkel, der für die Familie eine Vaterrolle übernimmt, verstirbt am Ende des Textes. Sein Tod macht die latente Funktionalisierung der Lebenswelten explizit und öffnet sie auch textimmanent für eine Kritik der Figuren. Die Mutter hing ganz einer herzlichen Trauer nach, die noch reiner gewesen wäre, wenn sich nicht manche bange Zukunftssorge mit eingemischt hätte; Manon, trotz aller Verehrung und Liebe für den Onkel, empfand es schmerzlich, einer gerade für den zwölften bei Bartensteins angesetzten Soiree nicht beiwohnen zu können, während sich Therese nur von einer Vorstellung beherrscht fühlte: von dem Gedanken an das ihr lediglich als eine Haupt- und Staatsaktion erscheinende Begräbnis. Sie sah sich nicht nur bereits in der vordersten Reihe der Leidtragenden, sondern lebte auch ganz dem Hochgefühle, daß die Repräsentation der Poggenpuhlschen Familie – die beiden alten Damen, als nur angeheiratete, zählten kaum mit – einzig und allein auf ihr beruhe. (PG 559f., Hervorhebung von C.N.)50

Die Trauer um den Onkel ist deutlich geschmälert durch das Nachdenken über persönliche Nach- bzw. Vorteile, die man aufgrund des Todesfalls befürchtet bzw. die man sich erhofft. So konstatiert schon Mutter Poggenpuhl zuvor: »Die Liebe der Kinder, auch wenn es gute Kinder sind, die hat keine Dauer; die denken an sich, und ich will’s auch nicht tadeln und nicht anders haben« (PG 525). Darin deutet sich eine subversive Lockerung der Familiebande an, die im ideellen Verlust der natürlichen Vaterfigur (des von der Tochter Manon vergessenen Majors) manifest wird. Mit der permanenten Notwendigkeit des self-fashionings auf der Basis spezifischer tradierter Restbestände, die allerdings angesichts des rapiden Wandels neuen Kontexten angepasst werden müssen, verliert sich jede familial vorgegebene Selbstverständlichkeit, gerade weil Identität vor allem im Medium der Familie verhandelt werden muss. Dass die konkreten Identitätskonzepte in ›Die Poggenpuhls‹ im Kontext des Kaiserreichs

50

Christentum« angedeutet findet, »die durch Manons Freundschaftsverhältnis mit der jüdischen Tochter Flora zu neuer Blüte gedeihen wird.« Guarda: ›Schach von Wuthenow‹ ›Die Poggenpuhls‹ und ›Der Stechlin‹. Fontanes innere Reisen in die Unterwelt. Würzburg 1997, S. 47. Nach einem Streit über die ›Königinwitwen‹-würdige Garderobe, die Therese in diesem Sinne ausgewählt hat, sind die beiden Schwestern wiederum mit allem ausgesöhnt, als die Kleider vorteilhaft sitzen: »Dies fand Zustimmung, und als am andern Morgen die gleich ›wie angegossen‹ sitzenden Kleider erschienen, wurde vor dem langen schmalen Spiegel, in dem man sich gemustert und gegenseitig befriedigend gefunden hatte, der schwesterliche Friede neu besiegelt. ›Er war doch ein herrlicher Mann‹, sagte Manon. ›Das war er, und sein Andenken sei gesegnet. Aus meinem Herzen kann sein Bild nie wieder schwinden.‹« (PG 561)

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grundsätzlich genauer erfasst und beschrieben werden müssten, versteht sich von selbst; die beschriebene paternale Dynamik greift aber auch durchaus in anderen Literaturen, so dass hier deutlich mehr als spezifische politisch-soziale Folgen der deutschen Geschichte verhandelt werden: nämlich paradoxe Verhaltenserwartungen an den Vater im Kontext einer Modernisierungsproblematik.

2.

Authentifikation, Konkretion und die Legitimation von Vaterherrschaft: Probleme um 1900

Allgemein fällt um 1900 trotz der manifest patriarchalisch strukturierten Gesellschaft51 auf, dass gleichzeitig zunehmend eine »Schwächung« des Vaters konstatiert wird.52 Es wurde schon anhand von Riehl und Stifter deutlich, dass dies mit Blick auf eine notwendige Reauthentifizierung und -konkretisierung in einer zunehmend abstrakt-paternalen Welt keineswegs widersprüchlich ist.53 51

52 53

Arne Duncker hebt in seiner juristischen Evaluierung zur ›Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe‹ für die Zeit um 1900 die letztlich unangefochtene paternale Herrschaft auch in der Ehe hervor: »Zu einem deutlichen Wertungswiderspruch kommt es, wenn die männliche Eheherrschaft damit gerechtfertigt wird, die Ehepartner seien ja im Grunde gleichwertig und gleichberechtigt, es komme nur im Rahmen dieser Gleichwertigkeit zu einer gewissermaßen natürlichen Aufgabenteilung und diese Aufgabenteilung habe für den Mann Beruf, Außenwelt und Lebensfunktionen zum Inhalt, für die Hausfrau Haushalt und Kinder. Der Wertungswiderspruch entsteht, wenn unter genau diesen vorgeblichen Voraussetzungen nicht die Mutter, sondern der Vater das alleinige oder vorzugsweise Recht an den Kindern erhält. Genau dies aber war Inhalt der väterlichen Gewalt.« Arne Duncker: Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 1038–1039. In gewissem Sinne nimmt die eheliche Gewalt durch die beschriebenen Vorgänge in Fontanes Texten zudem die Form der paternalen Gewalt an. Diese Überlagerung unterscheidet sich deutlich von Stifter. Damit wird die »Gleichwertigkeit« von Mann und Frau bereits innerhalb der Beziehung paradox: Innstetten gerät in diesem Sinne als Vater und Vaterfigur aufgrund der spezifischen Legierung (und Legitimierung) seiner väterlichen bzw. ehelichen Gewalt ins Visier der textlichen Analyse. Vgl. dazu auch Dunckers genaue Untersuchung der relevanten Bestimmungen hinsichtlich der einschlägigen Rechtsquellen bis hin zum BGB von 1896: »Im BGB ist die Rechtsfigur der väterlichen Gewalt durch diejenige der elterlichen Gewalt abgelöst. Dieser scheinbare Fortschritt zugunsten der ehelichen Mütter ist aber nach den Einzelheiten des Kindschaftsrechts nicht viel mehr als eine höfliche Verbalbekundung des Gesetzgebers. Inhaltlich bleibt das meiste beim alten. Namentlich § 1627, 1631 II, 1632, 1635 II BGB weisen die wesentlichen Befugnisse dem Vater zu.« S. 1042, vgl. insgesamt S. 1038–1045. Dies gilt, auch wenn Duncker zeigt, dass es rechtlich keine konkrete Schwächung der paternalen Gewalt gibt. Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Konkret greifbar wird diese Schwächung fraglos durch das prominente Alternativ-Konzept der Jugend, das im Kaiserreich immer deutlicher Kontur gewinnt. Vgl. dazu sum-

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Besonders deutlich gewinnt diese zeitgenössische Selbstverortung in den zahlreichen Studien zur menschheitsgeschichtlichen (rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen) Entwicklung der Familien (in der Nachfolge Ludwig Bachofens auch oft mit ethnologischem oder frühgeschichtlichem Fokus) Kontur, da diese nicht selten mit einem Ausblick auf die eigene Zeit schließen. Auch wenn die konkreten Positionen unterschiedlich ausfallen, fällt doch bei der theoretisch-historischen Analyse eine ähnliche Tendenz auf, die – über das textimmanente Oszillationssymbol vermittelt – in die literarische Bestandsaufnahme hineinreicht: Formuliert (und häufig auch beklagt)54 wird nämlich der Verlust der väterlichen Führung.55 So entwickelt Ernst Grosse in ›Die Formen der Familie und die Formen der Wirtschaft‹ titelgemäß die These, dass jedem Typus der Wirtschaft ein besonderer Typus der Familie entspreche, und verdeutlicht das Eigentümliche der zeitgenössischen »Sonderfamilie«:56 Die neue Sonderfamilie entspricht den allgemeinen Culturverhältnissen, unter denen sie besteht, ebenso sehr wie die übrigen Familienformen den ihrigen entsprechen […] so müssen wir gestehen, daß sie die unserem wirthschaftlichen Leben angemessenste ist. Sie erlaubt dem Individuum die kräftigste und fruchtbarste Bethätigung seiner besonderen Fähigkeiten. In dieser Beziehung

54

55 56

marisch Torsten Bügner, Gerhard Wagner: Die Alten und die Jungen im Deutschen Kaiserreich. In: Zeitschrift für Soziologie 20/3 (1991), S. 177–190. Bügner und Wagner untersuchen eine Auswahl an Höhenkammautoren der literarischen Hauptströmungen, nämlich Realismus, Naturalismus, Fin-de-Siècle und Expressionismus. Der Zugriff kann der Komplexität der global verhandelten Werke nicht in jedem Fall gerecht werden, jedoch verdeutlicht gerade der großflächige Untersuchungsgegenstand, dass die Generationenfrage immer deutlicher ins Visier der Literatur gerät und dabei als zunehmend problematisch wahrgenommen wird. Abweichend davon z. B. Julius Lippert: Die Geschichte der Familie. Stuttgart 1884, S. 259: »Die Geschichte läßt darüber keine Zweifel zu: all die Massen, die eine ältere Familienorganisation in die Unfreiheit gestürzt hat, sind dem Fortschritte der Menschheit so gut wie verloren gewesen.« Lippert konzediert, dass es das unzweifelhafte Verdienst »unserer Familienverfassung« sei, »daß sie in der Beschränkung ihres Umfanges die Innigkeit der Beziehungen zu erhöhen und so das Gemütsleben des Menschen unendlich zu fördern vermochte.« Dabei bleiben allerdings viele Menschen unberücksichtigt. Statt nostalgisch eine vergebliche Restauration des Alten anzustreben, setzt Lippert auf das Gemeinwesen in der Zukunft: »Die Zeit arbeitet daran, der Unzulänglichkeit der Fürsorge in der Sonderfamilie einen immer zulänglicheren Ersatz in der Organisation der größeren Gemeinwesen zuzuführen. Je nachdem es gelingen wird, das Gut der Freiheit der Person dabei zu schützen, wird die Menschheit den Segen davon verspüren.« Ebd., S. 260. Bei Fontane verläuft die Argumentation genau gegenläufig zu den im Folgenden beschriebenen theoretischen Texten, die sich für die Rückkehr des Vaters einsetzen. Er beschreibt dabei analytisch aber genau das gleiche Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Vgl. dazu auch Erhart, Familienmänner, S. 63–92. Darunter versteht Grosse immer Eltern und Kinder, die seiner Meinung nach zu allen Zeiten eine Sonderstellung innerhalb des sozialen Gefüges innehatten.

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ist die Beschränkung der patriarchalen Gewalt namentlich zugunsten der Kinder ohne Zweifel ein Vortheil für die wirthschaftliche und sociale Entwickelung gewesen. Aber auf der anderen Seite darf man auch nicht übersehen, daß aus der, wenn nicht rechtlich, so doch thatsächlich, stetig fortschreitenden Schwächung der väterlichen Autorität eine Gefahr für die Gesellschaft erwächst. Keine sociale Ordnung kann ohne Gehorsam und Ehrfurcht bestehen, ohne jene Bürgertugenden, welche die Völker der älteren Zeit vornehmlich ihrer strengen patriarchalen Hauszucht verdankten. Können wir leugnen, daß wir die Folgen unserer liberalen Familienorganisation bereits zu fühlen beginnen? – Die erzieherische Function der Vatergewalt ist sehr schwer, vielleicht überhaupt nicht zu ersetzen. Man muß deshalb im eigenen Interesse des Staates entschieden wünschen, daß er die Macht des Vaters über seine Kinder nicht noch mehr schwäche und beschränke, als er es bereits gethan hat.57

Es lohnt sich, diesen Passus so ausführlich zu zitieren, weil er als Quintessenz eine Verlusterfahrung definiert, mit der Vatermacht auf besondere Weise an die staatliche Macht zurückgebunden wird. Obwohl Grosse (historisch korrekt) eine aktive juristische Beschneidung des väterlichen Rechts ausschließt, empfindet er den paternalen Statusrückgang als unübersehbar. Die erzieherische Funktion des Vaters erweist sich in dieser Argumentation als probates Mittel58 gegen die zunehmende vereinheitlichende Immediatisierung und Funktionalisierung, die jede sinnstiftende Hierarchie innerhalb der Familie im Kontext des modernen Staates korrodieren. Der Vater als personifizierte Vermittlungsinstanz überwacht und reguliert die Interaktionen zwischen Familienmitgliedern und gesellschaftlicher Öffentlichkeit – und dies nicht mehr in autonomer Moralität, sondern, wie besonders auch mit Blick auf die hier besprochenen Texte Fontanes deutlich wird – anhand eines gesellschaftlichen Regelnetzes, das er in den privaten Raum der Familie fortspinnt. Damit geht ihm sozusagen seine aktive »familiale Außenseite« verloren: Vaterschaft wird »privatisiert«,59 insofern der Souveränitätseffekt der Väter ein Effekt zweiten Grades ist und, darin stimmen zahlreiche theoretische Schriften über Familie überein, an »Natürlichkeit« verliert. Das, was Grosse hier als Vatermacht einfordert, gründet sich genau auf dieser originären Autonomie der Vatermoral, die laut Fontane durch eine filigrane, aber abstrakte, d. h. 57 58

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Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen der Wirtschaft. Freiburg im Breisgau, Leipzig 1896, S. 240–241, Hervorhebung von C.N. Dabei ist »der moralische Wert des Patriarchats […] sehr hoch zu veranschlagen«. Vgl. Lothar Dargun: Studien zum ältesten Familienrecht. Erster Teil, erste Hälfte. Mutterrecht und Vaterrecht. Leipzig 1892, S. 89. Erhart, Familienmänner, S. 69.

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eben nicht individualisierbare Gesellschaftsmoral ersetzt wird. Bei Fontane scheint damit die Gewalt der Väter ungebrochen,60 ihre innerfamiliäre Legitimation aber fast vollständig ausgehebelt. Dies korrespondiert mit Grosses Analyse insofern, als die Väter hier in Vertretung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit handeln und somit weniger die individualisierende Funktion ausüben als öffentliche Maßgaben privat umsetzen. Dass damit eine Einbuße an authentischer Legitimation und eine Abnahme des »Familiensinns« einhergeht, hebt etwa Friedrich von Hellwald als problematisch hervor:61 Noch ist die Familie in vieler Beziehung allmächtig, aber diese Allmacht ruht mehr in ihrem moralischen Ansehen, als in der gesetzlichen Gewalt ihres Oberhauptes; vielmehr schrumpft die väterliche Gewalt über die Kinder immer mehr ein und steht im umgekehrten Verhältnis zu den immer wachsenden Verpflichtungen, welche der grosse Gesamtorganismus, der Staat, dem Einzelnen auferlegt. Familiensinn und Familiengeist sind in entschiedener Abnahme begriffen […].62

Der Bezug des Einzelnen zum Staat gewinnt zunehmend an Bedeutung und stellt die wichtige, vermittelnde Mediatisierungsfunktion des Vaters in Frage: Die staatliche Gewalt kann direkt auf Familienmitglieder zugreifen und sabotiert so das Schutzrecht des Vaters. In diesen von Modernisierungsängsten geprägten Überlegungen zu den Abstrahierungsvorgängen der funktionalen staatlichen Welt (genau wie in Fontanes gesellschaftlichen Sondierungen) geht es auch um eine postulierte bzw. fehlende »Verkörperung« der Repräsentation von Macht, einer sinnstiftenden Verbindung von Individualität und Gemeinschaft, die sich in Form der bür60

61

62

Vgl. dazu auch Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 153–156: »Die Väter waren es, die erste und letzte Entscheidungen trafen, die über Namen, Ausbildungsgang und Zukunftsperspektive der kleinen Bürger und Bürgerinnen bestimmten.« Ebd., S. 153. Budde verweist in diesem Zusammenhang auch auf die ambivalente Wahrnehmung der Vaterfigur: »Auch wenn einerseits besonders die heranwachsenden Söhne unter der starken Lenkung ihres Lebensweges litten, fällt auf der anderen Seite […] und über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg die Überhöhung des Vaters zur Gottvaterfigur auf.« Ebd., S. 154. Was Budde als positive Konnotation des jeweiligen Vaters in den von ihr zugrunde gelegten Quellen versteht, seine Allwissenheit, Macht, Stärke, die allesamt Schutz zu verbürgen scheinen, verharrt doch insgesamt im Abstrakten: Wenn Budde ein Beispiel aus Klaus Manns Erinnerung an die väterliche Allmacht zitiert, in der Thomas Mann die Spukgestalten im Kinderzimmer bannt, weisen sowohl Budde als auch Klaus Mann selbst auf das Ungewöhnliche dieses Szenarios hin: »Alle hier vorgestellten Bürgerväter in Deutschland und England waren seltene Gäste in den Kinderzimmern.« Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 155. Friedrich von Hellwald: Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung. Leipzig 1889, S. 574.

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gerlichen Kleinfamilie so idealtypisch angeboten hatte. Eine solche Konkretion könnte in der paternalisierten Gesellschaft organischen Zusammenhalt dort verbürgen, wo der Einzelne mehr und mehr unter abstrakte gesellschaftliche (und staatliche) Strukturen subsumiert wird. Der zeitgenössische Vater aber kann diese Entfremdung von Gesellschaft und Individuum – so lassen die Texte hier durchblicken – anscheinend nicht mehr überbrücken. In seiner Zwitterstellung zwischen Familie und gesellschaftlicher Öffentlichkeit legitimiert ihn nun zunehmend seine gesellschaftliche (als Vater) und nicht länger seine individuelle Stellung. Er wird das familienimmanente Symbol einer souveränen gesellschaftlichen Macht und transformiert die gesellschaftlichen Impulse wie ein generischer (und nicht länger individueller) Adapter. Mit der fehlenden Autarkie wird der Vater ein gesellschaftliches Regulierungsinstrument, das nur noch halbdurchlässig funktioniert. Die Einflüsse werden von außen nach innen getragen, aber die Gesellschaft erhält aufgrund der vorgängigen konventionellen Homogenisierung kaum noch Impulse von innen. Fontane stellt in diesem Sinne das herrschende Vatermodell (und nicht unbedingt die konkreten Väter) als problematisch aus, das sich in Kongruenz zu einer öffentlichen Machtlogik bewegt. Ein solches Modell ist nicht länger emanzipierend, sondern repressiv. Die besondere Macht des »Vaters« in der Literatur der Aufklärung lag dagegen konzeptuell in einer Ermöglichungsfunktion, die Individualität und Integration gleichzeitig zulässt. Eine ähnlich konzipierte Simultaneität fordern die Theoretiker um 1900 im impliziten Rekurs auf diese Befreiungslogik ein. Ein Blick auf Ferdinand Tönnies’ Ausführungen zu ›Gesellschaft und Gemeinschaft‹ macht noch einmal das zeitgenössische Bedürfnis deutlich, zwischen den Nähegraden repräsentativer Vorstellungen zu differenzieren. Unterschieden wird bei Tönnies zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, wobei er unter Gesellschaft die ideelle und mechanische Bildung der Beziehungen zwischen »menschlichen Willen« versteht, unter Gemeinschaft das reale und organische Leben: »Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt.«63 Tönnies selbst begreift das Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft als Kristallisationspunkt bei der Erfassung der sozialen Wirklichkeit. Er schafft damit gegenüber der von liberaler Seite etablierter Dicho63

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Achte, verbesserte Auflage. Leipzig 1935, S. 3.

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tomie von Staat und Gesellschaft (die hier, anders als in der Terminologie dieser Arbeit,64 als politisches Mittel, Freiheiten vom Staat zu erwirken, verstanden werden muss) einen soziologischen Zugriff, der die problematischen Amalgamate auch und gerade im Bereich der Gesellschaft selbst greifbar macht und deshalb in diesem Kontext besonders entscheidend ist.65 Letztlich basiert ja auch die Repräsentationslogik des Väterlichen auf dieser Grundlage im Gesellschaftlichen (bzw. Gemeinschaftlichen nach Tönnies). D.h., wenn die Authentizität nicht mehr vorausgesetzt werden kann, wird es zunehmend schwer, über (gesellschaftlich oder – nach Tönnies – gemeinschaftlich getragene) Verkörperungen von Herrschaft die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft zu vermitteln. Mit seiner eigenen dualen Konzeption macht sich Tönnies nun – im Zuge der Krise des Liberalismus und der Enttäuschung in Folge des Berliner BörsenCrashes 187366 – an eine genaue Analyse des Zusammenspiels von Individuum und Gesellschaft/Gemeinschaft.67 Er bedient sich dabei einer ähnlichen Komplementärlogik der Geschlechter68 wie Riehl und dokumentiert auf diese Weise, wie selbstverständlich bestimmte, metaphorisch kunstvoll ausbalancierte Gesamtgesellschaftskonzeptionen zu diesem Zeitpunkt immer noch sind. Die Auflösung traditioneller Lebensformen im Zuge von Modernisierung und Industrialisierung wird bei Tönnies – in terminologischer Verschiebung – ähnlich thematisch wie in den eben zitierten theoretischen Ausblicken. Tönnies zufolge gehören soziale Strukturen wie die historische Gemeinschaft und die Gesellschaft untrennbar zusammen (wie die einzelnen Elemente von Wasser), ändern dabei allerdings (anders als Wasser) ihre quantitative Zusammensetzung. Das Individuum löst sich zunehmend aus den (von ihm nicht definierten) traditionellen Zusammen64

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Im liberalen Sinne ist diese Entgegensetzung politisch instrumentalisierbar und trägt zur Freiheit vom Staat bei (d. h. gehört zum emanzipatorischen Diskurs), sie wird im Kontext meiner Arbeit konzeptuell aber vor allem als Entfremdungserfahrung verstanden. Bei Fontane liegt der analytische Schwerpunkt vor allem auf dieser Gesellschaftsanalyse. In ›Schach von Wuthenow‹ etwa wird zwar mit Friedrich Wilhelm III. und Luise eine konkrete Herrschaftsrepräsentation greifbar; sie kann aber die gesellschaftlichen Brüche letztlich auch nicht befrieden. Cornelius Bickel: Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus. Opladen 1991. Wobei Letzteres weniger die hier entscheidende Entfremdungserfahrung formuliert als einen politischen Anspruch. Aber auch anhand dieses Anspruches wird die Empfindung der Segregation aufgegriffen und produktiv gemacht. Für ihn trägt die Gemeinschaft authentische, intuitive, weibliche Züge, während die Gesellschaft in ihrer Zweckrationalität als männlich wahrgenommen wird. Das steht einer de facto patriarchischen Strukturierung innerhalb der Familie allerdings auch bei Tönnies nicht im Weg.

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hängen der Gemeinschaft und findet im Rahmen der kontraktuell determinierten Gesellschaft theoretisch den Raum für eine freiere Entwicklung. Es wird jedoch deutlich, dass diese Freiheit nichtsdestoweniger der gemeinschaftlichen Strukturen bedarf.69 Denn das Individuum hat in der Gesellschaft zwar theoretisch größere Chancen auf eine freie Entwicklung, aber praktisch keine Möglichkeiten, diese zu nutzen. Deswegen werden sich, laut Tönnies, in dem Maße, wie sich die gesellschaftlichen Mechanismen als feindlich erweisen, Individuen auch wieder in Gemeinschaften zusammenfinden, in denen sie zwar nicht frei, aber durch freien Willen formiert sind. In kapitalistischen Gesellschaften werde »Freiheit« ohnehin vor allem als Lebenslust kultiviert, wobei »Lebenslust« konsequenter Weise mit Eigentum gleichzusetzen ist. Die Maximierung des Profits ersetzt andere gemeinschaftliche Versorgungsmechanismen – damit wird die Ungleichheit in der patriarchalischen Gesellschaft mit anderen Mitteln fortgeschrieben. Während die verschiedenen gemeinschaftlichen Repräsentationen das Individuum ähnlich beschneiden können wie die gesellschaftlich dominante Profitgier, so gibt es doch auch bei Tönnies gemeinschaftliche Herrschaftsstrukturen, die sich der Verdinglichung entgegensetzen: »So begründet das Vatertum am reinsten die Idee der Herrschaft im gemeinschaftlichen Sinne: wo sie nicht Gebrauch und Verfügung zum Nutzen des Herrn bedeutet, sondern Erziehung und Lehre als Vollendung der Erzeugung.«70 Tönnies’ Hinweis auf die natürlich-gemeinschaftliche Qualität väterlicher Herrschaft legt dabei nochmals die Bedeutung offen, die diese Konvergenz im Kontext der zunehmenden gesellschaftlichen Entfremdungserfahrungen hat. Als natürlich gewachsene Struktur verbürgt die Gemeinschaft wichtige kompensatorische Werte, die in der Gegenwart um 1900 als Kontrapunkt zum omnipräsenten Eigennutz erhalten bleiben (müssen).71 69 70 71

Innerhalb dieser gemeinschaftlichen Strukturen sind die Individuen zwar nicht frei, aber doch immerhin durch freien Willen formiert. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 11. Auch Fontanes Analyse, in der die paternalisierte Gesellschaft und der natürliche Vater als separate Phänomene vorgeführt werden, knüpft indirekt an diese Überlegungen an. Die Machtsphäre der paternalen Macht ist eine öffentlich-gesellschaftliche geworden, woraus sich die defizitäre Unterdrückung ergibt, die Briest als natürlicher Vater nur abseits der Gesellschaft restituieren kann. Innstetten und Briest bleiben Rivalen, die unterschiedliche Rollenvorgaben annehmen und sich auf unterschiedliche Sphären spezialisieren. Die erfolgreiche Synthese (etwa im Tenor der oben erwähnten theoretischen Überlegungen) bleibt bei Fontane aus, was gleichzeitig die Chancen und Grenzen eines souveränen Vaterkonzepts andeutet.

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Auch in der wohl um 1900 wirkungsmächtigsten Untersuchung zur menschheitsgeschichtlichen Entwicklung der Familie (die auch Tönnies in seinen Überlegungen beeinflusste) finden sich konzeptuelle Rückkoppelungen mit Fontanes ästhetischer Bestandsaufnahme:72 Die Rede ist von Johann Jakob Bachofen und seinem opus magnum ›Das Mutterrecht‹ (1861).73 Bachofen geht von einer Entwicklung hin zum Vaterrecht aus, das sich nach einer Epoche des Hetärismus und des Mutterrechts schließlich durchsetzt.74 Walter Erhart hat Bachofens ›Mutterrecht‹ ausführlich auf die Implikationen für die Gender-Wahrnehmungen untersucht und hebt bei seiner Analyse vor allem die nie ganz ausbalancierte Spannung zwischen Mutter- und Vaterrecht hervor, was sich mit Blick auf vaterrechtlich dominierte Geschlechterrollen im 19. Jahrhundert als aufschlussreicher Subtext erweist.75 Für meine Überlegungen ist Bachofen in zweierlei Weise relevant: Zum einen erscheint die zugrunde liegende Disziplinierungsthese von Interesse, die mutter- und vaterrechtliche Interferenz als Vorstufe zum zivilisatorisch höherwertigen Vaterrecht begreift. Und zum anderen ist die dabei vollzogene und naturalisierte Abstraktionsleistung entscheidend, die auch in den oben zitierten Texten indirekt oder direkt thematisiert wird. Während die »moralische […] Bedeutung« des Mutterrechts in der singulären Liebe, der einzigen »Erhellung der moralischen Finsternis« (MR X) besteht, erweist sich das Vatertum als Zustand der fortgeschrittenen Entwicklung: Die innige Verbindung des Kindes mit dem Vater, die Aufopferung des Sohnes für seinen Erzeuger verlangt einen weit höheren Grad moralischer Entwicklung als die Mutterliebe […]. Später als sie kommt jene zur Geltung, später zeigt sie ihre Kraft. Dasjenige Verhältniss, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend, der Ausbildung jeder edlern Seite des Daseins zum Ausgangspunkt dient, ist der Zauber des Mutterthums, der inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird. (MR X)

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Vgl. dazu auch insgesamt die Argumentation von Erhart, Familienmänner, S. 70–92. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Stuttgart 1861. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als MR mit der entsprechenden Seitenzahl. Seine Deutung gründet er dabei auf die Mythen-Analyse, die er »als echtes, von dem Einfluss frei schaffender Phantasie durchaus unabhängiges Zeugniss der Urzeit« betrachtet. (MR VII). Erhart, Familienmänner, S. 76.

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Was Bachofen hier andeutet, wird später in aller Deutlichkeit formuliert: »In der Hervorhebung der Paternität liegt die Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der Natur, in ihrer siegreichen Durchführung einer Erhebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflichen Lebens«. Das Vatertum kann den »Charakter einer blossen Fiktion niemals« ablegen (MR XXVII). Historisch sichergestellt wurde das Prinzip gegen die Anfeindungen des Stofflichen laut Bachofen erst durch die römische Staatsidee, deren juristisch strenger Form die Menschheit die Paternität »verdanke«, insofern sie sich vor »dem Verfalle der Religion, von dem Einfluss verderbter Sitten und der Rückkehr des Volksgeistes zu gynaikokratischen Anschauungen zu sichern wusste.« (MR XXI) Angesichts der Reorientalisierung Roms in der späten Kaiserzeit hält er wiederum fest: Die neuen Siege, welche das Mutterprinzip jetzt selbst zu erringen wußte, zeigen, wie schwer es den Menschen zu allen Zeiten und unter der Herrschaft der verschiedensten Religionen wird, das Schwergewicht der stofflichen Natur zu überwinden, und das höchste Ziel ihrer Bestimmung, die Erhebung des irdischen Daseins zu der Reinheit des göttlichen Vaterprinzips zu erreichen. (MR 64)

Dabei kommt es hier besonders auf einen Aspekt an: Bachofen begreift das väterliche Prinzip als ein abstraktes Konzept (»überstoffliches Lebensprinzip« MR 7), das sich als juristische Fiktion der »physischen Tatsache« (MR 9) der Mutterschaft gegenüber behaupten muss. Was bei Bachofen als Klimax gedeutet (aber in seinem zyklischen Denken gleichzeitig natürlich keinen dauernden Bestand haben kann) und damit als Voraussetzung einer als positiv verstandenen festen Ordnung in Familie und Staat aufgefasst wird, gründet sich auf einer ähnlichen grundsätzlichen Abstrahierungsbewegung, wie sie Fontane Jahrzehnte später mit einem Fokus auf ihr Entfremdungspotential beobachtet. Zum anderen wird in der beschriebenen Dialektik von Weiblichkeits- und Männlichkeitsprinzip deutlich, dass die Phase des Mutterrechts die Phase des Hetärismus beendet und damit auch die der männlichen Promiskuität. Die Phase des Mutterrechts trägt auf diese Weise mit der gebändigten »hetärischen Zügellosigkeit des Mannes«76 zu der Durchsetzung zum Vaterrecht bei und bleibt auf diese Weise der Entwicklung eingeschrieben. Erhart verweist in seinem Buch ›Familienmänner‹ auf die »gespaltene Männlichkeit«, in der die Männer auf eine »›unkörperliche […]‹ Exis76

Erhart, Familienmänner, S. 79.

378

tenz«77 festgelegt werden.78 Vaterrecht ist nicht nur ein abstraktes, sondern auch ein aufgrund der Geschlechtscharaktere notwendig entsexualisiertes Konzept. Die Stabilität wird auch bei Bachofen explizit erkauft durch eine Minimierung und Zügelung der Sexualität. Alles dieser Purifikationslogik Gegenläufige wird dabei in eine Sphäre abgedrängt, für die es im 19. Jahrhundert keine standardisierten expliziten Beschreibungsmuster gibt. Vor diesem Hintergrund muss sich nicht nur Fontane mit einer fiktionsimmanenten und autoreferentiellen Verweislogik zufrieden geben, die in Verschiebungen und Verdichtungen auf einen unterschwelligen gesellschaftlichen Zustand verweist, für den es keinen konventionalisierten Code gibt. – Darauf wird im nächsten Kapitel zurückzukommen sein. Natürlich bieten Bachofens konfligierende »Evolutions-, […] Strukturalismus- […] und Kreislauf-Modell[e]«79 um 1900 verschiedene Anknüpfungspunkte für diverse Gegenwartsanalysen und -kritik, die über diese Verdichtung auf Abstrahierung und Entsexualisierung hinausgehen.80 Die Kosmiker etwa greifen in ihrem »Ursprungsdenken« auf die Logik des zyklischen Verlaufs zurück, sowohl als Gegenwartsanalyse wie auch mit Blick auf die »Vorstellung eines ursprünglichen und heidnischen Hetärentums, das es für die Zukunft zu erneuern gelte«.81 Eine andere, 77 78

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81

Erhart, Familienmänner, S. 79. »Während die Mutter den inneren Raum der Familie besetzt, muß der Vater diesen Raum in eine Geschichte und in eine zeitliche Kontinuität verwandeln, und während Weiblichkeit mit der ›ewig wandelbaren Erdmutter‹ verbunden wird, besteht Männlichkeit darin, am ›Sieg des Mannes‹ […] teilzuhaben und zu diesem Zweck die welthistorische Entwicklung in jeder Mannwerdung im kleinen zu wiederholen.« Erhart, Familienmänner, S. 78. Hans-Jürgen Heinrichs: Einleitung. In: Das Mutterrecht von J.J. Bachofen in der Diskussion. Überarbeitete Neuausgabe. Hrsg. von Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt am Main 1987, S. IV. »Das Theorem vom zyklischen Verfall hat dabei die strukturelle Funktion, reale und unabweisbare Krisenmomente zu akzeptieren, sie jedoch in ihrer Bedrohlichkeit dadurch zu nivellieren, daß sie sie dem Modell von Untergang und Neubeginn integriert. Die je gegenwärtige Krise wird damit bestätigt und eskamotiert zugleich.« Gerhard Plumpe: Das Interesse am Anfang. Zur Bachofendeutung. In: Materialien zu Bachofens ›Das Mutterrecht‹. Hrsg. von Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt am Main 1975, S. 196–212, hier S. 201–202. Plumpe, Interesse am Anfang, S. 207. Vgl. dazu insgesamt den Abschnitt: Der Romantiker und Mythologe Johann Jakob Bachofen in geistesgeschichtlicher und geschichtsphilosophischer Deutung. In: Materialien zu Bachofens Mutterrecht, S. 111–214. Vgl. auch Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Würzburg 2007.

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hier wichtige Auslegung von Bachofens Überlegungen findet sich im Umkreis gesellschaftstheoretischer Überlegungen u. a. Friedrich Engels, August Bebels, Max Horkheimers und Ernst Blochs. Entscheidend für diesen Strang der Bachofen-Rezeption ist die Tatsache, dass dieser die »Relativität und Veränderbarkeit sozialer Formationen«82 aufzeigt. Die zeitgenössische familiale Ordnung gerät unter dieser Prämisse nachhaltig unter Beschuss, insofern die bürgerliche Klein-Familie, die paternale Herrschaft als eine historische Entwicklung identifiziert wird. Der »Ursprung der Monogamie« ist damit nicht anthropologisch, natürlich und ahistorisch, sondern historisierbar, wie Engels hervorhebt: Sie war keineswegs eine Frucht der individuellen Geschlechtsliebe, mit der sie absolut nichts zu schaffen hatte, da die Ehen nach wie vor Konvenienzehen blieben. Sie war die erste Familienform, die nicht auf natürliche, sondern auf ökonomische Bedingungen gegründet war, nämlich auf den Sieg des Privateigenthums über das ursprüngliche naturwüchsige Gemeineigenthum. Herrschaft des Mannes in der Familie und Erzeugung von Kindern, die nur die seinigen sein konnten und die zu Erben seines Reichthums bestimmt waren – das allein waren die von den Griechen unumwunden ausgesprochenen ausschließlichen Zwecke der Einzelehe.83

Vaterrecht wird hier zum Synonym für die deviante Entwicklung der Gesellschaft insgesamt; August Bebel weist mit einem ähnlichen Tenor auf die Unterjochung der Frau durch die Herrschaft des Privateigentums hin, für die das Vaterrecht verantwortlich zeichnet. Auch er hält das Mutterrecht für eine Alternative, die dem Kommunismus entspricht und Gleichheit produziert.84 Für das folgende Kapitel wird genau diese grundsätzliche Infragestellung der paternalen Herrschaft als umfassendes Herrschaftssystem in seinen entfremdenden Tendenzen entscheidend sein.

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Plumpe, Interesse am Anfang, S. 209. Friedrich Engels: Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: Karl Marx, Friedrich Engels Gesamtausgabe. Hrsg. von Joachim Herrmann, Hansulrich Labuske u. a. Abt. 1, Bd. 29. Berlin 1990, S. 179. August Bebel: Frau und der Sozialismus. Mit einem einleitenden Vorwort von Eduard Bernstein. Berlin 1929.

380

X.

Sehnsucht nach dem Vater? Freud und der Expressionismus

1.

Freuds ›Totem und Tabu‹

Insgesamt wurde bei Fontane der Triebverzicht, den die Texte als Regulierungsfaktor benennen, als eine bloß oberflächliche Stabilisierung erkennbar. Das Regime einer paternalen Gesellschaft, deren symbolische Väter die gesellschaftliche Macht bündeln und abstrahieren, wird (in den schon von Fontane implizierten Kernthemen) auch in Freuds ›Totem und Tabu‹ greifbar. In diesen Überlegungen verknüpft Freud Charles Darwins These von der Urhorde mit der spektakulären Hypothese vom Mord am Urvater mit dem Ödipuskomplex:1 Der Ödipuskomplex bezeichnet jetzt nicht mehr allein eine reale Eltern-KindSituation, sondern mit dem mythischen Mord am Urvater erscheint das ödipale Dreieck nun als strukturelle Konzeption, die zwischen dem Subjekt und dem natürlichen Objekt des Begehrens eine verbietende Instanz einsetzt. Das Auseinandertreten von Natur und Kultur, der Uranfang sozialer Organisation vollzieht sich auf diesem Wege.2

Die Ermordung des Urvaters wird damit zum »Ausgangspunkt der Religionsbildung«3 und die Religion zur ersten kulturellen Leistung der Menschheit. Religiöse Vorstellungen als »historische Reminiszenzen« (GW 14, 366) an den mythischen Ursprung verhalten sich dabei nach Freud analog zum Stadium der Kindheit. Deswegen entwirft er konsequent eine der Psychopathologie des Kindes entsprechende Soziopathologie der Religion: »Die Religion wäre die allgemein menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung.« 1 2 3

Diese Überlegung liegt auch den späteren religionskritischen Abhandlungen ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹ sowie ›Die Zukunft einer Illusion‹ zugrunde. Schmaus, Psychosomatik, S. 424. Sigmund Freud: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. 18 Bde. Hrsg. von Anna Freud u. a. Frankfurt am Main 1999, hier Bd. 14, S. 93. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als GW mit der entsprechenden Band- und Seitenzahl.

381

(GW 14, 367) Dieser allentscheidende Rekurs auf die Vaterbeziehung ist im Folgenden zentral. Zunächst bietet Freud in seiner ambitionierten Untersuchung eine ebenso einfache wie frappante Erklärung für das, was er am Totemismus als enigmatisch empfindet: Rätselhaft ist wohl alles am Totemismus; die entscheidenden Fragen sind die nach der Herkunft der Totemabstammung, nach der Motivierung der Exogamie (respektive des durch sie vertretenen Inzesttabu) und nach der Beziehung zwischen den beiden, der Totemorganisation und dem Inzestverbot.4

Der primitive Beginn aller Kulturalisierungs- und Disziplinierungstendenzen wird dabei aus einer Konfrontation zwischen Vater und Söhnen abgeleitet, die sich gegen den Vater verbünden, ihn entmachten und töten. Daraus resultiert eine Brudergesellschaft, deren Befriedung durch klare Regeln erfolgen muss, gilt es doch zu verhindern, dass ein Bruder wiederum das Monopol usurpiert, das man dem ermordeten Vater (nicht ohne nachträgliche Schuldgefühle) entrissen hatte. Die Brudergesellschaft etabliert also nach Freud die komplexen Regeln, die man als Relikt in der verwirrenden Totemstruktur erkennen kann. Neben dem Tötungsverbot leitet Freud vor allem das Inzestverbot aus der ödipalen Ursituation ab. Insofern die Motivation für den Vatermord in der Monopolisierung des Zugriffs auf die verfügbaren »Weibchen« des Stammes erkannt wird, erweist sich das Exogamie-Gebot als eine disziplinierende Reaktion auf den inzestuösen Wunsch, die Frauen des Vaters zu besitzen. Nur so kann in der Brudergesellschaft ein neues Aufflammen der Gewalt verhindert werden. René Girard verweist fasziniert auf Freuds zugleich scharfsinnige und spekulative Verfahrensweise, die er wiederum in seinen Überlegungen zur Gewalt zu demontieren versucht.5 Im Zuge seiner Thesen zu Entdifferenzierungskrisen (und deren Stilllegung im Opferritual) stellt Girard mit Blick auf Freuds ›Totem und Tabu‹ und ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹6 fest: Eliminiert man die Familie (bzw. Volk/Nation/ 4

5 6

Sigmund Freud: Totem und Tabu. In: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 9. Hrsg. von Anna Freud u. a. London 1940, S. 131. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als TT mit der entsprechenden Seitenzahl. Girard verweist dabei vor allem auf die Ritualisierungen und auf die konkreten Elemente des Opfers. Auch in ›Der Mann Moses‹ wird deutlich, dass die »historische Wahrheit« die »reale Wahrheit« übertrifft (Freud in einem Brief an Lou Andreas Salomé am 6.1.1935, Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hrsg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main 1980, S. 224). Die Verbindung zwischen Ontogenese und Phylogenese, d. h. der Reliktcharakter spezifischer ungeklärter Verhaltensweisen wird hier mit einem historischen Rekurs

382

jüdische Religion in ›Der Mann Moses‹) aus den Texten, »dann tritt der einzig mögliche gemeinsame Nenner der beiden Werke in Erscheinung: die Umwandlung der gegenseitigen Gewalt in Gründungsgewalt durch Mord, der an irgend jemandem und nicht mehr an einer bestimmten Person verübt wird.«7 Wenn Girard dementsprechend eine Entpaternalisierung8 der Freudschen Theorie fordert, so bietet hier gerade Freuds rückwirkende Paternalisierung einen heuristisch vielversprechenden Zugriff: Freud erkennt in zeitgenössischen, individuellen psychischen Verdrängungsvorgängen die Urauseinandersetzung mit dem Vater ›wieder‹. Ebenfalls von Bedeutung ist hier die Tatsache, dass der »Vater« als Verursacher der Störungen historisch »entborgen« werden muss – sowohl die unterstellte, versteckte Verweisstruktur als auch die selbstverständliche Transposition eines spezifischen Vaterschaftskonzepts von der Sphäre der (Urhorden-)Familie in das individuelle Unterbewusste, die Freud vornimmt, erweisen sich hier als bedeutsam. Der Gestus des Entlarvens ist hier insofern entscheidend, als sich Freud damit indirekt auf die zeitgenössische Situation bezieht, in der die paternale Omnipräsenz und der gleichzeitig diagnostizierte Machtverlust des konkreten Vaters in einer verwirrenden Synchronizität eingefroren zu sein scheinen.9 Freuds Rekonstruktion der historischen Genese der Vatermacht liefert einen Grund für dessen allseits konstatierte abstrakte (strukturelle) Übermacht und lässt die Überlegungen in ›Totem und Tabu‹ trotz zahlreicher falsifizierbarer Grundannahmen als erstaunlich plausible Bestandsaufnahme erscheinen. Der historiographische Anspruch von Freuds These ist dabei allerdings schwer zu halten. Seine ätiologische Verknüpfung von Totemismus und Inzestverbot in einem Ereignis ist nicht belegbar und steht anderen ethologischen und biologischen Erklärungen des Inzestverbots gegenüber.10 Auch die Ur-

7 8 9 10

geklärt: »Das Verhalten des neurotischen Kindes zu seinen Eltern in Ödipus- und Kastrationskomplex ist überreich an Reaktionen, die individuell ungerechtfertigt erscheinen und erst phylogenetisch, durch die Beziehung auf das Erleben früherer Geschlechter, begreiflich werden.« GW 16, 206. Da in dieser Arbeit der Fokus auf der spezifischen »Souveränität« des Urhorden-Vaters liegt, steht im Folgenden ›Totem und Tabu‹ im Vordergrund. Girard, Das Heilige, S. 316. Hervorhebung von Girard. Girard, Das Heilige, S. 310. Vgl. das vorangegangene Kapitel. Begonnenen mit Alfred Louis Kroeber: ›Totem and Taboo‹ and Ethnologic Psychoanalysis. In: American Anthropologist 22 (1920), S. 48–55. Auch zu nennen hier Claude Lévi-Strauss’ These von einem der Vergesellschaftung inhärenten Tauschprinzip: LéviStrauss: Das Ende des Totemismus. Frankfurt am Main 1965. Vgl. auch Norbert Bischof: Das Rätsel des Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts von Intimität und Autonomie. München 1985.

383

horden-Hypothese, auf die er sich bezieht, wurde von Soziologie und Ethnologie weitgehend verworfen.11 Freud folgt hier also keineswegs einer zwingenden Spur von Indizien der Feldforschung, sondern bindet (in einer von ihm selbst eingestandenen konjekturalen Methode) kontemporäre Analyseergebnisse auf die Vergangenheit zurück. Einleitend vermerkt Freud, dass die »Menschheit drei ›große Weltanschauungen‹ hervorgebracht« habe, nämlich »die animistische (mythologische), die religiöse und die wissenschaftliche« (TT 96). Paul Ricœur hebt hervor, dass diese Phaseneinteilung auffällig »drei exemplarischen Momente[n] in der Geschichte des Wunsches« entspricht: »Narzißmus – Objektwahl – Realitätsprinzip«.12 Ricœur weist dabei bereits kritisch darauf hin, dass das Eingreifen der Psychoanalyse schon bei der Auswahl des ethnologischen Materials […] so offenkundig ist, daß Freud, um die Übereinstimmung von Religion und Geschichte des Wunsches auf ihrer ersten Ebene herzustellen, gezwungen ist, einer präanimistischen Phase des Animismus oder Animatismus den Vorrang zu geben, in der sich noch kein ausdrücklicher Glaube an Geister, folglich keine Projektion in transzendente Gestalten erkennen läßt.13

Die spezifische Verknüpfung von psychoanalytischem Zugriff und Rückblick in die Urzeit leistet also zugleich eine Historisierung (die mit dem Narrativ der Kranken»geschichten« korrespondiert) und eine Anthropologisierung, insofern die damals kontingenten Ereignisse Eingang in den psychischen Haushalt gefunden haben und bestimmte Parameter vorgeben: nämlich eine allen Menschen gemeinsame patri-ödipale Struktur.14 Im Folgenden geht es besonders um das, was Ricœur als »ethnologischen Kern« von ›Totem und Tabu‹ ausmacht:

11 12 13

14

Exemplarisch dazu Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal 2004. Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Übersetzt von Eva Moldenhauer. 2Frankfurt am Main 1996, S. 246. Ricœur, Die Interpretation, S. 246. Vgl. zu Freuds Überlegungen zur »Magie, die Technik der animistischen Denkweise«, die von dem Prinzip der »Allmacht der Gedanken« (TT 106) ausgeht, auch das Folgende bei Ricœur. Vgl. zur spezifischen Entwicklung des Freudschen Konzepts der weiblichen Sexualität, auf die hier nicht eingegangen werden kann, Zenia O. Fliegel: Die Entwicklung der Frau in der psychoanalytischen Theorie. Sechs Jahrzehnte Kontroversen. In: Psychoanalyse der Frau jenseits von Freud. Hrsg. von Judith Alpert. Berlin, Heidelberg, New York 1991, S. 11–40; Karen Horney: Die Psychologie der Frau. Frankfurt am Main 1984.

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die soziale Institution entstammt dem Brüderpakt, die sittliche Institution dem daraus resultierenden nachträglichen Gehorsam, und was die Religion betrifft, so hat sie die Schuld übernommen: künftig können wir die Religion als die Fortsetzung der Versuche definieren, das durch den Mord und die Schuld gestellte Gefühlsproblem zu lösen und die Versöhnung mit dem beleidigten Vater herbeizuführen.15

2.

Historisierung Freuds im Kontext der Literatur

Es lohnt sich, spezifische Implikationen der Freudschen Thesen in ›Totem und Tabu‹ im Kontext der literarischen Tradition noch einmal zu evaluieren. In der Tat scheint Freud in seiner Problemrekonstruktion verstärkt auf historisch-kulturelle, semantische Formationen zurückzugreifen,16 die (in ihrer spezifischen Historizität um 1900) als Produkt des 18. Jahrhunderts und seiner paradoxen Individualitäts- und Integrationsvorgaben verstanden werden können. In den Ausführungen in ›Totem und Tabu‹ erzählt Freud somit im Grunde auch literarische Konstellationen um 1800 nach, in denen sich Vater und (Schwieger-)Sohn in einer historisch neuartig kodierten Konkurrenz begegnen, die eine (topische) sexuelle Wettbewerbssituation neu motiviert. Besonders die beiden Integrationsmechanismen der Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie treten dabei in ein potentielles Kon15

16

Ricœur, Die Interpretation, S. 251. Vgl. dazu auch Ricœurs Überlegungen zur ökonomischen Funktion der Religion bei der Erarbeitung eines Kulturbegriffs, der Triebverzicht impliziert, was durch die drei, hier ebenfalls relevanten, »universellen« Verbote (Inzest, Kannibalismus, Mord) ausgedrückt wird. Er erarbeitet einen Rahmen, »in den die […] Verschiebungen der Allmacht, die quasi-paranoische Projektion, die Versöhnung mit der Vaterfigur und die geheime Rache der Söhne sich einfügen«. Ebd., S. 257, vgl. dazu auch S. 257–263. Freuds ›Die Zukunft einer Illusion‹ (1927) (insbesondere die Forderung, die Religion als unzeitgemäßen Kulturbesitz durch rationale Geistesarbeit zu ersetzen) und auch ›Das Unbehagen in der Kultur‹ (1930), in der die Überlegungen von ›Totem und Tabu‹ erweitert und umgeschrieben werden, können im Folgenden aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden. Der Zusammenhang von kulturell bedingtem Triebverzicht, Triebentmischung und der Freisetzung innerer Destruktivität in ›Das Unbehagen der Kultur‹ entspricht (mit einer kulturpessimistischen Tendenz) entscheidenden Motiven aus ›Totem und Tabu‹. Freud selbst versteht dies als ahistorisch, vgl. dazu ›Dostojewski und die Vatertötung‹: »Es ist kaum ein Zufall, dass drei Meisterwerke der Literatur aller Zeiten das gleiche Thema, das der Vatertötung, behandeln: Der König Ödipus des Sophokles, der Hamlet Shakespeares und Dostojewskis Brüder Karamasoff. In allen dreien ist auch das Motiv der Tat, die sexuale Rivalität um das Weib, bloßgelegt. Am aufrichtigsten ist gewiß die Darstellung im Drama, das sich der griechischen Sage anschließt. Hier hat der Held die Tat noch selbst vollbracht. Aber ohne Milderung und Verhüllung ist die poetische Bearbeitung nicht möglich.« (GW 14, 412)

385

kurrenzverhältnis. Erschwerend kommt hinzu, dass die Individualierungstendenzen des romantischen Liebeskonzepts eine neue Form der Körperlichkeit implizieren, die eine deutliche Distanz zwischen der Zärtlichkeit des Geliebten/Ehemanns und des Vaters einzieht. Aus dem holistischen, emotionalisiert-moralischen Regulierungsanspruch des Vaters mit Blick auf die töchterliche Sexualität ergibt sich ein historisch neuer Synergieeffekt und eine Art virtuelle Inzestsituation. Im Kontext des modernen Liebeskonzepts und einer neuen Körperlichkeit, die zwischen »self-possession« und Moralitätsauflagen changiert, wird die Sexualität somit zwar als zulässige Größe freigesetzt, deren destabilisierende Wirkung aber sofort als Bedrohung erkannt, diskursiv als Problem markiert und/oder eingehegt wird. Die beschriebene prekäre und letztlich ungeklärte Situation der Tochter zwischen der ›family of origin‹ und ›family of procreation‹ sorgt dementsprechend für Krisenpotential. Dementsprechend kreisen die konkreten Vater-Sohn-Beziehungen seit 1800 beständig um die herausgeschriebene (z. B. bei Stifter) oder ostentativ integrierte (z. B. bei Kleist) Konfliktsituation zwischen Vater und ›Sohn‹, die indirekt oder direkt auf eine sexuelle Konkurrenz- oder Kontrollsituation verweist. Die literarische Kodierung um 1800, die verstärkt die romantische Liebe als Keimzelle der Familiengründung etabliert, generiert ein neues Feld der Macht (Macht des Ehemanns), das dem väterlichen potentiell widerspricht. Beide Bereiche können nur teilweise in eine sukzessive, nichtkonkurrierende Ordnung aufgelöst werden. Mit dem literarischen Fokus auf die moderne Liebe ergeben sich dementsprechend vollständig neu konturierte Spannungsfelder, die nur durch gänzliche Einhegung oder gar Eliminierung der Sexualität befriedet werden können. In den erfolgreichen Generationsgeschichten geht eine solche Triebdisziplinierung der harmonischen gesamtfamilialen (›family of origin‹ und ›family of procreation‹) Generationenzusammenführung voran. Paternale Gewalt korrespondiert in diesem Sinne bei den hier zugrunde liegenden Texten immer mit einem Regulierungsanspruch der filialen Sexualität.17 17

Vgl. dazu Ulrich Linse: »Geschlechtsnot der Jugend«. Über Jugendbewegung und Sexualität. In: »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend. Hrsg. von Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler. Frankfurt am Main 1985, S. 245–309. Linse verweist auf »eine neue Welle in den sexuellen Revolutionen der Moderne«, als am Ende der 70er Jahre die Sexualwissenschaft geschaffen wurde und damit die Fesseln der »viktorianischen« Sexualmoral (Ebd., S. 245) gesprengt wurden. Eine Analyse der Überlegungen des zeitgenössischen Arztes Roderich Hellmann zur Freigabe von Geschlechtsverkehr für Jugendliche zeigt allerdings deutlich, dass selbst diese Maßnahmen zur Erhaltung der bürgerlichen Familie gedacht waren, insofern auch nach Hellmann außerhalb der Ehe

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In einer anachronistischen Überlagerung entspricht in der Literatur die Macht des modernen Vaters Freuds Konzept von der spezifischen Macht des Urhorden-Vaters. Freuds in die Vergangenheit projizierter Vatermord hat in der gesellschaftlichen Konstellation18 (in verschiedenen Brechungen) durchaus aktuelle Bezugspunkte: Die bei Freud thematische Exogamie-Auflage (Inzestverbot als Kontrolle und Einfriedung von Sexualität) als Folge des Vatermords erweist sich als ein invertierter und verschobener Reflex der Endogamie-Tendenz in den Texten (als Purifizierung, Eliminierung, Unterdrückung und Maskierung von sexueller Passion oder eben das Skandalon ihrer Emergenz wie in Fontanes ›Ellernklipp‹) als Mit-Voraussetzung für das sexuelle Prärogativ der Vatergeneration und den expressionistischen Vatermord. Freuds Narrativ betont insofern die Notwendigkeit der Regulierung, die auch in den Texten als Prämisse der harmonischen Koexistenz der durch Sohn oder Tochter vernetzten Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie (Vater und Ehemann) verstanden wird. Gleichzeitig wird der (etwa bei Fontane vorgeführte) Heiratsanspruch der Vätergeneration auf die Töchtergeneration im 19. Jahrhundert besonders umfassend gelebt (also analog zu Freuds »urgeschichtlichen« Überlegungen). Genau dieser sexuellen Vormacht des Vaters sagt der Expressionismus den Kampf an und etabliert den Vatermord als literarisch ubiquitäres Motiv.19 Es ist somit möglich, die von Freud benannte Ursache und die Phänomenologie des Urmordes (in Verschiebungen) auf die kontemporäre Situation zurückzubeziehen. Aber auch die Folgen des Urmordes erweisen sich als übertragbar. Stellte die Urmotivation das mimetische Bedürf-

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keine Kinder gezeugt werden sollten. Im Zuge der Angst vor Geschlechtskrankheiten, dem Feindbild der »Syphilisation«, angeregt durch spektakuläre Statistiken von Alfred Blaschko, wird diese Utopie der Geschlechtsfreiheit allerdings als »Durchseuchung des Volkes« (Iwan Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. 2Berlin 1908, S. 313) verworfen: »Der ›geschlechtsfreie‹ Staat war im Lichte der Nationalisierung der Sexualität eine mit dem Interventionsstaat im Bereich der Sexualität nicht mehr zu vereinbarende liberale Anschauung.« Linse, Geschlechtsnot, S. 255. Bei Linse geht es dann vor allem um die Adaptionen und Entwicklungen dieser Diskurse in der Jugendbewegung, vgl. aber auch Linse zum historischen Kontext von Neumalthusianismus, Medizinierung des Sexes und zur Sexualisierung der Körper. Vgl. zu der politischen Dimension dieser Aktualität im Zeichen des Massenzeitalters Jaap van Ginneken: The Killing of the Father. The Background of Freud’s Group Psychology. In: Political Psychology 5/3 (1984), S. 391–414. Diesbezügliche gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn sind natürlich ein bekanntes Motiv in der Weltliteratur; auch schon im 19. Jahrhundert, wie etwa, bereits genannt, der Mord am Sohn (Fontanes ›Ellernklipp‹) oder am Vater (Dostojewskis ›Brüder Karamasow‹).

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nis dar, dem Vater gleich zu werden, so musste genau dieser Wunsch als Folge der gemeinsamen, fraternalen Mordexekution unerfüllt bleiben. In der durch den Mord konstituierten Brudergemeinschaft kann niemand eine Vorrangstellung gewinnen. Im Laufe der Zeit kristallisiert sich überdies eine spezifische »Vatersehnsucht« (TT 178) heraus, die schließlich dazu führt, den Vater »in der Schöpfung von Göttern wiederzubeleben« (TT 179).20 Nach Freud basiert die patriarchalische Struktur der Familie auf dieser symbolischen Wiedereinsetzung des Vaters über Vatergottheiten: Mit der Einsetzung der Vatergottheiten wandelte sich die vaterlose Gesellschaft allmählich in die patriarchalisch geordnete um. Die Familie war eine Wiederherstellung der einstigen Urhorde und gab den Vätern auch ein großes Stück ihrer früheren Rechte wieder. Es gab jetzt wieder Väter, aber die sozialen Errungenschaften des Brüderclans waren nicht aufgeben worden, und der faktische Abstand der neuen Familienväter vom unumschränkten Urvater der Horde war groß genug, um die Fortdauer des religiösen Bedürfnisses, die Erhaltung der ungestillten Vatersehnsucht, zu versichern. (TT 180)

Freud erläutert nun ein Ambivalenzprinzip, das sich in der dualen Struktur der damaligen Opferrituale ausdrückt. In der Opferszene erscheint der Vater als Gott und als Totemtier und symbolisiert somit gleichermaßen die traumatische Gewalthandlung gegen den Vater als auch den »Sieg der zärtlichen Gefühlsregungen des Sohnes« (TT 180). Freud versteht die Abstrahierung des Vaters zu einem Vatergott als die Legitimationsquelle für die paternale Gewalt, aus der sich schließlich politische Herrschaftsformen entwickeln. Er selbst unternimmt den historisierenden Brückenschlag und stellt fest, dass es in der sozialen Ordnung »göttergleiche Könige« gebe, »welche das patriarchalische System auf den Staat übertragen […] die Rache des gestürzten und wiedereingesetzten Vaters ist eine harte geworden, die Herrschaft der Autorität steht auf ihrer Höhe.« (TT 181)21 20

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»So bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit, weil sie nun im Opfertod des einen Sohnes die ausgiebigste Sünde für sie gefunden hat. Die Versöhnung mit dem Vater ist um so gründlicher, weil gleichzeitig mit diesem Opfer der volle Verzicht auf das Weib erfolgt, um dessentwillen man sich gegen den Vater empört hatte. […] Die christliche Kommunion ist aber im Grunde eine neuerliche Beseitigung des Vaters, eine Wiederholung der zu sühnenden Tat.« (TT 185–186) Vgl. dazu die analoge Beobachtung für die Zeit um 1900 mit Blick auf u. a. Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Thomas Mann: »Je unzugänglicher sie [die Väter] bleiben, desto bedingungsloser gilt ihre Herrschaft.« Hans Richard Brittnacher: Welt ohne Väter: Söhne um 1900. Von der Revolte zum Opfer. In: Kursbuch 140 (2000),

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In der »Realabsenz« des Vaters bei der Opferung, aber seiner dualen »Präsenz«, einmal als (realpräsentes) Totemtier und einmal als (idealpräsenter) göttlicher Empfänger des Opfers, zeigt sich mit Blick auf den ermordeten Ur-Vater ein Verdoppelungsphänomen, das die Erinnerung an den Vater (als Totemtier) zunächst beibehält und ihn zugleich in einer Apotheose dupliziert. Freud deutet an, dass sich die spezifische paternale Machtvollkommenheit22 aus der Verdrängung des realen Vatermords und der traumatischen Transferierung auf eine abstrakte Vaterfigur ergebe. Mit der unterstellten Persistenz der Vatervormacht und der Abstrahierungsbewegung der Autorität greift er eine Doppelung auf, die sich hinsichtlich des Vaters auch grundsätzlich in der Literatur des 19. Jahrhunderts beobachten ließ.23 Der konkrete Vater bei Freud verblasst zugunsten einer symbolischen Wiedergänger-Konstruktion, die sich jedoch als ungleich mächtiger erweist, so dass sich die größte Erniedrigung des Vaters schließlich zu seinem »höchsten Triumph […]« (TT 180) verwandelt: Gleichzeitig kennt die soziale Ordnung göttergleiche Könige, welche das patriarchalische System auf den Staat übertragen. Wir müssen sagen, die Rache des gestürzten und wiedereingesetzten Vaters ist eine harte geworden, die Herrschaft der Autorität steht auf ihrer Höhe. (TT 181)

Die spezifische Macht der väterlichen Ordnung speist sich nunmehr ganz aus der strukturellen Bedeutung (bzw. aus der gesellschaftlich öffentlichen wie bei Fontane) und immer weniger aus der konkreten Form, die

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S. 53–65, hier S. 56. Brittnacher sieht eine Verschiebung, wenn sich die Söhne von ihrer Rolle als Opfer (um 1900) verabschieden und sich in die Vatermörder des Expressionismus verwandeln. Vgl. auch Brittnacher: Ermüdung, Gewalt und Opfer. Signaturen der Literatur um 1900. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 10 (2000), S. 77–94. Der OpferBegriff ist hier allerdings ein abweichender, weil er sich auf die Macht konstituierenden Aspekte des Opfers konzentriert. Max Horkheimer hebt 1936 in anderem Kontext diese strukturelle Besonderheit ebenfalls deutlich hervor, wenn er sogar mit Blick auf den individuellen Machtverlust des Mannes feststellt: »Die Autoritätsstruktur einer gegebenen Familie kann jedoch stark genug sein, daß der Vater seine Rolle behält, auch wenn die materiellen Grundlagen weiter herrschen können, wenn sie dem nur noch wenig zu bieten hat.« Horkheimer, Familie und Autorität, S. 412. In diesem Sinne bezeichnet Horkheimer die Familie als eine der wichtigsten erzieherischen Agenturen, die für »die Reproduktion der menschlichen Charaktere« einsteht, »wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert, und gibt ihnen zum Teil die unerläßliche Fähigkeit zu dem spezifisch autoritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung weitgehend abhängt.« Ebd., S. 388. Um 1900 hat das Konzept »Vater« zwar an instantaner Evidenz verloren. Trotzdem scheinen sich in ihm die verschiedensten Diskurse der Unterdrückung und potentiellen Befreiung zu bündeln und es wird dementsprechend diskursiv ebenso als Indiz wie auch als Antidot für eine Symbolisierungskrise verstanden. Vgl. dazu generell Erhart, Familienmänner.

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ihr das Individuum verleiht (was die Axiologie des Paternalen, wie sie im 18. Jahrhundert entwickelt wurde vollständig umkehrt): Der konkrete Vater verschmilzt mit der paternal imprägnierten gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Freud weist noch auf ein anderes Phänomen hin, das für diese Untersuchung relevant ist. Vor den Herrschern der »primitiven Völker« »muß [man] sich […] hüten, und man muß sie behüten.« (TT 53) Diese doppelte Bindung der Völker an ihren jeweiligen Herrscher kennzeichnet etwa auch das Verhalten des »kleinen Hans«, das von »Angst vor dem Vater und Angst um den Vater« geprägt ist.24 Die paternale Integrationsfunktion (die als Sanktion eben auch eine mögliche Ausschließung beinhaltet) muss mit der Furcht vor dem Vater einhergehen. Diese »Furcht vor« bedingt in diesem Sinne die »Furcht um«.25 Dementsprechend soll es hier um die konzedierte Dualität väterlicher Herrschaft gehen, die emotionale Anhänglichkeit/Anhängigkeit (»Angst um«) und Furcht (»Angst vor«) in einer neuen Ambivalenz zusammenbindet. Diese doppelte Qualität korrespondiert auffällig mit einer von Freud »zu Tage gebrachten« Qualität der Herrscher in ›Totem und Tabu‹: Die Vorsicht (»auf der Hut sein«) vor dem Herrscher wird einem Kraftüberschuss, dem Tabu, zugeschrieben. Dieser Machtvollkommenheit entspricht eine potentielle Gefahr. Wie Freud in Bezug auf Wilhelm Wundt andeutet, gehen »heilig« und »verflucht« zusammen (vgl. TT 83). Agamben hat von einer ähnlichen doppelten Bedeutung ausgehend (sacer als heilig und »vogelfrei«) auf die Nähe zwischen der Sphäre der Souveränität und der Sphäre des Heiligen hingewiesen, insofern er die Heiligkeit als die »ursprüngliche Form der Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch-politische Ordnung«26 (HS 95) versteht. Der Homo sacer stellt 24

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Die konkrete Krankengeschichte, Hans’ Pferdephobie, ist dabei initial von der frühkindlichen Sexualität, vom ödipalen Konflikt, bestimmt, der das spezifische Verhältnis zum Vater determiniert. Vgl. dazu auch das Folgende. Machttechnologisch wird bei Kafka deutlich werden, dass die »Furcht um« nur dann genährt werden kann, wenn die »Furcht vor« gegeben ist. Denn aus den Überlegungen im vorangegangenen Kapitel wird ersichtlich, dass der Abstrahierungsbewegung nur eine starke Vaterfigur entgegengehalten werden kann. Diese Stärkung kann allerdings am erfolgreichsten vollzogen werden über die symbolische Stärkung der Vatermacht. Das Vatermodell scheint damit bei Kafka unauflöslich paradox (vgl. das folgende Kapitel). Agamben führt die Nähe zwischen dem souveränen und heiligen Körper im Rekurs auf Bestattungsriten genau aus: Daraus leitet er in einer präzisierenden Abweichung von Kantorowitz ab, dass der Kaiser nicht nur zwei Körper in sich, »sondern zwei Leben in einem einzigen Körper hat, ein natürliches Leben und ein heiliges Leben.« (HS 110).

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dabei die ursprünglichste Figur des gebannten Lebens dar und »bewahrt das Gedächtnis der ursprünglichen Ausschließung, mittels deren sich die politische Dimension konstituiert hat.« (HS 93) Der politische Raum, so Agamben, wurde in diesem Sinn durch die doppelte Ausnahme »der Exkreszenz des Profanen im Religiösen und des Religiösen im Profanen« (HS 93) geschaffen. Er schlussfolgert: »Die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht als Menschenrecht […] geltend machen könnte, meint ursprünglich gerade die Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes, seine unwiderrufliche Aussetzung in der Beziehung der Verlassenheit.« (HS 93). Ausgehend von seinem Material zeigt Freud dagegen eine ambivalente Herrschaftstechnik auf, die er als psychisches Produkt der Verdrängung versteht. Erst der Rekurs auf die psychoanalytische Erfassung der kindlichen Wahrnehmungsweise erlaubt einen erklärenden Zugriff auf den Animismus der »primitiven« Kulturen: Letztendlich handelt es sich ja bereits dem Titel zufolge um »Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker«. Bietet die genaue Analyse des Seelenlebens einen Schlüssel für die mysteriösen Exogamiegebote, Inzest- und Tötungsverbote, so findet sich in der Entsprechung eine historische Implikation, die den Beginn einer spezifischen Konstellation in der »Urhorde« verortet.27 Was Agamben also als eine für die politische Souveränität unabdingbare Implikation des »nackten Lebens« versteht, ist bei Freud ein menschheitsgeschichtlich zu kontextualisierendes und psychologisch zu historisierendes Tabu, das aus einer rekonstruierbaren Überschreitung ableitbar wird. Für diese Arbeit ist die Verknüpfung, die Freud zwischen väterlicher Herrschaft und dem Inzestgebot etabliert, wichtig. Die Verschaltung der Diskurse Herrschaft und Sexualität, wird bei Freud nämlich über das narrative Modell des »Urvatermords« geleistet. Genau die damit theoretisch konstituierte Verkoppelung der beiden Bereiche wird von literarischen Texten ins Fadenkreuz genommen. Die urzeitliche paternale Herrschaft und der daraus resultierende Vatermord werden zum Movens der abstrakten, ontogenetisch verinnerlichten Gewalt, die bis zur Freudschen Gegenwart die Entwicklung der Menschen determiniert. Auch und gerade in ihrer scheinbaren Absenz kann väterliche Macht dingfest gemacht werden. Hinter den sexual- und 27

Freuds »Lösung« ist hier stark zu kontextualisieren, sie basiert auf evolutionstheoretischen Konzepten (vor allem natürlich auf Charles Darwins: The Descent of Men, and Selection in Relation to Sex. 2 Bde. London 1871), aber auch auf Bachofens Überlegungen zum Mutterrecht.

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entwicklungstheoretischen Vorgaben findet sich die »Souveränität« (im prä-politischen Sinne) des Vaters, die hier als vorgängig »entlarvt« wird. Dieses Phänomen korrespondiert zudem auffällig mit der Verbergungsund subtilen Entbergungsstrategie der hier vorliegenden Texte. Auch in diesem Sinne ist eine konkrete Historisierung von Freuds Thesen im sozialgeschichtlich-kulturellen Umfeld des 19. Jahrhunderts naheliegend. Freud mag keine urgeschichtlichen Wahrheiten zu Tage fördern, bietet aber (bemessen an den Kriterien, die von der Literatur etabliert werden) mit der Beschreibung eines Abstrahierungsvorgangs der väterlichen Gewalt, ihrer Herrschaftsspezifika und ihres Anspruchs auf Sexualitätsregulierung ein erstaunlich akkurates Bild paternaler Macht um 1900. Freuds Sondierung der Vaterrolle (und die Folgen ihrer »Entlarvung«) lassen sich zeitgenössisch aber mit Blick auf die souveräne Gewalt noch konkreter fassen. Als ein explizites Brückenglied zwischen Theorien der Souveränität, die sich auf Freud beziehen, und Freuds anachronistischer VatermordHypothese, lässt sich Paul Federns ›Die vaterlose Gesellschaft‹ anführen. Explizit leistet Federn nämlich 1919 den Transfer des Mythos auf die Sphäre der Politik und Regierungsformen und macht deutlich, dass um 1900 eine Beziehung zwischen väterlicher Macht und Herrschaft evident erschien, weniger im Sinne der Analogie, als vielmehr homologisch als soziohistorische Ausbildung spezifischer Autoritätsstrukturen im Kontext der Familie. Natürlich ist bei Federns Überlegungen historisch der Erste Weltkrieg und die Revolution als maßgebliche Zäsur mitzudenken, insofern beides historische Tatsachen schafft, die auch die Koordinaten von Herrschaftskonzeptionen noch einmal verschieben. Nichtsdestoweniger bilden sich spezifische Deutungsstränge kohärent und konsistent weiter aus, weshalb hier ein kurzer, vorgreifender Blick auf Federns nachrevolutionären Text lohnt. Die historische Wirklichkeit bleibt dabei – selbstverständlich – heteromorph: Rebecca Heinemann etwa hat die diversen, öffentlich artikulierten Erwartungen an die konkreten Familien mit besonderem Blick auf die katholischen und sozialdemokratischen Familien in der Weimarer Republik nachvollzogen28 und zum einen gezeigt, wie zentral die Familie für die öffentliche Debatte bleibt, zum anderen aber auch, wie stark die kon28

Vgl. darin auch besonders das Kapitel zu ›Familie und Erster Weltkrieg: Die erträumte Familie und ihre Wirklichkeit‹: Rebecca Heinemann: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik. München 2004, S. 21–65.

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kreten Vorstellungen von ihr differieren.29 Zugleich kann Heinemann dokumentieren, wie der Bedeutungsverlust der Familie mit der »Hochschätzung der Familie« korrespondiert. Die vielfach konstatierte »Familienkrise«, die mit der (durch den Krieg zusätzlich geförderten) Destabilisierung des Modells einhergeht, bringt eine gesteigerte Erwartungshaltung an die »Familie« und ein neues »Bewusstsein der Notwendigkeit staatlicher Intervention im familialen Raum« hervor.30 Der prominenten Stellung, die der öffentliche Diskurs in der Weimarer Republik dem historisch bedrohten Muster ›Familie‹ grundsätzlich konzediert, entspricht das hier nachvollzogene literarische Ringen um die (Erhaltung, Revitalisierung oder gänzliche Neuausrichtung der) Stellung des Vaters, dessen spezifische Position nicht erst durch Krieg und Revolution in ihren Fundamenten erschüttert ist.31 Diese sozialgeschichtlichen Befunde schreiben sich in das Oszillationssymbol ›Vater‹ ein; im Folgenden geht es allerdings, da die komplexen historischen Prämissen nicht im einzelnen ausgeführt werden können, um eine spezifische diskursiv-konterdiskursive Kontinuität,32 die nicht notwendigerweise mit den tages- und parteipolitischen Forderungen und Realitäten koinzidieren muss, sondern exemplarische, tradierte Paradoxe und ihre spezifischen Parameter unter den neuen Bedingungen weiter ausleuchtet. Federn versucht nun im Rekurs auf die Psychoanalyse, die Ereignisse um 1918/19 (im besonderen Streik und Räteorganisation) zu untersuchen, und geht dabei von der »Binsenweisheit« aus, dass zum einen die staatliche Einordnung die familiäre imitiere und dass zum anderen die filiale Stellung zum Vater Grundlage allen Autoritätsrespekts im Kind bilde:33 »Nun repräsentieren aber diese psychischen Vaterbilder gemeinsame gesell29

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Zur sozialgeschichtlichen Realität vgl. exemplarisch Heidi Rosenbaum: Proletarische Familien. Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orientierung. Frankfurt am Main 1992; zur bürgerlichen Familie vgl. Reinhard Sieder: Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. Familien in Deutschland und Österreich. In: Geschichte der Familie. Bd. 4: 20. Jahrhundert. Hrsg. von André Burguière, Christiane Klapisch-Zuber, Martine Segalen, Francoise Zonabend. Frankfurt am Main, New York 1998, S. 211–284; zum Verhältnis bürgerlicher und adeliger Familien vgl. Die Familie in der Geschichte. Hrsg. von Heinz Reif. Göttingen 1982. Heinemann, Familie, S. 293. Zu diesem Zeitpunkt kommt dementsprechend der Terminus »Familienpolitik« auf. Heinemann geht in ihrem Fokus auf die öffentliche Debatte von einer deutlicheren Zäsur aus. In meiner Arbeit wurde bereits mit Blick auf Fontane deutlich, dass schon im Kaiserreich familiale Konstruktionen substantiell destabilisiert scheinen. Diese Kontinuität soll hier von Walter Hasenclevers ›Der Sohn‹ (1913/14) bis zu Werfels ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‹ (1920) verfolgt werden. Paul Federn: Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft (1919). In: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 1/2 (1988), S. 13–33, hier S. 16.

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schaftliche Institutionen und vereinigen so alle die einzelnen Söhne zu Untertanen des väterlichen Autoritätsstaates.«34 Federn führt aus, dass die kindliche Erfahrung des konkreten Vaters schließlich von der konzeptuellen Wahrnehmung des »riesengroßen Vaters« in eine Enttäuschung umschlägt, die eine Ersetzung der konkreten Vaterfigur notwendig macht: »Nationale Helden und Führer sind übermenschliche erhöhte, aber erreichbare Vatergestalten.«35 Aus dieser Konstellation schlussfolgert Federn nun mit Blick auf das vergangene Jahrhundert, dass die »allgemeine Vatereinstellung« Schuld daran sei, dass sich die soziale Ordnung für so lange Zeit habe erhalten können. Nun stehe man vor dem Problem, eine vaterlose Gesellschaft kreieren zu müssen – in Inkongruenz zur historisch-realen Situation in der Familie.36 Damit deutet Federn zugleich an, dass die Vaterordnung sich zwar auf einer familialen Ordnung gründe, beide Ordnungen allerdings ersetzt und verändert werden können – im Falle der Familie geht er sogar von einer zu erbringenden Adaptionsleistung aus. Die patriarchalische Familienstruktur scheint bei ihm angesichts des Umsturzes ihren (noch von Stifter propagierten) Wert eingebüßt zu haben. Das Vorrangige und Vorbildliche – ein auffälliger Wendepunkt im Vergleich zum 19. Jahrhundert – wird in der neuartigen Staats- und Regierungsform gesehen. Federn setzt nichtsdestoweniger eine »vererbte« Vatereinstellung voraus, die sich gefühlsmäßig intensiviere, wenn die »Gefühlsstärke« der »patriarchalischen Gesamtautorität«37 entzogen wird. Das Vater-Sohn-Modell habe die »schwerste« Niederlage erlitten, sei aber so tief in der Menschheit verankert, dass letztlich »auch diesmal« verhindert worden sei, dass eine vaterlose Gesellschaft etabliert werden könne.38 Auch Federn nimmt an, dass die patriarchalische Staatsstruktur die Gefühlsstärke aus den privaten Systemen 34 35

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Federn, Vaterlose Gesellschaft, S. 18. Federn, Vaterlose Gesellschaft, S. 18. Er weist zugleich darauf hin, dass nur der Vatergott die Enttäuschung vermeiden kann, die irdische Väter früher oder später bereithalten. Daraus leitet Federn die enge Verbindung von Kirche und Staat im Obrigkeitsstaat ab. Das versteht Federn als Problem und deutet eine notwendige Komplementarität der Sphären Politik und Familie an, wobei sich die Familie der nunmehr faktisch im Rätesystem etablierten Bruderstruktur anpassen müsse, möglicherweise – so Federn – auch über einen Rekurs auf das Mutterrecht. Federn, Vaterlose Gesellschaft, S. 31. Federn, Vaterlose Gesellschaft, S. 33. Ein Gegenbeispiel (auch zu den Tendenzen, den Verlust öffentlicher Vaterkonstrukte durch eine verstärkte Anhänglichkeit an den realen Vater zu kompensieren und damit alles Interesse für »alle gemeinsamen Erfolge und Gefahren« zu verlieren, S. 31) sieht Federn in »Amerika« und vermutet, dass dies möglich sei, weil die dortige Jugend das Objekt ihres Vaterhasses gleichsam (auch gerade geographisch) hinter sich gelassen habe. S. 32.

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abgezogen hat und konstatiert damit indirekt die Abstrahierungsprozesse, die Vaterliebe durchläuft. Diese Entemotionalisierung wird nun im Zuge der Revolution und des Sturzes der »Ersatzvaterbilder« reversibel. Die Ambivalenz des Vaters, aber auch die Dualität von Vater und »Ersatzvater« (oftmals in einer Person), wie sie Federn im Anschluss an Freud vorschlägt, sind für die Analyse der folgenden Texte analytisch unentbehrlich. Freud hatte mit seiner Totemtheorie ein männliches Ordnungssystem etabliert, dem der Vater integral einschrieben bleibt und auf diese Weise den symbolischen Mehrwert der Vaterfigur individual-pathologisch und kulturell festgelegt. Literarisch wird die Krise greifbar im Expressionismus, der aufzeigt, wie letztlich die höchste Ausprägung von väterlicher Macht (wie sie hier in den Texten diagnostiziert wird) zu einer intrinsischen Schwächung des Konzeptes führt. Väterliche Herrschaft hatte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts gerade aufgrund der Personalisierung von Herrschaftsstrukturen revitalisiert – eine spezifische Konstruktion, die bereits um 1800 in der Literatur problematisiert wurde. Die Vatermordszenarien des Expressionismus erscheinen als Rekurs auf die eben beschriebenen Probleme. Die Texte operieren dabei mit einem Entkoppelungsverfahren: Väterliche Macht wird als abspaltbar von der reinen, »gesellschaftsfernen« Vaterliebe oder einer elementaren »biologischen« Verbundenheit inszeniert. Damit wird auch die politische Machtformation, die sich über das abstrakte Vatermodell definiert, zunehmend inakzeptabel; Souveränitätskonzepte verändern sich, indem sie dezidiert von der patriarchalischen Herrschaft abgekoppelt werden.39 Otto Gross ist dabei eine wichtige Vermittlungsfigur zwischen Psychoanalyse und Expressionismus.40 Seine direkte Verknüpfung von psycho39

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Sie werden dabei insgesamt stärker auf charismatische Erlöserkonzepte transponiert: Max Weber etwa grenzt in seiner Herrschaftssoziologie bzw. -typologie von einer bürokratischen, rationalen Herrschaft sowohl die charismatische Herrschaft (als kollektive Verpflichtung auf den freien Willen einer Führungspersönlichkeit) und traditionale Herrschaft (als Festhalten an herkömmlichen Autoritätsstrukturen) ab. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 3Frankfurt am Main 2005. Vgl. zu einer genaueren Analyse des Konzepts des Charismas auch Clifford Geertz: Centers, Kings, and Charisma. Reflections on the Symbolics of Power. In: Rites of Power. Symbolism, Ritual, and Politics Since the Middle Ages. Hrsg. von Sean Wilentz. Pennsylvania Press 1985, S. 13–38. Vgl. dazu exemplarisch Francis Michael Sharp: Expressionism and Psychoanalysis. In: Pacific Coast Philology 13 (1978), S. 94–100. Zudem auch die stark resümierende Monographie von Jennifer E. Michaels: Anarchy and Eros. Otto Gross’ Impact on German Expressionist Writers. New York, Bern, Frankfurt am Main 1983.

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analytischem Zugriff und politischem Anspruch, die ihn beruflich kompromittierte, ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich, insofern genau die Felder in einer kontroversen Form verschaltet werden, die sich auch bei der literarischen Dokumentation der Vaterrolle als maßgeblich erweisen. Gross versteht die Psychologie als »Vorarbeit der Revolution«:41 Es ist keiner der Revolutionen, die der Geschichte angehören, gelungen, die Freiheit der Individualität aufzurichten. […] Sie ist zusammengebrochen, weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich selbst trug. Man kann jetzt erst erkennen, daß in der Familie der Herd aller Autorität liegt, daß die Verbindung von Sexualität und Autorität, wie sie sich in der Familie mit dem noch geltenden Vaterrecht zeigt, jede Individualität in Ketten schlägt.42

Die in den Texten des 18. Jahrhunderts implizierte Ermöglichungsstruktur von Vaterschaft, die Individualität und Integration konzedieren kann, ist hier vollständig zurückgenommen und invertiert. Es geht Gross um die Befreiung der vom eigenen Unbewussten gebundenen Individualität, deren Konflikte sich vor allem als Konfrontation von Sexualmoral und Sexualität bestimmen lassen (die sich wiederum aus einer Kollision von Eigenem und Fremdem ableiten): »Der Konflikt der Individualität mit der ins eigene Innere eingedrungenen Autorität ist mehr als jemals sonst der tragische Inhalt der Kindheitsperiode.«43 Diese Autorität wird mit dem Vaterrecht als einer grundsätzlich revisionsbedürftigen Struktur verknüpft. Gross legt in diesem Sinne nahe, dass die kommende Revolution eine Revolution für das Mutterrecht sein werde: Der Rekurs auf die gesellschaftlich unkompromittierte Rolle der Mutter, deren Distanz zu konventionellen Herrschaftspraktiken sich hier von Vorteil erweist, erlaubt einen Ausweg aus dem repressiven Familienverständnis.44 Auch hier wird so die Krise der väterlichen Autorität hervorgehoben und vor allem im Widerstreit von individueller Sexualität und ihrer internalisierten, paternalen Repression im Sohn verdichtet. Die Sexualmoral der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist – Gross’ These zufolge – aufgrund der autoritären Sozialisation in das Individuum hineingewandert.

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Otto Gross: Zur Überwindung der kulturellen Krise. In: Die Aktion 3 (1913), Sp. 384–387, hier 385. Gross, Überwindung der kulturellen Krise, S. 150. Gross, Überwindung der kulturellen Krise, S. 149. Vgl. dazu auch die Argumentation von Walter Erhart, der die Stellung des Mutterrechts bei Werfel besonders hervorhebt, Erhart, Familienmänner, S. 380–381.

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3.

Walter Hasenclevers ›Der Sohn‹

Besonders greifbar wird dies in den Dramen, die sich auf die Konfrontation zwischen Vater und Sohn konzentrieren. Hier erweist sich Walter Hasenclevers Drama ›Der Sohn‹ von 1913/1445 als aufschlussreich, nicht nur als Paradestück des Expressionismus, sondern vor allem als intertextueller Verweis auf Schillers ›Don Karlos‹. Ladislaus Löb46 hat bereits auf diesen Zusammenhang verwiesen.47 In diesem Kontext sind neben offensichtlich vergleichbaren Personen- und plot-Konstellationen vor allem auch die Verschiebungen entscheidend. Der Sohn versagt in Hasenclevers Stücks im Abitur, bekundet amouröses Interesse an seiner vom Vater eingestellten Erzieherin und lässt sich vom Freund, der wiederum ganz eigene Ziele verfolgt, überzeugen, in einem Club eine revolutionäre Rede gegen die Väter zu halten. Schließlich kommt es zur Konfrontation zwischen Vater und Sohn, aus welcher der Sohn als Sieger hervorgeht. Statt vom Sohn erschossen zu werden, wie es dieser androht, stirbt der Vater jedoch an einem Herzanfall. Hasenclevers Text speist sich – nicht nur mit Blick auf Schillers ›Don Karlos‹ – aus klassischen literarischen Bezugsquellen: So erwägt der Sohn nach seinem schulischen Misserfolg, Selbstmord zu begehen, wobei sich der entsprechende Monolog offensichtlich an Goethes ›Faust‹ orientiert.48 Der Freund, der unmittelbar nach den Selbstmordüberlegungen zum Sohn hinzu stößt, konstatiert: »Du verdankst dein Leben einem Plagiat am Faust. Darfst du noch immer nicht Goethe lesen?« (DS 243) Dabei ist es nicht nur der unbewusste (da vorenthaltene) Bezug zur Tradition, son45

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Walter Hasenclever: Der Sohn. In: Sämtliche Werke. Stücke bis 1924. Hrsg. von Dieter Breuer, Bernd Witte. Berabeitet von Annelie Zurhelle und Christoph Brauer. Bd. II.1. Mainz 1992. Im Folgenden zitiert als DS mit der entsprechenden Seitenzahl. Ladislaus Löb: »The second time as farce«? Hasenclever’s ›Der Sohn‹ and Schiller’s ›Don Carlos‹. In: The Modern Language Review 88/2 (1993), S. 375–388. Vgl. auch Jost Hermand, der auf diese Reminiszenz verweist: Ödipus Lost. Oder der im Massenleben der Zwanziger Jahre ›aufgehobene‹ Vater-Sohn-Konflikt des Expressionismus. In: Die sogenannten Zwanziger Jahre. Hrsg. von Reinhold Grimm, Jost Hermand. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970, S. 203–224, hier S. 209. Vgl. bereits die Rezension von Hanns Sachs: Der Sohn. Drama in fünf Akten von Walter Hasenclever. Verlag Kurt Wolff, Leipzig [1914]. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Hrsg. von Sigmund Freud. Redigiert von Otto Tank und Hanns Sachs, 5/1 (1917), S. 43–48. Sachs hebt dabei auch hervor, wie das Private im Verlauf immer stärker vom Politischen überlagert wird. Norbert Oellers hat die Parallelen ausführlich hervorgehoben und interpretiert, vgl. Oellers: ›Der Sohn‹. Walter Hasenclevers ›Faust‹-Versuch. In: Avantgarde, Modernität, Katastrophe. Letteratura, Arte e Scienza fra Germania e Italia nel primo ,900. Hrsg. von Eberhard Lämmert, Giorgio Cusatelli, Heinz-Georg Held. Florenz 1995, S. 169–178.

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dern gerade auch ihre aktive Veränderung,49 die mit Blick auf das Ende zum Tragen kommen wird. Der Plagiatsvorwurf, der dem Sohn Imitation unterstellt, ohne dass er den Text kennt, indiziert dabei die universale Geltung und Wahrheit, aber auch die Resistenz und Beständigkeit des Originals; zugleich wird in dem Kommentar das grundsätzlich Epigonale der Traditionsverhaftung erkennbar, der nun die totale Umkehrung entgegengehalten wird.50 Schillers Text wird für Hasenclevers plot also zunächst als kontrastive Folie entscheidend. Löb hat die Ähnlichkeiten bereits zusammengefasst: Der frustrierte Protagonist unterhält jeweils eine als (mit Blick auf den tyrannischen Vater) problematische quasi-inzestuöse Beziehung zur Stiefmutter (›Don Karlos‹) bzw. dem Fräulein, unter dessen Obhut er sich befindet (›Der Sohn‹). Hinzukommt ein Freund (Posa/ DER FREUND), welcher der emotionalen Richtungslosigkeit vorübergehend ein neues, allgemeineres Ziel (das Schicksal Spaniens bzw. die Rede gegen die Väter) gibt. Löb weist darauf hin, dass beide Söhne gleichzeitig eine Annäherung an den Vater versuchen und beide gleichermaßen zurückgewiesen werden. Die Eboli findet bei Hasenclever ihre ironische Entsprechung in der Prostituierten Adrienne, welcher der Sohn nach seinem Ausbruch aus dem väterlichen Haus begegnet, und wie in ›Don Karlos‹ begeht der »Freund« Selbstmord. Allerdings wird die ultimative Konfrontation zwischen Vater und Sohn bei Hasenclever in einer quasi revolutionären Klimax anders gelöst als mit Schillers evolutivem Zugriff. Schillers Ende verweist auf die (zeitverzögert erfolgende) Umsetzung von Don Karlos’ und Posas Zielen und bindet so die historische Entwicklung als providentiell-geschichtliche Legitimation der filialen Forderungen mit in sein Drama ein.51 Der intertextuelle Bezug, der auf eine fast vollständige Duplikation der dramatis personae und der wesentlichen Aspekte des plots hinausläuft, lenkt das Augenmerk besonders auf die Unterschiede. In ›Don Karlos‹ führt die duale Rollenanlage der Figuren dazu, dass alles Öffentliche zugleich privat motiviert ist. Wie ausgeführt, erweist sich so gerade die Intimsphäre als der Ort, an dem Ideale vorexerziert und vorbereitet werden 49

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Die hier relevante Tat-Philosophie, die der Sohn in diesem Sinne gegenüber dem Vater stark macht (»Dein Intellekt reicht nicht aus zum Gedanken, so beuge dich vor der Tat«, DS 318), ist nicht nur ein Rekurs auf vitalistische Konzepte, sondern erinnert auffällig an Freuds Formulierung »Am Anfang war die Tat« in ›Totem und Tabu‹: Vgl. auch Breuer, Schopenhauer, S. 525–526. Das elterliche Leseverbot des ›Fausts‹ verweist im Übrigen auf dessen inhärente Sexualität, ein Topos, der etwa auch in Frank Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹ entscheidend wird. Vgl. dazu ausführlicher Löb, »The Second Time as Farce«, S. 376–377.

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müssen. Ein Jahrhundert später hat sich dieses implizite Postulat weitgehend verschoben und indiziert damit auch eine grundsätzliche Veränderung der Rahmenbedingungen. Wenn in ›Don Karlos‹ die politische Handlung einer Erdung im Privaten bedarf (bzw. dort letztlich durch private Missverständnisse scheitert), ist in ›Der Sohn‹ das Bürgerlich-Private bereits eine politische Größe. Die Befreiung aus den Fesseln der heimischen Tyrannei wird als Prämisse für die persönliche Erlösung und zugleich den Umsturz eines per se repressiven Systems verstanden. Während bei Schiller das Individuum und seine intime Interaktion zum Ausgangspunkt einer evolutiven Herausbildung eines adäquaten Sozial- und Staatssystems wird, gilt es bei Hasenclever, eben den Sohn als autonome Person überhaupt erst zu rekonstruieren bzw. zu etablieren. Er steht versehrt im Kontext einer väterlichen Tyrannei, die sich weniger als individuelle, sondern vielmehr als systemische (gesellschaftlich-öffentliche) erweist. Damit kehrt sich Schillers Reihenfolge um: Zuerst muss das gesellschaftliche Joch (in Form des Vaters) abgeschüttelt werden, dann kann sich der Sohn als unabhängige Person (re-)konstituieren. Individualitäts- und Wertebegriff haben sich dabei notwendiger Weise von Schillers Definition weit entfernt; das individuelle Ringen um Befreiung findet zudem vor dem Hintergrund einer Lebensphilosophie statt, die das Leben als unifizierende Kraft versteht. In diesem Sinne werden textliche Konzepte wie »Alleinheit und heimliche Teleologie«52 auf ihren zeitgenössischen Hintergrund hin transparent. Schillers selbst-evidente Moralkonzepte werden in der textlichen Verschaltung bei Hasenclever von einer Vitalismus-Vor-

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Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1998, besonders S. 21–35, hier S. 21. Die Teleologie, die der Evolutionstheorie ja eigentlich entgegenläuft, wird über ein spezifisches Konzept der progressiven Selektion durch die Hintertür wieder eingeführt. Sprengel verweist hier besonders auf den Einfluss von Ernst Haeckel und Wilhelm Bölsche. Vgl. dazu auch Antoon Berentsen: »Vom Urnebel zum Zukunftsstaat«. Zum Problem der Popularisierung der Naturwissenschaften in der deutschen Literatur. 1880–1890. Berlin 1986. Ingo Stöckmann verweist auf das »Leibgedächtnis«, das bei Bölsche zwischen Darwinismus und einem Monismus vermittelt, der auch hier bei Hasenclever greift. Stöckmann: Im Allsein der Texte. Zur darwinistisch-monistischen Genese der literarischen Moderne. In: Scientia Poetica 9 (2005), S. 263–291, hier S. 267. Vgl. dazu auch Peter Sprengel: Vom ›Ursprung der Arten‹ zum ›Liebesleben in der Natur‹. Metaphysischer Darwinismus in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. In: »Scientia poetica«. Literatur und Naturwissenschaft. Hrsg. von Norbert Elsner, Werner Frick. Göttingen 2004, S. 293–315, wo Sprengel auf den implizierten Monismus allgemein und die Spiritualisierung durch Ernst Haeckel verweist, der mit seinen Kunstformen der Natur den »sakralen Nimbus des Schöpfungsgedanken« (ebd., S. 297) unter anderen Prämissen imitiert.

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stellung53 abgelöst, mit der die Bestrebungen des Sohnes (quasi biologisch) legitimiert werden.54 Die »Macht des Daseins« ist dabei eine omnipräsente Größe im Text, wie der Sohn nach seinem Selbstmordversuch festhält: »Schon hat für mich das Diesseits begonnen. Hilf mir die kommende Erde empfangen! Du sahst ein Kind sterben, das mich vom Tode erlöst hat. Aus seinen kleinen Händen ist die Macht des Daseins über mich gefallen, wie ein goldener Regen auf die Saat der Hirten.« (DS 244) Auf der Basis der Einheitsvorstellung alles Lebenden versteht der Sohn seine virtuelle Wiedergeburt als Daseinstransfer, bei dem eben jene »Macht des Daseins« plötzlich erkennbar wird.55 Durch seine telepathische Vision wird diese All-Einheit spirituell aufgeladen und textlich aufgewertet. Das Dasein, vor dessen »Gift« (DS 244)56 ebenso nachhaltig gewarnt wird, erscheint noch deutlicher über die Sexualität zugänglich.57 Diese fällt – in Analogie zu Freud – unter den Monopolanspruch des Vaters und wird dem Sohn systematisch vorenthalten: »Weshalb spricht er [der Vater] nicht von Frauen?« (DS 239) fragt der Sohn den Hauslehrer und deutet an, dass mit dem väterlichen Schweigen zu diesem Thema das Wesentliche gegenüber dem Peripheren vernachlässigt wird. Die erotische Begegnung mit dem Fräulein erweist sich für den Sohn in diesem Sinne als Befreiung von den paternalen Vorrechten und Tabus: »Welche Wollust, ihn zu betrügen! […] Ich bin nicht mehr der Verachtete. Ich 53

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Vgl. dazu Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart 1971. Das komplexe philosophische Konglomerat dieser Zeit wird bei Thomas Anz knapp zusammengefasst: Anz: Expressionismus. Stuttgart 2002, S. 49–60. Zu der besonderen Rolle Nietzsches in dieser Strömung vgl. Alexander Hogh: Nietzsches Lebensbegriff. Stuttgart 2000. Zu Hasenclever vgl. überdies Dieter Breuer: Rückkehr zu Schopenhauer. Die Auseinandersetzung mit Vitalismus und Aktivismus in Walter Hasenclevers Dramen. In: Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter. Hrsg. von Hans-Pater Bayerdörfer, Karl-Otto Conrady, Helmut Schanze. Tübingen 1978, S. 238–257. Der sozialen Hierarchie wird dabei eine biologische Ideologie der Jugend überstülpt, wie der Sohn dem Vater gegenüber eigens betont: »und ich bin doch mehr als du! […] Unter uns trat Schicksal. Gut. Ich lebe länger als du!« (DS 263) Vgl. dazu auch besonders aussagekräftig Arnolt Bronnens Drama ›Die Geburt der Jugend‹ (1922). Ein sterbendes kleines Mädchen (ein reales Unfallopfer, von dem der Sohn in der fiktiven Realität des Textes nichts wissen kann) übereignet ihm in diesem Sinne das »Dasein«. Die Euphorie, die sich in der entfesselten Begegnung mit dem Fräulein spiegelt, kommentiert der Freund zuvor wiederum im Rekurs auf die ewigen Anziehungskräfte, die hier dem repräsentativen Anspruch des Stückes entsprechen: »Du wirst einmal erfahren, weshalb Gott alle Frauen eins sein läßt – zum Fluch und zum Segen.« (DS 246) Wilhelm Bölsche etwa verbindet den Menschen über die Sexualität mit anderen Bereichen der Natur. In: Liebesleben in der Natur. Eine Entwickelungsgeschichte der Liebe. 2 Teile [in 3 Bdn]. Leipzig 1898.

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werde Mensch!« (DS 253) Insofern das Fräulein als die Vertraute des Vaters eingeführt wird, sind die ödipalen Implikationen evident. Bei der Liebesbegegnung mit der väterlichen Vertrauten, die als stimulierende Wettkampfsituation mit dem Vater inszeniert wird, erfährt der Sohn dann auch epiphanisch die Macht des Daseins: »Wieviel Unvergängliches ist in uns!« (DS 252) Und später: »Geburt und Dasein – O Seligkeit! Ich werde ewig – ewig sein –« (DS 256).58 Die Auflösung in ein entgrenzendes »Dasein« bietet die ultimative Erlösung von gesellschaftlichen Identitätsvorgaben. Die zentrifugalen Kräfte, die hier wirken, sind von Schillers zentripetalen Individualisierungsvorgaben denkbar weit entfernt. Auf die spezifische regenerative Dimension, die dem Erstgenannten anhängig ist, wird gleich mit Blick auf Franz Werfels Erzählung ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‹ zurückzukommen sein. Gerade vor diesem grundsätzlich unterschiedlichen Hintergrund fällt auf, dass die Konflikte von Individuum und Gesellschaft zu ähnlichen Schlussfolgerungen mit Blick auf das Vater-Sohn-Thema führen. Als erstaunlich konstant in beiden Stücken erweist sich die Hoffnung, im Vater einem »menschlichen« Gegenüber zu begegnen, das statt »Strenge« »Humanität« walten lässt. Karlos’ politischem Appell auf der Basis der Menschlichkeit steht in ›Der Sohn‹ ebenfalls eine Forderung nach menschlicher Gleichheit gegenüber, dieses Mal unmittelbar auf das Umfeld der Familie und die hierarchische Ungleichheit zwischen Vater und Sohn bezogen. Im Rückbezug auf ›Don Karlos‹ wird damit das Problem der Ungleichheit noch einmal zugespitzt auf das Vater-Sohn-Verhältnis. Gerade im Kontext von Karlos’ und Posas politischen Zielvorgaben gewinnt das Freiheitspostulat des Sohnes intertextuell ein neues, analytisches Gewicht, insofern jene historische Ungleichheit auch hier in einer privaten Herrschaftsstruktur reproduziert wird: »Papa, ich hatte anders gedacht, heute vor dir zu stehn. Fern von Güte und Strenge, auf jener Waage mit Männern, wo der Unterschied unseres Alters nichts mehr wiegt. […] O Verblendung, die du Verantwortung nennst! O Eigennutz, Väterlichkeit!« (DS 258–259) Der Orgelpunkt des Dialogs zwischen Vater und Sohn bleibt durchgehend die Forderung nach einer verbindenden, unhierarchischen Menschlichkeit: »Bist du nicht auch nur ein Mensch, und bin ich nicht deinesgleichen?« (DS 260), »Nimm mich an als Mann!« (DS 262), kulminierend in einer (tatsächlich frappant an Posas Rhetorik 58

Darin wird auch gewissermaßen die ödipale Situation verdichtet und aufgelöst: »Auch deine Mutter war eine Frau wie sie. Du wirst ihr Kind sein.« (DS 247)

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erinnernden) Beschwörung: »Zerreiße die Fesseln zwischen Vater und Sohn – werde mein Freund.« (DS 262) In ›Don Karlos‹ steht am Anfang der politischen Erneuerung die Forderung nach einer intakten individuellen Identität, die Ausdruck findet in der impliziten Kritik an der gesellschaftlichen Nahwelt des emotional korrumpierten Hofes. Als Beleg der individuellen Verstümmelung arbeitet der Text die Menschlichkeit des Königs heraus, dessen förmliche gesellschaftliche Rolle den Menschen erstickt – die Katastrophen des Textes gehen von dieser gesellschaftlichen Verkümmerung der Person aus. ›Der Sohn‹ ist nun offensichtlich kein Königsdrama, knüpft aber nichtsdestoweniger an eine Rollenrealität an, die sich von Philipps tragischer Funktionsdualität nur unwesentlich entfernt hat. Dabei richtet sich die Vaterfeindlichkeit der Expressionisten gegen die soziale Vaterrolle, von der sich – genau wie in ›Don Karlos‹ – der individuelle Vater unterscheiden lässt. Selbst in dem wohl skandalträchtigsten Stück des Expressionismus bleibt somit hinter der väterlichen Fassade ein Individuum erkennbar, das mit Verunsicherung und Regeln ringt, an deren fatalen Folgen er schließlich konsequent selbst zugrunde geht.59 Während der Vater seine Hauptaufgabe als Disziplinierung versteht (»ich hätte dich strenger erziehen sollen«, DS 262),60 erkennt der Sohn eine andere substantielle Grundlage ihres Verhältnisses. Eine zärtliche Geste des Vaters wird in diesem Sinne zu einer existentiellen Aufwertung des eigenen Lebens: »Er hob mich an seine Brust – da wußt ich, daß ich lebte, daß ich war.« (DS 256). Wenn der Sohn sich vom Vater lossagt, von seiner »Tyrannenhand« und seinem »graumelierte[n] Haar« (DS 265), rekurriert er damit auch auf zwei Topoi, die den wohlmeinenden, zärtlichen, aber auch greisen Vater61 gegen den mächtigen Tyrannen abgrenzen. Dass aber beide Eigenschaften, unabhängig von der Wahrnehmung des Sohnes, nach wie vor im Vater vereinigt sind, beschreibt die Paradoxie bzw. hier die Fehlentwicklung der Vaterrolle. 59

60

61

Mit dem Vater wird nur partiell ein überlebensgroßer Tyrann eingeführt; immer wieder wird eine humane Seite des Vaters erkennbar: Das Fräulein zumindest zeichnet das vorteilhafte Bild eines altruistischen und aufopfernden Arztes, wobei sie resümierend hervorhebt, dass der Vater mehr Gutes getan habe als sie und der Sohn. (Vgl. DS 253) Der Vater selbst bekennt sich dabei zu dieser Liebe, aber versteht die Pflicht als das Vorrangige: »Ich habe meine Pflicht getan, das war mir das Höchste. Und du machst hier einen Unhold aus mir und bedenkst nicht: ich habe an deiner Wiege gestanden, und du warst geliebt.« (DS 264) An zentraler Stelle kommt dies auch in Schillers ›Räuber‹, nämlich in Karl Moors Traum von seinem Vater vor, der »eine Loke von seinem silbernen Haupthaar« schnitt (NA 3, 119) und sie in die Waagschale von Karls Sünden wirft. Der Verrat am zärtlichen Vater verdichtet sich in diesem Bild bei Hasenclever und lädt die Referenz auf das graumelierte Haar in ambivalentem Sinne auf.

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Vaterschaft als emotionale Bindung und Vaterschaft als Herrschaftsobligation treten hier in einem Individuum erkennbar auseinander. Zugleich erscheint Vaterschaft schlechthin durch diese enge Kopplung von Paternalität und Herrschaft, ja die Überlagerung von Vaterschaft (als Individualisierungsmechanismus) durch die paternale Herrschaft als nachhaltig diskreditiert.62 Der Vater hat sich für den Sohn bereits zunehmend in »Gebote« verflüchtigt,63 er verliert den Sohn »in den Schneefeldern der Brust« (DS 265). – Die Omnipräsenz und Dominanz einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, mit der der individuelle Vater hier verschmolzen ist, könnte nicht eindringlicher formuliert werden. Diese Entwicklung macht noch einmal deutlich, dass um 1900 die väterliche Herrschaft in den Symbolisierungsprozessen an Evidenz und natürlicher Legitimation verloren hat. Die wichtige Schlussfolgerung, die in ›Der Sohn‹ gezogen wird, ist eine Inversion der Schillerschen Rückkopplung. Angesichts der totalen Kompatibilität zwischen der Legitimation von öffentlicher und privater Herrschaft hat die gesellschaftliche Öf62

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Vgl. dazu auch Arnolt Bronnens ›Vatermord‹ (1920), wo die Umkehrung der Vaterrolle innerhalb der Familie überdeutlich wird: Der Vater bemüht sich aus einem vorgängigen Anspruch mit wechselndem Erfolg um die bedingungslose Anerkennung bei seinen Kindern. Das Konzept »Vater« wird dabei in auffälliger Weise in seiner Dualität angegriffen, indem die väterliche Fürsorge zugleich als Instrument der Unterdrückung ausgewiesen wird. »WALTER: Vaterland ist das Land der Väter / FESSEL: Vaterland ist das Land wo die Väter fronen für ihre Söhne / WALTER: Und sie prügeln / FESSEL: Und sie ernähren […] / WALTER: Und sie knechten / FESSEL: Und sie erziehen / WALTER: Und sie hassen / FESSEL: Und für sie besorgt sind«. Arnolt Bronnen: Vatermord. Schauspiel in den Fassungen von 1915 und 1922. Hrsg. von Franz Peschke. München 1985, S. 165–167. Der Ausbruch aus der Vaterordnung gelingt über die Denunziation der väterlicherseits postulierten Zärtlichkeit; gleichzeitig wird die Familie als destruktiver Mechanismus entlarvt. Da der Vater die innerlich und äußerlich determinierte Macht vermengt und die Liebe unter Zwang restituieren will, werden beide Formen kontaminiert. Das Widersprüchliche seiner Rolle ist dabei unübersehbar. Er wird zum negativen Sinnbild einer Familie, die ihre hier explizit eingeforderte Kompensationsfunktion zu einem Unterdrückungsmechanismus umgebildet hat. Zugleich bezieht sich auch das Stück ›Vatermord‹, das so dezidiert mit Konventionen und Wahrnehmungsmustern des Kaiserreiches bricht, auf ein implizites Vatermodell, das Subordination in der Familie nur durch echte Zuneigung gewährleisten kann. Fessels Beziehung zu seinem jüngsten Sohn Rolf scheint in Teilen – sowohl mit Blick auf die Unterordnung des Sohnes als auch auf die Emotionalität des Vaters – eine schwache Reflektion dieses emotionalen Kerns der Vater-Sohn-Beziehung zu sein. Dabei wird in ›Vatermord‹ allerdings vor allem auch das Ideologische dieses Mechanismus betont. Der Vater als frustrierter Aggressor behauptet die Vaterordnung vor allem als Anspruch, den er allerdings nur partiell als Unterdrückung durchsetzen kann. Durch die Inversion des Legitimitätsmodells – der Machtanspruch wird von außen nach innen in die Familie getragen – erscheint er im Stück als Usurpator einer unzukömmlichen Autorität, dessen Entmachtung programmiert ist. »Ja, Vater, du bist mir gestorben. Dein Name zerrann. Ich kenne dich nicht mehr. Du lebst nur noch im Gebot.« (DS 265)

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fentlichkeit ihren vermeintlich natürlichen Ursprung eingebüßt. Sie kann nicht länger von der in ihrer individualisierenden Integrationskraft als Fiktion entlarvten privaten Väterlichkeit getragen werden. In ›Don Karlos‹ bestand in der Vermenschlichung von Herrschaft noch eine potentielle Rechtfertigung für die traditionellen Strukturen, die sich über die Väterlichkeit des Herrschers hätten rehabilitieren können. Auf dieser Basis wird ein phylogenetisches Entwicklungsmoment betont, das sich der Revolution um jeden Preis widersetzt und an ihre Stelle eine menschliche Annäherung im System vorschlägt – bei Hasenclever jedoch wird die bürgerliche Vaterschaft um ihrer inhärenten Herrschaftsmerkmale willen attackiert und als im Grunde gesellschaftlich-öffentliche Struktur entlarvt, die ausgehebelt werden muss. Beleg für die Revolutionsnotwendigkeit ist die bürgerliche Familie, insofern sich die familiäre Intimität – vermittelt über den Vater – als dem öffentlichen Normenbereich zugehörig erweist. An der Verdoppelung zwischen Struktur und Individualität arbeiten sich einige der Vater-Texte des Expressionismus ab und spalten dabei vom paternalen Herrschaftsanspruch unterschiedliche integrale Merkmale von Vaterschaft ab. ›Der Sohn‹ greift noch auf eine traditionelle Dualität zurück, indem das Drama den emotional erreichbaren Vater hinter dem »Herrscher« sichtbar macht und von der Revolte der Söhne indirekt die »moralischen« Väter ausnimmt, wie ausgerechnet der Kommissar (als paradigmatischer Repräsentant der öffentlichen Ordnung) ausführt und dabei zugleich verdeutlicht, dass die Grenzen zwischen repressiver gesellschaftlicher Öffentlichkeit und menschlicher Intimität bis zur Unkenntlichkeit verschwommen sind. Auf die artikulierte Furcht des Vaters vor der Anarchie antwortet der Kommissar abschwächend: »Ich kann sie über diesen Vortrag [die aufrührerische Rede des Sohnes] beruhigen. Er war nur gegen die unmoralischen Väter gerichtet. / DER VATER (höhnisch) Also gegen die Unmoralischen. Und die Regierung unterstützt das Treiben? Um so mehr ist es unsere Pflicht, sich gegen den Verrat in der eigenen Familie zu schützen.« (DS 314) Die bürgerliche Familie wird als moralische Kippfigur erkennbar: Während der Vater die Familie in tradierten rhetorischen Formeln als eigentlichen, moralisch selbst-evidenten Hort von Recht und Ordnung versteht, erscheint sie (aus der Sicht des Kommissars)64 als potentieller Ort des strukturell Unmoralischen. Nichtsdestoweniger bleibt damit eine von dieser Struktur emanzipierte Vaterschaft 64

Die Ansicht des Kommissars von häuslicher Machtverteilung invertiert die Einstellung des Vaters komplett: »Ich verstehe darunter [unter Söhnen] ein Wesen, das mir geschenkt ist, dem ich dienen muß.« (DS 314)

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denkbar, die sich aus der Pattsituation der bürgerlichen Familienhierarchie befreit, indem sie die Herrschafts- und Disziplinierungsvorgaben abstreift.65 Gleichzeitig kommt, wie schon zuvor erwähnt, eine neue Größe ins Spiel, die in Franz Werfels ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‹66 explizit als entscheidender Faktor eingeführt wird: die biologische Verbundenheit zwischen den Generationen und die biologisch indizierte (und metaphysisch aufgeladene) Entwicklungsfähigkeit (entgegen allen systemischen, sozialen Blockierungen). Walter Erhart ist diesem Phänomen in seiner Untersuchung zum literarischen Ursprung moderner Männlichkeit nachgegangen und deutet Werfels expressionistischen Vater-Sohn-Text als »neue familiale Imagination« in der Tradition des Familienromans: »das Phantasma einer Revolte, die zwischen Mutterrecht und Patriarchat wieder Männlichkeit produzier[t].«67

4.

Franz Werfels ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‹

Werfels Novelle knüpft mit Blick auf die Unterdrückung des Sohnes an Hasenclevers Drama an. Auch hier übersetzt sich die familiale Entfremdung konsequent in eine spätere, politische Aktivität des Sohnes im Zei65

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Generell fällt diese Aufrechterhaltung des Väterlichen auch mit Blick auf Ernst Barlachs Stück ›Der tote Tag‹ auf, in dem sich der Sohn von der Aufsicht der Mutter befreien will und sich im Verlauf der Suche nach einem mystischen paternalen Prinzip umbringt. Das Stück kulminiert in den Worten Steissbarts: »Sonderbar ist nur, daß der Mensch nicht lernen will, daß sein Vater Gott ist.« Ernst Barlach: Der tote Tag. In: Die Dramen. In: Das dichterische Werk in drei Bänden. Hrsg. von Friedrich Droß, Klaus Lazarowicz. Bd. 1. 4München 1985, S. 95. Auch dieses enigmatische Stück zirkuliert damit um die verschiedenen Dimensionen von Vaterschaft und demonstriert, dass auch die starke Position des abstrakten Vaters positiv gewertet werden kann, wie Barlach in einem Brief hervorhebt: »Mein Kernproblem ist dies: Wie kommt es, daß ich (oder sonst wer) Trieb und Zwang über mich hinaus empfinde? Fort vom Mütterlichen, vom Schmeichelnden, Wohlberatenen, Sich-aneinander-Genügenden und am Ende (in meinem Falle persönlich) weg von dem ewigen Sexuellen! Schluß: Etwas Fremdes, aber doch Verwandtes ist mein eigentliches Ich. Möglicherweise ein Göttliches über mir, das mich mahnt zu Höherem, oder sonst was Rätselhaftes in mir, das also Vaterstelle verträte.« Ernst Barlach an Julius Cohen, 22.–28.4.1916. In: Die Briefe 1888–1938 in zwei Bänden. Die Briefe 1888–1924. Hrsg. von Friedrich Droß. Bd. 1. München 1968, hier S. 480. Die Auseinandersetzungen mit modernen Paradoxen können insofern sehr unterschiedliche Stoßrichtungen annehmen, hier wird das gesamte paternale Konzept quasi apotheotisch von den beschriebenen Problemen bereinigt. Franz Werfel: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Eine Novelle [1919]. In: Die schwarze Messe. Erzählungen. Frankfurt am Main 1989, S. 214–335. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als NDM mit der entsprechenden Seitenzahl. Erhart, Familienmänner, S. 381.

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chen der Revolution;68 ebenso wie in ›Der Sohn‹ werden plakativ die emotionalen Defizite der Familie von Karl Duschek ausgeführt, dessen Vater eine (offensichtlich charakterdeformierende) militärische Machtposition im Kaiserreich bekleidet.69 In der hier relevanten Wendung ist es jedoch am Ende nicht Vater Duschek, der vom Sohn getötet wird, sondern ein gutmütiger Jahrmarktbudenbesitzer, »kein Kanzleifuchs, kein Kaisertyrann«: »Und doch, dieser gute, offensichtlich gutartige Mensch, weil er Vater war, hat er daran glauben müssen.« (NDM 326)70 Karl und sein Alter ego, der spätere Mörder August, sind durch einen »nervus magicus« verbunden, eine Verbindung, die initial bei Karls erstem, symbolischem Tötungsversuch des Vaters zustande kommt: August wird Zeuge, wie Karl an der Schießbude unerwartet den eigenen Vater mit dem Ball attackiert, statt auf die Figuren zu zielen. Nach diesem spontanen Übergriff mit unschädlicher Munition bricht Karl mit einem Nervenfieber zusammen, das die reale Aggression hinter der symbolischen Handlung verifiziert. Das Prinzip der sozialen Väterlichkeit erweist sich bereits angesichts des eruptiven Hasses Karls, der bei dieser initialen Gewalthandlung (und die dadurch vollzogene Aktivierung des »nervus magicus«) greifbar wird, als grundsätzlich problematisch; dies scheint auch zunächst in der persönlichen Entwicklung Karls bestätigt. Die unglückliche Liebe, die ihn in seiner politisch aktiven Zeit mit Sinaida71 verbindet, ist hier insofern 68

69 70

71

Er nimmt in einer Art logischen Transferleistung an einer politischen Verschwörung teil, deren Mitglieder den Mord des russischen Thronfolgers planen: Das Vaterprinzip ist in Duscheks Lesart ein primär politisches geworden, das im Prototyp des Generals als emotional defizitär ausgewiesen wird. Wie der Anführer der politischen Bewegung Chaim Leib Beschützer ausführt: »Die Patria potestas, die Autorität, ist eine Unnatur, das verderbliche Prinzip an sich. Sie ist der Ursprung aller Morde, Kriege, Untaten, Verbrechen, Haßlaster und Verdammnisse gleichwie das Sohntum der Ursprung aller hemmenden Sklaveninstinkte ist, das scheußliche Aas, das in den Grundstein aller historischen Staatenbildung eingemauert wurde.« (NDM 258) Vgl. dazu allgemein auch Erhart, Familienmänner, S. 378–385. Ein Zeitungsartikel resümiert die öffentliche Irritation über das Verbrechen, das zu einem gesellschaftlichen Enigma wird: »Ein Raubmord? Nein! Ein Affektmord? Nein! Die Mutter schwört, es hätte zwischen Vater und Sohn keinen Streit gegeben, der Vater wäre sowieso immer nachgiebig gewesen, ja er habe vor August [seinem Sohn] immer eine gewisse Angst gehabt. Und was sagt der Mörder selbst aus? Nichts! Er schweigt! Er zuckt die Achseln. Wir stehen hier vor der Sphinx der menschlichen Psyche, vor dem unergründlichen Geheimnis« (NDM 326). Unter Umständen findet sich im Namen eine Referenz auf Iwan Turgenews Zinaida in ›Erste Liebe‹, eine kapriziös-sadistische Schönheit, die einem ihr willenlos ergebenen, träumerischen Jugendlichen dessen Vater vorzieht, so dass auch hier die sexuelle Rivalität intertextuell in den Vater-Sohn-Konflikt eingewoben wird. Turgenews Zinaida stirbt schließlich im Kindbett.

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aufschlussreich, als er sich nicht zufällig genau in der revolutionärdestruktiven Phase, in der er autoritär-patriarchalische Strukturen politisch bekämpft, mit einer unfruchtbaren Frau (NDM 278) einlässt. In der biologischen Unmöglichkeit der eigenen Prokreation dokumentiert sich implizit die Totalität der Absage an das Väter-Prinzip und deutet gleichzeitig die Ebene an, auf der Väterlichkeit produktiv weitergedacht werden kann. Dazu allerdings muss die alte »Wirklichkeit«,72 die das Kindsein als machtstrukturelle Abhängigkeit perpetuiert, durch eine neue Wirklichkeit abgelöst werden.73 Die Kulturkritik, die der Protagonist leistet, scheint umfassend, insofern sich die zukünftigen Väter als die Söhne von gestern erweisen und somit dem fatalen Prinzip verhaftet bleiben.74 Nur der Bruch mit dem Alten ermöglicht also eine qualitativ neue Vaterschaft: »Seitdem ich Wirklichkeit erlebt habe, sehne ich mich nach einem Sohn. Doch nein! […] Ich habe das erstemal an meinen Sohn gedacht, meinen Sohn in einer deutlichen Vision gesehen, als ich meinen Vater mit erhobener Waffe im Kreis um den Billardtisch jagte.« (NDM 335) Eine Form der Wahrheit, die schon im Moment des Mordversuchs aufscheint, wenn der aufgebrachte Sohn im Vater nicht den General erkennen kann, sondern nur noch einen »nackten Greis« sieht: »Das war kein Offizier mehr.« (NDM 314) Der Protagonist schließlich entdeckt nach einer Verfolgungsjagd um einen Billiardtisch Blut auf dem Boden, das eine intuitive Einsicht katalysiert: »Was habe ich getan? Ist das sein Blut? Habe ich sein Blut vergossen? O Gott! Was ist das? Nein, nein! Dank, dank! Ich bin kein Mörder. Es ist ja mein Blut, das er vergossen hat. Mein Blut! Und doch! Geheimnis! Sein Blut, unser Blut hier auf der Erde.« (NDM 315) Der nackte (und mit der Uniform eben auch von allen sozial bekleideten Positionen befreite) alte Mann leitet die Wiederbewusstmachung einer gesellschaftlich nicht kompromittierbaren Vater-Sohn-Beziehung ein. Im 72 73

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Die zeitgenössische Realität wird dabei als Schimäre, als Traum ausgewiesen (vgl. NDM 334). »Vor allem aber die Träume, diese entsetzlichen Vampire, denen sich alle Schwächlinge und Memmen hingeben, alle, die niemals aus dem Winkel der Kindheit kriechen wollen. Und das wollen viele nicht, viele tausend Männer, ja Millionen bleiben lieber in den dunklen Dunstecken ihrer Kindheit verkrochen. Mir scheint, ihr da drüben, daß eure Welt der Uniformen, Höfe und Orden, Kirchen, Flitterrepubliken, Industrien, Handelsbeflissenheiten, Moden, Kunstausstellungen, Zeitungen und Meinungen, mir scheint, daß diese Welt nichts anderes vorstellt als einen großen modrigen, verspinnwebten, dekorierten Winkel, in dem sich mit Wahn und Träumen Unzucht treibend, die große Kind-Angst der Menschheit verkriecht.« (NDM 335) Vgl. auch: »Wenn Sie selber einmal Vater sind, werden Sie genau so wie er. Der Vater ist das Schicksal für den Sohn.« (DS 238)

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Rückgang auf eine elementare Verbindung jenseits gesellschaftlich-öffentlicher Verortung, auf das Blut, das die Antagonisten in letzter Instanz teilen, liegt das Moment der Rettung der zerrütteten Vater-Sohn-Beziehung. Das Blut weist auf eine genetische Identität in der gesellschaftlichen Alterität der entfremdeten Väterkultur, die es zu überwinden gilt. Erst diese Erkenntnis stellt den Abschluss der Vater-Sohn-Kodependenz dar und verkörpert den Beginn eines neuen Lebens, das der frisch vermählte Protagonist auf einer »kleine[n] Farm im Westen« (NDM 335) führen will. Die typisch expressionistische Doppelung von Untergang und Wiedergeburt spiegelt sich auch in diesem biologisch-kulturellen Dilemma. Vaterschaft muss als Herrschaft vernichtet und als natürliche Verbindung wiedergeboren werden.75 Die mystische Einheit des Bluts eskamotiert das gesellschaftliche Paradoxon aus der Vater-Sohn-Beziehung und eliminiert die Hierarchie, in dem die substantielle Gleichheit jede Chronologie und damit verbundene gesellschaftlich koordinierte Machtverteilung aufhebt. Dieser Paradigmenwechsel erfolgt bei Werfel mit einem Verweis auf die neue Wirklichkeit, die es zu installieren gilt, denn »alles andere gehört dem Teufel an«: »Alles ist sinnlos, was der Welt nicht neues Blut, neues Leben, neue Wirklichkeit zuführt.« (NDM 334) Werfels Zuversicht hinsichtlich der möglichen, ja nötigen Wiederherstellbarkeit der verlorenen Erkenntnis von einer durch das Blut verbürgten, unverbrüchlichen Einheit des Lebens rechnet mit dem kulturellen Familienprinzip ab und stellt dem entfremdenden Vaterschaftsprinzip ein neues, ungenanntes gegenüber. In der sozialen Formierung der Familie findet sich schon immer ein Machtelement – aus dieser entfremdenden, gesellschaftlich determinierten Vaterschaft gilt es nun, das zu bergen, was als »natürliche« Vaterschaft verstanden wird. Die Krisendiagnose bleibt trotz dieser neuen Ausrichtung kompatibel mit den anderen, bisher behandelten Texten: Auch hier überlagert der öffentliche Vater den natürlichen vollständig.

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Vgl. dazu Thomas Koebner, der mit Blick auf Werfels Text vor allem das »Schema des ›Kriegs‹ zwischen Alt und Jung« untersucht: Koebner: »Der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz«. Familiendrama und Generationskonflikt in der deutschen Literatur zwischen 1890 und 1920. In: »Mit uns zieht die neue Zeit«, S. 500–519, hier S. 512. Der wichtige Aspekt des Generationenkonflikts, der hier zumindest in diesem Kontext zugunsten einer Analyse der Herrschaftsstrukturen vernachlässigt wurde, wird bei Koebner ausführlich behandelt.

408

5.

Schlussfolgerungen

Unabhängig davon, wie genau man Vaterschaft als familiäre oder biologische Funktion aufrechterhalten möchte, wird deutlich, dass sie als naturalisierende Legitimation von Herrschaft nicht mehr reibungslos funktioniert. An die Stelle der ahistorischen Evidenz sind im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend Zweifel an der Tragfähigkeit der väterlichen Herrschaft als homologes, versinnbildlichendes Brückenelement zwischen öffentlichen und privaten Herrschaftsmodulen getreten. Die Trennung, die etwa Werfel zwischen gesellschaftlicher und biologischer VaterSohn-Verbindung durchzuführen versucht, wirkt dabei entparadoxierend. Sowohl bei Werfel als auch bei Hasenclever ist es dementsprechend offensichtlich die Simultanität des Gesellschaftlich-Öffentlichen und Individuell-Intimen in der Vaterrolle, d. h. die von paternaler Seite beanspruchte Totalität der väterlichen Welt, die in eine interpretatorische Krise und in die Unausweichlichkeit eines Scheiterns des (und am) traditionell Paternalen führt. Damit ist einer der Vorteile der Familie aus frühbürgerlichen Zeiten, nämlich die Freisetzung gesellschaftlicher Energien, die Möglichkeit einer individuellen Integration,76 mit denen jenen überhand nehmenden Funktionalisierungsprozessen der Gesellschaft die Stirn geboten werden konnte, nicht mehr gegeben. Die bürgerliche Ordnung, die sich einstmals über die positive Identifikation mit einem Wertesystem etablierte und die Verinnerlichung der Normen voraussetzte, wird bei ihrer lediglich formalen Perpetuierung selbst zum lösungsbedürftigen Problem.77 Auffällig ist, dass selbst der Expressionimus nicht vollständig bereit ist, die Vorstellung vom idealtypischen Vater (als einem funktionierenden 76

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Isabel Hull formuliert dies machtpolitisch: »Gerade weil der Staat seine eigene Macht erweitern wollte, mußte er eine Sphäre schaffen, die jenseits seiner Kontrolle gedeihen konnte: eine bürgerliche Gesellschaft, in der dynamische Wirtschaftskräfte freigesetzt wurden; eine Schule, nicht länger für ausschließlich passive Untertanen, sondern für aktive, gebildete und handelnde Bürger, deren Tätigkeiten die wirtschaftlichen, militärischen und politischen Machtquellen des Staates vervielfältigten und die die Errungenschaften des ständestaatlichen Absolutismus in den Schatten stellten.« Isabel V. Hull: ›Sexualität‹ und bürgerliche Gesellschaft. In: Bürgerinnen und Bürger, S. 49–66, hier S. 56. »Das Konstruktionsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft bestand nun darin, daß diese Gesellschaft sich selber steuerte. Idealtypisch mußte jeder Bürger nicht nur den Gesetzen der Vernunft folgen, sondern sie auch positiv wollen. Auf diesem Grundsatz beruhte Herrschaft im bürgerlichen Zeitalter: Der Staat beherrschte seine Untertanen nicht mehr durch äußeren Zwang […], sondern die bürgerliche Gesellschaft wirkte auf die Verinnerlichung dieser Prinzipien hin, so daß die Bürger selber die Verhaltensnormen wählten, die dem Staat letztlich zugutekamen.« Hull, ›Sexualität‹ und bürgerliche Gesellschaft, S. 56.

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Individualitäts- und Integrationsmodell) aufzugeben. Dieses double bind wird bei Kafka noch deutlicher werden. Die Vatersehnsucht bleibt somit als Parallelphänomen zur konfliktuellen Vaterbeziehung selbst in den hier vorliegenden expressionistischen Texten bestehen.

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XI. Die totale Paradoxie – ein Ausblick

1.

Kafka und der unstürzbare Vater

Bei Kafka werden die bisher thematisierten Aspekte von Herrschaft und Emotion bzw. von Integration und Individualität zusammengeführt; seine Texte evozieren zunächst eine konkrete paternale und später dann zunehmend abstrakt-elusive Gewalt, die auf die entscheidenden Stränge der bisherigen Argumentation zurückverweist. Damit wird die Entwicklung eines bürgerlichen Vaterkonzepts zu einem vorläufigen Abschluss gebracht, insofern die modellimmanenten Widersprüche bei ihm vollständig entfaltet sind.1 Gerade bei Kafka wird also das innertextlich aufgerufene Archiv des Oszillationssymbols »Vater« für das Verständnis der inhärenten Paradoxe maßgeblich. Seine Texte greifen auf andere literarisch erkundete und entfaltete Dilemmata und ihre Entwicklung zurück, die für die spezifischparadoxe Konstituierung des Vaters bzw. der paternal eingefärbten Macht die prätextuelle, kontextuelle und diskursive Voraussetzung bilden. In diesem Sinne sind spezifische Aspekte bei Kafka nur im Rekurs auf das 18. Jahrhundert zu verstehen, in dem ein neues Vatermodell als Reaktion auf die Probleme der modernen Individualität emergiert. Zu diesem frühen Zeitpunkt erweist sich das bürgerliche Vaterkonzept noch als flexibel, insofern es sowohl individuelle Bedürfnisse als auch Gruppeninteressen bedient; damit etabliert es sich an der Schnittstelle zwischen Intimität und moralischer Wertegemeinschaft. Die Folgen dieser Zwitterstellung und ihre inhärente Dynamik beschäftigen, wie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, in ihren Chancen und Grenzen das nächste Jahrhundert. Anhand der expressionistischen Textbeispiele wird besonders deutlich, wie die väterliche Herrschaft als prävalente Herrschaftsstruktur in der Gesellschaft problematisiert wird. In den Blick rücken dabei die legitimatorischen Aporien dieser Vorstellung. Paternale Herrschaft, so das analytische Ergebnis der Texte, entbehrt genau der emotionalen Autorität, die 1

Nichtsdestoweniger lassen sich Ausläufer der hier vorgeführten Probleme in ihren historischen Reakzentuierungen und Verschiebungen bis in die Gegenwart verfolgen.

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das moderne Vater-Konzept als Legitimationsprinzip prinzipiell einfordert. Dieses wird – wie auch schon bei Fontane – auf ein Repräsentationsproblem zurückgeführt. Den Individuen gelingt nicht mehr die Konkretion der abstrakten Herrschaft. Der Vater als Schaltstelle zwischen den Sphären der abstrakten Herrschaft und der konkreten Versinnlichung im häuslichen Kontext erweist sich als disfunktional und kann als Modell weder die häusliche noch die öffentliche Machtstruktur plausibilisieren und legitimieren – die Leistungsfähigkeit der paternalen Konstruktion, die um 1800 auch als bürgerliches Herrschaftsparadigma etabliert wurde, ist erschöpft. Paul Federns Analyse des Rätesystems indiziert dabei nicht nur, wie stark das Prinzip des Patriarchats kompromittiert war, sondern auch exemplarisch, wie schwierig es sich darstellte, ein anderes Beziehungsmodell abseits der Familie zu entwickeln. Automatisch rekurriert Federn auf andere sinnfällige familiale Konstellationen, wie Bruderschaft oder Mutterrecht, um die Verschaltung von innen und außen organisch zu motivieren.2 In der aufkommenden Massengesellschaft wird die zunehmende Abstraktion von Herrschaft und von gesellschaftlichen Systemzusammenhängen mehr denn je fühlbar und kann über das Vaterparadigma nicht mehr vermittelt werden. Insofern Autorität zunehmend übergeht auf anders legitimierte Strukturen, entsteht ein konzeptuelles Dilemma. Max Weber etwa unterscheidet von den »irrationalen« Herrschaftsformen der patriarchalischen bzw. patrimonialen sowie charismatischen Herrschaft die Herrschaft der Bürokratie3 als rationale Herrschaft.4 In der expressio2

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4

Wie weitreichend diese Einsicht mit tradierten Herrschaftskonzepten bricht, zeigt wiederum der Expressionismus, der eine ekstatische Erneuerungsideologie an die Stelle der entfremdeten modernen Gesellschaft setzt. In den expressionistischen Texten werden zudem messianische Konzepte vom neuen Menschen etabliert, die den Sohn (oder im Kontext des Bachofen-Diskurses) die Frau als entscheidende zukünftige Potenz ins Spiel bringen. »Bei der bürokratischen Herrschaft ist es die gesatzte Norm, welche die Legitimation des konkreten Gewalthabers zum Erlaß eines konkreten Befehls schafft. Bei der patriarchalen Herrschaft ist es die persönliche Unterwerfung unter den Herrn, welche die von ihm gesetzten Regeln als legitim garantiert […]. Die objektive Grundlage der bürokratischen Macht ist ihre durch spezialistische Fachkenntnis begründete technische Unentbehrlichkeit. Bei der Hausautorität sind uralte naturgewachsene Situationen die Quelle des auf Pietät ruhenden Autoritätsglaubens.« Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 739–740. Diese basiert idealtypisch auf positivem Recht (das »rational, zweckrational oder wertrational orientiert« sein kann, Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125), auf einer professionelle Verwaltung mit der Aufgabe der »rationale(n) Pflege von, durch Verbandsordnungen vorgesehenen, Interessen, innerhalb der Schranken von Rechtsregeln, und: nach allgemein angebbaren Prinzipien« (Ebd., S. 125), entsprechend ausgebildeten, bezahlten hauptberuflichen Mitarbeitern und einer leistungsfähigen Organisation, die auf Arbeitsteilung, Amtshierarchie, Dienst- und Fachaufsicht und Aktenmäßigkeit beruht.

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nistischen Literatur erscheinen allerdings die idealtypischen Kennzeichen der bürokratischen Herrschaft im Einklang mit der patriarchalischen Gesellschaft und den in ihr kultivierten autoritativen Verhaltensmustern. Wie die Analyse von ›Der Sohn‹ und ›Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig‹ zeigt, sind private und öffentliche Herrschaftsstruktur unauflösbar in der eigentümlichen Überlagerung von unmittelbarem Zugriff und ent-individualisierender, verdinglichender Tendenz in einem vollständig abstrakten Herrschaftszugriff gekoppelt. Die Texte des Expressionismus schlagen für diese Situation verschiedene entparadoxierende Lösungen vor, die zumeist in einer mehr oder weniger konkret gedachten Revolution (wie sie dann auch tatsächlich realhistorisch vollzogen wird), also einem totalen Bruch mit der Vergangenheit kulminieren. Politisch wird die tradierte Herrschaft zugunsten neuer Konzepte abgestreift, aber auch privat wird im (emotional und auch biologisch) rein Menschlichen unter der strukturkontaminierten Vaterschaft eine andere Form von Beziehung freigelegt, die von allen Herrschaftsansprüchen befreit scheint. Diese entparadoxierte Beziehung bleibt notwendigerweise vage. Wenn Paul Federn bei der Antizipation einer familialen Neuordnung auf historische Alternativen (Mutterrecht) zurückgreifen muss, wird deutlich, wie effektiv Familienbeziehungen als Muster alle anderen Funktionsrelationen plausibilisieren können. Gerade anhand von Federns Überlegungen wird allerdings auch die Prominenz des Vaterprinzips als quasi-natürliche Form greifbar. Trotz aller degenerativen Tendenzen erweist sich die Utopie der bürgerlichen Vaterfunktion als hartnäckig und langlebig. Gerade auch diese ehemals als emanzipatorisch kodierten Vateraspekte speisen Figurationen von paternaler bzw. von an paternaler Gewalt orientierter, abstrakter Gewalt in Kafkas Texten. Die Texte leuchten in unnachgiebiger Präzision die paradoxe Stellung des Vaters zwischen gesellschaftlicher Öffentlichkeit und scheinbarer Intimität aus und invertieren dabei dessen konzeptuell kompensatorische Funktionen in Mechanismen totaler Entfremdung. Zwei Aspekte werden bei Kafka besonders gut erkennbar: zum einen die widersprüchliche simultane bedrohliche Entterritorialisierung5 und 5

Dieser Begriff wird hier nicht im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari verstanden, sondern als »Entkörperlichung« der Gewalt im Kontext der hier beschriebenen Abstrahierungsbewegung, die nicht mehr konfrontierbar scheint, aber nach wie vor auf den Protagonisten zugreift. Deleuze und Guattari reformulieren das Vater-Problem in Kafkas Texten, indem sie fragen, »nicht, wie man sich vom Vater befreien kann (ÖdipusFrage), sondern wie man einen Weg finden kann, wo er keinen gefunden hat.« Deleuze,

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Omnipräsenz des Privaten, zum anderen die inhärente Paradoxie der Vaterfigur zwischen Abstrahierung der paternalen Gewalt und (souveräner) Geltung des väterlichen Gesetzes. Im 18. Jahrhundert hatte die Machtfülle des Vaters auch die Abgrenzung und Etablierung bürgerlicher Moralvorstellungen eingeläutet, die ausgehend von der Familie einen Siegeszug antreten konnten. Diese fiktive Konstellation beleuchtet den Vater vor allem als Familienmenschen und vernachlässigt seine Doppelexistenz im Innen und Außen auf der Basis einer Werteideologie, die sich als »natürlich«, aber zugleich als häretisch mit Blick auf ein Set an (damals noch »aristokratischen«) Außen-Werten versteht. Werteideologisch ist der Vater also – den Texten zufolge – der Familiensphäre zuzurechnen, wenn sich damals auch bereits die historisch reale Trennung von öffentlichem und privatem Leben durchzusetzen beginnt und sich der Vater zunehmend aus der Familie entfernt.6 Um 1800 scheint das neue, emotionalisierte Bild des Vaters eine potentielle Regenerierung politisch tradierter Herrschaft zu erlauben, indem die Vorstellung der Familie einfach auf den größeren Kontext transferiert wird. Diese Transfer-Bewegung gründet sich auf die Vergleichbarkeit der beiden Sphären und dehnt den Wertehorizont der Familie aus auf die Öffentlichkeit. Das Tertium comparationis, das diese Übertragung plausibel erscheinen lässt, ist die bürgerliche Moralvorstellung, das Medium, in dem auch die öffentlichen, gesellschaftlichen Beziehungen neu definiert werden müssen. Die ursprünglich häretische Gegenvorstellung wird dabei, wie beschrieben, notwendigerweise zu einer affirmativen gesellschaftlichen Öffentlichkeit (als Wertegemeinschaft), die das bürgerliche Gesellschaftskonzept trägt. Der bürgerliche Vater koppelt sich in beiden Fällen an ein Machtkonzept, aber gleichzeitig von der intimen Aufwertung seiner Funktion ab; seine Herrschaft wird zunehmend abstrakter.7 Insofern paternale Autori-

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Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main 1976, S. 16. In diesem Licht etwa betrachten sie das Tierwerden als »Deterritorialisierung« der »Ströme« (ebd., S. 20): die Flucht in eine Region, wo die Dilemmata des Vaters keine Rolle mehr spielen. Vgl. dazu Budde, Bürgerleben. Anschaulich auch dazu mit Blick auf England John Tosh: A Man’s Place. Masculinity and the Middle-Class Home in Victorian England. New Haven, London 1999, besonders S. 11–26. Untersuchungen zur »Sinnlichkeit der Macht« zeigen auch im Bereich der herrscherlichen Repräsentation, dass Königin/Kaiser in England und im Deutschen Reich um 1900 zwar eine Bündelungsfunktion vor allem mit Blick auf die neuen Medien hatten; gleichzeitig demonstrieren gerade diese Untersuchungen besonders deutlich, dass sie nur noch sehr begrenzt als sichtbarer Indikator moderner Macht fungierten. Die moderne Gesellschaft lässt sich nicht mehr unifiziert durch eine Person repräsentieren. Vgl.: Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit. Hrsg.

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tät strukturell die Gesellschaft durchdringt, zugleich allerdings nunmehr genau der Grundlage entbehrt, die dem Vater diese Omnivalenz einst gesichert hat (nämlich sinnliche Konkretion als Voraussetzung von Individualisierung),8 wird sie zunehmend paradox. Sie etabliert, hier in Anlehnung an Gershom Scholem formuliert, einen Geltungsanspruch, ohne dabei die ursprüngliche Bedeutung beibehalten zu können. Gerade im konkreten Vater verdichtet sich die Repräsentationskrise der Zeit, weil in ihm (als Person) nur noch scheinbar eine konkrete sinnliche Manifestation der Macht vorliegt. Denn die Regeln der Machthandhabung liegen nicht mehr im individuell generierten Werteverständnis, sondern in den gesellschaftlichen Vorgaben, die auf dem komplexen bürgerlichen Werteset aufruhen. Diese »natürlichen« Werte allerdings beginnen in den Erkundungen der Literatur bereits um 1800 ihre Evidenz abzustreifen. Die Reichweite dieses Problems wird in den expressionistischen Texten analysiert, wenn der Vater als Repräsentant der Macht innerhalb der Familie in Übereinstimmung mit öffentlichen Regeln operiert (vorgegeben durch die gesellschaftliche Öffentlichkeit) und er die (für seine authentische) Legitimation unabdingbare Individualisierung des Kindes nicht mehr leisten kann. Obwohl der entfremdete Vater das Problem exemplarisch verkörpert, erscheint er zugleich als ein symbolisches Speichermedium für eine andere Komponente der Macht, die wiederum eine Re-Konkretisierung verspricht. Wenn der Diskurs im späten 19. Jahrhundert den Niedergang der Vatergewalt beschreibt und damit die literarischen, kulturellen und schließlich auch die historischen Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts antizipiert, so wird damit auch eine Hoffnung auf eine authentische Re-Figuration von Autorität formuliert. Ferdinand Tönnies populäre Untersuchung ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ implizierte in diesem Sinne die Möglichkeit auf eine durch Tradition renaturalisierte Autorität. Die Autorität des Familienvaters kann deswegen Problem (durch die zunehmende gesellschaftliche Vereinnahmung) und potentieller Ausweg (aufgrund der inhärenten natürlichen Autorität) zugleich sein. In jedem Fall sind Machtanspruch und Legitimierung des Vaters in eine Schieflage zwischen Privatheit und Öffentlichkeit geraten. Obwohl kon-

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von Jan Andres, Alexa Geisthövel, Matthias Schwengelbeck. Frankfurt am Main, New York 2005. Vgl. darin besonders den Beitrag von Martin Kohlrausch: Monarchische Repräsentation in der entstehenden Mediengesellschaft. Das deutsche und das englische Beispiel (S. 93–122), und von Alexa Geisthövel: Wilhelm I. am »historischen Eckfenster«. Zur Sichtbarkeit des Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 163–186). Vgl. dazu das Kapitel zu Lessing.

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zeptuell scharf getrennt, fällt gerade in Kafkas Roman-Fragmenten die befremdende Überlappung beider Sphären auf. Private Vorgänge werden öffentlich (so etwa zu Beginn des ›Processes‹, wenn die zwei Alten vom gegenüberliegenden Fenster aus die Verhaftung beobachten, die K. am denkbar intimsten Ort, nämlich im Bett ereilt) und öffentlich-bürokratische Abläufe erlauben in einer Grauzone des Allzu-Menschlich-Intimen unwillkommene Einblicke in das fehlbare Gesicht des unfehlbaren Apparatus. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit, in deren Kontext sich Kafkas Konstrukt einer beklemmenden Publizität des Privaten präsentiert, gewinnt in seinen Texten eine neue, depravierende, sexualisierte und fast obszöne Gestalt, die es immer mitzudenken gilt, wenn es um die in den Texten insinuierten Inklusionstechniken und Wertegemeinschaften geht.

1.1. Integration und Wertegemeinschaften In ›Das Schloß‹ geht K. auffällig und selbstverständlich9 von einer (unterstellten) Allgemeingültigkeit spezifischer Wertekonventionen und emotionaler Wahrscheinlichkeiten (die niemals expliziert, sondern nur vorausgesetzt werden) aus – diese allerdings sind im Umkreis des Schlosses ausgehebelt. Jede Art von Hierarchie (auch die von Werten) folgt schlossund dorf-spezifischen Regeln, die für K. als Fremden nicht deduzierbar sind. Diese hermetische Werte-Autonomie, die eine natürlich-universale Evidenz durch eine arbiträre10 (dann aber konsequent durchgehaltene) Geltung von Regeln ersetzt, konstituiert eine ingroup, von der K. konzeptuell ausgeschlossen und uninitiiert bleibt. Gleichzeitig ist die Kohärenz der Dorf- und Schlosswelt vor allem ein outgroup-Effekt, der auf K.’s Anwesenheit basiert. Denn innerhalb der ihm verschlossenen Welt gibt es, was zu seiner Verunsicherung beiträgt, wiederum andere selektive Einund Ausschließungsverfahren, die beobachtbar, aber für ihn nicht vollständig durchschaubar werden. Selbst wenn er sich (partiell aus taktischen 9

10

In ›Das Schloß‹ dominiert zwar auf den ersten Blick eine interne Fokalisierung, gleichzeitig wird aber unübersehbar, dass K.’s strategisches Verhalten bei verschiedenen Gelegenheiten zu einer deutlich externen Fokalisierung führt, insofern der Erzähler in Teilen auf eine Außensicht beschränkt bleibt, der sich wesentliche Aspekte von K.’s Plänen, Wünschen und Zielen entziehen. K.’s Äußerungen und taktische Deutungen werden zudem von den Dorfbewohnern beobachtet und gewertet, auf deren Beurteilung allerdings ebenfalls nur eine Außenperspektive zugreifen kann. Der Text präsentiert diese Vernetzung und eröffnet dabei einen entscheidenden, einschlägigen Kontrast zwischen K. und den axiologischen Regeln und Wertbildungsprozessen im Dorf, der K.’s Nichtzugehörigkeit zur Dorf- und Schlossgemeinschaft augenfällig macht. Dies meint hier: arbiträr gesetzt und eben nicht aus universalen, selbst-evidenten Gesetzen abgeleitet.

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Erwägungen) im Einklang mit den vor Ort greifenden moralischen Mechanismen zu bewegen versucht, entlarvt seine Rhetorik eine substantielle Fremdheit gegenüber der sich entziehenden Wertewelt des Dorfes/ Schlosses.11 Die Lage der Barnabas-Familie macht diese axiologische Desorientierung in der Sphäre des Dorfes noch klarer erkennbar. K.’s initiale Reaktion auf die grobe Aufforderung eines Schloßbeamten, Amalia solle seine Geliebte werden, entspricht konventionalisierten (bürgerlichen) Werterastern. Er lobt und bewundert Amalias abweisendes Verhalten als Korruptionsresistenz, ohne den weiteren Verlauf der Geschichte zu kennen. Aus der Reaktion des Dorfes allerdings lässt sich eine spezifische Relativität der hier entscheidenden Normen entnehmen; deren genauer Inhalt bleibt auch den Dorfbewohner unbekannt – in der Dorfgemeinschaft wird nicht individuell nach Sinn gesucht, sondern unterstellte Sinnvorgaben kollektiv interpretiert (wenn sie sich auch nicht zwingend artikulieren). Das zeitgenössisch als konventionell »unmoralisch« Verstandene ist in der Dorfwelt das einvernehmlich Regelhafte, nicht als Konsequenz einer transzendenten Setzung, sondern vor allem als Ergebnis eines kollektiven Interpretationsprozesses, dessen Einhelligkeit eine solche natürliche Vorgängigkeit zu insinuieren scheint; die Kluft allerdings zwischen präexistenten »Gesetzen« und ihrer Interpretation (die natürliche »Wahrheiten« retrospektiv als Konvention generiert) wird in ›Das Schloß‹ unübersehbar. Amalia ist eine wichtige Exklusionsfigur in der Dorfwelt, die sich trotz zahlreicher Analogien in einem aufschlussreichen Gegensatz zu K. konstituiert: Sie ist – mit Blick auf ihre Beziehung zum Schloss (nicht notwendigerweise aus ihrer eigenen Perspektive) – als ausgeschlossene Eingeschlossene (eine Art Homo sacer-Figur) eine Gegenfigur zu K., der erst über diesen Kontrast als ausgeschlossener Ausgeschlossener (d. h. ohne die Beziehung, die sich selbst im Beziehungsabbruch, wie bei Amalia, fortschreibt) greifbar wird. Allerdings stimmt das nur bedingt. Denn der gänzlich Beziehungslose wirbt um seine Integration und etabliert mit Blick darauf eine unilaterale Surrogat-Beziehung. Freiheit von der Beziehung zur Schloss-Macht, das ist eine wichtige Erkenntnis, kann es somit nicht geben bzw. sie erscheint als negativ konnotiert. Amalia erweist sich zudem als Brückenfigur, die K.’s indistinkte Ziele ex negativo besser kontu11

Das wird etwa bei seinem Kommentar gegenüber der Wirtin deutlich, als er die Notwendigkeit verspürt, ihr zu versichern, dass sie als ehemalige Geliebte Klamms für ihn eine ehrwürdige Person sei. Während K. darin eine fast gönnerhafte moralische Toleranz demonstriert, ist seine Anmerkung in den Augen der Wirtin überflüssig und per se evident.

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riert. Denn aus seiner Auseinandersetzung mit ihr kann ebenfalls abgeleitet werden, dass er nach Einschließung durch Nonkonformität (oder Individualität) strebt, während sie bereit ist, die Ausschließung aufgrund ihrer Nonkonformität in Kauf zu nehmen. Zunächst kann festgehalten werden, dass die neue, abstrakte Macht in ›Das Schloß‹, die Individualität zugunsten von Kollektivnormierungen bricht, zwielichtig wird und doch zugleich die Essenz der Integrationssehnsucht darzustellen scheint, die K. antreibt. Die integrierende Macht soll also angesichts der individuellen Abweichung genau die Autorität (im Sinne eines durchsetzbaren Geltungsanspruches) abstreifen, die eine Integration überhaupt möglich macht. Das passive Verharren des Mannes vom Lande in ›Vor dem Gesetz‹ verdeutlicht dies am prägnantesten. Er kann die Geltung des Gesetzes, zu dem er vorzudringen hofft, nicht in Frage stellen; gleichzeitig erweist sich das Gesetz als unerreichbar, wenn seine Macht nicht auf diese Weise beschnitten wird. Entbehrt die Macht jeder Konkretion, wird Individualität nur noch bei Normenkonvergenz (und damit, sofern die Normen nicht mehr als präexistent und natürlich verstanden werden, sondern als Konvention, als a priori beschädigte bzw. limitierte Individualität) integrierbar.12 Die hier beschriebenen, defizitären Strukturen sind in Zusammenhang zu bringen mit einer Setzung, die sich bereits im 18. Jahrhundert als komplex erweist. Das Streben nach Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft als Individuum, d. h. auch unter partieller Ausscherung aus deren quintessentiellen Werten, perpetuiert nämlich ein Paradox, dessen situative Lösung durch konkrete väterliche Individualisierung im 18. Jahrhundert noch über die erzieherische Korrektur der »verkommenen Söhne und mißratenen Töchter« (Peter von Matt) denkbar schien (oder zumindest insinuiert wurde). Die postulierte Kongruenz von Individualität und Normen basierte zu diesem Zeitpunkt noch selbstverständlich auf unveräußerlichen Werten, die als »evident«, »wahr« und »natürlich« galten. Jede Abweichung von den Normen musste als Abweichung von der »wahren« Soll-Identität der Kinder gewertet werden; schon im 18. Jahrhundert bereiteten Deviationen von diesen eigentlich identitätsverbürgenden moralischen Vorgaben (vgl. exemplarisch ›Emilia Galotti‹) die größten systemischen Probleme. Soziohistorische Realitäten und die vehemente philo12

Was im 18. Jahrhundert über Emotionalisierung und Individualisierung die Verhaltenserwartung an den Vater zu dominieren begann (und seine spezifische Herrschaft konstituierte und legitimierte), wird um 1900 aufgrund einer Entindividualisierung und Entemotionalisierungsbewegung der Macht zum Paradox.

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sophische »Umwertung der Werte« korrumpierten allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts zudem genau diese Basisvoraussetzung der Wertetranszendenz und annihilierten damit zunehmend das ohnehin prekäre Gleichgewicht dieser Integrationsvision. Gerade Amalias Schicksal in ›Das Schloß‹ macht deutlich, dass Werte mit Blick auf eine individuelle oder eben kollektive Realität divergieren können. Die Aushebelung einer »natürlichen« Konvergenz lässt Werte und Realität in ›Das Schloß‹ auseinander treten. Das »natürliche« Wertemodell Vater, das so sorgfältig als Interaktionsgröße in beide Sphären hineingesponnen wurde, muss davon konzeptuell mit betroffen sein. An die Macht des Schlosses richtet sich die vergebliche und unformulierte Aufforderung, die unvereinbaren Bedürfnisse (Individualität und Integration) zu befrieden: ein verschobener Reflex der Vater-Utopie des 18. Jahrhunderts. Das Paradigma des Vaters aus dem 18. Jahrhundert, das Integration und Individualität verbindet, wird indirekt zu einem paradoxen (utopischen) Postulat an eine nunmehr unsichtbare, konturlose Macht. Das erklärt das Bestreben K.’s, die zuständige Instanz zu konfrontieren, zu ihr vorzudringen und sie damit manifest zu machen. Die Abstraktion der Macht stellt hier vor zusätzliche Probleme, die ebenfalls auffällig mit der diskursiven Situation um 190013 korrespondieren. Zunächst soll ein kurzer Blick auf die paradoxen Verhaltenserwartungen geworfen werden, mit denen auch konkrete Vater-Figuren eine Form von Unerreichbarkeit installieren, nämlich in der Unmöglichkeit, den paternalen Erwartungen gerecht werden zu können, ohne den Vater in seiner singulären Allmacht in Frage zu stellen. Die klare zeitgenössische Erwartungshaltung an den Sohn,14 nämlich eine Familie zu gründen und ein berufliches Auskommen anzustreben, erfüllt der frisch verlobte, beruflich erfolgreiche Protagonist Georg Bendemann in ›Das Urteil‹ vorbildlich. Die Begegnung zwischen Vater und Sohn bietet reichlich Material für die Interpretation; hier aber geht es vor allem um den Wendepunkt in der Erzählung. Wenn der schwächliche Vater im Zustand mentaler kindlicher Entmündigung und greisenhafter Schwächlichkeit vom Sohn ins Bett getragen wird, verdeutlicht dieser Moment nicht nur das sich verschiebende Kräfteverhältnis zwischen den Generationen allgemein, sondern erscheint auch als Reflex von Freuds 13 14

Vgl. dazu das vorangegangene Kapitel. Zu Kafkas biographischer Variation dieses sozialen Musters vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. München 2005 und Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt am Main 2002.

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Vatermordszenarien, insofern der Sohn den Vater aktiv in seine Ruheposition verfrachtet. Freilich indiziert dabei schon das Spielen mit der Uhrkette, mit dem sich der Vater in anscheinend totaler Infantilisierung auf den Armen des Sohnes beschäftigt, die unauflösliche ›Verkettung‹ der beiden Protagonisten, die eine schnelle Befreiung des Sohnes unwahrscheinlich macht. Mit dieser Kippfigur wird dann das Zubettgehritual eingeleitet. Die zweifache Nachfrage des Vaters, ob er auch gut zugedeckt sei, lenkt den Blick auf den offensichtlichen Akt des Begrabenwerdens. – Seine Resurrektion folgt allerdings auf dem Fuße: Der Vater überwindet – in einer für Kafka typischen Wendung – seine körperliche Schwäche ad hoc, richtet sie auf und avanciert zu einem (in seiner nunmehr erekten Stellung auch physisch wieder) ernstzunehmenden, ja letztlich überlegenen Gegner. Der Machtkampf zwischen Vater und Sohn verdichtet sich in diesem Moment in der enigmatischen Figur des Freundes in Petersburg, dessen Existenz zuvor vom Sohn behauptet und vom Vater bestritten wurde. Eben dieser mittellose, schreibende Junggeselle in Russland wird zunächst (aus der Sicht Georgs) zur glücklosen Gegenfigur zum eigenen Lebensentwurf, um dann vom Vater im umgekehrten Sinne als »eigentlicher« Sohn und wichtiger Verbündeter beansprucht zu werden. In einer Inversion von spezifischen traditionellen Mustern paternaler Verhaltensweisen15 erklärt der Vater, nachdem er sich von den Decken befreit hat, den abwesenden Freund zum besseren Sohn: »Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen.«16 Zustand der Schwäche und Verleugnung des Freundes17 stehen im Kontrast zur Anerkennung und Aufwertung des Freundes durch den Vater, die wiederum mit dessen neu gefundener »letzte[r] Kraft« (DU 56) einhergehen. Diese merkwürdige duale Strategie, die den Freund sowohl zum nachhaltigsten Beleg für den Erfolg Georgs als auch für sein grundsätzliches Missratensein werden lässt, provoziert eine ganze Legion an Deutungen, von denen hier eine im Besonderen extrahiert werden soll. In einer vagen Imitation von Freudschen Mustern wird hier die Solidarisierung des Vaters mit dem schwächlichen »Sohn« in Petersburg vorgeführt und nicht 15

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Vgl. etwa Peter von Matt, der in seinem Buch ›Verkommene Söhne, mißratene Töchter‹ das Missraten der Kinder als Nonkonformität mit tradierten Heiratsauflagen und/oder einer adäquaten Berufsausübung versteht. Franz Kafka: Das Urteil. In: Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, Gerhard Neumann. Frankfurt am Main 1994, S. 56. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als DU mit der entsprechenden Seitenzahl. »Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaßmacher gewesen und hast dich auch mir gegenüber nicht zurückgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich gar nicht glauben.« (DU 53.)

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mit dem eigenen biologischen Kind, das nämlich anders als der abwesende Freund als filialer Konkurrent in Erscheinung tritt. Mit dieser neuen Koalition wird die de facto-Ablösung des Vaters im Geschäft und die durch die anstehende Hochzeit geplante Absetzung des Vaters als dem eigentlichen pater familias jäh unterbunden. Das ist nur als Bestandsaufnahme der Kampfsituation und ihrer offensichtlichen Ergebnisse zu verstehen; als intentionale Gesamtstrategie des Vaters interpretiert würde diese Deutung zu kurz greifen. Denn dass sich in einer biographischen Spiegelung der schreibende, berufliche scheiternde und unverheiratete Sohn durchsetzt, deutet auf eine weitaus komplexere Erwartungshaltung von beiden Beteiligten: Der Sohn muss persönlich (durch Heirat) und beruflich reüssieren, gleichzeitig aber gefährdet eben dieser Erfolg die Monopolstellung des Vaters und, das ist hier entscheidender, auch die Qualität der Anerkennung, die es durch das Erreichen der Zielvorgaben eigentlich zu erlangen gilt. Genau hier aber kippt der Kampf in den irritierenden Zustand der Symbiose. Wo die Anerkennung nicht mehr durch die ungebrochene paternale Macht getragen wird, erscheinen die Resultate absurd. Georgs bereitwillige Annahme des väterlichen Verdikts macht dies sinnfällig. Der schreibende Sohn dagegen, hier zum einen ein Stabilisator der väterlichen Macht und zum anderen (im Kontext von Kafkas Texten) auch die eigentliche Verkörperung des »Sohnes« (ganz im Sinne des selffashioning, das Kafka in anderen Texten unternimmt),18 trägt zu einer (im Sinne des Betroffenen) legitimen Verurteilung bei, indem er in absentia demonstriert, dass nur der Sohn, der einen starken Vater zulässt, der wahre Sohn ist. Paradoxerweise schließt allerdings auch seine Lebensform wiederum eine substantielle Anerkennung durch den Vater aus, insofern die konventionellen Anforderung an den Sohn (dies ergibt die intertextuelle Rückbindung des Textes an die anderen Texte Kafkas, besonders etwa ›Brief an den Vater‹) impliziert bleiben. Zusammenfassend stellt sich für die Söhne also das Problem, das Verlassen der ›family of origin‹ zu vollziehen und gleichzeitig nicht zu vollziehen. Für beide Söhne ergibt sich daraus eine auffällig no-win-Situation, da sich Nicht-Erfüllung und Erfüllung der väterlichen Normen auf unterschiedliche, aber gleichermaßen nachhaltige Weise rächen.19 In ›Das Ur18 19

Alt, Der ewige Sohn. Dass sich das Urteil als richterliches präsentiert, indiziert deutlich, dass in Kafkas Welt Ein- und Ausschließungsmechanismen greifen, die sowohl in der fiktiven privaten als auch in der fiktiven gesellschaftlich-öffentlichen Welt gelten. Vgl. Benno Wagner: Metamorphosen des Opfers bei Franz Kafka. In: Kafkas Institutionen. Hrsg. von Arne Hö-

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teil‹ besetzt der konkrete Vater eine prominente Position und formuliert das Urteil eines Souveräns, der über Zugehörigkeit und Ausschluss entscheidet; auf der Basis des eben beschriebenen vitalen Anerkennungsmodells ist das Urteil des Vaters für den Protagonisten unausweichlich und unwiderleglich, es trägt die Rechtfertigung in sich selbst. Kurz gesagt: Der starke Vater ist ein Vater, dessen Anerkennung erkämpft werden will, der allerdings seine Stärke wiederum demonstriert, indem er dem Sohn genau diese Anerkennung vorenthält. Alle Kampfstrukturen basieren auf eben dieser Anerkennungsverweigerung und präfigurieren so das Dilemma in ›Das Schloß‹: Nur der Sieg gegen die unbesiegbare Instanz kann das Ziel sein.

1.2. Abstrahierung und Intensivierung der Macht In ›Das Schloß‹ setzen sich die Widersprüche mit Blick auf die Form fort, in der die abstrahierte Macht Gestalt gewinnt. Dort, wo die Macht zu einer möglichen Appellationsinstanz (d. h. auch Instanz der Anerkennung) wird, verwandelt sie sich, insofern sie, immer wenn sie sich personifiziert, als kontaminiert erscheint; in abstrakter Form behauptet sie dagegen eine spezifische universale Gültigkeit bis in die verborgenen und intimsten Winkel des Privaten. Die Überlagerung von Öffentlichem und Privatem hat im Umkreis des Dorfes und Schlosses (ganz ähnlich wie in ›Der Proceß‹) einen beklemmenden, anzüglichen und profanierenden Effekt: So erscheinen Öffentliches und Privates in merkwürdiger Verkehrung: Was immer K. im Verborgenen seines Privatlebens zu unternehmen glaubt, erweist sich als ein öffentlicher Akt. Und wann immer er den bürokratischen Apparat im Schloß zu erobern sucht, der doch eigentlich öffentlich zugänglich sein müßte, flüchten sich dessen Repräsentanten in den Raum einer undurchdringcker, Oliver Simons. Bielefeld 2007, S. 73–90. Wagner sieht in dem oben beschriebenen »Zusammenbruch der Trennungslinie zwischen Arbeits- und Privatsphäre« »den Zusammenhang von bürokratischer Abstraktion und Vampirismus der Aufopferung« (S. 74) versinnbildlicht. In seiner überzeugenden Rückführung der »Aufopferungsstrukturen« auf die moderne Bio-Macht nach Foucault geht Wagner von einer modernen Adaption des Opfers aus, eine Argumentation, die Kafkas Texte im Rückgriff auf Adorno, Horkheimer und auch Alfred Weber mit Blick auf die entfremdenden bürokratischen Elemente erhellt. Hier geht es aber komplementär zu Wagner um die Gratwanderung von personalisierter und entpersonalisierter Herrschaft und deren symbolische Repräsentationsmechanismen. Das, was Wagner im Kontext der Amalia-Episode als Opfer an die Beamten beschreibt, ist in meiner Argumentation als Manifestation der zunehmenden Abstraktion der anerkennenden/vergebenden Macht zu verstehen. Wagner entwickelt die Konsequenzen der bio-ökonomischen Logik der Versicherungen weiter bis zur bio-mythologischen Nazi-Ideologie in Hans Blühers ›Secessio Judaica‹.

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lichen Privatheit. So muß K. zu seiner Überraschung feststellen, er habe nirgends noch »Amt und Leben so verflochten gesehen wie hier, so verflochten, daß es manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt«.20

Im Rückblick auf die Entwicklung von Intimität und gesellschaftlicher Öffentlichkeit erweist sich die enge Verbindung, ja die Austauschbarkeit von Amt und Leben bei Kafka als eine radikale Weiterführung einer Tendenz der literarisch konstatierten gesellschaflich-öffentlichen Kontrolle und Regulierung der Intimbeziehungen (wie dies etwa bei Fontane deutlich wurde). In einer strukturellen Imitation des universalen Geltungsanspruchs einer konventionellen Sittlichkeit (aber oftmals in einer dezidierten Inversion ihres bürgerlichen Inhalts) vollzieht sich auch in ›Das Schloß‹ eine geradezu absurde Überblendung von intimsten Vorgängen und ihrer theatralen Zurschaustellung bzw. ihrem voyeuristischen Beobachtetwerden. Privateste Zustände wie Schlaf, Nacktheit etc. werden konsequent öffentlich. Damit wird die Zone der Überlappung von Privatem und Öffentlichem zur einzig real existenten Sphäre, aus der es keinen Rückzug mehr zu geben scheint; im Rekurs auf die Herausbildung der Sphäre der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als Nachfolger einer intimen (und transzendenten) Moral lässt sich darin ein verschobener Reflex der verwirrenden Omnipräsenz nicht-evidenter gesellschaftlicher Normvorgaben erkennen, deren repressiver Charakter um 1900 immer deutlicher wird. Alle Repräsentanten der sich entziehenden Macht (das »Schloß«) enttäuschen in ihrer Verkörperung oder können überhaupt nicht dingfest gemacht werden. Die de facto-Macht des Amtlichen ist dort am stärksten, wo sie in symbolträchtiger Absenz und nicht länger in realer Konkretion auftritt. Die Formlosigkeit der Macht wird augenfällig in der oft kommentierten Proteushaftigkeit Klamms, dessen Aussehen abhängig von dem jeweiligen Beobachter anders beschrieben wird. In der sicheren Distanz, hauptsächlich durch das Schlüsselloch dem voyeuristischen K. als Idol und als verdinglichtes Exponat zugleich dargeboten, bewegt sich Klamm auf dem schmalen Grat zwischen Nähe und Ferne in einer ambivalenten und ungreifbaren Präsenz/Absenz, die das gesamte Fragment bestimmt. Insgesamt gilt, dass sich hinter allen scheinbar unauffälligen Figuren plötz20

Wolf Kittler: Daten und Adressen. Verwandtschaft, Sexualität und Kommunikation in Kafkas Romanfragment ›Das Schloß‹. In: Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka. Hrsg. von Hansjörg Bay, Christof Hamann. Freiburg im Breisgau, Berlin 2006, S. 255–284, hier S. 259.

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lich aufscheinende Machtkonstellationen verbergen können, genau wie die geschwächten Vaterfiguren in ›Das Urteil‹ oder ›Die Verwandlung‹, die bereits von ihren Söhnen abgelöst schienen, plötzlich an Stärke gewinnen.21 Die Verkörperung der Macht ist damit ins Unlesbare abgeglitten und wird in ihrer Unkalkulierbarkeit zur Bedrohung. Die Abstraktion macht eine Konfrontation unmöglich – wenn sie stattfindet, kann sie dementsprechend nur retrospektiv als solche erkannt und entsprechend nicht genutzt werden. Diese Struktur ist ubiquitär in Kafkas Romanfragment (und auch in ›Der Proceß‹). Die sich entziehende Macht kann schon deswegen der Textlogik zufolge nicht gestürzt werden; hinter diesem Paradoxon steht jedoch ein weiterer, grundlegender Widerspruch, der sich wohl am klarsten in der Erzählung ›Vor dem Gesetz‹ abgebildet findet. In einem Abgleich von ›Das Urteil‹ und ›Vor dem Gesetz‹ wird – das zeigen die ambitionierten Auslegungen von Jacques Derrida (in Anlehnung an Walter Benjamins ›Zur Kritik der Gewalt‹) und Giorgio Agamben – die strukturelle Nähe von paternalen Einschlussmechanismen zu einer Phänomenologie des Rechts klar erkennbar. Väterliche Herrschaft wird bei Kafka in einer ebenso paradoxen ›gewährenden Vorenthaltung‹ praktiziert, wie es dies auch die Souveränität des Rechts vorgibt.22 Bei Agambens und Derridas Auslegung von Kafkas Text nun steht der paradoxe Moment der souveränen Setzung im Mittelpunkt, wie Derrida resümiert: »Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst, sind der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat).«23 Derrida versteht den Augenblick der Suspension, der »Epoché, dieses rechts(be)gründende oder das Recht umstürzende, revolutionäre Moment« als Instanz des Nicht-Rechts (des Unrechts) im Recht: »Dieser Augenblick 21

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Vgl. die Frau des Vorstehers (»›Der Vorsteher ist eine ganz belanglose Person. Haben Sie denn das nicht bemerkt? Er könnte keinen Tag in seiner Stellung bleiben, wenn seine Frau nicht wäre, die alles führt.‹ […] ›Sie war dabei‹, sagte K. ›Hat sie sich geäußert?‹ […] ›Nein‹, sagte K., ›ich hatte auch nicht den Eindruck, daß sie das könnte.‹ ›Nun ja‹, sagte die Wirtin, ›so irrig sehen Sie alles hier an.‹« – Franz Kafka: Das Schloß. In: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1982, S. 138–139. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als S mit der entsprechenden Seitenzahl) oder auch Jeremias, der plötzlich zum siegreichen Rivalen K.’s mutiert. Die Emotionen als legitimierender (da wahrheitsverbürgender) Unterbau der bürgerlichen Werte, wie sie zu Beginn dieser Studie dargelegt wurden, sind hier konsequent (im Prozess der Entsubstantialisierung eben dieser Werte) verloren gegangen. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund‹ der Autorität. Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann. Frankfurt am Main 1991, S. 29.

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ereignet sich stets und ereignet sich nie in einer Gegenwart. Es ist der Augenblick, da die Begründung des Rechts im Leeren oder über dem Abgrund schwebt, an einem performativen Akt hängend.«24 Hier sieht er eine spezifische Nähe zu Kafkas Mann vom Lande, insofern dieser nicht zum Gesetz durchdringen kann. Das Gesetz erweist sich als transzendent, es muss unter Gewaltanwendung als kommendes begründet werden; Derridas Deutung des Paradoxons besteht nun in der gleichzeitigen Transzendenz bzw. Theologie des Gesetzes und der widersprüchlichen Abhängigkeit eben dieser Transzendenz vom Menschen: »das Gesetz ist transzendent, gewaltsam und nicht gewaltsam, weil es bloß von dem abhängt, der vor ihm steht […], der es durch ein absolutes Performativum, dessen Gegenwart sich ihm entzieht, hervorbringt, begründet, gutheißt.«25 Anders als Benjamin26 verortet Derrida damit das »Messianische« bei Kafka27 in den performativen Akten, die das Gesetz als etwas immer Zukünftiges hervorbringen. Das Gesetz bleibt »immer im Kommen, es ist immer ein Versprochenes, weil es immanent, endlich und folglich bereits vergangen ist. Jedes ›Subjekt‹ befindet sich im voraus in dieser aporetischen Situation, es ist im voraus deren Gefangener.«28 Eine rückwirkende Lektüre des rechtssetzenden Moments wird dabei immer die Notwendigkeit und Legitimität dieser Gewalt hervorheben, wobei die setzende Gewalt unlesbar bleibt, die erhaltene dabei aber der symbolischen Ordnung des Rechts angehört. Für Derrida (der sich hier Benjamin anschließt) gibt es zwischen der Setzung und Erhaltung keinen Gegensatz: »es gibt allein das, was ich als differantielle [différantielle] Kontamination, die zwischen Setzung und Erhaltung sich ereignet, bezeichnen möchte«.29 In der Wiederholung des Einzigartigen erkennt Derrida demzufolge wiederum eine paradoxe Iterabilität, die für die (gleich noch näher zu erläuternde) temporale Paradoxie der Kafkaschen Texte aufschlussreich ist. 24 25 26

27

28 29

Derrida, Gesetzeskraft, S. 78. Hervorhebungen von Derrida. Derrida, Gesetzeskraft, S. 79. Vgl. dazu Judith Butler: Kritik, Zwang und das heilige Leben in Walter Benjamins ›Zur Kritik der Gewalt‹. In: Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Hrsg. von Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat. Bielefeld 2007, S. 19–46, hier S. 26 und allgemein: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main 1994. Vgl. zum Begriff des Messianismus in diesem Kontext Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und Libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft. Berlin 1997. Darin Kapitel V: ›Theologia negativa‹ und ›utopia negativa‹: Franz Kafka, S. 99–130. Derrida, Gesetzeskraft, S. 79. Derrida, Gesetzeskraft, S. 83.

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Agamben erkennt in ›Vor dem Gesetz‹ einen Abriss der Struktur des souveränen Bannes und greift dabei wie Derrida (oder vor ihm Carl Schmitt) auf das Souveränitätsparadox zurück, in dem er den souveränen Bann als etwas versteht, das sich wie die Sprache selbst voraussetzt: Als reine Form der Beziehung setzt die Sprache (wie der souveräne Bann) immer schon sich selbst in der Figur von etwas Beziehungslosem voraus, und es ist nicht möglich, mit etwas in Beziehung zu treten, noch aus etwas auszutreten, das zur Form selbst der Beziehung gehört. Das bedeutet nicht, daß dem sprechenden Menschen das Nichtsprachliche verschlossen bliebe, er vermag es nur nie in Form einer nichtbezogenen und unaussprechlichen Voraussetzung zu erreichen, sondern vielmehr nur in der Sprache selbst. (HS 61)

Agamben zieht nun aus der paradoxen Grundsituation andere Schlussfolgerungen, die für die Frage nach väterlicher Autorität ebenfalls wegweisend sind. Wenn Gershom Scholem die in Kafkas ›Proceß‹ beschriebene Beziehung zum Gesetz als Geltung ohne Bedeutung beschreibt, so markiert diese Charakterisierung zugleich auch die Symbolisierungskrise um 1900. Die symbolische Vaterordnung gilt, wie oben ausgeführt, ohne zu bedeuten, in Analogie zum »Gesetz«: »Überall auf der Erde leben die Menschen heute im Bann eines Gesetzes und eine Tradition, die sich einzig als ›Nullpunkt‹ ihres Gehalts erhalten und die die Menschen in eine reine Beziehung der Verlassenheit [abbandono] einschließen.« (HS 62) Agamben definiert das Leben unter einem Gesetz, das gilt und nicht bedeutet, als ein Leben im Ausnahmezustand. Anders als andere Interpreten versteht er das Ende von ›Vor dem Gesetz‹ nicht als Niederlage, sondern lediglich als Transformation eines virtuellen Ausnahmezustands in einen wirklichen. Erst die Schließung des Gesetzes erlaubt seiner Lektüre nach die Ankunft des Messias, ganz im Einklang mit der Vorstellung, dass die Erfüllung der Thora ihre Überschreitung sei: »Vom politischjuridischen Standpunkt aus betrachtet ist der Messianismus folglich eine Theorie des Ausnahmezustands; nur wird ihn eben nicht die geltende Autorität ausrufen, sondern der Messias, der ihre Macht subvertiert.« (HS 68)30 Aber der Messias, so hält es bereits Kafka in seinen auch von Agamben zitierten Oktavheften fest, »wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig 30

Agamben behauptet in ›Ausnahmezustand‹, dass Schmitts Souveränitätslehre einen Versuch darstelle, Benjamins göttliche Gewalt wiederum als konstitutiv für das Recht zu vereinnahmen (im Sinne des Ausnahmezustands): »Während Benjamins Vorgehensweise in der ›Kritik der Gewalt‹ darauf abzielte, sich der Existenz einer reinen und anomischen Gewalt zu versichern, geht es dagegen für Schmitt darum, eine solche Gewalt in den Rechtskontext zurückzuholen.« Agamben, Ausnahmezustand, S. 66.

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sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.«31 Agambens Zuspitzung auf die binäre Opposition zwischen Beziehung und Abbruch der Beziehung unterschlägt das grundsätzliche temporale Paradox in Kafkas Texten; nichtsdestoweniger bleibt seine Analyse mit Blick auf die väterliche Machtstruktur entscheidend.32 Innerhalb seiner späten aphoristischen Reflexionen wird die Zeit zur wesentlichen Reflexionskategorie Kafkas, wobei er den historischen Zeitbegriff des Nacheinanders in auffälliger und irritierender Weise durch eine quasi-religiöse Konzeption33 ersetzt, die sich auf Gleichzeitigkeit gründet: Das ist der Zeitbegriff der ›Heilsgeschichte‹, die sich immer vollzieht. Der entscheidende Augenblick ist immerwährend, er vollzieht sich immer wieder. Auch die jüdische und christliche Vorstellung, daß wir nach dem Sündenfall, also in der Zeit nach dem Sündenfall leben, wird von Kafka nicht ohne Widerspruch akzeptiert.34

Die Anwesenheit (als Möglichkeit von Rettung) und Abwesenheit (als ausbleibender Vollzug von Rettung) im Paradies schafft eine Sphäre der Potentialität, die das Leben als logisches Paradox ausweist.35 Der perpetuierte Sündenfall, der ewig den Moment der Erkenntnis reproduziert, kann dabei nicht rückgängig gemacht, sondern – in auffälliger intertex31

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33

34 35

Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. In: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcom Pasley, Jost Schillemeit. Frankfurt am Main 1992, S. 56–57. Im Folgenden im fortlaufenden Text zitiert als KA mit der entsprechenden Seitenzahl. Das gilt, obwohl sie mit anderen Konzepten von einem Systemwechsel, einem Übergang in eine andere Gesamtordnung korrespondieren, wie schon beschrieben mit Blick auf etwa Foucault oder Benjamin. Vgl. auch »Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig: […] die Ewigkeit des Vorganges aber macht es trotzdem möglich, daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es wissen oder nicht.« (KA 127) Hans Dieter Zimmermann: Der babylonische Dolmetscher. Zu Franz Kafka und Robert Walser. Frankfurt am Main 1985, S. 231. Hervorhebung von Zimmermann. Der sündhafte Mensch verharrt im Sinnlichen und versteht die Steigerung des Bösen als Voraussetzung der Erlösung (»Das Gute ist in dieser Hinsicht trostlos«); die Welt der Lüge, der Sinnlichkeit, der Erkenntnis, zu der überhaupt nur das Abgetrennte Böse (»was wir sinnliche [Welt] nennen, ist das Böse in der geistigen«; KA 59) fähig ist (»Wahrheit ist unteilbar, kann sich also nicht selbst erkennen. Wer sie erkennen will, muß Lüge sein«; KA 69), sind Folgen des Sündenfalls, der jedoch nicht kompensiert wurde: Der Baum des Lebens trennt Gott – so die Aphorismen – von den Menschen, so wie die Frucht des Erkenntnisbaumes, die Menschen von Gott trennte: »Die Menschen starben nicht, sondern wurden sterblich, sie wurden nicht Gott gleich, aber sie erhielten eine unentbehrliche Fähigkeit, es zu werden.« (KA 73; Hervorhebung von C.N.)

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tueller Anlehnung an Kleists Überlegungen zum Marionettentheater36 – nur überboten werden.37 Vom Baum des Lebens, heißt es dementsprechend, haben die Menschen »noch nicht« (KA 72) gegessen. Konsequent argumentiert Kafka hier im Rahmen eines triadischen Prinzips, in dem der Mensch als getrennt von seinem naturhaften Ursprung gesehen, und zugleich außerstande [ist], den letzten Schritt zu vollenden und sozusagen das Paradies durch die Hintertür wieder zu betreten. […] Da sich, projiziert auf die Kreisstruktur, die Gegenpole von fehlendem und völligem Bewußtsein als eine Einheit von Gegensätzen darbieten müssen, bemühte sich Kafka um beinahe Unmögliches: die Kongruenz des Positiven, des verlassenen Ursprungs, und des Negativen als der Reflexion in seiner vollkommensten und dadurch auch wieder positiven Form.38

Die ostentative Entwicklungsstruktur, in der die »Menschengeschichte [… als] Sekunde zwischen zwei Schritten eines Wanderers« (KA 74) verstanden werden kann, wird konstatiert und zugleich ausgehebelt, da es »von einem gewissen Punkt an […] keine Rückkehr mehr« gibt. Diesen Punkt der Irreversibilität, der den zwangsläufig immer verspäteten Messias antizipiert und damit gleichzeitig überflüssig macht, gilt es zu erreichen. Ebenso wie der Moment der Paradiesvertreibung ewig ist, verharrt der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung im Potentiellen, denn er »ist immerwährend« (KA 73). Der Mensch strebt im Zeitlichen permanent auf das Ewige hin, er ist in der gnostisch als sündhaft interpretierten Immanenz mit Hilfe der erworbenen Erkenntnisfähigkeit auf die Transzendenz als eine holistische Wahrheit verwiesen, die sich ihm beharrlich entzieht. Jede Entwicklung ist notwendig, dabei aber zugleich blockiert und nur als Postulat vorgegeben. Kurz: In ›Vor dem Gesetz‹ greift eine spezifische temporale Illogizität, die jene (spatial deutbare) Überschreitung in der Schwebe hält – aber nur im Rekurs auf das (von Agamben angerissene) Problem der Zugehörigkeit (Ausnahmezustand) kann dieses paradoxe zeitliche Modell verstanden werden. 36

37 38

Vgl. dazu Beda Allemann: Kleist und Kafka. Ein Strukturvergleich. In: Allemann, Zeit und Geschichte im Werk Franz Kafkas. Hrsg. von Diethelm Kaiser und Nikolaus Lohse. Darmstadt 1998, S. 169–188. »Aber das Geschehen kann nicht rückgängig gemacht werden, sondern nur getrübt werden.« (KA 75) Ralf R. Nicolai: Zwischen Ursprung und Utopie: Die thematische Einheit in Kafkas fiktionalen Texten. In: Franz Kafka und das Judentum. Hrsg. von Karl Erich Grönziger, Stéphan Mosès, Hans Dieter Zimmermann. Frankfurt am Main 1987, S. 161–177, hier S. 163f.

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Der intrinsische Zusammenhang von Derridas und Agambens Überlegungen mit dem hier thematischen Vater-Problem kann anhand von ›Das Schloß‹ besonders gut nachvollzogen werden. Es wurde bereits anhand von ›Das Urteil‹ deutlich, dass die Ablösbarkeit des Vaters und seine ewige Omnipotenz eine paradoxe Parallelanforderung in Kafkas Texten darstellen. Für diese Dualität gibt es in ›Das Schloß‹ einen versinnbildlichenden räumlichen Indikator. Die eingefrorene Distanz zum Schloß, in der sich K. bewegt, wird im Fragment nie geringer. Außerdem zeigt die Bürgel-Episode, dass der Schloß-Komplex (als Raum und als Konzept) nur solange erstrebenswert scheint, wie er sich als unerreichbare MachtSphäre präsentiert. Bürgel lädt K. zu der Transgression ein, die sich den anderen Protagonisten in den Roman-Fragmenten auch als Möglichkeit entzieht, und entwirft den entscheidenden Moment, den Agamben in ›Vor dem Gesetz‹ als vollzogen ansieht, als Potenz: Sie müssen sich nicht durch Enttäuschungen abschrecken lassen. Es scheint hier ja manches daraufhin eingerichtet abzuschrecken, und wenn man neu hier ankommt, scheinen einem die Hindernisse völlig undurchdringlich. Ich will nicht untersuchen, wie es sich damit eigentlich verhält, vielleicht entspricht der Schein tatsächlich der Wirklichkeit […] aber merken Sie auf, es ergeben sich dann doch wieder manchmal Gelegenheiten, die mit der Gesamtlage fast nicht übereinstimmen, Gelegenheiten bei welchen durch ein Wort, durch einen Blick mehr erreicht werden kann, als durch lebenslange, auszehrende Bemühung. (S 409–410)

Diese Möglichkeit der Erfüllung scheint aber nur gleichzeitig mit ihrer Aufhebung denkbar, denn es heißt weiter: »Freilich stimmen dann diese Gelegenheiten doch wieder insofern mit der Gesamtlage überein, als sie niemals ausgenutzt werden.« (S 410, Hervorhebung von C.N.) So ergibt sich im Monolog Bürgels die nahtlose Aneinanderreihung von Angebot und Relativierung des Angebots: Es gibt aber dennoch […] eine Möglichkeit, diese nächtliche Schwäche der Sekretäre, immer vorausgesetzt daß es eine Schwäche ist, für sich auszunützen. Freilich eine sehr seltene oder besser gesagt eine fast nie vorkommende Möglichkeit. Sie besteht darin, daß die Partei mitten in der Nacht unangemeldet kommt. (S 416–417)

Während K. die anfänglichen Erläuterungen in einem schlafähnlichen Zustand noch zu verfolgen versuchte, verlegt er sich gegen Ende auf eine rein akustische Aufnahme des Gesagten. Er wacht erst wieder auf, als Erlanger mit Klopfzeichen nach ihm verlangt und die von Bürgel als einmalig attestierte Gelegenheit verflossen ist. Bürgel scheint über dieses Schei429

tern nicht überrascht: »So korrigiert sich selbst die Welt in ihrem Lauf und behält das Gleichgewicht. Das ist ja eine vorzügliche, immer wieder unvorstellbar vorzügliche Einrichtung, wenn auch in anderer Hinsicht trostlos.« (S 425) Damit deutet Bürgel an, dass eine Erfüllung von K.’s Wünschen einer »Entgleisung« der weltlichen Ordnung gleichkäme. Er selbst beantwortet sich auf diese Weise seine zu Anfang gestellte Frage (»Aber warum werden sie [die Gelegenheiten] denn nicht ausgenützt, frage ich mich immer wieder.« S 410) mit dem Hinweis auf die notwendige Erhaltung des Gleichgewichts und entlarvt die von ihm suggerierte Möglichkeit als unmöglich.39 Die Erfüllung ist in gewisser Weise nur in ihrer Unerfüllbarkeit denkbar, nicht in ihrer tatsächlichen Realisation. Der gedachte »messianische« Moment muss dabei allerdings auch denkbar bleiben, um das Gleichgewicht zu erhalten. Im Denkbaren des Undenkbaren (aus der Sicht des Sohnes) vollendet sich auch die Macht des Vaters. Lediglich das Streben nach dem möglichen Moment der Unterordnung bzw. der Überschreitung der Vatermacht erlaubt dem komplexen Erwartungsgefüge einen genau austarierten Fortbestand und perpetuiert den Moment des Übergangs. Insofern K. in ›Das Schloß‹ nun den Einschluss in eine (nicht von außen lesbare) Wertekohärenz als werte-deviantes Individuum sucht, setzt er eine starke Integrationskraft voraus. Deshalb muss die unerreichbare Macht unerreichbar bleiben, da sie nur so in voller Potenz auftreten kann. Wenn Hans K. eine zukünftige Größe40 zuspricht, impliziert dies aus der Sicht des Kindes einen qualitativen, logik-negierenden Sprung in 39

40

Die Rolle Bürgels zu verstehen ist nur möglich, indem man sich die von ihm dargebotene Gelegenheit von vornherein als unmöglich denkt – andernfalls trüge er mit allen Implikationen die Züge eines unerkannten Messias; bemerkenswert bleibt allerdings, dass er offenbar in der Lage ist, K.’s Wünsche einschließlich einer unmöglichen Realisierung ebenfalls zu denken. Damit bricht er aus dem verdinglichten Horizont des Dorfes aus und beweist, dass auch im vorgegebenen Rahmen des Systems ein Raum für rein individuelle und persönliche Vorstellungen ist, die im weitesten Sinne sonst nur noch bei der von K. beeinflussten Frieda vorkommen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass auf Bürgel in besonderem Maße die schon besprochene Kindheitsmetaphorik angewandt wird: »die Wangen kindlich rund, die Augen kindlich fröhlich« (S 404). »Es war wohl die Zufriedenheit damit, die Zufriedenheit mit sich selbst, die ihm einen starken Rest gesunder Kindlichkeit bewahrt hatte« (S 410). Anscheinend ermöglicht ihm genau die »Kindlichkeit« das ›Nach-Denken‹ von K.’s Wünschen; auf diese Weise begreift auch Hans, tatsächlich noch ein Kind, die unterstellte zukünftige Größe K.’s. Es scheint, als ob die beiden »kindlichen« Gestalten dem Systemzusammenhang noch weniger verhaftet sind als die übrigen dem System fest Verwachsenen. Vgl. das Folgende. In Hans entsteht der Glaube, »jetzt sei zwar K. noch niedrig und abschreckend, aber in einer allerdings fast unvorstellbar fernen Zukunft werde er doch alle übertreffen.« (S 237)

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ein System, das Paradoxien in einem nicht-prognostizierbaren Modus der grundsätzlichen Alterität beherbergen kann. Nur der ausgeschlossene Nicht-Eingeschlossene kann auf diese Weise die Utopie einlösen und das System sprengen, indem er in seiner Alterität (und eben nicht in einer a priori-Konformität) integriert wird. Das evoziert zugleich die MachtFrage, die eine Systemsprengung gerade auch aus K.’s Sicht nicht erstrebenswert macht. Genau diese Konstellation erklärt nun wiederum die spezifische Schwellenexistenz, die Kafkas Protagonisten auffällig oft führen. Peter von Matt hat mit Blick auf ›Der Jäger Gracchus‹ auf den Aufenthalt des Jägers im »Nunc stans der Initiationssekunde«41 hingewiesen. Das Ereignis, das nie aufhört sich zu ereignen (und damit als Kontinuum den Begriff Ereignis bis an seine Grenze dehnt) oder das Ereignis, das sich eben nie ereignet (»événement qui arrive à ne pas arriver«)42 reformuliert als temporales Paradox, was sich mit Agamben als ein spatiales Problem der Zugehörigkeit ergibt. Das temporal kodierte Liminale wird zum eigentlichen Ort der »Söhne«: »Der Familienrand ist also stets zweierlei: das räumliche Nichtdraußen und Nichtdrinnen und das lebensgeschichtliche Nichtmehrkindsein und Nochnichtverheiratetsein.«43 Es ist aber auch der perpetuierte Moment einer ausbalancierten, spatialen (d. h. im Sinne von Zugehörigkeit zu einer Sphäre) Paradoxie, in der individuelle Selbstbehauptung über die Akzeptanz durch einen omnipotenten Vater gewährt wird. Nur ein anhaltender ›Austrittsversuch‹ aus der Ursprungsfamilie kann diese Macht des Vaters erhalten sowie den Anspruch auf Individualität artikulieren und auf diese Weise Kafkas spezifisches paradoxes, paternales Konzept aufrechterhalten. Der gleiche Grundsatz gilt damit auch in ›Vor dem Gesetz‹. Der Mann vom Lande wartet geduldig, weil er die Sphäre des Gesetzes unbedingt respektiert; jeder Übergriff nämlich (sollte er auch Erfolg haben) diskreditiert die Allmacht des Gesetzes. Alle Untersuchungen, die souveräne Strukturen erkennen, verdichten das Paradoxon auf allgemeine Phänomenologien der Gewalt und Macht. Bei Kafka wird aber eine präzisere Analyse deutlich: Es ist die paternale Einfärbung der Macht (d. h. die Unterstellung einer Anerkennungs- und damit erstrebten individualisierenden Integrationsfunktion), die Konditionierung und die paternal-autoritären Strukturen, die das Außerhalb des 41 42

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Matt, Verkommene Söhne, S. 299. Jacques Derrida: »Préjugés«. In: Spiegel und Gleichnis. Hrsg. von Norbert W. Bolz, Wolfgang Hübener. Festschrift für Jakob Taubes. Würzburg 1983, S. 342–366, hier S. 359. Matt, Verkommene Söhne, S. 302.

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machtdefinierten »Innens« undenkbar macht. Die souveräne Macht, zwar legitimiert durch Iterabilität und durch nachträgliche Legitimation, kann nur durch Revolution ent-setzt werden. Sobald die Ein- und Ausschließung im Modus der »Anerkennung« funktioniert, kann der Betroffene jedoch die a priori verlorene Schlacht angesichts des Zieles, das nicht erreicht werden kann, ohne den eigentlichen Wert zu verlieren, nicht mehr verlassen.

1.3. Schlussfolgerungen Die Reduktion auf dieses Strukturmuster hat einen symbolischen Wiedererkennungswert für die Systemumstellungen der Moderne; es ist das Paradox, das bei Kafka aus der Vermischung von Väterlichkeit und Herrschaft in beschriebener Weise entsteht und sich für zeitgenössische Phänomene als anschlussfähig erweist. Weder in ›Der Proceß‹ noch in ›Das Schloß‹ haben wir es mit einer greifbaren Vaterfigur zu tun. Die Surrogate werden im Moment der Konfrontation wertlos, der eigentlich Gegner verschwindet und kreiert damit eine abstrakte Präsenz der Macht, die wohl die beklemmendste Formel des Kafkaschen Schreibens geworden ist. 1) Eine ähnliche Überlagerung findet sich nämlich in der traditionellen Vaterfigur, insofern der Vater notwendigerweise institutionell zwischen den Sphären von Privatheit und gesellschaftlicher Öffentlichkeit pendelt, wobei er Herrschaftsprinzipien importiert und das Private vor ein öffentliches Regeltribunal stellt. Die Vermischungsform des Öffentlichen und Privaten in der paternalen Gesellschaft wird bei Kafka in diesem Sinne als in sich problematische Verunreinigung gedeutet. 2) Obwohl der »Vater« als Integrationsmodell den entscheidenden Gewährleistungscharakter (als ausgesetztes »Versprechen«) beibehält, ist damit diese Konstruktion eine offensichtlich repressive geworden. Bekannte Motive werden dabei weitertransportiert, aber in dem neuen Kontext ebenfalls paradox. So ist die Beschränkung und Zähmung der Söhne durch die extreme Regulierung der Sexualität bei Kafka durch die paternal vorgegebene Aufforderung zur Fortpflanzung (in einer von ihm gutzuheißenden ›family of procreation‹) gebrochen. In einem Reflex auf die Ermutigung zur Sexualität und dem gleichzeitig greifenden bürgerlichen Unterdrückungsgestus wird in Kafkas Texten jeder Anspruch auf Sexualität (aber ebenso auch grundsätzliche Abstinenz) per se als Transgression eingefärbt: Es gibt kein funktionierendes Verhältnis der Söhne zur Sexua432

lität mehr.44 Auch das erscheint als eine Konsequenz aus den Tendenzen zur Endogamisierung und Entsexualisierung im 19. Jahrhundert. Die Vater-Sohn-Problematik wird bei Kafka nicht wie bei den Expressionisten (die sich dazu teilweise ebenfalls eines spezifischen »messianischen« Symbolnetzes bedienen, um die Überschreitung aus der obsoleten und disfunktionalen Vaterwelt verbal darzustellen)45 entparadoxiert und ist damit eine idiosynkratische, aber auch innovative Beschreibung der Ambivalenzen um 1900. 3) Die Form der abstrakten Macht funktioniert als Signifikant mit einer reklamierten Beziehung zu einem Signifikat, das sich wiederum vollständig entzieht (in der also die eigentliche Macht stets durch subalterne, zwielichtige Repräsentanten ersetzt wird), und etabliert eine Geheimnisstruktur sowie die perpetuierte Notwendigkeit, aus den Signifikanten das Signifikat deutend abzuleiten. Die zahlreichen fehlgeschlagenen Interpretationsversuche der einzelnen Protagonisten verweisen auf die Vergeblichkeit dieses Unterfangens. Mit der so konstituierten unauflöslichen Arkanizität findet Kafka auch eine Formel für die Symbolisierungskrise um 1900, in der das Vaterbild nach einem Jahrhundert der mühevollen Restauration zu einem widersprüchlichen und provokanten Zeichen für die zunehmende Abstraktion und die fehlende konkrete Abbildlichkeit der modernen Gesellschaftsstrukturen wird. Die affirmative Kraft des Bildes vom Vater als Schnittstelle zwischen der gesellschaftlich-öffentlichen, politischen und privaten Welt ist gebrochen. Erhalten, das zeigt 44

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Dem ödipalen Kampf um die Frauen in ›Das Schloß‹ gehen in ›Das Urteil‹ die verunglimpfende Beschreibung von Georgs Beziehung zu seiner Verlobten (»Weil sie die Röcke gehoben hat, die widerliche Gans«, DU 30) voran. Die Kontaminierung mit einer spezifisch entfremdenden Sexualität wird auch in ›Das Schloß‹ greifbar. Zu Beginn indiziert der Lehrer, dass die Macht des Schlosses, die am Anfang noch eine Art Verkörperung in Form des Grafen West-West erhält, eine Komponente aufweist, die eine Erwähnung des Grafen vor den Ohren »unschuldiger Kinder« (S. 15) despektierlich erscheinen lässt. Die vermeintlich unschuldige Referenz auf einen Namen wird zum Affront, wohingegen die Prostitution der Frauen im Dorf als Ehre gedeutet wird. Sexualität ist für den Sohn allgemein in Kafkas Texten nicht nur unzukömmlich, sondern per se schmutzig und dabei unbefriedigend. Vgl. dazu auch das Folgende. Zu der komplexen Verquickung der verschiedenen Ansätze vgl. exemplarisch Hans-Otto Horch: »Incipit vita nova«. Vom messianischen Geist expressionistischer Utopie. In: Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Spies. Würzburg 1996, S. 100–118. Natürlichen hängen die theologischen Implikationen integral mit den expressionistischen Kernmotiven vom Neuen Menschen, von Wandlung, Apokalypse zusammen, vgl. dazu knapp zusammenfassend Anz, Literatur des Expressionismus, S. 44–49. Zum Zusammenhang zwischen individueller Erneuerung im Kontext von Ich-Dissoziation und Menschheitserneuerung vgl. Silvio Vietta, Hans-Georg Kemper: Expressionismus. München 1975, S. 186–194.

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Kafka ebenfalls nachdrücklich, bleibt die als vergeblich eingestufte Sehnsucht nach dem entparadoxierten Paradox, nach dem Moment der Überschreitung, in dem sich Präsenz und Absenz gleichzeitig denken lassen, einer Re-Präsentation, die jene sich entziehenden Formationen wiederum einführt im Zeichen der Konkretion.

2.

Notwendigkeit des Systemwechsels und Chancen und Grenzen der »Bürgerlichkeit«

Auch außerhalb des Kunstsystems begegnet man also (vgl., wie oben beschrieben, Agamben und Derrida im Rückbezug auf Benjamin) der Vorstellung eines notwendigen vollständigen Systemwechsel.46 Er wird zudem (nicht zufällig) in einem biopolitischen Gründungsdokument mitgedacht: in Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität. Über Foucaults Zugriff wird eine historische Entwicklung greifbar, innerhalb derer jenes Element der systemischen Überschreitung verblüffend anders gefasst wird. Als hilfreich erweist sich dabei zusätzlich ein anderer exemplarischer Text (heute topisch in den liberatistischen, kommunitaristischen Diskussion um einen starken Staat bzw. Minimalstaat), in dem der Konflikt von Kollektiv und Individuum in einer um 1800 wichtigen Dimension thematisiert wird, nämlich Wilhelm von Humboldts ›Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen‹. Im Gegensatz zu Benjamins, Derridas und Agambens Analyse, die eine Konstanz eines spezifischen Modells (als Souveränität des Rechts) hervorheben, sollen damit zum Abschluss noch einmal Kontinuität und Wandel eines Denkmodells gleichermaßen stark gemacht werden. Die unterschwellige Gewalt, die beim Einschluss in eine (Rechts-)Gemeinschaft wirksam wird, mag unveränderlich sein: die Effekte jedoch können variieren. Foucault und Humboldt machen eine Dichotomie auf, die zwei hier einschlägige Paradigmen wiederum aufeinander bezieht: das der Rechtlichkeit (des Staates) und das der bürgerlichen Werteordnung. Im späten 46

Allgemein formuliert es Benjamin folgendermaßen: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.« Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2.1. Frankfurt am Main 1977, S. 179–204, hier S. 203.

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18. Jahrhundert sind diese beiden Konzepte noch als Antinomie zu verstehen.47 Foucaults »minimales Staatskonzept« formuliert dabei fast wörtlich Humboldts Prämissen, bei dem der Staatszweck dem Zweck der Menschen untergeordnet wird, wobei der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt […] die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen [ist]. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung.48

Der umfassende Ordnungsanspruch des Staates, der sich in »Policeygesetzen« manifestiert, wird angesichts einer maximalen Ermächtigung des Einzelnen zurückgewiesen.49 Foucaults Ausweg, der sich ebenfalls als Sprung und Systemwechsel versteht, reaktiviert gleichzeitig eine Größe, welche am stärksten an jenen Einschlussverfahren partizipiert, die sich nach meinen Überlegungen analog zu denen des Rechts verhalten (also eine Gewalt perpetuieren, die sich letztlich nicht als setzende und erhaltende differenzieren lässt): Bürgerlichkeit und ihre spezifische Werteordnung. Gegen die normierende Gewalt des staatlichen Rechts wird bei Humboldt ein Wertekonzept gesetzt, das bürgerlicher nicht sein könnte: die von der Vernunft ewig vorgegebene (d. h. transzendente) Auflage, entelechisch die höchste individuelle Bildung anzustreben. Indem Humboldt den regulativen Werten eine ontologische Qualität (»ewig«) zuspricht, wird die Disziplinierung bei ihm zu einer freiwilligen Selbstregulierung als Erfüllung und Entfaltung der eigenen Anlagen (im Sinne der Wahrheit).50 Gleichzeitig beschreibt Humboldt eine Opposition zwischen Staat und Individuum (bzw. der Gesamtheit der Individuen als Gesellschaft). Das damit indirekt formulierte (und auch hier thematische) Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft wird auch von Foucault terminologisch genutzt. Gegen die (historische) »Zeitlosigkeit« (also Geschichtslosigkeit) 47 48

49 50

Ein starker Staat wird dabei zunehmend in Frage gestellt. Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Alexander von Humboldt. Bd. 7. Berlin 1852, S. 10. Der Staat ist vor allem dann zuständig, wenn die Rechte anderer verletzt werden. Humboldt bewertet also die zunehmend internalisierten Disziplinierungsvorgaben positiv (unabhängig von ihrer langfristigen de facto-Instrumentalisierung im Zeichen der »Staatsräson«): Diese kontemporäre Perspektive wird in gleichem Maße bei Lessing und Schiller greifbar, auch wenn sich bei Lessing bereits offensichtliche Probleme andeuten. Vgl. die Kapitel zu Lessing und Schiller.

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der modernen Gouvernementalität setzt Foucault eine neue »Eschatologie«, die er als Gegenbewegung gegen die Zwänge des Staates versteht. Die unbegrenzte Gouvernementalität des Staates wird angehalten »durch das Auftauchen von etwas, das die Gesellschaft selbst sein wird. An dem Tag, an dem die bürgerliche Gesellschaft sich von der Vormundschaft […] des Staates befreit haben wird, […] wird zugleich die Zeit, wenn nicht der Geschichte, so doch zumindest der Politik, der Zeit des Staats beendet sein.«51 Die Konzeption von Staat und Gesellschaft als zwei Sphären, die nur bedingt systemisch gekoppelt sind, ist hier entscheidend: Sie etabliert Bürgerlichkeit als Avantgarde der individuellen Freiheit, im Gegensatz zu einer staatlichen Sphäre (wenn auch einer entsprechend begrenzten). Das, was Foucault hier als »bürgerlich« bezeichnet, korrespondiert mit der eben beschriebenen stark individualisierten Werteordnung, deren konzeptuelle staatliche Konsequenzen gerade in der Zeit der Französischen Revolution (und bedingt zuvor in der Amerikanischen) erkennbar werden. Wichtig ist die Kontrasterfahrung zwischen Staat und »Bürgerlichkeit«, hier verstanden als Wertekonzept, das eine Gesamtheit der Individuen als »Wertegemeinschaft« insinuiert (wobei dieses Gemeinschaftskonzept kein synthetisches ist, sondern ein additiv-universales): Humboldt sieht um 1800 die Funktion von Bürgerlichkeit im Zeichen der Ermächtigung. Die Bürgerlichkeit, als wichtigste Grundlage moderner väterlicher Macht, ist damit ein partiell utopischer oder, wie Foucault es im Rekurs auf temporale Muster formuliert, ein eschatologischer Diskurs.52 Die systemische Grenze, wie sie Foucault fasst, kann nur in der Transgression in eine andere »Ordnung« überwunden werden, so wie es die oben interpretierten theoretischen und literarischen Texte um 1900 auch vorschlagen.53 Bürgerlichkeit (als Werteordnung) macht das paternale Integrationsmodell um 1800 zu einem starken Modell, dessen Effizienz erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts als zunehmend problematisch verstanden wird (nämlich genau dann, wenn die bürgerlichen Werte mehr und mehr zur veräußerlichten Konvention werden). Allerdings wird ja bereits bei ›Emilia 51 52

53

Foucault, Gouvernementalität I, S. 510. Die Bürgerlichkeit, wie sie hier entworfen wird, hat einen emanzipatorischen, antistaatlichen Anspruch, der auch durch die Einschließung von Repräsentationsmechanismen und Grundrechten nicht befriedet werden kann. Die Systemtheorie macht hier terminologisch deutlich, dass Staat und Gesellschaft in diesem Sinne nicht mehr zusammengeführt werden können, sondern sich systemisch ausdifferenziert haben. Vgl. Niklas Luhmann: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 68. Vgl. dazu auch Walter Benjamins messianisch-apokalyptische Überlegungen zur Gewalt.

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Galotti‹54 deutlich, wie der Vater in der konsequenten Anwendung von bürgerlichen Individualitäts- und Identitätsvorgaben ambivalent werden musste. Diese Konstanz, welche die paternale Gewalt als Gewalt begreift (analog zur Souveränität des Rechts), ist jedoch von einem axiologischen Wandel abzugrenzen, der sich zwischen Lessing und Kafka vollzieht: Erst um 1900 kann die Notwendigkeit der Transgression auch und gerade mit Blick auf den Vater explizit werden, in dem Moment nämlich, wenn sich das Konzept der Ermächtigung vollständig verausgabt hat und statt dessen durch eine offenkundig repressive Regulierung abgelöst wurde.

3.

Das paternale Paradox

Es ist dabei sicher kein Zufall, dass sich Agamben und Derrida in den beschriebenen Kafka-Deutungen auf Walter Benjamins ›Zur Kritik der Gewalt‹ beziehen. In dem Text antizipiert Benjamin eine Problematik, die in Agambens Bann-Konzept wieder auftaucht. Der Bann als ursprünglichste Form der Beziehung (also die Unausweichlichkeit der Beziehung zur Souveränität als Beziehung in der vermeintlichen Nicht-Beziehung) hat ihren Ursprung in der unterstellten Gleichheit von rechtserhaltender und rechtssetzender Gewalt. Benjamin konstatiert dabei ein Dilemma, das bei der zwangsläufigen Divergenz von Naturrecht (als Kritik der Zwecke) und positivem Recht (als Kritik der Mittel) entsteht: »Das Naturrecht strebt, durch die Gerechtigkeit der Zwecke die Mittel zu ›rechtfertigen‹, das positive Recht durch die Berechtigung der Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu ›garantieren‹.«55 – »[…] alle Naturzwecke einzelner Personen müssen mit Rechtszwecken in Kollision geraten, wenn sie mit mehr oder minder großer Gewalt verfolgt werden.«56 Das knüpft an die auch hier angedeuteten, deontologischen und konsequentialistischen Probleme an, in deren Kontext die Frage nach dem Vorrang Individuum oder (Werte-)Kollektiv57 anders beantwortet wird, wobei die Vater-Figuren zu entweder vermittelnden oder radikal repressiven Instanzen werden. Daraus ergibt sich allerdings auch eine genealogische Schlussfolgerung, die das Endprodukt der rechtserhaltenden Gewalt nachhaltig in Frage stellt: 54 55 56 57

Vgl. das Kapitel zu Lessing. Benjamin, Kritik der Gewalt, S. 180. Benjamin, Kritik der Gewalt, S. 182–183. Vgl. das Kapitel zu Hebbel.

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Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zweifach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt der Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengen Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.58

Damit wird die Vernichtung der Gewalt notwendig; der mythischen Gewalt (die Benjamin als rechtsetzend versteht) wird die göttliche, rechtsvernichtende Gewalt entgegengesetzt. Die Entsetzung des Rechts und den ihm unwiderruflich verbundenen Gewalten allein kann »ein neues geschichtliches Zeitalter« begründen. Das paternale Paradox, das sich bei Kafka voll entfaltet hat, lässt sich anhand von Benjamin und Agamben zurückbeziehen auf das Dilemma der Individualität, das auf Integration angewiesen bleibt. Es wurde bereits deutlich, dass das paternale Paradox eng gekoppelt ist an Chancen und Grenzen des Individualitätsparadigmas in seiner Rückbindung auf das Kollektiv und seine Werte-Ordnung. Agambens Fokus auf die Souveränität des Rechts (ohne Differenzierung zwischen Staat, Politik etc.) verdeutlicht nicht nur den großen Einfluss von Benjamins Überlegungen auf die »Homo Sacer«-Theorie, sondern verdichtet in Analogie (zum defizitären Modell der Souveränität) ein Problem des Paternalen: Die Gewaltsamkeit des Einschlusses wird erst beim Ausschluss erkennbar; dann wird der volle Umfang der paternalen Macht, die Gleichzeitigkeit von Regulierung und Beschränkung sowie Emanzipation und Protektion offenbar. Foucaults biopolitische Verortung der Policey59 greift dieses Prinzip (ganz analog zu Benjamin)60 auf, das zugleich das Wohlergehen des Einzelnen (zum Wohle des Ganzen) und eine entsprechende Regulierung und Begrenzung verbürgt. Wenn das Konzept der Policey um 1800 im Sinne der Individualität als zunehmend problematisch erscheint, so ist das Modell des bürgerlichen Vaters ein maßgeschneidertes Nachfolge-Projekt, das parallel zu einer paternal individualisierten Kontrolle als Ermög58 59 60

Benjamin, Kritik der Gewalt, S. 197–198. Vgl. dazu das Kapitel zum Vater als Herrscher. Die Polizei ist hier paradigmatisch, insofern sie zugleich Verfügungsrecht und Verordnungsrecht innehat, so dass die Trennung zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist. Vgl. Benjamin, Kritik der Gewalt, S. 189.

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lichungsfunktion gedacht wird. Zunächst wurden deswegen (gerade im Zeichen der Französischen Revolution) vor allem die emanzipatorischen Effekte der Paternalität sichtbar (obwohl sie textlich, etwa bei Lessing, nichtsdestoweniger bereits die immanenten Paradoxien dieses Konzepts ausstellen). Anders als bei Agamben, Benjamin und auch Foucault bleibt doch in diesem Zeitraum textlich eine Transzendenz denkbar, die eine potentielle Auflösung des Dilemmas (in der Normenkonformität der Kinder, die auch ihrem »eigentlichen« Charakter entspricht) vorschlägt. Insofern die spezifische bürgerliche Moral zunächst als transzendent verstanden wird, entfaltet sich die Paradoxie erst vollständig, wenn der moralische Überbau als artifizielle Konstruktion begriffen wird. Um 1900 spitzt sich nach einer langen Krise – die literarisch sowohl beschwichtigt als auch katalysiert wird – das Dilemma zu, indem die Authentizität verbürgende Emotion immer stärker der gesellschaftlichen a priori-Moral weicht. Benjamins Bestandsaufnahme muss somit konsequent historisiert werden. Folglich sind auch Agambens systemische Überlegungen (wie oben mit Blick auf Humboldt und Foucault) stärker in eine historische Axiologie einzubinden. Denn auch wenn das Dilemma der Souveränität (genau wie das Dilemma des Vaters) in der Problematik der Integration durch »Gewalt« (beim Vater also über ein Normensystem, das appliziert wird) besteht, so hat diese Figur um 1800 eine vollständig andere Bedeutung als um 1900, obwohl es sich, wie der Rekurs auf Agamben aufschlussreich zeigt, um genau dieselbe, letztlich gewalt-fundierte Dualität handelt. Lessing ist ein Paradebeispiel für die Tiefenschärfe der Literatur und ihrer Axiologien, insofern er genau diese Ambivalenz einfängt, aber zugleich die grundsätzlich emanzipatorischen, ermächtigenden Chancen dieses bürgerlichen Modells akzentuiert. In Kafka nun werden alle hier thematisierten Stränge des bürgerlichen Vaterkonzepts aufgegriffen und (das bestätigt rückwirkend die hier behauptete Analogie) in der Aushebelung der Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Privatheit in die Sphäre des Rechts transponiert. Es erweist sich bei Kafka demselben Gewaltparadox unterworfen wie Konzepte der Staatlichkeit und Souveränität. Für die Widersprüche der Moderne erscheint das bürgerliche VaterModell im 19. Jahrhundert grundsätzlich als ein besonders griffiges Beispiel: Dem Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und kollektiver, moralischer Normierung entspringt somit das paternale Paradox als eines von vielen Folgeproblemen der modernen Individualität.

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