Der Fall Reinthaller: Das Strafverfahren gegen Anton Reinthallervor dem Volksgericht [1 ed.] 9783205231882, 9783205231868

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Der Fall Reinthaller: Das Strafverfahren gegen Anton Reinthallervor dem Volksgericht [1 ed.]
 9783205231882, 9783205231868

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HEINZ-DIETMAR SCHIMANKO

DER FALL REINTHALLER DAS STRAFVERFAHREN GEGEN ANTON REINTHALLER VOR DEM VOLKSGERICHT

Heinz-Dietmar Schimanko

Der Fall Reinthaller Das Strafverfahren gegen Anton Reinthaller vor dem Volksgericht

B Ö H L AU V E R L AG W I E N KÖ L N W E I M A R

Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Oberösterreich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Nachlass Anton Reinthaller, Landesarchiv Oberösterreich, Foto: Heinz-Dietmar Schimanko

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23188-2

Inhalt Vorwort 11 1. Einleitung 13 1.1 Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.2 Zu den Hauptquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Zur Person Anton Reinthaller 15 3. Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz 26 3.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.2 Zur Entstehungsgeschichte.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.3 Inhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.3.1 Zum Verbotsgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.3.2 Zum Kriegsverbrechergesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.4 Rechtsanwendung – Problematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.5 Zum Verfahren vor dem Volksgericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

4. Der Strafprozess und die Begnadigungen 63

4.1 Der Prozess im Überblick. . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Anklage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Verteidigung.. . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die Verteidiger. . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Replik der Verteidigung. . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Zum Charakter Reinthallers und dessen Tätigkeit in der Verbotszeit und der NS-Zeit. . . . 4.3.2.2 Zum Anschlussgesetz.. . . . . . . . . . . 4.4 Die Urteile.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Das Urteil des Volksgerichts Wien. . . . . . 4.4.2 Das Urteil des Obersten Gerichtshofs. . . . 4.4.3 Die Entscheidungen des Volksgerichts Linz.

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Inhalt

5. Recht und Moral 89 5.1 Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5.2 Recht und Rechtsstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5.3 Rechtspositivismus und Naturrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 5.4 Vermittelnde Position. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5.5 Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.5.1 Zur Aufarbeitung des NS-Regimes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.5.2 Strafverfahren gegen Mauerschützen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.6 Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.6.1 Absolute überpositive Ideale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.6.2 Rechtliche Verankerung der Radbruch’schen Formel. . . . . . . . . . . 110 5.6.3 Zur Verschuldensfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5.7 Abgrenzung zum vorliegenden Fall. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

6. Andere Hochverratsprozesse 116

6.1 Der Fall Dr. Guido Schmidt. . . . . . . . . . . 6.2 Der Fall Dr. Rudolf Neumayer. . . . . . . . . . 6.2.1 Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Strafverfolgung.. . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Gnadengesuche, Haft und Haftentlassung. 6.2.4 Wiederaufnahmeantrag. . . . . . . . . . 6.3 Der Fall Dr. Franz Hueber. . . . . . . . . . . . 6.3.1 Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Der Strafprozess. . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Die Wiederaufnahme. . . . . . . . . . . 6.3.4 Die Begnadigung. . . . . . . . . . . . . 6.4 Auswirkungen auf das Gnadenverfahren. . . . . 6.5 Zu den Interventionen. . . . . . . . . . . . . .

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7. Die Prozessberichterstattung 172

7.1 Presseberichte als Quelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Zum öffentlichen Interesse.. . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Erster Verhandlungstag Montag, 23. Oktober 1950. . . . 7.4 Zweiter Verhandlungstag Dienstag, 24. Oktober 1950. . . 7.5 Dritter Verhandlungstag Mittwoch, 25. Oktober 1950.. . 7.6 Vierter Verhandlungstag Donnerstag, 26. Oktober 1950. . 7.7 Die Hauptverhandlung vor dem Volksgericht Linz. . . . .

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Inhalt

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8. Der Strafprozess im Detail 200 8.1 Die Voruntersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8.1.1 Haft und Sicherungsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8.1.2 Dokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 8.1.3 Vermögenssicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 8.1.4 Einschreiten des Dr. Günther. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 8.1.4.1 Eingabe vom 09. Juli 1949. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 8.1.4.2 Eingabe vom 06. August 1949. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 8.1.5 Die Zeugenaussage des Dr. Günther. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 8.1.6 Das Rechtsgutachten des Dr. habil. Hans Merkel zum Anschlussgesetz.. 247 8.1.6.1 Zum Autor Dr. habil. Hans Merkel. . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 8.1.6.2 Das Rechtsgutachten zum Anschlussgesetz. . . . . . . . . . . . . . . 252 8.1.7 Univ.-Prof. Dr. Adolf Merkl zum Anschlussgesetz. . . . . . . . . . . . 280 8.2 Die Hauptverhandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 8.2.1 Erster Verhandlungstag Montag, 23. Oktober 1950. . . . . . . . . . . 290 8.2.2 Zweiter Verhandlungstag Dienstag, 24. Oktober 1950. . . . . . . . . . 293 8.2.3 Dritter Verhandlungstag Mittwoch, 25. Oktober 1950. . . . . . . . . . 301 8.2.4 Vierter Verhandlungstag Donnerstag, 26. Oktober 1950. . . . . . . . . 328 8.3 Das Überprüfungsverfahren vor dem OGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.3.1 Das Erkenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.3.2 Die Angelegenheit als Politikum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 8.4 Das Verfahren vor dem Volksgericht Linz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

9. Schlusswort 358 Zusammenfassung 365 Abstract 367 Abkürzungsverzeichnis 368 Literaturverzeichnis 371

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Inhalt

Quellenverzeichnis 376 Öffentliche Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Private Quellen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Zeitungsartikel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Digitale Medien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Zu einem in der pluralistischen Gesellschaft ohne – insbesondere ideologische – Denkbarrieren und mit Akzeptanz für andere Ansichten erfolgenden Meinungsaustausch:

Ich bin nicht Ihrer Meinung, aber ich werde mich dafür einsetzen, daß Sie Ihre Meinung äußern können. (sinngemäß nach Evelyn Beatrice Hall) Zu oberflächlichen und schematischen Betrachtungen:

Gedanken bis zur letzten Konsequenz unerbittlich zu verfolgen, ist nicht die Sache dieser Weltverbesserer; sie ziehen es vor, dort Halt zu machen, wo die Schwierigkeiten der Probleme beginnen. Das ist zugleich die Erklärung für die lange Lebensdauer ihrer Lehren; als nebelhafte Gebilde haben sie keinen festen Punkt, an dem die Kritik sie packen könnte. (aus Ludwig von Mises, Die Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, München 1912, 89) Zur Prangerwirkung:

Eine Schlauheit ist die Kunst, eigene Fehler zu verbergen und die Schwächen anderer bloßzulegen.(nach William Hazlitt)





Vorwort Der Forschungsgegenstand umfasst auf einem generell-abstrakten Niveau die Thematik, ob und ggf. in welchem Umfang Einzelpersonen für historische Vorgänge verantwortlich gemacht wurden, auch stellvertretend für andere, insbesondere nach einer Änderung des staatlichen Herrschaftssystems, in welchem Umfang ursprünglich als zulässig oder als geringer gewichtiger Rechtsverstoß eingestufte Handlungen nachträglich zur Straftat erklärt und geahndet wurden, und welche Rechtfertigungen dafür in soziologischer und rechtsphilosophischer Hinsicht gegeben wurden oder gegeben werden können, und ob diese Rechtfertigungen im Einzelfall anwendbar sind. Auf einem individuell-konkreten Niveau besteht diese Themenstellung in dem gegen Anton Reinthaller geführten Volksgerichtsprozess sowie bei anderen Volksgerichtsprozessen, die ganz oder überwiegend wegen des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich geführt wurden. Die Aufarbeitung dieses Gegenstands erfolgt im Sinne einer objektiven Rekonstruktion der historischen Situationen und Vorgänge, der Analyse der Zusammenhänge und der Beurteilung der daraus resultierenden Konsequenzen.1 Die Betonung des Objektivitätsgebotes ist bei der Forschung über Anton Rein­ thaller besonders angebracht, weil der Umstand, dass über ihn nicht, bzw. nicht immer objektiv berichtet wird (siehe Kapitel 7), bis zur heutigen Zeit angehalten hat, wie sich aus der Boulevardberichterstattung ergibt.2 Aber die irreführend unvollständige Darstellung, die Reinthaller verkürzt als SS-Brigadeführer bezeichnet, ohne ergänzende Informationen zu bieten, die zum richtigen Verständnis dieses Umstands erforderlich sind, ist mitunter auch in politikwissenschaftlichen Schriften enthalten.3 Wenngleich bei der Thematik naturgemäß ein starker juristischer Bezug besteht, ist das vorliegende Buch nicht als primär rechtshistorische Arbeit angelegt, sondern Hauptthema ist das konkrete historische Handeln, dessen verschiedene Aspekte in einem interdisziplinären Ansatz erfaßt werden sollen.4 Einem soziologischen Rechtsbegriff folgend werden Rechtsfragen nur im konkreten gesellschaftlichen und poli1

Vgl. Ursula Büttner, Hamburgs Katastrophe im Bombenkrieg. Die „Operation Gomorrha“ als politischer Wendepunkt, in Förderkreis Mahnmal St. Nikolai e. V. (Hrsg.), Operation Gomorrha 1943 – Die Zerstörung Hamburgs im Luftkrieg, Förderkreis Mahnmal St. Nikolai e. V. (Hrsg.). 2 Mettmach: Aufregung um Ehrung für SS-Brigadeführer, OÖ Nachrichten, www.nachrichten. at – Stand 23.11.2016; Aufregung um FPÖ-Festakt für SS-Brigadeführer, www.oe24.at – Stand 22.11.2016; Tageszeitung Heute, Ausgabe vom 24.11.2016, S. 4. 3 Anton Pelinka, Der Preis der Salonfähigkeit - Österreichs Rechtsextremismus im internationalen Vergleich, www.doew.at, 2. 4 Vgl. den Ansatz von Peter Fitl, Meuterei und Standgericht. Die Matrosenrevolte im Kriegshafen Cattaro vom Februar 1918 und ihr kriegsgerichtliches Nachspiel, Wien 2018, 6.

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tischen Kontext dargestellt und erörtert, dies aber sowohl mikrohistorisch als auch makrohistorisch. Auf rechtsdogmatische Fragestellungen wird nur explikativ eingegangen, soweit es für das Verständnis der historischen Situationen und Vorgänge sinnvoll ist.

1. Einleitung

1.1 Allgemeines

Die vorliegende Arbeit untersucht das gegen Anton Reinthaller vor den Volksgerichten Wien und Linz nach Bestimmungen des Kriegsverbrechergesetzes und des Verbotsgesetzes durchgeführte Strafverfahren. Diese Gesetze sollten der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit der Wiedererrichtung der Republik Österreich dienen. Sie hatten einen weiten Anwendungsbereich, sodass mitunter nicht nur Kriegsverbrecher im eigentlichen Sinn, sondern in einem weiteren Umfang Personen für das Regime des Nationalsozialismus zur Verantwortung gezogen wurden. Rechtstechnisch wurde oftmals auf rein formal-abstrakte Kriterien abgestellt, die eine differenzierte Betrachtung des konkreten Einzelfalls nach Individualschuld bei der Beurteilung der Strafbarkeit durch die Gerichte nicht zuließen. Den individuellen Umständen des Einzelfalls konnte damit oft nur bei der Strafzumessung mit der Abwägung von Erschwerungs- und Milderungsgründen Rechnung getragen werden. Gegen Anton Reinthaller als „prominenten Nationalsozialisten“ wurde nach einzelnen Bestimmungen dieser Gesetze Anklage erhoben. Die gegen Anton Reinthaller erhobenen Vorwürfe beinhalten keinerlei Mitwirkung an zur Zeit der Naziherrschaft begangenen Greueltaten in Form von NS-Gewaltverbrechen oder damit in Zusammenhang stehenden Taten, sondern eine ihm zur Last gelegte Mitgliedschaft zur NSDAP und eine ihm zur Last gelegte Mitwirkung an der NS-Machtergreifung in Österreich. Es werden der Strafprozess und die zugrunde liegenden rechtlichen Bestimmungen aufgearbeitet. Besonderes Augenmerk ist auf die Einrichtung des auf Begnadigung durch den Bundespräsidenten gerichteten Gnadenverfahrens zu legen, das bei derartigen Verfahren oftmals als Ausweg in Härtefällen diente. Vorweg wird auf den Lebensweg und das politische Wirken Anton Reinthallers und dabei besonders auf jene Phasen und Themen, die im Zusammenhang mit den später erhobenen Vorwürfen stehen, eingegangen.

1.2 Zu den Hauptquellen

Als Hauptquellen stehen die nach Auflösung der Volksgerichte beim Landesgericht Linz verwahrten, mehrbändigen Gerichtsakten zur Verfügung, welche neben der Dokumentierung gerichtlicher Verfügungen, der Anklageschrift und der Urteile insbe-

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Einleitung

sondere Eingaben der Verteidigung, Vernehmungsprotokolle von im strafrechtlichen Vorverfahren durchgeführten Zeugenvernehmungen und die Hauptverhandlungsprotokolle beinhalten.5 Dabei ist hervorzuheben, dass auf Antrag der Verteidigung statt handschriftlicher Protokollierung die Protokollierung durch Parlamentsstenographen erfolgte, sodass der Inhalt der Hauptverhandlungstermine detailliert wiedergegeben wird6. Die Gerichtsakten des Volksgerichts Linz wurden bereits an das oberösterreichische Landesarchiv zur Archivierung überstellt7, wo sie unter Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen eingesehen und verwertet werden dürfen8. Zu den Gerichtsakten kommen Rechtsanwaltshandakten des RA Dr. Otto Tiefenbrunner, die Univ. Prof. Dr. Lothar Höbelt ausfindig machen konnte, und die naturgemäß wertvolle Hintergrundinformationen liefern. Diese umfassen neben Schriftsätzen und Beweisstücken insbesondere auch die Anwaltskorrespondenz zwischen den Verteidigern des Anton Reinthaller, wodurch auch Einblicke in die Strategien und Taktiken der diffizilen Verteidigung möglich sind. Ein Teil dieser Quellen hat eine Doppelfunktion, weil die betreffenden Quellen als dokumentarische Quellen einzustufen sind, was das Volksgerichtsverfahren betrifft, und als narrative Quellen, was die historischen Situationen und Ereignisse anbelangt, die in diesen Verfahren aufgearbeitet wurden.

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Zum Volksgerichtsakt als Geschichtsquelle vgl. C. F. Rüter, Erfassen–Erhalten–Erschliessen. Erfahrungen und Erkenntnisse bei der Edition deutscher Urteile wegen NS-Gewaltverbrechen, in: Claudia Kuretsidis-Haider/Winfried Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 265. In der Strafprozessordnung war bis zur Strafprozessnovelle BGBl I 2004/164, womit die Modernisierung der Protokollierung, insbesondere durch die Verwendung von Ton- und Bildaufnahmen, etabliert wurde (vgl. RV 679 BlgNR XXII. GP 7ff), diese Möglichkeit vorgesehen, dass auf rechtzeitiges Verlangen einer Partei und gegen vorläufigen Erlag der Kosten stets die stenographische Aufzeichnung aller Aussagen und Vorträge vorzunehmen ist (§ 271 Abs. 4 aF StPO). Unter diesen Voraussetzungen war die stenographische Protokollierung der Hauptverhandlung zwingend (Ernst Eugen Fabrizy, StPO und wichtige Nebengesetze, 9. Auflage, Wien 2004, § 271 Rz 3). Siehe Franz Scharf, Die Erschließung von (Volks-)Gerichtsakten im oberösterreichischen Landesarchiv, in: Claudia Kuretsidis-Haider/Winfried Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 303. Siehe Martin F. Polaschek, Rechtliche Fragen im Umgang mit Gerichtsakten als historischer Quelle, in: Kuretsidis-Haider/Winfried Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 285; ders. Rechtliche Aspekte bei der Arbeit mit Entnazifizierungsquellen, in: Schuster/Weber (Hrsg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, 651.

2. Zur Person Anton Reinthaller Ing. Anton Reinthaller wurde am 14. April 1895 in Mettmach, Bezirk Ried im Innkreis, geboren. Seine Familie betrieb neben der Landwirtschaft eine kleine Brauerei. Nach dem Besuch der Volksschule in seinem Geburtsort und der Staatsrealschule in Linz folgte das Einjährig-Freiwilligen-Jahr im Feldartillerieregiment 102, das nahtlos in den Ersten Weltkrieg überging. Reinthaller wird bis zum Oberleutnant befördert und mit der silbernen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. 1916 gerät er mit seinem Regiment in russische Kriegsgefangenschaft, aus der ihm 1918 die Flucht gelingt. Dabei lernt er nach eigenen Angaben das „Land und Volk der Russen von Petrograd bis über den Ural und die politischen Spannungen, die zur Revolution führten“, kennen9. Nach eigener Aussage lehnt er die „mit der Revolution erfolgende Mobilisierung der niederen Instinkte“ entschieden ab. Schon in der Realschulzeit steht er der nationalen Bewegung nahe10. Nach Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie wird er unter Bezugnahme auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Vertreter des Anschlussgedankens.11 Nach Abschluss des Studiums der Forstwirtschaft an der Universität für Bodenkultur Wien im Jahr 1922 ist Reinthaller als Ingenieur bei der staatlichen Wildbachund Lawinenverbauung zuerst in Niederösterreich und dann im oberösterreichischen Attergau tätig. Später wird er Lokalbauführer im Ennstal mit dem Dienstsitz in Gaflenz und Losenstein. 1928 wird er als Bauleiter nach St. Georgen im Attergau versetzt, wo er bis 1933 seinen Dienst versieht. Im Jahr 1934 wird er aus politischen Gründen nach Durchführung eines Disziplinarverfahrens zwangsweise pensioniert.12 1924 heiratet er Therese Ritzberger-Oehn, geb. 02. Juni 1901, Tochter des Hermann Oehn, Obmann des freiheitlichen Bauernvereins in Oberösterreich, der Vorläuferorganisation des Landbundes. Das Paar lässt sich auf dem von der Familie der Gattin stammenden, nunmehr gemeinsamen landwirtschaftlichen Gut in Mühlbach Nr. 6, Gemeinde Attersee, nieder. Die gemeinsame Tochter wird am 26. Dezember 1926 geboren. Im Jahr 1928 wird Reinthaller Mitglied der NSDAP, von deren Landesleiter für Österreich, Alfred Proksch, er im August 1932 zum Landesbauern9

Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53. 10 Gnadengesuch Ing. Anton Reinthaller vom 28. April 1952, 2. 11 Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53, wobei er im Eindruck der Erlebnisse in Russland unter Verweis auf Krisen und Bürgerkriege die Notwendigkeit einer Erneuerung des Reichs für Stabilität und sozialen Fortschritt betont. 12 Antrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 1 verso.

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Zur Person Anton Reinthaller

schaftsführer ernannt wird. Vom neuen Landesleiter, Theo Habicht wird er im November 1932 wegen angeblicher Meinungsverschiedenheiten über die Organisationsleitung wieder abgesetzt. Das Verhältnis zu Habicht beschreibt Reinthaller als ein „außerordentlich gespanntes“.13 Nach seiner Verhaftung am 18. Juni 1933 wegen des Verdachts des Hochverrats befindet er sich eine Woche beim Bezirksgericht Frankenmarkt und zwei Wochen beim Kreisgericht Wels in Haft14. Am 17. Jänner 1934 wird er im Zuge einer großangelegten Fahndungsaktion bis zum 25. April 1934 im Anhaltelager Wöllersdorf inhaftiert.15 In der Zeit des Ständestaats wird Reinthaller durch die nach ihm benannte Aktion zur Überführung des auch als „nationale Opposition“ bezeichneten nationalen Lagers in die als Einheitspartei konzipierte Vaterländische Front bekannt. Nach dem Betätigungsverbot für die NSDAP in Österreich vom 19. Juni 193316 wird Reinthaller 13 Reinthaller sieht sich im Gegensatz zu Habicht, dessen radikale Methoden er ablehnt (Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53, 2f, 5f ). 14 Vernehmungsprotokoll Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46–39, AS 153c, OÖ Landesarchiv. Dieses Verfahren wurde aber eingestellt (Bericht des Bundeskanzleramt vom 20.03.1936, S. 11). 15 Bericht des Bundeskanzleramt (Generaldirektion für öffentliche Sicherheit) zu G.D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 11f. Zunächst dürfte Reinthaller jedoch im Anhaltelager Kaisersteinbruch inhaftiert gewesen sein, das aber nach einem neuntägigen Hungerstreik der Insassen geschlossen wurde (Vernehmungsprotokoll Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46–39, AS 153c verso, OÖ Landesarchiv). 16 Verordnung der Bundesregierung vom 19.06.1933, BGBl 1933/240, womit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) und dem Steirischen Heimatschutz (Führung Kammerhofer) jede Betätigung in Österreich verboten wird: „Auf Grund des Gesetzes vom 24. Juli 1917, R. G. Bl. Nr. 307, wird zur Abwehr der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen wirtschaftlichen Gefahren verordnet: § 1. Der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) wird jede Betätigung in Österreich und insbesondere auch die Bildung irgendwelcher Parteiorganisationen verboten. Die bestehenden Sturmabteilungen und Schutzstaffeln (S.A.- und S.S.-Formation) sind unstatthaft, das Tragen jedweder Parteiabzeichen ist verboten. Dasselbe gilt für den Steirischen Heimatschutz (Führung Kammerhofer). § 2. (1) Zuwiderhandlungen gegen die Vorschrift des § 1 werden – unbeschadet der allfälligen strafgerichtlichen Verfolgung – von der politischen Bezirksbehörde, im Amtsgebiet einer Bundespolizeibehörde von dieser, mit Geldstrafe bis zu 2000 S oder mit Arrest bis zu sechs Monaten bestraft; diese Strafen können auch nebeneinander verhängt werden. Auch kann diese Behörde auf den Verfall der Gegenstände, auf die sich die strafbare Handlung bezieht, erkennen, und zwar ohne Rücksicht darauf, wem die vom Verfall betroffenen Gegenstände gehören. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Straffällige, die nicht österreichische Bundesbürger sind, sind nach § 2, Absatz 5, des Reichsschubgesetzes vom 27. Juli 1871, R. G. Bl. Nr. 88, zu behandeln.

Zur Person Anton Reinthaller

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wegen seiner gemäßigten Einstellung17 als geeigneter Vermittler zur Einbindung des nationalen Lagers angesehen, zu dem nicht nur Mitglieder der NSDAP, sondern u.a. auch Mitglieder der ehemaligen Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes zu zählen sind. Nach seiner Enthaftung aus dem Anhaltelager in Wöllersdorf nimmt er Kontakt mit dem damaligen Landeshauptmann Dr. Gleißner auf, mit dem er eine Befriedungsaktion erörtert18. Die Gespräche werden zunächst mit Unterrichtsminister Dr. Schuschnigg und Handels- und Verkehrsminister Stockinger19 unter der Leitung des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß begonnen und nach der im Zuge des gescheiterten Putschversuchs am 25. Juli 1934 erfolgten Ermordung des Dr. Dollfuß20 mit Dr. Schuschnigg als Bundeskanzler fortgesetzt.21 Auf Seite der Nationalen agieren insbesondere der spätere Justizminister im Interimskabinett Seyß-Inquart Dr. Hueber und Ex-Landesrat Franz Langoth, auf Regierungsseite der oberösterreichische Landeshauptmann Dr. Gleißner und der oberösterreichische Sicherheitsdirektor Graf Revertera. Eine grundsätzliche Einigung ist nur soweit erzielbar, als das nationale Lager in die Vaterländische Front eingegliedert werden soll, worin ein grund 17 18

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§ 3. Eine Berufung gegen einen auf Grund des § 2 erlassenen Strafbescheid ist nur zulässig, wenn auf eine Geldstrafe von mehr als 1000 S oder auf Arrest von mehr als sechs Wochen erkannt worden ist. § 4. Diese Verordnung trifft sofort in Kraft.“ Er gilt als einer der gemäßigten Nationalsozialisten (www.austria-forum.org – Stand 26.10.2018). Gnadengesuch Ing. Anton Reinthaller vom 28. April 1952, S. 3. Zur Aktion Reinthaller im Detail siehe Lothar Höbelt, Die „Aktion Reinthaller“: „Ständestaat“ und „Nationale Opposition“, in: Gerhard Marckhgott (Hrsg.), Oberösterreich 1918–1938, Bd. 1, Linz 2014, 47. Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53, 5. Bezeichnend für die Stellung Reinthallers innerhalb des nationalen Lagers als Gemäßigter ist, dass er auf dem Weg zu deutschen NS-Vertretern für die Verhandlung über die näheren Modalitäten der nationalen Aktion in Österreich während der Bahnfahrt nach München von der Nachricht des Putsches überrascht wurde (Wolfgang R. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, Wien 1971, 74; Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53, 5; Zeugenaussage des Franz Langoth, Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv, AS 291 recto); bei Gelingen des Putsches habe er auf Befehl Habichts verhaftet werden sollen (Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53, 5). Festzuhalten ist, dass die Regierung nach außen hin keine derartige Aktion billigt. Abweichend von der offiziellen Haltung werden aber Gespräche mit der nationalen Aktion geführt und ihr Wirken in gewissem Umfang geduldet. Reinthaller führt aus, dass sein Wirken unter polizeilicher Beobachtung erfolgte (Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53, 4). Seitens der Regierung Dollfuß sei auf eine Approbation der nationalen Aktion durch Hitler entscheidend Wert gelegt worden (Handschriftlicher Lebenslauf Ing. Anton Reinthaller im Behördenakt der Präsidentschaftskanzlei zu 9167/53, 5). Die Regierung sah im Sinne der Bewahrung der österreichischen Unabhängigkeit die Chance auf eine von Deutschland losgelöste NSDAP, dies gerade nach der Absetzung Habichts in Folge des gescheiterten Putschversuchs.

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sätzliches Bekenntnis zu Österreich liegen soll. Während aber der – auch innerhalb der Aktion nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßende22 – im September 1934 vorgelegte dreigliedrige Etappenplan Reinthallers die Organisation des nationalen Lagers in der „Nationalen Front“ mit einem Leitungsorgan in Form des Führerrats mit der Bezeichnung „Nationale Aktion“ und die Schaffung eigener Wehrformationen (gleich den Heimwehren) und den korporativen Beitritt eines dergestalt organisierten nationalen Lagers vorsah, wollte die Regierung Schuschnigg die Überführung des nationalen Lagers durch Einzelbeitritte zur Vaterländischen Front herbeiführen und diese Aktion dezentralisiert in jedem Bundesland für sich durchführen.23 Als wegen der grundsätzlichen Bedeutung für das damalige autoritär ausgerichtete Staatssystem jedenfalls überzogen muss die Forderung der Aktion auf Revision der Verfassung 1934 und Durchführung eines Volksentscheids über den Regierungskurs24 angesehen werden. Die Regierung gesteht der Aktion Reinthaller auch nicht das zur Aufgabenerfüllung erforderliche Mindestmaß an Organisation zu25. Damit bestehen bereits unterschiedliche grundlegende Ansätze, die eine Einigung in dieser und weiterer Schlüsselfragen wie der Regierungsbeteiligung der Nationalen und der Entsendung Nationaler in die mit der Verfassung 1934 eingerichteten Körperschaften des Ständestaats wie Staats- und Wirtschaftsrat verhindern. Auch Themenpunkte wie eine Generalamnestie für straffällig gewordene Nationalsozialisten müssen offenbleiben. Die Anhänger der NSDAP-Landesleitung Österreich in München stellen sich gegen die Aktion.26 Innerhalb der nationalen Opposition bestehen zwei unterschiedliche Richtungen, deren eine die gewaltsame Machtergreifung anstrebt, die andere auf Unterwanderung im Inneren und Druck von außen setzt.27 Die Aktion erreicht unter diesen Rahmenbedingungen ihr Ziel nicht. Die Regierung weist die Sicherheitsbe22 Wolfgang R. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 79. Die Protagonisten der Aktion werden von NS-Mitgliedern mitunter schlichtweg als Verräter an der nationalen Sache bezeichnet, vgl. Bericht des Bundeskanzleramts (Generaldirektion für öffentliche Sicherheit) zu G. D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 7. Habicht bat Reinthaller nach eigenen Angaben anlässlich der nationalen Aktion um ein Treffen in Südböhmen, was dieser aber ablehnte; als Begründung führt er an, dass einer seiner Freunde bei einer Fahrt mit Habicht nach München von Habicht und dessen Leuten schwer bedroht worden sei (Lebenslauf, 4f ). 23 Wolfgang R. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, Wien 1971, 78. 24 Bericht des Bundeskanzleramts (Generaldirektion für öffentliche Sicherheit) zu G.D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 2; Wolfgang R. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, Wien 1971, 78. 25 Wolfgang R. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, Wien 1971, 78. 26 Lothar Höbelt, Anton Reinthaller, in: Manfried Welan/Gerhard Poschacher (Hrsg.), Von Figl bis Fischer – Bedeutende Absolventen der „Boku“ Wien, Graz 2005, 165 (166). 27 Lothar Höbelt, Anton Reinthaller, in: Manfried Welan/Gerhard Poschacher (Hrsg.), Von Figl bis Fischer – Bedeutende Absolventen der „Boku“ Wien, Graz 2005, 165 (167).

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hörden mit Erlass vom 08. Oktober 1934 an, die Tätigkeiten der nationalen Aktion zu unterbinden28. Reinthaller wird mit Schreiben der Bundespolizeidirektion Wien vom 10. Oktober 1934 aufgefordert, sein als illegale Partei- oder Vereinstätigkeit eingestuftes Handeln einzustellen, was er seinen Vertrauensleuten mit Rundschreiben vom 17. Oktober 1934 mitteilt.29 Am 27. Oktober 1934 erfolgt noch eine informelle Besprechung zwischen Regierung, welche zur Vermeidung radikaler Tendenzen die Weiterarbeit der Gemäßigten anstrebt, und Vertretern des nationalen Lagers aus der gescheiterten Aktion Reinthaller.30 Am 28. Oktober 1934 verlautbart die Regierung schließlich, jede Art der nationalen Partei und eine Nationale Front oder Nationale Aktion als „verdeckte Form einer derartigen Partei“ sowie nationale Sektionen abzulehnen, wobei generell die Einheit der Vaterländischen Front und die Unzulässigkeit von Parteisektionen betont wird; Nationalen stehe aber als Einzelpersonen der Eintritt in die Vaterländische Front unter ehrlicher und vorbehaltsloser Anerkennung deren politischer Grundsätze frei.31 Das bleibende Ergebnis der Aktion wird in individuellen Erleichterungen für politische Gefangene32 gesehen. Zudem wird man in ihr einen gewissen Beitrag zur Abschwächung radikaler Tendenzen sehen können33. Die gerade nach dem gescheiterten Juliputsch 1934 bestehende Chance auf Einbindung des nationalen Lagers und eines darin von Deutschland losgelösten nationalsozialistischen Lagers, wie von der Regierung eigentlich intendiert34, lässt sich damit nicht ergreifen. Andererseits erweist sich das nationale Lager als zu heterogen für eine einheitliche Lösung. Reinthaller fungiert aber auch nach dem Ende seiner Aktion zeitweise als Vermittler zwischen Regierung und nationaler Opposition. Am 09. März 1938 reiste Reinthaller auf Wunsch von Dr. Seyß-Inquart nach Wien, wo er am Abend des 11. März 1938 in das Bundeskanzleramt beordert wurde. 28 Bericht des Bundeskanzleramts (Generaldirektion für öffentliche Sicherheit) zu G.D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 2. 29 Bericht des Bundeskanzleramts (Generaldirektion für öffentliche Sicherheit) zu G.D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 2. 30 Bericht des Bundeskanzleramts (Generaldirektion für öffentliche Sicherheit) zu G.D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 3. Es gab aber auch weiterhin Verhandlungen zwischen der Regierung und der nationalen Opposition. Dazu pointiert Lothar Höbelt: „Der ursprünglichen Aktion Rein­thaller war deshalb noch ein langes Leben nach dem Tode beschieden.“ (Lothar Höbelt, Die Aktion Rein­ thaller, aaO 66). 31 Kundgemacht in der Wiener Zeitung vom 28. Oktober 1934 (Bericht des Bundeskanzleramts [Generaldirektion für öffentliche Sicherheit] zu G.D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 3). 32 Lothar Höbelt, Anton Reinthaller, in: Welan/Poschacher (Hrsg.), Von Figl bis Fischer – Bedeutende Absolventen der „Boku“ Wien, Graz 2005, 165 (167). 33 Vgl. Gnadengesuch vom 28.April 1952, 5. 34 Vgl. Wolfgang R. Rosar, Deutsche Gemeinschaft, Wien 1971, 76.

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Nach Verhandlungen zwischen Dr. Seyß-Inquart und dem zu diesem Zeitpunkt bereits unter großem Druck der deutschen NS-Führung stehenden Bundeskanzler Dr. Schuschnigg wird er dort im Zuge einer Regierungsumbildung zum Agrarminister ernannt.35 Am Mittag des 12. März 1938 erfolgt die Vereidigung der neuen Regierung Seyß-Inquart auf die geltende Verfassung vom 01. Mai 1934 durch Bundespräsident Miklas.36 Nach der Verfassung 1934 bedurfte es zur Einsetzung einer Regierung lediglich einer Ernennung durch den Bundespräsidenten. Nach dem am selben Tag erfolgten Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, die von weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung jubelnd begrüßt wurden, kommt es zu einem Treffen zwischen Seyß-Inquart und Hitler in Linz. Noch in der Nacht vom 12. auf den 13. März erarbeitet der Staatssekretär im deutschen Reichsinnenministerium, Dr. Stuckart, im Auftrag Hitlers einen Entwurf für ein Anschlussgesetz. Wieder zu35 Neubestellung der Bundesregierung mit Dr. Seyß-Inquart als Bundeskanzler und den weiteren Regierungsmitgliedern Ministerialrat Dr. Wilhelm Wolf (BM für auswärtige Angelegenheiten), Vizekanzler Dr. Edmund Glaise-Horstenau, Notar Dr. Franz Hueber (BM für Justiz), Staatsrat Dr. Johannes Fischböck (BM für Handel und Verkehr), Obersenatsrat Dr. Rudolf Neumayer (BM für Finanzen), Dr. Hugo Jury (BM für soziale Verwaltung), Univ.-Prof. Dr. Oswald Menghin (BM für Unterricht) und Ing. Anton Reinthaller (BM für Land- und Forstwirtschaft). Zunächst gehörte diesem Kabinett auch Dr. Michael Skubl als Staatssekretär für das Sicherheitswesen an, der diese Funktion auch im vorangegangenen Kabinett Schuschnigg IV (16. Februar bis 11. März 1938) hatte. Dr. Skubl trat aber am 13. März 1938 von diesem Posten zurück. Das Kabinett wurde ergänzt, indem auf Vorschlag des Bundeskanzlers Dr. Seyß-Inquart der Landesleiter der NSDAP in Österreich, Major a. D. Hubert Klausner, zum Bundesminister für politische Willensbildung und der Gruppenführer der SS Dr. Ernst Kaltenbrunner, Dr. Friedrich Wimmer und der Führer des nationalsozialistischen Soldatenbundes, Maximilian de Angelis, zu Staatssekretären ernannt wurden; Wimmer wurde dem Bundeskanzler zur Vertretung im Gesamtbereich des Bundeskanzleramtes mit Ausnahme der auswärtigen Angelegenheiten und der Angelegenheiten des Sicherheitswesens zugeteilt, Kaltenbrunner zur Vertretung in Angelegenheiten des Sicherheitswesens und Angelis zur Vertretung in den Angelegenheiten der Landesverteidigung (Kommentiertes Ministerratsprotokoll 1071 vom 13. März.1938, Österreichisches Staatsarchiv, FN 1). Nach seiner eigenen Aussage trat Dr. Skubl bereits am Nachmittag des 12. März 1938 wieder von seinem Posten als Staatssekretär zurück (Vernehmungsprotokoll ON 61 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv). Nach Reinthaller bestand nur ein Drittel der Mitglieder der Regierung Seyß-Inquart aus damaligen Nationalsozialisten, wobei die Mitglieder dieses Teils alle der „gemäßigten Richtung“ der Nationalsozialisten angehörten (Vernehmungsprotokoll Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46–39, OÖ Landesarchiv, AS 153m verso). Zu den einzelnen Mitgliedern des Kabinetts Seyß-Inquart siehe Edeltraud Karlsböck, Die Minister des Anschlußkabinetts Seyß-Inquart, Diplomarbeit Wien 2004. 36 Aussage Ing. Reinthaller, Vernehmungsprotokoll Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46–39, AS 153n, OÖ Landesarchiv; Aussage Altbundespräsident Miklas, Gerichtsakt Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 1h Vr 2068/49, Hv 238/50, Hauptverhandlungsprotokoll vom 25.Oktober 1950, S. 4.

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rückgekehrt nach Wien, beruft Seyß-Inquart am 13. März den Ministerrat ein und teilt den Wunsch Hitlers nach einem Anschlussgesetz mit. Die neue Bundesregierung beschließt in dieser Ministerratssitzung das Verfassungsgesetz zur Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich37. Seyß-Inquart ist nach seiner Auffassung 37 Bundesverfassungsgesetz vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich BGBl 1938/75 (neuerlich kundgemacht im Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/1 vom 15. März 1938). Der Gesetzestext: „Auf Grund des Artikels III, Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung, B.G.Bl. I. Nr. 255/1934, hat die Bundesregierung beschlossen: Artikel 1. Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches. Artikel 2. Sonntag, den 10. April 1938, findet eine freie und geheime Volksabstimmung der über 20 Jahre alten deutschen Männer und Frauen Österreichs über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reiche statt. Artikel 3. Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Artikel 4. Die zur Durchführung und Ergänzung dieses Bundesverfassungsgesetzes erforderlichen Vorschriften werden durch Verordnung getroffen. Artikel 5. (1) Dieses Bundesverfassungsgesetz tritt am Tage seiner Kundmachung in Kraft. (2) Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut. Wien, den 13. März 1938“ Für Deutschland wurde korrespondierend dazu (als paktiertes Gesetz inhaltlich übereinstimmend) das Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13. März 1938, RGBl I 1938, S. 237–238, erlassen. Der Gesetzestext: „Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: Artikel I Das von der Österreichischen Bundesregierung beschlossene Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13. März 1938 wird hiermit Deutsches Reichsgesetz; es hat folgenden Wortlaut: „Auf Grund des Artikels III Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung, B. G. Blatt I Nr. 255 1934, hat die Bundesregierung beschlossen: Artikel I: Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches. Artikel II: Sonntag, den 10. April 1938, findet eine freie und geheime Volksabstimmung der über zwanzig Jahre alten deutschen Männer und Frauen Österreichs über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reiche statt. Artikel III: Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Artikel IV: Die zur Durchführung und Ergänzung des Artikels II dieses Bundesverfassungsgesetzes erforderlichen Vorschriften werden durch Verordnung getroffen. Artikel V: Dieses Bundesverfassungsgesetz tritt am Tage seiner Kundmachung in Kraft. Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut. Wien, den 13. März 1938.“ Artikel II Das derzeit in Österreich geltende Recht bleibt bis auf weiteres in Kraft. Die Einführung des Reichsrechts in Österreich erfolgt durch den Führer und Reichskanzler oder den von ihm hierzu ermächtigten Reichsminister.

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nunmehr als Vertreter des Bundespräsidenten auch mit der Ausübung dessen Kompetenzen betraut, weshalb die zur Beurkundung vorgesehene Gegenzeichnung durch Bundespräsident Miklas unterbleibt. Bundespräsident Miklas hat nach eigenen Angaben bewusst nicht demissioniert, sondern sich angesichts der Konfrontation mit der Rücktrittsaufforderung Hitlers und des militärischen Drucks des Deutschen Reichs in der Amtsausübung verhindert gesehen und damit auf Grundlage der Verfassung 193438 erklärt, seine Funktionen für die Dauer seiner Verhinderung an den Bundeskanzler zu delegieren.39 Der Einmarsch der deutschen Truppen ist am 13. März weitgehend erfolgt. Die Hoffnung Reinthallers auf eine geordnete und abgestufte Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich als eigener Verwaltungseinheit40 erfüllen sich damit nicht. Am 10. April erfolgt die Volksabstimmung, bei der die Mehrheit für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich stimmt.41



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Artikel III Der Reichsminister des Innern wird ermächtigt, im Einvernehmen mit den beteiligten Reichsministern die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Artikel IV Das Gesetz tritt am Tage seiner Verkündung in Kraft. Linz, den 13. März 1938.“ Eingehend Ewald Wiederin, März 1938 – staatsrechtlich betrachtet, in: U. Davy/H. Fuchs/H. Hofmeister/J. Marte/I. Reiter (Hrsg.), Nationalsozialismus und Recht, Rechtssetzung und Rechtswissenschaft unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, 226, zur staatsrechtlichen Beurteilung des Anschlussgesetzes (237ff) und zur Divergenz des im deutschen Wiedervereinigungsgesetz angeführten Artikel 4 des österreichischen Anschlussgesetzes zu dessen tatsächlichem Artikel 4 (259f ).  § 77 der Verfassung vom 01. Mai 1934, erlassen auf Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung, BGBl für die Republik Österreich 1934/255, kundgemacht im BGBl für den Bundesstaat Österreich 1934/1. Gerichtsakt Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 1h Vr 2068/49, Hv 238/50 Hauptverhandlungsprotokoll vom 25.Oktober 1950, 5, Vernehmung Altbundespräsident Miklas. Allerdings hat Bundespräsident Miklas noch ein Gesetz des Kabinett Seyß-Inquart gegengezeichnet, das Bundesgesetz über die Abänderung und Ergänzung der Devisenordnung, BGBl 1938/72 (vgl. Ministerratsprotokoll 1070 vom 12. März 1938, Österreichisches Staatsarchiv, Pkt. 2.). Gerichtsakt Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46 (Vg 1h Vr 2068/49), Vernehmungsprotokoll vom 30.08.1949, ON 39, AS 154r. Gesamtzahl der in Österreich abgegebenen Stimmen: 4.471.477, davon Ja-Stimmen: 4.453.772; Gesamtzahl der in Deutschland abgegebenen Stimmen: 44.964.228, davon Ja-Stimmen: 44.451.401 (RA Dr. habil. Hans Merkel, Verteidiger beim amerikanischen Militärgerichtshof Nürnberg, Gutachten über die Unterzeichnung des Bundesverfassungsgesetzes vom 13.03.1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich als Hochverrat, 29; Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/146 vom 25.05.1938). Zum Abstimmungsergebnis, dessen Interpretation und dem Detailergebnis in Wien siehe Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 230ff, 232 (Detailergebnis Wien).

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Österreich wird zunächst als „Land Österreich“ eine Verwaltungseinheit des Deutschen Reiches, ab 01. April 1940 tritt die Gaueinteilung in Kraft, womit an die Stelle der österreichischen Bundesländer die Reichsgaue treten und das Land Österreich nicht mehr besteht. Am 15. März 1938 werden der Bundeskanzler und die österreichische Bundesregierung zu Reichsstatthalter und österreichischer Landesregierung42, die aber dem Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich unterstellt werden, der selbst direkt Hitler untersteht43. Rein­thaller gehört der Österreichischen Landesregierung als Landwirtschaftsminister an.44 Im Jahr 1940 wird er im Zuge der Eingliederung in die Verwaltung des Deutschen Reiches Unterstaatssekretär im Staatsministerium für Land- und Forstwirtschaft, dem Reichsernährungsministerium unter Reichsminister Walther Darré, und Leiter der neugeschaffenen Abteilung Bergland für die alpinen Bauern Österreichs und Bayerns; des Weiteren hat er das Amt des Gauamtsleiters für Agrarpolitik im 42 Erlass des Führers und Reichskanzlers vom 15. März 1938 über die Österreichische Landesregierung, Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/4. Die alte kollegiale Bundesregierung wurde damit durch eine unter der Führung des Reichsstatthalters stehende monokratische Landesregierung ersetzt (Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg zweite Auflage 1939, 99f ). Dazu ist allerdings anzumerken, dass bei der Konzeption der Bundesregierung des Bundesstaats Österreich nach der Verfassung 1934 im Unterschied zur kollegialen Bundesregierung nach dem Bundes-Verfassungsgesetz 1920 einige autoritäre Elemente bestanden hatten (Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935, 86). So stand die Bundesregierung des Bundesstaats Österreich nicht wie zuvor unter dem „Vorsitz“, sondern unter der „Führung“ des Bundeskanzlers (Art. 81 Abs. 1 der Verfassung 1934), und es war vorgesehen, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt (Art. 93 der Verfassung 1934). 43 Erlass des Führers und Reichskanzlers vom 23. April 1938 über die Bestellung des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/93 mit der Kundmachung der Bestellung, 1939/500 mit dem Ostmarkgesetz und 1939/1138 mit der Kundmachung der Verlängerung der Funktionsdauer). In dieses Amt wurde Gauleiter Josef Bürckel bestellt, der sich zuvor (aus der Sicht des Adolf Hitler) bereits als Reichskommissar für die Rückgliederung des Saargebiets bewährt hatte. 44 Erlass des Reichsstatthalters vom 30. Mai 1938 über die Geschäftseinteilung der Österreichischen Landesregierung, Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/154. Mit diesem Erlass wurde die österreichische Regierung ab 31. Mai 1938 reduziert auf das Amt des Reichsstatthalters, das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten unter der Leitung des Reichsstatthalters Dr. Arthur Seyß-Inquart selbst, das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit und das Ministerium für Finanzen, beide unter der Leitung von Dr. Johannes Fischböck, und das Ministerium für Landwirtschaft unter der Leitung von Ing. Anton Reinthaller (Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/154, § 1 und § 4). Zudem gehörten der österreichischen Regierung Dr. Franz Hueber als Beauftragter des Reichsministers für Justiz an, Dr. Edmund Glaise-Horstenau und Gauleiter Hubert Klausner (Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/154, § 4), wobei Gauleiter Klausner als Vertreter des Reichsstatthalters Dr. Seyß-Inquart in dessen „Amt als Führer der Landesregierung und Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten“ fungierte (Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/154, § 5).

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Gau Niederdonau und im Reichsnährstand des Landesbauernführers der Landesbauernschaft Donauland inne; er ist außerdem Mitglied des Reichstages.45 Zu den Aufgaben des Reichsnährstandes zählte u.a. die Ent- und Umschuldung vieler Landwirte, aber auch die Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Güter im Hinblick auf die zu leistenden Ablieferungsquoten. An sonstigen Ämtern sind zu nennen das Amt des Landesjägermeisters, des Beauftragten des Reichsforstministers für das Forstwesen im Lande Österreich, des Präsidenten der Versicherungsgesellschaft Ostmark, des Präsidenten der Niederösterreichischen Brandschadenversicherung und des Verwaltungsrates der Deutschen Rentenbank-Kreditanstalt.46 Reinthaller ist in seinen Fachbereichen tätig, in politischer Hinsicht tritt er wenig hervor. Von NS-Vertretern wird ihm wegen seines katholischen Bekenntnisses misstraut, Gegner des Nationalsozialismus attestieren ihm Hilfsbereitschaft unter persönlichem Einsatz.47 Anton Reinthaller wird am 28. August 1945 von den alliierten Militärbehörden verhaftet und bleibt bis 13. November 1948 in Haft, zunächst in Oberösterreich in den Anhaltelagern Eferding und Pupping, danach vom 05. Oktober 1945 bis zum 08. Oktober 1946 in Salzburg im Anhaltelager Glasenbach, dann in Nürnberg bis zum 16. Juli 1947, anschließend im Lager Dachau und dann wieder ab März 1948 in Nürnberg, bis im August 1948 die Überstellung ins Lager Langwasser erfolgt, aus dem er am 13. November 1948 entlassen wird. Am 01. Juli 1949 wird er neuerlich bis 26. Juli 1949 inhaftiert. Am 27. Juli 1949 wird er von der amerikanischen Militärregierung in Deutschland an Österreich ausgeliefert und von österreichischen Kriminalbeamten abgeholt und dem Landesgericht für Strafsachen Wien überstellt, wo er am 29. Juli 1949 eintrifft und bis 26. Oktober 1950 in Untersuchungshaft verbleibt. Es erfolgt das Strafverfahren vor den Volksgerichten Wien und Linz mit einem zwischenzeitigen Überprüfungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof. Das laufende Strafverfahren wird schließlich zum einen Teil mit Entschließung des Bundespräsidenten niedergeschlagen, und zum anderen Teil wird Reinthaller nach einer Verurteilung durch eine weitere Entschließung des Bundespräsidenten begnadigt.48 In weiterer Folge tritt Reinthaller als Integrationsfigur und Reformator wieder öffentlich in Erscheinung, als er 1955 nach Querelen und Auflösungserscheinungen im Verband der Unabhängigen (VdU) die Freiheitspartei gründet, die er mit dem VdU 45 Gerichtsakt Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46 (Vg 1h Vr 2068/49), Abschrift des Personalbogens des ehemaligen Reichnährstandes der Landesbauernschaft Niederdonau, AS 27. 46 Gerichtsakt Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46 (Vg 1h Vr 2068/49), Abschrift des Personalbogens des ehemaligen Reichnährstandes der Landesbauernschaft Niederdonau, AS 27. 47 Lothar Höbelt, Anton Reinthaller, in: Manfried Welan/Gerhard Poschacher (Hrsg.), Von Figl bis Fischer – Bedeutende Absolventen der „Boku“ Wien, Graz 2005, 165 (167). 48 Dazu in Kapitel 4.

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in der am 08. April 1956 gegründeten Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ), deren erster Obmann er wird, zusammenführt.49 Nachdem ihn bereits in der Zeit seiner Haft Magengeschwüre geplagt haben, erkrankt Reinthaller an Lungenkrebs. Am 27. Jänner 1958 verfasst er sein Testament trotz einer geplanten Operation in Voraussicht seines Todes „Ende Februar, Anfang März“.50 Tatsächlich verstirbt Anton Reinthaller am 06. März 1958.

49 Dazu Lothar Höbelt, Von der vierten Partei zur dritten Kraft – Die Geschichte des VdU, Graz 1999, 217ff. 50 Schreiben des RA Dr. Hans Haider an seinen Kollegen RA Dr. Otto Tiefenbrunner vom 18.03.1958 (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner).

3. Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

3.1 Einleitung

Bestandteil der europäischen Nachkriegsgeschichte ist die „Abrechnung“ mit den Trägern der nationalsozialistischen Herrschaft und deren Kollaborateuren. Diese erfolgt in unterschiedlichen Formen. Neben nicht institutionalisierten Formen wie wilden Säuberungen, die insbesondere auf dem Balkan und in Italien stattgefunden haben, bestehen bürokratisch-kollektive sowie justitiell-individuelle Formen dieser politischen Aufarbeitung.51 Zur bürokratisch-kollektiven Form zählen von der staatlichen Verwaltung durchgeführte Maßnahmen der Ausgrenzung, Degradierung, Enteignung, Internierung und Bestrafung der Nationalsozialisten.52 In Österreich kann man dazu insbesondere die Registrierung bestimmter Nationalsozialisten, die Verhängung von Berufsverboten und die Einziehung von Vermögen zählen. Die Ahndung von bestimmten Taten erfolgte durch die Volksgerichtsbarkeit, eine Sonderform der politischen Gerichtsbarkeit53. Bei den Landesgerichten am Sitz der Oberlandesgerichte (Wien, Linz, Graz, Innsbruck) wurden zur Abrechnung mit der NS-Vergangenheit eigene Senate aus zwei Berufsrichtern des jeweiligen Landesgerichts und drei Laienrichtern als Volksgerichte eingerichtet. Diese Abrechnung beschränkte sich aber nicht auf die – zweifelsohne wünschenswerte und gesellschaftlich bedeutende – Verfolgung der eigentlichen Straftäter, wie insbesondere jener von NS-Gewaltverbrechern, sondern bezog auch Mitläufer des NS-Regimes und bloße Funktionäre 51 Claudia Kuretsidis-Haider, Die Volksgerichtsbarkeit als Form der politischen Säuberung in Österreich, in: Kuretsidis-Haider/Winfried R. Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 17. 52 Claudia Kuretsidis-Haider, Die Volksgerichtsbarkeit als Form der politischen Säuberung in Österreich, in: Kuretsidis-Haider/Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 17 FN 2, unter Berufung auf Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981. 53 Claudia Kuretsidis-Haider, Die Volksgerichtsbarkeit als Form der politischen Säuberung in Österreich, in: Kuretsidis-Haider/Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 18. Zur Tätigkeit des Volksgerichts Wien im Speziellen siehe Brigitte Rigele, Verhaftet. Verurteilt. Davongekommen. Volksgericht Wien 1945–1955, Wiener Stadt- und Landesarchiv (Hrsg.), Reihe B Heft 80, Wien 2010, und zur Tätigkeit des Volksgerichts Linz im Speziellen Winfried R. Garscha/Claudia Kuretsidis-Haider, Legionäre, DenunziantInnen, Illegale. Die Tätigkeit des Volksgerichts Linz, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, 251.

Einleitung

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des nationalsozialistischen Machtapparates mit ein, womit die Vergeltung oftmals überschießend erfolgte54. Die Volksgerichte bestanden von 1945 bis 1955.55 In dieser Zeit fielen 136.829 Strafsachen an, der Großteil von etwa 108.000 in den ersten drei Jahren. Mehr als zwei Drittel der Verfahren wurden bei den Volksgerichten in Wien und Graz durchgeführt. Gegen 28.148 Personen wurde Anklage erhoben, es gab 13.607 Verurteilungen. 341 Angeklagte wurden mit Todesstrafe oder Freiheitsentzug von mehr als 10 Jahren verurteilt, von 43 Todesurteilen wurden 30 vollstreckt.56 Die 54 Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 753, der auch betont, dass damit viel Verbitterung erzeugt wurde, die bis zum heutigen Tag nachwirkt. 55 Etabliert durch Art. V Verbotsgesetz (VG; Stammfassung StGBl 1945/13), zuständig gemacht für die Anwendung des Kriegsverbrechergesetzes (KVG; Stammfassung StGBl 1945/32) durch § 13 Abs. 1 KVG und durch § 13 Abs. 2 KVG für bestimmte allgemeine schwere Straftaten, sofern ein Täter diese aus nationalsozialistischer Gesinnung oder aus Willfährigkeit gegenüber Anordnungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder aus nationalsozialistischer Einstellung begangen hat. Aufgelöst durch das Bundesgesetz vom 20.12.1955, BGBl 1955/285, womit ihre Agenden auf die ordentlichen (Straf-)Gerichte übertragen wurden, dies bei Etablierung einer speziellen Zuständigkeitsregelung. Die Auflösung der Volksgerichte ist im Zusammenhang mit dem Ende der Besatzungszeit zu sehen (dazu Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1982, 258f ). Bereits 1950 hatte es eine Gesetzesinitiative zur Auflösung der Volksgerichte gegeben, die in Zusammenhang mit der zeitgleichen Wiedereinführung der Geschworenengerichte, die sogleich auch deren Kompetenzen übernehmen sollten, stand. Der Alliierte Rat hatte seine dafür erforderliche Zustimmung aber nicht erteilt. 56 Daten nach Claudia Kuretsidis-Haider, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung in Österreich, in: Schuster/Weber (Hrsg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, 567 mN. Die Todesstrafe wurde in Österreich im ordentlichen Verfahren erst mit Bundesgesetz vom 01. Juni 1950, BGBl 1950/130, abgeschafft, und erst mit Bundesverfassungsgesetz vom 7. Februar 1968, BGBl 1968/73, wurden die strafrechtlichen Ausnahmegerichte (Art. 83 Abs. 3 B-VG idF StGBl 1945/4) und die Todesstrafe nun generell abgeschafft (Art. 85 idF BGBl 1968/73: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“). Die entsprechenden Detailänderungen des Strafrechts erfolgten mit Bundesgesetz vom 7. Februar 1968, BGBl 1968/74. Die Todesstrafe war 1919 von der konstituierenden Nationalversammlung abgeschafft worden (StGBl 1919/215). Dann war in der Bundesverfassung 1920 normiert worden, dass die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren abgeschafft ist (Art. 85 B-VG, StGBl 1920/450). Sie blieb nur im standgerichtlichen Verfahren bestehen (Art. 83 Abs. 3 und 85 B-VG idF StGBl 1920/450, BGBl 1930/1 und StGBl 1945/4: Art. 83 Abs. 3: „Ausnahmegerichte sind nur in den durch die Gesetze über das Verfahren in Strafsachen geregelten Fällen zulässig.“; Art. 85: „Die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren ist abgeschafft“). Mit dem im Ständestaat der Verfassung 1934 von der Bundesregierung erlassenen Strafrechtsänderungsgesetz 1934 (Bundesgesetz vom 19. Juni 1934, BGBl 1934/77) war die Todesstrafe generell wieder eingeführt worden. Sie galt dann wieder für alle Delikte, bei denen sie im Strafgesetz 1852 und im Sprengstoffgesetz 1885 ursprünglich statuiert war (BGBl 1934/77, Art. I). Dies galt dann auch in der Nachkriegszeit im Widerspruch zu Art. 85 der im Jahr 1945 wieder in Kraft gesetzten Bundesverfassung 1920 (StGBl 1945/4) ebenso im ordentlichen Verfahren, weil im Jahr 1945 die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts auch mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1934 erfolgte (Gesetz vom 12. Juni 1945 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts, StGBl 1945/25, § 2).

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

Kompetenzen der Volksgerichte wurden nach deren Auflösung den ordentlichen Gerichten, hauptsächlich den Geschworenengerichten, zugewiesen.

3.2 Zur Entstehungsgeschichte

Die in der Potsdamer Konferenz von den Alliierten gefällten Potsdamer Beschlüsse sehen vor, dass Kriegsverbrecher und Personen, die an der Vorbereitung oder Ausführung von Unternehmungen der Nazis teilgenommen haben, welche die Begehung von Grausamkeiten oder Kriegsverbrechen mit sich brachten, verhaftet und vor Gericht gestellt werden57. Sie enthalten die Einteilung in bloß „formelle“ Mitglieder einerseits und andererseits aktive Mitglieder, die aus ihren Funktionen in Staat und Wirtschaft entfernt werden sollten. Die Provisorische Staatsregierung (ProvStReg) kündigte bereits in ihrer Regierungserklärung vom 27. April 194558 an, gegen die Nationalsozialisten und ihre 57 Leopold Werner, Nationalsozialistengesetz und Verbotsgesetz 1947, 6. 58 StGBl 1945/3. Nach Art. III der Unabhängigkeitserklärung, StGBl 1945/1, die als revolutionärer, effektiv gewordener Rechtschöpfungsakt die Basis („historisch erste Verfassung“) für die wiedererrichtete Republik Österreich ist (Felix Müller, Das Verbotsgesetz im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit, Wien 2005, 145f ) und der Vorläufigen Verfassung, StGBl 1945/5, war zunächst die Provisorische Staatsregierung die gesetzgebende Instanz. Nach Art. 4 Abs. 1 Verfassungs-Überleitungsgesetz – V-ÜG (Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über das neuerliche Wirksamwerden des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929, StGBl 1945/4) waren anstelle der Bestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929, die „infolge der Lahmlegung des parlamentarischen Lebens in Österreich seit 5. März 1933, infolge der gewaltsamen Annexion Österreichs oder infolge der kriegerischen Ereignisse tatsächlich undurchführbar geworden“ waren, einstweilen die Bestimmungen des Verfassungsgesetzes über die vorläufige Einrichtung der Republik Österreich (Vorläufige Verfassung) anzuwenden. Nach § 18 dieser Vorläufigen Verfassung (Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über die vorläufige Einrichtung der Republik Österreich, StGBl 1945/5) übte bis zum Zusammentritt einer frei gewählten Volksvertretung die Provisorische Staatsregierung die nach dem Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 dem Bunde und den Ländern zustehende Gesetzgebung aus. Art. 4 Abs. 2 Verfassungs-Überleitungsgesetz – V-ÜG statuierte, dass die Vorläufige Verfassung sechs Monate nach dem Zusammentritt der ersten aufgrund des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Verhältniswahlrechtes gewählten Volksvertretung außer Kraft tritt. Aber nach der bereits am 25. November 1945 durchgeführten Nationalratswahl erfolgte die erste Sitzung des Nationalrats bereits am 19. Dezember 1945. Aus diesem Anlass war bereits mit dem 2. Verfassungs-Überleitungsgesetz (Verfassungsgesetz vom 13. Dezember 1945, womit verfassungsrechtliche Anordnungen aus Anlass des Zusammentritts des Nationalrats und der Landtage getroffen werden, StGBl 1945/232) das Parlament (mit den Kammern Nationalrat und Bundesrat) etabliert und die Gesetzgebungskompetenz dem Parlament übertragen worden, und die Regierungsgewalt auf die zu bestellende Bundesregierung (Art. 6 des 2. Verfassungs-Überleitungsgesetz).

Zur Entstehungsgeschichte

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Handlanger vorgehen zu wollen. Dabei unterschied sie zum einen in jene, die „aus Verachtung der Demokratie und der demokratischen Freiheiten ein Regime der Gewalttätigkeit, der Verfolgung und Unterdrückung über dem Volk aufgerichtet“ haben, die „mit keiner Milde rechnen“ und „nach demselben Ausnahmerecht behandelt werden sollten, das sie anderen aufgezwungen hatten“; zum anderen in bloße Mitläufer, die „nichts zu befürchten haben und in die Gemeinschaft des Volkes zurückkehren können“.59 Dieser Unterscheidung wurde aber bei der Umsetzung so nicht Rechnung getragen.60 Die Entstehung des Verbotsgesetzes ist eng mit der Wiedererstehung des unabhängigen, demokratischen Österreichs, der Entstehung der sog. „Zweiten“ Republik verbunden.61 Sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch waren die restlose Zerschlagung des nationalsozialistischen Staates und die konsequente Unterbindung einer möglichen Wiedererstarkung dieser Ideologie schon allein deshalb nötig, um 59 Vgl. auch in den weiteren Debatten Kabinettsratsprotokoll Nr. 12 vom 12. Juni 1945 in Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 – „… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 207, mit den Ausführungen des Staatssekretär Dr. Ernst Fischer (KPÖ), Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten: „Wir haben das gemeinsame Interesse, einem großen Teil dieser Nazimitläufer die Chance zu geben, sich wieder in Österreich einzureihen und aktiv mitzuarbeiten, den kleineren Teil, die schuldigen Nazi, aber unschädlich zu machen.“ Ders., Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945, ebd., 267: „Wir können aber nicht Hunderttausende von Menschen, die aus Charakterschwäche, aus Mißverständnis und infolge der Propaganda schwach geworden sind, dauernd aus Österreich ausschließen, weil wir uns selbst damit das Schlechteste antun. Entweder muß man diese Menschen aus dem Volkskörper ausscheiden oder man muß versuchen, sie für den Volkskörper wieder zu gewinnen.“ Vgl. auch Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945, ebd., 268f, mit den Ausführungen des Staatssekretärs Franz Honner (KPÖ), Staatsamt für Inneres, zum Entwurf für das Kriegsverbrechergesetz: „Ich halte es für dringend geboten, dieses Gesetz so rasch als möglich zu verabschieden, weil es uns die Möglichkeit gibt, die große Masse der Nationalsozialisten doch in einer milderen Form zu behandeln. […] Das bedeutet nicht, daß man nicht vielleicht einige Bestimmungen des Gesetzes noch irgendwie abändern kann, aber das Gesetz selbst muß rasch erlassen werden, weil es Beruhigung schaffen wird, insbesondere auch bei einem Großteil der Mitläufer der nationalsozialistischen Bewegung, weil sie dann wissen werden, daß sie selbst nichts Besonderes zu befürchten haben.“ 60 Vgl. Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 754. 61 Vgl. Kabinettsratsprotokoll Nr. 23 vom 07. August 1945 in Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 2 – „Right or wrong – my country“, 220f, mit den Ausführungen des Staatssekretär Franz Honner (KPÖ), Staatsamt für Inneres: „Diese Frage [Anm.: der Durchführung des Kampfes gegen den Nazifaschismus] ist nicht nur eine rein innenpolitische Angelegenheit, sondern auch eine sehr wichtige außenpolitische Frage, weil von ihrer Lösung die Wiederherstellung des Vertrauens des Auslandes zu Österreich und zur Österreichischen Regierung abhängt.“

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

von den Alliierten – vorerst teilweise – die Regierungsgewalt und später auch die Freiheit zu erlangen.62 Am 08. Mai 1945 erließ die Provisorische Staatsregierung das Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP – Verbotsgesetz 1945 (VG)63, das am 26. Juni 1945 durch das Verfassungsgesetz über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten ergänzt wurde (KVG)64. Beide Gesetze wurden später durch das vom Parlament erlassene, auf einer Vereinbarung der politischen Parteien über eine einheitliche dauerhafte Regelung der Nationalsozialistenfrage vom 28. März 194665 beruhende Nationalsozialistengesetz 194766 erheblich geändert und ergänzt und auch in Folge mehrfach novelliert. Der Kernbereich des KVG ist vergleichbar mit den vom Internationalen Gerichtshof in Nürnberg (auf Basis Art. 6 des Londoner Statuts vom 08. August 1945) neu erarbeiteten Verbrechenstatbeständen der Verschwörung gegen den Frieden, der Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges, des Verbrechens gegen das Kriegsrecht und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit.67 Bereits mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 21. April 194868 wurden die Regelungen über Sühnefolgen für minderbelastete Personen bei Aufrechterhaltung bereits vollzogener Sühnemaßnamen69 aufgehoben, mit Bundesverfassungsgesetz vom 28. April 194870 wurden jüngere, nach dem 31. Dezember 1918 geborene minderbelastete Personen gänzlich von den Sühnefolgen befreit. Durch die NS-Vermögensverfallsamnestie 195671 wurden folgenschwere Vermögensmaßnahmen zurückgenommen, mit der NS-Amnestie 195772 wurde das KVG aufgehoben und eine Anwendung der Vorschriften des VG über die Bestrafung früherer Nationalsozialisten und über Sühnefolgen73 für frühere Nationalsozialisten dauerhaft ausgesetzt. Der Teil des VG mit dem Verbot einer NS-Wiederbetätigung gilt heute noch und wurde erst durch 62 Felix Müller, Das Verbotsgesetz im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit, Wien 2005, 140f. Zur Unabhängigkeitserklärung (StGBl 1945/1) und Wiedererrichtung der Republik Österreich mit der Bundesverfassung 1920 in der Fassung von 1929 (und nicht auf Basis der beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich geltenden Verfassung 1934) siehe Felix Müller, aaO, 142ff. 63 StGBl 1945/13. 64 StGBl 1945/32, später wiederverlautbart idF NationalsozialistenG 1947 mit BGBl 1947/198. 65 Siehe Leopold Werner, Nationalsozialistengesetz und Verbotsgesetz 1947, 13. 66 Verfassungsgesetz BGBl 1947/25. 67 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/129. 68 BGBl 1948/99. 69 § 3 BGBl 1948/99. 70 BGBl 1948/70. 71 BGBl 1956/155. 72 Bundesverfassungsgesetz BGBl 1957/82. 73 Dazu sogleich nachstehend in Pkt. 3.3.

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Novellierung im Jahr 1992 um einen Straftatbestand erweitert74, der die öffentliche Leugnung, die gröbliche Verharmlosung, das Gutheißen oder den Versuch einer Rechtfertigung des nationalsozialistischen Völkermordes oder sonstiger nationalsozialistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellt (§ 3h VG). Damit wird insbesondere die vieldiskutierte, sogenannte „Auschwitzlüge“ pönalisiert.75

3.3 Inhalt 3.3.1 Zum Verbotsgesetz

Mit dem VG 1945 werden alle nationalsozialistischen Organisationen, insbesondere die NSDAP, und Wehrverbände aufgelöst und verboten (§ 1 VG). Es ist jedermann untersagt, sich für diese Organisationen oder deren Ziele zu betätigen (§ 3 VG). Untersagt sind Betätigungen für Organisationen mit nationalsozialistischer Zielrichtung oder die Unterstützung derartiger Organisationen (§§ 3a, 3b VG idF Nationalsozialistengesetz 1947). Untersagt ist auch, in einem Druckwerk, in Schriften oder in bildlichen Darstellungen zu einer solchen Wiederbetätigung aufzufordern, dazu anzueifern (anzustacheln) oder zu verleiten (§ 3d VG idF NationalsozialistenG 1947 iVm § 1 und § 3 VG). Besonders pönalisiert wird die Vorbereitung oder Ausführung bestimmter Gewaltverbrechen als Mittel nationalsozialistischer Wiederbetätigung (§§ 3e, 3f VG idF NationalsozialistenG 1947). Statuiert wird auch eine für jedermann geltende Verpflichtung, bestimmte, zur Kenntnis gelangende NS-Betätigungen anzuzeigen, wobei ein Verstoß gegen diese Verpflichtung strafrechtlich sanktioniert ist (§ 3i idF Verbotsgesetznovelle 1992, vormals § 3g Abs. 2 VG idf Nationalsozialistengesetz 1947). Ein genereller Auffangtatbestand pönalisiert sonstige, in den speziellen Straftatbeständen möglicherweise nicht erfasste NS-Wiederbetätigung (§ 3g VG). Diese Tatbestände zielen zum Schutz der Republik und jetzigen gesellschaftlichen Ordnung darauf ab, neuerliche nationalsozialistische Aktivitäten (eine „Wiederbetätigung“) zu unterbinden. Damit in Zusammenhang zu sehen, ist zum Teil auch die Behandlung von Personen, die sich in der NS-Zeit in bestimmter 74 Verbotsgesetznovelle 1992, BGBl 1992/148, womit auch die drastischen Strafrahmen in gewissem Umfang herabgesetzt wurden. 75 Zur generellen Problematik des Regelungsgegenstandes und zur speziellen Problematik der Konstruktion des Straftatbestandes sowie generell zum Problem der drastisch hohen Strafrahmen siehe Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 761, sowie Felix Müller, Das Verbotsgesetz im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit, Wien 2005.

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

Weise betätigt haben, weil diese nach dem VG von Positionen mit besonderer Verantwortung, die in besonderem Ausmaß eine Beeinflussung anderer Personen ermöglichen, ausgeschlossen werden sollten. Mit dem VG wurde auch die Registrierung aller Nationalsozialisten angeordnet (§ 4 VG), wozu die Betroffenen selbst verpflichtet wurden76. Das Unterlassen der Registrierung entsprechend dieser Verpflichtung und unvollständige und unrichtige Angaben wurden unter Strafe gestellt (§ 8 VG). Bestimmte Personen wurden als sühnepflichtige Personen eingestuft und diese in „belastete“ und „minderbelastete“ eingeteilt (§ 17 VG). Als Sühnefolgen für Belastete waren eine einmalige Sühneabgabe vom Vermögen und laufende Sühneabgaben vom Vermögen vorgesehen. Ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis wurde ihnen verwehrt und die Beendigung eines bestehenden ohne Anspruch auf Abfertigung oder Ruhegenuss verfügt. Leitende Positionen in der Wirtschaft und unternehmerische Betätigung, sowie bestimmte Berufe wie Wirtschaftsprüfer, Notar, Anwalt, Ziviltechniker und Arzt waren ihnen verboten (§ 18 VG). Es wurde für sie eine Arbeitspflicht normiert. Sie wurden auf Lebenszeit vom passiven und zeitlich befristet vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen. Zeitlich befristet bestand auch ein Ausschluss vom Hochschulstudium und mit der Möglichkeit einer Ausnahmebewilligung auch von künstlerischen Bühnendarbietungen. Des Weiteren wurde ihnen journalistische oder redaktionelle Tätigkeit verboten. Für minderbelastete Personen galten demgegenüber eingeschränkte Sühnefolgen, zum Teil wurden die bei belasteten Personen auf Lebenszeit geltenden Sühnefolgen befristet (§ 19 VG). Eine Vergeltung sah das VG insofern vor, als bestimmte Kategorien von Personen nachträglich als Hochverräter im Sinne des § 58 Strafgesetz (StG) und damit als Verbrecher eingestuft wurden (§ 10 Abs. 1 VG idF NationalsozialistenG 1947). Die erste Kategorie umfaßte Personen, die während der Verbotszeit vom 01. Juli 1933 bis zum 13. März 1938 nach Vollendung des 18. Lebensjahres illegale NS-Parteimitglieder waren oder sich für die NS-Bewegung betätigt hatten. Die zweite Kategorie umfaßte Personen, die in dieser Zeit Angehörige eines NS-Wehrverbandes (SS, SA, NSKK, NSFK) oder des NS-Soldatenringes oder NS-Offiziersbundes gewesen waren, und die dritte Kategorie Personen, die von der NSDAP als Altparteigenossen oder alte Kämpfer anerkannt worden waren. Strenger bestraft wurde ein Illegaler, der als politischer Leiter vom Ortsgruppenleiter aufwärts fungiert hatte, einem der Wehrverbände im Rang eines Untersturmführers oder Gleichgestellten aufwärts angehört hatte, Blutordensträ-

76 Was aufgrund des impliziten Zwangs zur Selbstbezichtigung heute als verfassungswidrig gelten würde (Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 754 FN 11).

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ger oder Träger einer sonstigen Parteiauszeichnung77 war oder in Verbindung mit der Angehörigkeit zu einer der in § 10 Abs. 1 VG aufgezählten Organisationen besonders verwerfliche strafbare Handlungen78 begangen hatte (Deliktsqualifikation nach § 11 Abs. 1 VG idF NationalsozialistenG 1947). Es war aber nicht Voraussetzung für die Strafbarkeit nach § 11 Abs. 1 VG, dass während der Verbotszeit eine solche Stellung bestand, eine derartige Auszeichnung erlangt wurde oder eine solche strafbare Handlung erfolgte.79 Diese Umstände werden regelmäßig erst anläßlich der Okkupation Österreichs oder danach eingetreten sein. Denn die NSDAP hatte mit dem Parteiverbot in Österreich ihre Wirksamkeit in und nach Österreich eingestellt; es wurden auch keine Mitglieder in Österreich mehr aufgenommen und keine Mitglieder in Österreich in der Parteikartei geführt; nur der Nationalsozialismus als solcher blieb in Österreich tätig, durch Agenten, Emissäre und durch Propaganda.80 Aus diesem Grund war § 10 VG mehrfach novelliert worden. In der Stammfassung 1945 wurde nur darauf abgestellt, ob eine Person in der Verbotszeit der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände angehört hatte81, was mangels einer unmittelbaren Tätigkeit der NSDAP in Österreich nicht die von der normsetzenden Instanz intendierte Erfassung der Illegalen bewirkte.82 Mit der Novelle vom 16. November 1945 wurde diese Bestimmung dahingehend 77 Gemäß § 11 Abs. 2 VG idF NationalsozialistenG 1947 konnte durch Verordnung (V) bestimmt werden, welche Auszeichnungen als sonstige Parteiauszeichnungen zu gelten haben. Diese Regelung erfolgte in der V der Bundesregierung vom 10. März 1947 zur Durchführung des Verbotsgesetzes 1947, BGBl. Nr. 64/1947 idF BGBl. Nr. 102/1947, deren § 4 wie folgt lautet: „Als Parteiauszeichnungen im Sinne des § 4 Abs. (3), und des § 11 Abs. (1) des Verbotsgesetzes 1947 sind zu verstehen: der Blutorden vom 9. November 1923, das goldene Ehrenzeichen der NSDAP, die Dienstauszeichnungen der NSDAP in Bronze, Silber oder Gold und das goldene Ehrenzeichen der Hitler-Jugend.“ 78 Als solche wurden beispielsweise angesehen die Beteiligung am Juliputsch 1934 (OGH 28.11.1946, 4 Os 41/46) oder die Zugehörigkeit zur Österreichischen Legion (OGH 20.11.1946, 4 Os 39/46). 79 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/125. 80 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/123. Im Detail zur Problematik der Organisationsform und der rechtlichen Erfassung der NSDAP siehe Roland Pichler, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien, Dissertation Wien 2016, 76ff. 81 § 10 Satz 1 VG idF StGBl 1945/13: „Wer in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938, wenn er innerhalb dieser Zeit das 18. Lebensjahr erreicht hat, jemals der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) angehört hat (,Illegaler‘), hat sich des Verbrechens des Hochverrates im Sinne des § 58 österr. Strafgesetz schuldig gemacht und ist wegen dieses Verbrechens mit schwerem Kerker in der Dauer von fünf bis zehn Jahren zu bestrafen.“ 82 Eine Parteimitgliedschaft war überhaupt im Allgemeinen ein legistisch ungeeignetes Kriterium, weil derartige Gruppierungen in unterschiedlichen Organisationsformen existieren können (Roland Pichler, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien, Dissertation Wien 2016, 161). Im Besonderen bestanden die

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

modifiziert, dass auch jemand als illegal eingestuft wurde, der wegen der Betätigung für die nationalsozialistische Bewegung von der NSDAP als „Altparteigenosse“ oder als „alter Kämpfer“ anerkannt wurde.83 Damit musste für eine Bestrafung aber nachgewiesen werden, dass eine solche Betätigung die Ursache für diese Anerkennung war; zumindest bestand die rechtliche Unklarheit, ob eine solche Betätigung bereits aufgrund des Umstands der Anerkennung anzunehmen war oder ob diese Betätigung eben gesondert nachgewiesen werden musste.84 Daher wurde § 10 VG mit dem NationalsozialistenG 1947 noch einmal geändert, damit nach dem Willen des Gesetzgebers zur Klarstellung der Rechtslage deutlich gemacht wird, dass nicht nur die formale Mitgliedschaft zur NSDAP während der Verbotszeit, sondern die während der Verbotszeit erfolgte Betätigung für die NS-Bewegung strafbarkeitsbegründend ist, und dass bereits eine solche spätere Anerkennung einer solchen Betätigung die Strafbarkeit bewirkt.85 Diese Neufassung des § 10 VG war allerdings noch immer verfehlt, weil vom Wortlaut her die während der Verbotszeit erfolgte Mitgliedschaft und die in dieser Zeit erfolgte Betätigung für die NS-Bewegung nicht als alternative, sondern als kumulative Tatbestandsmerkmale formuliert waren und demnach eine Strafbarkeit nur bestanden hätte, wenn beide Voraussetzungen erfüllt gewesen wären.86 Zudem war der Straftatbestand Probleme darin, dass in Österreich die NSDAP als solche nicht aufgelöst worden war, sondern nur ihre Wehrverbände, und ihr nur ein Betätigungsverbot auferlegt worden war, sie aber ihre Tätigkeit als Partei einstellte und letztlich als Untergrundorganisation operierte (siehe Pichler, aaO). Vgl. Lothar Höbelt zum damaligen Parteibegriff: „Freilich, der Begriff der Partei war ein schillernder, der rechtlich erst viel später in Parteiengesetzen niedergelegt wurde; von ad hoc-Übereinkünften unabhängiger Mandatare bis zu straff geführten bürokratischen Apparaten mochte jeder unter ,Partei‘ etwas anderes verstehen.“ (Lothar Höbelt, Die „Aktion Reinthaller“, aaO 59). 83 § 10 Abs. 1 VG idF BGBl 1946/16: „Wer in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 nach Vollendung des 18. Lebensjahres jemals der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) angehört hat oder wegen Betätigung für die nationalsozialistische Bewegung von der NSDAP als ,Altparteigenosse‘ oder ,Alter Kämpfer‘ anerkannt worden ist (,Illegaler‘), hat sich des Verbrechens des Hochverrates im Sinne des § 58 des Strafgesetzes schuldig gemacht und ist wegen dieses Verbrechens mit schwerem Kerker in der Dauer von 5 bis 10 Jahren zu bestrafen.“ 84 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/123f. 85 § 10 Abs. 1 VG idF BGBl 1947/25: „§ 10. (1) Wer in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 nach Vollendung des 18. Lebensjahres jemals der NSDAP angehört hat und während dieser Zeit oder später sich für die nationalsozialistische Bewegung betätigt hat oder Angehöriger eines der Wehrverbände der NSDAP (SS, SA, NSKK, NSFK) oder des NS-Soldatenringes oder des NS-Offiziersbundes gewesen ist oder wer von der NSDAP als ,Altparteigenosse‘ oder ,Alter Kämpfer‘ anerkannt worden ist, hat sich des Verbrechens des Hochverrates im Sinne des § 58 des St. G. schuldig gemacht und ist wegen dieses Verbrechens mit schwerem Kerker in der Dauer von fünf bis zu zehn Jahren zu bestrafen.“ 86 Roland Pichler, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien, Dissertation Wien 2016, 162.

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mit dem undifferenzierten Abstellen auf die Mitgliedschaft zur NSDAP zu weit gefasst, weil damit auch die Mitgliedschaft bei der NSDAP in Deutschland erfasst wurde.87 Nach der klaren normsetzenden Intention war allein die Betätigung für die NS-Bewegung strafbarkeitsbegründend.88 Der Begriff „Betätigung“ wurde extensiv ausgelegt, sodass darunter jede materielle oder ideelle Förderung der NS-Bewegung verstanden wurde.89 Diese Strafbestimmung wurde letztlich so gehandhabt, dass die während der Verbotszeit erfolgte Betätigung für die NS-Bewegung als strafbar angesehen wurde. Diese wurde bei einer Person vermutet, die nach dem Anschluss von der NSDAP als „Altparteigenosse“ oder „Alter Kämpfer“ anerkannt wurde. Dieser Person blieb aber die Möglichkeit des Entlastungsbeweises, dass diese Anerkennung unrichtig war.90 Ebenso bestand die Möglichkeit des Gegenbeweises, dass die Voraussetzungen für die Verleihung einer in § 11 VG erfassten Parteiauszeichnung tatsächlich nicht bestanden hatten, die Verleihung also zu Unrecht erfolgt war, sodass doch keine Strafbarkeit nach § 11 VG bestand. Derartige rechtliche Schuldvermutungen wären heute als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung verfassungsrechtlich unzulässig.91 Jedenfalls weist § 10 Abs. 1 VG damit die Eigenart auf, dass nicht nur eine bestimmte Betätigung strafrechtlich erfasst wird und die Art des Nachweises für eine solche Betätigung dem Strafverfahren überlassen bleibt, sondern dass ein Umstand, aus dem eine Schlussfolgerung auf eine solche Betätigung erfolgen kann, für sich genommen strafbarkeitsbegründend wirkt. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage der Bedeutung der NSDAP-Mitgliedsnummern. Denn nach dem Anschluss an das Deutsche Reich wurde die NSDAP auf dem Gebiet Österreichs wieder aufgebaut, wobei vorerst keine neuen Mitglieder aufgenommen wurden. Zunächst erfolgte die Erfassung der bestehenden Mitglieder der NS-Bewegung. Dabei wurden auf Anordnung des Gauleiters Bürckel bei der Erfassung der Mitglieder zwei Gruppen gebildet92. Die erste Gruppe 87 Roland Pichler, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien, Dissertation Wien 2016, 161. 88 Roland Pichler, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien, Dissertation Wien 2016, 162. 89 Roland Pichler, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien, Dissertation Wien 2016, 163. 90 Roland Pichler, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien, Dissertation Wien 2016, 164 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Dazu exemplarisch Kapitel 6.3. – Der Fall Dr. Franz Hueber, insbesondere Kapitel 6.3.3. – Die Wiederaufnahme. 91 Dazu nachstehend FN 158. 92 Anordnungen und Verfügungen des Beauftragten des Führers für den Parteiaufbau in der Ostmark, Gauleiter Josef Bürckel, vom 28.04.1938, Nr. 1/38, und vom 23.09.1938, Nr. 34/38.

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umfasste alle Mitglieder, die der Partei bereits vor der Verbotszeit angehört hatten und ihr nicht abtrünnig geworden waren; deren Mitgliedschaft wurde im durchgeführten Erfassungsverfahren bestätigt, sie hatten die Mitgliedsnummern unter 6.100.000. Die zweite Gruppe bestand aus Personen, die während der Verbotszeit für die nationalsozialistische Bewegung eingetreten waren; für diese Aufnahmewerber waren Mitgliedsnummern von 6.100.001 bis 6.600.000 reserviert. Sie wurden mit dem 01. Mai 1938 als „erstem nationalen Feiertag des deutschen Volkes im Großdeutschen Reich“ in die Partei aufgenommen. Mitglieder, die der ersten Gruppe zuzuordnen sind, wurden ohne Weiteres als „alte Kämpfer“ eingestuft. Mitglieder der zweiten Gruppe wurden als Altparteigenossen angesehen und den im Altreich vor der Machtübernahme beigetretenen Parteigenossen gleichgestellt; als „alter Kämpfer“ wurde ein Mitglied der zweiten Gruppe nur anerkannt, wenn es „eine außerordentlich verdienstvolle Tätigkeit in der Partei oder einer ihrer Gliederungen vor dem 11.03.1938 ausgeübt“ hatte. Damit stellte sich die Frage, ob jeder mit einer Mitgliedsnummer bis 6.600.000 nach § 10 VG strafbar war. Das war zu verneinen, weil oftmals die Zuteilung einer solchen Mitgliedsnummer abweichend von den Regelungen des Erfassungsverfahrens durch persönliche Vergünstigung, Kauf, Ausnutzen persönlicher Beziehungen oder falschen Angaben erfolgte. Eine solche Mitgliedsnummer war aber ein starkes Indiz für eine während der Verbotszeit erfolgte illegale Betätigung.93 Ein Vorgehen nach § 10 VG sollte nur unter der Bedingung94 erfolgen, dass hochverräterische Umtriebe zunehmen oder ein Täter nach dem Inkrafttreten des VG sich für die NSDAP, für eine ihrer Gliederungen (Gruppierungen) oder einen ihrer Verbände irgendwie betätigte, sich eines Verbrechens oder eines gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung verstoßenden Vergehens oder einer solchen Übertretung schuldig machte oder sonst eine strafbare Handlung aus habsüchtigen oder anderen verwerflichen Beweggründen beging (§ 10 Abs. 2 VG)95. Diese bloß angedrohte Strafverfolgung sollte die Illegalen in ihrer Gesamtheit und jeden Einzelnen von ihnen nicht nur von einer neuerlichen Betätigung für die NSDAP, sondern von der Begehung neuer Straftaten 93 Vgl. Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/42. 94 Unter dem bedingten Aufschub der Strafverfolgung (Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/ Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/122). 95 § 10 Abs. 2 VG idF NationalsozialistenG 1947: „Die Verfolgung auf Grund dieser Bestimmung findet statt, wenn nach Ansicht der Bundesregierung hochverräterische Umtriebe zunehmen oder wenn nach dem Inkrafttreten dieses Verfassungsgesetzes in seiner ursprünglichen Fassung der Täter sich für die NSDAP, für eine ihrer Gliederungen oder einen ihrer Verbände irgendwie betätigt hat, sich eines Verbrechens oder eines gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung verstoßenden Vergehens oder einer solchen Übertretung schuldig gemacht oder sonst eine strafbare Handlung aus habsüchtigen oder anderen verwerflichen Beweggründen begangen hat.“

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überhaupt zurückhalten.96 Für ein Vorgehen nach § 11 Abs. 1 VG bestand keine derartige Bedingung, die Strafverfolgung nach § 11 Abs. 1 VG hatte unbedingt zu erfolgen.97 Von § 11 Abs. 1 VG erfasste politische Leiter vom Ortsgruppenleiter aufwärts oder Ränge der Wehrverbände im Rang eines Untersturmführers oder Gleichgestellten aufwärts waren vier Arten von Funktionären, und zwar (1) Funktionäre der Parteidienststellen vom Ortsgruppenleiter oder Stützpunktleiter (Stützpunkt war ursprünglich die Bezeichnung kleiner, organisatorisch vereinfachter Ortsgruppen) aufwärts [Ortsgruppenleitung], (2) Funktionäre der Nicht-Parteidienststellen von der Dienststellung des Ortsgruppenleiters aufwärts, sofern sie einen Rang eines politischen Leiters hatten, (3) die Funktionäre der zivilen Gliederungen von der Dienststellung des Ortsgruppenleiters aufwärts und (4) die Führer in den Wehrverbänden oder in einer anderen militärischen Gliederung vom Untersturmführer-Rang aufwärts. Die Parteidienststellen, nach denen die Parteiämter gegliedert waren, führten folgende, die innere Bewertung zum Ausdruck bringende Bezeichnungen: Hilfsstelle, Stelle, Hauptstelle, Amt, Hauptamt und Oberamt. Zur Klärung der Frage der dienststellenmäßigen Gleichstellung wurden organisationsrechtliche Vorschriften des NS-Reichs herangezogen. So die erste Verordnung zur Ausführung des Gesetzes über die Vernehmung von Angehörigen der NSDAP und ihrer Gliederungen vom 02. Dezember 193698. Des weiteren die Vorschriften der NSDAP über die Dienstanzüge des politischen Leiters der NSDAP, woraus abzuleiten ist, dass hinsichtlich der Dienststellung ein Ortsgruppenleiter den politischen Leitern vom Leiter eines Kreisamtes, einer Gauhauptstelle und einer Reichsstelle aufwärts gleichgestellt war. Außerdem die Anordnung des Reichsorganisationsleiters der NSDAP vom 22. März 1941 über die Umstufung der Ortsgruppenleiter, woraus sich ergibt, dass der Dienststellung eines Ortsgruppenleiters gleichwertig sind die Dienststellung eines Leiters eines Amtes oder einer höheren Dienststelle in der Kreisleitung, die Dienststellung eines Leiters einer Hauptstelle oder einer höheren Dienststelle in der Gauleitung, und die Dienststelle eines Leiters einer Stelle oder einer höheren Dienststelle in der Reichsleitung.99 In den Kategorien 96 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/122. 97 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/124. 98 RGBl I S. 997 idF V vom 25.04.1939, RGBl I S. 855. 99 Dieser Ansatz erfolgte, weil die Organisation der NSDAP nur in Grundzügen im Organisationsbuch verankert war und Details vom Reichsorganisationsleiter jeweils in besonderen Dienststellenplänen festgelegt wurden, die einen örtlich beschränkten Anwendungsbereich hatten. Dazu kommt, dass die Organisation der NSDAP nicht starr war, sondern sich in ständiger Entwicklung befand (Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/73f ).

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(1) bis (3) wurden in einem Erlass des Bundeskanzleramts100 die folgenden Gruppen mit den zum Teil beispielhaft angeführten und der jeweils angeführten Anzahl von einem Ortsgruppenleiter gleichwertigen oder höherwertigen Funktionen erfasst: Ortsgruppenleitung (Ortsgruppenleiter oder Stützpunktleiter); Kreisleitung (z.B. Leiter des Kreispropagandaamts, Leiter des Kreisrechtsamts, Kreisbeauftragter zur Überwachung des Dienstbetriebes der Ortsgruppen, Leiter des Kreisschulungsamts, Kreiskassenleiter, Kreisgeschäftsführer, Leiter des Kreisstabsamtes, Adjutant des Kreisleiters und Kreisleiters als Parteidienststellen, insgesamt 29, oder Kreisobmann der deutschen Arbeitsfront, Kreiswalter der NS-Volkswohlfahrt, Kreiswalter des Nationalsozialistischen Bunds Deutscher Technik als Nicht-Parteidienststellen, insgesamt 13); Gauleitung (z.B. Politische Gauparteiredner [im Gegensatz zu Fachrednern], Leiter des Amts für Volkstumsfragen sowie die Leiter der dem Amt für Volkstumsfragen unterstellten Hauptstellen, Leiter des Gauamtes für Volksgesundheit, Gauwirtschaftsberater, Gauinspekteure, Leiter des Gauschulungsamtes, Leiter des Gauschatzamtes, Leiter des Gaustabsamtes und Leiter bestimmter diesem unterstellter Gauhauptstellen, Adjutant des Gauleiters als Parteidienststellen, insgesamt 32, wozu noch viele nachgeordnete Hauptdienststellen kommen, oder Sportgauführer des NS-Reichsbundes für Leibesübungen sowie der Sportbezirksführer des NS-Reichsbunds für Leibesübungen, der Gaustudentenführer und bestimmte diesem unterstellte Gaudienststellen des NS-Deutschen Studentenbundes, Gauwalter des Reichsbunds der deutschen Beamten, Gauwalter der NS-Volkswohlfahrt, Gauobmann der Deutschen Arbeitsfront als Nicht-Parteidienststellen, insgesamt 18, wozu noch viele nachgeordnete Hauptdienststellen kommen); Auslandsorganisation der NSDAP mit sechs Typen von Hoheitsträgern und mit sonstigen Funktionären, wie sie jenen der Kreisleitung oder Gauleitung entsprechen; Auslandsorganisationen des Reichsarbeitsdienstes mit Gauwaltung AO der DAF, Landesgruppenwaltungen, Landeskreiswaltungen und Ortswaltungen mit politischen Leitern der AO, die jenen der Kreisleitung oder Gauleitung entsprechen. Das Organisationsrecht unterschied in die Kategorien des ernannten Funktionärs, des berufenen, jedoch noch nicht ernannten Funktionärs als kommissarischen Leiter (zeichnete mit „m.d.L.b.“ – mit der Leitung beauftragt), und den mit der Wahrung der Geschäfte beauftragten politischen Leiter oder Parteigenossen (zeichnete „m.d.W.d.G.b.“ – mit der Wahrung der Geschäfte beauftragt). Die Ernennung war die definitive Übertragung der Leitung einer Parteidienststelle, mit der die Verleihung eines Dienstrangs verbunden war. Die Funktionärseigenschaft im Sinn des Verbotsgesetzes begann erst mit dem Stadium der Berufung, weil mit diesem Vor100 Erlass des Bundeskanzleramts vom 21.04.1947, Zl. 43729-2 N/47.

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stadium zur Ernennung bereits eine Übertragung der Dienststellenleitung durch den betreffenden Hoheitsträger erfolgte.101 In die Kategorie (4) der Wehrverbände fallen nach diesem Erlass die SS mit den Dienstgraden Untersturmführer, Obersturmführer, Hauptsturmführer, Sturmbannführer, Obersturmbannführer, Standartenführer, Oberführer, Brigadeführer, Gruppenführer, Obergruppenführer, Oberstgruppenführer und Reichsführer SS; die SA mit den Dienstgraden vom Sturmführer (entspricht einem SS-Untersturmführer) bis zum Obergruppenführer und mit dem Stabschef; das NS-Kraftfahrkorps mit den Dienstgraden Sturmführer, Obersturmführer, Hauptsturmführer, Staffelführer, Oberstaffelführer, Standartenführer, Oberführer, Brigadeführer, Gruppenführer, Obergruppenführer und mit dem Korpsführer; das NS-Fliegerkorps mit den Dienstgraden vom Sturmführer bis zum Obergruppenführer und mit dem Korpsführer; die HJ mit den Diensträngen Stammführer, Oberstammführer, Bannführer, Oberbannführer und Hauptbannführer sowie das Deutsche Jungvolk mit den Diensträngen Jungstammführer, Oberjungstammführer, Jungbannführer, Oberjungbannführer und Hauptjungbannführer, und bei beiden jeweils Gebietsführer, Obergebietsführer und Stabsführer; der Bund Deutscher Mädel mit den Diensträngen Mädelringführerin, Untergauführerin und Gauführerin sowie die Jungmädel mit den Diensträngen Jungmädelringführerin, Jungmädeluntergauführerin und Jungmädelgauführerin, und bei beiden jeweils Obergauführerin, Gauverbandsführerin und Stabsführerin; im NS-Soldatenring und NS-Offiziersbund alle Offiziere sowie Beamte im Offiziersrang vom Leutnant aufwärts. Es machte bei der Strafbarkeit keinen Unterschied, ob eine Person in der Stellung eines solchen Dienstrangs tätig war, oder ob ihr der Rang lediglich ehrenhalber verliehen wurde,102 wie auch in der Strafsache gegen Ing. Anton Reinthaller vom Volksgericht entschieden wurde.103 Ein weiteres Delikt wurde dergestalt normiert, dass zu bestrafen war, wer in der Verbotszeit durch beträchtliche finanzielle Zuwendungen eine NS-Organisation gefördert hatte oder für die Ziele einer solchen Organisation zur Untergrabung der Selbständigkeit Österreichs eine Schädigung des österreichischen Wirtschaftslebens unternommen hatte (§ 12 VG). Damit wurde das Delikt einer Art „wirtschaftlichen Hochverrats“ normiert104, das sich gegen Personen richtet, die zwar nicht Mitglieder 101 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/71f. 102 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/75. 103 Dazu in Kapitel 4.4.1. 104 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/126.

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der NSDAP oder einer ihrer Organisationen waren, aber die sich durch die umschriebene Förderung für den Fall des Umbruchs einen Vorteil sicherten105. Abgezielt wurde auf bestimmte österreichische Wirtschaftsführer, die den Nationalsozialismus durch finanzielle Zuwendungen stärkten oder die österreichische Wirtschaft schwächten und so gegen den Unabhängigkeitskampf Österreichs wirkten.106 Die Anwendung einer im Strafgesetz oder in der Strafprozessordnung enthaltenen Regelung über eine Veränderung der Strafe durch Umwandlung einer gesetzlich vorgesehenen Kerkerstrafe in die Strafe des strengen Arrestes107 und über eine außerordentliche Strafmilderung war bei einer Bestrafung nach dem VG für Erwachsene ausgeschlossen, für Jugendliche galten abweichende Regeln (§ 25 VG). Durch § 1 Abs. 4 Volksgerichtsverfahrens- und Vermögensverfallgesetz108 wurde aber davon eine Ausnahme gemacht, in dem (zwar nicht die Anwendbarkeit der Bestimmungen über die Strafumwandlung, aber) die Anwendbarkeit der Bestimmungen des allgemeinen Strafrechts über die außerordentliche Strafmilderung (§ 54 StG, § 265a StPO) auf Verurteilungen nach § 8 oder nach § 10, § 11 und § 12 VG normiert wurde.109 Das Verjährungsproblem erfuhr in § 16 VG eine Regelung, wonach die Verjährung der in diesem Bundesverfassungsgesetz unter Strafe gestellten Handlungen frühestens ab dem 06. Juni 1945 begann. Ausdrücklich geregelt wurde, dass Amnestiebestimmungen und Gnadenerlässe der strafrechtlichen Verurteilung nach § 10, § 11 oder § 12 VG nicht entgegenstehen (§ 14 VG idF NationalsozialistenG 1947, vormals § 13 VG in der Stammfassung). Damit zielte man insbesondere darauf ab, die Amnestie 1938110, womit die Straffreiheit für die in der Verbotszeit begangenen politischen Delikte nicht nur für Nationalsozialisten, sondern für politische Delikte jeglicher Färbung stipuliert worden war, in diesem Zusammenhang für unanwendbar zu erklären.111 105 Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 755. 106 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/126. 107 Art. VI der Strafprozeßnovelle 1918, StGBl 1918/93. 108 BGBl 1945/177 idF BGBl 1947/213. 109 Mit Aufhebung der Volksgerichte wurde auch § 25 VG zur Gänze aufgehoben, er gilt seitdem auch für Wiederbetätigungsdelikte nicht mehr (BGBl 1955/285 Art. II § 3 Abs. 1). 110 Entschließung des Bundespräsidenten vom 16. Februar 1938 über eine Amnestie wegen politischer Delikte, BGBl 1938/35. 111 Das nach dem Anschluss an das Deutsche Reich in Österreich geltende Gesetz vom 30.04.1938, DRGBl I S. 433, das für Nationalsozialisten in Österreich weitgehende Straffreiheit normiert hatte, wurde im Zuge der Rechtsüberleitung des Rechtsbestands der Okkupationszeit auf die wiedererrichtete Republik Österreich aufgehoben (Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold

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Vorgesehen wurde, dass der Bundespräsident auf Antrag des zuständigen Bundesministers nach einem Ansuchen des Betroffenen und Durchführung eines öffentlichen Einspruchsverfahrens, in dem jedermann Bedenken äußern kann112, Ausnahmen von der Bestrafung und/oder der Verhängung von Sühnefolgen nach dem VG ganz Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/127f ). Eine derartige Rechtsüberleitung erfolgt mit Rezeption und Filterklausel, womit ein Teil des Bestands an Rechtsnormen nicht übernommen wird (im vorliegenden Fall Rechtsüberleitungsgesetz vom 01.05.1945, StGBl 1945/6, womit spezifisch nationalsozialistische Rechtsvorschriften aufgehoben werden). Dazu aus dem VerfassungsüberleitungsG, StGBl 1945/4: „Artikel 1. Das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 sowie alle übrigen Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Bundesgesetzen enthaltenen Verfassungsbestimmungen nach dem Stande der Gesetzgebung vom 5. März 1933 [Anm.: Tag nach der sogenannten „Selbstausschaltung“ des Parlaments, der die Verhinderung der Wiederaufnahme der Tätigkeit des Nationalrats durch die Regierung Dollfuß folgte] werden im Sinne der Regierungserklärung, StGBl. Nr. 3 von 1945, wieder in Wirksamkeit gesetzt. Artikel 2. Alle nach dem 5. März 1933 erlassenen Bundesverfassungsgesetze, in einfachen Bundesgesetzen enthaltenen Verfassungsbestimmungen und verfassungsrechtliche Vorschriften enthaltenden Verordnungen sowie alle für den Bereich der Republik Österreich von der Deutschen Reichsregierung erlassenen Gesetze, Verordnungen und sonstigen Anordnungen verfassungsrechtlichen Inhaltes sind aufgehoben. Artikel 3. Aufgehoben sind daher insbesondere: […]“ Rechtsüberleitungsgesetz vom 01.05.1945, StGBl 1945/6: „§ 1. (1) Alle nach dem 13. März 1938 erlassenen Gesetze und Verordnungen sowie alle einzelnen Bestimmungen in solchen Rechtsvorschriften, die mit dem Bestand eines freien und unabhängigen Staates Österreich oder mit den Grundsätzen einer echten Demokratie unvereinbar sind, die dem Rechtsempfinden des österreichischen Volkes widersprechen oder typisches Gedankengut des Nationalsozialismus enthalten, werden aufgehoben. (2) Die Provisorische Staatsregierung stellt mittels Kundmachung fest, welche Rechtsvorschriften im Sinne des Abs. (1) als aufgehoben zu gelten haben. Alle Gerichte und Verwaltungsbehörden sind an die Feststellungen dieser Kundmachungen gebunden. (3) Die Kundmachung kann auch bestimmen, ob und in welchem Umfang frühere Rechtsvorschriften an Stelle der aufgehobenen in Geltung treten. (4) Die Kundmachungen sind im Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich zu verlautbaren. § 2. Alle übrigen Gesetze und Verordnungen, die nach dem 13. März 1938 für die Republik Österreich oder ihre Teilbereiche erlassen wurden, werden bis zur Neugestaltung der einzelnen Rechtsgebiete als österreichische Rechtsvorschriften in vorläufige Geltung gesetzt. § 3. Die Provisorische Staatsregierung beruft hervorragende Vertreter der Rechtsberufe in eine Kommission zur Vereinheitlichung und Vereinfachung der österreichischen Rechtsordnung. Die Kommission hat die Aufgabe, die nach § 1, Abs. (2), ergehenden Kundmachungen der Provisorischen Staatsregierung vorzubereiten und Vorschläge für eine möglichste Vereinheitlichung und Vereinfachung der gesamten österreichischen Rechtsordnung zu erstatten. § 4. Dieses Verfassungsgesetz tritt rückwirkend mit 10. April 1945 in Kraft. Die Kundmachungen gemäß § 1, Abs. (2), können jedoch für die Aufhebung einzelner Rechtsvorschriften auch einen anderen Zeitpunkt bestimmen. § 5. Mit der Vollziehung dieses Verfassungsgesetzes ist die Provisorische Staatsregierung betraut.“ 112 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/500.

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oder teilweise bewilligen kann, wenn als kumulative Voraussetzungen113 der Betroffene seine Zugehörigkeit zu den im VG genannten Verbänden niemals missbraucht hat, mit Sicherheit auf seine positive Gesinnung gegenüber der Republik Österreich geschlossen werden kann und die Ausnahme im öffentlichen Interesse oder aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen gerechtfertigt erscheint (§ 27 VG idF NationalsozialistenG 1947). Abweichend von der generalisierenden und schematischen Betrachtung der allgemeinen Bestimmungen des VG wurde durch diese Ausnahmebestimmung ein dem Gnadenrecht zuzuordnendes Rechtsinstitut geschaffen, das eine individuelle Betrachtung des Einzelfalls114 ermöglicht und wodurch nicht strafwürdige Personen von der Anwendung des VG ausgenommen werden können. Mit der NS-Amnestie 1957115 wurde die Anwendung der Vorschriften des VG über die Bestrafung früherer Nationalsozialisten und über Sühnefolgen für frühere Nationalsozialisten dauerhaft ausgesetzt.116 3.3.2 Zum Kriegsverbrechergesetz

Die eigentlichen117 Kriegsverbrechen, die mit diesem Gesetz unter Strafe gestellt wurden, waren Straftaten von Soldaten gegen Soldaten und die Zivilbevölkerung des Kriegsgegners, die unter Verletzung des Kriegsrechts und der Kriegsgebräuche begangen wurden (§ 1 KVG). Problematisch erscheint das Formaldelikt nach § 1 Abs. 6 KVG, wonach Personen, die – wenn auch nur zeitweise – in bestimmten Funktionen tätig waren, wozu nicht nur Mitglieder der Reichsregierung zählten, sondern generell NSDAP-Hoheitsträger vom Kreisleiter oder Gleichgestellten aufwärts, Reichsstatthalter, Reichsverteidigungskommissare oder Führer der SS einschließlich der Waffen-SS vom Standartenführer aufwärts118, ohne weitere Vorausset113 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/499. 114 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/501. 115 BGBl 1957/82. 116 Gemäß Art. III § 12 Abs. 1 Z 2 BVG BGBl. Nr. 1957/82 (NS-Amnestie 1957) ist ein Strafverfahren wegen des Verbrechens nach § 10, § 11 oder § 12 VerbotsG 1947 nicht einzuleiten. Gemäß Art. III § 12 Abs. 2 BGBl. Nr. 1957/82 (NS-Amnestie) sind eingeleitete Strafverfahren einzustellen. Gemäß Art. III § 14 Abs. 1 Z 2 BGBl. Nr. 1957/82 (NS-Amnestie) sind gemäß § 10, § 11 oder § 12 VerbotsG 1947 verhängte Strafen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind, nachgesehen. Gemäß Art. III § 15 Abs. 1 Z 2 BGBl. Nr. 1957/82 (NS-Amnestie) gelten wegen des Verbrechens nach § 10, § 11 oder § 12 Verbotsgesetz 1947 erfolgte Verurteilungen als getilgt. 117 Vgl. Leopold Werner, Nationalsozialistengesetz und Verbotsgesetz 1947, 7. 118 § 1 Abs. 6 KVG idF NationalsozialistenG 1947, BGBl 1947/25. In der Stammfassung BGBl

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zungen als Kriegsverbrecher eingestuft wurden. Der Nachweis einer bestimmten Tat wurde nicht verlangt. Damit war die Strafbarkeit nicht an eine individuelle Schuld geknüpft, sondern an eine Funktion, sodass ohne besondere, nachzuweisende Handlungen bei solchen Funktionären die Begehung vor Kriegsverbrechen als gegeben anzunehmen war.119 Mit dem Delikt der Kriegshetzerei wurden bestimmte Propagandatätigkeiten zur Aufreizung zum Krieg oder zu dessen Verlängerung unter Strafe gestellt (§ 2 KVG). Das ist im Zusammenhang mit dem – gerade nach damaligem Völkerrecht – wegen dessen Rückwirkung straf- und völkerrechtlich besonders problematischen Delikt des Verbrechens gegen den Frieden zu sehen. Mit dem Delikt der Quälerei oder Misshandlung wurde unter Strafe gestellt, wenn jemand in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einen Menschen aus politischer Gehässigkeit unter Ausnutzung dienstlicher oder sonstiger Gewalt in einen qualvollen Zustand versetzt oder empfindlich misshandelt hatte (§ 3 KVG). Für Personen in bestimmten Funktionen, und zwar den leitenden Funktionären von Konzentrationslagern, nicht ausschließlich mit Verwaltungsaufgaben betrauten leitenden Beamten der Gestapo oder des Sicherheitsdienstes vom Abteilungsleiter aufwärts und Mitgliedern des Volksgerichtshofs sowie als Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof oder dessen Stellvertreter tätigen Personen, war auch hier ein Formaldelikt vorgesehen, womit diese alleine aufgrund dieser Funktion ohne weitere Voraussetzungen als Verbrecher eingestuft wurden (§ 3 Abs. 3 KVG), wobei die damit normierte unwiderlegbare Schuldvermutung nur bei leitenden Funktionären von Konzentrationslagern gerechtfertigt erscheint.120 1945/32 waren noch anstelle „vom Kreisleiter oder Gleichgestellten aufwärts“ nur Personen „vom Gauleiter oder Gleichgestellten und vom Reichsleiter oder Gleichgestellten aufwärts“ erfasst. 119 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1982, 250f. 120 Was ungeachtet der rechtsstaatlichen Problematik nicht allein eine moralische Wertung nach – heute in zivilisierten Staaten weitgehend zum kulturellen Standard zählenden – Menschenrechten darstellt. Denn schließlich kann man in diesen Fällen auch im Hinblick auf die strafrechtliche Schuld und der ebenso nach den heutigen menschenrechtlichen Standards gegebenen Unschuldsvermutung und dem für eine Bestrafung erforderlichen Nachweis der Begehung einer zur Last gelegten Straftat jedenfalls davon ausgehen, dass diese Personen durch ihre Mitwirkung beim Betreiben einer solchen verbrecherischen Einrichtung die Verantwortung oder zumindest eine Mitverantwortung für die Begehung der in diesen Einrichtungen durchwegs begangenen Gewaltverbrechen tragen, auch wenn sie selbst keine unmittelbaren Tötungshandlungen vorgenommen haben. Das gilt ebenso für Personen in Funktionen mit Tätigkeiten, die in dem Transport von Menschen in solche Einrichtungen, deren Freiheitsberaubung, deren Bewachung, der Selektion dieser Menschen für Arbeitseinsatz oder Tötung, und in deren Überführung zur Tötung (die insbesondere durch den Einsatz von Kfz-Abgasen oder von Giftgas erfolgte) bestanden, ohne dass diese Personen an der Tötung unmittelbar beteiligt waren. All diese Personen waren am planmäßigen Tötungsvorgang und dessen Vorbereitung

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beteiligt. Bei dieser ersten Gruppe von Personen erübrigt sich ein gesonderter Schuldbeweis für die unmittelbare Begehung einzelner dieser Gewaltverbrechen, weil sie dafür jedenfalls eine Mitverantwortung tragen. In anderen Fällen, in denen eine derartige Mitwirkung am eigentlichen Tötungsvorgang nicht erfolgt ist, aber die näheren Umstände deutlich belegen, dass mit einer ausgeübten Funktion eine systemerhaltende Förderung einer verbrecherischen Einrichtung verbunden war (wie z.B. bei Tätigkeiten von in einer solchen Einrichtung dauerhaft beschäftigten Handwerkern, die mit der Instandhaltung und Instandsetzung von Baulichkeiten einer solchen Einrichtung befasst waren; von Personen, die in der Verwaltung, Küche oder Bekleidungskammer einer solchen Einrichtung tätig waren), besteht eine systemerhaltende Tätigkeit für diese verbrecherische Einrichtung. Dieser zweiten Gruppe von Personen ist dabei jedenfalls der Grundvorwurf anzulasten, an der Aufrechterhaltung einer Einrichtung mitgewirkt zu haben, in der nachweislich ständig systematisch und planmäßig Verbrechen begangen wurden, sodass sie einen Beitrag zu diesen Verbrechen geleistet haben (vgl. zum deutschen Recht LG München II 12.05.2011, 1 Ks 115 Js 12496/08 – Strafsache John Demjanjuk, JuNSV Bd. XLIX S. 359ff; differenzierend BGH 20.02.1969, 2 StR 280/67 – Auschwitzprozess, wonach nicht jeder, der in das Vernichtungsprogramm eines Konzentrationslagers eingegliedert war und dort irgendwie anlässlich dieses Programms tätig wurde, für alles, was aufgrund dieses Programms geschah, verantwortlich sei, und strafbar insoweit nur derjenige sein könne, der die Haupttat konkret gefördert hat. Zu dieser Thematik Thilo Kurz, Paradigmenwechsel bei der Strafverfolgung des Personals in deutschen Vernichtungslagern?, ZIS–Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 3/2013, 122). In der modernen Gesetzgebung wird diese Problematik gesetzlich so erfasst, dass sogenannte Organisationsdelikte etabliert werden, wonach die Mitwirkung in einer kriminellen Organisation oder deren Förderung strafbar sind, wobei Voraussetzung für diese Strafbarkeit nur der Umstand ist, dass diese Organisation bestimmte Arten von kriminellen Handlungen begeht oder darauf ausgerichtet ist, ohne dass erforderlich ist, dass man selbst an einer kriminellen Handlung der Organisation teilgenommen hat (vgl. § 278 StGB idgF – Kriminelle Vereinigung (zuvor Bandenbildung), § 278a StGB idgF – Kriminelle Organisation). Die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung oder an einer kriminellen Organisation kann bereits durch Mitwirkung bei der Schaffung oder Aufrechterhaltung deren Infrastruktur erfolgen (§ 278 Abs. 3 StGB idgF; Fabrizy, StGB, Wien, 12. Auflage 2016, § 278 Rz 9). In der früheren Entwicklung des Strafrechts wurde diese Problematik nur partiell erfasst. Der Kernbereich der Arten der Begehung von strafbaren Handlungen beinhaltet die Täterschaft oder bei mehreren Personen, die eine strafbare Handlung gemeinsam ausführen, die Mittäterschaft, die Anstiftung zu einer Straftat (auch: Bestimmungstäterschaft) oder die Beihilfe zu einer Straftat (Förderung einer Straftat als Beitragstäter). Die Strafbarkeit besteht bei Begehungsdelikten (Tätigkeitsdelikten), bei denen bereits eine bestimmte Handlung strafbar ist, mit dem strafbaren Tun oder Unterlassen (Unterlassen als Unterbleiben eines bestimmten in einer Situation gebotenen Handels). Bei Ergebnisdelikten (in missverständlicher juristischer Terminologie „Erfolgsdelikte“ genannt) beginnt die Strafbarkeit beim Versuch als einer der Tatbegehung unmittelbar vorausgehenden Handlung, und das Delikt ist mit dem strafbaren Ergebnis (z.B. Tötung, Vermögensentziehung, Selbstschädigung des Opfers beim Betrug) vollendet. Strafbar ist auch die versuchte Anstiftung. Bei der Beihilfe ist nach geltendem Recht nur der Beitrag zum Deliktsversuch strafbar, nicht aber die versuchte Beihilfe bzw. nicht der versuchte Tatbeitrag (Diethelm Kienapfl, Grundriß des österreichischen Strafrechts – Allgemeiner Teil, Wien 5. Auflage 1994, 225). Die Strafbarkeit wurde in der Entwicklung des Strafrechts auch ausgedehnt auf die Verabredung

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(Planung) gewisser konkreter Delikte als verbrecherisches Komplott (§ 277 StGB idgF, z.B. wenn zwei oder mehrere Personen einen Mord, Raub oder eine erpresserische Entführung planen) und auf die Vorbereitung gewisser konkreter Delikte (z.B. § 151 StGB idgF – Versicherungsmissbrauch zur Vorbereitung eines Versicherungsbetrugs; § 239 StGB idgF – Vorbereitung einer Geldfälschung), jeweils meist schwererer Verbrechen oder Verbrechen, bei deren Vorbereitung man bereits eine strafrechtliche Handhabe gegen die Täter haben möchte, was in Bezug auf die Tatausführung des eigentlichen Delikts die ergänzend vorgenommene zeitliche Vorverlagerung der Strafbarkeit ist. In weiterer Folge wurden auch die Organisationsdelikte etabliert. Siehe im Unterschied dazu etwa noch Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag, Wien, Leipzig 1894, 149: „Komplott ist die verabredete Vereinigung Mehrerer zur Begehung eines oder mehrerer einzeln bestimmter Verbrechen. Die ältere Theorie hat demselben in mißverstandener Weise eine Bedeutung beigelegt, die ihm nicht zukommt. Heute hat der Komplottbegriff (mit Recht) sein Ansehen verloren, die alten Komplottheorien sind überwunden. Die Verabredung als solche stellt (abgesehen von besonderer gesetzlicher Bestimmung, vgl. §§ 58 [Anm.: Hochverrat] 65c StG [Anm.: Strafbarkeit der Stiftung von Verbindungen, Verleitung anderer zur Teilnahme an Verbindungen und Teilnahme an Verbindungen, die öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften zu bestimmten staatsfeindlichen Aktivitäten aufrufen], § 5 des G. vom 27. Mai 1885, Sprengstoffgesetz [Anm.: Verabredung der Straftat der vorsätzlichen Herbeiführung einer Gefahr für Eigentum, Gesundheit oder Leben eines Anderen durch Anwendung von Sprengmitteln oder Bildung einer Vereinigung zur fortgesetzten Begehung derartiger, wenn auch im Einzelnen noch nicht bestimmter Straftaten]) Strafbarkeit nicht her. Die Komplottanten können nach Maßgabe ihrer Betheiligung als Thäter (Mitthäter), Gehilfen, Anstifter schuldig sein (was in jedem Falle rücksichtlich jedes Einzelnen zu untersuchen und festzustellen ist); außerdem sind sie straflos. Ebensowenig hat der Begriff der Bande selbständige strafrechtliche Bedeutung. Bande ist die zur gemeinschaftlichen Verübung mehrerer im Einzelnen noch unbestimmter Verbrechen geschlossene Verbindung. Auch das Mitglied der Bande ist nur insoweit strafbar, als es an dem einzelnen bestimmten Verbrechen in bestimmter Form sich betheiligt hat. Allerdings aber kann die bandenmäßige Verübung und insbesondere hervorragende Stellung des Betreffenden in der Bande oder bei einem bestimmten Komplotte (das österr. Gesetz nennt wiederholt den Rädelsführer) erschwerend sein.“ Ähnlich auch später Wilhelm Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, Erster Band – Allgemeine Lehren, Wien 1947, 262f: „Komplott ist die verabredete Verbindung zur Verübung eines Deliktes oder mehrerer bestimmter Delikte. Das Komplott ist im geltenden Strafgesetz als solches nur in vereinzelten Fällen strafbar, z.B. im Falle eines Hochverrates, § 58 (es geschehe solches in Verbindung), der Störung der öffentlichen Ruhe nach § 65 lit. c [Anm.: Strafbarkeit der Stiftung von Verbindungen, Verleitung anderer zur Teilnahme an Verbindungen und Teilnahme an Verbindungen, die öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften zu bestimmten staatsfeindlichen Aktivitäten aufrufen], nach § 65 StG in der Fassung des StaatsschutzG 1936 (StSchG)], als Desertionskomplott nach § 598, ferner nach § 5 SprengstG (wenn mehrere die Ausführung einer nach § 4 zu ahndenden strafbaren Handlung, d. i. eines Sprengstoffverbrechens, verabreden) oder gemäß § 7 StaatsschutzG (wer mit einem anderen einen Mord, einen Raub oder eine Brandlegung oder ein Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit nach §§ 85 [Anm.: boshafte Beschädigung fremden Eigentums], 87 [Anm.: Herbeiführung von Gefahren beim Betrieb von Eisenbahnen] oder 89 [Anm.: boshafte Beschädigungen oder Störungen am Staatstelegraphen] verabredet). Im Übrigen ist das Komplott an sich nicht strafbar, doch kann unter Umständen, wenn es wirklich zur Begehung oder zum Versuch des Verbrechens gekommen ist, Mittäterschaft, Anstiftung oder intellektuelle Beihilfe in Frage kommen. […]

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

Unter Bande versteht man die Vereinigung zum Zwecke der Verübung einer Mehrheit im einzelnen noch unbestimmter Übeltaten. Die Bandenbildung an sich ist nicht strafbar. […] Die Bildung einer Bande wird nur in § 5 SprengstG als Verbrechen behandelt. Dort wird bereits die Verbindung mehrerer zur fortgesetzten Begehung wenn auch im einzelnen noch nicht bestimmter Handlungen, die durch vorsätzliche Anwendung von Sprengstoffen als Sprengmittel die Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit oder das Leben eines anderen herbeiführen sollen, auch dann als Verbrechen erklärt, wenn eine zur wirklichen Ausübung führende Handlung nicht unternommen worden ist. Ferner ist nach § 7 StSchG auch eine Verbindung bzw. ihre Unterstützung an sich strafbar, wenn diese Verbindung Verbrechen, wie Mord, Raub, Brandlegung oder öffentliche Gewalttätigkeit nach §§ 85, 87 oder 89 [Anm.: siehe vorstehend bei der Anm. zu § 7 StaatsschutzG] bezweckt oder als Mittel für andere Zwecke in Aussicht nimmt. Der Versuch oder die Vollbringung eines der im § 7 StSchG angeführten Verbrechen als Teilnehmer an der Verabredung oder Verbindung ist ein Erschwerungsgrund. Nach § 174 I lit. e wird der Diebstahl aus der Beschaffenheit der Tat ein Verbrechen, wenn ihn der Dieb als Mitglied einer Bande verübt hat. In allen übrigen Fällen ist die Bildung einer Bande nicht besonders unter Strafe gestellt, sondern nach den allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts zu beurteilen. Die Zugehörigkeit zu einer Bande bildet einen Erschwerungsumstand, weil das Verbrechen desto größer ist, je größer die damit verbundene Gefahr ist, und je weniger Vorsicht dawider gebraucht werden kann (§ 43).“ Bei diesem grundsätzlichen Ansatz ist, sofern im Einzelnen nicht abweichend geregelt, nicht die vorgenannte Mitwirkung an und in einer kriminellen Einrichtung strafbar, sondern nur eine unmittelbare Mitwirkung an einem darin begangenen Tötungsvorgang oder die Anstiftung einer Person zu dieser Tötung oder zumindest eine unmittelbare Beihilfe zu einem Tötungsvorgang. Letztlich ist es eine rechtspolitische Frage (de lege ferenda), ob man gesetzlich darüber hinaus bereits eine Strafbarkeit für die Mitwirkung in einer verbrecherischen Einrichtung an sich und die systemerhaltende Funktion in einer solchen Einrichtung normiert, was aufgrund der damit verbundenen Mitwirkung an den in einer solchen Einrichtung begangenen Verbrechen angebracht erscheint. Letzteres entspricht dem strafrechtlichen Ansatz der Organisationsdelikte. Mit dem wegen zunehmender politisch motivierter Gewaltakte von der Regierung Schuschnigg erlassenen Staatsschutzgesetz (StaatsschutzG, bzw. StSchG, BGBl 1936/223) wurden solche Organisationsdelikte (§ 1 und § 4 leg. cit.) und eine Kombination von Vorbereitungs- und Organisationsdelikt (§ 7 leg. cit.) etabliert: § 1 StaatsschutzG – Bewaffnete Verbindungen: „(1) Wer heimlich oder verbotswidrig eine bewaffnete oder nach militärischen Grundsätzen organisierte Verbindung gründet oder sich in einer heimlich oder verbotswidrig bestehenden führend betätigt, für eine solche Verbindung Mitglieder wirbt oder militärisch ausbildet, sie mit Kampfmitteln, Verkehrsmitteln oder Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung ausrüstet oder in ähnlicher Weise die Machtbereitschaft einer solchen Verbindung erhöht, wird wegen Verbrechens mit schwerem Kerker von einem bis zu fünf Jahren, bei besonders erschwerenden Umständen aber bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer für eine Verbindung der im Absatz 1 bezeichneten Art Kampfmittel, Verkehrsmittel oder Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung herstellt, sich verschafft oder bereithält.“ Nach § 2 war auch die Teilnahme an einer solchen Verbindung oder die durch Geldzuwendungen oder auf andere Weise erfolgende Unterstützung einer solchen Verbindung strafbar. § 4 StaatsschutzG – Staatsfeindliche Verbindungen: „(1) Wer eine Verbindung gründet, deren Zweck es ist, auf ungesetzliche Weise die Selbständigkeit, die verfassungsmäßig festgestellte Staats- oder Regierungsform oder verfassungsmäßige Einrichtungen Österreichs zu erschüttern, die Vollziehung von

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Mit dem Delikt der Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde wurde die aus politischer Gehässigkeit unter Ausnutzung dienstlicher oder sonstiger Gewalt erfolgende Verletzung einer Person in deren Menschenwürde unter Strafe gestellt (§ 4 KVG). Als Erschwerungsgrund wurde festgelegt, dass strenger zu bestrafen war, wenn jemand eine Tat nach § 3 oder § 4 KVG angeordnet oder einen Befehl zu einer solchen Tat wiederholt gegeben hatte (§ 5 KVG). Mit der Bestimmung des § 5a KVG121 wurde die während der NS-Herrschaft erfolgte Vertreibung aus der Heimat unter Strafe gestellt. Gesetzen, Verordnungen, Entscheidungen oder Verfügungen der Behörden gesetzwidrig zu verhindern oder zu erschweren oder zur Verweigerung von Steuern oder für öffentliche Zwecke angeordneten Abgaben aufzufordern, anzueifern oder zu verleiten, wird wegen Verbrechens mit schwerem Kerker von einem bis zu fünf Jahren, bei besonderer Gefährlichkeit des Unternehmens oder des Täters aber bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer sich in einer solchen Verbindung in führender Weise betätigt oder ihren Ausbau durch Anwerben von Mitgliedern, Beschaffung von Geldmitteln oder in ähnlicher Weise fördert.“ Nach § 5 war auch die Teilnahme an einer solchen Verbindung oder die durch Geldzuwendungen oder auf andere Weise erfolgende Unterstützung einer solchen Verbindung strafbar. Zur Abgrenzung von dem ähnlichen Teilbereich des Delikts des Hochverrats nach § 58 StG, womit ein Unterfangen zur rechtswidrigen Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung oder des Staatsgebiets unter Strafe gestellt wurde, ist festzuhalten, dass mit § 4 StaatsschutzG im Unterschied dazu jede rechtswidrige Beeinträchtigung („Erschütterung“) der verfassungsmäßigen Ordnung, verfassungsmäßiger Einrichtungen oder des Staatshandelns unter Strafe gestellt wurde (vgl. Wilhelm Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, Zweiter Band 2. Teil, Wien 1949, 10). § 7 StaatsschutzG – Verabredungen und Verbindungen zu Verbrechen: „(1) Wer mit einem anderen einen Mord, einen Raub oder eine Brandlegung oder ein Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit nach § 85, 87 oder 89 des Strafgesetzes [Anm.: Zu diesen Verweisen auf das Strafgesetz siehe bereits vorstehend die Anmerkung zu § 7 StaatsschutzG] verabredet oder an einer Verbindung teilnimmt, die solche Verbrechen bezweckt oder als Mittel für andere Zwecke in Aussicht nimmt, und wer eine solche Verbindung unterstützt, macht sich eines Verbrechens schuldig. (2) Die Strafe dieses Verbrechens ist schwerer Kerker von einem bis zu fünf Jahren, bei besonders erschwerenden Umständen aber, insbesondere wenn die Verabredung einen Mord an einem Beamten (§ 101 St.G.) wegen der Ausübung seines Berufes oder an dem Anzeiger einer strafbaren Handlung bezweckt oder die Verbindung Verbrechen der im Absatz 1 bezeichneten Art als Mittel für politische Zwecke in Aussicht nimmt, schwerer Kerker von fünf bis zu zehn Jahren.“ § 8: Wer ein Verbrechen der im § 7 bezeichneten Art als Teilnehmer an der Verabredung oder Verbindung versucht oder vollbringt, wird ohne Rücksicht auf die Art seiner Mitwirkung mit schwerem Kerker von zehn bis zu zwanzig Jahren bestraft, sofern er nicht nach den bestehenden Gesetzen einer strengeren Strafe unterliegt.“ Das StaatsschutzG wurde in den Rechtsbestand der wiedererrichteten Republik Österreich übernommen und seine Geltung endete erst mit Ablauf des 31.12.1974 und dem Inkrafttreten des StGB am 01.01.1975 (Art. XI (2) Z 17 StrafrechtsanpassungsG, BGBl 1974/422). Das StaatsschutzG schützte damit den Staat sowohl in seiner autoritären Regierungsform als auch in seiner demokratischen Regierungsform. 121 Eingefügt durch die KVG – Novelle vom 18.10.1945, StGBl 1945/199.

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

Als missbräuchliche Bereicherung wurde unter Strafe gestellt, wenn während der NS-Herrschaft jemand unter Ausnutzung der NS-Herrschaft oder von NS-Einrichtungen Vermögensbestandteile an sich gebracht oder jemand anderem zugeschoben oder einen anderen am Vermögen geschädigt hatte (§ 6 KVG). Denunziation wurde unter Strafe gestellt, soweit sie ohne behördliche Aufforderung122 unter Ausnutzung der durch die NS-Herrschaft geschaffenen Lage zu deren Unterstützung oder aus verwerflichen Beweggründen erfolgte und andere dadurch bewusst geschädigt wurden (§ 7 KVG).123 Bei bestimmten weiteren, als erschwerend eingestuften Umständen wie Eigennützigkeit oder bei Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz oder des beruflichen Fortkommens eines Denunzierten war ein qualifiziertes Delikt mit höherer Strafdrohung verwirklicht worden. Mit den Delikten nach den Bestimmungen der § 3 bis § 7 KVG sollten die Voraussetzungen geschaffen werden für die Vergeltung jener verwerflicher Handlungen, die gerade symptomatisch für die menschenverachtenden Auswüchse des NS-Regimes sind. Als Hochverrat am österreichischen Volk wurde bestraft, wenn jemand in führender oder einflussreicher Stellung etwas unternommen hat, das die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zugunsten der NSDAP oder die NSDAP-Machtergreifung vorbereitete oder förderte (§ 8 KVG). Ebenso wie beim VG wurde statuiert, dass Amnestiebestimmungen und Gnadenerlässe bei einer nach den Straftatbeständen des KVG erfolgenden Verurteilung nicht anzuwenden sind (§ 9a KVG)124. Im Unterschied zum VG enthielt das KVG aber eine Bestimmung über die Möglichkeit einer vom Strafgericht anzuwendenden Strafmilderung (§ 13 Abs. 1 KVG)125. 122 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/140. 123 Zur Schwierigkeit der Strafverfolgung bei diesem Delikt siehe exemplarisch Viktor Frühwald, Unschuldig verurteilt! Mein Prozeß vor dem Wiener Volksgericht in aktenmäßiger Darstellung, Wien 1949. 124 § 9a KVG eingefügt durch das NationalsozialistenG 1947, BGBl 1947/25. 125 § 13 Abs. 1 KVG: „(1) Die Bestimmungen des Artikels V des Verbotsgesetzes [Anm.: Darin enthalten insbesondere § 25 VG mit dem Ausschluß der Möglichkeit einer Strafumwandlung oder Strafmilderung] sind auch auf die Strafverfahren nach diesem Gesetze sinngemäß anzuwenden. Jedoch kann in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen das Volksgericht, wenn es dies einstimmig beschließt, an Stelle der Todesstrafe eine lebenslange schwere Kerkerstrafe oder schweren Kerker von 10 bis 20 Jahren verhängen, bei anderen angedrohten Strafen von den Bestimmungen der § 265 a St. P. O., § 54 St. G. [Anm.: außerordentliche Strafmilderung] Gebrauch machen.“ Der Beweggrund, bei der Bestrafung die Möglichkeit einer Alternative zur Verhängung der Todesstrafe zu etablieren, bestand in den Bedenken, dass dann, wenn die Todesstrafe als einzige Strafe für eine strafbare Handlung vorgesehen ist, die Tendenz bestehen kann, dass in Einzelfällen anstatt

Rechtsanwendung – Problematik

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Als Nebenstrafe wurde bei Verurteilung nach einer dieser Bestimmungen der Vermögensverfall vorgesehen (§ 9 KVG). Im Unterschied zu § 11 VG war der Vermögensverfall nach § 9 KVG nicht zwingend vom Gericht zu verhängen, sondern es konnte davon ganz oder teilweise (in Ansehung einzelner Vermögensbestandteile) abgesehen werden. Der Beginn der Verjährung wurde frühestens mit dem 29. Juni 1945 festgesetzt, um eine frühzeitige Verjährung nach den allgemeinen Strafbestimmungen zu verhindern.126

3.4 Rechtsanwendung – Problematik

Die Problematik der vorliegenden Regelungen, die als Vergeltung von Handlungen, die der NS-Herrschaft zuzurechnen sind, fungieren respektive fungierten, besteht vor allem in zweierlei Hinsicht. Zum einen in der rückwirkenden Bestrafung, zum anderen in der Schaffung von Formaldelikten, die mit einer schematischen Betrachtung ungeachtet einer persönlichen Verantwortung eine bloße Angehörigkeit zu einem Kollektiv unter Strafe stellen oder eine Funktion, weil von dieser ohne Weiteres auf die Begehung von bestimmten Handlungen geschlossen wird. Festzuhalten ist der Zweck des Strafrechts, wonach nicht nur die Ahndung begangener Straftaten, also die Vergeltung bezweckt wird, sondern gesellschaftlich nicht erwünschte Verhaltensweisen pönalisiert werden, um Personen von der Begehung dieser unerwünschten Handlungen abzuhalten. Bereits dadurch, dass die Begehung gewisser Handlungen unter Strafe gestellt wird, sollen Personen von deren Begehung abgehalten werden. Auch Strafen haben einen spezialpräventiven Zweck, wonach der bestrafte Täter von der künftigen Begehung von Straftaten durch die Bestrafung abgeschreckt werden soll, und einen generalpräventiven Zweck. Dieser gliedert sich in einen negativen Aspekt, wonach die Allgemeinheit durch Bestrafung eines einzelnen Straftäters von der Begehung strafbarer Handlungen abgehalten werden soll, und einen positiven Aspekt, wonach rechtschaffene Personen in ihrem rechtmäßigen Vereines angebrachten Schuldspruchs ein Freispruch gefällt wird (Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945 in: Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 –„… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 262f, mit den Ausführungen des Unterstaatssekretär Dr. Ferdinand Nagl (ÖVP), Staatsamt für Justiz). 126 Die Verjährung begann nach § 11 KVG frühestens mit der Geltung (dem In-Kraft-Treten) des KVG. Aus dem Datum der Kundmachung des KVG im StGBl am 28.06.1945 ergibt sich damit der Folgetag als Datum des Inkrafttretens und gemäß § 11 KVG als frühester Verjährungsbeginn.

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

halten bestärkt werden sollen. Dies entspricht historisch auch dem damaligen Verständnis.127 Mit den strafrechtlichen Tatbeständen des KVG hat der Gesetzgeber insofern Neuland beschritten, als er ein Strafgesetz geschaffen hat, das ausschließlich in der Vergangenheit liegende Handlungen verfolgt und damit ein reines Sühnegesetz ist.128 Aus ethischen Rücksichten sollte eine Reaktion auf bestimmte nationalsozialistische Taten erfolgen. Eine Wirkung in die Zukunft wurde nur insofern bezweckt, als „neuerliche Erschütterungen des österreichischen Staatswesens“ vermieden werden sollten. Nach Ansicht des Gesetzgebers bedingten die mit dem Nationalsozialismus einhergehenden, besonderen Umstände entsprechende außerordentliche Maßnahmen. Problematisch ist diese Handhabung in rechtlicher Hinsicht insofern, als mit der Strafbarkeit der Vorwurf eines bestimmten Verhaltens verbunden ist. Dieser Vorwurf kann aber nur insofern erfolgen, als die Rechtsunterworfenen als Adressaten von verbindlichen Verhaltensnormen sich in ihrem Verhalten darauf einstellen konnten, wie sie sich rechtmäßig verhalten und was ihnen untersagt ist. Mit einer rückwirkenden Normierung der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens wird ein Verhalten, eine bestimmte Handlung nachträglich unter Strafe gestellt. Im Zeitpunkt der Begehung dieser Handlung war diese noch nicht pönalisiert und damit noch nicht rechtswidrig.129 Der Rechtsadressat konnte grundsätzlich auch noch nichts von der späteren Ahndung wissen und hatte in diesem Zusammenhang gar nicht die Möglichkeit, zwischen rechtswidrigem und rechtmäßigem Verhalten zu unterscheiden.130 127 Siehe bereits Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag, Wien, Leipzig 1894, 3. 128 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/120, 128. Gegen das Vorhaben des KVG war in der Provisorischen Regierung Karl Renner deren damaliger Staatssekretär (SPÖ) und späterer Bundespräsident Dr. Adolf Schärf (Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945 in Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 –„… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 258 und 267). 129 Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag-Wien-Leipzig 1894, 30. Davon zu unterscheiden ist die Frage des anzuwendenden Rechts bei Änderung von Strafgesetzen im Zeitraum zwischen Begehung der Tat und der Urteilsfällung. Das geltende österreichische Strafrecht sieht gemäß dem im Verfassungsrang stehenden Art. 7 MRK ein Rückwirkungsverbot und ein Verbot der analogen Anwendung von Strafbestimmungen vor (§ 1 StGB). Außerdem ist in § 61 StGB normiert, dass nach Begehung der Tat kundgemachte Strafbestimmungen nur angewendet werden dürfen, sofern die Strafbestimmungen, die zur Zeit der Tat gegolten haben, in ihrer Gesamtauswirkung für den Täter nicht günstiger sind. Die neueren Strafbestimmungen sind damit anzuwenden, wenn sie günstiger sind. Dieses Günstigkeitsprinzip ist nach Art. 7 MRK nicht erforderlich (Peter Lewisch, Verfassung und Strafrecht, Wien 1993, 138 FN 497). 130 Für Theodor Rittler, Grenzen des Strafrechts (Vortrag bei der Wiener Juristischen Gesellschaft vom 19. März 1947), Österreichische Juristenzeitung 1947, 140, kann die Rechtsordnung nur eine ein-

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Das KVG war damit ein ausschließlich rückwirkendes Strafrecht. Seine Tatbestände konnten ab dem Zeitpunkt, zu dem es in Kraft trat, nicht mehr verwirklicht werden.131 Es war also ein Sühnegesetz, sodass der wesentliche Zweck jeder Strafandrohung, die Verhütung strafbarer Handlungen, nicht bestand.132 Jedenfalls aus heutiger Sicht hatte das KVG entscheidende Mängel133, wozu vor allem die rückwirkenden Strafdrohungen zählen. Diese wären insofern entbehrlich gewesen, weil die schwersten Delikte des KVG bereits nach vorher geltendem Strafrecht strafbar heitliche und widerspruchslose Ordnung sein. Die Rechtslogik verbiete jeden Widerspruch innerhalb der Rechtsordnung, weil es sonst zur Selbstaufhebung des Rechts käme. Demnach kann sich die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Handlung nur aus dem zur Zeit der Begehung geltenden Recht ergeben (Rittler, aaO 142). Besonders vehement gegen die Rückwirkung tritt Theodor Veiter, Gesetz als Unrecht – Die österreichische Nationalsozialistengesetzgebung, Wien 1949, auf. Besonders zu betonen ist, daß sich aus der mit der Etablierung einer Strafbarkeit erfolgenden Normierung von Geboten oder Verboten auch der Bereich der Handlungsfreiheit des Einzelnen ergibt. Soweit im Zeitpunkt einer Handlung kein gebotenes oder verbotenes Verhalten besteht, kann man frei zwischen den verschiedenen Varianten menschlichen Handelns wählen. Mit einer rückwirkenden Bestrafung erfolgt ein nachträglicher Eingriff in diese Handlungsfreiheit. Eine rückwirkende Bestrafung ermöglicht damit eine willkürliche Machtausübung über Personen, was dem Grundsatz des Rechtsstaats widerspricht. Daraus ergibt sich, daß eine rückwirkende Bestrafung einer im Tatzeitpunkt erlaubten Handlung nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig sein kann. 131 Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 755. Eine rechtsdogmatische Besonderheit rückwirkender Strafnormen ist für mich im Unterschied zu anderen Autoren nicht zu erkennen. Weder bestehen bei solchen Strafnormen geringere Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot (so Karin Bruckmüller/Stefan Schumann, Der Schutz der Menschenwürde im Kriegsverbrechergesetz – ein Meilenstein seiner Zeit, Als Vorbild einer Neuregelung kritisch hinterfragt, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, 72) noch ergibt sich bei deren Auslegung aus deren Rückwirkung ein Unterschied zur Auslegung nicht rückwirkender Strafvorschriften. Es mag sein, dass bei einer Rückwirkung von Strafbestimmungen der rechtsstaatliche Grundsatz, dass Rechtsadressaten in der Lage sein müssen, sich auf deren Inhalt einzustellen, um rechtswidriges Verhalten auszuschließen, keinen Anwendungsbereich hat. Allerdings ergibt sich das Erfordernis der Bestimmtheit von Strafnormen unabhängig davon, ob sie pro futuro wirken oder ex post facto sind, bereits aus der Notwendigkeit, diese Normen für deren Anwendung möglichst klar auslegen und deren Anwendungsbereich möglichst eindeutig abgrenzen zu können. Die Meinung, rückwirkende Strafnormen seien einfacher auszulegen, weil sie sich auf bestimmte historische Vorgänge beziehen (so implizit Romana Schweiger, Die Kriminalisierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Österreich, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, 65), halte ich für ebenso unzutreffend. Denn auch Strafnormen, die keine Rückwirkung haben, sind zumeist einer historisch-analytischen Interpretation zugänglich, weil sie als Reaktion auf bestimmte Situationen oder Ereignisse erfolgen. 132 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981, 250. 133 So Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 756.

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waren134. Inwiefern man es als gerechtfertigt ansieht, bestimmtes Verhalten nachträglich zu ahnden, bleibt eine Wertungsfrage. Nach heutigen verfassungsgesetzlichen Vorgaben ist eine rückwirkende Bestrafung grundsätzlich unzulässig.135 Bereits nach damals geltendem Recht bestand ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot, allerdings nicht im Verfassungsrang136. In dieser Hinsicht und beim VG, auch wegen der damit normierten kollektiven Sonderbehandlung einer Bevölkerungsgruppe, war fraglich, ob das VG und das KVG dem verfassungsgesetzlichen Gleichbehandlungsgebot nach Art. 7 B-VG entsprechen, wonach eine Ungleichbehandlung nur bei sachlicher Rechtfertigung erfolgen darf. Das VG und das KVG wurden daher als Verfassungsgesetze und damit als den einfachen Gesetzen rangordnungsmäßig übergeordnete Gesetze, die auf einer Ebene mit dem verfassungsgesetzlichen Gleichbehandlungs134 Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 756; differenzierend Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/129. 135 Keine Strafe ohne Gesetz (nulla poena sine lege oder auch nullum crimen sine lege) – Art. 7 Europäische Menschenrechtskonvention – MRK. Die MRK ist ein am 04.11.1950 zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats abgeschlossenes und am 03.09.1953 mit der zehnten Ratifikation in Kraft getretenes Abkommen, dem Österreich 1958 beigetreten ist (Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien, 3. Auflage 1997, 77f ). Die MRK hat in Österreich den Rang eines Bundesverfassungsgesetzes (BVG BGBl 1964/59) und ist in ihren grundrechtlichen Bestimmungen unmittelbar anwendbar. Das ist eine in Europa einzigartige Form der Inkorporation dieses völkerrechtlichen Vertrages (Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien, 3. Auflage 1997, 269). Zur Ausnahme nach Art. 7 Abs. 2 MRK siehe FN 156 und Kapitel 5. – Recht und Moral. 136 Art. IX. Kundmachungspatent zum Strafgesetz 1852, RGBl 1852/117; dieses Rückwirkungsverbot stand nicht im Verfassungsrang, und davon war bereits einmal eine Ausnahme gemacht worden, und zwar mit der StG-Novelle 1931 (BGBl 1931/365), der sogenannten „Lex Ehrenfest“, womit das Delikt der vermögensrechtlichen Untreue, § 205c StG, auch rückwirkend (BGBl 1931/365, Art. III Abs. 1) ins Strafgesetz eingeführt wurde (Diethelm Kienapfl, Grundriß des österreichischen Strafrechts – Allgemeiner Teil, Wien, 5. Auflage 1994, 14; vgl. Georg Froehlich, Die Verfassung 1934 des Bundesstaats Österreich, Baden bei Wien, Leipzig, Brünn, Prag 1936, 62 FN 72). Für den Bereich des Verwaltungsstrafrechts § 1 Abs. 1 Verwaltungsstrafgesetz, BGBl 1925/275. Der allgemeine Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ war in Art. IV. Kundmachungspatent zum Strafgesetz 1852 statuiert. Die Bundesverfassung 1920 enthält kein Verbot rückwirkender Gesetze und damit auch kein strafrechtliches Rückwirkungsverbot (Wilhelm Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, Erster Band – Allgemeine Lehren, Wien 1947, 46; Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien, 3. Auflage 1997, 187). Ein verfassungsrechtliches Rückwirkungsverbot hatte aber zwischenzeitig im zeitlichen Geltungsbereich der Verfassung 1934 bestanden (Georg Froehlich, Die Verfassung 1934 des Bundesstaats Österreich, Baden bei Wien, Leipzig, Brünn, Prag 1936, 62). Art. 21 der Verfassung 1934 (BGBl für den Bundesstaat Österreich 1934/1): „Niemand darf wegen eines Verhaltens bestraft werden, das gegen keine rechtsgültige Strafandrohung verstößt und dessen Strafbarkeit nicht schon vorher gesetzlich bestimmt war.“ Auf verfassungsrechtlicher Ebene wurde ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot erst 1964 geschaffen mit Etablierung der MRK als Bundesverfassungsgesetz (BVG BGBl 1964/59). Dazu vorstehend FN 135.

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grundsatz waren und diesem daher nicht entsprechen mussten, erlassen.137 Auch nach damaligen internationalen Grundsätzen und den damals in vielen Kulturstaaten geltenden Rechtsvorschriften war eine rückwirkende Bestrafung unzulässig.138 Die Problematik stellt sich gerade bei der Aufarbeitung von Ereignissen, die in Zeiten von Herrschaftssystemen erfolgt sind, die später als Unrechtssysteme angesehen werden, nach Beendigung einer solchen Herrschaft, sofern bestimmte, abgelehnte Verhaltensweisen nicht auch nach den in diesen Zeiträumen geltenden Rechtsnormen rechtswidrig und gerichtlich zu bestrafen waren139. Eine Bestrafung ließe sich nach den aufgezeigten Grundsätzen nur dann legitimieren, wenn ein internationales, allgemeines Strafrecht bestünde, das nationalem Recht vorgeht140. Ein solches ließe sich inhaltlich nur insofern ausmachen, als man allen nationalen Strafrechtsnormen gemeinsame Kernbereiche herausarbeitet. Der Vorrang vor dem jeweiligen nationalen Recht müsste freilich völkerrechtlich besonders normiert werden, wobei ein Herrschaftssystem aber in seinem Staat abweichendes Recht schaffen könnte, an das seine Bürger gebunden sind. Eine durchgreifende Geltung ließe sich daher nur 137 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981, 294. 138 Lothar Rendulic, Generaloberst a.D., Glasenbach – Nürnberg – Landsberg – Ein Soldatenschicksal nach dem Krieg, Graz, 2. Auflage 1953, 93f. 139 Also nicht bloß Ersatzpflichten bewirkt haben oder nur als Verwaltungsübertretungen oder Ordnungswidrigkeiten zu ahnden waren. 140 Vgl. in neuerer Zeit das Römer Statut vom 17.07.1998 über den Internationalen Strafgerichtshof (ICC), in Kraft getreten am 01.07.2002, der zuständig ist für die Strafverfolgung von Individuen wegen Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der zwischenstaatlichen Aggression, nach dem Prinzip der Komplementarität aber nur, wenn im betreffenden Mitgliedstaat die Strafverfolgung unterbleibt. Durch das Römer Statut werden besonders schwere Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts unter Strafe gesetzt, und zwar Völkermord, systematische ausgedehnte Menschenrechtsverletzungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Siehe zu dessen Ratifizierung in Österreich und zu den Vertragsstaaten die Kundmachung BGBl III 2002/180 idF BGBl III Nr. 2016/46. In Umsetzung der mit dem Römer Statut übernommenen Verpflichtungen wurde das Strafgesetzbuch (StGB) ergänzt, indem neben der bereits bislang bestehenden Strafbestimmung des Völkermords (§ 321 StGB), die in Umsetzung der völkerrechtlichen Konvention vom 09. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords, der Österreich 1958 beigetreten war (BGBl 1958/91), geschaffen worden war, einige Strafbestimmungen gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 321a StGB) und Kriegsverbrechen (§ 321b bis § 321f StGB) geschaffen wurden (BGBl I 2014/106). Zur Bedeutung des KVG als Vorläuferbestimmung für strafrechtlichen Schutz der Menschenwürde siehe Winfried R. Garscha, Die Menschenwürde als strafrechtlich schützenswertes Gut. Zur historischen Bedeutung des österreichischen Kriegsverbrechergesetzes, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, 53, und Karin Bruckmüller/Stefan Schumann, Der Schutz der Menschenwürde im Kriegsverbrechergesetz – ein Meilenstein seiner Zeit, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), ebd., 68.

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mit einer Art „Weltenstrafrecht“ erzielen, das unmittelbar für die Rechtsadressaten in den jeweiligen Staaten Geltung hat. Dies ist nach herkömmlichem Völkerrecht insofern nicht verwirklicht, als dessen Rechtssubjekte grundsätzlich die einzelnen Staaten sind. An diese richtet sich Völkerrecht, und diese haben dann entsprechendes, innerstaatliches Recht zu schaffen.141 Nur in supranationalen Systemen, in denen einer den Staaten übergeordneten Institution die Kompetenz zur entsprechenden Rechtssetzung unmittelbar gegenüber den Bürger der Mitgliedstaaten zukommt, die Anwendungsvorrang vor der Rechtssetzung in den Mitgliedstaaten hat, ist eine unabhängig von den jeweiligen einzelstaatlichen Herrschaftssystemen und Strafrechtsordnungen bestehende allgemeingültige Strafrechtsordnung denkbar. Dies setzt allerdings die Einbindung eines Mitgliedstaates in eine übergeordnete Organisation mit gewissen gemeinsamen Werten (Idealen) voraus, sodass dann ohnedies eklatant von diesen gemeinsamen Idealen abweichende Rechtsnormen im Regelfall abwegig erscheinen. Der Internationale Gerichtshof in Nürnberg hat jedenfalls allgemeingültige rechtliche Grundwerte angenommen, die daraus resultierenden Straftatbestände allerdings erst im Zuge seiner Tätigkeit (auf Basis Art. 6 des Londoner Statuts vom 08. August 1945) erarbeitet. Der österreichische Gesetzgeber hat sich insofern deklariert, als er den Ausnahmecharakter des KVG manifest dargelegt hat. Eine soziologisch-moralische Rechtfertigung kann jedenfalls dort gesehen werden, wo anderen Menschen während der NS-Zeit unter Ausnutzung des geltenden Systems abweichend von der auch damals üblichen gesellschaftlichen Ordnung und den geltenden sozialen Grundwerten, oftmals unter Ausnutzung von Gewaltakten und oft zum eigenen Vorteil, ohne deren Veranlassung geschadet wurde, sodass sich eine besonders sozialschädliche Gesinnung zeigte und gesellschaftliche Grundwerte berührt und in besonderem Ausmaß verletzt waren142. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Bestimmungen der 141 Bei dieser klassischen Konstellation handelt ein Staat bei Verstoß eines Gesetzes gegen Völkerrecht zwar völkerrechtswidrig, das Gesetz ist aber in seinem Bereich verbindlich (Theodor Rittler, Grenzen des Strafrechts (Vortrag bei der Wiener Juristischen Gesellschaft vom 19. März 1947), Österreichische Juristenzeitung 1947, 140 (141)). Der Staat macht sich vor dem Forum der Völkergemeinschaft verantwortlich, seine Organe und Bürger bleiben aber an das staatliche Recht gebunden (Rittler, aaO 143). 142 Wilhelm Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, Erster Band – Allgemeine Lehren, Wien 1947, 47, spricht in diesem Zusammenhang von einer gröblichen Verletzung der Gesetze der Menschlichkeit, sodass den dafür Verantwortlichen kein Vertrauen darauf garantiert wird, dass diese Verletzung ungestraft bleibt. Das Unwerturteil über die Tat kann sich nach diesem Ansatz bei einer rückwirkenden Strafbestimmung nicht aus dem Erfüllen deren gesetzlichen Tatbestands ergeben, weil dieser zum Zeitpunkt der Tat noch nicht gegolten hat, sondern nur aus einer außerhalb des Strafgesetzes gelegenen Norm, aus einer überstaatlichen Lebensordnung, die sich in Staaten als Träger der Zivilisation herausgebildet hat, aus einem allgemein anerkannten Sittengesetz der Zivilisation (Wilhelm

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§§ 3 bis 7 KVG verständlich.143 Zudem hat die Sühne derartiger Taten wohl dazu beigetragen, dass keine ungeordneten, wilden Vergeltungen durch einzelne Opfer erfolgten.144 Außerdem konnte Österreich damit eine eigenständige Aufarbeitung seiner Geschichte vorweisen.145 Die mit dem KVG einhergehende Problematik der Rückwirkung spiegelt sich auch in der damaligen kontroversiellen juristischen Literatur wider. So wurde ausgeführt, dass das KVG auch der strafrechtlichen Prävention diene, indem die Grundlage zur Ahndung des in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Unrechts geschaffen wird; für die breite Masse solle neben der Furcht vor künftiger Strafe auch die Einsicht stehen, dass noch jede als Unrecht empfundene Tat ihre Sühne gefunden habe.146 Ins Treffen geführt wird auch der Aspekt der neuen Staatsgewalt, die an das Recht der vorangegangenen nicht gebunden ist, und der allgemeingültigen anerkannten Normen, wie sie sich aus Völker- und Naturrecht ergeben. Damit wird allerdings ostentativ der Gedanke offengelegt, dass ein neues Herrschaftssystem

Grösswang, Die Präsumption der Rechtswidrigkeit bei Tatbeständen nach dem Kriegsverbrechergesetz, Österreichische Juristenzeitung 1948, 75 (77)). Siehe dazu Kapitel 5. – Recht und Moral. 143 Allgemeine Voraussetzung für die Strafbarkeit eines Verhaltens ist auf Verschuldensebene das Bewusstsein darüber, rechtswidrig zu handeln, oder doch die Möglichkeit, dass dieses Bewusstsein im Zeitpunkt der Tat vorhanden ist (Unrechtsbewusstsein oder vorwerfbarer Mangel des Unrechtsbewusstseins). Bei einer rückwirkenden Strafbestimmung kann es bei diesem Ansatz daher nur darauf ankommen, ob zum Tatzeitpunkt als ethisches Schuldelement das Bewusstsein oder die Möglichkeit des Bewusstseins bestehen, dass das Verhalten von einem allgemein anerkannten Sittengesetz als überstaatlicher Lebensordnung abweicht (Wilhelm Grösswang, Die Präsumption der Rechtswidrigkeit bei Tatbeständen nach dem Kriegsverbrechergesetz, Österreichische Juristenzeitung 1948, 75 (77, 79)). 144 Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 756. 145 Vgl. Dipl. Ing. Leopold Figl (ÖVP) als Staatssekretär der Provisorischen Regierung Karl Renner: „Es könnte auch der Gedanke auftauchen, dass man die Kriegsverbrecher den alliierten Mächten ausliefert. Das halte ich aber für ein gefährliches Spiel. Die Alliierten könnten sagen: Ihr wollt euch damit nicht identifizieren, ihr wollt die Leute nicht selbst abstrafen, ihr deckt also mehr oder weniger diese Verbrecher. Wir müssen auch hier einen gewissen Beitrag für die Befreiung Österreichs leisten, indem wir die Kriegsverbrecher exemplarisch bestrafen.“ (Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945 in: Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 –„… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 268). 146 Wilhelm Grösswang, Die Präsumption der Rechtswidrigkeit bei Tatbeständen nach dem Kriegsverbrechergesetz, Österreichische Juristenzeitung 1948, 75 (76); dies in Replik zu Fritz Moser, Die Denuntiation im Kriegsverbrechergesetz und andere nationalsozialistische Untaten, Österreichische Juristenzeitung 1947, 415, der sich kritisch zur Rückwirkung des KVG äußert und dieses als „Revolutionsgesetz“ bezeichnet.

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die Rechtsnormen eines alten als unrechtmäßig erklären kann147. Für den einzelnen Rechtsadressaten ändert dies freilich nichts an dem dadurch bewirkten Dilemma, für ursprünglich zulässiges, wenn nicht gar gebotenes Verhalten nachträglich bestraft zu werden148.149 Bei der Bestimmung des § 10 VG, welche die illegale NSDAP-Mitgliedschaft respektive die illegale Angehörigkeit zur NS-Bewegung für sich unter Strafe stellt, ist der rückwirkende Charakter fraglich150. Keine Rückwirkung liegt vor, wenn man diese Be147 Wilhelm Grösswang, Die Präsumption der Rechtswidrigkeit bei Tatbeständen nach dem Kriegsverbrechergesetz, Österreichische Juristenzeitung 1948, 75 (76). Für Grösswang besteht eine Ausnahme vom Prinzip der Kontinuität der Staatsgewalt, wonach ein neues Herrschaftssystem als Nachfolger in der Staatsgewalt dann an das Recht eines vorangegangenen Herrschaftssystem als seines Vorgängers nicht gebunden ist, wenn das vorangegangene Herrschaftssystem die Macht gewaltsam übernommen hatte, und es von den Staatsbürgern nicht dauerhaft anerkannt wurde. 148 Vgl. zu dieser Problematik im militärischen Bereich Lothar Rendulic, Generaloberst a.D., Glasenbach – Nürnberg – Landsberg – Ein Soldatenschicksal nach dem Krieg, Graz, 2. Auflage 1953, 10–15, über das Dilemma eines Soldaten, entweder einen Befehl nicht zu befolgen und deshalb schwer bestraft zu werden oder einen Befehl zu befolgen und deshalb im Fall des Unterliegens der eigenen Streitmacht von der Siegermacht wegen der Befolgung des Befehls bestraft zu werden, wobei er auch den Umstand betont, dass der einzelne Soldat oftmals mit der Beurteilung überfordert ist, ob die Verweigerung eines Befehls nach den im Zeitpunkt der Befehlserteilung geltenden militärischen Vorschriften ausnahmsweise zulässig ist, und ob der Befehl dem Kriegsrecht entspricht oder mit völkerrechtlichen Grundsätzen unvereinbar ist. 149 Wobei generell im Einzelfall die strafrechtliche Schuld zu verneinen sein kann und die Strafbarkeit damit entfällt, wenn rechtmäßiges Verhalten nicht zumutbar ist. Dies kann insbesondere bei Todesgefahr der Fall sein, etwa weil die strafbare Handlung auf Befehl ausgeführt wird und bei dessen Nichtbefolgung die Tötung zu erwarten ist. Insofern erweisen sich die Bestimmungen des § 1 Abs. 3 und des § 5 Abs. 1 KVG, wonach die Ausführung der jeweiligen Straftat auf Befehl nicht entschuldigt, generell als sehr problematisch. Dazu Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/140, welche demgegenüber die Eigenverantwortlichkeit und sittlichen Pflichten gegenüber den Mitmenschen betonen. Demgegenüber wird heute bei der Strafbarkeit eines Handelns auf Befehl auf Verschuldensebene differenziert; dazu § 321j StGB idgF – Handeln auf Befehl oder sonstige Anordnung: „Der Täter ist wegen einer Tat nach den §§ 321b bis 321i [Anm.: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und bestimmte, näher definierte Kriegsverbrechen] nicht zu bestrafen, wenn er die Tat in Ausführung eines militärischen Befehls oder einer sonstigen Anordnung von vergleichbarer Bindungswirkung begeht, sofern der Täter nicht erkennt, dass der Befehl oder die Anordnung rechtswidrig ist und deren Rechtswidrigkeit auch nicht offensichtlich ist. Zur Verantwortung von Vorgesetzten in Form von Verhinderungs-, Aufsichts- und Meldepflichten, deren Verletzung strafrechtlich sanktioniert ist, siehe §§ 321g, 321h und 321i StGB idgF. 150 Zweifelnd Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 755 FN 18, der nur bei Annahme des § 10 VG als Unterfall des Hochverrats nach § 58 StG, auf den in § 10 VG verwiesen wird, keine Rückwirkung annimmt. § 58 StG stand im fraglichen Zeitraum des Verbots der NSDAP bereits in Geltung. Bei dieser Auffassung besteht aber als Voraussetzung der Strafbarkeit der Vorsatz, durch die verbotene NS-Mit-

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stimmung bloß als Klarstellung (authentische Interpretation durch den Gesetzgeber nach § 8 ABGB ohne inhaltliche Änderung) ansieht, dass durch die illegale Mitgliedschaft in der NS-Bewegung, bzw. durch die illegale Betätigung für die NS-Bewegung die bereits in der Verbotszeit geltende strafbare Handlung des Hochverrats begangen werden konnte151. In diesem Fall müssen für eine Strafbarkeit auch die sonstigen Voraussetzungen des strafbaren Hochverrats wie Handlungen zur Herbeiführung eines gewaltsamen Umsturzes und der entsprechende Vorsatz gegeben sein.152 Dagegen wird aber ausgeführt, dass der Gesetzgeber eine Kollektivverantwortlichkeit habe statuieren wollen und jeder Illegale die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich in Kauf genommen habe.153 Der Gesetzgeber habe daher eine unwiderlegbare Vermutung154 aufgestellt, wonach Illegale zwingend als Hochverräter einzustufen sind. Das bedeutet aber nichts anderes als die rückwirkende Bestrafung der NS-Mitgliedschaft oder NS-Betätigung in der Verbotszeit. Derartige Kollektivverantwortung widerspricht aber eklatant dem allgemeinen Prinzip der Eigenverantwortlichkeit und in strafrechtlicher Hinsicht dem Grundprinzip des Schuldstrafrechts, wonach es nur auf individuelle Handlungen und deren individuelle Vorwerfbarkeit ankommt, und läuft – jedenfalls im Ergebnis – auf eine Schuldvermutung hinaus. Ausgeführt wird schließlich auch, dass an sich nur mit der aktiven Beteiligung an der NS-Bewegung während der Verbotszeit das Delikt des Hochverrats begangen wurde, aber der Gesetzgeber bewusst eine neuartige Konstruktion gewählt habe, indem er das neuartige Delikt der Angehörigkeit zur NSDAP in der Verbotszeit geschaffen hat, das kein neuer Fall des Hochverrats nach § 58 StG sei.155 gliedschaft einen Hochverrat zu begehen, also eine gewaltsame Änderung der Regierungsform zu bewirken, oder eine Gefahr von außen zu vergrößern. Außerdem besteht nach § 58 StG eine Strafbarkeit erst bei einer konkreten Aktion, die ab dem dazu gefassten Entschluss besteht, der nach Ort, Zeit, Gegenstand und Methode konkretisiert ist (Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265 (267)). Siehe dazu Kapitel 4.3.2.2. 151 Die NS-Mitgliedschaft bzw. die NS-Betätigung in der Verbotszeit selbst war jedenfalls nur eine Verwaltungsübertretung, also nicht gerichtlich strafbar, siehe Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/121. Zum Text des Verbots der NSDAP in Österreich (Verordnung der Bundesregierung vom 19.06.1933, BGBl 1933/240, womit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) und dem Steirischen Heimatschutz (Führung Kammerhofer) jede Betätigung in Österreich verboten wird) siehe FN 16. 152 Wolfgang Lassmann, Zur Praxis des Verbotsgesetzes, Österreichische Juristenzeitung 1946, 71. 153 Otto Hochmann, Zur Praxis des Verbotsgesetzes, Österreichische Juristenzeitung 1946, 205. 154 Praesumptio iuris et de iure. 155 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/122.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit dem KVG und mit § 10 VG, sofern man alleine die NS-Mitgliedschaft oder die NS-Betätigung während der Verbotszeit als strafbarkeitsbegründend annimmt, rückwirkende Strafbestimmungen geschaffen wurden. Das ist nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen unzulässig und war in Österreich spätestens im Jahr 1958 nach Etablierung der MRK grundsätzlich unzulässig156. Der Gesetzgeber hat eine Ausnahmesituation angenommen und in deklarierter Weise entsprechendes Ausnahmerecht geschaffen. Dies kann mit der Vergeltung von Handlungen begründet werden, die als besonders schwerwiegender Verstoß gegen soziale Grundwertungen anzusehen sind. Die Entscheidung, welche Handlungen wertungsmäßig im Einzelnen als solche anzusehen sind, lag aufseiten des Gesetzgebers als normsetzender Instanz. Aufgrund des Ausnahmecharakters des Regelungsgegenstands fehlten empirische Vorgaben, sodass die zu treffende Wertung, welche Handlungen nachträglich unter Strafe gestellt werden sollen, letztlich eine rein politische Entscheidung war. Die mit den Formaldelikten normierten Schuldvermutungen, wonach alleine wegen der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv oder alleine aufgrund einer bestimmten Funktion auf die Begehung strafbarer Handlungen geschlossen wird, sind, abgesehen von besonders gelagerten Ausnahmefällen, in denen zumindest eine offenkundige Grundverantwortung oder Mitverantwortung an Verbrechen feststeht157, aufgrund 156 Wobei allerdings Art. 7 MRK eine Ausnahme für Taten macht, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar oder strafwürdig waren (Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien, 3. Auflage 1997, 380). Demnach wäre auch nach dieser Bestimmung eine Ausnahmeregelung für die unmittelbare Begehung von Handlungen von besonderer Gravität und besonderem Ausmaß, die eklatant gegen soziale Grundwerte der Zivilisation verstoßen, wie die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, zulässig. Für die nachträgliche Einstufung eines politischen Verhaltens als Hochverrat ist diese Ausnahme meines Erachtens nicht zu machen. Art. 7 MRK: „Artikel 7 – Keine Strafe ohne Gesetz (1) Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. (2) Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war.“ Zur Ausnahmeregelung des Art. 7 Abs. 2 MRK, insbesondere für Gewaltverbrechen, siehe nachfolgend Kapitel 5., Recht und Moral, und insbesondere Kapitel 5.6.2. – Rechtliche Verankerung der Radbruch’schen Formel. 157 Wie bei Personen, denen die Tätigkeit in gewissen verbrecherischen Einrichtungen wie einem KZ nachgewiesen werden kann. Siehe FN 120.

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der damit gegebenen Verletzung des Schuldprinzips und der Unschuldsvermutung abzulehnen158. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass auch Unschuldige bestraft werden. Daran kann auch im Hinblick auf § 10 VG der Umstand nichts ändern, dass in manchen Fällen, in denen Gewaltverbrechen nicht nachgewiesen werden konnten, eine Bestrafung nach dieser Bestimmung möglich war,159 § 10 VG somit als Auffangtatbestand fungierte, weil – noch dazu nur in Einzelfällen gegebene – Beweisschwie158 Winfried Platzgummer, Die strafrechtliche Bekämpfung des Neonazismus in Österreich, Österreichische Juristenzeitung 1994, 756. Wobei meines Erachtens wie folgt zu differenzieren ist: Mit dem materiellen Strafrecht erfolgt die Festlegung, was strafbar sein soll. In diesem Zusammenhang besteht die Thematik, ob formal von einer bestimmten Funktion auf die Begehung gewisser, als unzulässig eingestufter Handlungen geschlussfolgert wird, sodass bereits diese Funktion an sich bestraft wird, und ob anstelle einer Individualverantwortung für individuell vorwerfbare Handlungen eine Kollektivverantwortung etabliert wird, was nur bei der Teilnahme an Vereinigungen bzw. an Organisationen, deren Zweck die einmalige oder fortgesetzte Begehung von kriminellen Handlungen ist, gerechtfertigt erscheint (vgl. § 277 StGB idgF – Verbrecherisches Komplott, § 278 StGB idgF – Kriminelle Vereinigung, § 278a StGB idgF – Kriminelle Organisation), und ansonsten eine Verletzung des tragenden rechtsstaatlichen Prinzips des Schuldstrafrechts ist, wonach die individuelle Vorwerfbarkeit einer Handlung als Voraussetzung für eine Strafbarkeit besteht. Das formelle Strafrecht regelt das Strafverfahren. Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 90 Abs. 2 Bundesverfassungsgesetz [B-VG]) darf niemand gezwungen werden, sich selbst zu belasten (Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien, 3. Auflage 1997, 386), und der nach Art. 6 MRK geltende Grundsatz des fairen Verfahrens beinhaltet darüber hinaus auch die Unschuldsvermutung, wonach das erkennende Organ nicht von der Überzeugung ausgehen darf, der Beschuldigte habe die ihm zur Last gelegte Tat begangen, und der Beschuldigte nicht als schuldig angesehen werden darf, bis die Schuld gesetzlich nachgewiesen wurde (Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien, 3. Auflage 1997, 385), und den daraus resultierenden Zweifelsgrundsatz, wonach der Angeklagte freizusprechen ist, wenn objektiv vernünftige Zweifel an seiner Schuld bestehen, oder ansonsten bei der Sachverhaltsfeststellung im Zweifel von der für den Angeklagten günstigeren Annahme auszugehen ist (Zweifelsgrundsatz – in dubio pro reo, Christian Bertel/Andreas Venier, Strafprozeßordnung, Wien 2012, § 8 Rz 3). Somit ergibt sich aus dem materiellen Strafrecht, welche Handlungen strafbar sind, und aus dem formellen Strafrecht ergeben sich bestimmte Verfahrensgarantien, die insbesondere das Erfordernis des Nachweises der vorwerfbaren Begehung einer solchen strafbaren Handlung betreffen (Schuldbeweis). Das materielle Strafrecht regelt also, was strafbar ist, und das formelle Strafrecht regelt, wie aufzuklären ist, ob eine Straftat begangen wurde und unter welchen Voraussetzungen die Begehung einer Straftat als nachgewiesen anzusehen ist. Die gegenständliche Problematik betrifft daher nur das materielle Strafrecht und dort das Prinzip des Schuldstrafrechts (nulla poena sine culpa), wonach der strafrechtliche Begriff der Schuld ein normativer Schuldbegriff ist, der ein sozialethisches Unwerturteil impliziert, sodass nach dem strafrechtlichen Schuldprinzip die Vorwerfbarkeit einer Handlung erforderlich ist (Diethelm Kienapfl, Grundriß des österreichischen Strafrechts – Allgemeiner Teil, Wien, 5. Auflage 1994, 14; dazu im Detail Peter Lewisch, Verfassung und Strafrecht, Wien 1993, 231ff; vgl. bereits Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag, Wien, Leipzig 1894, 74ff). 159 Claudia Kuretsidis-Haider, Die Volksgerichtsbarkeit als Form der politischen Säuberung Österreichs, in Kuretsidis-Haider/Winfried Garscha, Keine Abrechnung, NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945 (1998), 23.

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rigkeiten die Normierung einer allgemeinen Strafbarkeit nicht rechtfertigen können. Jede Strafbarkeit ist vielmehr für sich auf die sachliche Rechtfertigung zu prüfen. Mit diesen Formaldelikten wurde nur eine formale Bindung zum Nationalsozialismus zum Vorwurf gemacht, eine Zugehörigkeit zu dieser politischen Organisation, ohne dass es auf eine individuelle Verantwortung ankam, sodass eine Kollektivschuld normiert wurde.160 Eine derartige Kollektivschuld läuft aber wiederum auf eine gegen das Schuldprinzip verstoßende Verantwortung für fremde Taten und eine unzulässige Schuldvermutung hinaus und ist damit abzulehnen.161 Beweisschwierigkeiten oder ein großer administrativer Aufwand162 können eine derartig rigorose und unverhältnismäßige Strafbarkeit nicht rechtfertigen; bei derartigen Umständen hätte man auf eine Bestrafung verzichten und sich auf administrative Maßnahmen wie der Entfernung von diesen Funktionären aus Ämtern, mit denen eine besondere Machtposition verbunden ist oder die sonst einen besonderen Einfluss auf das Staatswesen, auf die Ausbildung oder die Meinungsbildung ermöglichen, und die Verhinderung der Ausübung von solchen Ämtern durch solche Funktionäre beschränken müssen. Die Sühnemaßnahmen wurden großteils bereits in der zweiten Hälfte der 1950-Jahre wieder zurückgenommen163, was mit der Vermeidung der Ausgrenzung 160 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1982, 293f. 161 Zweifel an der bald nach Kriegsende besonders rasch mit dem Verbotsgesetz gewählten Vorgangsweise kamen auch in der Provisorischen Regierung Renner selbst auf. Staatskanzler Dr. Karl Renner: „Wir haben beim Verbotsgesetz die Erfahrung gemacht, daß wir durch eine etwas voreilige gesetzliche Normierung unendliche Schwierigkeiten bereitet und Verwirrung hervorgerufen haben und, wenn wir nicht besondere Auskunftsmittel aufgewendet hätten, das Kabinett vor eine unmögliche Situation gestellt hätten.“ (Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945 in: Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 – „… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 207). Unterstaatssekretär Dr. Ernst Fischer (KPÖ), Staatsamt für Volksaufklärung, Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten: „Ich habe weiters den Eindruck, daß im Prinzip gegen das Gesetz [Anm.: Entwurf für das KVG] keine Einwendungen bestehen und daß es notwendig ist, das Gesetz so rasch als möglich zu erledigen, nicht nur deshalb, um endlich dem Gerechtigkeitsempfinden des Volkes Genüge zu tun, sondern auch deshalb, weil wir durch das nicht sehr glückliche erste Gesetz in der Nazi-Frage tatsächlich in eine Sackgasse hineingeraten sind: Alle Nazi mehr oder minder in einen Topf zu werfen, das Gefühl in den Volksmassen, daß eigentlich nichts geschieht, ein Gefühl das zu den oft sinnlosen, wilden Aktionen führt, die gegen Nazi unternommen werden, das alles zeigt, daß wir in eine Sackgasse geraten sind. Und damit jagen wir Zehntausende, die bereit wären, aus der Vergangenheit zu lernen, in die Verzweiflung, in eine feindselige Haltung gegen den neuen österreichischen Staat.“ (Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945 in Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 –„… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 267). 162 Vgl. Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1982, 295. 163 Siehe insbesondere NS-Amnestiegesetz, BGBl 1957/82; siehe auch Bundesgesetz vom 20.12.1955,

Zum Verfahren vor dem Volksgericht

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eines allzu großen Bevölkerungsteils zu erklären ist. Bei Konzentration der Strafverfolgung auf die eigentlichen Gewaltverbrecher und jene, die aus der Verfolgung Anderer Gewinn erzielen wollten, hätte sich dieses Problem so freilich nicht gestellt. Allerdings wurde gerade das KVG mit seinen Tatbeständen über Gewaltverbrechen aufgehoben, und das Formaldelikt des § 10 und § 11 VG gehört bis heute dem Rechtsbestand an, wenngleich diese Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind164.

3.5 Zum Verfahren vor dem Volksgericht

Für das Strafverfahren galten die Bestimmungen der Strafprozessordnung, allerdings mit einigen Besonderheiten165. Es gab keinen Einspruch gegen die Anklageschrift (ausgenommen im Verfahren gegen Abwesende) und generell weder die Möglichkeit, das Urteil mit Berufung oder Nichtigkeitsbeschwerde anzufechten, noch die Möglichkeit einer Beschwerde gegen sonstige Entscheidungen des Gerichts. Das Volksgericht entschied in erster und letzter Instanz. Schließlich wurde aber mit dem Überprüfungsgesetz166 dem Obersten Gerichtshof (OGH) die Möglichkeit eingeräumt, zur Überprüfung von Urteilen der Volksgerichte ein Überprüfungsverfahren einzuleiten und bei erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit der getroffenen Tatsachenfeststellungen oder gegen die rechtliche Beurteilung das Urteil aufzuheben und das Verfahren zur neuerlichen Verhandlung an dasselbe oder ein anderes Volksgericht zurückzuverweisen (kassatorische Entscheidung). Eine inhaltliche Entscheidung in der Sache (meritorische Entscheidung) durch den OGH war nicht vorgesehen, es konnte nur die Aufhebung von Entscheidungen der Volksgerichte durch den OGH erfolgen. Die Überprüfung konnte nur vom Präsidenten des OGH eingeleitet werden, weder die Staatsanwaltschaft noch der Angeklagte hatten ein Recht auf Überprüfung.167 Eine derartig eingeschränkte Überprüfbarkeit von Strafurteilen wäre nach heutigen BGBl1955/283, über dienstrechtliche Maßnahmen für vom Nationalsozialistengesetz betroffene öffentliche Bedienstete. 164 BGBl 1957/82: Strafverfahren nach den strafrechtlichen Sonderbestimmungen des Art. III. VG (§§ 10-16 VG) sind nicht mehr einzuleiten und eingeleitete Strafverfahren einzustellen; noch nicht vollstreckte Strafen sind nachzusehen, und Verurteilungen gelten als getilgt. Davon unberührt sind freilich die Delikte des VG, die nicht auf Vergeltung, sondern die Verhinderung einer Wiederbetätigung abzielen (Wiederbetätigungsdelikte). 165 Art. V. (§§ 24 bis 26) VG aF und § 13 Abs. 1 KVG. Volksgerichtsverfahrens- und VermögensverfallG, BGBl 1945/177 in der Fassung der Wiederverlautbarung BGBl 1947/213. 166 BGBl 1946/4. 167 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/153.

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Das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz

rechtsstaatlichen Standards unzulässig, weil die Verfahrensgarantie besteht, bei Verurteilung wegen einer strafbaren Handlung das Strafurteil durch eine übergeordnete Gerichtsinstanz überprüfen zu lassen.168

168 Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur MRK – 7. ZP-MRK (Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien 3. Auflage 1997, 387).

4. Der Strafprozess und die Begnadigungen

4.1 Der Prozess im Überblick

Das Strafverfahren nach §§ 10, 11 Verbotsgesetz – VG („Formaldelikt“ wegen jeweils näher bezeichneter Art der Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Wehrverbände oder bestimmter Stellung in der NSDAP und Betätigung für diese Partei oder Verbände, respektive für die NS-Bewegung in Österreich) und § 8 Kriegsverbrechergesetz – KVG (Förderung der NS-Machtergreifung als Hochverrat) war zunächst beim Volksgericht Wien (Landesgericht für Strafsachen Wien als Volksgericht) zu Vg 1h Vr 2068/49 (davor Vg 7d Vr 2068/49 und Vg 7c Vr 383/46) und zu Vg 1h Hv 238/50 anhängig169. Mit Urteil vom 26. Oktober 1950 wurde der Angeklagte Ing. Anton Reinthaller des Verbrechens des Hochverrates nach §§ 10, 11 VG für schuldig erkannt, jedoch vom Vorwurf nach § 8 KVG des Hochverrates am österreichischen Volk freigesprochen. Mit Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 27. April 1951 zu 6 Os 18/51170 wurde das Urteil im Umfang des Freispruchs und des Ausspruchs über die Strafe aufgehoben und das Verfahren an das Volksgericht Wien zurückverwiesen, wo es in weiterer Folge zu 11 Vr 354/51 und 11 Hv 112/51 anhängig war. Mit Entschließung des Bundespräsidenten (des damaligen Amtsinhabers Theodor Körner171) vom 11. August 1951 zu 10.060/51 wurde der nach § 8 KVG geführte Teil des Strafverfahrens niedergeschlagen172, die Einstellung erfolgte am 09. Oktober 1951. In weiterer Folge wurde das Verfahren an das Landesgericht (LG) Linz als Volksgericht delegiert, wo es zu Vg 10 Vr 527/52 und Vg 10 Hv 46/52 anhängig war. Mit Urteil 169 Die Vr-Aktenzahl betrifft die allgemeine Registrierung; unter dieser Aktenzahl (AZ) wurde auch die Voruntersuchung durch den Untersuchungsrichter geführt. Nach Versetzung in den Anklagestand – Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft wurde das Hauptverfahren bei der zuständigen Gerichtseinheit des Gerichtshofs eingeleitet und der Gerichtsakt erhielt zusätzlich eine Hv-AZ. 170 Überprüfungsverfahren, eingeleitet durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs. 171 Theodor Körner, (1873–1957), k. u. k. Oberst und Generalstabchef der 1. Isonzo-Armee, 1924 als General nach der Mitwirkung bei der Errichtung eines republikanischen Heeres pensioniert. In weiterer Folge vorübergehend Mitglied der Zentralleitung des Republikanischen Schutzbundes, des Weiteren sozialdemokratischer Abgeordneter der Stadt Wien und Mitglied des Bundesrates. 1945 Bürgermeister von Wien und am 27. Mai 1951 erster vom Volk direkt gewählter Bundespräsident. Er stirbt am 04. Jänner 1957 knapp vor dem Ende seiner ersten Amtsperiode. 172 Abolition gemäß Art. 65 B.-VG.

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Der Strafprozess und die Begnadigungen

vom 07. Mai 1952 erfolgte wegen des Delikts nach §§ 10, 11 VG gemäß § 11 VG unter Anwendung der außerordentlichen Strafmilderung nach § 265a StPO173 die Verurteilung zu 2 1/2 Jahren schwerem Kerker, verschärft durch ein vierteljährliches hartes Lager. Das Vermögen wurde gemäß § 11 VG zugunsten der Republik Österreich für verfallen erklärt. Mit Beschluss des Landesgerichts Linz vom 12. Jänner 1953 erfolgte allerdings die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen neuer Tatsachen und Beweismittel.174 Mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 12. Juni 1953 zu 9167/53 erfolgte aber auch die Begnadigung von dieser Bestrafung mit Ausnahme bestimmter Sühnefolgen175, sodass das Verfahren endgültig beendet wurde.

4.2 Die Anklage

Mit Anklageschrift vom 24. Mai 1950176 der Staatsanwaltschaft Wien erfolgt die Versetzung in den Anklagestand, und es wird im Strafprozess das Hauptverfahren eingeleitet. Die Anklageschrift umfasst zwei Vorwürfe des Hochverrats. Zum einen wird Reinthaller zur Last gelegt, dass er in der Zeit zwischen 01. Juli 1933 und 13. März 1938 der NSDAP angehört und zuletzt als Brigadeführer Angehöriger der SS als Wehrverband der NSDAP gewesen und von dieser als „Alter Kämpfer“ anerkannt worden sei, und dass er Kreispropagandaleiter, Gauredner und Gauamtsleiter für Agrarpolitik gewesen sei und die Parteiauszeichnungen des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP und der Dienstauszeichnung der NSDAP in Gold und Silber erhalten habe. Dadurch habe er das Verbrechen nach § 10 VG in der Deliktsqualifikation des § 11 VG begangen177. 173 In der damals anzuwendenden Fassung BGBl 1945/133. 174 Beschluss des Landesgerichts Linz vom 12. Jänner 1953 zu Vg 10 Vr 527/52-46/52, beglaubigte Abschrift des öffentlichen Notars Dr. Eugen Schenk (Handakt Dr. Tiefenbrunner). 175 Entschließung des Bundespräsidenten gemäß § 27 VG vom 12. Juni 1953, Note des BKA vom 16. Juni 1953 zu 213.805/2 – 2N/53, beglaubigte Abschrift des öffentlichen Notars Dr. Conrad Krünes. Ausgenommen waren als Sühnefolgen der Ausschluss von einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, die Sühneabgabe und damit verbundene Verfügungsbeschränkung über Liegenschaftsvermögen und der Ausschluss von einer journalistischen oder redaktionellen Tätigkeit. 176 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49 (Handakt Dr. Tiefenbrunner). 177 § 10 Abs. 1 VG in der Fassung des Nationalsozialistengesetz, BGBl 1947/25, lautet: „Wer in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 nach Vollendung des 18. Lebensjahres jemals der NSDAP angehört hat und während dieser Zeit oder später sich für die nationalsozialistische Bewegung betätigt hat oder Angehöriger eines der Wehrverbände der NSDAP (SA, SS, NSKK, NSFK) oder des NS-Soldatenringes oder des NS-Offiziersbundes gewesen ist oder wer von der NSDAP als ,Altparteigenosse‘ oder als ,Alter Kämpfer‘ anerkannt worden ist (,Illegaler‘), hat sich des Verbre-

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chens des Hochverrates im Sinne des § 58 des Strafgesetzes schuldig gemacht und ist wegen dieses Verbrechens mit schwerem Kerker in der Dauer von 5 bis 10 Jahren zu bestrafen.“ § 11 Abs. 1 VG in der Fassung des Nationalsozialistengesetz, BGBl 1947/25, lautet: „Ist eine der im § 10, Abs. (1), genannten Personen politischer Leiter vom Ortsgruppenleiter oder Gleichgestellten aufwärts gewesen oder hat sie einem der Wehrverbände oder einer anderen Gliederung mit dem Rang vom Untersturmführer oder Gleichgestellten aufwärts angehört oder ist sie Blutordensträger oder Träger einer sonstigen Parteiauszeichnung gewesen oder hat sie in Verbindung mit ihrer Betätigung für die NSDAP, für einen ihrer Wehrverbände oder für den NS-Soldatenring oder den NS-Offiziersbund Handlungen aus besonders verwerflicher Gesinnung, besonders schimpfliche Handlungen oder Handlungen, die den Gesetzen der Menschlichkeit gröblich widersprechen, begangen, so wird sie mit schwerem Kerker von 10 bis zu 20 Jahren und dem Verfall des gesamten Vermögens bestraft, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung strenger strafbar ist.“ Nach § 4 der auf Basis des § 11 Abs. 2 VG erlassenen Verordnung der Bundesregierung vom 10. März 1947 zur Durchführung des Verbotsgesetzes 1947, BGBl. 1947/64 idF BGBl. 1947/102, waren als Parteiauszeichnungen im Sinne des § 11 Abs. (1) VG zu verstehen der Blutorden vom 9. November 1923, das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP, die Dienstauszeichnungen der NSDAP in Bronze, Silber oder Gold und das Goldene Ehrenzeichen der Hitler-Jugend. § 58 StG: „Das Verbrechens des Hochverrates begeht: wer etwas unternimmt, was auf eine gewaltsame Veränderung der Regierungsform oder auf die Losreißung eines Teiles von dem einheitlichen Staatsverbande oder Länderumfange der Republik Österreich oder auf Herbeiführung oder Vergrößerung einer Gefahr für den Staat von Außen, oder einer Empörung oder eines Bürgerkrieges im Inneren angelegt wäre; es geschähe solches öffentlich oder im Verborgenen, von einzelnen Personen oder in Verbindungen, durch Anstiftung, Aufforderung, Aneiferung, Verleitung durch Wort und Tat, mit oder ohne Ergreifung der Waffen, durch mitgeteilte, zu solchen Zwecken leitende Geheimnisse oder Anschläge, durch Aufwiegelung, Anwerbung, Ausspähung, Unterstützung oder durch was sonst auch immer für eine dahin abzielende Handlung, wenn dieselbe auch ohne Erfolg geblieben wäre.“ § 13 Abs. 1 KVG: „Volksgericht – Die Bestimmungen des Artikels V des Verbotsgesetzes sind auch auf Strafverfahren nach diesem Gesetze sinngemäß anzuwenden. Jedoch kann in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen das Volksgericht, wenn es dies einstimmig beschließt, an Stelle der Todesstrafe eine lebenslange schwere Kerkerstrafe oder schweren Kerker von 10 bis 20 Jahren verhängen, bei anderen angedrohten Strafen von den Bestimmungen der §§ 265a StPO und 54 StG Gebrauch machen.“ § 54 StG 1852: „Bei Verbrechen, für welche die Strafzeit nicht über 5 Jahre bestimmt ist, kann sowohl der Kerker in einen gelinderen Grad geändert [Anm.: Strafumwandlung, im vorliegenden Fall ausgeschlossen nach § 25 VG und § 13 Abs. 1 KVG] als die gesetzliche Dauer selbst unter sechs Monate verkürzt werden, in dem Falle, daß mehrere und zwar solche Milderungsgründe zusammentreffen, welche mit Grund die Besserung des Verbrechers erwarten lassen [Anm.: Strafmilderung].“ § 265a StPO 1873: „ (1) Der Gerichtshof ist befugt, in Fällen, für welche die Strafe im Gesetz zwischen fünf und zehn Jahren bestimmt ist, wegen des Zusammentreffens sehr wichtiger und überwiegender Milderungsumstände sowohl auf eine gelindere Art der Kerkerstrafe [Anm.: Strafumwandlung, im vorliegenden Fall ausgeschlossen nach § 25 VG und § 13 Abs. 1 KVG], als auch die Dauer der Strafe herabzusetzen, aber nie unter sechs Monate [Anm.: Strafmilderung]. (2) Wäre die Strafe nach dem Gesetze zwischen zehn und zwanzig Jahren zu bemessen, oder auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen, so darf der Gerichtshof wegen solcher mildernder Umstände die Strafe zwar nicht in der Art, aber in der Dauer herabsetzen, jedoch nie unter ein Jahr.“

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Der Strafprozess und die Begnadigungen

Zum anderen wird Reinthaller des Weiteren zur Last gelegt, in der Zeit nach dem 12. März 1938 durch seine Tätigkeit als Bundesminister und dann Staatsminister im Kabinett Seyß-Inquart insbesondere durch seine Mitwirkung an der Erlassung und Durchführung des Bundesverfassungsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich („Anschlussgesetz“) in führender Stellung etwas unternommen zu haben, was die Machtergreifung der NSDAP in Österreich förderte. Dadurch habe er das Verbrechen des Hochverrats nach § 8 KVG begangen178. Zum Vorwurf nach § 10 VG wird ausgeführt, dass Reinthaller am 23. April 1928 unter der Mitgliedsnummer 83.421 Mitglied der NSDAP wurde und bei Gründung der Ortsgruppe Attergau sowie 1931 der nationalsozialistischen Bauernschaft beteiligt war. Dabei wird der Vorwurf erhoben, dass die NSDAP durch diese Interessenvertretung der Bauern in der Bauernschaft leichter habe Fuß fassen können.179 Auch in der Zeit des Verbotes der NSDAP sei Reinthaller Mitglied geblieben und habe sich als Kreispropagandaleiter, Gauredner und Führer der illegalen NS-Bauernschaft in Österreich betätigt. Das Engagement Reinthallers in der Nationalen Aktion wird mit der Behauptung negativ eingestuft, dass diese der Etablierung der Nationalsozialisten in Österreich gedient habe. Reinthaller wird zwar auch von der Staatsanwaltschaft

(Absatz 1 idF Strafprozeßnovelle 1920, StGBl 1920/279, Art. 1 Z 14; Absatz 2 angefügt durch Strafrechtsänderungsgesetz 1934, BGBl 1934/77, Art. IV Z 20). Mit dem Gesetz vom 12. Juni 1945 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts, StGBl 1945/25, wurde das Strafgesetz 1852 und mit dem Gesetz vom 12. Juni 1945 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafprozessrechts, StGBl 1945/26, wurde die Strafprozessordnung wieder in Kraft gesetzt, das jeweils bei expliziter Aufhebung zwischenzeitig erlassener reichsdeutscher Rechtsvorschriften in der Fassung, die am 13. März 1938 galt. Dazu wurden mit StGBl 1945/105 Übergangsbestimmungen erlassen. Mit der Wiederverlautbarung vom 16. August 1945, BGBl 1945/133, wurde die Strafprozessordnung in der vorgenannten Fassung wiederverlautbart. Das Strafgesetz und die Strafprozessordnung werden im Folgenden jeweils in dieser Fassung zitiert, soweit nicht eine Änderung von Rechtsvorschriften, die im gegenständlichen Zeitraum relevant sind, erfolgte (Strafgesetznovelle 1947, BGBl 1947/191, Strafgesetznovelle 1952, BGBl 1952/62, II. Strafgesetznovelle 1952, BGBl 1952/160, Strafgesetznovelle 1953, BGBl 1954/15; Strafprozeßnovelle 1947, BGBl 1947/192, Strafprozeßnovelle 1949, BGBl 1949/100, Bundesgesetz vom 22. November 1950 über die Wiedereinführung der Geschworenengerichte – Geschworenengerichtsgesetz, BGBl 1950/240, Strafprozeßnovelle BGBl 1952/161). 178 § 8 KVG: „Hochverrat am österreichischen Volk – Wer für sich allein oder in Verbindung mit anderen in führender oder doch einflußreicher Stellung etwas unternommen hat, das die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zugunsten der NSDAP oder die Machtergreifung durch diese vorbereitete oder förderte, es sei solches durch Anraten, Aneiferung und Anleitung anderer oder durch persönliches tätiges Eingreifen, durch Mittel der Propaganda oder durch was sonst immer für eine dahin abzielende Handlung geschehen, hat das Verbrechen des Hochverrates am österreichischen Volke begangen und ist hiefür mit dem Tode zu bestrafen.“ 179 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49, 6.

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attestiert, im Widerstreit mit dem radikalen Flügel der Nationalsozialisten gestanden zu sein, es habe ihn aber letztlich nur der Weg, nicht aber das Ziel von diesen unterschieden.180 Schließlich wird Reinthaller dessen mit seiner Stellung in der NS-Administration einhergehende SS-Mitgliedschaft ab 14. März 1938 unter der Nummer 292.775 zunächst als SS-Standartenführer, ab 25. Juli 1938 als SS-Oberführer und ab 30. Jänner 1941 als SS-Brigadeführer vorgeworfen.181 Zum Vorwurf nach § 8 KVG wird ausgeführt, dass Reinthaller mit der Unterzeichnung des „Anschlussgesetzes“ vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich an der Schaffung der formalrechtlichen Grundlage für die Durchlöcherung des österreichischen Rechts, der Beseitigung österreichischer Einrichtungen, der Umgestaltung des Lebens und der Errichtung der totalen NS-Herrschaft mitgewirkt habe. Des Weiteren sei den NS-Gewaltmaßnahmen damit der Deckmantel der Legalität gegeben worden. Die Mitwirkung an der Erlassung und Durchführung dieses Gesetzes sei damit als Förderung der NS-Machtergreifung einzustufen.182 Auch wenn zum Zeitpunkt der Erlassung dieses Gesetzes bereits der österreichische Staatsapparat nicht mehr funktioniert und das Deutsche Reich bereits die Kontrolle gehabt habe, so habe der Staatsapparat doch noch bestanden und sei damals noch nicht im deutschen Staatsorganismus aufgegangen; er habe nur nicht mehr im österreichischen Sinn in Funktion treten können.183 Die NS-Machtergreifung sei noch nicht abgeschlossen gewesen, sondern könne erst mit der Umorganisation nach Muster des Deutschen Reiches als vollendet angesehen werden. Zudem sei die Frage des Bestehens des Staates Österreich zu diesem Zeitpunkt rechtlich gar nicht relevant, weil nicht der österreichische Staat, sondern das österreichische Volk Delikts(Schutz-)objekt des § 8 KVG sei.184 Gegen dieses habe die Regierung in hochverräterischer Weise agiert. Zur Beweisführung beantragt die Staatsanwaltschaft die Zeugenvernehmung des Bundespräsidenten i.R. Wilhelm Miklas und hinsichtlich des Ablaufs der entscheidungsrelevanten historischen Ereignisse die Beischaffung und Verlesung von Gerichtsakten anderer Volksgerichtsverfahren vor dem Volksgericht Wien.185 180 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49, 8. 181 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49, 14. 182 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49, 14. 183 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49, 17f. 184 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49, 18. Zu der mE angebrachten Kritik an dieser Argumentation und an dem Konzept des § 8 KVG siehe Kapitel 6.2.4. – Der Fall Dr. Rudolf Neumayer, Wiederaufnahmeantrag. 185 So den Strafakt Dr. Guido Schmidt zu Vg 1g Vr 1920/45 und den Strafakt Dr. Rudolf Neumayer zu Vg 10 Vr 445/45.

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4.3 Die Verteidigung 4.3.1 Die Verteidiger

Anton Reinthaller wird verteidigt vom Rechtsanwalt Dr. Hans Haider, Wien 1, Reichsratsstraße 13, und von dem ihm freundschaftlich verbundenen Rechtsanwalt Dr. Karl Günther mit Kanzleisitz in Mattighofen, Oberösterreich, und Rechtsanwalt Dr. Otto Tiefenbrunner mit Kanzleisitz Wien 1, Dominikanerbastei 4/4. Eingesetzt wird auch der Verteidiger in Strafsachen Oberstaatsanwalt a.D. Dr. Oskar Welzl mit Kanzleisitz Bischofstraße 3, Linz. Während Dr. Welzl dem nationalen Lager zuzuordnen ist186, handelt es sich bei Dr. Karl Günther um einen früheren Landbündler und bei den anderen Verteidigern um Mitglieder des bürgerlichen Lagers. Dieser Umstand ist durchaus bezeichnend für das lagerübergreifende Wirken des Anton Reinthaller, zumal Dr. Tiefenbrunner in der NS-Zeit verfolgt worden war187 und sich dennoch für Ing. Reinthaller einsetzt. In Wien kursierte für das Trio Dr. Tiefenbrunner, Dr. Günther und Dr. Haider im Zusammenhang mit deren Funktion als Verteidiger des Anton Reinthaller die Bezeichnung „Die drei Musketiere“.188 4.3.2 Replik der Verteidigung

Die Verteidigung bekämpft in rechtlicher Hinsicht bereits die Anwendung der Strafbestimmungen gegen ihren Klienten wegen der Rückwirkung dieser Bestimmungen, wobei sie sich nicht nur auf österreichisches Recht, sondern auch auf die Rechtssysteme „anderer zivilisierter Staaten“ und auf völkerrechtliche Grundsätze stützt.189 Der Versuch der Verteidigung, unter Hinweis auf die frühere Ministerfunktion 186 Schreiben des Dr. Welzl vom 23.12.1952; Schreiben des Dr. Tiefenbrunner an seinen Klienten, Ing. Reinthaller, vom 19.12.1952, mit der Empfehlung, Interventionen von Welzl aus diesem Grund einzuschränken (Rechtsanwaltshandakt Dr. Tiefenbrunner). 187 Er wurde inhaftiert und über ihn ein Berufsverbot verhängt (Beschluss des Landesgerichtspräsidenten Wien vom 30.06.1943 über Bestellung des RA Dr. Zörnlaib als Stellvertreter des Dr. Tiefenbrunner nach Verhängung des Berufsverbots über Dr. Tiefenbrunner [Rechtsanwaltshandakt Dr. Tiefenbrunner]). 188 Abschrift des Schreibens des Dr. Karl Günther an OLGR. Dr. Artur Apeltauer vom 28.10.1950 (NL Anton Reinthaller, OÖ Landesarchiv, Faszikel Gericht I). Die drei machten sich diesen Namen sichtlich zu eigen, sodass sie bei Reinthallers Begräbnis auch einen Kranz niederlegten, auf dessen Gedenkschleife geschrieben stand: „Letzte Grüße, Deine drei Musketiere“ (Schreiben des Dr. Hans Haider an Dr. Otto Tiefenbrunner vom 18. März 1958 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Tiefenbrunner). 189 Eingabe des Verteidigers RA Dr. Karl Günther vom 09. Juli 1949, Pkt. 5, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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des Anton Reinthaller die Unzuständigkeit des Volksgerichts geltend zu machen, ist nicht erfolgreich. Die Verteidigung führt an, dass Reinthaller das Anschlussgesetz als Minister unterschrieben habe, sodass die Strafverfolgung nur mittels Ministeranklage vor dem Verfassungsgerichtshof erfolgen könne.190 Dies wird von der Staatsanwaltschaft, wohl zurecht und schließlich erfolgreich, damit bestritten, dass die Verfassung 1934 mit den Bestimmungen über die Ministeranklage nicht mehr in Kraft ist, die wieder geltende Bundesverfassung 1920 auf Reinthaller mangels Ministertätigkeit im Geltungszeitraum dieser Verfassung nicht anzuwenden ist und es sich beim VG und KVG, welche die Zuständigkeit der Volksgerichte begründen, selbst um Gesetze im Verfassungsrang handelt, die speziellen Regelungsgehalt haben und in ihrem Anwendungsbereich den allgemeinen Verfassungsbestimmungen damit derogieren (an Stelle der allgemeinen Verfassungsbestimmungen anzuwenden sind).191 Die Verteidigung führt schließlich auch ins Treffen, dass die amerikanischen Militärbehörden in Nürnberg in den anlässlich der Kriegsverbrecherprozesse durchgeführten Untersuchungsverfahren keinerlei belastende Anhaltspunkte gegen Rein­ thaller gefunden haben und gegen ihn daher kein Verfahren eingeleitet wurde.192 Wenngleich dies nichts über die Strafbarkeit nach österreichischem Recht aussagt, so kann darin doch ein starkes Signal gesehen werden. 4.3.2.1 Zum Charakter Reinthallers und dessen Tätigkeit in der Verbotszeit und der NS-Zeit

Die illegale Mitgliedschaft wird unter Anführung eines im Zuge der Auseinandersetzung mit dem radikalen Landesparteileiter Habicht erfolgten Parteiausschlusses und 190 Gerichtsakt Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 1h Vr 2068/49, Hv 238/50 Hauptverhandlungsprotokoll vom 23. Oktober 1950, S. 8. Da Reinthaller auch nach § 10 VG angeklagt ist und dieses ihm zur Last gelegte Delikt nicht als Minister begangen haben kann, argumentiert die Verteidigung damit konvenierend, dass § 8 KVG als speziellere Norm der Bestimmung des § 10 VG vorgehe (lex specialis derogat legi generali), sodass nur § 8 KVG anzuwenden sei. Nach Ludwig Haydn, Das Kriegsverbrechergesetz (=Die österreichischen Wiedergutmachungsgesetze, Heft II), Wien 1945, 9, wurden mit § 10 VG die Illegalen allgemein erfasst, wogegen mit § 8 KVG jene dieser Illegalen „herausgegriffen“ werden, die in führender oder einflussreicher Stellung die NS-Machtergreifung vorbereitet oder gefördert haben; diese Ausführungen bestätigen die Rechtsmeinung, § 8 KVG schließe als die speziellere Rechtsnorm in seinem Anwendungsbereich die Anwendung des § 10 VG aus. 191 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49, 22. Ebenso das Urteil des Volksgerichts Wien vom 26. Oktober 1950 zu Vg Hv 238/50 (Vg 1h Vr 2068/49), S. 11. 192 Bestätigung des Paul H. Gantt, Director special Projects Division, Office of Chief Counsil for War Crimes, vom 15. November 1948 und Schreiben des Paul H. Gantt vom 20. Juli 1949, Gerichtsakt des Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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Der Strafprozess und die Begnadigungen

u.a. mit dem Hinweis auf die Eigenschaft der im Zusammenwirken mit der Bundesregierung in der Verbotszeit durchgeführten „Aktion Reinthaller“ als Befriedungsaktion in Abrede gestellt. Die Tätigkeit im Rahmen dieser Aktion stellt keine Betätigung für die NSDAP dar, zumal zur nationalen Opposition auch Landbündler und Mitglieder der Großdeutschen Volkspartei zählten.193 Dabei wird auch auf die erfolgten Freisprüche zweier ehemaliger Mitarbeiter Reinthallers194 verwiesen. Die Verteidiger erheben auch eine Vielzahl von Zeugen und holen Erklärungen über Reinthaller und dessen Wirken ein. Vom ehemaligen, bis 13. März 1938 tätigen Sicherheitsdirektor von Oberösterreich, Peter Revertera-Salandra, wird bestätigt, dass Reinthaller zur Gruppe jener österreichischen Nationalsozialisten zählte, die Terror ablehnten, dass er im Gegensatz zum damaligen Landesleiter Habicht und anderen radikalen Parteiführern stand und sich um eine friedliche Lösung bemühte.195 Auch im Zuge der NS-Machtergreifung und danach hat Reinthaller sich um die Eigenständigkeit Österreichs bemüht. Er führt zudem aus, dass Reinthaller nach der NS-Machtergreifung gegen jeden Terror gegenüber Anhängern der früheren österreichischen Bundesregierung aufgetreten ist, und auch bei ihm nach Kräften jede Verfolgung gehindert hat. Weiters berichtet er, dass Reinthaller ihn ungeachtet der Nichtmitgliedschaft zur NSDAP als Gaujägermeister vorgeschlagen hat, was aber von radikalen Parteielementen verhindert worden sei. Auch der bereits vor der NS-Machtergreifung in dieser Funktion tätige oberösterreichische Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner196 attestiert Reinthaller, dass dieser ein entschiedener Gegner von Gewaltmethoden war.197 Während der Haft Gleißners in Dachau hat Reinthaller dessen Frau geholfen, ihn freizubekommen. Ebenso hat Reinthaller sich bei der zweiten Verhaftung Gleiß193 Eingabe des Verteidigers RA Dr. Karl Günther vom 06. August 1949, Pkt. 2, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 194 Ing. Hugo Bohrn vor dem Volksgericht Linz zu Vg 8 Vr 2638/46 und Paul Krennwallner vor dem Volksgericht Linz mit Urteil vom 14.03.1949. 195 Eidesstättige Erklärung des Peter Revertera-Salandra vom 10. Mai 1948 im Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 196 Gleißner, Heinrich, geboren am 26.01.1893 Linz (Oberösterreich), gestorben am 18.01.1984 ebenda, Jurist und Politiker (ÖVP). 1930 Direktor der oberösterreichischen Landwirtschaftskammer, 1933/34 Staatssekretär im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, 1934–1938 und 1945–1971 Landeshauptmann von Oberösterreich; 1939–1940 inhaftiert im KZ Dachau und im KZ Buchenwald, 1951 Kandidat der ÖVP bei der Bundespräsidentenwahl. Er führte Oberösterreich aus der schwierigen Nachkriegs- und Besatzungszeit (Ausgleich zwischen amerikanischer und sowjetischer Besatzungsmacht), trug erfolgreich zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufbau Oberösterreichs bei und förderte den Strukturwandel Oberösterreichs vom Agrarzum Industrieland. 197 Eidesstättige Erklärung des Dr. Heinrich Gleißner vom 29. Mai 1948 im Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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ners und dessen Einlieferung in das KZ Buchenwald bemüht, seine Verbindungen für eine neuerliche Freilassung einzusetzen. Gleißner berichtet von weiteren Fällen, in denen Reinthaller sich politischen Gegnern gegenüber anständig, menschlich und hilfsbereit benommen hat, und daß er in Oberösterreich im Ruf eines anständigen, Gewalt verabscheuenden Menschen steht. Seine Heimatgemeinde Mettmach attestiert Reinthaller, dass er einen guten Leumund besitzt, in der Gemeinde sehr beliebt ist und während der NS-Zeit niemanden geschädigt hat.198 Sogar die Kommunistische Partei, Ortsgruppe Attersee, bestätigt, dass über Reinthaller nichts Nachteiliges bekannt ist und er sich seinen Mitmenschen gegenüber nichts zu Schulden kommen ließ.199 Als Mitglied der NSDAP sei er als Idealist anzusehen. Schließlich bestätigt auch die KPÖ, dass Reinthaller so manchen kleinen Leuten Hilfe angedeihen ließ. Auch Sozialdemokraten schätzen Reinthaller als Idealisten ein, der gegen Radikalismen auftrat und mit Menschen über Parteigrenzen hinweg ein gutes Einvernehmen hatte.200 Die Katholische Kirche erklärt, dass Reinthaller das Handeln des Ing. Meissel gebilligt hat, der Versuche aus der NS-Bauernschaft zur Aneignung von Agrareigentum der Kirche abwehrte.201 Reinthaller blieb im Übrigen auch immer Mitglied der Katholischen Kirche.202 Der Pfarrer in Attersee attestiert Reinthaller ein anständiges und einwandfreies Leben.203 Aus dem Landwirtschaftsministerium wird über die Sachlichkeit und Objektivität Reinthallers berichtet. Zudem wird hervorgehoben, dass Reinthaller nicht nachtragend war. Nachdem er – sichtlich politisch motiviert – von seinem Dienst für das Ministerium unter Mitwirkung eines Fachschaftsleiters der Vaterländischen Front, Ministerialrat (MR) Dr. Rudolf Saar, entlassen worden war, wurde er Landwirtschaftsminister, hat aber als solcher gegen MR Dr. Saar keine 198 Bescheinigung des Gemeindeamts Mettmach vom 14. Mai 1950. 199 Schreiben des Mathias Renner, KPÖ, Ortsgruppe Attersee, vom 17. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, unter Hinweis darauf, dass die KPÖ sich nur von rein sachlichen Momenten leiten lasse und jeden gewissenhaft nach dem Charakter beurteile. 200 Eidesstättige Erklärung des Eduard Hlouschek, Bezirksvertrauensmann der Sozialistischen Partei Österreichs im Bezirk Vöcklabruck, vom 07. Juli 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. In diesem Sinne auch die Eidesstättige Erklärung von Rudolf Kremslehner, Hotelier, Hotel Regina, Wien 9, vom 10. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 201 Schreiben des erzbischöflichen Sekretariats vom 12. August 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 202 Bescheinigung des Pfarrers Josef Tischberger, Pfarramt Mettmach, vom 12. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 203 Wohlverhaltenszeugnis des Pfarrer Josef Schauer vom 10. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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Der Strafprozess und die Begnadigungen

Maßnahmen gesetzt.204 Reinthaller hat weiters mehreren Beamten, die wegen „politischer Belastung“ aus dem Dienst entfernt werden sollten, geholfen, ihre Stellung zu behalten205, so MR Felix Wilfort, der unter Kürzung der Ruhebezüge zwangspensioniert werden sollte.206 Auch hat Reinthaller einem ehemaligen Polizeikommissar nach dessen wegen Zugehörigkeit zur Vaterländischen Front erfolgten Entlassung aus dem Staatsdienst einen Posten verschafft.207 Ein ehemaliger Mitarbeiter Reinthallers im Reichsnährstand, nach eigenen Angaben nicht NS-Mitglied, teilt mit, dass Reinthaller politisch Andersdenkenden nie Schwierigkeiten bereitete und seine Mitarbeiter nur nach deren persönlicher Leistung beurteilte.208 Ein weiterer bestätigt unabhängig davon, dass Reinthaller als Landesbauernführer und dessen Vorgesetzter sein Amt unbeeinflusst von Parteistellen nur sachlich zur Sicherung des Bauernstandes und der Ernährung ausübte und Mittel an alle Personen nach sachlichen Kriterien ungeachtet der Parteizugehörigkeit vergeben hat.209 Reinthaller hatte sichtlich auch eine soziale Ader und sorgte in seinem Wirkungsbereich für angemessene Entlohnung.210 Generell wird ihm seine Hilfsbereitschaft für wirtschaftlich Schwächere angerechnet.211 So half er etwa auch einem Mühlbetreiber, dem man als Nichtmitglied der NSDAP seine Mühle schließen wollte, gegen diese Vernichtung der Existenzgrundlage212, wie auch einer Bäuerin, die 204 Schreiben des Sektionschefs Dr. Reichmann, Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, vom 19. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 205 Etwa im Fall Maria Zuleger, Wanderlehrerin der NÖ Landwirtschaftskammer, Christlichsoziale (Eidesstättige Erklärung der Maria Zuleger vom 10. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv). 206 Schreiben des MR Felix Wilfort vom 13. Mai 1948, OÖ Landesarchiv. 207 Schreiben des Bezirkshauptmanns a.D. Dr. Alfred Schmid, Landes-Regierungsrat im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, vom 07. Juni 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 208 Eidesstattliche Erklärung des Franz Zaininger, Leiter der OÖ Warenverkehrsstelle, vom 10. Juni 1940, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 209 Erklärung des Ing. Heinz Pitter, Abteilungsleiter für Tierzucht der Landesbauernschaft Niederdonau a.D., vom 03. Juli 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 210 Eidesstättige Erklärung des Franz Ernstbrunner, Portier der NÖ Landwirtschaftskammer, vom 21. Juni 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, über die Handlungen Reinthallers als Landesbauernführer bei der Leitung der NÖ Landwirtschaftskammer. 211 Wohlverhaltenszeugnis des Pfarrers Josef Schauer, Attersee, vom 10. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 212 Eidesstattliche Erklärung der Lina Weber, Witwe des Vincenz Weber, Betreiber der Walzmühle in Herzogenburg, Wielandstal, NÖ, vom 24. August 1948. Ähnlich die Eidesstättige Erklärung des

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„wehrzersetzende Äußerungen“ getätigt hatte, um den Verlust ihres Hofes zu verhindern213. Auch der Witwe eines jüdischen Offiziers hat Reinthaller zu einer Gnadenpension verholfen und öffentlich mit ihr Umgang gepflogen.214 Die Verteidigung versteht unter Berufung auf eine Reihe von Zeugen herauszuarbeiten, dass die SS-Mitgliedschaft und die SS-Ränge aufgrund einer Vereinbarung zwischen Reichsführer Heinrich Himmler und Reichsminister Walter Darré an höhere Funktionäre des Reichsnährstandes ehrenhalber verliehen wurden, ohne dass damit ein Dienst oder Befehlsgewalt verbunden gewesen wäre, sodass damit keine SS-Angehörigkeit begründet wurde.215 4.3.2.2 Zum Anschlussgesetz

Dass durch Unterfertigung des Bundesverfassungsgesetzes vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich das Delikt des Hochverrats verwirklicht worden sei, wird von der Verteidigung bestritten. Dabei wird argumentiert, dass dadurch nicht auf eine zur Strafbarkeit erforderliche, gewaltsame Änderung der Regierungsform abgezielt wurde, weil nach diesem Gesetz letztlich eine Volksabstimmung über den Beitritt entscheiden sollte, und dass dieses Gesetz verfassungsgemäß zustande gekommen und damit nicht als rechtswidrig einzustufen ist.216 In diesem Zusammenhang legt die Verteidigung auch ein Rechtsgutachten des RA Dr. habil Hans Merkel217 vor. Dieser vertritt die Meinung, dass Österreich im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses aufgrund des vorangegangenen deutschen Einmarsches nicht mehr als selbständiger Staat im völkerrechtlichen Sinn existiert hat, weil die kumulativen staatsrechtlichen Elemente des Staatsgebietes, des Staatsvolkes und der Staatsgewalt nicht mehr gegeben waren. Das Gesetz habe damit nichts bewirken können, um die Regierungsform zu ändern. Die Verteidigung wendet zudem Josef Sanz, Kaufmann, vom 12. Mai 1948. Jeweils Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, ÖO Landesarchiv. 213 Eidesstättige Erklärung des Franz Berger und der Franziska Berger vom 06. Februar 1947, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 214 Eidesstättige Erklärung der Henriette Weiner vom 18. Mai 1948, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 215 Eingabe des Verteidigers RA Dr. Karl Günther vom 06. August 1949, Pkt. 1, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, unter Vorlage von Unterlagen der amerikanischen Militärbehörden. 216 Eingabe des Verteidigers RA Dr. Karl Günther vom 09. Juli 1949, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 217 Gutachten von Rechtsanwalt Dr. habil. Hans Merkel im Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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die Aussichtslosigkeit und die Gefahr ein, die es bedeutet hätte, sich Hitlers Wunsch nach dem Anschlussgesetz zu widersetzen.218 Die Rechtmäßigkeit des Anschlussgesetzes ist gegeben, weil es auf Grundlage der Verfassung 1934 erlassen wurde. Die Regierung Dollfuß hatte nach der „Selbstausschaltung“ des Parlaments am 04. März 1933 und Verhinderung des für den 15. März 1933 geplanten Wiederzusammentretens des Nationalrats eine neue Staatsordnung geschaffen, den Bundesstaat Österreich, indem sie nach den Bürgerkriegsereignissen des Februar 1934 zunächst am 24. April 1934 eine neue Verfassung in Kraft setzte und zum Schein der Rechtskontinuität von dem um die sozialdemokratischen Mandatare dezimierten Rumpfparlament das Bundesverfassungsgesetz über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung vom 30. April 1934219 beschließen ließ, wodurch die Bundesverfassung 1920 aufgehoben und Nationalrat und Bundesrat aufgelöst wurden.220 Die Bundesregierung wurde damit sowohl zur einfachen Gesetzgebung als auch zur Verfassungsgesetzgebung sowie zur Wiederverlautbarung der Verfassung 1934 ermächtigt.221 Die auf Basis des Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung vom 30. April 1934 kundgemachte Verfassung 1934222 sah eigentlich eine Bundesgesetzgebung durch einen 218 Eingabe des Verteidigers RA Dr. Karl Günther vom 06. August 1949, Pkt. 3, Gerichtsakt des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 219 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich 1934/255. 220 Rudolf Hoke, Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, Wien Köln Weimar 1992, 474. Zu den Grundsätzen der Gesamtverfassung 1934 siehe Georg Froehlich, Die Verfassung 1934 des Bundesstaats Österreich, Baden bei Wien, Leipzig, Brünn, Prag 1936, 30ff. 221 BGBl 1934/255, Artikel III: „(1) Der Nationalrat und der Bundesrat sind mit dem auf die Verlautbarung der Verfassung 1934 (Artikel II) folgenden Tag aufgelöst. Mit diesem Tage sind die Funktionen des Nationalrates und des Bundesrates erloschen. (2) Alle dem Nationalrat oder dem Bundesrat oder einem ihrer Ausschüsse oder Organe auf Grund des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 oder eines anderen Gesetzes zustehenden Befugnisse, insbesondere die Zuständigkeit zur Gesetzgebung des Bundes einschließlich der Verfassungsgesetzgebung sowie die Zuständigkeit zu den im Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 vorgesehenen Akten der Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes, werden auf die Bundesregierung übertragen. Die Bundesregierung ist insbesondere auch befugt, den Übergang zu der durch die Verfassung 1934 geschaffenen Neuordnung gemäß Artikel 182 Absatz 1, der Verfassung 1934 zu regeln und gemäß Artikel 182, Absatz 2, dieser Verfassung den Zeitpunkt des Beginns der Wirksamkeit der Verfassung 1934 zu bestimmen.“ BGBl 1934/1 – Verfassung 1934, Artikel 182: „(1) Der Übergang zu der durch diese Verfassung geschaffenen Neuordnung wird durch ein besonderes Bundesverfassungsgesetz geregelt (Bundesverfassungsgesetz, betreffend den Übergang zur ständischen Verfassung). (2) Der Beginn der Wirksamkeit der Bestimmungen dieser Verfassung wird durch das Bundesverfassungsgesetz, betreffend den Übergang zur ständischen Verfassung, bestimmt.“ 222 Auf Basis des Artikels II des Bundesverfassungsgesetz vom 30. April 1934 über außerordentliche

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Bundestag als gesetzgebender Instanz vor, in den von der Bundesregierung nach Beratung mit vier vorberatenden Organen223 Gesetzesvorschläge einzubringen waren, wobei diese Gesetzesvorschläge der Bundesregierung nur unverändert angenommen oder abgelehnt werden konnten224. Diese Normsetzung wurde aber so wie ein Großteil der Verfassung 1934 nicht Wirklichkeit, weil durch das Verfassungs-Übergangsgesetz vom 19. Juni 1934225 das Bundesverfassungsgesetz über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung vom 30. April 1934 in Kraft belassen wurde226, sodass die gesamte Gesetzgebung, die einfache Gesetzgebung sowie die Verfassungsgesetzgebung, weiterhin durch die Bundesregierung erfolgte.227 Da das Anschlussgesetz von der Bundesregierung beschlossen und ordnungsgemäß kundgemacht wurde, war damit nach der damals geltenden Verfassungsordnung ordnungsgemäß Recht geschaffen.228 Maßnahmen im Bereich der Verfassung, Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich 1934/255, erfolgte Kundmachung der Bundesregierung vom 01. Mai 1934, womit die Verfassung 1934 verlautbart wird, Bundesgesetzblatt für den Bundesstaat Österreich 1934/1. 223 Staatsrat, Bundeskulturrat, Bundeswirtschaftsrat und Länderrat. 224 Artikel 62 Abs. 3 der Verfassung 1934. Zum Gesetzgebungsverfahren nach der Verfassung 1934 siehe Wolfgang Putschek, Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933– 1938, Wien 1993, 169ff. 225 Bundesverfassungsgesetz vom 19. Juni 1934, betreffend den Übergang zur ständischen Verfassung (Verfassungsübergangsgesetz 1934), BGBl für den Bundesstaat Österreich 1934/75. Dazu Otto Ender, Die Übergangsbestimmungen zur neuen österreichischen Verfassung, Wien Leipzig 1934. Ender war der Redakteur der Verfassung 1934 (Helmut Wohnout, Die Verfassung 1934 im Widerstreit der unterschiedlichen Kräfte im Regierungslager, in: Ilse Reiter-Zatloukal/Christiane Rothländer/Pia Schölnberger (Hrsg.), Österreich 1933–1938, Wien Köln Weimar 2012, 25). 226 § 56 Abs. 3 Verfassungsübergangsgesetz 1934, BGBl für den Bundesstaat Österreich 1934/75. Außerdem wurde mit § 23 Verfassungsübergangsgesetz 1934 die Amtsdauer des amtierenden Bundespräsidenten Wilhelm Miklas verlängert. 227 Rudolf Hoke, Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, Wien, Köln, Weimar 1992, 476. Die Bundesregierung hatte allerdings nach dem Verfassungsübergangsgesetz die – völlig freie – Wahl, ein Gesetz oder Verfassungsgesetz entweder selbst zu erlassen oder ein Gesetz in dem Gesetzgebungsverfahren der Verfassung 1934 zu erlassen (dazu und zum Umfang der Ausübung dieser nach gänzlich freiem Ermessen auszuübenden Wahlmöglichkeit: Wolfgang Putschek, Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933–1938, 191f; Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935, 134). 228 Die zur Beurkundung vorgesehene Gegenzeichnung durch den Bundespräsidenten war nicht erforderlich, weil der Amtsinhaber Miklas sich verhindert erklärt hatte und damit vom Bundeskanzler selbst vertreten wurde (§ 77 der Verfassung vom 01. Mai 1934, kundgemacht im BGBl für den Bundesstaat Österreich 1934/1 auf Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes vom 30. April 1934 über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung, BGBl für die Republik Österreich 1934/255), siehe FN 38. Außerdem war das Gesetz schon mit der Beschlussfassung der Bundesregierung wirksam erlassen und die Gegenzeichnung diente nur dessen Beurkundung.

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Das gegen das Wirken auf eine gewaltsame Änderung der Regierungsform verwendete Argument der im Anschlussgesetz vorgesehenen Volksabstimmung erscheint angesichts des seitens der deutschen Führung ausgeübten Drucks fraglich. Das Gesetz selbst lässt jedenfalls eine Anschlusstendenz klar erkennen, wenn bereits in dessen Artikel 1 vorweg Österreich als Land des Deutschen Reiches statuiert wird229. Die Frage, ob der Staat Österreich im Zeitpunkt der Erlassung des Anschlussgesetzes noch existiert hat, ist völkerrechtlich schwierig zu beantworten. Für die Erfüllung des Straftatbestands des § 8 KVG kommt es darauf an, ob dadurch noch die Vorbereitung oder Förderung der NS-Machtergreifung erfolgen konnte. Dies erscheint angesichts der in diesem Zeitpunkt bereits geschaffenen Fakten sehr zweifelhaft und hätte damit zugunsten des Angeklagten ausschlagen müssen. Eine Vorbereitung wird bei dem in diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschrittenen Stadium des Anschlusses jedenfalls nicht gesehen werden können. Der Begriff Förderung beinhaltet keine entscheidende Kausalität, aber doch einen bestimmten Effekt für die Machtergreifung230, der nicht ersichtlich ist. Von den Gerichten wurde diese Frage unterschiedlich beurteilt. Konstatiert werden kann aber jedenfalls, dass die Mitwirkung am Anschlussgesetz im Zeitpunkt des Erlassens dieses Gesetzes nicht strafbar war, sondern eine Bestrafung dieser Handlung in abstracto nur bei Anwendung einer rückwirkenden Strafbestimmung möglich war, in concreto bei Anwendung des § 8 KVG, womit ohne Unterschied alles nachträglich bestraft werden konnte, was die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zugunsten der NSDAP vorbereitete oder förderte, oder was die Machtergreifung durch die NSDAP vorbereitete oder förderte. Denn im Zeitpunkt des Anschlussgesetzes galt die Strafbestimmung des § 58 StG – Hochverrat. Diese Strafbestimmung konnte so wie jede andere Strafbestimmung keine Strafbarkeit bewirken für ein Handeln, das von dem sich aus deren Regelungsgegenstand und Regelungszweck ergebenden Anwendungsbereich der Strafbestimmung nicht erfasst und daher im Allgemeinen rechtmäßig ist. Ebensowenig konnte diese 229 Siehe FN 37 mit dem Gesetzestext des österreichischen Wiedervereinigungsgesetzes und des korrespondierenden deutschen Reichsgesetzes. 230 Siehe Unterstaatssekretär Dr. Ferdinand Nagl (ÖVP): „Durch diese Bestimmung sollen alle jene getroffen werden, die in der Zeit vor der Machtergreifung alles vorbereitet haben, damit der Nazismus die Macht an sich reißen kann. […] Durch die Textierung dieses Paragraphen ,in führender oder doch einflußreicher Stellung etwas unternommen hat, das die gewaltsame Änderung der Regierungsform vorbereitete oder förderte‘ sollen alle die Politiker getroffen werden, die vor der Machtergreifung in einflußreicher Stellung waren, und die Machtergreifung überhaupt ermöglichten.“ (Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945 in Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 –„… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 261 und 262 [Hervorhebung im Kursivdruck durch den Autor]).

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Strafbestimmung eine Strafbarkeit bewirken für ein Handeln, das zwar von ihrem Anwendungsbereich umfasst, aber im Einzelfall nicht rechtswidrig, sondern durch Rechtsvorschriften gerechtfertigt ist.231 Zum einen kann sich aus der Abgrenzung des Anwendungsbereichs einer Strafbestimmung ergeben, dass bestimmte Handlungen davon nicht umfasst sind. Zum anderen kann sich aus dem systematischen Zusammenhang zwischen einer Strafbestimmung und anderen Rechtsvorschriften sowie aus dem Zweck der Strafbestimmung ergeben, dass eine Handlung zwar generell-abstrakt nach der Strafbestimmung verboten ist, aber unter bestimmten individuell-konkreten Umständen im Einzelfall gerechtfertigt sein kann.232 Dabei sind immer die von einer Strafbestimmung geschützten ideellen Werte (Rechtsgüter) zu berücksichtigen.233 Mit dem Delikt des Hochverrats nach § 58 StG 1852 wurden verboten jede Handlung gegen die Regierungsform oder gegen die Verfassung, die auf eine gewaltsame Änderung der Regierungsform oder der Verfassung gerichtet ist (ein Angriff gegen die Regierung oder die Verfassung – Verfassungshochverrat), jede Handlung gegen das Staatsgebiet, die auf die Losreißung eines Teiles desselben gerichtet ist (Gebietshochverrat), jede Handlung gegen die äußere Sicherheit des Staates durch die Herbeiführung oder Vergrößerung einer Gefahr für den Staat von außen und jede 231 Dazu folgender Überblick über die strafrechtliche Terminologie (in Orientierung an Diethelm Kienapfl, Grundriß des österreichischen Strafrechts – Allgemeiner Teil, Wien, 5. Auflage 1994, Z 3 – Z 6): Der Tatbestand ist die gesetzliche Beschreibung eines strafrechtlich verbotenen Verhaltens. Delikt (auch „strafbare Handlung“) ist die gesetzliche Beschreibung eines strafrechtlich verbotenen Verhaltens einschließlich der Strafdrohung (Delikt = Tatbestand + Strafdrohung). Rechtsgüter sind strafrechtlich geschützte Werte, Einrichtungen und Zustände, die einen soziologischen Stellenwert haben; das Rechtsgut bezeichnet den hinter einem bestimmten Delikt stehenden ideellen Wert. Es gibt Individualrechtsgüter als Rechtsgüter des Einzelnen (z.B. Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Privatsphäre, Ehre, Eigentum, Vermögen) und Universalrechtsgüter als Rechtsgüter der Allgemeinheit (z.B. Rechtspflege, Staatsgewalt, öffentlicher Friede, Funktionieren staatlicher Einrichtungen, pflichtgetreue Amtsausübung und Unbestechlichkeit, Sicherheit des Geldverkehrs, Sittlichkeit, Religionsausübung und Respekt vor einem religiösen Glauben). Das davon zu unterscheidende Tatobjekt (Deliktsobjekt, Angriffsobjekt, Handlungsobjekt) ist eine Person oder ein Gegenstand, auf die/auf den der Angriff auf ein geschütztes Rechtsgut sich faktisch auswirkt. Das Rechtsgut ist ein wesentlicher Orientierungspunkt für die Auslegung eines strafrechtlichen Tatbestands. 232 Unrecht ist eine Handlung, die gegen die Rechtsordnung als Ganzes verstößt. Unrecht ist nach Rechtsgebieten spezifizierbar; es gibt daher spezifisch strafrechtliches Unrecht. Tatbestand ist die gesetzliche Beschreibung einer Handlung, die (generell betrachtet) staatliches Unrecht ist. Rechtfertigungsgründe beschreiben die Voraussetzungen, unter denen tatbestandsmäßige Handlungen bei bestimmten individuellen Umständen dennoch von der Rechtsordnung gebilligt werden. (Diethelm Kienapfl, Grundriß des österreichischen Strafrechts – Allgemeiner Teil, Wien, 5. Auflage 1994, Z 5 – Grundbegriffe 3, Rz 1 und 2). 233 Diethelm Kienapfl, Grundriß des österreichischen Strafrechts – Allgemeiner Teil, Wien, 5. Auflage 1994, Z 4 – Grundbegriffe 2, Rz 4.

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Handlung gegen die innere Sicherheit des Staates, die auf die Herbeiführung oder Vergrößerung einer Empörung oder eines Bürgerkriegs im Inneren angelegt ist.234 Es ist im Teilbereich des Verfassungshochverrats und Gebietshochverrats gleich dem Delikt des Hochverrats nach § 242235 des geltenden StGB.236 § 58 StG enthielt eine exemplifizierende Aufzählung von Ausführungshandlungen, aber keine Einschränkung auf bestimmte Handlungen. Verboten war damit jede Handlung, mit der auf eine gewaltsame Änderung der Verfassung oder der Regierungsform, auf eine Verringerung des Staatsgebiets oder auf die Herbeiführung oder Vergrößerung einer Gefahr für die innere oder äußere Sicherheit abgezielt wird.237 Der Eintritt eines solchen Er234 Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag, Wien, Leipzig 1894, 314. Bei der Bestrafung wurde differenziert zwischen Urhebern, Anstiftern und Rädelsführern einerseits und sonstigen Mitwirkenden andererseits (§ 59 StG). Strafbar waren auch bestimmte Handlungen, womit ein hochverräterisches Unterfangen öffentlich propagiert wurde (§ 59 lit. c. StG; vgl. dazu nunmehr generell § 281 StGB idgF – Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze – und § 282 StGB idgF – Aufforderung zu und Gutheißung von mit Strafe bedrohten Handlungen [RV 30 BlgNR XIII. GP 384]). Gesonderte Delikte waren das Unterlassen einer möglichen Verhinderung einer hochverräterischen Aktion (§ 60 StG) und das Unterlassen der Anzeige einer hochverräterischen Aktion durch jemanden, der Kenntnis davon erlangt hatte (§ 61 StG), sofern eine Verhinderung oder eine Anzeige ohne Gefahr für sich oder bestimmte nahestehende Personen möglich war (zu § 61 StG vgl. § 212 StG und nunmehr generell § 286 StGB idgF – Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung [RV 30 BlgNR XIII. GP 384]). 235 Vormals § 249 StGB 1974. 236 RV 30 BlgNR XIII. GP 381f; Bernd Wieser, Der Begriff „Verfassung“ in § 242 StGB (Hochverrat), Österreichische Juristenzeitung 1989, 354 Pkt. II. Die anderen Tatbestände des § 58 StG mit Handlungen, die angelegt sind auf die Herbeiführung oder Vergrößerung einer Gefahr für die innere oder äußere Sicherheit, werden heute nicht mehr der Strafbestimmung des Hochverrats zugeordnet, sondern mit anderen Strafbestimmungen pönalisiert. Die früher in § 58 lit. c. StG erfassten Handlungen gegen die innere Sicherheit des Staates sind heute als strafbare Handlung in Beziehung auf staatsfeindliche Verbindungen oder als Herabwürdigung des Staates und seiner Symbole, als Angriff auf oberste Staatsorgane, Anstiftung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch, Verbreitung falscher beunruhigender Gerüchte, Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze, Aufforderung zu mit Strafe bedrohten Handlungen und Gutheißung solcher Handlungen oder Verhetzung erfasst (RV 30 BlgNR XIII. GP 383). Das Äquivalent für die früher in § 58 lit. c. erfassten Handlungen gegen die äußere Sicherheit sind die heutigen strafbaren Handlungen der Vorbereitung eines Hochverrats im Zusammenwirken mit einer ausländischen Macht sowie des Landesverrats und da insbesondere der Begünstigung feindlicher Streitkräfte (RV 30 BlgNR XIII. GP 383). Die durch § 5 des Gesetzes vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, StGBl. 1918/5, ersatzlos aufgehobene Bestimmung des § 58 lit. a StG hatte Angriffe gegen die Person des Kaisers (an Körper, Gesundheit oder Freiheit) sowie die Verhinderung der Ausübung seiner Regierungsrechte als Hochverrat pönalisiert. An deren Stelle ist nun die Deliktsgruppe der Angriffe auf oberste Staatsorgane (§§ 249–251 StGB) getreten (RV 30 BlgNR XIII. GP 382). 237 Demnach ist Hochverrat der rechtswidrige Angriff auf das Dasein des Staats. Mit der Strafbestimmung des Hochverrats werden die Verfassung und die Gebietssouveränität des Staates jeweils als

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gebnisses einer dieser Handlungen ist für die Strafbarkeit nicht erforderlich.238 Dieses Delikt war damals wie heute ein Unternehmensdelikt.239 Demnach war bereits der Versuch einer solchen gewaltsamen Änderung, Verringerung oder Herbeiführung oder Vergrößerung der Gefahr eine vollendete strafbare Handlung.240 Der Hochverrat ist der Kategorie der Staatsschutzdelikte zuzuordnen, die fester Bestandteil aller Strafrechtsordnungen sind.241 Als Verfassungshochverrat strafbar sind Handlungen, womit darauf abgezielt wird, gewaltsam die gesamte Verfassung oder grundlegende Rechtsgut geschützt, Tatobjekt (Angriffsobjekt) ist die Organisation der Staatsgewalt oder die Staatsführung oder das Staatsgebiet oder Teile davon (Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265). 238 Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag, Wien, Leipzig 1894, 314. 239 RV 30 BlgNR XIII. GP 383; Christian Bertel/Klaus Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil II, Wien, New York, 2. Auflage 1994, §§ 242–245 Rz 6. Strafrechtlich erfasst ist das Unternehmen eines Hochverrats als konkrete Aktion, die ab dem dazu gefassten Entschluss besteht, der nach Ort, Zeit, Gegenstand und Methode konkretisiert ist (Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265 (267)). Als Beispiele der damaligen Zeit aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs führt Rittler an den Beginn der Besetzung einer Kaserne oder eines Pulverdepots zum Zweck eines Umsturzes, die vom hochverräterischen Vorsatz getragene Teilnahme an einer aufrührerischen Zusammenrottung im Februar 1934 und die Herstellung einer Funkanlage zur Einleitung des Juli-Putsches 1934. 240 Tätigkeitsdelikte beinhalten eine bestimmte Handlung, ein Tun oder ein Unterlassen als Nichtvornahme eines bestimmten gebotenen Tuns und sind bereits mit der davon umfassten Handlung vollendet, ohne dass für die Strafbarkeit eine bestimmte Auswirkung erforderlich ist (z. B. Unterschlagung, Hehlerei, Blutschande (Inzest), falsche Beweisaussage vor Gericht, unterlassene Hilfeleistung). Bei den Erfolgsdelikten (besser, weil nach allgemeinem Adressatenhorizont unmissverständlicher: „Ergebnisdelikte“) ist die Herbeiführung eines bestimmten Ergebnisses strafbar, sodass die Deliktsvollendung erst mit diesem Ergebnis (z. B. Tötung, Körperverletzung, Freiheitsentzug, Beleidigung, Vermögensschaden, Förderung eines Vorgangs oder des Eintritts eines Umstands) eintritt. Bei diesen Ergebnisdelikten ist in dem Stadium vor der Herbeiführung des Ergebnisses ein strafbarer Versuch möglich, in dem der Vorsatz des Täters auf die Herbeiführung des verbotenen Ergebnisses gerichtet ist; das Versuchsstadium beginnt mit einer der Tatausführung unmittelbar vorangehenden Handlung. Bei Unternehmensdelikten wird der Versuch zur vollendeten Tat erklärt. Der Hintergrund besteht darin, dass damit die Regeln über einen strafbefreienden freiwilligen Rücktritt vom Versuch und eine Strafmilderung aus dem Umstand, dass eine Tat nicht vollendet, sondern nur versucht ist, ausgeschlossen werden (Diethelm Kienapfl, Grundriß des österreichischen Strafrechts – Allgemeiner Teil, Wien, 5. Auflage 1994, Z 21 – Vorbereitung, Versuch und Vollendung, Rz 9b). Mit einem Unternehmensdelikt werden somit insbesondere Handlungen erfasst, die als besonders unerwünscht oder gefährlich eingestuft werden (Bernd Wieser, Der Begriff „Verfassung“ in § 242 StGB (Hochverrat), Österreichische Juristenzeitung 1989, 354 Pkt. I). Damit kann auch die strafrechtliche Abwehr möglichst bald einsetzen (Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265 (266)). Nach geltendem Recht ist darüber hinaus bereits die Vorbereitung eines Hochverrats unter Strafe gestellt (§ 244 StGB). 241 Christian Bertel/Klaus Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil II, Wien, New York, 2. Auflage 1994, §§ 242–245 Rz 1.

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Teilbereiche oder auf ihr basierende Verfassungseinrichtungen (staatliche Einrichtungen) auf Dauer außer Kraft zu setzen oder grundlegend umzugestalten.242 Das Delikt des Verfassungshochverrats wird im Wesentlichen damit begangen, dass ein faktischer Zustand herbeigeführt werden soll, in dem die Verfassungsgrundsätze keine Gültigkeit mehr haben.243 Als Gebietshochverrat strafbar ist eine Handlung, womit die gewaltsame Abtrennung eines zum Staat gehörenden Gebiets bezweckt wird.244 Das Delikt des Hochverrats ist mit dem Bewirken eines solchen Zustands beendet.245 Damit ergibt sich, dass das mit der Strafbestimmung des Hochverrats geschützte Rechtsgut die verfassungsmäßige staatliche Ordnung ist.246 Verboten werden damit nur Änderungen der staatlichen Ordnung, die nicht der Verfassung entsprechen und deshalb rechtswidrig sind247. Erlaubt sind damit Änderungen, die auf die in der Verfassung vorgesehene Art und Weise zustande kommen.248 Wenn die Mitglieder der 242 Christian Bertel/Klaus Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil II, Wien, New York, 2. Auflage 1994, §§ 242–245 Rz 2. Geschützt sind auch Teilbereiche der Verfassung, die für die staatliche Ordnung und das politische Leben wesentlich sind, und fundamentale Staatseinrichtungen (zur Konkretisierung dieser Begriffe siehe Bernd Wieser, Der Begriff „Verfassung“ in § 242 StGB (Hochverrat), Österreichische Juristenzeitung 1989, 354 Pkt. III und IV. 243 Christian Bertel/Klaus Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil II, Wien, New York, 2. Auflage 1994, §§ 242–245 Rz 3. 244 Christian Bertel/Klaus Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht – Besonderer Teil II, Wien, New York, 2. Auflage 1994, §§ 242–245 Rz 4. 245 Im Regelfall kann aber nur missglückter Hochverrat geahndet werden (Bernd Wieser, Der Begriff „Verfassung“ in § 242 StGB (Hochverrat), Österreichische Juristenzeitung 1989, 354 Pkt. I). Dazu Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265 (266): „Denn als Hochverrat beurteilt wird immer nur das mißglückte Unternehmen. Hat es dagegen zum Ziel geführt, ist es aller Strafbarkeit entrückt. Mit der Vernichtung des Staates in seiner alten Gestalt wird es ex post gewissermaßen legalisiert.“ Damit übereinstimmend die Regierungsvorlage zum StGB 1974 (RV 30 BlgNR XIII. GP 383). 246 Es ist keine Voraussetzung der Strafbarkeit, dass die alte Verfassungsordnung durch eine neue Verfassung ersetzt werden soll oder wird. Strafbar ist bereits das Unternehmen zur Herbeiführung von faktischen Machtzuständen, die der Verfassung in grundlegenden Teilbereichen widersprechen (Bernd Wieser, Der Begriff „Verfassung“ in § 242 StGB (Hochverrat), Österreichische Juristenzeitung 1989, 354 Pkt. IX.). 247 Nach der damals herrschenden Auffassung war mit dem in § 58 StG verwendeten Begriff der gewaltsamen Änderung eine rechtswidrige Änderung gemeint (Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265 (266); Bernd Wieser, Der Begriff „Verfassung“ in § 242 StGB (Hochverrat), Österreichische Juristenzeitung 1989, 354 Pkt. II FN 16; RV 30 BlgNR XIII. GP 383). 248 Dazu Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265 (266): „Ein strafbarer Hochverrat besteht nur, wenn die Wege des Rechts verlassen werden. Wer aber auf verfassungsmäßige Weise mit den Mitteln, welche die geltende Rechtsordnung bereitstellt, eine Änderung im Staatswesen anstrebt, ist niemals Hochverräter,

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österreichischen Bundesregierung ihren verfassungsmäßigen Rechten entsprechend gehandelt haben, konnte das daher nicht als Hochverrat verboten sein, zumal die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen ist, sofern und soweit jemand in Ausübung amtlicher Pflichten oder amtlicher Befugnisse handelt.249 Da nach der im Zeitpunkt des Erlassens des Anschlussgesetzes nach Maßgabe des Verfassungs-Übergangsgesetz vom 19. Juni 1934 geltenden Verfassung 1934 die Bundesregierung alleine Bundesgesetze wie auch Bundesverfassungsgesetze (im Unterschied zur Bundesverfassung 1920 ausnahmslos ohne Volksabstimmung) wirksam erlassen konnte250 und dafür keine inhaltlichen Einschränkungen bestanden, war das Anschlussgesetz rechtmäßig.251 Die Verfassung 1934 ging zwar implizit von der Prämisse aus, dass Österreich ein selbständiger Staat252 ist, enthielt aber keine Bestandsgarantie für die Unabhängigkeit oder die Staatsform des damaligen Bundesstaats Österreich und in diesem Zusammenhang auch keine sonstigen Vorgaben oder Einschränkungen für die Bundesregierung als normsetzende Instanz.253 Entgegen mancher Gerichtsentscheidungen konnte auch aus den für die Vereidigungen vorgesehenen Eidesformeln keine solche Vorgabe respektive Einschränkung abgeleitet werden. Die in der Verfassung 1934 für die Vereidigung der Mitglieder der Bundesregierung statuierte Eidesformel lautete auf die Verfassung, die Beobachtung der Gesetze und die Erfüllung der Amtspflichten.254 Der beim Amtsantritt vom Bundespräsidenten zu leistende Eid lautete: „Ich schwöre, daß ich meine ganze Kraft dem selbst wenn die Änderung als Verleugnung der historisch-politischen Individualität des Gemeinwesens und als schwere Schädigung seiner Bürger angesehen werden müßte. Nicht schon sein Ziel läßt ein Unternehmen als hochverräterisch erscheinen, sondern erst der Einsatz rechtlich mißbilligter Mittel.“ 249 Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag Wien Leipzig 1894, 106. 250 Ausnahmslos auch ohne Volksabstimmung (Wolfgang Putschek, Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933–1938, 189; Georg Froehlich, Die Verfassung 1934 des Bundesstaats Österreich, Baden bei Wien, Leipzig, Brünn, Prag 1936, 142f ). Für ein wirksames Gesetz war nur ein einstimmiger Beschluss der anwesenden Mitglieder der Bundesregierung erforderlich (Froehlich, aaO 156). Die Beurkundung durch den Bundespräsidenten über das verfassungsmäßige Zustandekommen des Gesetzes dokumentierte nur, dass ein solcher Beschluss zustande gekommen ist (Froehlich, aaO 143). 251 Wolfgang Putschek, Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933–1938, 190. 252 Die Strafbestimmung des § 4 Staatsschutzgesetz, BGBl 1936/223, verbot auch explizit Aktionen gegen die Selbständigkeit Österreichs, allerdings nur solche, die auf ungesetzliche Weise erfolgen. Im Übrigen war auch das ein Gesetz, das die Bundesregierung beliebig abändern konnte. 253 Norbert Gürke, Die österreichische Verfassung 1934, Archiv des öffentlichen Rechts 1934, Band 25 zweites Heft, 223. 254 Artikel 84 der Verfassung 1934.

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Wohle des österreichischen Volkes widmen, die Verfassung und alle Gesetze Österreichs beobachten, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe!“.255 Eine Änderung der Staats- oder Regierungsform oder die Eingliederung in einen anderen Staat oder beides zugleich waren auch dadurch nicht ausgeschlossen. Damit konnte durch das Beschließen des Anschlussgesetzes durch die Mitglieder der Bundesregierung und durch die Mitwirkung an dieser Beschlussfassung kein Hochverrat nach dem damals geltenden § 58 StG begangen werden. Zwischen der Strafbestimmung des § 58 StG und jener des später rückwirkend erlassenen § 8 KVG bestand eine Teilkongruenz im Bereich der gewaltsamen Änderung der Regierungsform. Diese kann im gegenständlichen Zusammenhang nicht Handlungen wie das Erlassen einer Rechtsnorm umfassen, sondern nur die faktische Okkupation Österreichs zur NS-Machtergreifung und die Mitwirkung daran oder rechtswidrige Maßnahmen wie physische Gewalt bei der NS-Machtergreifung oder deren unmittelbare Unterstützung. Eine Divergenz bestand soweit, als mit § 8 KVG ergänzend auch die Vorbereitung und Förderung der NS-Machtergreifung generell pönalisiert wurde, wobei dem System des § 58 StG entsprechend einzelne Handlungsweisen exemplifizierend angeführt wurden, ohne dass aber von der Art der Handlungen her eine Einschränkung bestand. Eine Einschränkung gegenüber § 58 StG bestand damit, dass in § 8 KVG im Zusammenhang mit den Tathandlungen dieses Delikts als Täterkreis nur Personen in führender oder einflussreicher Stellung256 erfasst wurden und nur solche Handlungen als strafbar eingestuft wurden, mit der die NS-Machtergreifung gefördert wurde, wobei es auf Verschuldensebene für die Strafbarkeit ausreichend war, dass jemand mit bedingtem Vorsatz handelte, also es als möglich angenommen hat, dass seine Handlung in Österreich den Nationalsozialismus fördert.257 Im Unterschied zu § 58 StG bestand eine Strafbarkeit nach § 8 KVG nicht bereits damit, dass eine Handlung auf gewisse hochverräterische Effekte angelegt war, also darauf abzielte, sondern erst damit, dass ein fördernder Effekt tatsächlich bewirkt wurde (zuvor bewirkte Unterstützung und Erleichterung 255 Artikel 75 der Verfassung 1934. 256 Personen mit einem größeren Verantwortungsbereich und einer bedeutenden Wirkungsmöglichkeit wie Personen des öffentlichen Lebens, also in der Politik, z.B. als Minister, oder in der Verwaltung, z.B. als höhere Beamte, oder in der Wirtschaft, als Industriekapitäne oder Bankdirektoren (Wilhelm Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, , Zweiter Band 2. Teil, Wien 1949, 23). Es geht um Persönlichkeiten, die in diesem Zusammenhang das Prädikat „treibende Kräfte“ verdienen, ohne dass es auf eine formale Beziehung zur NS-Bewegung ankommt (Ludwig Haydn, Das Kriegsverbrechergesetz (=Die österreichischen Wiedergutmachungsgesetze, Heft II), Wien 1945, 9). 257 Ludwig Viktor Heller/Edwin Loebenstein/Leopold Werner, Kommentar zum Nationalsozialistengesetz (1948) II/143f.

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der NS-Machtergreifung durch deren Vorbereitung, respektive Mitwirkung an oder Beitrag zu deren Vorbereitung, oder Förderung der NS-Machtergreifung durch deren zeitgleiche Unterstützung).258 Einen weiteren Anwendungsbereich als § 58 StG hatte § 8 KVG letztlich aber soweit, als im Ergebnis generell und undifferenziert die Vorbereitung und Förderung der NS-Machtergreifung strafbarkeitsbegründend war, dies ohne Einschränkung auf ein gewaltsames oder sonst rechtswidriges Vorgehen gegen die verfassungsmäßige Ordnung, sodass im Unterschied zu § 58 StG mit § 8 KVG auch nach früherer Rechtslage rechtmäßige Handlungen zu strafbaren Handlungen erklärt wurden, wenn sie den vorgenannten Förderungseffekt hatten.

4.4 Die Urteile 4.4.1 Das Urteil des Volksgerichts Wien

Das Volksgericht Wien führt vom 23. bis zum 26. Oktober 1950259 die Hauptverhandlung durch und verurteilt Reinthaller nach § 10 VG in der Deliktsqualifikation 258 Kabinettsratsprotokoll Nr. 13 vom 19./20. Juni 1945 in Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 –„… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, 261f. Abweichend und widersprüchlich Wilhelm Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, Zweiter Band 2. Teil, Wien 1949, 23, der betont, dass § 8 KVG eine Spezialnorm gegenüber § 58 StG ist, aber soweit eine Gleichsetzung mit § 58 StG propagiert, dass die Strafbarkeit auch nach § 8 KVG bereits damit bestehe, dass etwas zum Zweck der Förderung der NS-Machtergreifung unternommen wird, ohne dass es auf die Auswirkung dieser Handlung ankomme. Die Unrichtigkeit dieser Ansicht ergibt sich neben der im betreffenden Kabinettsratsprotokoll dokumentierten Intention der normsetzenden Instanz eindeutig auch aus dem Vergleich des Gesetzeswortlauts. Nach § 58 StG reicht es für die Strafbarkeit aus, dass eine Handlung auf einen der hochverräterischen Zwecke „abzielt“ bzw. „darauf angelegt“ ist, was die übliche Terminologie für ein Vorbereitungs- oder ein Versuchsdelikt ist. Demgegenüber erfordert der Wortlaut des § 8 KVG für eine Strafbarkeit, dass jemand etwas unternommen hat, womit er das als hochverräterisch eingestufte Ergebnis vorbereitet oder gefördert hat, so dass nicht nur auf das mit einer Handlung verfolgte Ziel, sondern auf den Eintritt einer Auswirkung abgestellt wird. 259 Der 26. Oktober war damals noch kein Feiertag. Dieser Tag wurde erst später aus Anlass der wiedererlangten Unabhängigkeit Österreichs zum Staatsfeiertag. Der 26. Oktober wurde deshalb gewählt, weil Österreich am 26. Oktober 1955 mit dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 211/1955 über die Neutralität Österreichs seinen Willen erklärt hat, für alle Zukunft und unter allen Umständen seine Unabhängigkeit zu wahren und sie mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verteidigen, und in eben demselben Bundesverfassungsgesetz seine immerwährende Neutralität festgelegt hat, und in der Einsicht des damit bekundeten Willens, als dauernd neutraler Staat einen wertvollen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten zu können (Präambel zum Bundesgesetz vom 28. Juni 1967 über den österreichischen Nationalfeiertag, BGBl 1967/263).

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des § 11 VG zu drei Jahren schweren Kerker260 und erklärt sein gesamtes Vermögen für verfallen, weil es als erwiesen annimmt, dass er in der Zeit zwischen dem 01. Juli 1933 und 13. März 1938 der NSDAP angehört und sich für diese betätigt hat und zuletzt als Brigadeführer Angehöriger der SS als Wehrverband der NSDAP gewesen ist und von dieser als „Alter Kämpfer“ anerkannt wurde, und dass er als Gauamtsleiter für Agrarpolitik eine Funktion vom Ortsgruppenleiter aufwärts innehatte und dass er die Parteiauszeichnungen des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP und der Dienstauszeichnung der NSDAP in Gold und Silber erhalten hat.261 Die vorangegangenen Haftzeiten werden Reinthaller auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet. Hingegen spricht das Volksgericht den Angeklagten vom Vorwurf des Hochverrats nach § 8 KVG frei. Den Formaltatbestand der §§ 10 und 11 VG sieht das Volksgericht als erfüllt an. Aufgrund des Originalgauaktes der NSDAP stellt das Gericht die NS-Mitgliedschaft Reinthallers fest. Ausschlaggebend ist für das Gericht der Erfassungsantrag des Angeklagten vom 31. Mai 1938. Darin führt der Angeklagte selbst aus, dass er bis zur Verbotszeit die Parteibeiträge bezahlt und ab dem Verbot die Beitragsleistung unterbrochen hat, ohne aus der Partei ausgetreten zu sein. Zudem hat er darin angegeben, für die NS-Bauernschaft tätig gewesen zu sein. Dem Erfassungsantrag wurde stattgegeben, sodass er durch Wiederverleihung der alten Mitgliedsnummer als ununterbro260 Nach damaliger Rechtslage bestanden noch verschiedene Kategorien der Freiheitsstrafe, und zwar Kerker als Strafe für Verbrechen und Arrest als Strafe für Vergehen und Übertretungen. Bei der Kerkerstrafe bestanden zum Ende des 19. Jahrhunderts die Unterkategorien des Kerkers ohne Zusatz, des einfachen Kerkers oder des schweren Kerkers, dies jeweils mit der Möglichkeit der Strafverschärfung (zu diesen Kategorien und zur bis dahin erfolgten Entwicklung der gestuften Freiheitsstrafe Karl Janka, Das österreichische Strafrecht, Prag, Wien, Leipzig, 3. Auflage 1894). Im Zeitpunkt der Urteilsfällung bestanden nach dem Strafgesetz 1852 (StG) in der anzuwendenden Fassung dessen Wiederverlautbarung 1945, StGBl 1945/25, noch die Grade der Kerkerstrafe des Kerkers und des schweren Kerkers (Kerkerstrafe erster und zweiter Grad, § 14 StG). Der Kerker war im Vergleich zum Arrest, der in die Unterkategorien des Arrests ersten und zweiten Grades kategorisiert war (§§ 244, 245 StG) und bei dem ebenso wie bei der Kerkerstrafe die Möglichkeit der Strafverschärfung bestand (§ 253 StG), von der Verwahrung her die strengere Strafhaft. Die Kerkerstrafen ersten und zweiten Grades unterschieden sich voneinander damals im Wesentlichen noch durch die unterschiedlichen Einschränkungen beim Kontakt mit anderen Personen (§§ 15, 16 StG). Als mögliche Verschärfungen der Kerkerstrafe waren vorgesehen das Fasten, die Anweisung eines harten Lagers, die Anhaltung in Einzelhaft, die einsame Absperrung in dunkler Zelle und die Landesverweisung nach ausgestandener Strafe; die ursprüngliche Strafverschärfung der Züchtigung mit Stock- und Rutenstreichen war damals nicht mehr zulässig (§ 19 StG). Mit dem Strafgesetzbuch – StGB 1974, BGBl 1974/60, wurde in Österreich die einheitliche Freiheitsstrafe (Einheitsstrafe) eingeführt, nachdem die Unterschiede bei den verschiedenen Arten der Freiheitsstrafe in der Praxis des Strafvollzugs zunehmend geringer geworden waren (RV 30 BlgNR XIII. GP 90ff). 261 Urteil des Volksgerichts Wien vom 26. Oktober 1950 zu Vg 1h Hv 238/50 (Vg 1h Vr 2068/49).

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chenes Parteimitglied seit 23. April 1928 und damit als „Alter Kämpfer“ anerkannt wurde. Damit ist nach dem Formaltatbestand des § 10 VG von einer während der Verbotszeit erfolgten Illegalität auszugehen. „Einen gegen die Rechtsvermutung dieser Gesetzesstelle an und für sich zulässigen Gegenbeweis, dass sich der Angeklagte die Zuerkennung der Illegalität im Erfassungsverfahren erschlichen oder erschwindelt hätte“, habe der Angeklagte nicht angetreten. Der Parteiausschluss im Zuge der parteiinternen Auseinandersetzungen ist für das Volksgericht nicht erwiesen. In der Beweiswürdigung geht das Gericht davon aus, dass es Reinthaller bei einem Parteiausschluss mangels Fundierung in der NS-Untergrundbewegung nicht möglich gewesen wäre, seine Befriedungsaktion durchzuführen, und dass er als aus der illegalen Partei Ausgeschlossener nicht in das Interimskabinett Seyß-Inquart berufen worden wäre. Zudem wurde er während der Verbotszeit zu Sühnebeiträgen herangezogen und im Lager Kaisersteinbruch angehalten, was ebenfalls für eine illegale Betätigung spreche. Der Umstand, dass es sich bei den SS-Rängen um bloße Ehrenränge handelt, sei rechtlich nicht relevant, weil das Gesetz keine derartige Unterscheidung treffe262. Das Gericht hält aber auch fest, dass das Beweisverfahren eindeutig ergeben habe, dass Reinthaller immer dem gemäßigten Flügel der NSDAP angehört und zu den Idealisten der NS-Bewegung gezählt habe. Außerdem stellt das Gericht explizit fest, dass die Aktion Reinthaller entgegen der Anklageschrift eine Befriedungsaktion war und keinesfalls als Hochverrat angesehen werden kann. Bei der Strafbemessung wird Reinthaller als mildernd angerechnet, dass er sich während der NS-Herrschaft mehreren prominenten Gegnern der NSDAP hilfreich gezeigt hat, dass er während der NS-Herrschaft bemüht war, den österreichischen Standpunkt gegen die reichsdeutsche Überflutung zu vertreten, sowie der Umstand, dass er den österreichischen Bauern wertvolle wirtschaftliche Hilfe angedeihen ließ.263 Angesichts des Strafrahmens des § 11 VG von zehn bis zu zwanzig Jahren ist die Strafe gering, wobei das Gericht aufgrund des Überwiegens der Milderungsgründe vom außerordentlichen Milderungsrecht264 Gebrauch macht und den Mindeststrafrahmen unterschreitet. Bezüglich des Vorwurfs des § 8 KVG führt das Gericht aus, dass Reinthaller im Gegensatz zu den Strafverfahren gegen Dr. Guido Schmidt und Dr. Franz Hueber, der zuvor nach § 8 KVG verurteilt worden war, nur eine Tätigkeit nach dem 12. März 1938 zur Last gelegt wird265. Aus der Formulierung des § 8 KVG „… in 262 Argumentum lege non distinguente (auch: argumentum lege non differente). 263 Urteil des Volksgerichts Wien vom 26. Oktober 1950 zu Vg 1h Hv 238/50 (Vg 1h Vr 2068/49), S. 11. 264 § 265a StPO 1873 idF BGBl 1945/133. 265 Diesen Unterschied verkennt Hellmut Butterweck, Verurteilt und begnadigt – Österreich und seine NS-Straftäter, 2003, 264, wenn er meint, dass der im Unterschied zur früheren Verurteilung des

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führender oder doch einflussreicher Stellung etwas unternommen zu haben, das die Machtergreifung durch die NSDAP vorbereitete oder förderte“ gehe klar hervor, dass dieses Verbrechen nur vor der NS-Machtergreifung begangen werden konnte, denn nach erfolgter Machtergreifung konnte diese weder vorbereitet noch gefördert werden.266 Die Vollendung der Machtergreifung nimmt das Gericht mit 12. März 1938 an, weil das gesamte Bundesgebiet an diesem Tag in der Hand der NS-Machthaber war oder der einmarschierten deutschen Truppen. Die weiteren Entwicklungen wie die Ausrichtung des Staatsapparates im nationalsozialistischen Sinn hat bezüglich der Deliktsbegehung keine Relevanz mehr, wobei das Gericht in seiner Urteilsbegründung auch auf die NS-Machtergreifung in Deutschland Bezug nimmt. Das Anschlussgesetz sei nur eine Feststellung der erfolgten NS-Machtergreifung. Reinthaller wird damit von der Anklage nach § 8 KVG freigesprochen. 4.4.2 Das Urteil des Obersten Gerichtshofs

Der Oberste Gerichtshof (OGH) spricht in dem von dessen Präsidenten eingeleiteten Überprüfungsverfahren267 aus, dass durch das Urteil des Volksgerichts Wien die Bestimmung des § 8 KVG zum Vorteil des Angeklagten unrichtig angewendet wurde, und hebt den Freispruch auf.268 Der OGH vertritt die Meinung, dass Reinthaller auf die österreichische Bundesverfassung vereidigt wurde und sich mit dieser Eidesleistung verpflichtet habe, für die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs einzutreten269. Die Zustimmung zum Anschlussgesetz am 13. März 1938 habe diese Selbständigkeit aber auch formell vernichtet. Das Gesetz sollte nach Auffassung des OGH die Verfassungskonformität und Legalität der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich gegenüber dem Ausland vortäuschen. Wenngleich Österreich bereits durch den am 12. März 1938 erfolgten Einmarsch der deutschen Truppen seiner Unabhängigkeit beraubt worden sei, so sei mit dem Anschlussgesetz durch diesen damit bewirkten Effekt die NS-Machtergreifung gefördert worden. Die durch den Druck Dr. Hueber nach § 8 KVG erfolgte Freispruch des Ing. Reinthaller vom Vorwurf des § 8 KVG ein Zeichen dafür sei, dass die Volksgerichte in der späteren Zeit ihres Bestehens nachsichtiger geurteilt hätten. Ein solcher Bezug lässt sich nur zum Fall Dr. Rudolf Neumayer herstellen (dazu nachstehend in Pkt. 6.2.). 266 Urteil des Volksgerichts Wien vom 26. Oktober 1950 zu Vg Hv 238/50 (Vg 1h Vr 2068/49), S. 12. 267 Verfügung vom 05. April 1951 zu Präs. 2041/51. 268 Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 27. April 1951 zu 6 Os 18/51. 269 Wenn der Oberste Gerichtshof diese Behauptung nur damit begründen kann, „das Gegenteil zu behaupten, wäre abwegig“, und sie ansonsten unbegründet lässt (Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 27. April 1951 zu 6 Os 18/51, S. 5), so muss das als unsubstantiierte Scheinbegründung angesehen werden. Diese Behauptung ist jedenfalls unrichtig (siehe vorstehend Kapitel 4.3.2.2.).

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Hitlers gegebene Notstandssituation wird Reinthaller nicht als schuldbefreiender Entschuldigungsgrund zugestanden, weil er die Zwangslage durch seinen freiwilligen Eintritt in die Regierung bei den absehbaren Folgen selbst verschuldet habe.270 4.4.3 Die Entscheidungen des Volksgerichts Linz

Durch die Entscheidung des OGH hat nunmehr durch das Volksgericht auch die Verurteilung nach § 8 KVG und eine neuerliche Strafbemessung zu erfolgen. Die Verteidigung kann jedoch die Niederschlagung des Verfahrens durch den Bundespräsidenten bewirken. Mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 11. August 1951 zu 10.060/51 wird das Strafverfahren nach § 8 KVG niedergeschlagen271, die Einstellung durch das Gericht erfolgt am 09. Oktober 1951. In weiterer Folge wird das Verfahren – wie von der Verteidigung bereits zuvor angestrebt worden war – an das Landesgericht (LG) Linz als Volksgericht delegiert. Mit Urteil vom 07. Mai 1952 erfolgt wegen des Delikts nach §§ 10, 11 VG gemäß § 11 VG unter Anwendung der außerordentlichen Strafmilderung nach § 265a StPO272 die Verhängung einer Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren. Abweichend vom Ersturteil des Volksgerichts Wien wird ergänzend auch der gute Leumund und die Unbescholtenheit des Angeklagten als mildernd gewertet, sodass die Strafe noch niedriger bemessen wird.273 Das Vermögen wird neuerlich gemäß § 11 VG zugunsten der Republik Österreich für verfallen erklärt.274 Die Verteidigung bemüht sich allerdings erfolgreich um eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Sie macht mit neuen Beweisen geltend, dass Reinthaller nicht wegen illegaler Parteitätigkeit seine alte NS-Mitgliedsnummer zurückerhielt, sondern nur deshalb, weil sich Walter Darré für ihn einsetzte und die Wiedereinstellung Reinthallers in die Partei auf großen Widerstand bei den illegalen Nazis stieß. Mit Beschluss des Volksgerichts Linz vom 12. Jänner 1953 erfolgt die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen neuer Tatsachen und Beweismittel, und es werden die Urteile des Volksgerichts Wien vom 26. Oktober 1950 und des Volksgerichts Linz vom 07. Mai 1952

270 Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 27. April 1951 zu 6 Os 18/51, S. 7. 271 Abolition gemäß Art. 65 B.-VG. 272 In der damals anzuwendenden Fassung der Wiederverlautbarung BGBl 1945/133. 273 Urteil des Volksgerichts Linz vom 07. Mai 1952 zu 10 Hv 46/52, S. 3. 274 Wobei die Verteidiger als Rechtsanwälte von Reinthallers Ehegattin erfolgreich den zwischen den Eheleuten abgeschlossenen Ehepakt geltend machen, sodass ihr Eigentumsrecht an den betroffenen Liegenschaften zur Hälfte im Grundbuch eingetragen wird (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner).

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Der Strafprozess und die Begnadigungen

aufgehoben.275 Das Volksgericht Linz begründet, dass die neuen Beweismittel geeignet sind, die Unschuld Reinthallers zu belegen, und erachtet für die Prüfung eine neuerliche Hauptverhandlung als erforderlich. Zu dieser kommt es aber nicht mehr. Mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 12. Juni 1953 zu 9167/53 erfolgt auch die Begnadigung von dieser Bestrafung mit Ausnahme bestimmter Sühnefolgen276, sodass das Verfahren endgültig beendet wird.

275 Beschluss des Landesgerichts Linz vom 12. Jänner 1953 zu Vg 10 Vr 527/52-46/52, beglaubigte Abschrift des öffentlichen Notars Dr. Eugen Schenk. 276 Entschließung des Bundespräsidenten gemäß § 27 VG vom 12. Juni 1953, Note des BKA vom 16. Juni 1953 zu 213.805/2–2N/53, beglaubigte Abschrift des öffentlichen Notars Dr. Conrad Krünes (Handakt Dr. Tiefenbrunner). Ausgenommen waren als Sühnefolgen der Ausschluss von einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, die Sühneabgabe, die damit verbundene Verfügungsbeschränkung über Liegenschaftsvermögen (§ 20 VG) und der Ausschluss von einer journalistischen oder redaktionellen Tätigkeit (§ 18 lit. a., b. und h. VG).

5. Recht und Moral

5.1 Problemstellung

Wenngleich die im Österreich der Nachkriegszeit erfolgte Reaktion auf die NS-Zeit in Form der auf Basis der Nationalsozialistengesetze vorgenommenen Maßnahmen als historisches Faktum zu behandeln und bei aller – deklarierten – Detailkritik des Autors die betreffenden Themenstellungen insgesamt doch objektiv-neutral (ohne ideologische Denkbarrieren) so aufgearbeitet werden, dass die damit verbundenen rechtspolitischen Problemstellungen aufgezeigt werden, und deren Wertung letztlich jedem Betrachter selbst überlassen bleibt, ist es wegen der grundlegenden Bedeutung der betreffenden Gesamtproblematik angebracht, auf deren rechtphilosophische Dimension und die zu dieser Problematik bestehenden unterschiedlichen rechtspolitischen Positionen einzugehen.  Nach dem NS-Staat und der nach dessen Untergang erfolgten Aufarbeitung dessen Herrschaft war man in deutschen Landen in der späteren Vergangenheit beim Ende der DDR ein weiteres Mal in einer vergleichbaren Situation. Dabei bestand dieselbe Problematik der späteren rückwirkenden Aufarbeitung von Handlungen, die während des Bestands eines staatlichen Systems erfolgten und nach dessen Rechtsvorschriften legal waren, aber vom späteren Herrschaftssystem als eklatantes Unrecht angesehen wurden.  Die juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der DDR-Vergangenheit brachte das unter der Oberfläche des rechtlichen Alltags liegende Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral zutage.277 Diese Thematik betrifft die divergierenden Ansätze von Naturrecht und Rechtspositivismus, die im Folgenden in einem deskriptiven und analytischen Ansatz dargestellt werden, ohne dass mit einem normativen Ansatz eine Aussage über idealtypische Ansätze von Recht getroffen wird.278

277 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral? – Eine Untersuchung am Beispiel des Mauerschützenurteils des Bundesgerichtshofs vom 3. November 1992, Mainz 2012, 10. 278 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 13.

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Recht und Moral

5.2 Recht und Rechtsstaat

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Unrecht oft als Bezeichnung für eine negativ gewertete Form von Recht verwendet. Mit diesem Begriff meint man demnach Recht, das man als schlecht ansieht.279 Nach dem fachlichen Begriffsverständnis werden Recht und Unrecht aber als Begriffspaar erfasst, sodass Unrecht als Gegenteil von Recht definiert wird und damit als Unrecht eine Handlung oder ein Zustand eingestuft werden, die gegen Rechtsvorschriften verstoßen, also rechtswidrig sind. In diesem Zusammenhang sind auch die fachliche Denotation des Begriffs des Rechtsstaats und dessen im Sprachgebrauch vorkommende Konnotation zu erörtern. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird als Rechtsstaat oft ein Staat bezeichnet, der bestimmten moralischen Vorstellungen entspricht, und als rechtsstaatlich eine Handlung oder eine Situation, die bestimmten moralischen Vorstellungen entsprechen. Rechtsstaat bedeutet aber als Fachbegriff, dass der Staat und seine Organe an Rechtsvorschriften gebunden sind. Implizites Wesenselement des Rechtsstaats ist das Legalitätsprinzip, wonach das gesamte Staatshandeln nur in Bindung an die Gesetze erfolgen darf.280 Das gilt sowohl für die normsetzende Tätigkeit von Verwaltungsorganen, etwa dem Erlassen von Verordnungen oder von Anordnungen der Sicherheitsverwaltung, als auch für die Vollziehung von behördlichen Aufgaben, etwa der Fällung von Entscheidungen (wie dem Erlassen von Bescheiden über Anträge) oder Maßnahmen der Sicherheitsverwaltung (z.B. Ermittlungs- oder Kontrollmaßnahmen). Willkür ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Damit waren auch der NS-Staat und die DDR jeweils ein Rechtsstaat.281 Auch das nach den Maßstäben der heutigen Menschenund Grundrechte als verwerflich und abscheulich Einzustufende dieser Staatssysteme war weitgehend rechtlich legitimiert, beispielsweise durch die Nürnberger Rassengesetze282 und die auf deren Grundlage erlassenen Verordnungen oder den Straftat279 Zum begrifflichen Verhältnis zwischen Recht und Moral Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 16. 280 In der österreichischen Bundesverfassung Art. 18 Abs. 1 und 2 B-VG: „(1) Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden. (2) Jede Verwaltungsbehörde kann auf Grund der Gesetze innerhalb ihres Wirkungsbereiches Verordnungen erlassen.“ (gilt entgegen dessen – soweit verfehltem – Wortlaut auch für Gerichte). In der deutschen Bundesverfassung Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ 281 Vgl. zur DDR Günther Sarge, Im Dienste des Rechts – Der oberste Richter der DDR erinnert sich, Edition Ost, Berlin 2013, 12, 16 und ansonsten passim. Dr. Günther Sarge war u.a. Präsident des Obersten Gerichts der DDR. 282 Reichsbürgergesetz und Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.09.1935, Reichsgesetzblatt I 1935/100, S. 1146ff.

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bestand der staatsfeindlichen Hetze nach § 106 DDR-Strafgesetzbuch zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit.283  Sie waren aber keine Demokratien, sondern Autokratien. Diese Aussage gilt bei der DDR mit der Maßgabe, dass deren Volkskammer ein Scheinparlament war, mit dem eine demokratische Legitimation vorgetäuscht wurde; im NS-Staat hatte sich der Reichstag nach der im Jänner 1933 erfolgten NS-Machtergreifung mit dem „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933 selbst entmachtet, indem er der Regierung die Gesetzgebungskompetenz erteilt hatte. Außerdem hatten diese staatlichen Systeme keine funktionierende Gewaltenteilung. Demgegenüber entspricht der heutige demokratische Rechtsstaat im Sinne der EMRK institutionell den Grundvoraussetzungen demokratischer Willensbildung und Kontrolle der Verwaltung, und er entspricht gewissen Idealen, insbesondere durch die Gewährleistung von Grund- und Freiheitsrechten für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger, und er hat eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Nach dem Grundkonzept der Gewaltenteilung im Rechtsstaat bestehen (mit wechselseitigen checks and balances) eine Legislative, eine Exekutive und eine Judikative. Im demokratischen Rechtsstaat setzt sich die Legislative aus gewählten Volksvertretern zusammen. Die Exekutive ist an die Gesetze der demokratisch legitimierten Legislative gebunden. Von eminenter Bedeutung für das Funktionieren des Rechtsstaats ist die Judika283 „§ 106. Staatsfeindliche Hetze. (1) Wer die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik angreift oder gegen sie aufwiegelt, indem er 1. die gesellschaftlichen Verhältnisse, Repräsentanten oder andere Bürger der Deutschen Demokratischen Republik wegen deren staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit diskriminiert; 2. Schriften, Gegenstände oder Symbole zur Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, von Repräsentanten oder anderen Bürgern herstellt, einführt, verbreitet oder anbringt; 3. die Freundschafts- und Bündnisbeziehungen der Deutschen Demokratischen Republik diskriminiert; 4. Verbrechen gegen den Staat androht oder dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten; 5. den Faschismus oder Militarismus verherrlicht oder Rassenhetze treibt, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu acht Jahren bestraft. (2) Wer zur Durchführung des Verbrechens mit Organisationen, Einrichtungen oder Personen zusammenwirkt, deren Tätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik gerichtet ist oder das Verbrechen planmäßig durchführt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn. Jahren bestraft. (3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“ (StGB der DDR idF Gesetz vom 28.06.1979, GBl I S. 139).“ Siehe auch § 107 DDR-StGB – Verfassungsfeindlicher Zusammenschluß, § 214 DDR-StGB – Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit und § 220 DDR-StGB – Öffentliche Herabwürdigung.

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tive, die über die Einhaltung der Gesetze wacht. Das tut die Judikative idealerweise unabhängig, objektiv und neutral (äquidistant, ungeachtet des Ansehens der Person, unvoreingenommen), alleine der Vollziehung der Gesetze verpflichtet, wofür auch institutionell-organisatorische Absicherungen bestehen.

5.3 Rechtspositivismus und Naturrecht

In diesem Zusammenhang gilt es zunächst, die Kategorien von Verhaltensweisen und Verhaltensregeln verschiedener normativer Ordnungen zu unterscheiden. Sitte ist eine zumindest in einem Bereich einer Gesellschaft allgemein ausgeübte Verhaltensweise.284 Moral ist die allgemein übliche Vorstellung davon, welches Verhalten in einer Situation angebracht ist (was „man“ tun sollte).285 Ethik ist die Prüfung eines Verhaltens unter Anwendung des Maßstabs der sozialen Verantwortung und Sozialverträglichkeit. Das Recht im objektiven Sinn ist die für eine Rechtsgemeinschaft verbindliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, die unter der Anforderung der Gerechtigkeit steht und allenfalls mit Zwang durchgesetzt wird.286 Positives Recht ist die in einer Gemeinschaft geltende Rechtsordnung.287 Zum Spannungsverhältnis zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht kann auf folgende grundsätzliche Ausführungen von Adamovich/Funk verwiesen werden288: Recht ist ein von der staatlich organisierten Gemeinschaft ausgehendes bzw. von ihr als Recht anerkanntes Gefüge von Normen, die das Verhalten von Menschen in der Gemeinschaft regeln und zu deren Durchsetzung ein System von staatlichen bzw. staatlich anerkannten Sanktionen (Zwangsdurchsetzungsmöglichkeiten) zur Verfügung steht. Recht im oben definierten Sinne wird für gewöhnlich als positives Recht bezeichnet. Diese Bezeichnung (lat.: ponere = setzen) bringt den Gegensatz zu über- und präpositiven Normenordnungen zum Ausdruck, d.s. solche, die nicht auf staatliche Anordnung und Durchsetzbarkeit zurückgehen, sondern unabhängig vom positiven Recht Geltung beanspruchen. Dazu gehören vor allem die Regeln der Moral, aber auch solche der Sitte und Religion. Die Frage des Verhältnisses zwischen positivem Recht und präpositiven Normenordnungen bildet das Thema der Auseinandersetzung zwischen zwei rechtsphilosophischen Grundhaltun284 Helmut Koziol/Rudolf Welser, Bürgerliches Recht I, Wien, 12. Auflage 2002, 2. 285 Vgl. Helmut Koziol/Rudolf Welser, Bürgerliches Recht I, Wien, 12. Auflage 2002, 2. 286 Helmut Koziol/Rudolf Welser, Bürgerliches Recht I, Wien, 12. Auflage 2002, 4. 287 Helmut Koziol/Rudolf Welser, Bürgerliches Recht I, Wien, 12. Auflage 2002, 3. 288 Ludwig K. Adamovich/Bernd-Christian Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien, 3. Auflage 1987, 34.

Rechtspositivismus und Naturrecht

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gen, dem Rechtspositivismus und den verschiedenen Richtungen der Naturrechtslehren. Während der Rechtspositivismus ausschließlich und immer das als Recht ansieht, was vorhin als positives Recht definiert wurde, gehen die Naturrechtslehren von der Geltung eines dem positiven Recht übergeordneten und von diesem unabhängig bestehenden Rechtes aus, das durch Religion, Moral, Sitte oder andere Faktoren bestimmt wird. Die Vorstellungen vom Inhalt dieser naturrechtlichen Ordnungen sind nicht einheitlich; es gibt mehrere Richtungen der Naturrechtslehren. Praktische Konsequenzen aus diesem Gegensatz ergeben sich vor allem dann, wenn es um Konflikte zwischen den verschiedenen Normensystemen geht. Für den Positivismus kann ein solcher Widerspruch die Geltung und damit die juristische Verbindlichkeit des positiven Rechts nicht beeinträchtigen. Für die Naturrechtslehren hingegen können solche Widersprüche dazu führen, daß die staatliche Normenordnung zumindest in Teilen ihre Verbindlichkeit verliert.

Für den Rechtspositivismus gilt eine Rechtsnorm nicht deshalb, weil sie einen bestimmten Inhalt hat, sondern darum, weil sie in einer bestimmten Weise erzeugt ist. Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.289 Der Positivist erkennt jede ordnungsgemäß erlassene staatliche Rechtsnorm als systemgerecht an.290 Für den Rechtspositivismus besteht kein Zusammenhang zwischen Recht und Moral, weil Moral subjektive Erwägungen impliziert und davon ein bei verschiedenen Personen unterschiedliches Verständnis besteht, sodass der Inhalt moralischer Normen nicht intersubjektiv prüfbar ist. Es kann daher auch nie zweifelsfrei geklärt werden, ob eine Ordnung gerecht ist oder nicht, da solch ein Urteil von subjektiven Erwägungen verfälscht wäre. Dieser Ansatz wird als Wertrelativismus bezeichnet. Für den Rechtspositivismus ist es daher unzulässig, den Inhalt einer Rechtsnorm als das qualifizierende Kriterium ihrer Geltung heranzuziehen. Die Rechtspositivisten schließen also eine Verknüpfung von Recht und Moral aus (Trennungsthese). Das Recht kann nach dieser Position nicht die Leistung einer moralischen Korrektheit seiner Normen leisten, weil die Frage nach dem, was überhaupt moralisch ist, keiner Antwort anhand objektiver Kriterien zugänglich ist.291 289 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 17, unter Bezugnahme auf Hans Kelsen, Die Rechtsordnung als hierarchisches System von Zwangsnormen, in: Norbert Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie, Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2002,30. 290 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Interfrom Zürich 1991, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 170. 291 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 43.

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Recht und Moral

Die Naturrechtler halten hingegen eine inhaltliche Analytizität der Begriffe Recht und Moral292 für möglich. Die aufgeklärten Naturrechtler wie Immanuel Kant meinen, dass Moral einen objektiven Wert darstelle, der jedem Menschen a priori mitgegeben sei. Daher könne man eine qualifizierte Aussage darüber machen, ob beispielsweise eine Rechtsnorm gerecht oder ungerecht sei.293 Dem von den Rechtspositivisten vertretenen Wertrelativismus, wonach es keine eindeutigen für alle Menschen gleichermaßen geltenden Werte geben kann, wird das Argument entgegengehalten, dass Werturteile sich rational begründen lassen. Nach dem Naturrechtsdenken gibt es allgemeine und unbedingt verbindliche Grundsätze der Sittlichkeit (Gerechtigkeit), mit denen die Rechtsnormen übereinstimmen sollen, Grundsätze, die der menschlichen Verfügung entzogen sind und die mit den natürlichen Fähigkeiten der Vernunft erkannt werden können (daher auch die Bezeichnung „Vernunftrecht“). Das Naturrechtsdenken trägt der Tatsache Rechnung, dass die meisten Menschen rein intuitiv mit dem Recht die überpositive Geltung moralischer Prinzipien verbinden.294

5.4 Vermittelnde Position

Gustav Radbruch entwickelt auf Basis eines apriorischen metaphysischen Standpunkts die Rechtsidee, aus der Recht deduktiv abgeleitet wird.295 Recht ist ein Kulturbegriff und damit ein Begriff, der über eine wertbezogene Wirklichkeit definiert wird. Dieser Begriff ist damit je nach Kultur unterschiedlich geprägt. Als apriorischer Begriff ist diese Rechtsidee aber nicht induktiv aus empirischen Tatsachen zu erschließen. Vielmehr sieht Radbruch einen objektiven Gerechtigkeitsbegriff, womit er die Gerechtigkeit in einer idealen Gesellschaftsordnung meint, die als Zielsetzung des Rechts fungiert.296 Diese objektive Gerechtigkeit, die Zweckmäßigkeit und die Rechtssicherheit sind die Elemente dieser Rechtsidee. Die Gerechtigkeit und die 292 Analytizität zwischen Recht und Moral als Denkansatz, dass im Begriff des Rechts dessen moralische Eigenschaft mitgedacht wird, also die Moral in der Bedeutung des Rechts impliziert wird. 293 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 44. 294 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 22. 295 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 25, unter Bezugnahme auf Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, in: Erik Wolf (Hrsg.), Rechtsphilosophie, 6. Auflage, Stuttgart 1963, 124. 296 Kritisch zum Gerechtigkeitsbegriff Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Tübingen, 3. Auflage 2009.

Rechtspositivismus und Naturrecht

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Zweckmäßigkeit müssen sich der Rechtssicherheit unterordnen. Es ist wichtiger, dass es überhaupt eine Rechtsordnung gibt, auch wenn diese unzweckmäßig und ungerecht ist, als gar keine. Obwohl Radbruch der Rechtssicherheit die größte Wichtigkeit einräumt, so bleibt als eine Bedingung des Rechtsbegriffs die Idee der Gerechtigkeit.297 Bei der Thematik des Spannungsverhältnisses zwischen Recht und Moral vertritt Radbruch daher einen differenzierenden Ansatz, der die Frage der Analytizität von Recht und Moral im Zuge eines Mittelwegs zwischen rechtspositivistischer und naturrechtlicher Position beantwortet.298 Das positive Recht ist auch dann Recht, wenn es ungerecht ist – insoweit folgt Radbruch den Rechtspositivisten und ihrer Indifferenz gegenüber dem Inhalt einer Norm. Erst wenn die Schwelle zum extremen Unrecht überschritten wird, verlieren ordnungsgemäß gesetzte und sozial wirksame Normen ihren Rechtscharakter und ihre Rechtsgeltung. Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.299 

Die Radbruch’sche Formel enthält somit die nachstehenden Elemente:300 (1) Das positive Recht gilt auch dann, wenn es ungerecht und unzweckmäßig ist. (2) Das positive Recht muss der Gerechtigkeit weichen, wenn der Widerspruch zur 297 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 26, unter Bezugnahme auf Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, in: Erik Wolf (Hrsg.), Rechtsphilosophie, 6. Auflage, Stuttgart 1963, 169. 298 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 27. 299 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107). 300 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 13.

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Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass es unrichtiges Recht darstellt (= Unerträglichkeitsthese). (3) Positives Recht entbehrt der Rechtsnatur, wenn Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt und die Gleichheit bei der Setzung des Rechts bewusst verleugnet wurde (= Verleugnungsthese). Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit wird nach diesem Ansatz so gelöst, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat.301 Es sollen demnach universell geltende Moralprinzipien und Rechtsgrundsätze bestehen, die stärker sind als jede rechtliche Satzung. Sie wirken als Kriterium für die Limitierung des positiven Rechts. Vom Grundansatz her deutlicher erscheinen mE die Überlegungen von Dr. Wilhelm Größwang, die dieser im Zusammenhang mit der Rückwirkung des österreichischen Kriegsverbrechergesetz302 (KVG – Verfassungsgesetz über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten) angestellt hat, weil er der soziologischen Komponente des Rechts besser entspricht. Demnach kann es keine Legitimation für Taten geben, wenn diese ein Verstoß sind gegen ein allgemein anerkanntes Sittengesetz der Zivilisation als überstaatlicher Lebensordnung, die sich in Staaten als Träger der Zivilisation herausgebildet hat.303 Damit besteht extremes Unrecht bei einem eklatanten Verstoß gegen die Grundsätze der Zivilisation, also des zivilisierten Zusammenlebens von Menschen.

5.5 Anwendung

Die Radbruch’sche Formel hat ihre realrechtliche Geltung insbesondere in der Bewältigung der NS- und DDR-Vergangenheit gefunden. Zu betonen ist, dass Radbruch erst unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen von einem grundsätzlich rechtspositivistischen zu diesem differenzierenden Ansatz gelangte.304 301 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 28. 302 BGBl 1947/198. Dazu in Kapitel 3.3.2. 303 Wilhelm Grösswang, Die Präsumption der Rechtswidrigkeit bei Tatbeständen nach dem Kriegsverbrechergesetz, Österreichische Juristenzeitung 1948, 75 (77, 79). 304 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 23; vgl. Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Tübingen, 3. Auflage 2009, 170.

Anwendung

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5.5.1 Zur Aufarbeitung des NS-Regimes

Gegenstand der Aufarbeitung des NS-Regimes waren insbesondere bestimmte Gewalttaten. Dabei stellte sich im Einzelnen die Frage, ob Taten durch bestimmte Rechtsnormen des NS-Regimes gerechtfertigt waren. In dem Urteil vom 12. Juli 1951305 hatte der Bundesgerichtshof sich mit Tötungshandlungen eines Kommandeurs einer Volkssturmabteilung und eines Volkssturmsoldaten zu befassen. Eine Witwe forderte Schadenersatz wegen der Erschießung ihres Sohnes und ihres Mannes. Gegen ihren Mann war man vorgegangen, weil er für die Alliierten eine Liste mit NSDAP-Funktionären erstellt habe. Der Mann wurde von Volkssturmsoldaten erschossen, als man ihn bereits bei seiner Flucht gestoppt hatte. Der Sohn der Frau war nach seiner Festnahme vom Kommandeur selbst unter Mitwirkung des Volkssturmsoldaten erschossen worden, nachdem er sich geweigert hatte, im Volkssturm zu kämpfen. Der Sohn war insbesondere keinem Standgericht übergeben worden. Der Kommandeur berief sich auf den Katastrophenbefehl von Himmler und auf den Harkortbergbefehl seines dienstvorgesetzten Gauleiters von März 1945, wonach er jeweils ohne Weiteres berechtigt gewesen sei, Flüchtige zu erschießen. Der BGH entschied unter Berufung auf Radbruch, dass solche Befehle selbst bei allfälliger gesetzesgleicher Wirkung unwirksam sind, weil sie in unerträglichem Maß in Widerspruch zur Gerechtigkeit stehen, sodass sie als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen haben.306 Die Tötung wurde daher als rechtswidrig angesehen. Auch diskriminierende Verwaltungsmaßnahmen des NS-Staats, die auf gesetzlicher Grundlage erfolgten, können als extremer Verstoß gegen grundlegende Gerechtigkeitserwägungen unwirksam sein. So entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine auf Basis des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 480) aus rassenideologischen Gründen ausgesprochene Einzelausbürgerung unwirksam ist.307 Bei Ahndung der in den NS-Vernichtungslagern308 begangenen Straftaten stellte 305 BGH 12.07.1951, III ZR 168/50. 306 BGH 12.07.1951, III ZR 168/50 Rn 39. 307 BVerfG 15.04.1980, 2 BvR 842/77; wenngleich auch die faktischen Konsequenzen und insbesondere die vom Betroffenen zwischenzeitig angenommene neue Staatsbürgerschaft zu berücksichtigen war. 308 Im allgemeinen Sprachgebrauch wird für diese NS-Lager oft undifferenziert der Begriff „Konzentrationslager“ verwendet. Dieser Begriff wurde aber historisch für unterschiedliche Sammel-, Internierungs- und Arbeitslager verschiedener Staaten verwendet. So etwa für Konzentrationslager, welche Großbritannien in Südafrika während des Burenkriegs betrieben hat (concentration camps), und für Konzentrationslager des Bundesstaats Österreich (sogenannter „Ständestaat“, dort auch als „Anhaltelager“ bezeichnet). So verwendete Dr. Adolf Schärf diesen Begriff noch im Jahr 1963 für das

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Recht und Moral

sich die Frage der rückwirkenden Delegitimierung von Rechtsnormen nicht, weil keine Rechtsvorschriften bestanden, aus denen sich die innerstaatliche Legitimation der in diesen Lagern durchwegs begangenen Verbrechen hätte ergeben können. Denn grundlegendes Erfordernis für eine gültige Rechtsvorschrift ist deren Veröffentlichung (Kundmachung). Solche kundgemachte Rechtsnormen gab es aber nicht, weil man danach trachtete, die NS-Vernichtungslager möglichst geheim zu halten, um Widerstand in der Bevölkerung, von dem man bei Bekanntwerden dieser Lager ausging, zu vermeiden. Das Betreiben der NS-Vernichtungslager und die Deportationen in diese Lager beruhten daher auf geheimen Befehlen, und es wurden dafür Tarnbegriffe verwendet.309 Diese Straftaten waren daher nicht durch Rechtfertigungsnormen vom damals geltenden Strafrecht ausgenommen und damit bereits insofern im Tatzeitpunkt strafbar. Freilich wären solche Rechtfertigungsnormen im Sinne der Radbruch’schen Formel unwirksam gewesen, weil mit diesen Taten verstoßen wurde gegen „als unantastbar angesehene Grundsätze menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtsverbindlich gelten, gleichgültig ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu missachten“.310 5.5.2 Strafverfahren gegen Mauerschützen

Gegenstand der Aufarbeitung der DDR waren nach deren Untergang insbesondere Schüsse, die Grenzsoldaten der DDR auf Flüchtende abgegeben hatten. Dieses VorAnhaltelager des Ständestaats in Wöllersdorf (Adolf Schärf, Erinnerungen aus meinem Leben, Wien 1963, 137), und in der Provisorischen Staatsregierung Karl Renner wurde dieser Begriff für Internierungslager in der russischen Besatzungszone verwendet (Protokoll der 14. Sitzung vom 26.06.1945 in Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1– „… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, Wien 1995, 309ff). Wegen der darin planmäßig begangenen NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit und NS-Gewaltverbrechen (Nötigungen, Freiheitsberaubungen, Erniedrigungen, Quälereien und Misshandlungen, Körperverletzungen, Sittlichkeitsverbrechen, Sklaverei und Morde) erscheint es im Allgemeinen zutreffender, die NS-Konzentrationslager als NS-Vernichtungslager zu bezeichnen. 309 Landgericht Frankfurt am Main zu 4 Ks 2/63, Mündliche Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters, 182. Verhandlungstag 19.08.1965, 1. Teil, S. 5f (Fritz Bauer Institut, Tonbandmitschnitt 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, www.fritz-bauer-institut.de, www.auschwitz-prozess.de; Friedrich-Martin Balzer/Werner Renz (Hrsg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963– 1965), Bonn 2004, 113f ). 310 Friedrich-Martin Balzer/Werner Renz (Hrsg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963– 1965), Bonn 2004, 113.

Anwendung

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gehen, dass Grenzsoldaten mit ihrem Gewehr auf Personen schossen, die versuchten, aus der DDR zu flüchten, war während des Bestehens der DDR rechtmäßig. Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes der DDR (DDR-GrenzG)311 war die Anwendung der Schusswaffe gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Der unerlaubte Grenzübertritt war nach dem Gesetz der DDR, und zwar mit § 213 des Strafgesetzes der DDR („Ungesetzlicher Grenzübertritt“), als Verbrechen eingestuft.312 Vor der Geltung des Grenzgesetzes bestanden entsprechende Befehle, wonach Menschen, die versuchen, unerlaubt die DDR zu verlassen, erforderlichenfalls mit der Schusswaffe zu stoppen sind.313 Dieses Vorgehen gegen Flüchtige wurde also während der Geltung der Rechtsvorschriften der DDR als pflichtgemäß angesehen. Nach dem Untergang der DDR und Einbeziehung deren ehemaligen Staatsgebiets 311 Gesetz vom 25. März 1982 (GBl. I S. 197). 312 „§ 213. Ungesetzlicher Grenzübertritt.  (1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Be stimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft.  (2) Ebenso wird bestraft, wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik rechtswidrig nicht oder nicht fristgerecht in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt oder staatliche Festlegungen über seinen Auslandsaufenthalt verletzt. (3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn 1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet; 2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt; 3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird; 4. die Tat durch Urkundenfälschung (§ 240), Falschbeurkundung (§ 242) oder durch Mißbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt; 5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird; 6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist. (4) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“  (StGB der DDR idF Gesetz vom 28.06.1979, GBl I S. 139). 313 Die am 19. März 1962 erlassene Durchführungsanweisung Nr. 2 des Innenministers der DDR zum Befehl Nr. 39/60 verpflichtete die Posten der Grenzbrigaden, an der Grenze die Schusswaffe „zur Festnahme von Personen“ zu gebrauchen, die auch nach einem Warnschuss „offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzen“, sofern „keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht“. Die Erläuterung des Befehls durch einen immer wieder erteilten „Kampfauftrag“ besagte, dass eine Flucht in jedem Falle, notfalls durch tödliche Schüsse, zu verhindern war. Im Hinblick auf das Ziel, Grenzübertritte zu verhindern, galt bei dieser Interpretation die Tötung (und anschließende Bergung) des Flüchtlings als eine Art der im Befehl des Ministers bezeichneten „Festnahme“. 

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in die BRD314 ging man aber strafrechtlich gegen solche früheren Grenzsoldaten vor. Dabei bestand die Problematik, dass nach dem Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“315 die Bestrafung einer Person wegen einer Handlung nur zulässig ist, wenn diese Handlung im Zeitpunkt, in dem sie erfolgt, nach einer ausdrücklichen Rechtsnorm mit Strafe bedroht ist und rückwirkende Strafnormen unzulässig sind.316  Der Bundesgerichtshof hatte sich mehrmals mit dieser Thematik zu befassen und gelangte durchwegs zur Auffassung, dass die Mauerschützen sich jeweils durch gezielte Schüsse auf Flüchtende wegen versuchter oder vollendeter Tötung strafbar gemacht hatten.317 Repräsentativ ist der Fall, den der BGH in seinem Urteil vom 20. März 1995318 zu beurteilen hatte. Das Landgericht Berlin hatte als Strafgericht eine Person verurteilt, die als Grenzsoldat auf einen Menschen geschossen hatte, der versucht hatte, das Staatsgebiet der DDR nach Westberlin zu verlassen. Die Verurteilung bezieht sich auf den Tod eines Siebzehnjährigen, der am Nachmittag des 5. Juni 1962 in der Spree erschossen wurde, als er versuchte, den Westteil von Berlin schwimmend zu erreichen. Der Angeklagte, der damals 21 Jahre alt war, gehörte als Gefreiter einer Grenzbrigade der DDR an, die seinerzeit dem Innenministerium unterstand. Er war zusammen mit seinem Postenführer an einem Flussabschnitt eingesetzt, der dem Bezirk Mitte von Berlin (sowjetischer Sektor) zugerechnet wurde, während etwas weiter flußabwärts das linke Ufer zum Bezirk Tiergarten (britischer Sektor) gehörte. Der täglich bei Dienstbeginn mitgeteilte „Kampfauftrag“ besagte, dass Grenzverletzer, die nicht auf Anruf und Warnschuss reagierten, zu „vernichten“ seien, die Flucht in den Westen also notfalls durch gezielte tödliche Schüsse verhindert werden müsse. Als die beiden Posten den flussabwärts schwimmenden H. entdeckt hatten, wies der Postenführer den Angeklagten an, auf den Schwimmer zu schießen, wenn dieser nicht auf Warnschüsse des Postenführers reagiere; die Flucht müsse auf jeden Fall verhindert, der Flüchtling notfalls erschossen werden. H. reagierte nicht auf den Anruf und Warnschuss des Postenführers. Sodann gab der Postenführer einen ersten gezielten 314 Einigungsvertrag – Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Gesetz zum Einigungsvertrag BGBl II 1990/35).  315 Nulla poena sine lege oder nullum crimen sine lege. 316 Art. 103 Abs. 2 und 3 GG: „(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ [Gebot der lex scripta] „(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ [Verbot der Doppelbestrafung – ne bis in idem] 317 Siehe insbesondere BGH 03.11.1992, 5 StR 370/92; 25.03.1993, 5 StR 418/92; 20.03.1995,  5 StR 111/94. Zur mittelbaren Täterschaft durch hohe Politfunktionäre siehe BGH 26.07.1994,  5 StR 98/94; 08.11.1999, 5 StR 632/98. 318 BGH 20.03.1995, 5 StR 111/94.

Anwendung

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Schuss auf den Schwimmer ab. Der Angeklagte schoss aus einer Entfernung von 25 m zweimal mit seiner Kalaschnikow-Maschinenpistole. H. wurde von den Schüssen des Angeklagten nicht getroffen. Während der Angeklagte schoss, gab der Postenführer einen weiteren Zielschuss ab. Kurz darauf schoss der Postenführer zum dritten Mal gezielt. Dieser Schuss traf den Kopf des Schwimmers tödlich. In einem Bericht des Stabschefs der Grenzabteilung an das Innenministerium wurden die Handlungen der beiden Grenzposten als „taktisch richtig und zweckmäßig“ bezeichnet; der Angeklagte wurde drei Tage später mit einer Medaille für vorbildlichen Grenzdienst ausgezeichnet. Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen dessen Mittäterschaft an dieser gemeinschaftlichen Tötung.  Der BGH bestätigte diese Entscheidung. Zunächst führte er unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Mauerschützenurteile das Grundsätzliche zur Frage einer Rechtfertigung der Mauerschützen aus: Ein Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die DDR zu verlassen, Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gab, indem er die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge gestattete, ist wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam. Der Verstoß wiegt hier so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt; in einem solchen Fall muß das positive Recht der Gerechtigkeit weichen (sogenannte „Radbruch’sche Formel“). […] Würde ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund unter Mißachtung dieser Grundsätze ausdrücklich die (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Tötung von Menschen gestatten, die nichts weiter wollen, als unbewaffnet und ohne Gefährdung anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, so müßte er bei der Rechtsanwendung unbeachtet bleiben. Der Bestrafung stände dann Art. 103 Abs. 2 GG [Anm.: das Verbot rückwirkender Bestrafung] nicht entgegen. Denn der Rechtfertigungsgrund hätte wegen der Offensichtlichkeit des in ihm verkörperten Unrechts niemals Wirksamkeit erlangt. Entsprechendes gilt für eine Staatspraxis, die eine nach den vorhandenen Rechtsvorschriften mögliche, die allgemein geltenden und anerkannten Menschenrechte respektierende Gesetzesauslegung außer acht läßt. Weil eine solche Staatspraxis in gleicher Weise offensichtliches schweres Unrecht darstellt, kann ihr kein Rechtfertigungsgrund entnommen werden. Der Senat hat in den genannten Urteilen ausgeführt, daß die im Recht der DDR zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden es ermöglicht haben, Rechtfertigungsgründe für den Schußwaffengebrauch so auszulegen, daß Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden. […] Der Senat hält an den Grundsätzen seiner Rechtsprechung fest. Das führt dazu, daß der Schußwaffengebrauch, wie ihn der Angeklagte mit bedingtem Vorsatz vorgenommen hat, nicht gerechtfertigt war; denn eine Rechtfertigung des Schußwaffengebrauches kann

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nicht anerkannt werden, wenn sie auf der Erwägung beruht, daß die Verhinderung der Flucht Vorrang vor der Erhaltung des Lebens des Flüchtlings hat.

Der BGH setzte sich in diesem Urteil auch mit dem nach seinen vorangegangenen Mauerschützenurteilen in der juristischen Literatur erfolgten Diskurs auseinander: Die Rechtsprechung des Senats im Hinblick auf die „Radbruch’sche Formel“, zum internationalen Menschenrechtsschutz und zu der Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des DDR-Rechts hat auch nach den Senatsentscheidungen BGHSt 40, 218 und 40, 241 zu kritischen Äußerungen im Schrifttum geführt […]319 Die Auseinandersetzung im Schrifttum gibt dem Senat Anlaß, seine Rechtsprechung wie folgt ergänzend zu erläutern:  aa) Zur Anwendung der „Radbruch’schen Formel“ (dazu jetzt insbesondere Arthur Kaufmann a.a.O. sowie Alexy, Mauerschützen: Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit; Lecheler, Unrecht in Gesetzesform?; vgl. auch die erwähnten Aufsätze von Dreier und Frommel sowie – kritisch – Pawlik GA 1994, 472) hat der Senat in BGHSt 39, 1, 15 ff. hervorgehoben, daß die Schüsse an der Berliner Mauer und an anderen Stellen der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden können, auf den Radbruch seine Ausführungen bezogen hat. Daraus folgt jedoch nicht, daß eine Unverbindlichkeit extrem ungerechter Gesetze ausschließlich in Fällen des Völkermordes, der Friedens-, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen im Sinne des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 sowie des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 in Betracht kommt. Der Anwendungsbereich der „Radbruch’schen Formel“ ist auch nicht notwendig auf diejenigen Verbrechen (Völkermord, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen, schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen von 1949) beschränkt, die nach der Resolution 827 (1993) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dem Internationalen Strafgerichtshof im Hinblick auf Menschenrechtsverbrechen im früheren Jugoslawien zugewiesen worden sind (vgl. den Gesetzesentwurf der Bundesregierung BRDrucks. 991/94 mit dem Text der Resolution 827 sowie Oellers319 Das Schrifttum wird im Urteil an dieser Stelle wie folgt angeführt: „Amelung NStZ 1995, 29; Dannecker Jura 1994, 585; Laskowski JA 1994, 151; Luchterhandt in Karsten Schmidt [Hrsg.], Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? Hamburger Ringvorlesung 1994 S. 165, 179ff; Pawlik GA 1994, 472 und Rechtstheorie 25, 1994, 101; Schlink NJ 1994, 433; vgl. ferner die Schrifttumshinweise in BGHSt 39, 168, 181, BGH NJW 1994, 2708, 2711 sowie Dreier ZG 1993, 300; Dreier in FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 57; Frommel in FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 81; Herrmann NStZ 1993, 487; Jakobs GA 1994, 1; Arthur Kaufmann NJW 1995, 81; Lampe ZStW 106, 1994, 683, 709; Ott NJ 1993, 337; Pawlik in Rechtsphilosophische Hefte II, 1993, S. 95; Rittstieg Demokratie und Recht 1993, 18; Roggemann, Systemwechsel und Strafrecht, 1993; Spendel Recht und Politik 1993, 61; Wullweber Kritische Justiz 1993, 49.“

Anwendung

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Frahm ZaöRV 54, 1994, 416 ff.; Bassiouni, Crimes against Humanity in International Criminal Law S. 288 ff.). Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund wegen seiner Ungerechtigkeit als unbeachtlich angesehen wird, wegen des hohen Wertes der Rechtssicherheit auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben (BGHSt 39, 1, 15); daran hält der Senat trotz der Einwände bei Dreher/Tröndle, StGB 47. Aufl. vor § 3 Rdn. 52a fest. Einen extremen Ausnahmefall, der im Sinne der in Radbruchs Konzept enthaltenen „Unerträglichkeitsformel“ (Arthur Kaufmann NJW 1995, 81, 82) zur Unverbindlichkeit eines Rechtfertigungsgrundes führt, hat der Senat bei den tödlichen Schüssen an der innerdeutschen Grenze aus einer Gesamtwertung des Grenzregimes hergeleitet. Diese Bewertung bezieht sich sowohl auf die Hintanstellung des Lebensrechts der Flüchtlinge als auch auf die besonderen Motive, die Menschen für die Überquerung der innerdeutschen Grenze hatten; in die Bewertung sind auch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze eingegangen, die durch „Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl“ gekennzeichnet waren (BGHSt 39, 1, 20 unter Hinweis auf BVerfGE 36, 1, 35). Angesichts dieser besonderen Züge kann das Grenzregime der DDR nicht mit den üblichen Formen bewaffneter Grenzsicherung gleichgesetzt werden, zumal da diese typischerweise gegen Eindringlinge gerichtet sind. Der Senat hat nicht übersehen, daß die DDR die Flucht ihrer Bürger unter anderem deswegen unterband, weil sie von einem Anschwellen des Flüchtlingsstroms eine politische und wirtschaftliche Destablisierung der DDR und ihrer östlichen Nachbarn befürchtete. Er hat auch nicht unerwähnt gelassen (BGHSt 39, 1, 19), daß verschiedene Länder, zumal in der dritten Welt, aus Gründen der Entwicklung die Auswanderung gut ausgebildeter Bürger zu unterbinden suchen. Mit der „beispiellosen Perfektion“ des Grenzregimes und dem in der Praxis rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch bei prinzipieller Versagung der Ausreisebefugnis (BGHSt 39, 1, 21) ist die DDR indessen über solche Beschränkungen weit hinausgegangen. Es mag sein, daß einzelne Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktsystems ein ähnlich perfekt organisiertes Grenzregime eingerichtet hatten. Das hindert die Beurteilung des DDR-Grenzregimes, wie sie der Senat vorgenommen hat, nicht; überdies trennten die anderen Grenzen nicht in gleichem Maße Menschen, die auf vielfältige Weise, zumal durch Familienbeziehungen, miteinander verbunden waren. Der Senat ist unter den gegebenen Umständen zu der Bewertung gekommen, daß die Verneinung von Menschenrechten durch den Schießbefehl in der Staatspraxis der DDR – gleichviel, ob er auf bloßen Anordnungen der Exekutive beruhte oder auf das Grenzgesetz 1982 zurückgeführt wurde – ein so schweres Unrecht darstellte, daß etwaige Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts unbeachtlich bleiben. Der Senat nimmt zur Kenntnis, daß der unbestreitbare Unterschied in der Schwere nationalsozialistischer Gewaltverbrechen einerseits und der Tötungen an der innerdeutschen Grenze andererseits von verschiedenen Autoren zum Anlaß genommen worden ist, die Anwendbarkeit der „Radbruch’schen

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Recht und Moral

Formel“ auf die hier in Rede stehenden Sachverhalte zu verneinen. Gleichwohl bleibt der Senat bei seiner Rechtsprechung. Der Senat hat mit seiner Bewertung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze materiell-rechtliche Grundlagen des Urteils des Internationalen Militärgerichtshofs vom 30. September/1. Oktober 1946, auf denen er aufbaut, für einen speziellen Fall weiterentwickelt (vgl. IMG Verhandlungsniederschriften, amtlicher Text in deutscher Sprache Bd. XXII S. 466, 524ff., 533ff., 565f.; s. auch das Nürnberger Juristenurteil vom 3./4. Dezember 1947, deutscher Text, hrsg. von Zentral-Justizamt für die Britische Zone S. 34). Die nach 1946 eingetretene Betonung und Festschreibung von Menschenrechten, insbesondere in den beiden erwähnten Dokumenten der Vereinten Nationen, läßt es zu, das Tötungsverbot noch stärker zu betonen, also die Anforderungen an wirksame Rechtfertigungsgründe weiter heraufzusetzen. bb) Der Senat hält auch nach Überprüfung kritischer Stellungnahmen im Schrifttum daran fest, daß bei der Bewertung des Grenzregimes auf Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes zurückgegriffen werden darf, ohne daß es darauf ankäme, ob die DDR den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 in innerstaatliches Recht transformiert hat (BGHSt 39, 1, 16 ff.). Die DDR hatte sich durch die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zur Respektierung der in dem Pakt bezeichneten Menschenrechte verpflichtet (BGHSt 39, 1, 16) und schon vorher stets verlautbart, sie betrachte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 als Richtschnur für die Gestaltung der Verhältnisse im eigenen Land (vgl. BGHSt 40, 241, 248 f.). Die Frage, ob der einzelne Grenzposten diesen Einfluß internationaler Menschenrechtsdokumente gekannt hat oder erkennen konnte, betrifft nicht die Rechtswidrigkeit seines Tuns, sondern die Schuld (vgl. dazu BGHSt 39, 1, 32 ff.). cc) Kritiker haben das Verhältnis der vom Senat angewandten Grundsätze der „Radbruch’schen Formel“ zu den Prinzipien der menschenrechtsfreundlichen Auslegung nach Grundsätzen des DDR-Rechts als unklar bezeichnet. Dazu ist zu bemerken: Der Senat hat auf die Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung mit Mitteln des Rechtes der DDR Bezug genommen, weil er das geschriebene Recht der DDR nicht außer Betracht lassen durfte und weil die Möglichkeit der menschenrechtsfreundlichen Auslegung dieses Rechts auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten ist (BGHSt 39, 168; 40, 30, 42; vgl. auch nachstehend zu dd). Der Schutz der Menschenrechte war – anders als im nationalsozialistischen Regime – offizielle Programmatik des Staates. Dies gilt auch für die DDR-Verfassung von 1949, deren Text im übrigen von dem rechtsstaatlichen Modell der Weimarer Reichsverfassung weniger weit entfernt war als die Verfassungstexte von 1968 und 1974. Der Senat hat nicht übersehen, daß tatsächlich weder die verschiedenen Verfassungen der DDR noch die sonstigen Gesetze in dem vom Senat bezeichneten Sinne menschenrechtsfreundlich ausgelegt worden sind. Mit dem Hinweis auf eine menschenrechtsfreundliche Auslegungsmöglichkeit hat der

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Senat nicht etwa ein Rechtssystem konstruiert, das mit dem Recht der DDR schlechthin nichts zu tun hatte. Der Senat nimmt insbesondere die eingehenden Hinweise von Luchterhandt (a.a.O.) auf die tatsächlichen Verhältnisse im Rechtswesen der DDR ernst. Das hindert ihn aber nicht an der Analyse, daß in dem geschriebenen Recht der DDR Möglichkeiten zu einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung angelegt waren. Daß sie überwiegend nicht wahrgenommen worden sind, eine menschenrechtsfreundliche Auslegung den Rechtsanwender vielmehr in größte Schwierigkeiten gebracht hätte, ändert daran nichts. Der Senat verweist im übrigen darauf, daß DDR-Wissenschaftler immerhin in den letzten Jahren der DDR Ansichten vertreten haben, die auf rechtsstaatliche Ansätze in Gesetzen der DDR einschließlich der Verfassung Bezug nahmen (vgl. u. a. U.-J. Heuer, Marxismus und Demokratie 1989 S. 460, 470 f. und Lekschas, Probleme künftiger Strafpolitik in der DDR, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR – Gesellschaftswissenschaften – 1989 S. 6 f., 11 ff.). Desgleichen ist auf die Einführung von Elementen gerichtlicher Nachprüfung von Verwaltungsakten sowie auf die Abschaffung der Todesstrafe in den letzten Jahren der DDR hinzuweisen. dd) Der Senat hat die besonderen Probleme, die durch das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG entstehen, gesehen (BGHSt 39, 1, 26 ff.). Verschiedene Äußerungen im Schrifttum, wonach die Rechtsprechung des Senats nicht mit dem Rückwirkungsverbot vereinbar sein soll (vgl. u. a. Schmidt- Aßmann in Maunz/Dürig/Herzog, GG Art. 103 Abs. 2 Rdn. 255; Pieroth in Jarass/Pieroth, GG 3. Aufl. Art. 103 Rdn. 54; Jakobs GA 1994, 1ff.), haben den Senat zu einer nochmaligen Prüfung seines Standpunktes veranlaßt; er hält daran fest, daß Art. 103 Abs. 2 GG seiner Rechtsprechung nicht entgegensteht. Nach Auffassung des Senats sind die Grenzposten nicht in ihrem Vertrauen auf die Fortgeltung gesetzlicher Regelungen enttäuscht worden; denn das geschriebene Recht der DDR konnte auch menschenrechtsfreundlich interpretiert werden. Art. 103 Abs. 2 GG schützt nicht das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Staats- und Auslegungspraxis. Soweit Gesetze oder Staatspraxis offensichtlich und in unerträglicher Weise gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstießen, können die dafür verantwortlichen Machthaber und diejenigen, die auf deren Anordnung handelten, nicht dem Strafanspruch, den die Strafrechtspflege als Reaktion auf das verübte Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot entgegenhalten, sie hätten sich an bestehende Normen gehalten. Sie konnten nicht darauf vertrauen, daß eine künftige rechtsstaatliche Ordnung die menschenrechtswidrige Praxis auch in Zukunft hinnehmen und nicht sanktionieren werde. Ein solches Vertrauen kann nicht als schutzwürdig im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG gelten. In einem derartigen Fall dürfen sie sich nicht auf den Satz berufen, daß heute nicht Unrecht sein kann, was früher „Recht“ war. Das entspricht dem formalen Charakter des Art. 103 Abs. 2 GG: Die Vorschrift soll es dem Bürger ermöglichen, sich auf das geschriebene Gesetzesrecht einzurichten (vgl. insbesondere Schreiber,

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Gesetz und Richter S. 213 ff., 220 ff.; siehe auch Roxin, Strafrecht AT I, 2. Aufl. S. 114). Das würde sich erst recht zeigen, wenn ein Gesetz so pervertiert war, daß eine menschenrechtsfreundliche Auslegung überhaupt nicht in Betracht kam (BGHSt 39, 1, 30; 40, 241, 250). In Fällen dieser Art könnte Art. 103 Abs. 2 GG nicht die Bestrafung hindern. Das folgt aus der Erwägung, daß eine Freistellung von Strafbarkeit, die derart gegen die Menschenrechte verstößt, von vornherein unwirksam ist, also überhaupt nicht Recht geworden ist. Auch wäre es unverständlich, wenn der Schutz des Rückwirkungsverbots unter derart extremen Verhältnissen eingreifen würde, während bei noch bestehender Möglichkeit menschenrechtsfreundlicher Gesetzesinterpretation die Schutzvorschrift des Art. 103 Abs. 2 GG nicht anwendbar wäre. ee) Es ist geltend gemacht worden, eine Bestrafung sei auch unter der Voraussetzung unmöglich, daß der Rechtfertigungsgrund wegen grober Ungerechtigkeit und Menschenrechtswidrigkeit für unwirksam gehalten werde; es ergebe sich dann ein „normatives Vakuum“, denn die Verneinung der Rechtfertigungswirkung könne die Strafbarkeit nicht „wiederherstellen“ (Jakobs, Strafrecht AT 2. Aufl. S. 121 sowie GA 1994, 1, 11 f.). Dem kann der Senat nicht folgen. Die DDR gehörte zu denjenigen Staaten, in denen es sich von selbst versteht, daß die vorsätzliche Tötung eines Menschen umfassend strafbar ist, es sei denn, ein Rechtfertigungsgrund griffe ein. Zur Tatzeit galten in der DDR und in der Bundesrepublik gleichermaßen die §§ 211, 212 StGB; das 1968 in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch der DDR enthält ebenso wie die genannten Vorschriften ein generelles strafrechtliches Verbot der vorsätzlichen Tötung (§§ 112, 113). Die grundsätzliche Strafbarkeit vorsätzlicher Tötungen gehört zum elementaren Bestand aller zivilisierten Rechtskulturen. Daraus folgt, daß bei Nichtigkeit des Rechtfertigungsgrundes der Tatbestand des Totschlages anwendbar bleibt und daß die Tat, sofern keine anderen Rechtfertigungsgründe vorliegen, als rechtswidrig aufzufassen ist. Auch aus Art. 103 Abs. 2 GG ist kein anderes Ergebnis herzuleiten.

Im Falle der Mauerschützen wendet der BGH damit die Radbruch’sche Formel an, indem er den die Mauerschüsse rechtfertigenden Befehlen oder der rechtfertigenden Norm des § 27 Abs. 2 DDR-GrenzG aufgrund ihres unerträglichen Widerspruchs zur Gerechtigkeit den Rechtscharakter abspricht. Ein Verstoß gegen das in Art. 103 II GG normierte Rückwirkungsverbot kommt daher nicht in Betracht, da ja das Recht nicht nachträglich hierdurch verändert worden ist.320 Da § 27 Abs. 2 DDR-GrenzG die Schwelle zum extremen Unrecht überschritten hat, so ist diese Norm kein Recht und rechtfertigt die von Mauerschützen begange320 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 44.

Bewertung

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nen Tötungshandlungen nicht. Die Tötungshandlungen von Mauerschützen waren demnach bereits im Zeitpunkt, als sie erfolgten, rechtswidrig und daher zu bestrafen. Mit deren Bestrafung erfolgt daher kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot.

5.6 Bewertung 5.6.1 Absolute überpositive Ideale

Nach der Radbruch’schen Formel gibt es grundsätzliche menschliche Ideale, die über dem Gesetz eines Staates stehen, sodass davon abweichende Rechtsvorschriften eines Staates als unwirksam angesehen werden. Die Radbruch’sche Formel ist allerdings auf die Entlegitimierung von Einzelnormen oder einzelnen Normenkomplexen festgelegt; die Infragestellung eines staatlich organisierten Normensystems als Ganzem liegt außerhalb ihres Anwendungsbereichs.321 Der Bundesgerichtshof hat betont, dass die Radbruch’sche Formel eine Ausnahme ist, deren Anwendung auf Fälle extremer Verstöße gegen grundsätzliche menschliche Ideale beschränkt ist. Dabei kommt es nicht auf die innerstaatliche rechtliche Konstruktion an, ob es an einem Strafgesetz mangelt, das einen solchen Verstoß unter Strafe stellt, oder ob ein solcher Verstoß an sich strafbar ist, aber dafür in bestimmten Fällen ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund besteht; jedenfalls besteht die Konsequenz eines solchen Verstoßes darin, dass 321 Frank Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, Heidelberg 1995, 18. So hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass während des Bestands der DDR auch deren Rechtsvorschriften wie deren politisches Strafrecht gültig waren, auch wenn diese eine den Menschenrechten zuwiderlaufende Einschränkung von Ausreise-, Meinungs-, Versammlungs- sowie Vereinigungsfreiheit normierten, weil diese noch kein extremer Ausnahmefall im Sinne der Radbruch’schen Formel waren (BGH 15.09.1995, 5 StR 713/94 Rn 26, 35, 40f; BGH 15.06.1999, 5 StR 614/98). Das betrifft beispielsweise Fälle wie die Anwendung der freiheitsbeschränkenden Vorschriften, womit behördlich der Aufenthaltsort von Bürgerinnen oder Bürgern bestimmt werden oder ein behördliches Verbot des Aufenthalts in bestimmten Bereichen der DDR verhängt werden konnte (vgl. Klaus Marxen/ Gerhard Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht – Eine Bilanz, Berlin, New York 1999, 48) oder über das Verbot der Ausreise in das Ausland (siehe insbesondere § 213 DDR-StGB – Unerlaubter Grenzübertritt, und Mitwirkung daran [§ 22 DDR-StGB]), die Anwendung von Vorschriften, womit die Meinungsfreiheit beschränkt wurde, insbesondere durch Pönalisierung öffentlicher, gegen staatliches Handeln gerichteter Kritik (§ 106 DDR-StGB; § 220 DDR-StGB) oder Agitation (§ 214 DDR-StGB in der Auslegung der DDR-Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts der DDR [BGH 5 StR 713/94 Rn 64]), sowie die Anwendung von Vorschriften, die in Ansehung von organisierten (meinungsäußernden) Agitationen gegen den Staat oder organisierten Vorhaben der unerlaubten Ausreise aus der DDR zur Denunziation verpflichteten (§ 225 DDRStGB – Unterlassung der Anzeige; dazu Klaus Marxen/Gerhard Werle, aaO, 71).

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der Täter zur Verantwortung gezogen wird und die Folgen des Verstoßes rückgängig gemacht werden oder dafür Ersatz zu leisten ist. Der Vergleich zwischen der Anwendung der Radbruch’schen Formel auf Handlungen der NS-Zeit und auf Handlungen der Zeit der DDR zeigt, dass ein solcher extremer Verstoß nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht vorliegen kann. Meines Erachtens ist zu betonen, dass auch der Radbruch’sche Ansatz bei näherer Betrachtung keine – positiv definierten – absoluten Ideale (ideellen Werte) voraussetzt, sondern auch bei Akzeptanz des tatsächlich bestehenden Wertrelativismus seinen Anwendungsbereich hat, weil im Ausschlussverfahren – und damit negativ definiert – eruiert werden kann, welche Verhaltensweisen überpositiv unzulässig sind. Menschen in verschiedenen geschichtlichen, sozialen, kulturellen, religiösen, ideologisch geprägten Erlebniswelten haben verschiedene, nicht selten grundverschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen.322 Aus der individuellen, milieu- und interessenbezogenen Entwicklung persönlicher Gerechtigkeitsempfindungen wird deutlich, dass sie in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit nicht geeignet sind, einen verlässlichen, „objektiven“, allgemein verbindlichen Maßstab für den Aufbau eines Gemeinwesens abzugeben, das seinerseits als eine gerechte Ordnung bezeichnet werden könnte.323 Die Gerechtigkeit muss daher als ein Begriff gedacht werden, der in der naturgegebenen Individualität der Menschen und ihrer unterschiedlichen sozialen Gruppen-Erfahrungen nur in der Mehrzahl gedacht werden kann. Zu jeder Grundsatzfrage in Staat und Gesellschaft gibt es verschiedene Gerechtigkeiten. In freiheitlichen Gesellschaften besteht so ein ständiger, offener, immer neu angeregter Wettbewerb zwischen den Gerechtigkeitsprogrammen der unterschiedlichen weltanschaulichen und sozialen Gemeinschaften und Interessengruppen.324 Autoritäre oder totalitäre Weltanschauungen haben dagegen jeweils ein scharf umrissenes, uniformes Gerechtigkeitsbild, das jeden einzelnen Systemunterworfenen bindet.325 Jedenfalls setzt eine Rechtsordnung eine Werteordnung notwendig voraus.326 Das Recht beruht auf vor- und außerrechtlichen Wertmaßstäben und -entscheidungen, wobei die für die Rechtsordnung maßgeblichen Wertorientierungen aus verschiedenen Quellen stammen können wie Sitte, Philosophie, Weltanschauung oder Religion. Die Proklamation einer einzigen, staatlich sanktionierten Gerechtigkeit birgt das Risiko einer Weltanschauungsdiktatur.327 Aber ohne ein Mindestmaß an gemeinsamen, notwendig „metaphysisch“ be322 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 2. 323 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 3. 324 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 4. 325 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 4. 326 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 23. 327 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 150.

Bewertung

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gründeten Wertüberzeugungen ist kein Staat und ist keine Rechtsordnung dauerhaft zu begründen und zu erhalten.328 In einem pluralen Gemeinwesen (im Unterschied zu einem monistischen oder dualistischen Gemeinwesen) besteht eine Koexistenz verschiedener metaphysisch begründeter Positionen.329 Der politische Entscheidungsprozess – etwa in der parlamentarischen Demokratie – führt in der jeweiligen Gestaltungsfrage eine der konkurrierenden Vorstellungen (nicht selten in Form eines mehrheitsfähigen Kompromisses) zu normativer Verfestigung: Der politische Wille der Parlamentsmehrheit wird Gesetz. Die Konkurrenz der individuellen und gruppenbezogenen Gerechtigkeitsvorstellungen ist damit für die Geltungszeit des verabschiedeten Gesetzes beendet.330 Diese Systemgerechtigkeit ist ein notwendiges Element jeder staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Sie bildet dann den gültigen Maßstab staatlichen und privaten Handelns, wobei Gesetze und damit die Systemgerechtigkeit sich ändern können331. Damit ist auch die Rechtsidee in der historischen Erfahrung ein wandelbarer Begriff.332 Ein geordnetes Gemeinwesen ist ohne diese Festlegung verbindlicher Verfahrensgrundsätze und Gestaltungsziele in allgemeinen Gesetzen nicht denkbar; die Alternativen wären Willkür, Chaos und Anarchie.333 Eine gute Ordnung duldet keine Beliebigkeit.334 Das entspricht auch dem Grundgedanken in der Radbruch’schen Formel, wonach wegen der Ordnungsfunktion des Rechts das positive Recht grundsätzlich Vorrang vor moralischen und ethischen Vorstellungen hat. Wie findet man aber nun die Ideale, die absolut über dem positiven Recht stehen und für die daher die Radbruch’sche Formel gilt? Ein schrankenloser Wertrelativismus besteht nicht. Gerechtigkeitsprobleme sind Wertungsfragen. Ihre Beantwortung hängt von weltanschaulichen Prämissen ab. Werte und Wertrelationen sind nicht empirisch oder logisch nachweisbar.335 Wir können daher nicht mit der gewünschten Gewissheit sagen, was letztlich gerecht ist. Eine wissenschaftlich verlässliche, genaue und eindeutige Eingrenzung der absoluten Gerechtigkeit ist uns versagt. Möglich ist aber die Ausgrenzung dessen, was nach allgemeiner Überzeugung als offensichtlich ungerecht zu gelten hat.336 Es gibt unter den Zivilisationen eine Kongruenz von verschiedenen Auffassungen, was für Handlungen als absolut unzulässig 328 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 30. 329 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 32, 80. 330 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 5. 331 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 6. 332 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 80. 333 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 5. 334 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 151. 335 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 9. 336 Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen, 3. Auflage 2009, 10.

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anzusehen sind. Daher kann mit der negativen Methode, also im Ausschlussverfahren festgestellt werden, was nach allgemeinen Vorstellungen der Kulturvölker immer zu unterbleiben hat. Das extreme Unrecht, das immer gegen grundlegende menschliche Ideale verstößt, lässt sich damit festmachen.337 In diesem Sinne führt Forschner wie folgt aus338: Die Feststellung, daß ein Gesetz der Gerechtigkeit in einem unerträglichen Maß widerspricht, erfolgt im Wege einer Falsifikation. Eine Falsifikation ist leichter und führt zu sichereren Ergebnissen als eine Verifikation. Es liegt in der Eigentümlichkeit menschlichen Erkenntnisvermögens, daß eine sichere Erkenntnis dessen möglich ist, was ein Ding nicht ist, während die Feststellung, was ein Ding ist, kaum getroffen werden kann. Dieses „negative Prinzip“, wonach sich Philosophie und Wissenschaft nicht Erkenntnisse über das „Wesen“ der Dinge zutrauen (synthetische Urteile a priori), sondern nur solche über ihr „Nicht-Wesen“, ist in der philosophischen Tradition der „Philosophia negativa“ fest verankert. Neu aufgegriffen wurde dieses Prinzip in Poppers „Kritischem Rationalismus“. Poppers Auffassung zufolge kann die Wissenschaft aufgrund der Unsicherheit von Induktionsschlüssen überhaupt nicht positiv begründen, sondern nur aufgestellte Thesen falsifizieren. Richtig daran ist zumindest, daß Falsifizieren sehr viel leichter möglich ist als Verifizieren. Daher fällt auch ein Urteil darüber was extrem Ungerecht ist viel leichter als ein Urteil darüber was Gerecht ist. Die Radbruchsche Formel macht keine Aussage darüber was Recht ist, sondern nur eine Aussage darüber was Recht nicht ist, nämlich eine der Gerechtigkeit in unerträglichem Maß widerstreitende Norm. Die Voraussetzungen der Radbruchschen Formel können daher festgestellt werden ohne präzise Kenntnis dessen, was Gerechtigkeit ist. 5.6.2 Rechtliche Verankerung der Radbruch’schen Formel

In Art. 7 MRK339 besteht ein weitgehender internationaler Konsens über Ausnahmen 337 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, aus dem Lehrbrief: „Niemand weiß, was er tut, wenn er rechtens handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt.“ 338 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 14f. 339 „Artikel 7 – Keine Strafe ohne Gesetz. (1) Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. (2) Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war.“

Bewertung

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vom Rückwirkungsverbot. Nach Art. 7 Abs. 1 MRK darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nicht nach inländischem oder internationalem Recht strafbar war (nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege).340 Nach Art. 7 Abs. 1 gilt der Grundsatz, dass eine Verurteilung wegen einer Handlung oder Unterlassung unzulässig ist, wenn deren Strafbarkeit und das mögliche Ausmaß der Bestrafung nicht bereits zur Zeit der Begehung, d.h. vor der Begehung der Tat ausreichend deutlich – durch eine Rechtsvorschrift und Rechtsprechung – festgelegt waren (nullum crimen sine lege certa).341 Der Straftatbestand muss durch eine Rechtsvorschrift so genau umschrieben sein, dass alle davon betroffenen Personen aus dem Wortlaut der Norm, ggf. unter Berücksichtigung seiner Auslegung durch die Gerichte, ersehen können, welches Verhalten – Handlungen oder Unterlassungen – mit Strafe bedroht ist.342 Die analoge Anwendung von Strafvorschriften ist verboten.343 Art. 7 Abs. 1 MRK verbietet rückwirkende Strafvorschriften, was auch das Verbot einer rückwirkenden Verschärfung von Sanktionen für eine Straftat beinhaltet (nulla poena sine lege praevia).344 Aber nach Art. 7 Abs. 2 MRK wird dadurch die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen345 strafbar war. Die Ausnahmeregel des Art. 7 Abs. 2 MRK gestattet jedenfalls die rückwirkende Bestrafung extremen 340 Das ist eine grundlegende Norm jedes rechtsstaatlichen Freiheitsschutzes und gewährleistet die Rechtssicherheit als Grundlage einer selbstverantwortlichen Lebensführung, weil sie vor willkürlicher Verfolgung und Bestrafung schützt und den Handlungsraum transparent festlegt, der ohne Furcht vor einer Bestrafung ausgeschöpft werden darf (Robert Esser in Ewald Löwe/Werner Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 11– EMRK/IPBPR, 26. Auflage 2012, Art. 7 EMRK (Art. 15 IPBPR) Rn 1). 341 Robert Esser in Ewald Löwe/Werner Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 11– EMRK/IPBPR, 26. Auflage 2012, Art. 7 EMRK (Art 15 IPBPR) Rn 8, 16. Eine Strafbarkeit nach internationalem Recht besteht, wenn das internationale Recht nicht nur die Vertragsstaaten zum Erlass nationaler Straftatbestände verpflichtet, sondern selbst die Strafbestimmung enthält (Robert Esser, ibid. Rn 13ff mit Beispielen). 342 Robert Esser aaO Rn 9. 343 Robert Esser, aaO Rn 17ff. 344 Robert Esser, aaO Rn 23ff. 345 Dieser Begriff der „von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze“ ist gleichzusetzen mit dem Begriff der „von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“, der im Pendant zu Art. 7 Abs. 2 MRK, dem Art. 15 Abs. 2 des Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 – IPBPR enthalten ist (Jochen Frowein in Jochen Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK-Kommentar, Kehl, Straßburg, Arlington, 2. Auflage 1996, Artikel 7, Rn 8).

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Unrechts im Sinne der Radbruch’schen Formel.346 Nach Auffassung der Europäischen Kommission für Menschenrechte bindet Art. 7 MRK nicht nur die Legislative, sondern bezieht sich auch auf die Rechtsprechung und verbietet ganz allgemein Änderungen der Rechtsprechung zulasten eines Angeklagten, soweit dadurch eine bislang nicht strafbare Handlung durch Gerichte einen strafrechtlichen Charakter erhält oder die Definition der existierenden Straftaten in einer solchen Weise erweitert wird, dass sie Tatsachen erfasst, die bislang keine Straftat darstellten. Diese Auffassung lässt sich damit begründen, dass Art. 7 MRK – anders als Art. 103 Abs. 2 GG – nicht „lediglich“ eine gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit, sondern schlicht eine zum Tatzeitpunkt bestehende rechtliche Strafbarkeit verlangt.347 Bei der Entstehungsgeschichte des Art. 7 Abs. 2 MRK ist bemerkenswert, dass damit auch nachträglich noch die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gerechtfertigt werden sollten, bei denen das Verbot rückwirkender Strafgesetze nicht beachtet worden war.348 Art. 7 Abs. 2 MRK gilt aber unabhängig von diesem Anlassfall seiner Schöpfung fort.349 In der maßgebenden englischen Fassung enthält Art. 7 MRK nicht die ursprünglich vorgesehene Formulierung „penal offence“ (= strafbare Handlung), sondern die Formulierung „criminal offence“ (= strafbare oder strafwürdige Handlung). Damit erlaubt die Ausnahmeregel des Art. 7 Abs. 2 MRK also auch die rückwirkende Bestrafung von Handlungen, die „im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar oder strafwürdig“ waren.350 Die beiden Absätze des Art. 7 MRK sind gekoppelt („interlinked“) und aufeinander abgestimmt, sodass sie kohärent zu interpretieren sind.351 Demnach ist in Art. 7 Abs. 1 MRK der Grundsatz statuiert, dass eine Bestrafung nur zulässig ist, 346 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 135; vgl. Jochen Frowein in Jochen Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK-Kommentar, Kehl, Straßburg, Arlington, 2. Auflage 1996, Art. 7, Rn 8, zur Anwendung des Art. 7 Abs. 2 MRK auf die DDR-Mauerschützen. 347 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 131; vgl. Robert Esser in Ewald Löwe/Werner Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 11 –EMRK/IPBPR, 26. Auflage 2012, Art. 7 EMRK (Art. 15 IPBPR) Rn 12. 348 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 132 mN; Peter Lewisch, Verfassung und Strafrecht, Wien 1993, 140. 349 Robert Esser in Ewald Löwe/Werner Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 1 – EMRK/IPBPR, 26. Auflage 2012, Art. 7 EMRK (Art 15 IPBPR) Rn 48. 350 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 132f. Hervorhebung im Original. 351 Council of Europe/European Court of Human Rights, Guide on Article 7 of the European Convention on Human Rights, 2016, Rn 52.

Bewertung

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wenn zum Tatzeitpunkt für eine Handlung eine Strafbarkeit durch eine inländische Rechtsvorschrift oder eine auf diese Handlung anzuwendende internationale Rechtsvorschrift bestand, sodass diese Handlung als kriminelle Handlung kategorisiert war. Ausnahmsweise ist eine Bestrafung mit Anwendung einer rückwirkenden Rechtsvorschrift zulässig, wenn im Tatzeitpunkt zwar keine Rechtsvorschrift bestand, wonach eine Handlung strafbar war, oder wenn eine nach generellen Rechtsvorschriften strafbare Handlung im Tatzeitpunkt aufgrund anzuwendender spezieller Rechtsvorschriften nicht strafbar war352, diese Handlung aber ein gravierender Verstoß gegen transnationale fundamentale Rechtsgrundsätze353 war. Wenn diese Voraussetzung vorliegt, schließt Art. 7 Abs. 1 MRK nicht aus, dass solche Handlungen nachträglich durch Gesetz für strafbar erklärt und verfolgt werden.354 Sie ermächtigt aber nicht dazu, durch Völkerrecht selbst neue Strafbestimmungen rückwirkend zu schaffen.355 5.6.3 Zur Verschuldensfrage

Der sich bei einer generell-abstrakten Beurteilung ergebende extreme Charakter eines Verstoßes gegen die allgemeinen von den zivilisierten Staaten anerkannten Grundsätze der Menschlichkeit muss für einen Täter nicht unbedingt evident sein356, was auf der Ebene der Beurteilung des Verschuldens eines Täters als der subjektiven, individuell-konkreten Vorwerfbarkeit einer Tat relevant ist. In diesem Zusammenhang sind die von totalitären Systemen im Allgemeinen ausgeübte Indoktrination von Menschen, insbesondere von Heranwachsenden, zu berücksichtigen, und im Besonderen die Indoktrination von Menschen, die in einem solchen System Funk352 Diese Ausnahmeregelung greift gerade dann ein, wenn nationales Recht Taten privilegiert, die nach den allgemein in der Völkergemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar sind (Robert Esser in Ewald Löwe/Werner Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 11 – EMRK/IPBPR, 26. Auflage 2012, Art. 7 EMRK (Art. 15 IPBPR) Rn 48). 353 Vgl. Peter Lewisch, Verfassung und Strafrecht, Wien 1993, 139. 354 Robert Esser, aaO, Rn 48. Diesen Ansatz hat bereits der stellvertretende britische Ankläger vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg, Sir David Maxwell Fyfe, vertreten, wenn er ausgeführt hat, dass das Deutsche Reich Vertragspartei des Briand-Kellogg Pakts von 1928 war, womit Krieg geächtet und zu einer rechtswidrigen Handlung erklärt wurde, sodass der vom Deutschen Reich geführte Angriffskrieg rechtswidrig war (Gustav Steinbauer, Ich war Verteidiger in Nürnberg – Ein Dokumentenbeitrag zum Kampf um Österreich, Klagenfurt 1950, 26). Sir Maxwell Fyfe argumentierte, dass damit der Straftatbestand des verbotenen Angriffskriegs gegeben und es zulässig war, die Bestrafung der dafür verantwortlichen Repräsentanten des Dritten Reichs nachträglich zu regeln (Gustav Steinbauer aaO). 355 Robert Esser, aaO, Rn 48. 356 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 136.

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Recht und Moral

tionen ausüben.357 Deshalb kann es im Tatzeitpunkt an der kognitiven Einsicht in die extreme Immoralität einer Handlung mangeln, sodass mangels Verschulden ein Freispruch zu erfolgen hat.358 Aber gerade unter diesem Aspekt ist zu differenzieren, ob jemand in untergeordneter Funktion gehandelt hat, bei dem eher ein solcher Mangel an Einsicht bestehen wird, oder ob ein leitender Funktionär eines solchen Systems die Verantwortung für einen solchen extremen Verstoß trägt, insbesondere weil er ihn angeordnet und nicht auf eine Systemänderung hingewirkt hat, die solche Verstöße untersagt.359 Solche leitenden Funktionäre werden im Regelfall die erforderlichen Einblicke haben, sodass ihnen ihre Verantwortung an den extremen Verstößen vorwerfbar ist.

5.7 Abgrenzung zum vorliegenden Fall

Der Fall Reinthaller betrifft keine Verstöße gegen die allgemeinen von den zivilisierten Staaten anerkannten Grundsätze der Menschlichkeit. Reinthaller mag zwar in Österreich an einem Systemwechsel mitgewirkt haben, bei ihm ist jedoch fraglich, ob er überhaupt in Kauf genommen und sich damit abgefunden hat, dass Österreich seine Eigenstaatlichkeit verliert. Der Systemwechsel in Form des Wechsels zur NS-Herrschaft und schließlich – wenn auch nicht unbedingt intendiert – der Anschluss an das Deutsche Reich bedingten – jedenfalls nach dem damaligen Informationsstand prospektiv (ex ante) betrachtet – nicht zwangsläufig und jedenfalls nicht unmittelbar die Begehung von NS-Gewaltverbrechen. Alleine wegen der Mitwirkung am Systemwechsel kann ihm daher nicht eine adäquate Verantwortung für die dadurch in weiterer Folge begangenen NS-Gewaltverbrechen angelastet werden. Die NS-Bewegung war zu heterogen, als dass jedem Mitglied die von deren Führung angeordneten und von einzelnen deren Gruppen begangenen Verbrechen zuzurechnen sind. Zudem waren nur einzelne Funktionäre der NSDAP und nur einzelne Entitäten des NS-Staats an diesen Verbrechen beteiligt. Mit der Mitwirkung am Systemwechsel für sich ge357 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 40; Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 134. 358 Tilman Graf, Wie löst Gustav Radbruch das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral?, Mainz 2012, 42, unter Bezugnahme auf Robert Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, in: Berichte aus der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V., Hamburg, Jg. 11, Heft 2, Göttingen 1993, S. 3. 359 Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Dissertation Tübingen 2003, 136.

Abgrenzung zum vorliegenden Fall

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nommen bestand noch kein Naheverhältnis zu den NS-Verbrechen, das eine Mitverantwortung daran bewirkt hätte. Jedenfalls bestand bei Reinthaller kein Vorsatz, dass der Systemwechsel auch NS-Verbrechen mit sich bringt. Es bleibt damit die allgemeine politische Problematik des Hochverrats. Bewirkt man durch eine Änderung der Staats- und Regierungsform einen Systemwechsel oder trägt man dazu bei, so kann das unter gewissen Umständen als Hochverrat einzustufen sein. Etabliert man damit dauerhaft eine neue Herrschaftsform, so wird man in dem damit eingerichteten neuen Staatssystem keine nachteiligen Folgen zu gewärtigen haben.360 Setzt sich aber das alte Staatssystem wieder durch oder ein anderes neues Staatssystem, sodass erneut ein Systemwechsel auf das alte oder ein anderes neues Staatssystem erfolgt, besteht die Möglichkeit, dass man wegen Mitwirkung am ersten, nicht dauerhaften Systemwechsel zur Rechenschaft gezogen wird. Aber im vorliegenden Fall war die Mitwirkung Anton Reinthallers am Systemwechsel nicht rechtswidrig, sodass er nach den Strafbestimmungen des alten Systems (des Bundesstaats Österreich) nicht zu bestrafen war361. Erst später wurde sein Verhalten vom neuen System (der Republik Österreich) rückwirkend für strafbar erklärt, und man ging dementsprechend gegen ihn strafrechtlich vor, was aber nach den Grundsätzen des Menschenrechts, wie sie nachher in der Menschenrechtskonvention als allgemeiner völkerrechtlicher Konsens statuiert wurden, unzulässig war.

360 Dazu Theodor Rittler, Die Abgrenzung des Hochverrates von den Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz, Juristische Blätter 1937, 265 (266): „Denn als Hochverrat beurteilt wird immer nur das mißglückte Unternehmen. Hat es dagegen zum Ziel geführt, ist es aller Strafbarkeit entrückt. Mit der Vernichtung des Staates in seiner alten Gestalt wird es ex post gewissermaßen legalisiert.“ 361 Siehe vorstehend Kapitel 4.3.2.2. zum Anschlussgesetz.

6. Andere Hochverratsprozesse Beim Fall Reinthaller wurde im Zuge des Prozesses und auch im Gnadenverfahren wiederholt auf andere Prozesse Bezug genommen, die wegen des Vorwurfs des Hochverrats nach § 8 KVG zuvor durchgeführt worden waren.362 Es ist daher angebracht, auf die wesentlichen Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Fall Reinthaller sowie auf deren Wechselwirkungen mit dem und deren Auswirkungen auf den Fall Reinthaller einzugehen.

6.1 Der Fall Dr. Guido Schmidt

Guido Schmidt wurde am 15. Jänner 1901 in Bludenz geboren. Nach der Mittelschule im Jesuiten-Internat Stella Matutina in Feldkirch studierte er an der Universität Wien Rechts- und Staatswissenschaften und erlangte dort im Jahr 1924 den Grad eines Doktors der Rechte. Am 18. September 1925 trat er in den Staatsdienst und wurde bei der österreichischen Gesandtschaft in Paris in Verwendung genommen. Er wurde mit 01. Juli 1927 provisorischer Attaché und am 28. Jänner 1929 zur provisorischen Dienstleistung in die zentrale Leitung der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten des Bundeskanzleramts einberufen. Nachdem er die Rangstufen eines Attachés und eines Ministerialkommissärs durchlaufen hatte, wurde er mit 01. Jänner 1931 in den Personalstand der Präsidentschaftskanzlei als Kabinetts-Kommissär übernommen. Dort wurde er Kabinetts-Sekretär und später Kabinetts-Vizedirektor.363 Seit 11. Juli 1936 war Dr. Guido Schmidt Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheit im Kabinett Schuschnigg II und seit 03. November 1936 im Kabinett Schuschnigg III, und seit 16. Februar 1938 Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten im Kabinett Schuschnigg IV. Am 11. März 1938 gab Dr. Schmidt mit dem Rücktritt der Regierung Schuschnigg auch seine Demission als Außenminister bekannt und lehnte es ab, dieses Ressort im Kabinett Seyß-Inquart zu übernehmen. Dr. Schmidt war niemals, weder in der Verbotszeit noch nach dem 13. März 1938, Mitglied oder auch nur Anwärter der NSDAP oder eines ihrer Wehrverbände.364 362 In der Dokumentation von Karl Marschall, Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich, Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Wien 2. Auflage 1987, 133f, wird bei den wegen des Vorwurfs des § 8 KVG geführten Strafverfahren nur jenes gegen Dr. Rudolf Neumayer angeführt. 363 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Vr 1920/45 und Vg 1g Hv 110/47, OÖ Landesarchiv, S. 5f. 364 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Vr 1920/45 und Vg 1g Hv 110/47, OÖ Landesarchiv, S. 6f.

Der Fall Dr. Guido Schmidt

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Dr. Schmidt wirkte maßgeblich am Zustandekommen des sogenannten Juli-Abkommens mit, des Abkommens zwischen dem Bundesstaat Österreich und dem Deutschen Reich vom 11. Juli 1936 über die Normalisierung der Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland.365 Im Anschluss an dieses Abkommen wurde Dr. Glaise-Horstenau als Vertreter der Nationalen Opposition zum Bundesminister ohne Portefeuille der Bundesregierung Schuschnigg, und Dr. Schmidt wurde zum Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, während Kanzler Dr. Kurt Schuschnigg weiterhin Leiter des Außenressorts blieb.366 Schmidt und Schuschnigg kannten einander aus der gemeinsamen Mittelschulzeit und waren seit mehreren Jahren befreundet.367 Die beiden hatten ein enges freundschaftliches Verhältnis.368 Dr. Schmidt 365 Darüber wurde in beiden Staaten das folgende Kommuniqué veröffentlicht: „In der Überzeugung, der europäischen Gesamtentwicklung zur Aufrechterhaltung des Friedens eine wertvolle Förderung zuteil werden zu lassen, wie in dem Glauben, damit am besten den vielgestaltigen wechselseitigen Interessen der beiden deutschen Staaten zu dienen, haben die Regierungen des Bundesstaates Österreich und des Deutschen Reiches beschlossen, ihre Beziehungen wieder normal und freundschaftlich zu gestalten. Aus diesem Anlaß wird erklärt: 1.) Im Sinne der Feststellungen des Führers und Reichskanzlers vom 21. Mai 1935 anerkennt die Deutsche Reichsregierung die volle Souveränität des Bundesstaates Österreich. 2.) Jede der beiden Regierungen betrachtet die in dem anderen Lande bestehende innerpolitische Gestaltung, einschließlich der Frage des österreichischen Nationalsozialismus, als eine innere Angelegenheit des anderen Landes, auf die sie weder unmittelbar noch mittelbar Einwirkung nehmen wird. 3.) Die österreichische Bundesregierung wird ihre Politik im Allgemeinen, wie insbesondere gegenüber dem Deutschen Reich, stets auf jener grundsätzlichen Linie halten, die der Tatsache, daß Österreich sich als deutscher Staat bekennt, entspricht. Hiedurch werden die Römer Protokolle ex 1934 und deren Zusätze ex 1936 sowie die Stellung Österreichs zu Italien und Ungarn als den Partnern dieser Protokolle nicht berührt. In der Erwägung, daß die von beiden Seiten gewünschte Entspannung sich nur verwirklichen lassen wird, wenn dazu gewisse Vorbedingungen seitens der Regierungen beider Länder erstellt werden, wird die österreichische Bundesregierung sowohl wie die Reichsregierung in einer Reihe von Einzelmaßnahmen die hiezu notwendigen Voraussetzungen schaffen.“ (Wiener Zeitung, Ausgabe vom 12. Juli 1936). 366 Seit der am 13. Mai 1936 erfolgten Kabinettsumbildung, die infolge der Differenzen zwischen dem Kanzler Dr. Schuschnigg und dem Vizekanzler Ernst Rüdiger Starhemberg ausgelöst worden war und bei der das Ausscheiden Starhembergs und des Außenministers Egon Berger-Waldenegg aus der Regierung erfolgte, hatte Dr. Schuschnigg das Außenministerium selbst übernommen (Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 10). Dr. Schuschnigg war damit nicht nur als Bundeskanzler Leiter der österreichischen Bundesregierung, sondern zugleich auch Leiter des Ressorts des Landesverteidigungsministers und auch Leiter des Ressorts für auswärtige Angelegenheiten; außerdem war er Frontführer der Vaterländischen Front (Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 16). 367 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 11. 368 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 9.

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Andere Hochverratsprozesse

war zwar kein Nationaler, wurde aber als Nationaler angesehen, sowohl in Kreisen der Vaterländischen Front als auch vielfach bei den Nationalen selbst.369 Dr. Schuschnigg hatte ein großes Interesse daran, dass Dr. Schmidt als Nationaler galt, weil man ihm dadurch einerseits seitens des Deutschen Reichs gewogen war, er aber andererseits sein Vertrauensmann war.370 Die Vorarbeiten zum Juli-Abkommen waren noch unter dem früheren Außenminister Egon Berger-Waldenegg erfolgt. Der deutsche Botschafter Franz von Papen hatte bereits am 11. Juli 1935 einen Vorentwurf für das Abkommen an Berger-Waldenegg übergeben. Am 01. Oktober 1935 war ein österreichischer Gegenentwurf an Franz von Papen überreicht worden. Die Verhandlungen waren allerdings versandet und wurden am 01. Mai 1936 durch Dr. Schmidt im Auftrag des Bundeskanzlers wieder in Gang gebracht.371 Dr. Schmidt führte auf österreichischer Seite Vorarbeiten für das Abkommen durch, die maßgeblichen Besprechungen führte aber Kanzler Schuschnigg selbst.372 Am 11. Juli 1936 wurde dann das Kommuniqué von Bundeskanzler Schuschnigg und Franz von Papen parafiert, und es wurde je eine Ausfertigung des zusätzlichen Gentleman’s Agreement unterfertigt und ausgetauscht. Die fallweisen Äußerungen des Dr. Schmidt, das Juli-Abkommen sei sein Werk, hat das Volksgericht Wien daher als eine aus übersteigertem Geltungsbedürfnis resultierende Übertreibung angesehen.373 Mit dem vertraulich gehaltenen Gentleman’s Agreement wurde eine Reihe von Vorbedingungen formuliert, um „die Beziehungen zwischen dem Bundesstaate Österreich und dem Deutschen Reich wieder normal und freundschaftlich zu gestalten“. Das Gentleman’s Agreement beinhaltet Regelungen der Behandlung der Reichsdeutschen in Österreich und der österreichischen Staatsangehörigen im Reiche, der gegenseitigen kulturellen Beziehungen, der Enthaltung einer politischen Einwirkung der Presse auf die Verhältnisse im jeweils anderen Land und der wechselseitigen Zulassung bestimmter Zeitungen im jeweils anderen Land, der österreichischen nationalsozialistischen Emigration in das Reich, der Verwendung von Hoheitszeichen und Nationalhymnen eines Staates im anderen Staat, der Erneuerung der wirtschaftlichen Beziehungen, der Aufhebung der Beschränkungen des Reiseverkehrs, die „anlässlich 369 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 13. 370 Zeugenprotokoll Dr. Kurt Schuschnigg in Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Österreichische Staatsdruckerei, Wien 1947, S.  433. 371 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 10. 372 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 11. 373 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 13.

Der Fall Dr. Guido Schmidt

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der zwischen beiden Staaten entstandenen Spannungen beiderseits verfügt“ worden waren, und eines Meinungsaustausches in gemeinsamen Fragen der Außenpolitik.374 Das Volksgericht Wien hat zu den Auswirkungen des Juli-Abkommens die folgenden Konstatierungen vorgenommen: Das Juli-Abkommen selbst hatte in Österreich geteilte Aufnahme gefunden. Anfänglich schien es, daß die Normalisierung der Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland einen günstigen Verlauf nähmen. Die illegale österreichische nationalsozialistische Partei hatte durch eine Zeit eine Stütze im Deutschen Reich verloren. Denn nach einem Bericht des früheren Gauleiters von Kärnten Dr. Friedrich Rainer vom 06.07.1939 an den Gauleiter Bürckel über die Vorgänge in der NSDAP Österreichs „vom Beginn des letzten Stadiums des Kampfes bis zur Machtergreifung am 11.03.1938“ wurde über Auftrag Hitlers tatsächlich die illegale Landesleitung von Österreich in München aufgelöst und die Partei in Österreich ihren eigenen Hilfsquellen überlassen. Durch die Aufhebung der 1000-Mark Sperre hob sich anfänglich einiger Maßen der Fremdenverkehr in den westlichen Gebieten von Österreich; allerdings konnte diese Hebung des Fremdenverkehrs wegen der strengen Devisenvorschriften des Deutschen Reiches für Österreich keine nennenswerten finanziellen Erleichterungen bedeuten. Die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern belebten sich tatsächlich wieder, doch zeigten sich bald wieder Schwierigkeiten aller Art. Im Herbst 1936 flackerte mancherorts die Illegalität der österreichischen NSDAP wieder auf, die deutsche Presse hielt sich vielfach nicht an den Pressefrieden und die wirtschaftlichen Beziehungen entwickelten sich nicht in dem erhofften Ausmaß.

Mit der Anklageschrift vom 16. Jänner 1947 erhob die Staatsanwaltschaft Wien gegen Dr. Guido Schmidt die Anklage, dass dieser in den Jahren 1936 bis 1938 in und außerhalb Österreichs als Staatssekretär, zuletzt auch als Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten, somit in führender Stellung, im Zusammenspiel mit maßgebenden Persönlichkeiten des Deutschen Reiches und der NSDAP ohne Wissen und unter Täuschung der österreichischen Bundesregierung, insbesondere des Bundeskanzlers Dr. Kurt Schuschnigg, in Verfolgung persönlicher politischer Ziele etwas unternommen habe, was die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zugunsten der NSDAP und die Machtergreifung durch diese förderte, sodass er das Verbrechen des Hochverrates am österreichischen Volk nach § 8 KVG begangen

374 Das Gentleman’s Agreement ist abgedruckt in: Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Verlag Österreich Wien 1947, S. 480.

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Andere Hochverratsprozesse

habe.375 Das Strafverfahren wurde vom Volksgericht Wien im Zeitraum vom 26. Februar bis zum 12. Juni 1947 an insgesamt 49 Verhandlungstagen durchgeführt.376 Dieser Strafprozess erregte großes Aufsehen im In- und Ausland. Daher wurden nach dem Prozess die Anklageschrift, die gerichtlichen Protokolle, die einbezogenen Dokumente und das Urteil veröffentlicht.377 Diese Veröffentlichung wird im Vorwort dieser Publikation wie folgt begründet: Kein Gerichtsverfahren seit dem ersten Nürnberger Prozeß gegen die Hauptschuldigen des Zweiten Weltkrieges hat in so gewaltigem Maße das Interesse der österreichischen wie auch der Weltöffentlichkeit erregt, wie der Hochverratsprozeß gegen den letzten Außenminister der Ersten Österreichischen Republik Dr. Guido Schmidt. Während nahezu vier Monaten war ein Senat des Wiener Volksgerichtes, der sich aus zwei Berufsrichtern und drei Schöffen zusammensetzte, bestrebt, aus einer ungeheuren Fülle von Dokumenten und Zeugenaussagen, in strengster Wahrung der Objektivität die Wahrheit zu finden. Die Notwendigkeit dieser gründlichen Verhandlungsweise hat sich nicht nur daraus ergeben, daß die Stellen und die Handlungen des Angeklagten von jedem nur erdenklichen Gesichtspunkt zu untersuchen waren, sondern nicht zuletzt auch aus dem Grunde, weil der Prozeß die Haltung des österreichischen Volkes in den kritischen Jahren vor der nationalsozialistischen Okkupation berührte. Das außerordentliche Interesse wie auch die historische Bedeutung dieses Prozesses rechtfertigen die Übergabe des gesamten Gerichtsprotokolls an die Öffentlichkeit.378

Der Senat des Volksgerichts Wien war sich zum einen der Geschichtsträchtigkeit seiner Aufgabe bewusst, zum anderen des impliziten Erfordernisses der Abgrenzung der politischen Bewertung der Außenpolitik Österreichs der Jahre 1936 bis 1938 von deren strafrechtlichen Beurteilung: Dieser Prozeß wurde ein politischer genannt und dies mit Recht, denn einerseits ist das Delikt, das dem Angeklagten in der Anklage angelastet wurde, nämlich das Verbrechen des Hochverrates, eines jener Delikte, die gemeiniglich in die Gruppe der politischen Delikte 375 Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1947, S. 2–22. 376 Zur Analyse des Strafverfahrens siehe Magdalena Neumüller, Diskursanalyse des Hochverratsprozesses gegen Dr. Guido Schmidt, Diplomarbeit Universität Wien 2012. 377 Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, den unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1947. 378 Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, den unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1947.

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eingereiht werden; andererseits ist der Hintergrund, vor dem sich das Tun und Lassen des Angeklagten abspielte, ein politischer, nämlich die Außenpolitik Österreichs in den Jahren 1936–1938. Trotz dieser Tatsachen ist aber die Aufgabe des Gerichtes nicht die gewesen, die Politik, insbesondere die Außenpolitik Österreichs in jener Zeit, auf ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit, auf etwaige Fehler, Mißgriffe und Irrtümer hin zu untersuchen, wie es auch nicht Sache des Gerichtes war, ein Urteil über die Geschicklichkeit oder Unzweckmäßigkeit der diplomatischen Tätigkeit des Angeklagten und der von ihm veranlaßten diplomatischen Aktionen abzugeben. Allerdings mußten auch Fragen der Außenpolitik Österreichs in diesem Prozeß einer eingehenden Erörterung unterzogen werden, um die Ergebnisse dieser Betrachtung im Zusammenhalt mit den in der Anklage aufgeworfenen Anschuldigungen gemeinsam würdigen zu können. Schließlich konnte die Tätigkeit des Gerichts auch nicht eine historische sein, das heißt, die eines Geschichtsforschers oder Geschichtsschreibers, wenn auch zugegeben werden muß, daß gerade dieser Prozeß für den Historiker eine Fülle von Tatsachen zu Tage gefördert hat.379

Der Senat war sich auch bewusst, dass generell bei der Beurteilung abgeschlossener Sachverhalte, aber im Besonderen auch bei der Beurteilung historischer Ereignisse die grundlegende Differenzierung zwischen prospektiver und retrospektiver Betrachtung anzuwenden ist: Schließlich muß noch auf einen wichtigen Grundsatz verwiesen werden, von dem sich das Gericht bei der Prüfung der Beweisergebnisse leiten lassen mußte; bei der Beurteilung von Handlungen und Unterlassungen des Angeklagten konnten, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nur jene Verhältnisse und besonderen Umstände Beachtung finden, die zur damaligen Zeit vorlagen; nicht aber konnten Verhältnisse, Erlebnisse und Erfahrungen, wie sie spätere Zeiten brachten, dabei herangezogen werden. Denn es ist klar, daß man versucht ist, viele Ereignisse und Aktionen der Vergangenheit heute rückschauend in einem anderen Licht zu erblicken als damals, und daß auch ein Politiker und Diplomat in manchen Fällen anders gehandelt hätte, hätte er seinerzeit diese Kenntnis von nachträglichen Ereignissen gehabt, über die er jetzt verfügt.380

Bei der Urteilsfindung ergab sich für das Gericht in besonderem Maße die Schwierigkeit, dass zum Teil völlig gegensätzliche Zeugenaussagen vorlagen. Eine Anzahl von 379 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 2. 380 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 5.

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Andere Hochverratsprozesse

Zeugen war dem Angeklagten gegenüber gegnerisch bis feindselig eingestellt. Diese entweder aus persönlichen Gründen oder aus politischer Gegnerschaft resultierende ablehnende Haltung färbte auf deren Aussagen ab; andere Zeugen wiederum standen dem Angeklagten durch freundschaftliche oder kollegiale Bande nahe, sodass sie ihrer Sympathie für den Angeklagten besonders Ausdruck verliehen.381 So beschäftigte sich das Volksgericht Wien in diesem Fall mit den Details der Außenpolitik Österreichs der Jahre 1936 bis 1938, die es zusammenfassend mit dem Begriff des „hinhaltenden Widerstandes“ bezeichnete.382 Insgesamt konnte das Gericht nicht feststellen, dass Dr. Schmidt eine den eigenständigen Interessen Österreichs widersprechende Außenpolitik betrieben oder in seiner Tätigkeit den Bundeskanzler hintergangen hätte, sodass es am 12. Juni 1947 einen Freispruch fällte. Als Dr. Seyß-Inquart am 11. März 1938 Dr. Schmidt einlud, als Außenminister in das Kabinett Seyß-Inquart einzutreten, lehnte Dr. Schmidt ab.383 Am Zustandekommen des Bundesverfassungsgesetzes vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (des Anschlussgesetzes) war Dr. Guido Schmidt somit nicht beteiligt, sodass seine Strafsache jener von Ing. Anton Rein­ thaller nicht gleicht. In Ansehung der im Fall Reinthaller entscheidungswesentlichen Frage, ob durch das Anschlussgesetz überhaupt noch die NS-Machtergreifung gefördert und ob mit der Mitwirkung an diesem Gesetz somit der Hochverrat nach § 8 KVG begangen werden konnte, enthält das in der Strafsache gegen Dr. Guido Schmidt ergangene Urteil aber relevante Feststellungen: „Nicht in der Anklageschrift, aber im Zuge der Hauptverhandlung, hat der öffentliche Ankläger dem Angeklagten auch zum Vorwurf gemacht, er habe gegen die drohende Aggression Hitlers gegen Österreich nicht alles für einen militärischen Widerstand Nötige vorgekehrt und insbesondere am 11.03.1938 keinen bewaffneten Widerstand gegen den Einmarsch deutscher Truppen in die Wege geleitet, dadurch also offenbar die gewaltsame Machtergreifung durch die NSDAP in Österreich gefördert. Durch das Beweisverfahren ist hervorgekommen, daß der überwiegende Teil der österreichischen Bevölkerung zu einem solchen aktiven Widerstand – sei es durch Niederwerfen eines Putsches im Inneren, sei es so381 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 4. 382 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 50. 383 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 78f. Allerdings wurde er schon bald auf Grund seines guten Verhältnisses zu Hermann Göring, das bereits während seiner Tätigkeit als Staatssekretär entstanden war, zum Mitglied des Vorstands der Hermann-Göring-Werke und hatte in der NS-Zeit außerdem eine Reihe weiterer leitender Positionen in der Wirtschaft (Magdalena Neumüller, Diskursanalyse des Hochverratsprozesses gegen Dr. Guido Schmidt, Diplomarbeit Universität Wien 2012, 5).

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gar zum Kampfe gegen eindringende bewaffnete Kräfte von jenseits der Grenze – durchaus bereit und Willens war und einer Aufbietung zum Widerstand mit den Waffen in der Hand freudig und mit Begeisterung gefolgt wäre. Hierbei handelt es sich, wie durch die Aussagen der Zeugen Richard Schmitz, Otto Horn, Theodor Heinisch, Leopold Horak, Karl Seitz, Josef Gläser, Karl Hans Sailer, Friedrich Hillegeist, Heinrich Widmaier und Dr. Matejka bewiesen ist, nicht nur um die in der Vaterländischen Front organisierten Kreise der Bevölkerung, sondern auch um die sozialdemokratisch und kommunistisch eingestellten Teile der Bevölkerung einschließlich der Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes. Da es sich aber in der vorliegenden Frage in erster Linie um eine militärische handelt, gründet das Gericht seine Feststellungen auf die Aussage des Zeugen Feldmarschall Leutnant a.D. Jansa, der in der Zeit von Mai 1935 bis Jänner 1938 Chef des Generalstabes des österreichischen Bundesheeres war. Die Aussage dieses Zeugen hat auf das Gericht mit Rücksicht auf die große militärische Sachkenntnis des Zeugen und im Hinblick auf die zum Ausdruck gebrachte Überzeugungskraft seiner Darlegungen einen besonders ausgezeichneten Eindruck gemacht. Durch die Aussage des Zeugen Feldmarschall Leutnant Jansa ist erwiesen, daß das österreichische Bundesheer, in vorzüglicher Weise und modern ausgerüstet, zu einer militärischen Verteidigung Österreichs durchaus geeignet gewesen und auch seine Schlagkraft und Verläßlichkeit über jeden Zweifel erhaben war, da die Durchsetzung des Heeres mit illegalen Nationalsozialisten nur zu einem verschwindenden Bruchteil gegeben war. Es wurden auch an der österreichisch-deutschen Grenze sorgfältig ausgedachte und geplante Straßensperren und andere Grenzsicherungen vorbereitet und angelegt und alles zu einer ungestörten Mobilisierung der österreichischen Streitkräfte Notwendige vorgekehrt. Waren ja gerade diese Grenzsicherungen wiederholt Gegenstand von ernsten diplomatischen Vorstellungen seitens der deutschen Reichsregierung gewesen, wie dies aus einem Berichte des Gesandten Tauschitz hervorgeht (Zl. 7/Pol. v. 12.01.1938) und aus der Aussage des Zeugen Revertera, demgegenüber Göring bei seinem Gespräch anlässlich der Jagdausstellung in Berlin hierüber Klage geführt hat. Die Tatsache der österreichischen Straßensperren war ja auch eine der ersten, die Hitler dem Kanzler Schuschnigg auf dem Obersalzberg in der heftigsten Weise ins Gesicht schleuderte. Allerdings hatte Österreich in peinlich genauer Befolgung der militärischen Klauseln des Friedensvertrages von St. Germain sich nicht einmal die Möglichkeit zunutze gemacht, ein Heer von 30.000 Mann zu unterhalten, was ohne Zweifel auch auf finanzielle Erwägungen zurückzuführen ist. So fand auch ein Antrag des Zeugen auf einen Nachtragskredit für Ausrüstungszwecke für das kommende Jahr in der Höhe von 125 Millionen S im Ministerrat keine Zustimmung, obwohl sich über Ersuchen des Zeugen auch der Angeklagte eingeschaltet und vom Standpunkt der Außenpolitik für die Annahme dieser Budgetpost eingesetzt hatte, allerdings vergeblich.

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Andere Hochverratsprozesse

Der Zeuge erklärte aber vom militärischen Standpunkt einen bewaffneten Widerstand am 11.03.1938 gegenüber dem vielfach überlegenen, an der österreichischen Grenze bereits aufmarschierten, modernst und vorzüglich ausgerüsteten deutschen Streitkräften als eine Frivolität und ein sinnloses Blutvergießen. Ausschlaggebend für diese Beurteilung ist die vom Zeugen angegebene Tatsache, daß zwar innerhalb sechs Stunden der rund 5000 Mann starke Grenzschutz mit 150 Geschützen bereitgestellt werden konnte, daß aber erst innerhalb der nächsten 48 Stunden das Bundesheer von etwa 25.000 Mann mit etwa 350 Geschützen in den Alarmzustand hätte gebracht werden können. In den folgenden fünf Tagen hätten nach und nach weitere 50.000 Mann ausgebildete Truppen zur Ergänzung des Bundesheeres herangezogen werden können. Dazu kommt noch, daß Bewaffnung und Munition in Österreich nur für zwei kampfstarke Tage vorhanden waren, eine Tatsache, die gleichfalls nur auf Österreichs gewissenhafte Anwendung der Bestimmungen des Friedensvertrages von St. Germain zurückzuführen ist. Hier sei auf die Aussage des Zeugen Peter Revertera verwiesen, der früher Sicherheitsdirektor von Ober-Österreich war, daß z.B. jeder Gendarm seines Landes eine Munitions-Ausstattung von 20 Patronen, jeder Milizmann sogar nur von 10 Stück besaß. Nach Ansicht des Zeugen Jansa hätte, vom militärischen Standpunkt betrachtet, es lediglich einen Sinn gehabt, wenn das Bundesheer kurz vor oder nach der Zusammenkunft in Berchtesgaden bereitgestellt worden wäre, wozu genügend Zeit gewesen wäre, da die deutschen Truppen noch nicht aufmarschiert waren, um unseren Unterhändlern bei Hitler mehr Nachdruck zu verleihen. Vielleicht hätten die Verhandlungen, so meinte der Zeuge, einen anderen Verlauf und einen für Österreich günstigeren Ausgang genommen. Einen militärischen Widerstand gegen die deutsche Wehrmacht hätte aber unser Bundesheer nach dem fachmännischen Urteil des Zeugen nur durch 2 Tage leisten können. Ob aber innerhalb dieser Frist die Großmächte, eventuell auch die Tschechoslowakei, tatsächlich mit einer bewaffneten effektiven Hilfe für Österreich eingegriffen hätten, in dieser Hinsicht mußte, so erklärte der Zeuge selbst, der Angeklagte als verantwortlicher Leiter der österreichischen Außenpolitik einen besseren Überblick gehabt haben, als er. Im Hinblick auf diese Darlegungen des Zeugen Jansa ist das Gericht zur Überzeugung gekommen, daß, da wie bereits früher auseinandergesetzt, ein sofortiges bewaffnetes Eingreifen der Westmächte, Italiens oder Tschechoslowakei in keiner Weise zu erwarten war – von Seiten Englands vor allem auch deshalb nicht, weil dieses seine Aufrüstung noch nicht abgeschlossen hatte – ein militärischer Widerstand gegenüber dem einmarschierenden deutschen Heer nicht in Frage kam, wiewohl Volk und Heer hiezu bereit gewesen wären und auch soweit dies in den Mitteln eines kleinen Staates, der überdies durch Friedensvertragsbestimmungen und aus finanziellen Gründen beengt war, gelegen sein konnte, alles auf dem militärischen Sektor Mögliche geschehen und nichts verabsäumt worden war. Durch die Ausführungen des Zeugen Jansa erscheint daher die diesbezügliche Verantwortung des Angeklagten bestätigt.

Der Fall Dr. Rudolf Neumayer

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Was den Gedanken anlangt, durch Bereitstellung des Bundesheeres unmittelbar vor oder nach der Besprechung von Berchtesgaden den Verhandlungen auf Seiten Österreichs Unterstützung angedeihen zu lassen und dadurch Österreichs Lage gegenüber der Bedrohung durch Deutschland zu befestigen und einen günstigen Einfluß auf die Verhandlungen auszuüben, so muß wohl gesagt werden, daß eine solche Maßnahme unter den damaligen außenpolitischen Verhältnissen und bei der Mentalität Hitlers seitens Deutschlands als eine Provokation aufgefaßt worden wäre, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem plötzlichen Schlage Deutschlands gegen Österreich geführt hätte. Wenn aber Österreich zu dieser Zeit oder etwa am 11. März 1938 durch Beginn eines aussichtslosen militärischen Widerstandes über Österreichs Volk und Land eine blutige Katastrophe herbeigeführt hätte, so hätten die österreichischen Staatsmänner ohne Zweifel schwerste Verantwortung nicht nur vom Standpunkt Österreichs, sondern auch vom Standpunkt ganz Europas auf sich geladen, da sie auf diese Weise eine europäische Konflagration zu einer Zeit heraufbeschworen hätten, zu welcher insbesondere die Westmächte militärisch noch nicht so weit gerüstet waren, um mit Aussicht auf Erfolg gegen den deutschen Aggressor auftreten zu können. Es kann also in dieser Hinsicht dem Angeklagten schon aus den vorausgeführten Gründen ein strafbares Verschulden nicht angelastet werden, abgesehen davon, daß er es gewesen war, der sich für die Bewilligung des vom Chef des Generalstabes beantragten Nachtragskredit von 125 Millionen S eingesetzt hatte und daß ja nicht er letzten Endes über die Aufbietung des Heeres oder gar über die Führung eines Krieges zu entscheiden hatte, weil er weder Chef der österreichischen Bundesregierung, noch auch der Bundesminister für die Landesverteidigung war.“384

6.2 Der Fall Dr. Rudolf Neumayer 6.2.1 Allgemeines

Dr. Rudolf Neumayer war vom 03. November 1936 bis zum 11. März 1938 Bundesminister für Finanzen. Während seiner Studienzeit an der Universität Wien wurde er im Jahr 1906 Mitglied der Burschenschaft Vandalia.385 Im März 1933 wechselte er zur gemäßigteren Burschenschaft Albia. Nach einer Zeugenaussage habe er diesen Übertritt vollzogen, weil die Burschenschaft Vandalia Grundsätze der NSDAP

384 Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Hv 110/47, S. 68–71. 385 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 22.

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Andere Hochverratsprozesse

in ihre Satzungen aufgenommen habe.386 Nach Absolvierung seines Studiums, er promovierte 1911 zum Doktor beider Rechte, trat Dr. Neumayer im Jahr 1912 in den Dienst der Gemeinde Wien beim Magistratischen Bezirksamt Wien III. Seine Dienstzeit bei der Gemeinde Wien wurde unterbrochen durch seinen Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg. Er galt als sehr kompetent, zugleich aber auch als „Wendehals“, ein Mann, dem eine so große politische Anpassungsfähigkeit attestiert wird, dass man ihn als „Herr Karl auf höchster Ebene“ bezeichnet.387 Er diente sich zunächst den Sozialdemokraten an. 1924 wurde er Vorstand einer Abteilung der Finanzverwaltung der Stadt Wien.388 Nach der Ausschaltung der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung durch die Regierung Dollfuß im Februar 1934 wurde Dr. Neumayer unter dem neuen, christlich-sozialen Bürgermeister Richard Schmitz zum Finanzreferenten der Gemeinde Wien389. Im November 1936 trat Dr. Neumayer als Finanzminister in die Bundesregierung unter Bundeskanzler Dr. Schuschnigg ein. Dem Kabinett Schuschnigg gehörte er bis zum 11. März 1938 an.390 In der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 trat Dr. Neumayer nach dem Rücktritt des Dr. Schuschnigg über Aufforderung von Dr. Seyß-Inquart als Finanzminister in dessen Kabinett ein und wirkte in dieser Funktion am Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich391 mit. Er war in dieser Funktion bis Mitte Mai 1938 an der Überleitung der österreichischen Finanzverwaltung in die deutsche Reichsfinanzverwaltung beteiligt und erhielt, nachdem er mit 31. Mai 1938 in Folge deren Reduktion aus der Österreichischen Landesregierung ausschied, mit Dienstvertrag vom 10. Februar 1941 den Posten des Generaldirektors der Wiener Städtischen Wechselseitigen Allgemeinen Versicherungsanstalt a.G.392 Dieses Dienstverhältnis 386 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 22. 387 Wolfgang Fritz, Ein Herr Karl auf höchster Ebene, Wiener Zeitung, Ausgabe vom 08.04.2003. Eine profunde Analyse der spezifischen Beamtenmentalität, die Dr. Neumayer repräsentierte, bietet Josef Mentschl, Rudolf Neumayer, „ein guter Österreicher“ – „Ich kümmere mich um Politik überhaupt nicht“, in: Herbert Matis (Hrsg.), Historische Betriebsanalyse und Unternehmer, Festschrift für Alois Mosser, Wien 1997, 101. 388 Josef Mentschl in Neue Deutsche Biographie, Duncker & Humblot, Berlin 1999, 168. 389 Im Geltungsbereich der Verfassung 1934 „Bundesunmittelbare Stadt Wien“ (Art. 2 und Art. 136 der Verfassung 1934, BGBl für den Bundesstaat Österreich 1934/1). 390 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, AS 277. 391 BGBl 1938/75. 392 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, AS 277. Damit ist er nach seinem Ausscheiden aus der Österreichischen Landesregierung weich gefallen, wie Glaise-Horstenau süffisant konstatierte (Peter Broucek, Ein General im Zwielicht – Die Erinnerungen des Edmund Glaises von Horstenau, Band 2, Wien, Köln, Graz 1983, 308).

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löste der spätere öffentliche Verwalter dieser Gesellschaft, Josef Anderle, mit Schreiben vom 29. Dezember 1945 auf, womit er auch die Bestellung von Dr. Neumayer zum Generaldirektor (Vorstandsvorsitzenden) widerrief.393 Die für die Wirksamkeit dieser Maßnahmen erforderliche Übermittlung des Schreibens an Dr. Neumayer erfolgte über das Volksgericht Wien und das Gefangenenhaus beim Landesgericht für Strafsachen Wien.394 Zu betonen ist, dass Dr. Neumayer nach den gerichtlichen Feststellungen zum einen als besonders kompetent auf dem Gebiet der Finanzen galt, zum anderen aus seiner nationalen Gesinnung keinen Hehl gemacht hatte, sodass er sowohl in der Wiener Verwaltung als auch in der Bundesregierung als Nationaler bekannt war.395 Das Volksgericht Wien attestiert Dr. Neumayer außerdem einen grenzenlosen Ehrgeiz.396 Aufgrund seines besonderen Ehrgeizes habe Dr. Neumayer den Wunsch gehabt, seine Position auch bei geänderten politischen Verhältnissen nicht zu verlieren, sondern nach Möglichkeit zu halten. So wird u.a. festgestellt, dass es für Dr. Neumayer charakteristisch sei, dass er, nachdem die Christlich-Sozialen von den Sozialisten die Wiener Verwaltung übernommen hatten, bemüht gewesen sei, dem christlich-sozialen Bürgermeister Schmitz als seinem neuen Herrn „mit besonderem Eifer zu dienen“, und dass er besonders aufgefallen sei durch eine „übertrieben devote Haltung gegenüber dem Regierungschef Schuschnigg sowie auch gegenüber dem Staat und der Staatsform“.397 Dem Volksgericht erschien es auch der Feststellung wert, dass Dr. Neumayer nach dem Rücktritt des Dr. Schuschnigg vom Amt des Bundeskanzlers und der Ernennung des Dr. Seyß-Inquart zum Bundeskanzler nicht einmal versucht hat, mit seinem früheren Regierungschef Schuschnigg oder mit Bundespräsident Miklas über die Lage zu sprechen, um sich Klarheit zu verschaffen, obwohl diese 393 Schreiben von Josef Anderle als öffentlicher Verwalter der Wiener Städtische Wechselseitige Allgemeine Versicherungsanstalt auf Gegenseitigkeit an Dr. Neumayer vom 29. Dezember 1945, Teil von ON 50 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 394 Schreiben von Josef Anderle als öffentlicher Verwalter der Wiener Städtischen Wechselseitigen Allgemeinen Versicherungsanstalt auf Gegenseitigkeit an das Landesgericht für Strafsachen Wien zu Händen Landesgerichtsrat Dr. Berger vom 29. Dezember 1945 mit Übernahmebestätigung vom 31. Dezember 1945, Teil von ON 50 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 395 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 22f. 396 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 25. 397 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 24.

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Andere Hochverratsprozesse

für ihn ohne Weiteres erreichbar waren; nach Auffassung des Volksgerichts Wien sei ihm „dieser Gedanke gar nicht gekommen, er hatte ja jetzt Seyß-Inquart vor sich!“398. 6.2.2 Strafverfolgung

Die Staatsanwaltschaft Wien beantragte bereits am 20. Juni 1945 beim Volksgericht Wien die Einleitung des Strafverfahrens gegen Dr. Rudolf Neumayer wegen des Vorwurfs des Hochverrats, wobei sie auch die Verhängung der Untersuchungshaft verlangte.399 Dr. Neumayer war bereits antragsgemäß verhaftet und am 12. Mai 1945 ins Gefangenenhaus beim Landesgericht für Strafsachen Wien eingeliefert worden.400 Das Strafverfahren war beim Volksgericht Wien zu Vg 1b Vr 445/45 anhängig, das Hauptverfahren unter Vg 1b Hv 187/45. Die am 12. November 1945 gegen Dr. Neumayer erhobene Anklage beinhaltete den Vorwurf, dass dieser dadurch das Verbrechen des Hochverrats nach § 8 KVG begangen habe, dass er in der Zeit vom 12. März 1938 bis Mitte Mai 1938 durch seinen Eintritt in das Kabinett Seyß-Inquart und durch seine Tätigkeit als Finanzminister, insbesondere aber dadurch, dass er am 13. März 1938 für das Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, BGBl 1938/75, gestimmt hat, für sich allein und in Verbindung mit anderen in führender Stellung etwas unternommen hat, das die Machtergreifung durch die NSDAP in Österreich vorbereitet und gefördert [hat].401

Das Volksgericht Wien führte von Montag, dem 28. Jänner 1946, bis Samstag, dem 02. Februar 1946, die Hauptverhandlung durch. Mit Urteil vom 02. Februar 1946402 erkannte es den Angeklagten im Sinne der Anklage für schuldig und verurteilte diesen zu lebenslangem schweren Kerker, verschärft durch eine Dunkelhaft an jedem 13. März und ein hartes Lager vierteljährlich. Des Weiteren wurde gemäß § 9 Kriegs398 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 29. 399 Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 20.06.1945 zu 15 St 6023/45 im Antrags- und Verfügungsbogen, ON 1 des Gerichtsakts des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45 (vormals Vg 2b Vr 445/45). 400 Einlieferungsvermerk vom 12. Mai 1945, ON 3 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 401 Anklageschrift vom 12. November 1945, ON 43 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 402 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv.

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verbrechergesetz auf die Einziehung dessen gesamten Vermögens erkannt. Dieses Urteil wurde vom Senat, der sich aus zwei Berufsrichtern und drei Schöffen, einer Schöffenrichterin und zwei Schöffenrichtern, zusammensetzte, nach einer drei Stunden und 15 Minuten dauernden Beratung einstimmig gefällt.403 Im Zusammenhang mit der Bestrafung war diese Einstimmigkeit der Beschlussfassung gemäß § 13 Abs. 1 KVG die Voraussetzung dafür, dass anstelle der in § 8 KVG vorgesehenen Todesstrafe eine Freiheitsstrafe verhängt werden konnte. Das Volksgericht Wien begründete seinen Strafausspruch über die Art und das Ausmaß der verhängten Strafe damit, dass es mit Rücksicht darauf, dass der Angeklagte nicht als führender Nationalsozialist in der Regierung Seyß-Inquart (wenn auch in führender Stellung als Minister) anzusehen ist und er sich mehr oder weniger gerne nur als willfähriges Werkzeug dieser Regierung gebrauchen ließ, was auf seine nationale Grundhaltung und seinen maßlosen Ehrgeiz zurückzuführen ist, er aber sich unbestreitbar um die öffentlichen Finanzen der Wiener Gemeindeverwaltung durch viele Jahre und auch als Bundesminister für Finanzen um Stadt und Staat Verdienste erworben hat, das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles angenommen“ hat, „der bei Stimmeneinhelligkeit anstelle der Todesstrafe die Verhängung einer Freiheitsstrafe gerechtfertigt erschienen ließ.404

Bei der Strafbemessung sah das Volksgericht Wien als strafmildernd das Tatsachengeständnis des Angeklagten Dr. Neumayer, dessen Unbescholtenheit, dessen guten Leumund und dessen Fürsorgepflicht für Gattin und Sohn an. Als erschwerend sah es bei der Strafbemessung den Umstand an, dass der Angeklagte infolge seiner besonderen Intelligenz die Folgen seiner Handlungsweise erkennen konnte, jedoch mit der Einschränkung, dass er durch sein hochverräterisches Handeln keine unmittelbare Blutschuld auf sich geladen hat und die katastrophalen Folgen des nachfolgenden Krieges für das österreichische Volk im Zeitpunkt der Tat nicht vorhersehen konnte,

und des Weiteren „die besondere Treulosigkeit gegenüber der letzten österreichischen Regierung, der er durch 1½ Jahre angehört hat, und der große Verfassungs- und Eidbruch, den der Angeklagte als Minister verschuldet hat“. Eine Begründung für 403 Beratungsprotokoll vom 02.02.1946, ON 72 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 404 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 47f.

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Andere Hochverratsprozesse

den Teil der Strafverschärfung, der die Dunkelhaft an jedem 13. März eines Jahres umfasst, enthält das Urteil nicht. Es erscheint jedoch offensichtlich, dass damit die besondere Symbolik bewirkt werden sollte, dass bei der jährlichen Wiederkehr des Tages der Beschlussfassung des Anschlussgesetzes eine Dunkelheit als Zeichen des Negativen eintreten sollte. In der Urteilsbegründung zur Schuldfrage meinte das Volksgericht, sich „mit den persönlichen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften des Angeklagten Dr. Neumayer eingehend befasst“ zu haben. Dabei attestierte es Dr. Neumayer, „ein geistig hochbegabter Mann“ zu sein, der „sich wegen seiner hervorragenden Fähigkeiten, besonders auf dem Gebiete der öffentlichen Finanzwirtschaft sowohl durch viele Jahre in der Stadtverwaltung der Gemeinde Wien, als auch dann in der Finanzverwaltung des Staates Verdienste erworben hat“.405 Aufgrund dieser Einschätzung sah das Volksgericht es auch als erwiesen an, dass der Angeklagte eine reiche Erfahrung gesammelt hatte und auch mit Tagesfragen der Politik vertraut gewesen war, als er von Dr. Seyß-Inquart aufgefordert wurde, auch in der von diesem gebildeten Regierung das Amt des Finanzministers auszuüben. Dr. Neumayer sei „zur Tatzeit eine auch auf dem Gebiete der Innen- und Außenpolitik des Staats erfahrene Persönlichkeit“ gewesen, die „auch imstande war, die jeweilige politische Situation richtig zu beurteilen, wobei es aber nicht darauf ankommt, ob er jeweils auch über alle Einzelheiten informiert war oder nicht“406. Bei dieser Thematik war das Volksgericht bemüht, zu erkennen zu geben, dass es bei der Beweisaufnahme und Urteilsfindung bewusst die Unterscheidung zwischen retrospektiver und prospektiver Betrachtung berücksichtigte, wenn es ausführte, dass bei Beurteilung der Schuldfrage des Angeklagten die politische Situation im Februar und März 1938 und die einzelnen Ereignisse der damaligen Zeit nicht rückschauend nach der Kenntnis der sich daraus ergebenden Tatsachen und geschichtlichen Ereignisse der folgenden 7 Jahre, sondern nach dem Blickfeld des Angeklagten, wie er diese Ereignisse damals erlebte, sah, beziehungsweise sehen konnte, zu prüfen [war].407

Das Gericht gelangte daher zu der Feststellung, dass der Angeklagte Dr. Neumayer sich dessen wohl bewusst gewesen sei, dass „die bisherigen Personen im Kanzleramt 405 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 15. 406 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 16. 407 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, AS 277.

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nicht mehr frei in ihren Entschlüssen waren, sondern die Gefangenen der Nationalsozialisten auf der Straße“.408 Trotzdem sei der Angeklagte in das Bundeskanzleramt gegangen, nachdem er gehört hatte, dass Seyß-Inquart seinen Eintritt in die neue Regierung wünsche, um sich dem neuen Bundeskanzler Seyß-Inquart als Finanzminister zur Verfügung zu stellen, obwohl dieser doch jetzt den politischen Machtträger der Revolution repräsentierte, jener Gewalt, der die frühere österreichische Regierung mit dem Kanzler Schuschnigg gewichen war, wie er aus der Abschiedsrede des Dr. Schuschnigg eindeutig und klar gehört hatte.409 Er habe sich also zu den Repräsentanten der Gewalt begeben, die Schuschnigg gestürzt hat, und die jetzt schon offen sichtbar als die politische Machtentfaltung der NSDAP auf der Straße zu erkennen gewesen sei. Den Zusicherungen Seyß-Inquarts, dass Österreich selbständig bleiben werde (der Bundespräsident werde die Regierung bestellen und Österreich erhalte einen Kredit vom Deutschen Reich), habe er somit in diesem Augenblick keinen Glauben mehr schenken dürfen.410 Das Volksgericht nahm es als erwiesen an, dass am 11. März 1938 für niemanden und auch für den Angeklagten keinerlei Zweifel mehr bestehen hätten können, dass an eine Selbständigkeit Österreichs noch im Entferntesten gedacht werden konnte, weil an diesem Tage die nationalsozialistische Erhebung sich offen anschickte, die Macht in Österreich in die Hände zu bekommen und durch die militärische und politische Unterstützung seitens des Deutschen Reiches die Entwicklung der Ereignisse nicht mehr aufzuhalten war.

Wenn der Angeklagte früher Seyß-Inquart getraut und diesen für einen gemäßigten Nationalsozialisten gehalten habe, dann habe er nach seinen Erfahrungen und seiner Einsicht und nach der Entwicklung der politischen Lage Seyß-Inquart seit dessen [Anm.: nach dem Berchtesgadner-Abkommen vom 12. Februar 1938] am 17. Februar 1938 erfolgten Eintritt in die Regierung Schuschnigg als Sicherheitsminister nur mehr als den politischen Gegenspieler des österreichischen Kurses der Regierung Schuschnigg ansehen können, weil Seyß-Inquart in dieser Regierung nationalsozialistisches Gedankengut zu vertreten gehabt habe, und Glaise-Horstenau sei der Verbindungsmann der Nationalsozialisten zur Regierung Schuschnigg gewesen.411 408 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 26. 409 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 26. 410 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 27. 411 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 28.

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Andere Hochverratsprozesse

Dr. Neumayer habe auch erkennen müssen, dass Bundespräsident Miklas sich am 11. März 1938 im höchsten Notstand befunden habe und nicht mehr frei in seinen Entschlüssen gewesen sei. Das Volksgericht nahm daher als erwiesen an, dass der Angeklagte Dr. Neumayer in vollem Bewusstsein der wahren politischen Situation, des Ausbruchs der nationalsozialistischen Revolution, die den gewaltsamen Sturz Schuschniggs herbeiführte, und des Beginns des Einmarsches und der Besetzung Österreichs durch das deutsche Militär seinen Eintritt in die Regierung Seyß-Inquart vollzog, einen Eintritt um jeden Preis und unter allen Umständen, unter Unterdrückung aller bisherigen österreichischen vaterländischen Bindungen und bisherigen Grundsätze der Regierung Schuschnigg unter Preisgabe der Selbständigkeit Österreichs und auch unter Preisgabe des österreichischen Volkes an die Gewalthaber der NSDAP.412

Aus den am Samstag, dem 12. März 1938 von Seyß-Inquart und anderen Repräsentanten der NS-Bewegung gehaltenen Reden habe er erkennen müssen, dass „er sich in ein hochverräterisches Unternehmen eingelassen habe, das auf die Vernichtung der Selbständigkeit Österreichs ausgeht, und er durch seinen Eintritt in die Regierung Seyß-Inquarts der Machtergreifung der NSDAP in Österreich in führender Stellung fördernd Hilfe leistete“. Da der Angeklagte um 12 Uhr mittags dieses Tages die von Dr. Goebbels im Rundfunk verlesene Proklamation des Reichskanzlers Hitler über die Vorgänge des 11. März und die Ankündigung der kommenden Ereignisse hörte, wie von ihm zugestanden, habe bei ihm kein Zweifel mehr bestehen können, dass Hitler vor aller Welt seinen Plan der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich verwirklichen wird.413 Das Gericht stellte auch fest, dass die Vereidigung des neuen Kabinetts Seyß-Inquart durch den Bundespräsidenten am Vormittag des 12. März nach der Eidesformel „auf die österreichische Bundesverfassung vom Jahre 1934“ erfolgte. Die Verantwortung des Angeklagten, er habe selbst erkannt, dass er nun unter den Nationalsozialisten alleine war, er habe aber jetzt notwendigerweise wegen der österreichischen Währung auf seinem Posten bleiben müssen, erachtete das Volksgericht als unglaubwürdig. Nach Einschätzung des Volksgerichts sei ihm „gar nicht der Gedanke gekommen, jetzt abzutreten, obwohl ein Austritt aus der Regierung noch möglich 412 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 29f. 413 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 30.

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gewesen wäre, wie z.B. im Falle Skubl, der am nächsten Tag einfach nicht mehr erschienen ist“.414 Aber Dr. Neumayer habe gar nicht daran gedacht, sich „aus diesem hochverräterischen Unternehmen zurückzuziehen“, obwohl ihm das „nach der Meinung des Volksgerichtes“ auch in diesem Zeitpunkt „noch ohne Gefährdung seiner Person und Existenz möglich gewesen“ sei; er habe aber „unbedingt in der Regierung Seyß-Inquart bleiben“ wollen. Das Gericht traf des Weiteren Feststellungen zu der am 13. März 1938 erfolgten Beschlussfassung des Bundesverfassungsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, das es als „Gipfelpunkt des hochverräterischen Unternehmens“ bezeichnete.415 Das Volksgericht äußerte seine Ansicht, dass die „sogenannte Volksabstimmung vom 10. April 1938“ nicht geeignet gewesen sei, die Besetzung Österreichs nachträglich zu rechtfertigen, da sie keine freie Volksabstimmung gewesen sei – seiner Meinung nach schon deshalb nicht, weil die erste Voraussetzung hierfür, nämlich die vorherige Räumung des Abstimmungsgebietes durch die Truppen der am Abstimmungsergebnis interessierten Macht, nicht erfolgt war.416 Der Angeklagte habe am 13. März bereits wissen müssen, dass Hitler seine Truppen nicht wieder aus Österreich zurückziehen werde. Die Tatsachenfeststellungen des Volksgerichts endeten schließlich mit dem Thema, dass Dr. Neumayer ab 15. September 1941 vehement, aber erfolglos versuchte, in die NSDAP aufgenommen zu werden.417 In seiner rechtlichen Beurteilung hielt das Volksgericht den Einwand der Verteidigung, dass die NS-Machtergreifung mit Ablauf des Freitag, 11. März bereits vollendet 414 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 31. Dazu ist aber anzumerken, dass Dr. Skubl nach der am späten Abend des 11.03.1938 vorgenommenen Regierungsbildung und der am Vormittag des 12.03.1938 erfolgten Vereidigung des Kabinetts Seyß-Inquart bereits am Nachmittag desselben Tages zurücktrat; den Entschluss für diese Demission fasste er, als er auf Verlangen von Seyß-Inquart am 12.03.1938 gegen 5:00 h morgens Heinrich Himmler am Flugplatz Aspern empfing und feststellte, dass sich in dessen „sehr großem Gefolge“ der frühere Oberstleutnant der österreichischen Gendarmerie Meißner befindet, der bei der österreichischen NS-Bewegung teilnahm und nach dem misslungenen Putschversuch 1934 nach Deutschland geflüchtet war, wie er in seiner im Strafverfahren gegen Ing. Reinthaller im Stadium der Voruntersuchung durchgeführten Zeugenvernehmung ausgesagt hat (Vernehmungsprotokoll ON 61 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv). Außerdem verlangte Himmler von Seyß-Inquart, dass Skubl demissioniert (ibid.). 415 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 32. 416 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 33. 417 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 34–38.

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gewesen sei, entgegen, dass der Angeklagte dennoch eine Förderung der NS-Machtergreifung im Sinne des § 8 KVG zu verantworten habe. Das Volksgericht argumentierte, dass mit § 58 StG, dem im Strafgesetz normierten Delikt des Hochverrats, der österreichische Staat und die österreichische Regierungsform geschützt werden, und dass im Unterschied dazu mit § 8 KVG [Anm.: dem nachträglich erlassenen und rückwirkenden Delikt des Hochverrats im Kriegsverbrechergesetz] das österreichische Volk geschützt werde, wie sich aus der Überschrift des § 8 KVG [„Hochverrat am österreichischen Volk“] ergebe418. Daher sei auch nicht zu untersuchen, ob und in welchem Umfang die Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich als fremder Macht schon durchgeführt war, weil das österreichische Volk am 12. März und in der Folgezeit jedenfalls vorhanden war.419 Außerdem seien zwar am 12. März 1938 die österreichischen Zentralstellen in Wien bereits lahmgelegt gewesen, die österreichische Exekutive und das Bundesheer haben nicht mehr funktioniert, weil die oberste Leitung fehlte und die Bundesregierung in den Händen der Nationalsozialisten war, aber der gesamte Staatsapparat war noch vorhanden und keineswegs in der deutschen Staatsorganisation aufgegangen.420 In den Ländern, Städten und kleinen Orten des österreichischen Bundesgebietes waren in diesem Zeitpunkt aber keineswegs die österreichischen Institutionen erloschen, sondern sie waren nach wie vor vorhanden und konnten nur nicht mehr im österreichischen Sinn in Funktion treten.421 Dabei verwies das Gericht auch darauf, dass es nach § 8 KVG als Voraussetzung für eine Strafbarkeit nur darauf ankommt, ob jemand alleine oder in Verbindungmit anderen in führender oder doch einflussreicher Stellung etwas unternommen hat, dass entweder die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zugunsten der NSDAP oder die Machtergreifung durch die NSDAP entweder vorbereitete oder förderte. Die NS-Machtergreifung sei am 11. März 1938 erst begonnen worden, und sei somit am 12. März noch nicht erfolgt und noch nicht vollendet gewesen.422 Das Ka418 Diese und die folgende, sich daraus ergebende Argumentation wurde später im Fall Reinthaller von der Staatsanwaltschaft Wien genau übernommen (Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner, S. 16f ). Zu der mE angebrachten Kritik an dieser Argumentation und an dem Konzept des § 8 KVG siehe Kapitel 6.2.4. 419 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 40. 420 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 39. 421 Auch dieses Argument wurde später im Fall Reinthaller von der Staatsanwaltschaft Wien übernommen (Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 zu 15 St 31859/49 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner, S. 16). 422 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 41.

Der Fall Dr. Rudolf Neumayer

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binett Seyß-Inquart habe der NS-Machtergreifung in Österreich den Weg geebnet. Gerade der Angeklagte Dr. Neumayer habe dadurch eine Förderung der NS-Machtergreifung in Österreich im Sinne des § 8 KVG begangen, indem unter seiner Leitung im Finanzministerium so wie bei anderen Staatsämtern zunächst die wichtigsten und einflussreichsten Stellen mit Parteigenossen der NSDAP besetzt wurden, so wie es schließlich auch in allen übrigen Zweigen des öffentlichen Lebens und auch in der Privatwirtschaft erfolgte, und indem unter seiner Leitung die Finanzbeamtenschaft alsbald von der Organisation der NSDAP erfasst wurde, und die österreichische Finanzverwaltung schließlich in die deutsche Finanzverwaltung übergeleitet wurde.423 Das Volksgericht Wien war darüber hinaus der Ansicht, dass Dr. Neumayer das Delikt des § 8 KVG auch dadurch begangen habe, dass er am 13. März 1938 an der Beschlussfassung über das Anschlussgesetz mitwirkte. Dabei argumentierte das Volksgericht Wien so wie später der Oberste Gerichtshof im Fall Reinthaller424, wenn es sinngemäß ausführte, dass dieses Verfassungsgesetz dazu beitrug, die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich vor der Weltöffentlichkeit zu legitimieren.425 Das Volksgericht verwies in diesem Zusammenhang auch auf den von Dr. Neumayer am Tag zuvor bei dessen Vereidigung abgelegten Eid. Dieser Verweis ist aber insofern verfehlt, als die Eidesformel, die nach der Verfassung 1934 erfolgte, kein Bekenntnis und keine Verpflichtung zur Wahrung der damals bestehenden Staatsform Österreichs oder der Unabhängigkeit Österreichs enthielt, wie auch aus der Verfassung 1934 keine derartige Verpflichtung abzuleiten ist.426 Nach diesem Urteil gab es zwei Versuche, beim Obersten Gerichtshof ein Überprüfungsverfahren zur Nachprüfung dieses Urteils einzuleiten.427 Das erste Überprüfungsgesuch wurde für den Verurteilten Rudolf Neumayer von Rechtsanwalt Dr. Hugo Zörnlaib eingebracht, der Dr. Neumayer im vorangegangenen Strafverfahren vertreten hatte. Der Erste Präsident des Obersten Gerichtshofs teilte mit Note vom 23. Februar 1952 mit, dass kein Grund zur Überprüfung des Urteils vom 02. Februar 1946 gefunden worden sei.428 Später, am 12. März 1954, suchte nunmehr Dr. Otto Tiefenbrunner für den Verurteilten Rudolf Neumayer um eine Über423 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 43–45. 424 Siehe vorstehend Kapitel 4.4.2. und nachstehend Kapitel 8.3.1. 425 Urteil des Volksgerichts Wien vom 02. Februar 1946 zu Vg 1b Hv 187/45, ON 73 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 43f. 426 Siehe vorstehend Kapitel 4.3.2.2. zum Anschlussgesetz. 427 Zur Unanfechtbarkeit von Urteilen eines Volksgerichts und zur Möglichkeit eines Überprüfungsverfahrens siehe vorstehend Kapitel 3.5. 428 Note des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichtshofes vom 23. Februar 1952 zu Präs. 2023/52, ON 125 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv.

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Andere Hochverratsprozesse

prüfung des Urteils vom 02. Februar 1946 an. Der Erste Präsident des Obersten Gerichtshofs entschied am 12. Juli 1954 wiederum, dass kein Grund für eine Überprüfung des Urteils vom 02. Februar 1946 bestehe.429 6.2.3 Gnadengesuche, Haft und Haftentlassung

Dr. Neumayer verbüßte die über ihn verhängte Haftstrafe in der Männerstrafanstalt Stein an der Donau. Die Direktion dieser Strafanstalt teilte mit Führungsbericht vom 26. Juli 1948 mit, dass Dr. Neumayer als Hilfsarbeiter eingeteilt sei und eine gute Arbeitsleistung zeige. Die Führung dieses Strafgefangenen sei bisher anstandslos gewesen.430 Allerdings wurde mit diesem Führungsbericht auch ein Attest des Anstaltsarztes vom 24. Juli 1948 übermittelt, wonach Dr. Neumayer bislang während seines Aufenthalts in der Strafanstalt wiederholt Herzschwächeanfälle erlitten habe. Am 03. Juni 1948 brachten dessen Ehegattin, Leopoldine Neumayer, und dessen Sohn, Dr. Erwin Neumayer, Arzt, beide vertreten durch Dr. Hugo Zörnlaib und Dr. Ernst Zörnlaib, ein Gesuch auf Begnadigung von Dr. Rudolf Neumayer durch Herabsetzung der verhängten Strafe des lebenslangen schweren Kerkers auf eine Freiheitsstrafe von vier Jahren schweren Kerkers bei der Präsidentschaftskanzlei ein, die dieses Gnadengesuch entsprechend der Befugnis des Bundesministers für Justiz, beim Bundespräsidenten einen Gnadenantrag zu stellen, am 09. Juni 1948 dem Bundesministerium für Justiz übermittelte.431 Seitens der Polizeidirektion Wien wurden gegen die erbetene Begnadigung Bedenken erhoben, weil durch die Zugehörigkeit Dr. Neumayers zum Kabinett Seyß-Inquart und durch seine Zustimmung zum Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich zu befürchten sei, dass „eine Begnadigung bei der Bevölkerung kein Verständnis finden würde und damit in der Öffentlichkeit Unruhe und Ärgernis entstehen könnte“.432 Die Staatsanwaltschaft Wien trat diesem Gnadengesuch nicht entgegen.433 Das Oberlandesgericht Wien erklärte sein Einverständnis mit dem Gna429 Note des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichtshofes vom 12. Oktober 1956 zu Präs. 2015/54, ON 162 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 430 Führungsbericht der Direktion der Männerstrafanstalt Stein an der Donau vom 26. Juli 1948 zu Zl. 19/46, ON 87 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 431 Gnadengesuch ON 85 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadtund Landesarchiv. 432 Note der Polizeidirektion Wien vom 24. August 1948 zu Zl.: I-48.523/48, ON 89 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 433 Note der Staatsanwaltschaft Wien vom 01.09.1948 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv.

Der Fall Dr. Rudolf Neumayer

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dengesuch, dies allerdings mit der Maßgabe, dass eine Herabsetzung der Dauer der Kerkerstrafe nicht unter sechs Jahre erfolgt.434 Letztlich wurde dieses Gnadengesuch vom Bundesminister für Justiz abgelehnt.435 Am 10. Dezember 1948 brachte Dr. Hugo Zörnlaib für Dr. Neumayer einen auf Enthaftung wegen Haftunfähigkeit gerichteten Antrag ein.436 Dieser Antrag wurde als sehr dringend dargestellt, weil akute Lebensgefahr bestehe. Mit Telegramm vom 21. Dezember 1948 bat das Volksgericht Wien bei der Strafanstalt Stein um sofortige Einholung eines Gutachtens über die Haftfähigkeit von Dr. Neumayer im Hinblick auf die von ihm angegebenen Herzleiden. Mit Telegramm vom 22. Dezember 1948 wurde seitens der Strafanstalt Stein mitgeteilt, dass Dr. Neumayer nachweisbar seit 1936 an im Einzelnen aufgezählten schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, die sich während der Kriegsjahre und der Strafhaft so verschlechtert hätten, dass nunmehr ständige ärztliche Behandlung notwendig sei. Der Zustand des Dr. Neumayer sei so schlecht, dass jederzeit mit plötzlichem Tod gerechnet werden könne. Die Haftunfähigkeit sei dadurch gegeben.437 Diese schweren gesundheitlichen Leiden wurden in einem Gutachten des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Wien vom 28. Dezember 1948 bestätigt. Mit Beschluss vom 30. Dezember 1948 ordnete das Volksgericht Wien daher an, den Strafgefangenen Dr. Neumayer zu enthaften.438 Dr. Neumayer wurde daher am 31. Dezember 1948 enthaftet.439 An der Haftunfähigkeit Dr. Neumayers änderte sich auch in weiterer Folge nichts, jedenfalls ist das die Aussage der eingeholten medizinischen Gutachten. Das Volksgericht Wien holte weitere medizinische Gutachten zu dessen Gesundheitszustand ein. In einem Gutachten des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Wien vom 11. Juli 1949 kommt man zu dem Ergebnis, dass Dr. Neumayer als schwer krank zu bezeichnen sei, und es keine Erwartung gebe, dass sich dieser Zustand je bessern wird.440 In einem im Juli 1950 vom Volksgericht Wien in Auftrag gegebe434 Akt 3 Ns 0316/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 435 Note des Bundesministers für Justiz vom 06. Oktober 1948 zu 65.617/48, ON 91 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 436 Enthaftungsantrag, eingebracht beim BMJ am 10. Dezember 1948, im Konvolut ON 92 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 437 Telegramm der Strafanstalt Stein an das Volksgericht Wien vom 22.12.1948, ON 93 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 438 ON 96 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 439 Bericht der Direktion der Männerstrafanstalt Stein an der Donau vom 31.12.1948, ON 97 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 440 ON 100 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv.

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Andere Hochverratsprozesse

nen Gutachten des gerichtsmedizinischen Instituts, das am 04. Oktober 1950 beim Volksgericht Wien einlangt, wird mitgeteilt, dass Neumayer als schwer krank angesehen werden müsse und daher nicht haftfähig sei,. Aller Voraussicht nach bestehe bei Bedachtnahme auf die Art der Erkrankung und das Alter des Untersuchten keinerlei Aussicht, dass dieser jemals wieder haftfähig werde.441 „Da sich der Gesundheitszustand des Verurteilten Dr. Neumayer in letzter Zeit gebessert haben soll“, holte das Volksgericht Wien bereits am 27. September 1950 ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten zu dessen Gesundheitszustand ein. Das gerichtsmedizinische Institut erstattete daher ein weiteres Gutachten vom 06. Oktober 1950, das dann aber das letzte war. Denn auch nach diesem Gutachten ergab sich, dass von einer „objektiv erfassbaren Besserung des Gesundheitszustandes gegenüber der vorangegangenen Untersuchung nicht gesprochen werden kann“. Dr. Neumayer müsse weiterhin als schwer krank und nicht haftfähig bezeichnet werden. Zudem wurde nochmals zum Ausdruck gebracht, dass „mit einer wesentlichen Besserung dieses Krankheitszustands nicht mehr zu rechnen ist“.442 Bemerkenswert ist, dass Dr. Neumayer noch verhältnismäßig lang lebte; er verstarb erst am 25. August 1977. Im Dezember 1950 brachte Rechtsanwalt Dr. Purkhauser „als Privatperson“ ein Gnadengesuch ein, das darauf gerichtet war, dass Dr. Neumayer durch Erlassen des Strafrests und der Aufhebung des Vermögensverfalls begnadigt werde.443 Darin wurde auf den schlechten Gesundheitszustand Dr. Neumayers und den Umstand abgestellt, dass „die nach Aburteilung Dr. Neumayer’s in späteren Jahren abgeführten Verfahren gegen Dr. Guido Schmidt und Ministerkollegen mehrfach wesentlich andere Auffassungen über die Schwere der Strafbarkeit dieser Männer ergeben“ hätten. Es bestehen keine Anhaltspunkte für den Informationsstand des Dr. Purkhauser. Das gegen Dr. Guido Schmidt ergangene Urteil ist im gegenständlichen Zusammenhang jedenfalls nicht als Referenzwert nützlich, weil der betreffende Sachverhalt gänzlich anders gelagert ist. Ansonsten weist diese Insinuierung auf den zutreffenden Umstand, dass in anderen, späteren Hochverratsprozessen bei Verurteilungen jeweils geringere Strafen verhängt wurden. Da es aber bei jeder einzelnen Strafzumessung auf die individuellen Umstände, aus denen sich der Unrechtsgehalt einer Tat ergibt, ankommt, und zwar auf das Ausmaß des Unwerts der Tat, Handlungsunwert, Gesinnungsunwert und den sich aus den Auswirkungen der Tat ergebenden Unwert, und auf das Ausmaß der Schuld eines Täters als der 441 ON 104 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 442 ON 106 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 443 ON 108 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv.

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persönlichen Vorwerfbarkeit einer Straftat, kann daraus nur das sich ergebende generell niedrigere Strafniveau als Referenzwert abgeleitet werden. Seitens der Bundespolizeidirektion Wien äußerte man mit Schreiben vom Februar 1951, dass eine Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung durch die Enthaftung des Dr. Neumayer nicht erfolgt sei, dass dieser seit seiner Enthaftung „keinen Anlass zu unliebsamen Wahrnehmungen gegeben hat“, und teilte die Ansicht mit, dass es „gegen die Grundsätze der Menschlichkeit“ verstieße, wenn man sich nach erfolgter Feststellung der schweren Erkrankung des Gnadenwerbers für die Fortsetzung der Strafhaft ausspräche“.444 Diese Gnadenbitte des Dr. Alois Purkhauser für Rudolf Neumayer wurde vom Bundesminister für Justiz hinsichtlich der Strafe abgelehnt, und es wurde mitgeteilt, dass über Gnadenbitten um Nachsicht des Vermögensverfalls derzeit nicht entschieden werde.445 Dr. Zörnlaib brachte dann am 27. Juni 1951 im Namen von Dr. Neumayer noch ein Gnadengesuch ein, das auf endgültige Nachsicht der verhängten Freiheitsstrafe sowie Aufhebung des Vermögensverfalls und aller damit verbundenen Rechtsfolgen gerichtet war.446 Mit Begnadigung des Bundespräsidenten vom 15. Dezember 1951 wurde Dr. Neumayer der Rest der über ihn verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe erlassen („nachgesehen“).447 Ansonsten teilte man wiederum mit, dass über Gnadenbitten um Nachsicht des Vermögensverfalls derzeit nicht entschieden werde. Mit der NS-Amnestie 1957448 wurden schließlich u.a. Strafen, die nach § 8 KVG verhängt worden waren, nachgesehen, soweit sie noch nicht vollstreckt waren449. Das KVG wurde überhaupt aufgehoben.450 Die Sühnefolgen wurden beendet.451 Mit Verfügung des Bundespräsidenten vom 20. März 1957 wurde schließlich die über Dr. Neumayer verhängte Strafe für getilgt erklärt.452 444 ON 110 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 445 Note des Bundesministeriums für Justiz vom 11. April 1951 zu 35.204/51, ON 113 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 446 Am 27. Juni 1951 eingebrachtes Gnadengesuch, ON 114 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. Das Motiv für ein neuerliches Gnadengesuch dürfte darin bestehen, dass der bisherige Bundespräsident, Karl Renner, am 31.12.1950 verstorben war und man sich von dem am 27.05.1951 gewählten Bundespräsidenten Theodor Körner eine wohlwollende Handhabung des Gnadenrechts erwartete. 447 Note des Bundesministeriums für Justiz vom 17. Dezember 1951 zu 68.501/51, ON 118 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 448 Bundesverfassungsgesetz vom 14. März 1957, womit Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes, BGBl 1947/25, abgeändert oder aufgehoben werden (NS-Amnestie 1957), BGBl 1957/82. 449 BGBl 1957/82, § 14 Abs. 1 Z 4. 450 BGBl 1957/82, § 13 Abs. 2. 451 BGBl 1957/82, Artikel II. 452 Note des Bundesministeriums für Justiz vom 21. März 1957 zu 32.917/57. Dabei agierte der Bun-

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Andere Hochverratsprozesse

6.2.4 Wiederaufnahmeantrag

Mit dem am 26. Juli 1952 beim Volksgericht Wien eingebrachten Wiederaufnahmeantrag beantragte Rechtsanwalt Dr. Hugo Zörnlaib für Dr. Rudolf Neumayer die Wiederaufnahme des Strafverfahrens aus dem Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen oder Beweismittel, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet erscheinen, einen Freispruch oder die Verurteilung wegen einer unter ein milderes Strafgesetz fallenden Handlung zu begründen453.454 Damit machte er geltend, dass die im Urteil vom 02. Februar 1946 enthaltenen Feststellungen, wonach er sich vorsätzlich auf ein hochverräterisches Unternehmen eingelassen habe, unrichtig seien und nur auf einer unzulässigen Retrospektive aufgebaut seien. Im Einzelnen ist der Wiederaufnahmeantrag gegen die Feststellungen gerichtet, dass der Verurteilte im vollen Bewusstsein der politischen Situation seinen Eintritt in die Regierung Seyß-Inquart vollzogen habe, dass ihm in einem am 12. März 1938 nach der Angelobung geführten Gespräch mit Bundespräsident Miklas hätte bewusst werden müssen, dass er einer hochverräterischen Regierung angehöre, deren Ziel die Beseitigung der Selbständigkeit und Eigenstaatlichkeit Österreichs ist, dass durch das österreichische Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (Anschlussgesetz) ein Beitrag zur NS-Machtergreifung Österreichs und insbesondere zur Beseitigung der Eigenstaatlichkeit Österreichs erfolgt sei, und dass er über Begehren von Vertretern der NS-Beamtenorganisation Beamte aus dem Finanzministerium entlassen habe. Angesichts des beim Eintritt in das Kabinett Seyß-Inquart gegebenen Kenntnisstands und einer zu diesem Zeitpunkt gegebenen Absehbarkeit der weiteren Abläufe berief er sich auch auf Beweisergebnisse des zwischenzeitig durchgeführten Strafverfahrens gegen Dr. Guido Schmidt. Im Zuge der Prüfung des Vorliegens eines Wiederaufnahmegrunds führte das Gericht einige ergänzende Beweisaufnahmen durch.455 So wurde Ing. Julius Raab als Zeuge vernommen, der seit Februar 1938 dem letzten Kabinett Schuschnigg als Handelsminister angehört hatte. Dieser bestätigte die Verantwortung Dr. Neumayers, dass der damadeskanzler gemäß Art. 64 B-VG in der damals anzuwendenden Fassung StGBl 1945/4 als Vertreter des am 04. Jänner 1957 verstorbenen Bundespräsidenten Theodor Körner. Dessen Nachfolger Adolf Schärf wurde erst am 05. Mai 1957 gewählt und am 22. Mai 1957 von der Bundesversammlung angelobt. 453 § 353 Z 2 StPO 1873 idF BGBl 1945/133. 454 Wiederaufnahmeantrag ON 127 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 455 Beschluss des Volksgerichts Wien vom 05.06.1953 zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 35ff.

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lige Bundeskanzler Schuschnigg über das Berchtesgadener Abkommen im Ministerrat nur spärlich berichtete, sodass dessen Inhalt weitgehend unbekannt geblieben war. Der Zeuge Ing. Stefan Tauschitz, der seit 11. März 1933 österreichischer Gesandter in Berlin gewesen war, teilte seine Einschätzung mit, dass erst am 12. März 1938 in Linz die Parole „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ von Goebbels herausgegeben wurde und dass sowohl Göring als auch Ribbentrop erstaunt gewesen seien, als sie von ihm von der Wiedervereinigung Österreichs mit Deutschland erfuhren. Der Zeuge Dr. Johannes Schwarzenberg, Legationssekretär in Berlin bis 11. März 1938, gab an, dass Göring und Hitler bislang besprochen hatten, dass Österreich die Autonomie gewährt werden müsse. Aufgrund des Begrüßungsjubels in Linz habe Hitler einen Boten mit dem Flugzeug aus Linz zu Göring gesendet, und Göring habe zeitgleich vice versa einen Boten auf dem Luftweg nach Linz zu Hitler gesendet; die beiden Boten hätten einander in der Luft gekreuzt. Die Frage, die jeweils einer an den anderen richtete, war, ob man den Anschluss Österreichs an Deutschland nicht doch wagen sollte, wenn die Begeisterung und Aufnahme in Österreich so gut ist. Der Beschluss, Österreich in das Deutsche Reich einzugliedern, sei erst nach dem Empfang in Linz entstanden. Der Zeuge Dr. Kajetan Mühlmann sagte zur Haltung Seyß-Inquarts, der durch das am 12. Februar 1938 abgeschlossene Berchtesgadener Abkommen am 16. Februar 1938 zum österreichischen Innen- und Sicherheitsminister ernannt worden war, dass dieser noch am 11. Februar 1938 mit den zwischen ihm und Schuschnigg geführten Verhandlungen sehr zufrieden gewesen sei und das nunmehrige Befriedungsprogramm die Selbständigkeit Österreichs, die Mitarbeit der Nationalsozialisten und ihr Einbau in die Vaterländische Front, das Bekenntnis der Nationalsozialisten zur Vaterländischen Front und zur österreichischen Idee und den Einbau der Nationalsozialisten in die Regierung und in die verschiedenen Verwaltungskörper vorgesehen habe. Seyß-Inquart sei es auch wichtig gewesen, dafür Sorge zu tragen, dass Störungen vermieden werden, wie sie etwa aus dem Lager um Hauptmann Leopold zu befürchten waren. Die von Altbundespräsident Wilhelm Miklas in dem gegen Dr. Guido Schmidt geführten Strafprozess abgelegte Zeugenaussage wurde mit den Angaben zu Seyß-Inquart verwertet, wonach dieser nichts anderes gewollt habe, als irgendeine Anlehnung Österreichs an das Deutsche Reich, äußerstenfalls eine Stellung Österreichs, wie Bayern im Bismarckstaat“, also „eine gewisse Selbständigkeit Österreichs im Deutschen Reich“. Er habe gewusst, dass Seyß-Inquart keine rein nationalsozialistische Regierung bilden werde, es seien ja in dessen Kabinett verschiedene Richtungen vertreten gewesen. Die schließlich eingetretenen Entwicklungen mit dem Einmarsch deutscher Truppen und der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich habe Seyß-Inquart nicht gewollt. Altbundespräsident Miklas verwies auch darauf, dass Seyß-Inquart ja letztlich abgelöst wurde und dass an

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dessen Stelle Bürckel trat.456 Einbezogen wurde auch das im Prozess gegen Dr. Schmidt verlesene Vernehmungsprotokoll mit der von Dr. Arthur Seyß-Inquart am 06. Juli 1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg abgelegten Zeugenaussage, woraus hervorgeht, dass dieser ein Programm erreichen wollte mit der tatsächlichen und gesicherten Unabhängigkeit der österreichischen Nationalsozialisten von der Reichspartei, und dass er am 11. März 1938 der Überzeugung war, dass die Abdankung Schuschniggs nur innerpolitische Auswirkungen haben und das Verhältnis Österreichs zum Deutschen Reich nicht berühren werde. Der Zeuge Rechtsanwalt Dr. Gustav Steinbauer, der seinerzeitige Verteidiger des Seyß-Inquart vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, führte aus, dass Seyß-Inquart am 11. und 12. März 1938 zweifellos die Absicht gehabt habe, die Selbständigkeit Österreichs aufrecht zu erhalten. Seyß-Inquart habe auch niemals das von ihm verlangte Telegramm mit der Bitte um Entsendung deutscher Truppen nach Österreich gesendet, sondern vielmehr bei Wilhelm Keppler, der im Auftrag von Hermann Göring vor Ort in Wien anwesend war, gegen die Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen protestiert. Erst im Laufe des 12. März 1938 habe der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Stuckart den Auftrag erhalten, ein Reichsgesetz auszuarbeiten, in dem Österreich zum Land des Deutschen Reiches erklärt wird und die Bevölkerung Deutschlands zu einer Abstimmung hierüber aufgerufen wird. Für Österreich hatte Stuckart ein analoges Bundesverfassungsgesetz vorzubereiten. Es stehe somit fest, dass das Anschlussgesetz niemals in Österreich ausgearbeitet wurde, sondern im fertigen Zustand am 12. März 1938 abends Seyß-Inquart mit dem Befehl übergeben wurde, für die Verabschiedung dieses Gesetzes noch im Laufe des 13. März Sorge zu tragen, wobei jeder Widerstand durch den Einsatz der deutschen Wehrmacht gebrochen werde. Zu diesem Zeitpunkt seien bereits die wichtigsten Orte Österreichs besetzt gewesen. Die termingerechte Erledigung des österreichischen Anschlussgesetzes sei für Hitler notwendig gewesen, um die von ihm beabsichtigte Übereinstimmung mit dem von ihm am 13. März 1938 erlassenen Reichsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich zu erzielen. Dabei verwies der Zeuge 456 Die österreichische Bundesregierung wurde ab 15.03.1938 als „Österreichische Landesregierung“ bezeichnet, Seyß-Inquart wurde vom Bundeskanzler zum Reichsstatthalter. Diese Funktion endete am 01.04.1940 mit dem ursprünglich für 01.05.1939 vorgesehenen Inkrafttreten des Ostmarkgesetzes (Gesetz über den Aufbau der Verwaltung in der Ostmark vom 14. April 1939, RGBl 1939 I S. 780). Zum Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich wurde Josef Bürckel bestellt, der danach vor Baldur von Schirach Reichsstatthalter von Wien und Reichsstatthalter der Westmark war. Dazu und zur weiteren Entwicklung im Detail: Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, mit grafischen Darstellungen von Friedrich Lachmayer, Wien, 6. Auflage 1992, 251ff.

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darauf, dass Hitler zur sicheren Vollstreckung seines Willens auch veranlasst hatte, dass Himmler seit dem Vormittag des 12. März sein Hauptquartier in Wien einrichtete. Bemerkenswert scheinen die Angaben des Zeugen Dr. Steinbauer zu dessen Gespräch mit Dr. Edmund Glaise-Horstenau in Nürnberg. Glaise-Horstenau habe demnach die Zeitungsberichte über die Verurteilung des Dr. Neumayer durch das Volksgericht Wien mit folgendem Satz kommentiert: „Wenn so ein Hascherl so eine Strafe bekommen hat, dann werden sie mich als Vizekanzler sicherlich hängen.“ Ansonsten teilte Dr. Steinbauer die Einschätzung Glaise-Horstenaus mit, dass ein wirksamer Widerstand des Kabinetts Seyß-Inquart damals unmöglich gewesen wäre und höchstens zu „Wirrnissen örtlicher Natur“ geführt hätte, „mit denen Hitler sofort fertig gewesen wäre“. „Eine Demission der Minister des damaligen Kabinetts hätte diese ins KZ gebracht und Hitler hätte anstelle des abberufenen Kabinetts neue Minister haben können, so viel er haben wollte.“ Einbezogen wurden auch Telefongespräche, etwa jenes von Göring mit der deutschen Gesandtschaft in Wien vom 11. März 1938, worin Göring vom Kärntner Nationalsozialisten Odilo Globotschnigg erfuhr, dass Seyß-Inquart für die Unabhängigkeit Österreichs eintritt. Ebenso einbezogen wurde das am 11. März 1938 geführte Telefonat zwischen Hitler und Prinz Philipp von Hessen, der als eine Art Sondergesandter in Rom neben der offiziellen Diplomatie fungierte, in dem Hitler erstmals davon erfuhr, dass Mussolini keinen Einwand gegen die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich hat. Des Weiteren sagte auch eine Reihe von Zeugen zur beruflichen Ausrichtung des Dr. Neumayer aus, darunter der ehemalige Bürgermeister Wiens Richard Schmitz. Der Tenor dieser Aussagen ist im Wesentlichen, dass Dr. Neumayer als Finanzfachmann kein „politischer Minister“, sondern ein „Beamtenminister“ gewesen sei. Der Zeuge Dr. Adalbert Tautscher, ehemaliger Sektionsrat im Bundesministerium für Finanzen, teilte dazu mit, dass Seyß-Inquart ihm erzählt habe, bemüht zu sein, die Fachministerien mit reinen Fachbeamten zu besetzen, und daher auch den Rektor der Wiener Universität, Dr. Menghin, zum Unterrichtsminister ernannte. Ansonsten gab Dr. Tautscher an, dass Dr. Neumayer es als Finanzminister abgelehnt habe, die von den Nationalsozialisten geforderten Abberufungen einiger Beamten des Finanzministeriums vorzunehmen. Die nationalsozialistische Betriebszelle von der Personalsektion des Bundeskanzleramtes habe aber generell verfügt, dass Beamte, die eine Funktion in der Vaterländischen Front hatten, Mitglieder des CV oder Juden sind, sofort zu entlassen sind, was dann auch im Finanzministerium durchgesetzt wurde. Der Verteidiger Dr. Zörnlaib war bei seinem Vorgehen mit dem Umstand konfrontiert, dass zwischenzeitig im Fall Reinthaller die Entscheidung des Obersten Ge-

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richtshofs vom 27. April 1951457 ergangen war, wonach sich Mitglieder der Bundesregierung bei der Mitwirkung am Zustandekommen des Anschlussgesetzes nach § 8 KVG schuldig gemacht haben, weil das Anschlussgesetz die Vernichtung der staatlichen Selbständigkeit Österreichs vor dem Ausland legalisieren habe sollen, sodass damit die NS-Machtergreifung in Österreich gefördert worden sei. Demnach habe dieses Gesetz die Legalität und Verfassungsmäßigkeit der Eingliederung Österreichs vortäuschen und dem Auslande zeigen sollen, dass es sich hier keineswegs um eine seit Langem geplante Angriffsmaßnahme des Deutschen Reichs handelte, sondern um eine Maßnahme, die von Österreich selbst ausging458. Das ergibt sich für den Obersten Gerichtshof umso mehr aus dem Umstand, dass der damalige Reichsaußenminister Ribbentrop aus London an Hitler berichtet hatte, dass England im Zusammenhang mit der österreichischen Frage jeder legalen Entwicklung zustimmen werde. Dr. Zörnlaib setzte sich mit dieser Thematik aktiv auseinander459 und legte dazu ein von ihm eingeholtes Rechtsgutachten des Universitätsprofessor Hofrat Dr. Franz Rottenberg, sowie dessen Bestätigung durch den Ordinarius für Staatsund Verwaltungsrecht an der Universität Innsbruck, Universitätsprofessor Dr. Walter Antoniolli vor.460 Das Gutachten und die Bestätigung lauten wie folgt: Für die Lösung der mannigfaltigsten Frage auf dem Gebiete des öffentlichen und des Privatrechtes ist es von grundsätzlicher Bedeutung, festzustellen, in welchem Zeitpunkte und durch welche Normen Österreich seine Unabhängigkeit verloren hat. Eindeutig klar ist, daß de facto die Selbständigkeit Österreichs durch den in den frühen Morgenstunden des 12. März 1938 beginnenden Einmarsch der deutschen Truppen und die bis zu Mittag des 13. März 1938 erfolgte Besetzung aller strategisch wichtigen Punkte einschließlich Wiens verloren gegangen ist. Welchen Einfluß hatten aber die damals erlassenen Normen auf den rechtlichen Bestand Österreichs? Vor allem in journalistischen Erörterungen dieses Problems begegnet man mehrfach der Ansicht, daß durch das von der Regierung Seyß-Inquart beschlossene Bundesverfassungsgesetz vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, BGBl Nr. 75, das Ende Österreichs herbeigeführt wor457 OGH 27.04.1951, 6 Os 18/51. 458 Wie der Oberste Gerichtshof unter Bezugnahme auf das Hossbach-Protokoll vom 10. November 1937 ausführt, in dem die von Hitler in einer mit führenden Vertretern der Wehrmacht und dem damaligen Reichsaußenminister Konstantin von Neurath durchgeführten Besprechung vom 05. November 1937 mitgeteilten Expansions- und Angriffspläne dokumentiert sind, woraus die bereits damals bestehenden Zielsetzungen von Hitler abzuleiten sind. 459 Wiederaufnahmeantrag ON 127 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 9f. 460 Beilage 3 zum Wiederaufnahmeantrag ON 127 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv.

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den sei. Bei einer Überprüfung der damals abrollenden Ereignisse und erflossenen Gesetze ergibt sich aber, daß diese Meinung nicht aufrecht erhalten werden kann. Das im Nürnberger Prozeß durchgeführte Beweisverfahren hat klargestellt, daß der Text des eben erwähnten österreichischen Bundesverfassungsgesetzes vom 13.03.1938 nicht in Österreich, sondern vielmehr von dem Staatssekretär im Reichsinnenministerium Stuckart über den ihm am 12. März 1938 nachmittags erteilten Auftrag Hitlers ausgearbeitet wurde. In den Abendstunden des gleichen Tages hat sodann Hitler den von ihm gebilligten Entwurf Seyß-Inquart mit dem Befehl übergeben, die Verabschiedung dieses Gesetzes im österreichischen Ministerrat im Laufe des 13. März 1938 durchzuführen, jeder Widerstand werde durch Einsetzung der deutschen Wehrmacht gebrochen werden. Tatsächlich ist die österreichische Bundesregierung diesem unter Androhung von Gewalt erteilten Auftrag Hitlers nachgekommen. In Art. I wird zwar bestimmt: „Österreich ist ein Land des deutschen Reiches“, aber schon der Art. II verfügt, daß „über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reiche“ – also nicht etwa bloß über die Art dieser Wiedervereinigung – am 10. April 1938 eine freie und geheime Volksabstimmung stattzufinden habe, wobei gemäß Art. III der Mehrheit der abgegebenen Stimmen die Entscheidung über das in Art. I festgestellte Fragethema zugestanden wird. Das österreichische Verfassungsgesetz vom 13. März 1938 beruft sich in seiner Einleitung auf den Art. III (2) des Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereiche der Verfassung, BGBl Nr. I, 255/1934, und ist somit nach der damals bestehenden formalen Rechtslage ordnungsgemäß zustandegekommen. Nach dem Wortlaute des Gesetzes, wie der Nürnberger Prozeß erwiesen hat, gewiss auch nach der Absicht des Gesetzgebers, soweit sie sich in nicht mißverständlicher Weise im Wortlaute des Gesetzestextes kundtut, hätte dem österreichischen Volke damit die Möglichkeit geboten werden sollen, unbeeinflußt seinen Willen über die Frage des Anschlusses zur Geltung zu bringen. Die Eigenstaatlichkeit Österreichs wurde aber durch dieses Gesetz nicht aufgehoben, sondern diese Frage bloß zur Diskussion gestellt, erst ein Mehrheitsbeschluß der Volksabstimmung hätte die Beseitigung der Selbständigkeit bewirken können. Die Rechtslage am 13. März 1938 ist der am 12. November 1918 vergleichbar. Damals hat der provisorische Nationalrat ein Gesetz beschlossen, verlautbart im StGBl für den Staat Deutschösterreich, 1. Stück, Nr. 5, dessen Art II 1. Satz lautete: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“. In den einzelnen Gliedstaaten der Republik Deutschösterreich hätten darüber Abstimmungen durchgeführt werden sollen. Tatsächlich haben auch in Salzburg und Vorarlberg solche Volksbefragungen stattgefunden und eine überwiegende Mehrheit für den Anschluß ergeben. Über Einspruch der Siegerstaaten mußten aber weitere Abstimmungen unterbleiben. Damals ist daher schon aus diesem Grunde die Selbständigkeit der neu gegründeten Republik Österreich aufrechterhalten worden. Nach dem österreichischen Gesetz vom 13. März 1938 hätte der 10. April dieses Jahres der Schicksalstag sein und die Entscheidung über die Frage der weiteren Aufrechterhaltung der Eigenstaat-

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lichkeit bringen sollen. Hitler wollte aber, offenbar zufolge einer von ihm wahrgenommenen, für ihn günstigen Situation der gesamten europäischen Lage, die von ihm schon geraume Zeit vorher geplante Okkupation Österreichs nicht bis zu dem angegebenen Zeitpunkte aufschieben und sich wohl auch nicht auf das doch etwas zweifelhafte Abstimmungsergebnis in Österreich verlassen. Daher ließ er am 13. März 1938 die deutsche Reichsregierung ein Gesetz beschließen, und noch am gleichen Tage, RGBl Nr. I, S. 237, verlautbaren, in dessen Art I das österreichische Bundesverfassungsgesetz zum Deutschen Reichsgesetz erklärt wurde. Jetzt wurde also durch ein deutsches Reichsgesetz verfügt, daß Österreich ein Land des Deutschen Reiches sei, damit entgegen den früheren feierlichen Versprechungen Hitlers die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs aufgehoben und die Absicht des österreichischen Gesetzgebers, gleichzeitig aber auch der Sinn der Volksabstimmung vereitelt. Zwar sind auch im Deutschen Wiedervereinigungsgesetz die Bestimmungen über die am 10. April 1938 durchzuführende Volksbefragung wiedergegeben, aber der Art II dieses deutschen Gesetzes führt aus: „Das derzeit in Österreich geltende Recht bleibt bis auf Weiteres in Kraft. Die Einführung des Reichsrechtes in Österreich erfolgt durch den Führer und Reichskanzler oder den von ihm hierzu ermächtigten Reichsminister.“ Völlig losgelöst von dem Ergebnis der am 10. April stattfindenden Abstimmung hat Hitler durch diese reichsrechtliche Norm das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht auf sich und seine Minister übertragen lassen und damit sich zum Diktator über Österreich gemacht. Erst mit diesem deutschen Gesetz, das ist also mit Wirksamkeit ab 14. März 1938, sollte unter Vorgriff des Ergebnisses der Volksabstimmung de jure die Eigenstaatlichkeit Österreichs vernichtet werden. Es wurden auch in einem beachtlichen Umfange noch vor dem 10. April 1938 Maßnahmen zur Eingliederung Österreichs, fußend auf dem erwähnten Art II des Deutschen Wiedervereinigungsgesetzes, angeordnet. So ist die Vereidigung der österreichischen Beamten und der gesamten österreichischen Exekutive auf Hitler nicht etwa aufgrund des österreichischen Gesetzes vom 13. März 1938, sondern zufolge eines auf diesen Art II sich stützenden Erlasses Hitlers vom 15. März 1938, verlautbart im Gesetzblatt für das Land Österreich unter Nr. 3, am gleichen Tage erfolgt. Auch die Änderung der Amtsbezeichnung von „österreichische Bundesregierung“ in „österreichische Landesregierung“ ist nicht aus eigenem Entschlusse, sondern durch eine in Österreich unter Nr. 4 verlautbarte, sich wieder auf Art II berufene Anordnung Hitlers durchgeführt worden. Auf der gleichen rechtlichen Basis geschah die Einführung der Markwährung. Die Festsetzung des Umrechnungskurses zwischen Mark und Schilling, die Übertragung der Geschäftsführung der österreichischen Nationalbank auf die Deutsche Reichsbank u.v.m., und dies alles vor der Durchführung der Volksabstimmung! Später wurden auf dem gleiche Wege ganze Rechtskomplexe wie das Deutsche Handels- und Wechselrecht, die deutschen Steuervorschriften usw. in Österreich in Wirksamkeit gesetzt und nicht etwa, wie scheinbar irrigerweise mehrfach angenommen wird, aufgrund eines rechtsbegründenden Aktes der

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österreichischen Landesregierung. Ob diese überhaupt sich irgendwie gegen eine vom Deutschen Reiche, d.h. praktisch von Hitler gewollte und auf diesem Wege durchgeführte Rechtsangleichung zur Wehr hätte setzen können, bleibt bei der Prüfung der rein rechtlichen Frage unerörtert. Es unterliegt daher keinem Zweifel, dass – rechtlich gesehen – der Anschluß an Deutschland niemals von österreichischer Seite herbeigeführt wurde. Das ist auch der Grund, warum richtigerweise nur von einer gewaltsamen Annexion durch Deutschland gesprochen werden kann. Zu der gleichen Rechtsansicht ist auch der Internationale Gerichtshof in Nürnberg gelangt. Das von ihm gefällte Urteil führt wörtlich wie folgt aus: „Hier vor dem Gerichte wurde behauptet, daß die Annexion Österreichs in dem weit verbreiten Wunsch einer Vereinigung Österreichs und Deutschlands ihre Rechtfertigung gefunden habe, daß die beiden Völker vieles gemein hätten, das diese Vereinigung wünschenswert mache, und daß schließlich dieses Ziel ohne Blutvergießen erreicht worden sei. Selbst wenn dies alles zuträfe, wäre es ganz unerheblich, da die Tatsachen klar beweisen, daß die Methoden, denen man sich zur Erlangung jenes Zieles bediente, die eines Angreifers waren. Entscheidend war, daß Deutschlands bewaffnete Macht zum Einsatz für den Fall des Widerstandes bereitstand. Weiterhin zeigt das Hossbach-Protokoll der Sitzungen vom 05. November 1937, daß keiner der erwähnten Umstände der Beweggrund für Hitlers Handeln gewesen ist, im Gegenteil, nur die Vorteile wurden betont, die der militärischen Stärke Deutschlands durch die Annexion Österreichs dienten.“ (Das Urteil von Nürnberg, Grundlage eines neuen Völkerrechts, erschienen bei der Arbeitsgemeinschaft „Das Licht/ Baden/Baden, S 34, letzter Absatz und S 35, 1. Absatz“). Klarer kann nicht ausgesprochen werden, daß die Unabhängigkeit Österreichs durch einen Gewaltakt Hitlers untergegangen ist. Hitler hat außerdem noch, um seiner Sache ganz sicher zu gehen, durch eine Verordnung vom 18. März 1938, RGBlNr. I, S 257, die Bevölkerung des Deutschen Reiches, auf deren überwiegenden Mehrheitsbeschluß infolge der eingelaufenen Propagandamaschine mit Sicherheit gebaut werden konnte, zur Abstimmung über die Eingliederung Österreichs aufgerufen. Damit war allen etwaigen unliebsamen Abstimmungsergebnissen in Österreich ein wirkungsvoller Riegel vorgeschoben worden. Selbst wenn am 10. April 1938 in Österreich alle abgegebenen Stimmen auf „nein“ gelautet hätten, hätte Hitler noch immer unter Berufung auf den Mehrheitsbeschluß bei der im Reiche durchgeführten Abstimmung als „Vollstrecker des Willens des Deutschen Volkes“ auftreten können. In dem, wie dargetan, unter der Androhung von Gewalt zustandegekommenen, von einer Reichsdeutschen Stelle ausgearbeiteten österreichischen Bundesverfassungsgesetz vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche, BGBl Nr. 75, kann die Grundlage für den Verlust der Unabhängigkeit Österreichs nicht erblickt werden. Univ. Prof. Hofrat Dr. Franz Rottenberg e.h.

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1.) Ich schließe mich dem Gutachten in der Sache Dr. Neumayer in seinem Ergebnis durchaus an. Österreich hat 1938 nicht aufgehört, zu bestehen; nur durch äußere Gewalt ist es handlungsunfähig geworden. Diese These ist seit 1945 von Österreich strikt behauptet und im innerstaatlichen Leben durchgeführt worden. Dies ebenso in der Gesetzgebung wie in der Vollziehung. In der Gesetzgebung sind mir nur zwei Ausnahmen bekannt, wo aus irgendwelchen Scheingründen dieser Grundgedanke unseres staatlichen Daseins verlassen wurde: Auf dem Gebiete des Staatsbürgerschaftsrechtes und auf dem Gebiete des Dienstrechtes. In beiden Fällen mit sehr bedenklichen Folgen für die Praxis des innerstaatlichen Lebens. 2.) Der österreichische Staat kann sich hierin auf eine völlige Übereinstimmung mit der wissenschaftlichen Lehre berufen. Dr. Leopold Werner hat diese Zusammenhänge erstmals untersucht und klargestellt (JBl. 68. Jg. Heft 1, 5, 6 und 69. Jg., Heft 7, 8). In gleichem Sinn Adamovich (im Grundriss des österreichischen Verfassungsrechts, 4. Aufl. 1947, S 33 ff). Seit seinen Ausführungen hat es keine Stimme in Österreich gegeben, die sich gegen den Grundgedanken der Kontinuität gewendet hätte. 3.) Die Frage des Weiterbestehens Österreichs nach dem 13.03.1938 muß auch vom Standpunkt des Völkerrechtes untersucht werden. Hier beschränke ich mich auf die Feststellung, daß Österreich seinen Standpunkt auch im völkerrechtlichen Verkehr durchzusetzen versucht, freilich nicht immer mit vollem Erfolg, wie die Präambel des Staatsvertrages beweist. Hier aber, für die Beurteilung einer rein innerstaatlichen Frage, kommt nur die österreichische Auffassung in Betracht, und die ist einhellig. Die österreichische Regierung kann sich aber in völkerrechtlicher Hinsicht, soviel ich weiß, auf die Übereinstimmung mit allen österreichischen Völkerrechtslehrern berufen. 4.) Angesicht des dieser einhelligen österreichischen Auffassung, dass Österreich am 13. März 1938 mit Gewalt seiner Unabhängigkeit beraubt wurde, sinkt das Wiedervereinigungsgesetz von einem juristisch entscheidenden Instrument zu einer politischen Geste, noch dazu, wie wir heute wissen, einer erpressten Geste, herab. Antoniolli

Mit Beschluss vom 05. Juni 1953461 wies das Volksgericht Wien den Wiederaufnahmeantrag ab. Der Senat, der diese Entscheidung einstimmig fällte, setzte sich zur Gänze aus anderen Personen zusammen als jenen, die das Urteil vom 02. Februar 1946 gefällt hatten.462 Das Volksgericht Wien führte zwar aus, dass aufgrund der 461 Volksgericht Wien 05.06.1953, Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. 462 Sitzungsvermerk auf dem Beschluss vom 05.06.1953 zu Vg 1b Vr 445/45, ON 145 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv. Das war damals noch nicht gesetzlich angeordnet (vgl. § 68 StPO 1873), sondern erst später (zunächst § 68 Abs. 3 und nunmehr § 43 Abs. 4 StPO 1975).

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neuen Beweise nun nicht mehr angenommen werden könne, dass der Wiederaufnahmewerber in vollem Bewusstsein der politischen Situation seinen Eintritt in die Regierung Seyß-Inquart unter Unterdrückung aller bisherigen österreichisch-vaterländischen Verbindungen und unter Preisgabe des österreichischen Volkes an die Gewalthaber der NSDAP vollzogen habe. Auch der Vorwurf der Entlassung von Beamten des Finanzministeriums, der im Urteil vom 02. Februar 1946 erhoben wurde, teils um hochverräterische Absichten des Angeklagten zu beweisen, teils aber auch um ihm diese Handlungen selbst als hochverräterische Handlung nach § 8 KVG anzulasten, wurde nun nicht mehr aufrechterhalten. Hier nahm das Volksgericht Wien aber auch eine rechtliche Korrektur dahingehend vor, dass die Qualifikation dieser ursprünglich vorgeworfenen Handlung als Hochverrat nach § 8 KVG ohnedies nicht möglich ist, weil sie erst am 14. März 1938, also nach der faktischen und rechtlichen Machtergreifung erfolgt wäre. Auch der Vorwurf einer willfährigen Gesetzesangleichung an die Reichsgesetze war nach Ansicht des Volksgerichts Wien nunmehr widerlegt, wäre aber nach dessen nunmehrigen rechtlichen Einsicht ebensowenig als Delikt nach § 8 KVG einzustufen gewesen, weil diese Handlung ebenso erst nach dem 14. März 1938 erfolgt wäre. Im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Mitwirkung am Anschlussgesetz trat die Staatsanwaltschaft Wien dem Wiederaufnahmeantrag unter Berufung auf die vom Obersten Gerichtshof in der Strafsache Reinthaller geäußerte Rechtsansicht entgegen.463 Das Volksgericht Wien meinte dazu, dass die das Gesetz beschließenden Minister das Gesetz im bewussten Zusammenwirken erlassen und dadurch als Vertreter des österreichischen Volkes fälschlich zum Ausdruck gebracht hätten, dass dieses Gesetz den Willen des österreichischen Volkes bildet. Dieses Gesetz sei jedenfalls darauf angelegt gewesen, die Selbständigkeit Österreichs zu beenden, was für die beschließenden Minister habe klar ersichtlich sein müssen. Es habe in der Gesamtsituation eine konkrete Gefahr für die Selbständigkeit Österreichs bestanden, welche die beschließenden Minister gekannt hätten, und die Minister hätten in Kauf genommen, dass damit möglicherweise das Ende der Selbständigkeit Österreichs eintritt. Ob das Gesetz nun tatsächlich die Selbständigkeit Österreichs bedroht oder beendet hat, wurde vom Volksgericht Wien als reine Rechtsfrage eingestuft, dies mit dem Verweis darauf, dass in einem Wiederaufnahmeverfahren nur darüber zu entscheiden sei, ob sich durch eine neue Faktenlage eine geänderte Entscheidung ergeben kann. Das Volksgericht Wien ging damit im Ergebnis von jener rechtlichen Beurteilung aus, die bereits im Urteil vom 02. Februar 1946 vorgenommen worden 463 Beschluss Volksgericht Wien 05.06.1953, ON 145 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 74.

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war. Meines Erachtens war es hier verfehlt, sich der Rechtsfrage zu verschließen, weil es in einem Gerichtsverfahren und auch in einem Wiederaufnahmeverfahren immer darauf ankommt, welche Fakten rechtlich relevant sind, sodass dazu Beweise aufzunehmen und auf Basis der Beweisergebnisse Feststellungen zu treffen sind, sofern es sich nicht um offenkundige oder unstrittige respektive zugestandene Tatsachen handelt. Und die für eine Entscheidung erforderliche rechtliche Beurteilung ist bei jeder Entscheidung neu vorzunehmen. Außerdem ist die Thematik, ob das Anschlussgesetz Auswirkungen haben konnte und ggf. welche, keine reine Rechtsfrage, sondern dem Tatsachenbereich zuzuordnen, weil es dabei nicht darauf ankommt, welchen Rechtsgehalt eine bestimmte Rechtsnorm hat oder wie bestimmte Fakten einer Rechtsnorm unterzuordnen (zu subsumieren) sind, sondern ob und ggf. welche faktischen Folgewirkungen einer Rechtsnorm, und zwar des Anschlussgesetzes, feststellbar sind. Die Argumentation, das Anschlussgesetz habe nicht dem Willen des österreichischen Volkes entsprochen, erscheint verfehlt, weil dies nicht der damaligen Ausgangssituation entspricht, dass die Regierungsform in Österreich damals keine Demokratie, sondern eine Autokratie war. Die Minister waren nicht unmittelbar oder mittelbar demokratisch legitimiert, weil sie nicht von gewählten Volksvertretern bestellt (den gewählten Nationalratsabgeordneten, wie im ursprünglichen Konzept der Bundesverfassung 1920 vorgesehen, oder von dem vom Volk gewählten Bundespräsidenten, wie nach der Verfassungsnovelle 1929 vorgesehen) und auch nicht gewählten Volksvertretern verantwortlich waren (es bestand keine Ministerverantwortlichkeit gegenüber einem Gremium von gewählten Volksvertretern wie dem Nationalrat). Daher waren sie auch nicht demokratisch verpflichtet. Zudem widerspricht diese Argumentation dem historischen Faktum, dass weite Teile der österreichischen Bevölkerung für den Anschluss waren. Damit ergibt sich auch, dass das Konzept des § 8 KVG nicht sachgerecht war, sondern den Zweck hatte, aus nachträglicher politischer Opportunität einzelne beim Anschluss in untergeordneter, nicht entscheidender Funktion mitwirkende Akteure exemplarisch und stellvertretend für viele wegen der negativen Folgen der NS-Herrschaft zu bestrafen, um der nunmehr in weiten Bevölkerungskreisen bestehenden Stimmung zu entsprechen („die Volksseele zu beruhigen“). Meines Erachtens kann aber diesem Beschluss des Volksgerichts Wien soweit zugestimmt werden, als es darin Ausführungen zu den Anforderungen an die Funktion eines Ministeramts getätigt hat464:

464 Beschluss Volksgericht Wien 05.06.1953, ON 145 im Gerichtsakt des Volksgerichts des Volksgerichts Wien zu Vg 1b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, S. 76f.

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[…] Es darf hierbei auch nicht übersehen werden, daß gerade für einen Minister die Verantwortlichkeit für seine Handlungsweise ganz anders beurteilt werden muß, als bei einem anderen Staatsbürger, weil sich seine Taten nicht nur auf einzelne oder kleine Gruppen von Staatsbürgern erstrecken, sondern auf das ganze Volk, dessen Vertreter er ist, und zu dessen Wohlergehen er zu handeln hat. In einem solchen Fall kann daher auch nicht anerkannt werden, daß irgendwelche persönlichen Vorteile oder zu befürchtende persönliche Nachteile das Handeln eines Ministers beeinflussen dürfen, sondern handelt der Minister grundsätzlich in einer einzigen Zwangslage, nämlich jener, die für das Wohlergehen des Volkes geboten ist, und muß von einem Minister auch gefordert werden, daß er nötigenfalls seiner hohen Verantwortung entsprechend, wenn erforderlich, die größten Opfer erbringt, ansonsten er nicht würdig wäre, ein Vertreter eines Volkes zu sein.

6.3 Der Fall Dr. Franz Hueber 6.3.1 Allgemeines

Dr. Franz Hueber war zunächst öffentlicher Notar in Mattsee und später bis 11. März 1938 in Wels. In den Nachtstunden dieses Tages wurde er, ohne bis dahin Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, zum Bundesminister für Justiz im Kabinett Seyß-Inquart ernannt und am 12. März 1938 von Bundespräsident Wilhelm Miklas als Regierungsmitglied auf die Verfassung 1934 vereidigt. Kurz danach wurde er ehrenhalber zum SA-Oberführer, später zum SA-Brigadeführer ernannt, ohne zuvor der SA angehört zu haben. Mit dem Eintrittsdatum 01. Mai 1938 und der Mitgliedsnummer 6.114.058 wurde er als Parteimitglied in die NSDAP aufgenommen. Nach Auflösung des österreichischen Justizministeriums wurde er Unterstaatssekretär im Reichsjustizministerium und schließlich Präsident des Reichsverwaltungsgerichts. Dr. Hueber hatte sich 1919 der Heimwehrbewegung angeschlossen. Er zählte zu den Gründern der Heimwehr im Pinzgau. Er war zunächst Mitglied des Heimatblocks, des politischen Arms der Heimwehren. Vom 30. September bis zum 04. Dezember 1930 übte er bereits einmal das Amt des Bundesministers für Justiz aus, vom 02. Dezember 1930 bis zum 02. August 1932 war er als Nationalratsabgeordneter des Heimatblocks aktiv.465 Im Juni 1933 war er auf Veranlassung von Adolf Hitler aus der Heimwehr ausgetreten. Dr. Hueber wirkte auch auf nationaler Seite an der Aktion Reinthaller mit. 465 Kommentiertes Ministerratsprotokoll 1070 vom 12. März 1938, Österreichisches Staatsarchiv, FN 3.

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Dr. Hueber war seit 1920 verheiratet mit Paula Hueber, geborene Göring, einer der beiden Schwestern von Hermann Göring, die er kennengelernt hatte, als er im Notariat seines Onkels Dr. Fritz Rigele in Saalfelden tätig gewesen war. Dr. Rigele war seit 1912 mit Hermann Görings älterer Schwester Olga verheiratet. 6.3.2 Der Strafprozess

Dr. Hueber wurde am 19. Oktober 1945 inhaftiert und befand sich bis 30. Dezember 1948 zunächst in Verwahrungs- und dann in Untersuchungshaft. Das Strafverfahren gegen ihn war beim Volksgericht Wien zu Vg 11b Vr 409/46 und Vg 11b Hv 987/48 anhängig. Mit Anklageschrift vom 11. Dezember 1948 erhob die Staatsanwaltschaft Wien gegen Dr. Franz Hueber beim Volksgericht Wien Anklage, womit sie diesem zur Last legte, das Delikt nach § 10 Abs. 1 VG in der Deliktsqualifikation des § 11 Abs. 1 VG begangen zu haben, indem er nach der Okkupation Österreichs von der NSDAP als Altparteigenosse anerkannt worden sei und indem er der SA im Rang eines Brigadeführers angehört habe. Des Weiteren legte die Staatsanwaltschaft Wien ihm damit zur Last, er habe in Kooperation mit führenden Persönlichkeiten des Dritten Reiches an der Vorbereitung und Durchführung der NS-Machtergreifung in Österreich mitgewirkt. Zudem sei er an der Durchführung des Bundesverfassungsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (an dem Anschlussgesetz) beteiligt gewesen. Dadurch habe er jeweils das Verbrechen des Hochverrates nach § 8 KVG begangen.466 Am 28., 29. und 30. Dezember 1948 wurde in dieser Strafsache gegen Dr. Hueber vor dem Volksgericht Wien die Hauptverhandlung durchgeführt. Als Staatsanwalt trat darin Dr. Eichler auf, so wie später in der Strafsache gegen Ing. Reinthaller. Verteidigt wurde Dr. Hueber von Rechtsanwalt Dr. Gustav Steinbauer, der bereits Dr. Seyß-Inquart vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg vertreten hatte. Mit Urteil vom 30. Dezember 1948 verurteilte das Volksgericht Wien Dr. Hueber wegen Illegalität nach § 10 und § 11 VG und wegen Hochverrats nach § 8 KVG. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Dr. Hueber in Wien nach der Okkupation Österreichs von der NSDAP als Altparteigenosse anerkannt worden war. Die Deliktsqualifikation des § 11 Abs. 1 VG habe er zum einen dadurch erfüllt, dass er der SA im Rang eines Brigadeführers angehörte. Zum anderen dadurch, dass er in Verbindung mit seiner Betätigung für die NSDAP eine Handlung aus besonders 466 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 11. Dezember 1948 zu 15 St 2802/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv.

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verwerflicher Gesinnung begangen habe, indem er in führender und einflussreicher Stellung die Machtergreifung durch die NSDAP in Österreich vorbereitet und gefördert habe. Das habe er getan durch Herstellung der laufenden Verbindung der österreichischen Nationalsozialisten mit führenden Persönlichkeiten des Dritten Reiches, durch Teilnahme an der entscheidenden Besprechung mit Hitler am 10. März 1938, durch Übernahme und Übermittlung von entscheidenden Anordnungen Görings am 11. März 1938 und dadurch, dass er als österreichischer Bundesminister für Justiz an der Durchführung des Anschlussgesetzes mitgewirkt habe. Durch diese Handlungen habe er auch das Verbrechen des Hochverrats nach § 8 KVG begangen. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren schweren Kerkers. Als Strafverschärfung wurde ein hartes Lager vierteljährlich verfügt. Zudem verfügte das Volksgericht – so wie im Fall Dr. Rudolf Neumayer – als besondere Symbolik isolierte Dunkelhaft an jedem 13. März. Gemäß § 9 KVG entschied das Gericht auf Einziehung seines gesamten Vermögens zugunsten der Republik Österreich.467 Die Feststellung zur Illegalität stützte das Volksgericht Wien auf den von Dr. Hueber im Jahr 1938 gestellten Erfassungsantrag und die von ihm selbst in den Fragebögen vom 11. Mai und vom 07. Juni 1938 getätigten Angaben.468 Demnach sei er schon im Jahre 1919 der NSDAP-Schulzbewegung beigetreten und habe dieser Bewegung bis 1925 oder 1926 angehört. Am 01. Jänner 1934 sei er der NSDAP-Hitlerbewegung in der Ortsgruppe Mattsee beigetreten und während der Verbotszeit für die NS-Bewegung tätig gewesen. In der Verbotszeit habe er etwa 12.000 bis 15.000 Schilling für die NS-Bewegung aufgewendet. Nach diesen Angaben habe er auch der SA seit Jänner 1935 angehört und sei im Jänner 1935 zum Obertruppenführer der SA ernannt und mit Führerbefehl Nr. 63 mit Wirkung vom 12. März 1938 zum SA-Brigadeführer bestellt worden. Angesichts der Verantwortung Dr. Huebers, sein Aufnahmegesuch sei im Jahr 1934 abgewiesen worden, verwies das Volksgericht Wien auf die im Personalfragebogen vom 07. Juni 1938 enthaltenen Bestätigungen, und zwar jener des Ortsgruppenleiters in Mattsee Johann Lögel, wonach Dr. Hueber im Frühjahr 1934 bei ihm um die Aufnahme in die NSDAP ansuchte, und er diese Anmeldung im Dienstwege weitergab, und auf jene des damaligen Gauinspektors Kaltenbrunner als ehemaligem Führer des SA-Sturmbannes II/59, dass Dr. Hueber sich 1934 als Parteimitglied bei der Gauleitung der NSDAP Salzburg, welche damals in Freilassing, Bayern situiert war, anmeldete und im Stand der SA-Reserve Mattsee 467 Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv. 468 Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 1 verso.

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geführt wurde.469 Ansonsten nahm das Volksgericht Wien auf die Begründung des Erfassungsantrages Bezug, wonach Dr. Hueber nach eigenen Angaben mit führenden Persönlichkeiten der illegalen österreichischen NS-Bewegung an der Vorbereitung des Umbruchs vom 11. März 1938 tätig gewesen sei. Außerdem war er nach seinen eigenen Angaben in Zusammenhang mit seiner Funktion als Redner des deutschvölkischen Turnvereins an der Vorbereitung und Durchführung des „Schulter an Schulter-Treffens“ in Wels beteiligt, das nach den Ausführungen des Volksgerichts „gerichtsbekanntermaßen von den nationalsozialistischen Parteianhängern zu Kundgebungen gegen Österreich mißbraucht worden ist“, wobei das Gericht damit meint, dass der Angeklagte eben auf diese Umstände mit seinen Angaben habe hinweisen wollen.470 Zur Verbindung von Dr. Hueber zu Hermann Göring und zur Mitwirkung des Dr. Hueber am Umsturz vom 11. März 1938 traf das Volksgericht die nachstehenden Feststellungen: Diese Einflussnahme des Angeklagten auf die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich zeigt sich am deutlichsten in der Tätigkeit des Angeklagten knapp vor dem 11.03.1938. So befand sich der Angeklagte nach seinen eigenen Angaben anfangs März 1938 zu Besprechungen bei dem damals in Davos (Schweiz) weilenden Führer der österreichischen Turn- und Sportunion, Fürst Starhemberg, und traf am 08. März 1938 in Berlin ein. Er nahm sogleich Fühlung mit Göring und wurde über Veranlassung Görings einer auf den 10. März 1938 abends von Hitler anbefohlenen Unterredung zwischen diesem und dem damals in Berlin weilenden Minister Glaise-Horstenau zugezogen. Bei dieser Besprechung am 10. März 1938 wurde Glaise-Horstenau und dem Angeklagten von Hitler und Göring das „Marschprogramm“ für Seyß-Inquart für die kommenden Tage, also für die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich und die zur Durchführung dieses Programmes vorgesehenen Befehle und Anordnungen übergeben. Aufgrund der Aussage des im Nürnberger internationalen Militärgerichtshofverfahren vernommenen Glaise-Horstenau wurden diesem von Hitler Entwürfe für ein Demissionsanbot der sogenannten nationalen Opposition angehörigen Minister Seyß-Inquart und Glaise-Horstenau an Schuschnigg, weiters für eine Rede Seyß-Inquarts im Radio und schließlich ein Entwurf in die Hand gedrückt, welcher ein Telegramm Seyß-Inquarts mit einer zweiten Bitte an Hitler um Einmarsch deutscher Truppen in Österreich enthielt. Bei dieser Be-

469 Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 2 recto. 470 Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 2 verso.

Der Fall Dr. Franz Hueber

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sprechung wurden von Hitler und Göring den beiden Anwesenden – Glaise-Horstenau und dem Angeklagten – die nötigen Anweisungen für das Konzept der Machtergreifung dargelegt und wurden ihnen auch entsprechende Belehrungen, Befehle und Anweisungen mitgegeben. Auch der Angeklagte war bei dieser, die weitere Entwicklung entscheidungsvoll beeinflußenden Unterredung zugegen. Er hat die Anordnungen und Befehle Hitlers und Görings übernommen und an ihrer Verwirklichung auch in einflussreicher Position mitgewirkt. In der Früh des 11. März 1938 flogen Glaise-Horstenau und der Angeklagte in einem Flugzeug nach Wien, wo sie auf dem Flugplatz in Aspern bereits von Seyß-Inquart erwartet wurden. Der Angeklagte war es, der das im Besitze eines im gleichen Flugzeug mitgeflogenen Kuriers Hitlers befindliche Programm an Seyß-Inquart von dem Kurier übernahm und an Seyß-Inquart übermittelte. Nach diesem Programm und Konzept Hitlers erfolgte auch dann tatsächlich die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich. Die die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Österreich fördernde und vorbereitende Tätigkeit des Angeklagten wird auch in dem weiteren Verhalten des Angeklagten am 11. März 1938 klar deutlich. So hielt der Angeklagte sowohl mit Göring als auch mit den die Machtergreifung vorbereitenden maßgebenden Funktionären Kontakt und rief er am 11.03.1938 um 11.00 Uhr vormittags Göring an und meldete ihm den Vollzug der eingetroffenen Anordnungen und schließlich wurde der Angeklagte auch am 11. März 1938 zwischen 17:20 h und 17:25 h von Göring im Lokal des Volkspolitischen Referates der Vaterländischen Front angerufen und erhielt er von dem Selben neuerlich Weisungen und Befehle im Zuge dieses Gesprächs, dessen Inhalt aus einer Abschriftensammlung des Reichsluftfahrtministeriums vom 14. März 1938 wortgetreu hervorgeht. Die damals von Göring mit Seyß-Inquart und mit dem Vertreter der deutschen Gesandtschaft geführten Gespräche haben alle den Zwecke verfolgt, die klaglose Durchführung der Machtergreifung der NSDAP in Österreich zu ermöglichen und zu gewährleisten. Dass der Angeklagte dabei in einflussreicher Stellung und maßgebender Weise mitwirkte geht auch aus der Art der von Göring geführten Gespräche hervor. So hat sich Göring bei seinem Gespräch um 14:45 h mit Seyß-Inquart sogleich nach der Begrüßung nach dem Angeklagten erkundigt, um nur ja die Gewissheit zu haben, dass durch Vermittlung seines Schwagers und über dessen Intervention und Einflussnahme die von den Machthabern des Dritten Reiches vorgesehenen Maßnahmen richtig durchgeführt werden. Die angeführten Gespräche zeigen deutlich, dass Göring damals sozusagen „per Draht“ an der laufenden Entwicklung der Ereignisse des 11. März 1938 beteiligt war und ständig darauf Einfluss nahm, um ja die Besetzung Österreichs und die Machtergreifung des Nationalsozialismus unbedingt zu gewährleisten. Es geht auch die Mitwirkung des Angeklagten bei diesen Ereignissen aus dem Gespräch Görings mit der deutschen Gesandtschaft (Dombrowsky) eindeutig hervor, das von 17:00 h bis 17:08 h geführt wurde und in dem der angerufene Gesandtschaftsfunktionär Befehle Görings über die Besetzung der Regierungsliste seitens Seyß-Inquarts und über die Betrau-

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Andere Hochverratsprozesse

ung des Angeklagten in diesem Zusammenhang mit dem Justizressort zur Kenntnis nimmt. Göring betont in diesem Zusammenhang, dass das neugebildete Kabinett eindeutig ein nationalsozialistisches sein müsse.

Im Zusammenhang mit der Beschlussfassung über das Anschlussgesetz führt das Gericht aus, dass der Angeklagte Dr. Hueber zwar in der Anwesenheitsliste zu dieser Ministerratssitzung vom 13. März 1938 aufscheine, aber bei der Verantwortung des Dr. Hueber, dass er von dieser Sitzung vorher nichts gewusst habe und daher bei dieser Sitzung auch nicht anwesend gewesen sei, und der Beweislage nicht mit Sicherheit angenommen werden könne, dass Dr. Hueber bei dieser Ministerratssitzung tatsächlich zugegen gewesen sei.471 Das Volksgericht meinte aber, dass Dr. Hueber aufgrund des Umstands, dass er mit dem Inhalt dieses Gesetzes einverstanden war und es nachträglich unterzeichnete, die NS-Machtergreifung gefördert habe. So wie später der Oberste Gerichtshof im Fall Reinthaller äußerte das Volksgericht bei der rechtlichen Beurteilung seine Auffassung, dass das Anschlussgesetz den Zweck gehabt habe, der gewaltsamen Besetzung Österreichs den Anschein der Legalität, der Rechtund Verfassungsmäßigkeit zu geben, sodass die NS-Machtergreifung damit insofern gefördert worden sei.472 Das Volksgericht verwies mehrfach auf den von Dr. Hueber bei dessen am 12. März 1938 erfolgten Vereidigung als Justizminister geleisteten Eid auf die Verfassung 1934 und behauptete, dass Dr. Hueber „die in dieser Verfassung festgelegte Freiheit und Unabhängigkeit des österreichischen Staates unbedingt zu wahren und für den christlich-deutschen Bundesstaat Österreich auf ständischer Grundlage einzutreten“ gehabt habe.473 Das ist aber unrichtig, weil sich weder aus diesem Eid „auf die Verfassung, die Beobachtung der Gesetze und die gewissenhafte Erfüllung der Amtspflichten“, wie er in der Verfassung 1934 für die Vereidigung von Ministern vorgesehen war, noch aus der sonstigen Verfassung 1934 eine solche Pflicht zur unbedingten Wahrung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs ableiten lässt.474 Allerdings hatte die Frage eines Eidbruchs bei der Beurteilung einer Strafbarkeit nach § 8 KVG ohnedies keine Relevanz, weil nach § 8 KVG undifferenziert nur eine Vorbereitung oder Förderung der NS-Machtergreifung relevant war, die aus einer führenden oder einflussreichen Stellung erfolgte. 471 Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 4 verso. 472 Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 4 verso. 473 Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11b Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, insbesondere S. 4 recto. 474 Dazu vorstehend in Kapitel 4.3.2.2.

Der Fall Dr. Franz Hueber

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Es ergibt sich jedenfalls, dass der Fall Reinthaller auch im Zusammenhang mit dem Vorwurf nach § 8 KVG sich wesentlich vom Fall Hueber unterscheidet, weil der Schwerpunkt im Fall Hueber in der Zeit vor dem 13. März 1938 bei der Vorbereitung der NS-Machtergreifung in Österreich liegt und weil auch die Involvierung in das Anschlussgesetz eine andere ist. Bei der Bemessung der über Dr. Hueber verhängten Freiheitsstrafe wertete das Volksgericht Wien als mildernd das weitgehende Tatsachengeständnis des Dr. Hueber, dessen Unbescholtenheit, dessen Sorgepflicht gegenüber seiner Ehegattin und seinem Kind sowie den Umstand, dass er in seiner Stellung als Unterstaatssekretär im Reichsjustizministerium und dann als Präsident des Reichsverwaltungsgerichtshofes bestrebt gewesen sei, die österreichischen Rechtsvorschriften möglichst unverändert zu erhalten. Als erschwerend wertete es das Zusammentreffen zweier Verbrechenstatbestände (§ 10 iVm § 11 VG und § 8 KVG) und den ihm vom Volksgericht angelasteten Verstoß gegen eine „beschworene Treuepflicht als österreichischer Justizminister“. 6.3.3 Die Wiederaufnahme

Dr. Hueber beantragte in weiterer Folge in Ansehung der Verurteilung seiner Person nach § 10 und § 11 VG die Wiederaufnahme des Strafverfahrens. In seinem Wiederaufnahmeantrag brachte er vor, dass er der NSDAP während des Parteiverbots nicht angehört habe und ihm die NSDAP-Mitgliedsnummer 6.114.058 nur aus Gefälligkeit infolge seiner Schwägerschaft zu Göring und seiner Stellung als Minister im Kabinett Seyß-Inquart zuerkannt worden sei, ohne dass die formalen Voraussetzungen hierfür gegeben gewesen seien. Zu diesem Beweisthema machte er einige neue Zeugen namhaft, darunter Ing. Reinthaller. Durch deren Aussagen wurde jeweils bestätigt, dass Dr. Hueber sich im Winter 1936/37 erkundigte, wie man überhaupt Mitglied der NSDAP werden könnte, und dass er noch im April 1938 Unterstützer für seine Aufnahme in die NSDAP suchte.475 Des Weiteren, dass die Bestätigungen, wonach Dr. Hueber bereits im Frühjahr 1934 um die Aufnahme in die NSDAP angesucht habe und seit 1934 Mitglied der SA sei, unrichtig sind und als reine Gefälligkeitsbestätigungen ausgestellt worden waren, als Dr. Hueber sich nach dem Umbruch 1938 um Aufnahme in die NSDAP mit einer bevorzugten Nummer bemühte, weil er Schwager Görings war und Justizminister im Kabinett Seyß-Inquart gewesen

475 Beschluss des Volksgerichts Wien vom 30.06.1950 zu Vg 11a Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11a Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 1f.

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Andere Hochverratsprozesse

war.476 Demnach hat Dr. Hueber niemals während der Verbotszeit um Aufnahme in die NSDAP angesucht und auch nicht als Mitglied der NSDAP gegolten. Er schien dementsprechend auch nicht in der Liste der illegalen Parteimitglieder in Mattsee auf. Aufgrund des Umstands, dass die am 30. Dezember 1948 nach § 10 und § 11 VG erfolgte Verurteilung nur auf Urkunden basierte, deren Richtigkeit durch diese neuen Beweismittel in Form von Zeugenaussagen infrage gestellt waren, gelangte das Volksgericht Wien zur Ansicht, dass diese neuen Beweismittel geeignet sind, eine andere Entscheidung über den von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwurf nach § 10 und § 11 VG herbeizuführen477, und beschloss daher am 30. Juni 1950 die Wiederaufnahme des Strafverfahrens.478 Das Volksgericht Wien sah aber auch eine rechtliche Korrektur seines Urteils vom 30. Dezember 1948 als angebracht an. Nach seiner nunmehrigen Rechtsauffassung standen § 8 KVG einerseits und andererseits § 10 und § 11 VG im Verhältnis von spezieller Norm zu allgemeiner Norm, sodass § 8 KVG als spezielle Norm in seinem Anwendungsbereich die Anwendung des § 10 und § 11 VG ausschloss.479 Diese Rechtsansicht wurde damit begründet, dass beide Bestimmungen hochverräterische Handlungen zugunsten der NSDAP und deren im Jahr 1938 erfolgte Machtergreifung behandeln. § 8 KVG erfasse speziell Hochverratsfälle führender oder doch einflussreicher Personen, wogegen § 10 in Verbindung mit § 11 VG ganz allgemein die als hochverräterisch eingestufte Mitwirkung an der NS-Bewegung erfasse. Die Tätigkeit für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich könne zudem nur als ein einziger Komplex angesehen werden, sodass darauf nur entweder § 8 KVG oder bei dessen Unanwendbarkeit nur § 10 und § 11 VG angewendet werden können.480 476 Beschluss des Volksgerichts Wien vom 30.06.1950 zu Vg 11a Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11a Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 2f. 477 § 353 StPO 1873: „Der rechtskräftig Verurteilte kann die Wiederaufnahme des Strafverfahrens selbst nach vollzogener Strafe verlangen: 1. […] 2. wenn er neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt, welche allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet erscheinen, seine Freisprechung oder die Verurteilung wegen einer unter ein milderes Strafgesetz fallenden Handlung zu begründen, 3. […]“. 478 Beschluss des Volksgerichts Wien vom 30.06.1950 zu Vg 11a Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11a Vr 409/46, OÖ Landesarchiv. 479 Die speziellere Norm hat bei der Rechtsanwendung den Vorrang vor der allgemeinen Norm – lex specialis derogat legi generali. 480 Beschluss des Volksgerichts Wien vom 30.06.1950 zu Vg 11a Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11a Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 4f.

Der Fall Dr. Franz Hueber

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Nach dieser Rechtsansicht war das Urteil vom 30. Dezember 1948 auch rechtlich unrichtig, weil Dr. Hueber damit sowohl nach § 8 KVG als auch nach § 10 in Verbindung mit § 11 VG verurteilt wurde.481 Die Strafverteidiger des Ing. Reinthaller wendeten selbst bei der Erwiderung der Anklage diese rechtliche Argumentation an.482 Mit Beschluss vom 04. August 1950 delegierte der Oberste Gerichtshof das Strafverfahren an das Volksgericht Linz.483 Vor dem Volksgericht Linz verteidigte ihn nunmehr Dr. Karl Günther. Das Volksgericht Linz entschied mit Urteil vom 12. Oktober 1950 auf Freispruch von Dr. Hueber vom Vorwurf nach § 10 und § 11 VG.484 Den Vermögensverfall hob es zur Gänze auf. Es verblieb damit nur der Schuldspruch nach § 8 KVG, sodass mit der nunmehr neu vorzunehmenden Strafbemessung die Strafe auf 10 Jahre schweren Kerkers herabgesetzt wurde, dies wiederum verschärft durch ein hartes Lager vierteljährlich und „einsame Absperrung in dunkler Zelle an jedem 13. März“. 6.3.4 Die Begnadigung

Am 27. November 1950 brachte Dr. Hueber, wiederum durch Rechtsanwalt Dr. Karl Günther, ein Gnadengesuch ein, das auf Nachsicht des Restes der über ihn verhängten Freiheitsstrafe gerichtet war, sowie auf Nachsicht von den mit der Verurteilung verbundenen Rechtsfolgen der Ausübung bestimmter Berufe und Erlangung bestimmter Berechtigungen.485 Darin legte er ergänzend zu gleichartigen, während des Strafverfahrens vorgelegten Bestätigungen ein Bestätigungsschreiben des jüdischen Rechtsanwalts Dr. Paul Koretz vor, der im April 1938 in die USA emigriert war, wonach Dr. Hueber auch für Verfolgte des NS-Regimes tätig und diesen behilflich war, wie Max Reinhardt und Dr. Koretz sowie einem anderen jüdischen Anwalt.486 Dr. Hueber führte generell an, dass er immer für Personen eingetreten sei, die ungerechtfertigt politisch verfolgt waren. Auch seine Frau habe sich für Verfolgte einge481 Beschluss des Volksgerichts Wien vom 30.06.1950 zu Vg 11a Hv 987/48 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 11a Vr 409/46, OÖ Landesarchiv, S. 5. 482 Siehe Kapitel 4.3.2., FN 190. 483 Beschluss des OGH vom 04.08.1950 zu 1 Nds 185/50. 484 Urteil des Volksgerichts Linz vom 12.10.1950 zu Vg 10 Hv 492/50 im Gerichtsakt des Volksgerichts Linz zu Vg 10 Vr 1326/50, OÖ Landesarchiv. 485 Gnadengesuch vom 13.11.1950 im Gerichtsakt des Volksgerichts Linz zu Vg 10 Vr 1326/50, OÖ Landesarchiv, eingebracht beim Bundesminister für Justiz am 27.11.1950. 486 Beilage ./B zum Gnadengesuch vom 13.11.1950 im Gerichtsakt des Volksgerichts Linz zu Vg 10 Vr 1326/50, OÖ Landesarchiv. Vgl. Urteil des Volksgerichts Linz zu Vg 10 Hv 492/50, S. 3 verso, worin als strafmildernd auch der Umstand gewertet wurde, dass Dr. Hueber sich mehrfach für in Haft befindliche Parteigegner einsetzte.

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Andere Hochverratsprozesse

setzt. Sein Haus in Mattsee sei „in der damaligen Zeit für Salzburg und das westliche Österreich bei allen Bedrängten als Ort bekannt“ gewesen, „wo jeder angehört wird und niemand ohne Hilfe weggehen braucht, genauso wie das Haus meines Freundes und Ministerkollegen Ing. Reinthaller in Attersee“. Seine Gattin sei, „obwohl eine Schwester des Reichsmarschalls Göring, überhaupt nicht Mitglied der NSDAP geworden“. Dazu konnte er einen Bescheid des Außensenates Salzburg der Beschwerdekommission des Bundesministeriums für Inneres vorlegen, wonach Paula Hueber von der Verzeichnung in den NS-Registrierungslisten ausgenommen wurde.487 Demnach hatte Paula Hueber sich im Herbst 1943 um die Aufnahme in die NSDAP beworben, ohne dass eine Erledigung dieses Aufnahmeantrags erfolgte. Die Erhebungen der Beschwerdekommission ergaben vielmehr, dass dieser Antrag in einer parteiamtlichen Liste als abgelehnt aufschien. Außerdem ergab sich für die Beschwerdekommission, dass Paula Hueber „für eine Reihe von Personen antinationalsozialistischer Einstellung in einer Weise eingetreten ist, dass sie ihnen dadurch schwerste Schädigungen erspart“ hat. Nach den Erhebungen soll sie „deshalb sogar während der NS-Zeit als der „gute Engel von Salzburg“ bezeichnet worden sein“. Dr. Hueber führte auch seine Mitwirkung an der Befriedungsaktion Reinthaller für sich ins Treffen.488 Schließlich nahm Dr. Hueber in seinem Gnadengesuch auch direkten Bezug auf das gegen Ing. Reinthaller geführte Strafverfahren489: Nicht vergessen darf auch noch ein weiterer Grund werden, welcher gerade in meinem Falle diese Gnadenbitte und deren Erfüllung durch den Herrn Bundespräsidenten als besonders begründet erscheinen lässt. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen in Wien als Volksgericht vom 26. Oktober 1950, Zl 1h Vr 2068/49 wurde nämlich mein Freund und Ministerkollege Ing. Anton Reinthaller von der gleichen Anklage wegen Verbrechens des Hochverrates am österreichischen Volke nach § 8 KVG gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Dieser Freispruch ergab sich aufgrund der neu hervorgekommenen Entlastungsbeweise, wobei das Volksgericht Wien in diesem Urteile ausdrücklich feststellte, dass die Machtergreifung der NSDAP in Österreich und die Machtergreifung Hitlers und seines Regimes in diesem Land bereits mit 12. März 1938 abgeschlossen wurde, dass das Wiedervereinigungsgesetz ein ausgesprochenes Diktat Hitlers und der reichsdeutschen Regierungsstellen war und seine stillschweigende Zustimmung hiezu daher nicht mehr geeignet gewesen ist, diese Machtergreifung der NSDAP irgendwie vorzubereiten oder zu fördern. 487 Bescheid des Bundesministerium für Inneres, Beschwerdekommission nach § 7 Verbotsgesetz 1947, Senat Salzburg vom 29. Juni 1950 zu 13/50, Beilage ./C zum Gnadengesuch vom 13. November 1950. 488 Gnadengesuch, S. 4. 489 Gnadengesuch, S. 6f.

Auswirkungen auf das Gnadenverfahren

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Dabei ist mein Freund und Ministerkollege Ing. Reinthaller altes Vorverbotsmitglied der NSDAP aus dem Jahre 1928 mit der Mitgliedsnummer 63.421 gewesen. Dieser Freispruch hat zwar auf mich unmittelbar keine Wirkung, er muss aber doch zu denken geben. Jedenfalls geht aus ihm das Eine hervor, dass auch nach gerichtlicher Feststellung meine Mitwirkung an der Machtergreifung der NSDAP in Österreich als Fachminister der Regierung Seyß-Inquart zumindestens so gering gewesen sein wird, wie die meines Freundes und Ministerkollegen Ing. Reinthaller, mit dem ich durch Jahre hindurch im Sinne einer inneren Befriedung die verschiedensten Aktionen mit Zustimmung und Kenntnis der damaligen österreichischen Regierung in die Wege geleitet habe. Ing. Rein­ thaller befindet sich seit 26. Oktober 1950 in Freiheit, ich müsste noch fast 5 Jahre im Zuchthaus zubringen.

In diesem Zusammenhang muss explizit auf die Chronologie hingewiesen werden, dass das Gnadengesuch vom 13. November 1950 datiert, der Oberste Gerichtshof den Freispruch Ing. Reinthallers vom Vorwurf des Hochverrats nach § 8 KVG, auf den das Volksgericht am 26. Oktober 1950 entschieden hatte, erst in weiterer Folge mit Urteil vom 27. April 1951 aufhob.490 Daher gingen Dr. Hueber und sein Anwalt Dr. Günther im Gnadengesuch noch von einem endgültigen Freispruch aus. Mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 23. Dezember 1950 wurde Dr. Hueber der Rest der mit Urteil des Volksgerichts Linz vom 12. Oktober 1950 über ihn verhängten zehnjährigen schweren Kerkerstrafe mit den Wirkungen der bedingten Verurteilung unter Bestimmung einer fünfjährigen Probezeit nachgesehen.491 Der Gnadenbitte um Nachsicht der Rechtsfolge der Unfähigkeit zur Ausübung bestimmter Berufe und Erlangung von Berechtigungen wurde aber nicht stattgegeben. Dr. Hueber wurde noch am 23. Dezember 1950 aus der Haft entlassen.492

6.4 Auswirkungen auf das Gnadenverfahren

Das Volksgericht Wien verurteilte Anton Reinthaller mit Urteil vom 26. Oktober 1950493 nach § 10 VG in der Deliktsqualifikation nach § 11 VG, weil er in der Zeit 490 Dazu Kapitel 4.1. und 4.4.2. sowie 8.3.1. 491 Note des Bundesministers für Justiz vom 23. Dezember 1950 zu 96.335/50 im Gerichtsakt des Volksgerichts Linz zu Vg 10 Vr 1326/50, OÖ Landesarchiv. 492 Mitteilung der Männerstrafanstalt Garsten, ON 149 im Gerichtsakt des Volksgerichts Linz zu Vg 10 Vr 1326/50, OÖ Landesarchiv. 493 Urteil des Volksgerichts Wien vom 26.10.1950 zu Vg 1h Hv 238/50 (Urteilsausfertigung im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner).

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Andere Hochverratsprozesse

vom 01. Juli 1933 bis zum 13. März 1938 nach Vollendung des 18. Lebensjahres der NSDAP angehört und während dieser Zeit und später sich für die NS-Bewegung betätigt habe, Angehöriger eines der Wehrverbände der NSDAP, nämlich der SS gewesen sei, von der NSDAP als „Alter Kämpfer“ anerkannt worden sei, als eine der in § 11 Abs. 1 VG494 genannten Personen politischer Leiter vom Ortsgruppenleiter aufwärts, nämlich Gauamtsleiter für Agrarpolitik gewesen sei, einem der Wehrverbände der NSDAP mit dem Range vom Untersturmführer aufwärts, nämlich der SS, zuletzt als SS-Brigadeführer angehört habe, und Träger von Parteiauszeichnungen, nämlich des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP und der Dienstauszeichnungen der NSDAP in Bronze und Silber gewesen sei, zu drei Jahren schweren Kerkers, verschärft durch ein hartes Lager vierteljährlich, sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens495. Hingegen sprach es ihn von der weiters wider ihn erhobenen Anklage, er habe in der Zeit nach dem 12. März 1938 in Wien durch seine Tätigkeit als Bundesminister und dann Staatsminister für Land- und Forstwirtschaft im Kabinett Dr. Seyß-Inquart, insbesondere aber durch seine Mitwirkung an der Erlassung und Durchführung des Bundesverfassungsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, BGBl 1938/75, in führender Stellung etwas unternommen, das die Machtergreifung der NSDAP in Österreich förderte, und habe hierdurch das Verbrechen des Hochverrats am österreichischen Volk nach § 8 KVG begangen, frei. Mit Urteil vom 27.April 1951496 hob der Oberste Gerichtshof dieses Urteil des Volksgerichts Wien in seinem Freispruch von der Anklage nach § 8 KVG und im Ausspruch über die Strafe auf und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurück an das Volksgericht. Dr. Otto Tiefenbrunner hatte bereits im Juli 1950 für Ing. Reinthaller ein Gnadengesuch in der Präsidentschaftskanzlei eingebracht.497 Dort wird der Fall als „zwei494 Im Urteilsspruch unrichtig zitiert mit „§ 10/1 VG 1947“ (offensichtlicher Schreibfehler). 495 Gemäß § 389 StPO 1873. 496 OGH 27.04.1951 zu 6 Os 18/51. 497 Was eine – der Bundesverfassung entsprechende – Vermeidung des in § 411 StPO 1873 vorgesehenen Prozedere war, wonach ein Gnadengesuch zunächst beim Strafgericht erster Instanz, jenes eines Häftlings über die Haftanstalt bei diesem Gericht einzubringen war, das dieses zurückweisen konnte oder andernfalls dem Strafgericht zweiter Instanz vorzulegen hatte, das dieses nach Anhörung der Oberstaatsanwaltschaft entweder zurückweisen konnte oder an den Bundesminister für Justiz vorzulegen hatte, oder es an den Obersten Gerichtshof vorzulegen hatte, falls dieser in der Strafsache entschieden hatte, wobei der Oberste Gerichtshof es wiederum zurückweisen konnte, oder ansonsten es befürwortend dem Bundesminister für Justiz zu übermitteln hatte. § 411 StPO 1975 (BGBl 1975/631) war soweit inhaltsgleich mit dieser Bestimmung und wurde vom Verfassungsgerichtshof schließlich insbesondere deshalb als verfassungswidrig aufgehoben, weil dadurch der verfassungs-

Auswirkungen auf das Gnadenverfahren

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fellos wichtig, bedeutsam und geeignet, auch in weiteren Kreisen Aufsehen zu erregen“ eingestuft.498 Ansonsten wird dort konstatiert, dass der betreffende Sachverhalt zu unbekannt sei und dazu derzeit nicht Stellung genommen werden könne. Da eine Begnadigung durch den Bundespräsidenten nur auf Antrag des Bundesministers für Justiz möglich ist499, erfolgt die Weiterleitung des Gnadengesuchs an das Bundesministerium für Justiz. Am 12. Juli 1950 folgt eine Besprechung zwischen Vertretern der Präsidentschaftskanzlei und des Bundesministerium für Justiz.500 Dabei wird übereinstimmend festgestellt, dass es sich bei dem Fall Reinthaller – abgesehen von dem gegen Dr. Guido Schmidt geführten, der mit Freispruch endete –, „um den dritten großen Hochverratsprozess handelt“. Der erste wurde gegen den seinerzeitigen Finanzminister Dr. Neumayer durchgeführt, der zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt, allerdings in der Folgezeit krankheitshalber gesetzliche Grundsatz der Gewaltenteilung verletzt wurde, und die Kompetenz der verfassungsgesetzlichen Gnadeninstanz (siehe FN 499) beschnitten wurde (VfGH 02.12.1992, VfSlg 13.273). Danach wurde das Gnadenverfahren neu geregelt (26. Hauptstück der StPO, BGBl 1993/816). Nunmehr sind Gnadengesuche direkt beim Bundesminister für Justiz einzubringen (§ 508 StPO idF BGBl 1993/816). Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs bestätigt somit nachträglich die von Dr. Tiefenbrunner gewählte Vorgangsweise. 498 Akt der Präsidentschaftskanzlei zu 9528/1950. 499 Art. 65 B-VG in der damals anzuwendenden Fassung StGBl 1945/4: „(1) Der Bundespräsident vertritt die Republik nach außen, empfängt und beglaubigt die Gesandten, genehmigt die Bestellung der fremden Konsuln, bestellt die konsularischen Vertreter der Republik im Ausland und schließt die Staatsverträge ab. (2) Weiter stehen ihm – außer den ihm nach anderen Bestimmungen dieser Verfassung übertragenen Befugnissen – zu: […] c) Für Einzelfälle: Die Begnadigung der von den Gerichten rechtskräftig Verurteilen, die Milderung und Umwandlung der von den Gerichten ausgesprochenen Strafen, die Nachsicht von Rechtsfolgen und die Tilgung von Verurteilungen im Gnadenweg, ferner die Niederschlagung des strafgerichtlichen Verfahrens bei den von Amts wegen zu verfolgenden strafbaren Handlungen; […]“ Art. 67 B-VG in der damals anzuwendenden Fassung StGBl 1945/4: „(1) Alle Akte des Bundespräsidenten erfolgen, soweit nicht verfassungsmäßig anderes bestimmt ist, auf Vorschlag der Bundesregierung oder des von ihr ermächtigten Bundesministers. Inwieweit die Bundesregierung oder der zuständige Bundesminister hiebei selbst an Vorschläge anderer Stellen gebunden ist, bestimmt das Gesetz. (2) Alle Akte des Bundespräsidenten bedürfen, soweit nicht verfassungsgesetzlich anderes bestimmt ist, zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers oder der zuständigen Bundesminister.“ (Art. 65 Abs. 2 lit. c und Art. 67 B-VG sind bis heute unverändert in Geltung). 500 Akt der Präsidentschaftskanzlei zu 9817/1950.

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Andere Hochverratsprozesse

aus dem Gefängnis entlassen wurde. Der zweite derartige Prozess betraf den ehemaligen Justizminister Dr. Hueber und endete mit einer Verurteilung zu 18 Jahren schweren Kerkers. Der dritte Prozess ist nun der gegen Reinthaller.

Die Behördenvertreter machen sich nun Gedanken, welche Wirkung eine Begnadigung Reinthallers in der Öffentlichkeit hätte. Diese Überlegungen sind folgendermaßen dokumentiert: Was würde die Öffentlichkeit nun sagen, wenn nach der so schweren Verurteilung von zwei ehemaligen Regierungsmitgliedern das dritte Regierungsmitglied, dem schließlich das selbe vorgeworfen wird wie seinen beiden Kollegen, durch einen Gnadenakt des Herrn Bundespräsidenten jedem gerichtlichen Zugriff entzogen würde. Nach Ansicht des Justizministeriums ist ein solcher Vorgang ganz unmöglich, und es besteht auch nicht die Absicht, einen Abolitionsantrag [Anm.: einen Antrag auf Niederschlagung des Strafverfahrens] zu stellen. […] Vom Standpunkt der Präsidentschaftskanzlei kann nur gesagt werden, daß eine Einstellung des Strafverfahrens gegen Reinthaller einen Sturm hervorrufen würde, dem kaum standzuhalten wäre. Es haben sich daher auch die Vertreter der Präsidentschaftskanzlei dem Standpunkt des Justizministeriums voll angeschlossen.

Am 17. Juli 1950 bringt Dr. Tiefenbrunner erneut eine Eingabe bei der Präsidentschaftskanzlei ein. Darin verweist er auf Interventionen des Ministers Hurdes, des Staatssekretärs Graf, des Landeshauptmanns Gleißner, des Vizekanzlers Schärf und des Bürgermeisters Dr. Koref, wonach sich diese für eine Einstellung des gegen Ing. Reinthaller anhängigen Strafverfahrens ausgesprochen haben sollen. Nach Kenntnis der Präsidentschaftskanzlei habe eine Intervention des Herrn Kardinal Dr. Innitzer und des früheren Bundesministers Dr. Frenzel stattgefunden. Seitens der Präsidentschaftskanzlei ist man aus den in der Besprechung vom 12. Juli 1950 genannten Gründen nicht gewillt, eine Begnadigung zu befürworten. Dr. Tiefenbrunner wird daher von der Präsidentschaftskanzlei darauf verwiesen, dass eine Begnadigung nur möglich ist über Antrag des Bundesministers für Justiz.501 Am 25. Juli 1950 trifft in der Präsidentschaftskanzlei ein Schreiben des Erzbischöflichen Sekretariats ein502, mit dem im Auftrag seiner Eminenz des Kardinals gebeten wird, „dem Fall das gütige Augenmerk zuwenden zu wollen“. In seinem Antwortschreiben teilt der Kabinettsdirektor der Präsidentschaftskanzlei, Wilhelm Klastersky, dem Büroleiter des Erzbischöflichen Ordinariates, Herrn Kanonikus Dr. Josef 501 Akt der Präsidentschaftskanzlei zu 10.081/1950. 502 Schreiben vom 24. Juli 1950 zu Pr.Z.: 42/50, gezeichnet von Kanonikus Dr. Josef Streidt.

Auswirkungen auf das Gnadenverfahren

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Streidt, vertraulich mit, dass der Fall dadurch besonders kompliziert sei, dass er „nach der Rechts- und Sachlage vollkommen denen der beiden nationalsozialistischen Minister Dr. Neumayer und Dr. Hueber gleichgelagert“ sei.503 Bei einer Einstellung des gegen Reinthaller laufenden Strafverfahrens könne sich eine Diskrepanz ergeben, die „so offensichtlich“ sei, „dass sie keiner weiteren Darlegung bedarf“. Eine abschließende Entscheidung des Bundespräsidenten wird aber offengehalten, wenn er schließlich mitteilt, dass er „im gegenwärtigen Stadium über den weiteren Verlauf der Sache nichts zu sagen vermag“.504 Am 26. Oktober 1950 hat sich die Angelegenheit soweit erledigt, als Ing. Rein­ thaller vom Volksgericht Wien zwar nach § 10 und § 11 VG schuldig gesprochen, aber vom Vorwurf des Hochverrats nach § 8 KVG freigesprochen wird. Wie sich jedoch noch herausstellen soll, hat sich die Sache damit soweit nur vorläufig erledigt. Am 31. Dezember 1950 verstirbt der Amtsinhaber Dr. Karl Renner. Sein Nachfolger im Amt wird am 27. Mai 1951 der General a.D. Dr. h.c. Theodor Körner als erster direkt vom Volk gewählter Bundespräsident. Mit Urteil vom 27. April 1951505 hebt der Oberste Gerichtshof den Freispruch von der Anklage wegen des Hochverrates nach § 8 KVG auf. Infolgedessen sieht das Justizministerium sich dazu veranlasst, am 27. Mai 1951 die folgende Verlautbarung in der Wiener Zeitung vorzunehmen506: FESTSTELLUNG ZUR CAUSA REINTHALLER – Das Justizministerium gibt bekannt: Mehrere Zeitungen haben verlautbart, daß der Staatsanwalt über Weisung des Justizministers die Überprüfung des Urteils Reinthaller beantragt und daß der Oberste Gerichtshof das Urteil aufgehoben hat. Es wird festgestellt, daß der Justizminister keinerlei Weisung an die Staatsanwaltschaft erteilt hat. Die Überprüfung wurde durchgeführt, weil bei gleichem Tatbestand im Jahr 1946 die Minister der Regierung Seyß-Inquart, Dr. Hueber und Dr. Neumayer zu schweren Strafen verurteilt wurden und daher das Urteil Reinthaller die 503 Was nur beim Fall Dr. Neumayer hinsichtlich der Mitwirkung am Anschlussgesetz zutrifft (dazu im Kapitel 6.2.). Der Fall des Dr. Hueber unterscheidet sich wesentlich vom Fall Ing. Reinthaller, wie im Fall Reinthaller vom Volksgericht Wien konstatiert (Volksgericht Wien 26.10.1950 zu Vg 1h Hv 238/50, S. 12), weil Dr. Hueber eine intensive, bereits vor dem 13. März 1938 durchgeführte Vorbereitung und Förderung der NS-Machtergreifung zur Last gelegt wurde, die letztlich wesentlich für dessen Verurteilung nach § 8 KVG gewesen sein dürfte, und weil bei Dr. Hueber eine direkte Mitwirkung an der Beschlussfassung über das Anschlussgesetz als nicht nachweisbar angesehen, aber ihm zum Vorwurf gemacht wurde, dass er billigte, als Mitunterzeichner dieses Gesetzes geführt zu werden (dazu in Kapitel 6.3.2.). 504 Akt der Präsidentschaftskanzlei zu 10.368/1950. 505 Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 27. April 1951 zu 6 Os 18/51. 506 Wiener Zeitung, Ausgabe von Sonntag, dem 27. Mai 1951.

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Andere Hochverratsprozesse

Rechtsgleichheit gefährdet hat [Anm.: Das Urteil gegen Dr. Hueber war aber im Jahr 1948 ergangen]. Da jedoch Dr. Hueber bereits begnadigt wurde und ein Gnadenantrag Dr. Neumayers in Behandlung steht, wird vom Justizministerium geprüft, ob die Angelegenheit Reinthaller nach Beseitigung des Fehlurteiles nicht durch eine Niederschlagung des Verfahrens erledigt werden kann.

Mit Schreiben vom 05. Juni 1951 wendet sich der Abgeordnete des Nationalrats Karl Hartleb507 an den Bundespräsidenten Dr. Körner, wobei er auf das neue, von Dr. Tiefenbrunner zwischenzeitig direkt beim Justizminister eingebrachte Abolitionsgesuch Bezug nimmt, und darum bittet, das ganze gegen Reinthaller geführte Verfahren niederzuschlagen. Er teilt mit, dass Ing. Reinthaller ihm als hochanständiger Mensch bekannt sei und einen solchen Gnadenakt verdiene. Er meint auch, dass „die österreichische Bauernschaft, die in Ing. Reinthaller einen ihrer besten Berufsangehörigen verehrt“, „mit großer Freude die Nachricht vernehmen würde“, dass ein solcher Gnadenakt erfolgt.508 Karl Hartleb ist ein Freund des verstorbenen Schwiegervaters von Anton Reinthaller, Hermann Oehn.509 Am 09. August 1951 stellt der mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz (damaliger Amtsinhaber: Otto Tschadek) betraute Bundesminister für Inneres (damaliger Amtsinhaber: Oskar Helmer) beim Bundespräsidenten den Antrag, das wegen des Vorwurfs des Hochverrates nach § 8 KVG gegen Anton Reinthaller anhängige Strafverfahren niederzuschlagen.510 Zur Begründung führt er den guten Leumund Anton Reinthallers an, „dessen Hilfsbereitschaft auch von absolut unbedenklichen Zeugen wie Landeshauptmann Dr. Gleißner und Sektionschef Dr. Rudolf Saar bestätigt wird“. Dr. Saar war in einem im Jahr 1933 gegen Ing. Reinthaller als Bauleiter der Wildbachverbauung aus politischen Gründen durchgeführten Disziplinarverfahren, mit dem Ing. Reinthaller in den Ruhestand versetzt worden war, als Disziplinaranwalt gegen Ing. Reinthaller tätig gewesen. Als Reinthaller im März 1938 sein Amt als Minister für Land- und Forstwirtschaft antrat, trug er Dr. Saar dessen Tätigkeit als Disziplinaranwalt niemals nach, sondern veranlasste sogar, dass Dr. Saar im Minis-

507 Karl Hartleb (23.10.1886–29.08.1965), Landwirt, Mitglied des Landbunds, Vizekanzler vom 19.05.1927–04.05.1929, Abgeordneter des Nationalrats bis 01.10.1930, in der Nachkriegszeit Mitglied des VdU und Abgeordneter des Nationalrats vom 08.11.1949–08.06.1956, vom 18.03.1953– 08.06.1956 Dritter Präsident des Nationalrats (www.parlament.gv.at – Stand 06.12.2016). 508 Akt der Präsidentschaftskanzlei zu 4945/1951. 509 Schreiben von Ing. Reinthaller vom 05. Juli 1950 an Herrn Karl Hartleb. 510 Antrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres vom 09. August 1951 zu 60.736/51.

Auswirkungen auf das Gnadenverfahren

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terium avancierte.511 Dr. Gleißner hob hervor, dass Reinthaller jedem geholfen hat, so gut er konnte. Reinthaller sei auch als Gegner jeder Gewaltlösung immer bemüht gewesen, eine evolutionäre Lösung der nationalsozialistischen Frage in Österreich zu forcieren. Er habe sich immer vorgestellt, dass Österreich nach dem Machtantritt des Nationalsozialismus seine Selbständigkeit bewahren würde, nachdem er auch eine diesbezügliche Erklärung aus Deutschland, den sogenannten „Hess-Brief“, bekommen hatte.512 Ansonsten wird im Begnadigungsantrag ausgeführt, dass das gegen den Gnadenwerber durchgeführte Verfahren ergeben hat, dass dieser „seine Machtstellung niemals missbraucht und Dritte persönlich nicht nur nicht geschädigt hat, sondern ihnen sogar, selbst wenn sie anders gesinnt waren, nach Kräften beigestanden ist“. Reinthaller sei auch stets bemüht gewesen, eine für das österreichische Volk nach seiner Meinung gesunde Lösung des nationalsozialistischen Problems herbeizuführen. Sein Verhalten stemple ihn somit „zu einem Idealisten, der gleich vielen anderen, von der Idee des Nationalsozialismus gebannt, zu einem Werkzeug der nationalsozialistischen Macht- und Expansionsbestrebungen wurde“. In diesem Zusammenhang wird auf die Ausführungen des Urteils des Obersten Gerichtshofes Bezug genommen, wonach Adolf Hitler selbst ausdrücklich das Anschlussgesetz verlangt hatte, um die Legalität und Verfassungsmäßigkeit der Eingliederung Österreichs vorzutäuschen und dem Ausland zu zeigen, dass es sich dabei keineswegs um eine seit Langem geplante Angriffsmaßnahme des Deutschen Reiches, sondern um eine Maßnahme handelt, die von Österreich selbst initiiert war. Im Begnadigungsantrag wird zwar konform mit dem Obersten Gerichtshof ausgeführt, dass durch die Mitwirkung am Anschlussgesetz die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich gefördert worden sei, indem man die Machtergreifung nach außen hin legalisiert und getarnt habe, um außenpolitische Schwierigkeiten zu beseitigen, dass aber andernfalls auch bei Unterbleiben des Anschlussgesetzes die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich erfolgt wäre, weil sie von Adolf Hitler – wie auch schon in „Mein Kampf“ ausgedrückt – beschlossen war und nicht mehr verhindert hätte werden können, zumal ja auch die Nationalsozialisten im Verein mit den einmarschierten Truppen de facto bereits mit Ablauf des 12. März 1938 die Macht in Österreich in Händen hatten.513 Dem von Dr. Tiefenbrunner gestellten Abolitionsgesuch, womit um Niederschlagung des gesamten Strafverfahrens ersucht wurde, wurde nur zum Teil entsprochen, 511 Abolitionsantrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 4 recto. 512 Abolitionsantrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 4 recto. 513 Abolitionsantrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 4 verso.

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Andere Hochverratsprozesse

in dem namens des Justizministers die Niederschlagung jenes Teils des Strafverfahrens beim Bundespräsidenten beantragt wurde, welcher den Vorwurf des Hochverrats nach § 8 KVG umfasst. Dabei wird formaljuristisch darauf verwiesen, dass der Oberste Gerichtshof nicht auch den Schuldspruch nach § 10 und § 11 VG aufgehoben hatte, sondern nur den Freispruch vom Vorwurf des § 8 KVG und den Strafausspruch, sodass im Umfang des Schuldspruchs das Verfahren abgeschlossen ist und dessen Niederschlagung nicht in Betracht komme.514 Dem ist allerdings zu entgegnen, dass eine Begnadigung durch den Bundespräsidenten nicht nur in der Niederschlagung eines anhängigen Strafverfahrens bestehen kann, sondern auch in der Aufhebung einer bereits verhängten Strafe. Hinsichtlich des im Vergleich zum Gnadengesuch des Dr. Tiefenbrunner eingeschränkten Umfangs des Begnadigungsantrags wird auch angeführt, dass am 26. Oktober 1950 bei der zur Urteilsfindung erfolgten Abstimmung im Volksgerichts-Senat „Die Schöffen einhellig für den Freispruch von der Anklage wegen des Verbrechens des Hochverrats am österreichischen Volk nach § 8 KVG gestimmt haben“.515 Es ergibt sich nunmehr eine geänderte Situation, wenn die Präsidentschaftskanzlei konstatiert, „daß von den verurteilten ehemaligen Ministern in der österreichischen Landesregierung Dr. Hueber bereits die Ausnahmebewilligung erhalten hat, und daß Dr. Neumayer sie wahrscheinlich erhalten wird“. Es bestehe daher „kein Grund, Ing. Reinthaller die erbetene Nachsicht nicht zu gewähren, zumal er einen ausgezeichneten Ruf genießt“. Dementsprechend erfolgt nunmehr mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 11. August 1951 zu 10.060 die Niederschlagung des Strafverfahrens im Umfang des Gnadenantrags, in dem der Bundespräsident damit anordnet, dass das gegen Anton Reinthaller beim Volksgericht Wien zu Vg 1h Vr 2068/49 nach § 8 KVG anhängige Strafverfahren eingestellt wird. Am 28. April 1952 ersuchte Dr. Tiefenbrunner um die Niederschlagung des restlichen, nunmehr beim Volksgericht Linz wegen der Anklage nach § 10 und § 11 VG

514 Abolitionsantrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministern für Inneres vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 4 verso. 515 Abolitionsantrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministern für Inneres vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 5. Diese Bekanntgabe ist insofern bemerkenswert, als Senatsberatungen und Senatsentscheidungen geheim sind und auch damals geheim waren. Daher war über diese Beratungen und Abstimmungen eines Gerichtssenats auch ein abgesondertes Protokoll zu führen (§ 272 StPO 1873), das vom Recht auf Akteneinsicht ausgenommen war (§ 45 Abs. 2 StPO 1873). Nur bei Anwendung des § 13 KVG konnte in Bezug auf die Strafe mittelbar auf ein einstimmiges Abstimmungsergebnis eines Volksgerichtssenats geschlossen werden, weil die Einstimmigkeit des Senats erforderlich dafür war, dass anstelle einer vorgesehenen Todesstrafe eine Kerkerstrafe verhängt wurde.

Zu den Interventionen

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anhängigen Verfahrens516. Er ging auf Nummer sicher, in dem er zwei Begnadigungsgesuche einbrachte, ein Begnadigungsgesuch nach der allgemeinen Begnadigungsbestimmung des Art. 65 B-VG und ein weiteres Begnadigungsgesuch nach § 27 VG.517 Der Bundespräsident gewährte mit Entschließung vom 12. Juni 1953 zu 9167/53 auch die Begnadigung von dieser Bestrafung mit Ausnahme bestimmter Sühnefolgen518, sodass das Verfahren endgültig beendet wurde.

6.5 Zu den Interventionen

Der Großteil der Interventionen für die Begnadigung Anton Reinthallers erfolgte mündlich, zumal viele der Intervenienten dabei nicht offiziell in Erscheinung treten wollten.519 Ausfindig zu machen ist ein Hinweis auf solche Interventionen von mehr als 40 Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik.520 Auf Initiative des Otto Tiefenbrunner erfolgte dabei auch die Mitwirkung des NS-Referats der Landesparteileitung der ÖVP.521 Besonders bemerkenswert erscheint, dass sich auch der damalige Vizekanzler und spätere Bundespräsident Dr. Adolf Schärf für die Begnadigung Reinthallers einsetzte, zumal Dr. Schärf Mitbegründer des Verbotsgesetzes war.522 516 Volksgericht Linz zu Vg 10 Vr 527/52 und Vg 10 Hv 46/52. 517 Gnadengesuche vom 28. April 1952 im Handakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 518 Entschließung des Bundespräsidenten gemäß § 27 VG vom 12. Juni 1953, Note des BKA vom 16. Juni 1953 zu 213.805/2–2N/53, beglaubigte Abschrift des öffentlichen Notars Dr. Conrad Krünes im Handakt Dr. Tiefenbrunner. Ausgenommen waren als Sühnefolgen der Ausschluss von einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis die Sühneabgabe und die damit verbundene Verfügungsbeschränkung über Liegenschaftsvermögen und der Ausschluss von einer journalistischen oder redaktionellen Tätigkeit. 519 Wie von Dr. Tiefenbrunner konstatiert: „Auch weitere Interventionen sind erfolgt; ich möchte nicht weiter darauf eingehen, mit Absicht nicht; es ist vielleicht besser, wenn mancher Name der Öffentlichkeit nicht preisgegeben wird.“ (Schreiben von Dr. Otto Tiefenbrunner an Anton Reinthaller vom 19.06.1953, NL Reinthaller, Faszikel Gericht I). 520 N.N., Postkarte an Anton Reinthaller vom 15.06.1953, NL Reinthaller, OÖ Landesarchiv, Faszikel Gericht I. 521 Abschrift des Schreibens von Dr. Otto Tiefenbrunner vom 20.06.1953 an die Landesparteileitung der ÖVP, NL Reinthaller, OÖ Landesarchiv, Faszikel Gericht I. 522 Dr. Adolf Schärf war Sekretär von Karl Seitz gewesen, Parlamentsbeamter und Sekretär der Nationalratsabgeordneten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) sowie zuletzt von Juni 1933 bis Februar 1934 Mitglied des Bundesrats für die SDAP. Von 1936 bis 1945 war er als Rechtsanwalt tätig. Sowohl während der Zeit des Ständestaats als auch während der NS-Zeit befand er sich vorübergehend aus politischen Gründen in Haft. Er war dann im Jahr 1945 als Staatssekretär der SPÖ Mitglied des Politischen Kabinettsrats der Provisorischen Staatsregierung Karl Renner. Neben dem parteilosen Staatssekretär der Provisorischen Staatsregierung für Justiz Dr. Josef Gerö wirkte er maßgeblich am

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Andere Hochverratsprozesse

Zwischen Schärf und Reinthaller war es im Sommer 1952 zu einem Treffen in Bad Ischl gekommen.523 Reinthaller nahm im Dezember 1952 Schärfs Angebot an, sich mit seiner Strafsache näher zu befassen.524 Auch Dr. Karl Günther empfahl Rein­ thaller, sich an Schärf zu wenden, weil „es dürfte gewiß nur wenige Personen geben, die es überhaupt wagen können, beim jetzigen Bundespräsidenten ein Ansuchen zu befürworten. Zu diesen gehört sicherlich Vizekanzler Dr. Schärf“.525 Dr. Tiefenbrunner stand in diesem Zusammenhang mit Schärf in Kontakt und hielt mit ihm Rücksprache.526 Schärf wirkte daraufhin aktiv für Reinthaller, stand ihm auch beratend zur Seite und hielt ihn über die Vorgänge auf dem Laufenden.527 Dass Adolf Schärf bei Bundespräsident Theodor Körner für eine Begnadigung Anton Reinthallers eintrat, war wohl die wichtigste Intervention, wie Dr. Tiefenbrunner konstatierte: „Vizekanzler Dr. Schärf traf ich nachher; ich weiß – der Wahrheit wegen muß es gesagt werden – daß von hier aus vielleicht der wirksamste Vorstoß vorgenommen wurde, schon wegen der gleich ausgerichteten Farbe und Weltanschauung.“528 Entstehen und am Vollzug des Verbotsgesetzes mit (vgl. Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/ Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1– „… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, Wien 1995, mit den Vorträgen von Dr. Schärf in der 4. Sitzung des Kabinettsrats vom 08.04.1945 (139) und der 11. Sitzung vom 04.06.1945 (182); zu seiner Darstellung der Entstehung der Nationalsozialistengesetzgebung siehe Dr. Adolf Schärf, Zwischen Demokratie und Volksdemokratie, Wien 1950, 98ff). Dem Vorhaben des Kriegsverbrechergesetzes stand er skeptisch gegenüber: „In dem Kriegsverbrechergesetz, wie es uns vorgelegt wurde, ist meiner Meinung nach die Optik eine politisch verfehlte. Ich sage mir: einen Naziverbrecher hänge ich lieber auf als Mörder, Brandstifter u. dgl., als daß ich einfach sage: Du wirst aufgehängt, weil Du ein Nazi warst. Da stehe ich vor der Welt ganz anders da, als wenn ich immerhin dehnbare Tatbestände, die eventuell auch anders ausgelegt werden können, zu seiner Verurteilung heranziehe. Mörder, Diebe und Brandstifter sind bereits nach dem Verbotsgesetz faßbar, sind dem Volksgericht zu überstellen und diese Prozesse können bereits nächste Woche beginnen.“ (Enderle-Burcel/Rudolf Jeřábek/ Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945, Band 1 – „… im eigenen Haus Ordnung schaffen“, Wien 1995, 211). 523 Dazu bereits Lothar Höbelt, Von der vierten Partei zur dritten Kraft – Die Geschichte des VdU, Graz 1999, 206. 524 Abschrift des Schreibens von Anton Reinthaller vom 17.12.1952 im NL Reinthaller, Faszikel Gericht I, OÖ Landesarchiv. 525 Schreiben von Dr. Günther an Reinthaller vom 05.06.1953 im NL Reinthaller, Faszikel Gericht II, OÖ Landesarchiv. 526 Vgl. Schreiben von Dr. Otto Tiefenbrunner an Dr. Adolf Schärf vom 06.06.1953 (Abschrift im NL Reinthaller, OÖ Landesarchiv, Faszikel Gericht I). 527 Schreiben von Dr. Adolf Schärf an Anton Reinthaller vom 19.12.1952 und vom 15.01.1953 über seine Interventionen beim Justizminister, und vom 25.02. und 08.06.1953 zum Gnadengesuch nach § 27 VG. 528 Schreiben von Dr. Otto Tiefenbrunner an Anton Reinthaller vom 19.06.1953, NL Reinthaller, Faszikel Gericht I.

Zu den Interventionen

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Dieses Vorgehen von Dr. Schärf entsprach erkennbar dessen Ausführungen, dass „die Zukunft verlieren wird, wer die Vergangenheit nicht zu vergessen weiß“, wobei „vergessen“ nicht „verdrängen“ oder „aus dem Gedächtnis streichen“ bedeutete.529 Man respektierte den Gegner von gestern, solange er seine Stellung nicht persönlich missbraucht hatte, und erkannte an, dass andere Umstände und andere Zeiten auch andere Methoden und Strategien erforderten, womit sich jeder zur Demokratie und zur neuen bestehenden Ordnung bekennen konnte, ohne sich deshalb in Selbstgeißelungen zu ergehen, warum ihm das nicht schon früher eingefallen war.530

529 Lothar Höbelt, Von der vierten Partei zur dritten Kraft – Die Geschichte des VdU, Graz 1999, 252. 530 Lothar Höbelt, aaO, wobei Höbelt meint, dass diese Sicht unmittelbar nach 1945 inopportun war, „solange man vor den Besatzungsmächten Theater spielen mußte“.

7. Die Prozessberichterstattung

7.1 Presseberichte als Quelle

Auch nach der damals geltenden Rechtslage waren Strafverhandlungen öffentlich.531 Nach diesem Prinzip der Volksöffentlichkeit darf jede Person eine Strafverhandlung beobachten. Durch das Erfordernis der Öffentlichkeit des Verfahrens wird die Rechtspflege der Überwachung durch die Allgemeinheit unterzogen, und es wird das Vertrauen in die Gerichte gehoben.532 Dieses Prinzip richtet sich historisch gegen eine geheime Kabinettsjustiz. Zudem ist Justiz eine öffentliche Aufgabe, sodass es der Allgemeinheit möglich sein soll, sich über die Tätigkeit der Judikative unmittelbar aus eigener Wahrnehmung zu informieren (Justice has not just to be done, it has also seen to be done). Ausnahmen von diesem Öffentlichkeitsgrundsatz bestehen nur bei besonderen Gründen, aus denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden darf. Eine solche Ausnahme besteht beispielsweise nach dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens533, wenn diesem Privatbereich eines Angeklagten oder eines Zeugen zuzuordnende Themen Gegenstand der mündlichen Verhandlung sind, oder aus berechtigten Geheimhaltungsinteressen, wenn etwa bestimmte Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse Gegenstand der Verhandlung sind, oder zum Schutz potentieller Zuhörer, wenn etwa in der Verhandlung Themen erörtert werden, wodurch eine sittliche Gefährdung jugendlicher Zuhörer besteht.534 Der Öffentlichkeitsgrundsatz wird in größerem Umfang mittelbar verwirklicht, indem Gerichtssaalreporter eine Verhandlung beobachten und dann in Massenmedien darüber berichten. Einer solchen Wahrnehmung durch Medienkonsumenten ist die Gefahr von Verfälschungen immanent, weil dabei die Inhalte einer Strafverhandlung von einer diese selbst wahrnehmenden Person (dem Reporter oder der Reporterin) verbalisiert und kommuniziert werden. Der bei einem solchen Kommunikationsvorgang mit Transferierung von Inhalten bewirkte Eindruck entspricht schon an sich naturgemäß oder notwendigerweise nicht mehr dem Eindruck, wie er bei unmittelbarer Wahrnehmung eines Adressaten oder einer Adressatin bestünde. Dazu kommen als weitere, potentiell verfälschende Faktoren eine notwendige Begrenzung des Um531 Art. 90 Abs. 1 B-VG; § 228 StPO 1873 und § 228 StPO idgF. 532 EGMR 14.11.2000, Bsw 35115/97. 533 Art. 8 MRK. 534 § 229 StPO idgF; eingeschränkter noch § 229 StPO 1873.

Presseberichte als Quelle

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fangs der Berichterstattung, sodass die Notwendigkeit einer gekürzten Darstellung des Inhalts einer Verhandlung besteht, wodurch eine irreführende Unvollständigkeit der Berichterstattung bestehen kann, und die Möglichkeit von sprachlichen Unzulänglichkeiten, sodass undeutliche oder missverständliche Formulierungen verwendet werden und eine Fehldarstellung des Inhalts erfolgt. Zu berücksichtigen sind auch subjektive Präferenzen des Beobachters, wodurch es bei der Berichterstattung – bewusst oder unbewusst – zu einer einseitigen, nicht repräsentativen Selektion von einzelnen objektiven Inhalten eines Verhandlungstermins kommen kann oder überhaupt zu einer subjektiv, von persönlichen Meinungen geprägten Berichterstattung. Soweit besteht durch diese systemischen Faktoren bei der Prozessberichterstattung kein Unterschied zu einer sonstigen mittelbaren Geschichtsquelle. Objektiv zu berücksichtigen ist der Umstand, dass die Öffentlichkeit und damit Zuhörer von Verhandlungen oft nicht die gesamte Beweisaufnahme wahrnehmen, insbesondere keine Einblicke in die in einem Gerichtsakt erliegenden Urkunden haben. Diese sind zwar in der Verhandlung zu verlesen, um als Beweismittel berücksichtigt zu werden535, aber diese Verlesung erfolgte und erfolgt oft nicht wörtlich, sondern nur unter Nennung des Dokuments, allenfalls mit zusammenfassenden Bemerkungen, das Dokument gilt dann als verlesen. Der genaue Inhalt eines solchermaßen in die Verhandlung einbezogenen Schriftstücks ist damit für die Zuhörer nicht wahrnehmbar. Im vorliegenden Fall betrifft das insbesondere die von der Verteidigung vorgelegten Eidesstattlichen Erklärungen zum Charakter Reinthallers und die Protokolle der im Stadium des Vorverfahrens durchgeführten Zeugenvernehmungen. Im Vergleich zu Quellen wie Gerichtsakten ist ansonsten festzustellen, dass Prozessberichterstatter zumeist keine Juristen sind und daher oft Vorgänge und Ergebnisse von Strafverhandlungen nicht fachgerecht beurteilen können. Außerdem sind Prozessberichterstatter oftmals nicht objektiv und neutral, sondern voreingenommen, sodass sie unbewusst einseitig berichten, oder sie berichten oft bewusst aus einer bestimmten – insbesondere politischen – Überzeugung heraus einseitig536.537 535 § 252 StPO idgF und bereits § 252 StPO 1873. 536 Vgl. die Differenzierung im Medienwesen zwischen Kommentar und Glosse einerseits und Berichterstattung andererseits, sowie zwischen Meinungsblatt und Informationsblatt, also zwischen tendenziöser Darstellung und Meinungsmache einerseits, und objektiver, faktenbasierter Berichterstattung andererseits. 537 Hellmut Butterweck, Der Gerichtssaalbericht als den Akt ergänzende Primärquelle, in: Kuretsidis-Haider/Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 317, führt als problematischen Faktor auch den Umstand an, dass die Pluralität der Berichterstattung im Einzelfall dadurch beeinträchtigt war, dass wegen der in der Nachkriegszeit bestehenden Personalknappheit viele Verhandlungen nur von einem Journalisten besucht wurden, der seinen Bericht an verschiedene Zeitungen weitergab. Das kann aufgrund des bei einem

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Die Prozessberichterstattung

Gerade bei Themen mit politischem Bezug besteht oftmals eine tendenziöse Berichterstattung (Beispiele dafür werden in der nachfolgend wiedergegebenen Prozessberichterstattung vom Autor mit Kursivdruck hervorgehoben). Demnach kann gerade nicht davon gesprochen werden, dass Zeitungen die wichtigste Primärquelle zur Rezeptionsgeschichte der NS-Prozesse seien538. Dokumentationen wie in Rechtsanwaltshandakten oder im Besonderen in Gerichtsakten sind daher im Regelfall die höherwertigeren und professionelleren Quellen. Denn die Aufarbeitung eines strafrechtlichen Vorwurfs erfolgt durch die Anwendung der Verfahrensvorschriften der Strafprozessordnung üblicherweise systematisch und geordnet, die fachkundigen Akteure eines Prozesses konzentrieren sich im Regelfall auf die rechtlich relevanten Umstände, sodass von vornherein ein Fokus auf die relevanten Themenstellungen besteht. Gerade bei der Aufarbeitung von forensischen Vorgängen ist daher der betreffende Gerichtsakt oder ein zu dem betreffenden Verfahren geführter Rechtsanwaltshandakt, der im Regelfall Kopien der wesentlichen Aktenstücke des Gerichtsakts enthält, die prioritäre Quelle. Beim Gerichtsakt kommt hinsichtlich der Vollständigkeit dazu, dass dieser nach bestimmten Vorschriften zu führen ist und üblicherweise auch geführt wird.539 Was die Objektivität betrifft, so hat nach der Idealvorstellung die Judikative unabhängig, objektiv und neutral alleine der Vollziehung der Rechtsvorschriften verpflichtet zu agieren. Wenngleich vom Realzustand her die gerichtliche TäHochverratsprozess wie dem gegenständlichen in größerem Ausmaß bestehenden, gesteigerten öffentlichen Interesses ausgeschlossen werden. Die Analyse der in verschiedenen Zeitungen über die Verhandlungstermine des gegenständlichen Prozesses erfolgten Berichterstattung ergibt, dass von Art und Inhalt her sehr unterschiedlich berichtet wurde. 538 So aber Hellmut Butterweck, Verurteilt & Begnadigt – Österreich und seine NS-Straftäter, Wien 2003, 13. Demgegenüber abgeschwächt Hellmut Butterweck, Der Gerichtssaalbericht als den Akt ergänzende Primärquelle, in: Kuretsidis-Haider/Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 314, 316, worin dieser Autor die zeitgenössischen Presseberichte als ergänzende Primärquelle zu den Prozessakten der österreichischen Volksgerichte einstuft, wobei er aber auch hier betont, dass seiner Ansicht nach der Prozessberichterstattung wegen der darin erfolgenden kritischen Rezeption der Volksgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang der Status einer Primärquelle zur Zeitgeschichte zugebilligt werden müsse. 539 Kritisch und das bezweifelnd Hellmut Butterweck, Der Gerichtssaalbericht als den Akt ergänzende Primärquelle, in: Kuretsidis-Haider/Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 314f, zu seines Erachtens gegebenen, die Qualität der Protokollierung negativ beeinflussenden Faktoren. Jedenfalls kann entgegen Hellmut Butterweck, Verurteilt & Begnadigt – Österreich und seine NS-Straftäter, 14, auch die „im kontinentaleuropäischen Strafprozess übliche Protokollführung“ nicht bewirken, dass ein Gerichtsakt gegenüber einem Zeitungsbericht die weniger verlässliche Quelle sei. Es mag sein, dass im angloamerikanischen Raum ein Simultanprotokoll geführt wird, womit der gesamte Inhalt einer Verhandlung dokumentiert wird, aber die kontinentaleuropäische Protokollführung ist jedenfalls auf die Erfassung des Wesentlichen ausgerichtet.

Zum öffentlichen Interesse

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tigkeit nicht immer den Anforderungen dieses Ideals entspricht, so ist bei der Judikative dennoch im Regelfall in weitaus größerem Ausmaß die Objektivität gewährleistet. Die maßgebliche Quelle für Gerichtsverfahren sind also Gerichtsakte und Rechtsanwaltshandakte. Die Prozessberichterstattung kann demgegenüber nur eine komplementäre Quelle sein.540

7.2 Zum öffentlichen Interesse

Das Problem der Hochverratsprozesse bestand darin, dass sie politische Prozesse waren, die auf strafrechtlicher Grundlage abgehandelt wurden; es sollten juristische Urteile über politische Haltungen und Handlungsweisen gefällt werden.541 Sie waren aber keine Schauprozesse, die, wie diesem Begriff immanent ist, von vornherein den Zweck haben, der Öffentlichkeit die Schuld des Angeklagten zu demonstrieren, sondern rechtsstaatliche Strafverfahren. Zwei politische Prinzipien lagen hier im Widerstreit, das der Vergeltung und das des Wiederaufbaus, worin auch der Widerspruch der politischen Prozesse lag, die Verurteilungen wie Freisprüche als unbefriedigend erscheinen ließen.542 Die hauptsächliche Tätigkeit der Volksgerichte lag in der Behandlung und Beurteilung von leitenden NS-Funktionären und von eigentlichen Kriegsverbrechern. Die Hochverratsprozesse waren auffällig, machten aber nur einen kleinen Teil der Volksgerichtsprozesse aus.543

7.3 Erster Verhandlungstag Montag, 23. Oktober 1950

In der Tageszeitung „Die Presse“ wird am Folgetag unter der Schlagzeile „HABICHTS GEGENSPIELER VOR DEM VOLKSGERICHT – Beginn des Prozesses gegen Seyß-Inquarts ,Ackerbauminister‘ Ingenieur Reinthaller“ durchaus korrekt über den ersten Verhandlungstag berichtet:544 540 So führt letztlich auch Butterweck aus, dass selbst die ausführlichsten Gerichtssaalberichte die Akteneinsicht [in einen Volksgerichtsakt] nicht ersetzen können (Hellmut Butterweck, Der Gerichtssaalbericht als den Akt ergänzende Primärquelle, in: Kuretsidis-Haider/Garscha (Hrsg.), Keine Abrechnung – NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Wien 1998, 317). 541 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981, 253. 542 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981, 254. 543 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981, 254. 544 Tageszeitung „Die Presse“, Ausgabe vom 24.10.1950, S. 2.

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Die Prozessberichterstattung

Die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich und der Anschlußtage bildet, wie schon bei früheren Anläßen, den Gegenstand eines Volksgerichtsprozeßes im Grauen Haus. Angeklagt ist der Land- und Forstwirtschaftsminister im „Anschlußkabinett“ Seyß-Inquarts Ing. Anton Reinthaller, Angehöriger der NSDAP seit 1928, „Alter Kämpfer“ und Brigadeführer der SS, Kreispropagandaleiter und Gauredner für Agrarpolitik in der Verbotszeit und Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP, des Hochverrates (§§ 10 u. 11 VG) und des Hochverrates am österreichischen Volk, weil er „in führender Stellung etwas unternommen habe, was die Machtergreifung der NSDAP in Österreich förderte“, und „an der Erlassung und Durchführung des Bundesgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche mitwirkte. Der Prozeß – Vorsitzender OLGR Dr. Apeltauer, Anklagevertreter Staatsanwalt Doktor Eichler – begann gestern mit mehr als zwei Stunden Verspätung, weil der Verteidiger Dr. Tiefenbrunner noch Samstag Früh einen Antrag auf Delegierung eines Gerichtes in Innsbruck oder Graz gestellt hatte [Anm.: Gemeint ist der Antrag, das Verfahren an ein anderes Gericht in Innsbruck oder Graz (also an das Volksgericht Innsbruck oder an das Volksgericht Graz) zu delegieren, also zu übertragen]. Nachdem eine Ablehnung des Antrags „mangels wichtiger Gründe“ vom Obersten Gerichtshof eingetroffen war, begann die Verhandlung um 11:22 Uhr. Die Verteidigung erklärte, die Beiziehung zweier weiterer Anwälte (Dr. Haider und Dr. Günther) geschehe aus Gründen der Arbeitsteilung, die Verteidiger wollten daran nicht verdienen, sondern für Freiheit und Recht kämpfen. Nach einer eineinhalbstündigen Auseinandersetzung zwischen dem Staatsanwalt und Dr. Günther, der das Volksgericht als unzuständig erklärte, und eine Verhandlung gegen den ehemaligen Minister vor dem Verfassungsgerichtshof, außerdem eine Überprüfung des Verbotsgesetzes und des Vermögensverfallsgesetzes auf ihre Verfassungsmäßigkeit beantragte, zog sich das Gericht zur Beratung zurück und kam mit einer ablehnenden Antwort wieder in den Saal. Wie sich Reinthaller verantwortet – Die ganze übrige Zeit sprach der Angeklagte, ein aufrechter, durch langjährige Haft hager gewordener Mann in hellem Ausseeranzug und mit weißem Knebelbart, nicht unähnlich Bürgermeister Dr. Körner. Er machte kein Hehl aus seiner seit jeher nationalen und sozialistischen Einstellung und versuchte in einer gründlichen Darstellung seines persönlichen Werdegangs und der „Befriedungsaktion Reinthaller“ zwischen „nationaler Opposition“ und der „Systemregierung“ zu begründen, weshalb er sich „in keiner Weise als schuldig“ fühlt.

Es folgt der Bericht über die Aussage des Angeklagten zu seinem Lebenslauf und seiner politischen Tätigkeit. Schließlich gelangt man nochmals zur Tätigkeit des Angeklagten im Jahr 1934 und zu dem Anschlussgesetz des Jahres 1938: Ingenieur Reinthaller sprach sodann über die Befriedungsaktion, die ihm vom damaligen Bundesminister Stockinger im Auftrage des Bundekanzlers Dollfuß übertragen wurde. Sto-

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ckinger verlangte die Approbation Hitlers, was für Reinthaller nicht einfach zu bekommen war, da er Hitler persönlich gar nicht kannte. Als er zu diesem Zweck am 25. Juli 1934 westwärts fuhr, hörte er in Attnang von der Ermordung Dollfuß´. „Ich habe mir den Anschluß anders vorgestellt“ – Der neue Kanzler Dr. Schuschnigg – Reinthaller war nicht zu Hitler gefahren – ersuchte ihn im August 1934, ein Etappenprogramm für die Befriedung auszuarbeiten. Schuschnigg drückte seine Absicht klar aus, zum demokratischen Kurs zurückzukehren, und ermächtigte Ing. Reinthaller zur Schaffung einer Organisation in Oberösterreich. Seine Aktion habe wesentlich zur Verhinderung eines Bürgerkrieges beigetragen. Schließlich sprach der Angeklagte noch über die Anschlußtage und seine Rolle im Seyß-Inquart – Kabinett. Er und mit ihm die nationale Opposition sei über die Behandlung Schuschniggs in Berchtesgaden empört gewesen. Als Reinthaller von Seyß-Inquart aufgefordert wurde, dem „Anschlußkabinett“ beizutreten, sah er sich einer völlig verfahrenen Situation gegenüber. Um nicht den Radikalen das Feld zu überlassen, habe er zugestimmt, das Landwirtschaftsressort zu übernehmen. „Ich und viele andere, die damals in der Regierung standen, hatten sich den Anschluß einmal ganz anders vorgestellt“. Die Verhandlung wurde wegen starker Erschöpfung des Angeklagten vorzeitig abgebrochen und wird heute Vormittag fortgesetzt.

Etwas ausführlicher und mit anderer Schwerpunktsetzung, respektive Gewichtung wird in der Tageszeitung „Neues Österreich“ am Folgetag unter der Schlagzeile „ANSCHLUSSMINISTER REINTHALLER: HOCHVERRAT VERFASSUNGSMÄSSIG – Der Minister im Kabinett Seyß-Inquart vor dem Volksgericht – ,ausländische Gutachten‘ über die Liquidierung der ersten Republik“ berichtet:545 Das Wiener Volksgericht rollte gestern, im 13. Jahr nach dem Beginn und im 6. Jahr nach der Liquidierung der deutschen Gewaltherrschaft in Österreich, die von der demokratischen Justiz schon so oft und so ausführlich behandelte Geschichte der ersten Republik erneut auf. Anlaß bot diesmal der heute 55jährige Ing. Anton Reinthaller, ursprünglich Ingenieur für Wildbachverbauung im österreichischen Landwirtschaftsministerium, später selbst Landwirtschaftsminister im Anschlußkabinett Seyß-Inquart und nachher Unterstaatssekretär im deutschen Reichsernährungsministerium. Der Hochverratsprozeß gegen den Anschlußminister Reinthaller, schon seit Jahren überfällig, wäre gestern im letzten Augenblick beinahe erneut verschoben worden. Der Angeklagte hatte eine Delegierung seines Verfahrens an ein anderes Gericht in Linz, Salzburg oder Innsbruck beantragt und der ab545 Tageszeitung „Neues Österreich“, Ausgabe vom 24.10.1950, S. 3f. Die Tageszeitung „Neues Österreich“ war von den Nachkriegs-Gründerparteien Österreichs (SPÖ, ÖVP und KPÖ) als „Organ der demokratischen Einigung“ geschaffen worden. Sie wurde am 28. Jänner 1967 eingestellt.

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Die Prozessberichterstattung

schlägige Bescheid des Obersten Gerichtshofes traf im Laufe des Vormittags ein. So konnte mit der Verhandlung erst in den Mittagsstunden begonnen werden. „Nur der Weg, nicht das Ziel“ – Die Anklageschrift gegen Reinthaller schildert noch einmal die letzten 10 Jahre der ersten Republik im Spiegel des persönlichen Schicksals ihres letzten Landwirtschaftsministers. Reinthaller, seit 1928 Parteimitglied, war bereits Ende 1933, wenige Monate nach dem Parteiverbot, einer der führenden Männer bei den sogenannten „Befriedungsaktionen“. Die „Aktion Reinthaller“, die in einem Artikel der „Tagespost“ am 24. Oktober 1934 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat, sah einen Einbau der Nationalsozialisten als geschlossene Gruppe samt ihren Wehrverbänden in die „nationale Aktion“ der vaterländischen Front vor. Auch in den Gemeindeverwaltungen, in den Landesregierungen und selbst in der Bundesregierung sollten Nationalsozialisten Aufnahme finden. Reinthaller verhandelte gemeinsam mit Franz Langoth, Edmund Glaise-Horstenau und General Bardolff, den drei betontest „Betont - Nationalen“, monatelang mit Schuschnigg, ohne dass es tatsächlich zu einer Befriedung gekommen wäre. Als später Seyß-Inquart die Führung der „Gemäßigten“ übernahm, trat Reinthaller wohl in den Hintergrund, blieb jedoch weiterhin mit den führenden Illegalen in Verbindung. Die Anklageschrift vermerkt ausdrücklich, daß sich Reinthaller und sein Kreis von den Radikalen um Leopold von Tavs „nur durch den Weg, nicht aber durch das Ziel“ unterschieden habe. Nachdem die Besprechung in Berchtesgaden, die angekündigte und dann wieder abgesagte Volksabstimmung und schließlich das deutsche Ultimatum zum Sturz der Regierung Schuschnigg geführt hatten, berief Seyß-Inquart den damaligen Landwirt Reinthaller, der sich bereits seit 9. März 1938 in Wien aufhielt, in den Abendstunden des 11. März als Landwirtschaftsminister in das neue nationalsozialistische Kabinett. Als Mitglied dieses Kabinetts unterzeichnete Reinthaller am 13. März das Anschlussgesetz. Die Anklageschrift nimmt zu der gerade in der letzten Zeit wiederholt aufgeworfenen Frage über die „Zulässigkeit des Anschlusshandels“ ausführlich Stellung. Es heißt dort unter anderem: „Reinthaller verantwortet sich dahin, dass zur Zeit seiner Tätigkeit in der Regierung Seyß-Inquart, insbesondere zur Zeit der Beschlußfassung über das „Anschlußgesetz“, die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zu Gunsten der NSDAP und die Machtergreifung der NSDAP bereits erfolgt gewesen sei, zwischen seinem Verhalten und dieser Machtergreifung kein von ihm zu verantwortender Kausalzusammenhang bestehe, und das Anschlußgesetz auf Befehl Hitlers, dem Widerstand zu leisten mit Lebensgefahr verbunden gewesen wäre, beschlossen worden sei. „Diese Verantwortung ist abwegig“, erklärt die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift. „Es ist auch abwegig, wenn Ing. Rein­ thaller unter Heranziehung ausländischer Sachverständigengutachten „Erörterungen darüber anstellt, ob zur kritischen Zeit der Österreichische Bundesstaat noch existent war, die Staatsautorität noch in Erscheinung treten konnte oder das Territorium des Staates schon

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von einer fremden Macht besetzt war. Das geschützte Deliktsobjekt ist nicht der österreichische Staat, sondern wie schon aus der Überschrift dieser Gesetzesstelle [Anm.: § 8 KVG] hervorgeht, das österreichische Volk. Dieses österreichische Volk war am 12. und 13. März 1938 genauso vorhanden wie in der Folgezeit, und es war vorhanden, gleichgültig wann und wer die Regierungsgewalt übernommen und sein Land besetzt hatte. Und dieses österreichische Volk ist durch das hochverräterische Unternehmen der Regierung Seyß-Inquart, der Ing. Reinthaller angehörte, dadurch verraten worden, daß Reinthaller und seine Ministerkollegen die Machtergreifung der NSDAP förderten.“ Die Verhandlung begann damit, daß einer der Verteidiger des Angeklagten – Ing. Rein­ thaller hatte für den Prozeß nicht weniger als drei Anwälte und drei Parlamentsstenographen aufgeboten – nach ihrer Verlesung die Rechtsgrundlagen der Anklageschrift bestritt. Als österreichischer Minister, argumentierte Dr. Günther, könne Reinthaller nur vom Verfassungsgerichtshof zur Verantwortung gezogen werden. Die Verfassung von 1934, auf die er als Minister vereidigt worden sei, enthalte jedoch gar keine Verpflichtung zur Wahrung der Selbständigkeit Österreichs. Das Kabinett Seyß-Inquart sei seiner Ansicht nach – meinte Dr. Günther – ebenso berechtigt gewesen, eine Änderung der Staatsform herbeizuführen, wie dies 1934 durch die Errichtung des Ständestaates bereits geschehen sei. Es hätte beispielsweise nur eines einfachen Ministerratsbeschlusses bedurft und der Ständestaat Österreich wäre vollkommen verfassungsgemäß eine Monarchie geworden. Kriegsverbrechergesetz – verfassungswidrig? Zum Schluß behauptete Dr. Günther, das Kriegsverbrechergesetz sei in seiner Gesamtheit verfassungswidrig. Der Gerichtshof, der über Reinthaller zu urteilen habe, möge dem Obersten Gerichtshof die Frage vorlegen, ob die Nationalsozialistengesetze mit der Verfassung im Einklang stünden. Staatsanwalt Dr. Eichler plädierte für Ablehnung der Anträge. Wenn das Kriegsverbrechergesetz verfassungswidrig wäre, hätte der Oberste Gerichtshof in den letzten fünf Jahren oft genug Gelegenheit gehabt, es aufzuheben. Er habe es nicht getan und damit eindeutig entschieden. Ob eine Änderung der Staatsform nach der ständischen Verfassung von 1934 zulässig gewesen sei, müsse jedoch erst durch das Beweisverfahren erörtert werden. Das Gericht schloß sich nach längerer Beratung der Ansicht des Staatsanwaltes an und lehnte die Anträge der Verteidigung ab. Gegen 2 Uhr nachmittags konnte die Verhandlung endlich richtiggehend einsetzen.

Der Bericht wird fortgesetzt mit einer Zusammenfassung der Aussage des Reinthaller. Dabei erfolgen durchaus bemerkenswerte Anmerkungen zu dessen Person und dessen Angaben:

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Die Prozessberichterstattung

Kein Illegaler – der angeklagte Reinthaller – aus der Zeit seines Glanzes von zahllosen Reklamephotos als nordisch-markige Bauerngestalt, Motto „Blut und Boden“ bekannt – präsentierte sich dem Volksgericht in der Kaiser-Franz-Joseph-Maske. Ein wenig gebückt, mit weißem Backenbart und grauem Ausseeranzug, bat er das Gericht im Hinblick auf ein Magenleiden von Zeit zu Zeit um eine kurze Pause, um aus der mitgebrachten Thermosflasche einen Mokka trinken zu dürfen. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er sich schuldig bekenne, erklärte Reinthaller dezitiert: „Nein!“ Er begleitete diese Erklärung mit der überraschenden Behauptung, dass er nicht einmal illegal gewesen sei. Er habe während der Verbotszeit weder Beiträge gezahlt noch Funktionen bekleidet. Als der Vorsitzende auf einen vom Angeklagten selbst ausgefüllten Fragebogen des Reichsnährstandes hinwies, indem Reinthaller seine Verdienste für die Bewegung hervorhob, erklärte der Angeklagte, dieser Fragebogen sei auf die 1938 „übliche“ Weise zu Stande gekommen. […] Die innere Entwicklung Österreichs in den Dreißigerjahren bezeichnete Reinthaller anschließend als eine „Politik der Nadelstiche“. Man habe die Opposition, die 70 Prozent der Bevölkerung ausmachte, auf die Barrikaden gezwungen, um sie dann „niederzukartätschen“. Man habe geglaubt, die Partei durch einen Federstrich auslöschen zu können, und nicht wahrhaben wollen, daß die Vaterländische Front zwar sehr viele Mitglieder, aber nur wenig Anhänger besaß. Den Juliputsch bezeichnete Reinthaller als die „Angelegenheit einiger Desperados“ deren genauen Zusammenhänge er heute ebensowenig wie nach 1938 zu nennen wisse. Der „Weisheit letzter Schluß“ der Regierung sei jedenfalls auch nur der Galgen gewesen.

Der Bericht schließt mit den Ausführungen des Angeklagten zum Anschlussgesetz: Der Geschichte der Anschlußtage wußte Reinthaller gestern wenig Neues hinzuzufügen. Er brachte vor, was vor ihm schon so viele Angeklagte vorgebracht hatten. Desperados und Radikalinskis hätten nur auf den Moment zum Losschlagen gewartet. Der Bürgerkrieg sei vor der Türe gestanden und lediglich das Kabinett Seyß-Inquart als eine Regierung von „gemäßigten“ Nationalsozialisten in der Lage gewesen, ein fürchterliches Blutvergießen zu verhindern. „Wir wollten retten, was noch zu retten war.“ Reinthaller selbst habe den Ministerposten angenommen, weil er aus der völlig verfahrenen Situation keinen anderen Ausweg sah. Das Anschlußgesetz habe man auf Befehl Hitlers sofort beschließen müssen. Hätte das Kabinett Seyß-Inquart die Zustimmung verweigert, so wäre es „von einem Sturm der Volkswut bei Seite gefegt worden“. Die Radikalen hätten dann die Oberhand gewonnen und die Weigerung wäre dem unbotmäßigen Minister persönlich teuer zu stehen gekommen. Den Einmarsch der Deutschen habe er ebenso wie Seyß-Inquart für eine Beleidigung des österreichischen Volkes angesehen. Das Anschlußkabinett selbst habe diesen Einmarsch weder veranlaßt noch gewünscht. Ihn zu verhindern sei in Österreich jedoch niemand im Stande gewesen.

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In der Wiener Zeitung wird unter der Schlagzeile „DER VOLKSGERICHTSPROZESS REINTHALLER – Hochverrat am österreichischen Volk – die Verteidigung verlangt zuerst ein anderes Volksgericht, bestreitet dann die Zuständigkeit überhaupt“ so wie in der Zeitung „Neues Österreich“ besonders ausführlich über die Anklageschrift berichtet.546 Besonderes Augenmerk wird auf die Angaben des Angeklagten zu dessen Vermögensverhältnissen und dessen Haftzeiten gerichtet: Bei der Abgabe der Personalien erklärte der Angeklagte, er sei vom Beruf Landwirt, besitze zwei Bauernhöfe im Ausmaß von 126 Hektar. Über sein Vermögen könne er nichts sagen, das sei Sache des zuständigen Finanzamtes. Bisher ist er gerichtlich nicht vorbestraft, war aber, wie er sich ausdrückte, „als politischer Geisel“ eingesperrt. Er wurde am 25. Juni 1945 verhaftet, war bis 8. Oktober 1946 im Anhaltelager Glasenbach, später in Nürnberg, wurde auf Intervention amerikanischer Behörden am 17.11.1948 auf freien Fuß gesetzt. Am 1. Juli 1949 im Auftrag des CIC wieder eingezogen, nach Traunstein gebracht und von dort Ende Juli 1949 dem Wiener Landesgericht überstellt.

Die in der Ausgabe der Zeitung „Die Presse“ zutreffend wiedergegebene Erklärung der Verteidiger, dass sie an dem Verfahren nicht verdienen wollen, sondern für Freiheit und Recht auftreten, wird in diesem Bericht nicht angeführt. Wiedergegeben wird aber zutreffend die Erklärung der Verteidigung, warum drei Rechtsanwälte als Verteidiger einschreiten: Rechtsanwalt Dr. Tiefenbrunner erklärte, daß für den Angeklagten drei Verteidiger fungieren, da er selbst wegen zu kurzfristiger Ausschreibung nicht hinreichend Zeit zur Vorbereitung hatte. Staatsanwalt Dr. Eichler hält entgegen, daß die Verteidigung versucht habe, die Verhandlung nicht vor Mitte Oktober anzuordnen. Dr. Tiefenbrunner erklärt dagegen, daß der Verteidigung der Akt Hueber trotz wiederholter Bitte nicht zur Einsicht gegeben worden sei.

In der Arbeiter-Zeitung lässt man eine klare Haltung erkennen, und zwar eine Aversion gegen Reinthaller. Unter der Schlagzeile „EIN SEYß-INQUART – MINISTER VOR DEM VOLKSGERICHT“ wird die Aktion Reinthaller als während der Verbotszeit erfolgte illegale Nazibetätigung dargestellt, und die Verteidiger des Anton Reinthaller werden angefeindet:547

546 Wiener Zeitung, Ausgabe 24.10.1950, S. 4. 547 Arbeiter-Zeitung, Ausgabe vom 24. Oktober 1950, S. 6.

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Die Prozessberichterstattung

Vor dem Volksgerichtssenat Dr. Apeltauer begann gestern ein für mehrere Tage anberaumter Prozeß gegen den Landwirtschaftsminister der Österreich von Hitler aufgezwungenen Verräterregierung Seyß-Inquart. Dieser Minister war der Forstingenieur Anton Reinthaller. […] Reinthaller ist ein alter Nazi. Er gehörte der NSDAP seit 1928 an und war lange Zeit Führer der NS-Bauernschaft. In der Öffentlichkeit wurde er zwischen 1934 und 1938 als Leiter der „Aktion Reinthaller“ bekannt, deren Absicht darin bestand, den österreichischen Nazi, deren Partei damals verboten war, durch Verhandlungen mit der Regierung Schuschnigg eine legale Basis für ihre politische Betätigung zu schaffen. Die „Aktion Reinthaller“ hatte dabei in Wahrheit die Aufgabe, die illegale Tätigkeit der österreichischen Nationalsozialisten zu tarnen. Am 9. März 1938 wurde Reinthaller von Seyß-Inquart nach Wien berufen, am 11. März in die Regierung Seyß-Inquart aufgenommen und auf die Bundesverfassung (der Regierung Dollfuß) vereidigt. Schon einen Tag später, sagt die Anklage, brach aber Rein­ thaller zusammen mit seinem Kollegen diese Verfassung, indem er der „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ zustimmte. Nach der völligen Nazisierung Österreichs wurde er Unterstaatssekretär im Reichsnährungsministerium, wozu noch andere Posten in der Wirtschaft und in der SS, in der er Brigadeführer war, kamen. Das Anschlußgesetz – Die Anklage steht auf dem Standpunkt, daß die Zustimmung zur „Wiedervereinigung“ die formal rechtliche Grundlage für die Errichtung der Nazidiktatur in Österreich bildete. […] Die bittersten Tage Österreichs werden so Gegenstand staatsrechtlicher Auseinandersetzungen, heraufbeschworen von den Verteidigern, die zahlreiche Anträge gestellt haben, um den Angeklagten der Volksgerichtsbarkeit zu entziehen. So verlangten sie unter anderem, daß sich das Volksgericht als unzuständig erkläre und daß der Fall dem Verfassungsgerichtshof überwiesen werde, weil Reinthaller, falls er überhaupt Hochverrat begangen habe, als Minister nur vor diesen Gerichtshof gestellt werden könnte. Das Volksgericht ging aber ebenso wenig wie der Oberste Gerichtshof auf die plumpen Staatsrechtstheorien der Verteidigung ein. Es wies alle diese Anträge ab. Dann wurde Reinthaller vernommen, der die in diesen Prozessen übliche Verteidigungsrede hielt.

7.4 Zweiter Verhandlungstag Dienstag, 24. Oktober 1950

In der Tageszeitung „Die Presse“ wird unter der Schlagzeile „Noch einmal: Die Anschlusstage – Reinthallers Verantwortungsrede vor dem Volksgericht“ über den zweiten Verhandlungstag wie folgt berichtet:548 Der Angeklagte setzte gestern seine große Verantwortungsrede fort, die bis gegen Mittag 548 Die Presse, Ausgabe 25. Oktober 1950, S. 3.

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andauerte. Schuschniggs Fahrt nach Berchtesgaden sei ein Verzweiflungsakt gewesen. Der Kanzler habe später den 13. März 1938 als ein Naturphänomen bezeichnet. Reinthaller zitierte dann Mussolini, Churchill und den Erzbischof von Canterbury, die sich zur damaligen „Österreichlösung“, nämlich dem Anschluss, sämtlich positiv äußerten. Reinthaller sei selber unter dem Druck des Radikalismus vom 11. März 1938 gestanden. Damals habe faktisch die NSDAP bereits die Macht ergriffen, auch wenn sie sich zunächst nur durch eine Belagerung des Kanzleramtes von außen manifestiert hätte. Mühlmann habe beispielsweise damals Zernatto [Anm.: den Generalsekretär der Vaterländischen Front] bloß retten können, indem er ihn durch eine Hintertür des Kanzleramtes buchstäblich im letzten Moment flüchten ließ. Schuschnigg habe da erkannt, daß er sich bei Miklas bemühen müsse, die Bildung einer provisorischen Regierung zu erwirken, was tatsächlich ja auch geschehen sei. Die Aufstellung der Seyß-Inquart – Ministerliste sei ohne Zutun der Berufenen erfolgt. Seyß-Inquart habe Reinthaller gesagt, der Kanzler habe ihn selbst gewünscht als „gemäßigten Nationalen“. Reinthaller habe sich an jenem Tage selber durch die Metastasiogasse in das Kanzleramt einschleichen müssen. Es sei einfach ein In-die-Bresche-Springen gewesen. Er habe keineswegs Macht angestrebt oder gar, wie es in der Anklage heißt, sich der Regierungsgewalt bemächtigt. Allerdings seien dann die Absichten der Reichsregierung schon durchsichtig geworden. Auf eine Frage des Vorsitzenden im Zusammenhang mit den verschiedenen Ämtern und Würden, die Reinthaller innehatte, sagte dieser, Himmler habe ihm kurz darauf im Hotel Regina, wohin er befohlen worden war, den SS-Ehrenrang eines Standartenführers verliehen – am 25. Juli 1938 sei eine Angleichung an seine zivilen Ränge erfolgt (SS-Brigadeführer). Reinthaller habe fast nie Uniform getragen – gelegentlich des Geburtstages des Reichsjustizministers Gürtner sei er der einzige gewesen, der auf der Tribüne nicht nur zivil, sondern österreichische Landestracht trug, was sehr übel vermerkt worden sei. Die Beschlußfassung über das Anschlußgesetz erfolgte in Anwesenheit von nur sieben Ministern. Es war nicht – wie es im nachträglich „reingeschriebenen“ Protokoll Doktor Trolls heißt – ein „feierlicher Moment gewesen, im Gegenteil: Als Seyß-Inquart das Gesetz verlas, habe betretenes Schweigen geherrscht (bloß Kaltenbrunner oder noch einer der Anwesenden dürften sich gefreut haben). Es wäre absurd gewesen, auch nur die Stimme dagegen zu erheben. Bemerkenswert ist die im Protokoll angegebene Zeit hinsichtlich der Sitzungsdauer: 17 Uhr bis 17 Uhr 5 Minuten. Als Reinthaller bei Schilderung der verworrenen Verhältnisse vor dem März 1938 die Bemerkung machte, es sei damals eben so gewesen, daß man heute zu einem Minister gerufen werden und morgen schon im Konzentrationslager habe sitzen können – und umgekehrt, warf Staatsanwalt Dr. Eichler die Frage ein, ob Reinthaller zwischen einem Konzentra-

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tionslager, das auf Grund eines neuntägigen Hungerstreiks der Insassen (Wöllersdorf ) geschlossen wurde, und einem solchen wie etwa Dachau zu differenzieren wisse und ob der Angeklagte sich an die Vergasungen erinnere. Darauf antwortete Reinthaller: „Von letzterem habe ich erst viel später erfahren. Ich verhülle davor als Deutscher mein Haupt heute ebenso wie Sie, Herr Staatsanwalt!“ Heute wird mit der Zeugeneinvernahme begonnen. Auch Altbundespräsident Miklas steht auf der heutigen Zeugenliste.

In der Tageszeitung „Das kleine Volksblatt“ wird unter der Schlagzeile „ZEUGENVERHÖR IM REINTHALLER-PROZESS BEGINNT“ [Anm.: Was auf den dritten Prozesstag 25. Oktober 1950 bezogen ist] in weiterem Umfang über die von Anton Reinthaller im Zuge dessen Verantwortung getätigten Ausführungen berichtet:549 Am gestrigen zweiten Verhandlungstag im Volksgerichtsprozeß gegen Ing. Anton Rein­ thaller setzte dieser in zusammenhängender Verantwortung seine Ausführungen über die Ereignisse in den Märztagen 1938 fort und erörterte die Ursachen, die seiner Auffassung nach den „Anschluß ermöglichten“. Er verwies auf das Verhalten einer Anzahl von Politikern und führender Persönlichkeiten im In- und Ausland, die den Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich billigten. Die Volksabstimmung 1938 sei „korrekt“ durchgeführt worden, was ausländische Pressevertreter, die den Wahlen beiwohnten, bestätigt hätten. Von einem Druck könne deshalb keine Rede sein. In seiner weiteren Verantwortung kam der Beschuldigte auf Glückwunschtelegramme und Reden ausländischer Politiker zu sprechen, die das Einschreiten Hitlers in Österreich gut geheißen hatten. Man könne also von Angehörigen der NSDAP nicht verlangen, sie hätten seinerzeit wissen müssen, daß Nationalsozialismus später noch Schrecken und Grauen bedeuten würde. Man dürfe die historische Schuld nicht den Nationalsozialisten in die Schuhe schieben, wenn auch große und bedeutende Männer sich geirrt haben. „Nicht so ernst genommen – Auf die Frage des Vorsitzenden, wie er sich zu dem Leitsatz der Nationalsozialisten stelle: Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ erwiderte Reinthaller: „Bevor Hitler seine Abwege begann, habe ich an ihn geglaubt. Meine Abneigung trat erst ein, als Hitler sich außerhalb des Völkerrechts stellte, das war 1939, und da kam ich nicht mehr mit.“ Vorsitzender: Aber aus dem Buch „Mein Kampf“ mußten Sie doch erfahren haben, worauf Hitler abzielt! – Angeklagter: Gewiß, das haben Chamberlain und andere promi549 Das kleine Volksblatt, Ausgabe 25. Oktober 1950, S. 8. Die Tageszeitung „Das Kleine Volksblatt“ erschien von 27. Jänner 1929 bis 31. August 1944, ursprünglich als bürgerliches Gegenstück zur sozialdemokratischen Zeitung „Das Kleine Blatt“. Nach Kriegsende wurde „Das kleine Volksblatt“ als ÖVP-Tageszeitung wiedergegründet und erschien neuerlich ab 5. August 1945. Im Jahr 1967 wurde es in „Volksblatt“ umbenannt. Die Zeitung wurde 1970 eingestellt.

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nente Politiker und Staatsmänner auch gewußt – aber man betrachtete seine Absichten nicht als ein Programm mit Sekundenablauf; gar so ernst haben wir es nicht genommen! Der dritte Verteidiger, Dr. Haider, fragte den Beschuldigten unter Hinweis auf die Anklageschrift, in der von vielen Posten die Rede ist, welche Reinthaller neben seinem Amt als Minister versehen habe, welche Einkünfte damit verbunden gewesen seien. Der Angeklagte entgegnete: „Ich kann nur sagen, wenn ich mich nicht der Politik gewidmet hätte, wäre ich wahrscheinlich ein reicher Mann geworden, während ich heute von dem ererbten väterlichen und mütterlichen Vermögen wenig besitze.“ Dann verlas der Vorsitzende Leumundsnoten über den Angeklagten [Anm.: Schreiben anderer Personen über den Angeklagten, in dem dessen Leben und erkennbare Gesinnung zum Ausdruck kommen], die durchaus günstig lauten. […] Nach Verlesung von Aktenstücken wurde die Verhandlung abgebrochen. Sie wird heute mit dem Zeugenverhör und der Einvernahme des Altbundespräsidenten Miklas fortgesetzt.

In der Tageszeitung „Neues Österreich“ gibt man sich unter der Schlagzeile „HEUTE: WILHELM MILKLAS IM ZEUGENSTAND – Der Landwirtschaftsminister im Anschlusskabinett will an ein ,autonomes Österreich‘ geglaubt haben“ betont kritisch:550 Auch der gestrige zweite Verhandlungstag im Hochverratsprozess gegen den Landwirtschaftsminister im Anschlußkabinett, Ingenieur Reinthaller, war zur Gänze dem Verhör des Angeklagten gewidmet. Reinthaller bemühte sich erneut, in einer mehrstündigen Verteidigungsrede, den Anschluß als die Tat der deutschen Okkupanten hinzustellen, an dem auch eine Weigerung der Regierung Seyß-Inquart nichts mehr hätte ändern können. Der deutsche Staatssekretär Stuckart sei bereits mit dem fertigen Konzept des Anschlußgesetzes nach Wien gekommen. Die Ministerratssitzung habe lediglich fünf Minuten gedauert, das Gesetz sei ohne Abstimmung und mit betretenem Schweigen zur Kenntnis genommen worden. Reinthaller wartete anschließend mit einer Namensliste prominenter inländischer und ausländischer Staatsmänner auf, die seiner Ansicht nach den Anschluß „freudig begrüßt“ hätten. Nicht nur er, die ganze Welt habe sich in Hitler und im Nationalsozialismus geirrt, behauptete er. Ein Irrtum jedoch sei kein Verbrechen; zu einem Verbrechen gehöre der böse Vorsatz, man könne jedoch, wie er, auch Nationalsozialist aus Versehen gewesen sein. Als man den Angeklagten fragte, wie er sich denn eigentlich die Heimkehr ins Reich vorgestellt habe, meinte er, seine Freunde und er seien „überzeugt gewesen, dass ein autonomes Österreich weiterbestehen werde. In einer Synthese des autoritären Systems mit unabdingbaren 550 Tageszeitung „Neues Österreich“, Ausgabe 25. Oktober 1950, S. 3.

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Die Prozessberichterstattung

Einrichtungen, als das Muster eines Gemeinwesens, von dem die Reichsdeutschen sich eine Schnitte abschneiden sollten!“ Nach dieser etwas komplizierten Definition behauptete Reinthaller, er habe immer nur auf „legalem Weg“ gearbeitet; seine Vertrauensmänner in den volkspolitischen Referaten seien angewiesen worden, mit den illegalen Leitern der Partei nicht in Verbindung zu treten. Um diesen „legalen“ Weg zum Anschlußgesetz unter Beweis zu stellen, beantragten die Verteidiger Dr.[Anm.: sic] Reinthallers über ein Dutzend neuer Zeugen, darunter Kardinal-Erzbischof Dr. Innitzer, Dr. Kurt Schuschnigg, Dr. Guido Schmidt, die Gattin des jetzigen Bundeskanzlers, Frau Melanie Figl und den ehemaligen Sicherheitsdirektor Dr. Revertera. Auch Fred Hennings [Anm.: ein damals bekannter Burgschauspieler und Autor] und Kräthe Dorsch [Anm.: deutsche Schauspielerin] sollen als Zeugen dafür gehört werden, daß der Angeklagte sich wiederholt für rassisch oder politisch Verfolgte eingesetzt habe. Das Gericht behielt sich die Beschlußfassung über diese Anträge vor und unterbrach in den Abendstunden die Verhandlung. Der Prozeß wird heute Früh mit der Einvernahme des ehemaligen Bundespräsidenten Miklas und dessen Landshauptmannes Dr. Gleißner fortgesetzt.

In der Arbeiter-Zeitung wird unter der Schlagzeile „NAZI AUS VERSEHEN“ die bereits am Vortag eingeschlagene Linie mit Polemik fortgesetzt:551 Im Prozeß gegen den Landwirtschaftsminister der Verräterregierung Seyß-Inquart, Ingenieur Anton Reinthaller, setzte der Angeklagte gestern seine Verteidigungsrede fort. Der Volksgerichtssenat mußte diese Rede, halb Propaganda, halb Entschuldigung, stundenlang über sich ergehen lassen. Reinthaller, immerhin einer der Führer der Nazi in Österreich, richtete heftige Angriffe gegen die „Mitläufer“ der NSDAP, denen er vorwarf, daß ihre Unterwürfigkeit gegenüber der Partei die Tätigkeit der „Idealisten“ gestört habe. Ein Parteiführer, der den Mitgliedern vorwirft, daß sie ihm gefolgt seien, ist eine recht seltsame Erscheinung. Der gleiche Parteiführer meinte ein wenig später, daß er mehr aus Versehen Nationalsozialist geworden sei. Er habe sich eben geirrt. Er und seine Freunde seien politische Idealisten gewesen, sie hätten das Beste gewollt, aber nicht voraussehen können, was Hitler bringen werde. Er, der Unterstaatssekretär im Reichsnährungsministerium, sei im Krieg auf Posten ohne Bedeutung abgeschoben worden. Das alles hat man schon in anderen Prozessen wegen führender Nationalsozialisten gehört. Und auch das Folgende: Als ihm der Vorsitzende Dr. Apeltauer vorhielt, daß er den Beschluß zur „Wiedervereinigung der Ostmark mit dem Deutschen Reich“ durch den deutschen Gruß feierte, antwortete Reinthaller: An einen feierlichen Moment kann ich mich nicht erinnern. Im Gegenteil, es herrschte betretenes Schweigen. Wir hatten uns das anders vorgestellt – als 551 Arbeiter-Zeitung, Ausgabe 25. Oktober 1950, S. 6.

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ihn Staatsanwalt Dr. Eichler fragte ob er auch die Grausamkeiten des Naziregimes gebilligt habe, erwiderte Reinthaller: Ich verhülle mein Haupt wie Sie und schäme mich als Deutscher, daß so etwas passieren konnte. – Nur, daß dem Herrn Reinthaller das Schamgefühl reichlich spät gekommen ist.

7.5 Dritter Verhandlungstag Mittwoch, 25. Oktober 1950

Unter der Schlagzeile „ALTBUNDESPRÄSIDENT MIKLAS ÜBER 2 STUNDEN ZEUGE – Im Prozeß gegen Ing. Reinthaller – die meisten neuen Beweisanträge und Zeugen abgelehnt“ liefert man in der Wiener Zeitung einen ansich durchaus detaillierten Bericht ab, der aber einige Details missen lässt:552 Am Beginn des dritten Verhandlungstages im Volksgerichtsprozeß gegen Ingenieur Anton Reinthaller gab der Vorsitzende Dr. Apeltauer bekannt, daß der Senat die meisten von der Verteidigung gestellten neuen Beweisanträge und Zeugen als unerheblich abgelehnt habe, darunter auch die Vorladung des Rechtsanwaltes Dr. Steinbauer und die Verlesung von Stellen aus dessen Buch über den Nürnberger Prozeß. Dann schilderte der ehemalige Bundespräsident Wilhelm Miklas in einer Zeugenaussage, die sich über zwei Stunden erstreckte, die Vorgänge auf dem Ballhausplatz in der bewegten Nacht zum 12. März, in der er nur mehr Staatsnotar gewesen sei mit dem vorgeschriebenen Kurs, darauf zu achten, daß die Beschlüsse legal zu Stande kommen. In bedrohlicher Stunde habe er sich entschlossen, Seyß-Inquart mit der Regierungsbildung zu betrauen, weil sich dieser vorher zu Schuschnigg ziemlich loyal verhalten habe und auch aus dem geheimen Grunde, einer Regierung Seyß-Inquart werde vielleicht die Außenwelt darauf kommen, was bei uns wider Recht und Gesetz geschehen sei. Aber schon am 13. März sei Seyß-Inquart beauftragt worden, das „Anschlußgesetz“ zu beschließen, nachdem er bereits als Bundespräsident abgesetzt gewesen sei. Die Minister, auch Reinthaller, hätten den Eid auf die österreichische Verfassung 1934 geleistet. Die Unterschrift auf dem Kabinettsbeschluß über das Anschlußgesetz habe er abgelehnt und die deutsche Reichsregierung habe ihn dann für abgesetzt erklärt. Er habe aber nicht demissioniert, sondern nach der Ausschaltung für die Dauer seiner Verhinderung alle Funktionen des Bundespräsidenten an den Kanzler des Staates Seyß-Inquart, wie es die Verfassung vorsah, übertragen. Erst nach der Berufung und Wahl Dr. Renners habe seine interimistische Regentschaft geendet. Auf eine Frage des Vorsitzenden sagte Miklas, nichts darüber zu wissen, ob der Angeklagte damals besonders in Erscheinung getreten sei oder als einer der Führer der Illegalen gegolten habe. 552 Wiener Zeitung, Ausgabe 26. Oktober 1950, S. 6.

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Das „Anschlußgesetz“ sei unter militärischem Druck in fünf Minuten beschloßen worden. Österreich sei damals okkupiert gewesen. Er selbst habe seine Verhaftung erwartet, war die Antwort auf eine Frage des Verteidigers Doktor Tiefenbrunner, ob Österreich damals handlungsfähig gewesen sei. [Anm.: Gewisse Details der Aussage des Altbundespräsidenten Miklas, aus denen sich im besonderen Maße die Schwere der betreffenden Stunden, insbesondere die Gefahr von Gewaltakten und die Überrumpelung durch die NS-Bewegung ergeben, sowie die Antwort von Miklas auf die Frage, ob er Anton Reinthaller für einen Hochverräter halte, bleiben – anders als etwa in der Zeitung Neues Österreich – gänzlich unerwähnt] Der Landeshauptmann von Oberösterreich – Dr. Heinrich Gleißner sagte als zweiter Zeuge, daß er im Auftrage des Bundeskanzlers Dr. Schuschnigg mit Reinthaller und mit anderen Mitgliedern der nationalen Opposition in Verbindung getreten sei, er sein Befriedungsprogramm dem Sicherheitsdirektor vorgelegt habe. Trotz dem Mißlingen der Befriedungsaktion Reinthallers sei damals eine merkliche Beruhigung eingetreten. Von einer hochverräterischen Betätigung des Angeklagten sei ihm nichts bekannt. Da die Regierungsstellen und die Sicherheitsdirektion über Reinthallers Pläne und Taten immer informiert gewesen seien, könne man kaum sagen, daß er sich illegal betätigt habe. Der Zeuge kam dann nach Dachau und erfuhr nach seiner Entlassung von seiner Gattin, daß sich Reinthaller für ihn eingesetzt und auch seine Familie unterstützt habe. Auf eine Frage des Verteidigers sagte Dr. Gleißner, er könne sich auf eine hochverräterische Handlung des Angeklagten nicht erinnern, wisse aber, daß dieser nach dem März 1938 zahlreichen Personen geholfen und sie unterstützt habe. Auf die direkte Frage des Angeklagten: „Herr Landeshauptmann, hatten Sie den Eindruck, daß ich mich während der Verbotszeit als Gauredner, Kreispropagandaleiter und Führer der illegalen NS-Bauernschaft betätigte?“, erwiderte der Zeuge: „Das wäre sofort der Sicherheitsdirektion bekannt geworden, und ich hätte jede weitere Verbindung abgelehnt.“ Weitere Zeugen – Der seinerzeitige Chef des Protokolls im Kanzleramt Ministerialrat Dr. Wolfgang Troll machte einige Mitteilungen über das Zustandekommen des Wiedervereinigungsgesetzes, konnte aber nicht angeben, wieso ganz gegen die Gepflogenheit die Unterschriften der Minister unter das am 21. April übertragene Gesetz gekommen sind. [Anm.: Die besonders auffälligen Umstände bei dieser Zeugenaussage des Dr. Troll in Form von gravierenden Widersprüchen bleiben in dieser Berichterstattung – im Unterschied zu jener in „Neues Österreich“ – gänzlich unerwähnt.] Der Sektionschef im Landwirtschaftsministerium Dr. Rudolf Salm [sic. Recte: Saar] stellte seinem ehemaligen Minister das beste Zeugnis aus. Im ganzen Ministerium sei Reinthaller als objektiver Mensch ohne jedwede Gehäßigkeit bekannt gewesen, und Entlassungen wegen politischer Gesinnung seien überhaupt nicht vorgekommen. Der Vorsitzende verlas dann noch eine von vielen oberösterreichischen Bauern an das Ge-

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richt gesandte Zuschrift, die dem Angeklagten das allerbeste Zeugnis ausstellt und eine gerechte Verurteilung erbittet. In der Nachmittagsverhandlung wurden einstige bereits abgeurteilte Würdenträger der NSDAP, so der ehemalige Geschäftsführer und Hauptstabsleiter des Reichsnährstandes Dr. Fritz Butschek aus Salzburg und der einstige Landesleiter von Österreich Alfred Proksch vernommen, die Reinthaller als gemäßigten Politiker bezeichneten, der sich immer um den Ausgleich der Gegensätze innerhalb und außerhalb der NS-Häuslichkeit bemüht habe. Dr. Butschek behauptete, der Angeklagte sei nie Gauamtsleiter für Agrarpolitik gewesen, habe sich mit den Gauleitern Bürckel und Baldur von Schirach nicht vertragen und sei wegen seiner sehr gemäßigten Haltung mißliebig geworden. Da der Vorsitzende dem Zeugen vorwarf, am Juli-Putsch [Anm.: Am 25. Juli 1934 erfolgter Putschversuch der NS-Bewegung] teilgenommen und nach Deutschland geflohen zu sein, erwiderte der Zeuge beleidigt, das sei nicht richtig, und er bitte, diesen Ausdruck nicht annehmen zu wollen. Als der Vorsitzende eine Auskunft der Staatspolizei über Dr. Butschek verlesen wollte, protestierten die drei Verteidiger heftig, weil dies den Bestimmungen der StPO widerspreche. Der Vorsitzende sah von der Verlesung ab und will einen Senatsbeschluss einholen. Alfred Proksch begründete den von ihm seinerzeit verfügten Ausschluß Reinthallers aus der Partei, der von dieser anerkannt worden sei, weil Reinthaller der Partei nicht genehme Grundsätze vertreten habe. Der Ausschluß sei erfolgt, weil Reinthaller sich für ein selbständiges Österreich eingesetzt habe und eine Befriedungsaktion unternommen habe. Die Verhandlung wurde in den Abendstunden abgebrochen und wird heute fortgesetzt.

Erwähnenswert sind die nachstehenden Teile der in der Tageszeitung „Neues Österreich“ unter der Schlagzeile „IN DEN ABENDSTUNDEN DES 11. MÄRZ 1938 … – Altbundespräsident Miklas als Zeuge vor dem Volksgericht – Wie das „Anschlußgesetz zu Stande kam“ veröffentlichten Berichterstattung553 mit Inhalten des Verhandlungstermins, über die in der Wiener Zeitung nicht berichtet wird: Als erster Zeuge im Hochverratsprozess gegen den Anschlußminister Ingenieur Anton Reinthaller wurde gestern Wilhelm Miklas einvernommen. Der 78jährige Altbundespräsident gab einen eindrucksvollen Rückblick über die letzten Stunden der ersten Republik. Dreimal erzählt er, habe er Hitlers Ultimatum abgelehnt, in der Hoffnung, vom Ausland Hilfe zu erhalten. Die Verzweiflungstelegramme der Regierung Schuschnigg an die Weltmächte seien jedoch erfolglos geblieben. Aus Rom habe man geantwortet, Mussolini befinde sich in den Abruzzen, Frankreich habe sich mit einer Ministerkrise entschuldigt und England einen Protest für den nächsten Tag zugesagt. Deshalb habe Miklas sich in den 553 Tageszeitung Neues Österreich, Ausgabe vom 26. Oktober 1950, S. 4.

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Abendstunden des 11. März entschlossen, zur Rettung des österreichischen Volkes, um Blutvergießen zu vermeiden, Hitlers Befehl auszuführen und Dr. Seyß-Inquart mit der Regierungsbildung zu betrauen. „Ich hoffte“, fuhr der gewesene Bundespräsident fort, „dadurch Zeit zu gewinnen. Denn ich war überzeugt, dass die Weltmächte erkennen würden, daß die Vorgänge in Österreich dem Völkerrecht widersprechen und daß sie uns zu Hilfe kommen würden.“ Der Altbundespräsident erwähnte auch, daß Hitler den Einmarsch der deutschen Truppen zwar für ½ 8 Uhr abends angekündigt, aus unerklärlichen Gründen aber um einige Stunden verzögert habe. In Österreich selbst habe „schreckliche Lethargie“ geherrscht. Nazistoßtrupps hätten die Landesregierungen in Tirol, Steiermark und Kärnten gewaltsam besetzt. „Es war eine Überrumpelung: ich war verlassen von allen Mächten des In- und Auslandes.“ Dann kam Wilhlem Miklas auf das viel zitierte Anschlußgesetz zu sprechen. Am 13. März erzählte er, habe ihm Dr. Seyß-Inquart das Gesetz zur Unterschrift vorgelegt, doch habe er die Unterzeichnung strikt abgelehnt. „Die Preisgabe der Souveränität Österreichs ohne vorhergehende Volksabstimmung werde ich nie unterschreiben“, sei damals seine Antwort gewesen. Dann habe er – wie es in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen war – seine Funktionen vorübergehend dem neuen Bundeskanzler Dr. Seyß-Inquart übertragen, da er sich als „behindert“ gefühlt habe. Er sei demnach nicht formell zurückgetreten, sondern streng genommen während des Hitler-Regimes und auch noch nach Kriegsende „heimlich“ Staatschef gewesen; erst die Nominierung Dr. Renners im Herbst 1945 habe seine Präsidentschaft beendet. Nach etwa zweistündiger Vernehmung des Zeugen richtete Ing. Reinthaller an Miklas die Frage: „Herr Altbundespräsident, haben Sie mich am 13. März, als ich unter dem Druck Hitlers das Anschlußgesetz mitbeschloß, für einen Hochverräter gehalten?“ „Nein“, erwiderte Wilhelm Miklas nachdrücklich. […] Als Dr. Gleißner auf eine Frage des Verteidigers Dr. Tiefenbrunner erwiderte, von einer hochverräterischen Tätigkeit des Angeklagten sei ihm nichts bekannt, Reinthaller habe seines Wissens sogar vielen Menschen geholfen, brach das Auditorium – durchwegs Angehörige oder Freunde Reinthallers – in demonstrativen Beifall aus. Der Richter drohte, im Wiederholungsfall den Saal räumen zu lassen. Ministerialrat Dr. Wolfgang Troll aus dem Bundeskanzleramt, der bei der Ministerratssitzung vom 13. März Protokoll geführt hat, sollte berichten, wie das Anschlußgesetz zustande gekommen ist. Dabei verwickelte er sich mehrfach in Widersprüche. Er behauptete beispielsweise, alle Minister seien damals versammelt gewesen, in Wirklichkeit hatten jedoch mehrere gefehlt. Schließlich erklärte der Zeuge, das stenographische Protokoll noch am selben Tag ins Reine geschrieben zu haben, doch stellte sich heraus, daß die Reinschrift erst sechs Wochen später ausgefertigt worden ist. […]

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In der Arbeiter-Zeitung steigert man sich unter der Schlagzeile „DER „LEGALE“ REINTHALLER“ in extreme und unsachliche Feindseligkeit:554 Der Verteidigungsrede des Angeklagten folgte am dritten Verhandlungstag im Volksgerichtsprozeß gegen den Seyß-Inquart – Minister Reinthaller ein nicht minder langatmiger Reinwaschungsbericht des ehemaligen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas, dessen Schilderung der Ereignisse in den Annexionstagen aus früheren ähnlichen Prozessen bekannt ist. Der heutige Landeshauptmann von Oberösterreich, Dr. Gleißner, der auch vor 1938 diesen Posten bekleidete, lernte Reinthaller im Zusammenhang mit der Befriedungsaktion näher kennen. Er bezeichnete die Aktion als ein legales Unternehmen Reinthallers, das mit der Zustimmung der Regierung Dollfuß, der oberösterreichischen Landeshauptmannschaft und der oberösterreichischen Sicherheitsdirektion durchgeführt wurde. Er habe nicht den Eindruck gehabt, daß Reinthaller ein „Illegaler“ sei und ihn für einen anständigen Menschen gehalten. Reinthaller habe der oberösterreichischen Sicherheitsdirektion stets über seine Tätigkeit Bericht erstattet. – Verteidiger: Halten Sie es für möglich, daß Reinthallers Befriedungsaktion nur eine Tarnung der illegalen Nazi war? – Zeuge: Das kann ich nicht annehmen, nach dem, was ich über ihn weiß. – Als Dr. Gleißner dem Angeklagten das Zeugnis ausstellte, daß er ihn und vielen anderen Verfolgten in der Nazizeit geholfen habe, gab es im Auditorium tosenden Applaus: „Bravo, Gleißner!“ Der Vorsitzende mußte dem Auditorium, das überwiegend aus Alten Herren besteht, die vergangenen herrlichen deutschnationalen Zeiten nachweinen, mit der Räumung des Saales drohen, um die Ruhe wiederherzustellen. Das Auditorium ist vielleicht das Bezeichnendste an diesem Prozeß. Die Alten Herren, die zumeist auch alte Herren sind, identifizieren sich mit Reinthaller. Wie er, haben sie die alten Burschenschafterträume noch nicht ausgeträumt. Wie er, wollen sie nicht einsehen, daß auch die so genannten „idealistischen Nazi“ mitgeholfen haben, Österreich und die Welt ins Unglück zu stürzen. Man mag bereit sein, Reinthaller zu glauben, daß er persönlich ein allzu leichtgläubiger Idealist war; die Tatsache jedoch, daß er den Nationalsozialismus auch heute noch, von „Auswüchsen abgesehen, nicht ablehnt, sein unfreiwilliges Bekenntnis, daß er seine politischen Abenteuer heute wiederholen würde (und mit ihm seine Freunde im Zuhörerraum) kennzeichnet ihn als einen Totengräber Österreichs, auch wenn ihm noch so viele Würdenträger ein gutes Zeugnis ausstellen.“

554 Arbeiter-Zeitung, Ausgabe vom 26. Oktober 1950, S. 3.

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7.6 Vierter Verhandlungstag Donnerstag, 26. Oktober 1950

An diesem Verhandlungstag erfolgt auch die Urteilsverkündung. In der Tageszeitung „Das kleine Volksblatt“ wird darüber unter der Schlagzeile „Der Staatsanwalt sagt: ,Er mußte wissen, …‘ – DREI JAHRE HAFT FÜR REINTHALLER“ wie folgt berichtet:555 Als letzter Zeuge im Hochverratsprozeß gegen Ing. Reinthaller wurde gestern der ehemalige Sicherheitsdirektor von Oberösterreich, Revertera, einvernommen. Nach seiner Aussage sei Reinthaller von 1934 bis 1938 immer in legaler Weise vorgegangen und habe sich nie illegal betätigt. Er habe ihn stets genau beobachten lassen. Der Angeklagte sei um die Einhaltung des 1936er-Abkommens deutscherseits bemüht gewesen, allerdings ohne Erfolg. Auch in den Märztagen 1938 habe sich Reinthaller durchaus loyal verhalten. „Wenn Reinthaller“, mit diesen Worten schloß der Zeuge seine Aussage, „aus formalen Gründen verurteilt werden sollte, so ist das kein Beweis dafür, daß er sich schuldig machte!“ Sodann hielt Staatsanwalt Dr. Eichler seinen Schlußvortrag. Er erklärte, das Volksgericht müsse das persönliche und politische Bild des Angeklagten von einander trennen. Der Staatsanwaltschaft liege es fern, zu bestreiten, daß Reinthaller sich in vielen Fällen als hilfsbereiter Mann erwiesen und sich dem Terrorismus entgegengestellt habe, mit einem Wort, ein gemäßigter Nationalsozialist war. In diesem Prozeß seien jedoch Straf- und Schuldfrage zu unterscheiden. „Es wäre für ihn an der Zeit gewesen …“ – Ausführlich kam der Staatsanwalt auf die damalige politische Lage in Österreich zu sprechen, die zum Teil auch mit der Person des Beschuldigten verquickt sei. Reinthaller war bereits 1933 zwei Jahre lang Mitglied der NSDAP und Führer der nationalsozialistischen Bauernschaft. 1934 habe dann der Kampf um Leben oder Tod begonnen. Der Beschuldigte habe wissen müssen, daß der damalige Landesleiter der illegalen Partei, Theodor Habicht, über Auftrag Hitlers Terroraktionen befehligte. Nun wäre es für Reinthaller an der Zeit gewesen, seine Gesinnung abzulegen, da er hätte erkennen müssen, daß das Bestreben der deutschen wie der österreichischen Nationalsozialisten sich darauf richtete, die Unabhängigkeit Österreichs zu zerstören. Wenn Reinthaller behauptet, er sei 1933 aus der NSDAP ausgetreten und habe sich illegal nicht betätigt, so müsse auf zahlreiche Beweise aufmerksam gemacht werden, die das Gegenteil berichten. Zum Anklagepunkt „Hochverrat am österreichischen Volk“ verwies der Staatsanwalt auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens, die dartun, daß Reinthaller schon durch seinen bereitwilligen Eintritt in das Kabinett Seyß-Inquart die Machtergreifung förderte, denn er habe als erfahrener Politiker und Parteianhänger die Ziele Hitlers kennen müssen. Der Staats555 Das kleine Volksblatt, Ausgabe 27. Oktober 1950, S. 8.

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anwalt betonte, daß der Vorwurf gegen Reinthaller, aus besonders verwerflicher Gesinnung gehandelt zu haben [Anm.: Was relevant ist für die Anwendung des § 11 VG und für die Anwendung der außerordentlichen Strafmilderung] sich lediglich auf den Bruch des Eides beziehe, den er auf die österreichische Verfassung geleistet habe. Kerkerstrafe – Vermögensverfall – Reinthaller wurde wegen Hochverrates nach dem Verbotsgesetz schuldig gesprochen und unter Anwendung des außerordentlichen Milderungsrechtes zu drei Jahren schweren verschärften Kerkers verurteilt und der Verfall seines gesamten Vermögens ausgesprochen. Hingegen erfolgte von der Anklage des Hochverrates am österreichischen Volk mangels nachweisbar strafbaren Tatbestandes Freispruch. Die verhängte Strafe ist durch die Untersuchungs- und Lagerhaft für verbüßt erklärt worden. Reinthaller wurde auf freien Fuß gesetzt. In der Urteilsbegründung erklärte der Vorsitzende: Aus der Formulierung des Tatbestandes in Paragraph 8 des Kriegsverbrechergesetzes geht klar hervor, daß dieses Verbrechen nur vor der Machtergreifung begangen werden konnte. Aber die Machtergreifung war bereits erfolgt, als Bundespräsident Miklas die Minister des Kabinetts Seyß-Inquart auf die Bundesverfassung vereidigte. Das ist nach der Machtergreifung geschehen, war schon eine Folge dieser Machtergreifung. Deshalb erscheint im gegebenen Fall der Tatbestand des Paragraph 8 nicht erfüllt. Reinthaller hatte durch seine Stimmabgabe für das Anschlußgesetz die Machtergreifung der NSDAP nicht fördern können, weil sie bereits vollzogen war.

In der Tageszeitung „Die Presse“ wird unter der Schlagzeile „ING. REINTHALLER – KEIN HOCHVERRÄTER – Drei Jahre Kerker – aber nicht wegen Kriegsverbrechen“ größeres Augenmerk auf die Plädoyers gerichtet:556 […] Nachmittags hielt Staatsanwalt Dr. Eichler sein Plädoyer. Er unterstrich, daß Reinthaller, jenseits seines hilfsbereiten Charakters und seiner gemäßigten Einstellung und Betätigung in jener Zeit, seine NS-Gesinnung hätte ablegen müssen, als Habicht vom Münchner Rundfunk her begann, Mord und Totschlag nach Österreich hineinzurufen. Zur Haltung Reinthallers bei der Annahme des Anschlußgesetzes sagte der Staatsanwalt, Seyß-Inquart habe in seiner Nürnberger Verantwortung nichts vom Zwang erzählt, der damals geherrscht hätte. Verwerfliche Gesinnung werfe er – der Staatsanwalt – Reinthaller nur hinsichtlich des Eidbruches als österreichischer Minister vor. Die Verteidigung sagte, Reinthaller wäre hier nie angeklagt worden, wenn nicht Neumayer und Hueber wegen des selben Deliktes verurteilt worden wären [Anm.: Der Finanzminister des Anschlusskabinetts, Rudolf Neumayer, und der Justizminister des Anschlusskabinetts, Dr. Franz Hueber, waren bereits zuvor nach § 8 KVG verurteilt worden, Neumayer am 556 Die Presse, Ausgabe vom 27. Oktober 1950, S. 2.

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2. Februar 1946 und Hueber am 30. Dezember 1948, Hueber zudem nach § 10 und § 11 VG. Die Verurteilung des Dr. Hueber durch das Volksgericht basierte allerdings auf einer Anklage, deren Anklagepunkte den Vorwurf beinhalteten, den Hochverrat nach § 8 KVG bereits vor der Mitwirkung am Anschlussgesetz auch mit anderen Handlungen begangen zu haben]. Man habe Reinthaller auf Grund einer Lüge und Täuschung nach Wien gebracht. Eine falsche Identitätskarte und ein fingierter Wiener Wohnsitz seien hierzu benutzt worden. Alle Anklagepunkte wurden aufs Heftigste von der Verteidigung bestritten. Reinthaller sei ein lauterer Mensch, der heute noch für die Heimat wertvolles leisten könnte – so ein Mann müsse unbedingt freigesprochen werden. Der Angeklagte kam zum Schlußwort. Er sagte, stünde er heute vor ähnlichen Entscheidungen wie 1933 und 1938, er könnte nicht anders handeln – angesichts eines Notstandes in seinem Volke. Er bedaure, dass das Gericht ihn auf der Suche nach der Wahrheit hier nicht genügend unterstützt und wichtige Beweisanträge abgelehnt habe. Er erinnere sich eines Mithäftlings, eines 1945er-Polizisten, der sich in seiner Zelle rühmte, Nationalsozialisten am Roßschweife gebunden und sie mit Holzspänen unter den Fingernägeln traktiert zu haben – weil er im KZ war. Dieser Polizist sei von einem damaligen Staatsanwalt als Widerstandsmann gelobt und freigesprochen worden. Reinthaller sagte, Staatsanwalt Dr. Eichler sei 13 Jahre alt gewesen, als der Angeklagte erstmals zu Schuschnigg gerufen wurde. Der Staatsanwalt schöpfe sein Wissen nur aus der Überlieferung. Objektive Geschichtsschreibung über all diese Ereignisse sei aber erst nach vielen Jahren zu erwarten. Die Laienrichter bat er, so zu urteilen, daß dieses Urteil vor der Geschichte bestehen könne – man möge sein Leben nicht vernichten und seine Familie nicht ins Unglück stürzen. […]

Auch in der Tageszeitung „Neues Österreich“ wird unter der Schlagzeile „ING. REINTHALLER WEGEN HOCHVERRATS FREIGESPROCHEN – wegen Illegalität erhielt er drei Jahre Kerker, die durch die Untersuchungshaft verbüßt sind“ in größerem Umfang über die Plädoyers berichtet557: […] Die Plädoyers – Als letzter Zeuge wurde gestern der ehemalige Sicherheitsdirektor von Oberösterreich, Revertera, gehört. Auch er wurde nicht müde, die Loyalität und den Idealismus des Angeklagten zu preisen. „Wenn Reinthaller aus formalen Gründen verurteilt werden sollte“ schloß der Zeuge, „so ist es noch lange kein Beweis dafür, daß er schuldig ist. Die Schuld trägt dann vielmehr ein mangelhaftes Gesetz.“ [Anm.: Was als besonders deutliche und pointierte Kritik an den Formalkriterien, nach denen diese Strafbestimmungen aufgebaut waren, zu werten ist.] 557 Neues Österreich, Ausgabe vom 27. Oktober 1950, S. 3.

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Staatsanwalt Dr. Eichler anerkannte in seinem Schlußvortrag die Mäßigung des Angeklagten, seine Differenzen mit dem radikalen Flügel der NSDAP und seine Hilfsbereitschaft politischen Gegnern gegenüber. Die Befriedungsaktion Reinthallers habe jedoch einen doppelten Boden gehabt. Neben der legalen Aktion habe der Angeklagte unter Neubacher auch eine illegale aufgezogen. Auch erwähnte Dr. Eichler, daß Reinthaller zwei Tage nach dem Anschluß von Himmler persönlich in die SS aufgenommen worden sei. Das beweise, daß er sich für die Partei betätigt haben müsse. Der Angeklagte habe nach Ansicht des Staatsanwalts dadurch Hochverrat begangen, daß er durch Mitwirkung am Anschlußgesetz mitgeholfen habe, der Okkupation Österreichs gleichsam ein legales Mäntelchen umzuhängen. Verteidiger Dr. Tiefenbrunner griff in seinem Plädoyer die Volksgerichtsbarkeit scharf an. Er schilderte den Angeklagten als einen Mann von unbedingter Aufrichtigkeit, der geholfen habe, wo er habe helfen können. Der Verteidiger schloß seine Ansprache mit folgenden mehr als sonderbar anmutenden Worten: „Reinthaller hat für unser schwer geprüftes Vaterland mehr geleistet als jeder andere hier in diesem Saal.“ Schließlich erhob sich der Angeklagte selbst zum Schlußwort. „Ich habe“, sagt er, „in den letzten fünf Jahren genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob ich es heute anders machen würde als damals. Ich muß offen gestehen: In einer Situation wie 1933 würde ich mich auch heute für eine Befriedungsaktion zur Verfügung stellen. In einem Notstand wie 1938 würde ich wie damals in die Presche springen. Wäre ich wie am 13. März vor die Wahl gestellt, einem Wiedervereinigungsgesetz zuzustimmen, oder einem Herrn Bürckel die Macht zu überlassen, würde ich dieses Gesetz neuerlich stillschweigend akzeptieren.“

So wie in der Tageszeitung „Die Presse“ wird auch in dieser Ausgabe der Tageszeitung „Neues Österreich“ von dem vom Volksgericht Linz im Wiederaufnahmeverfahren über Dr. Franz Hueber gefällten Urteil berichtet: „Die Strafe Dr. Huebers auf zehn Jahre herabgesetzt – Linz, 26. Oktober“. Gleichzeitig mit dem Reinthaller Prozeß in Wien rollte vor einem Linzer Volksgericht der Prozeß gegen den ehemaligen Justizminister im Anschlußkabinett, Dr. Franz Hueber, zum zweiten Mal ab. Dr. Hueber ist wegen Verbrechens der Illegalität und wegen Hochverrats am österreichischen Volk vom Wiener Volksgericht im Vorjahr zu achtzehn Jahren schweren Kerkers verurteilt worden. Seinem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde stattgegeben, auf sein Ansuchen wurde das Linzer Volksgericht zur Verhandlung ermächtigt. Gestern558 hat ein Linzer Senat Dr. Hueber von der Anklage der Illegalität freigesprochen. 558 Tatsächlich hatte das Volksgericht Linz im wieder aufgenommenen Strafverfahren das neue Urteil bereits am 12.10.1950 gefällt (siehe Kapitel 6.3.3.).

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Im zweiten Anklagepunkt, Hochverrat am österreichischen Volk, hatte der Senat lediglich über die Strafhöhe zu entscheiden. Die Strafe wurde jetzt auf zehn Jahre schweren Kerkers herabgesetzt.

Aus einem gänzlich anderen Blickwinkel werden in der Arbeiter-Zeitung unter der Schlagzeile „DREI JAHRE FÜR REINTHALLER“ das Schlusswort des Angeklagten und die Strafhöhe bewertet559: In der Reihe der Entlastungszeugen der verflossenen Vaterländischen Front für den Naziminister Reinthaller stellte Donnerstag auch der ehemalige Sicherheitsdirektor von Oberösterreich, Gutsbesitzer Revertera, dem Angeklagten das beste Zeugnis aus. Reinthaller habe sich stets loyal verhalten, er habe seine Befriedungsaktion ehrlich gemeint, sich nicht illegal betätigt, sondern sei im Gegenteil gegen die Scharfmacher unter den Nazi vorgegangen. Er habe sich des Vertrauens der damaligen Regierung Dollfuß – Schuschnigg würdig erwiesen. Er sei auch ein guter Österreicher, eben nur „einer anderen Schattierung“ gewesen. Revertera erklärte sich dem Angeklagten persönlich verpflichtet, weil er sich, als er von den Nazi verfolgt wurde, für ihn eingesetzt habe. Nach der Beendigung dieser Zeugenaussage kamen die Schlußreden. Reinthaller hatte die Unverfrorenheit, zu sagen, daß er, wenn er wieder in die gleiche Lage käme, genau so handeln würde wie 1938. Er wurde nur wegen des Verbrechens nach den Paragraphen 10 und 11 des Verbotsgesetzes zu drei Jahren schweren, verschärften Kerkers verurteilt. Vom Hochverrat am österreichischen Volk nach dem Kriegsverbrechergesetz wurde er freigesprochen. […] Reinthaller wurde auf freien Fuß gesetzt, weil seine Strafe durch die fünfjährige Lager- und Untersuchungshaft verbüßt ist. Sein Vermögen wurde als verfallen erklärt. Er ist trotzdem sehr billig davongekommen.

Ähnlich ist auch die Sicht bei der Tageszeitung „Der Abend“, in der unter der Schlagzeile „REINTHALLER BILLIG DAVONGEKOMMEN“ berichtet wird560: Der „alte Kämpfer, Minister der Verräterregierung Seyß-Inquart, Landesbauernführer, Landesforst- und Jägermeister, SS-Brigadeführer und Mitglied des Deutschen Reichstages ist trotz seiner niedrigen Mitgliedsnummer von 83421 vom Anklagepunkt der Illegalität freigesprochen worden [Anm.: Das ist unrichtig, weil Reinthaller gerade wegen Illegalität nach 559 Arbeiter-Zeitung, Ausgabe vom 27. Oktober 1950, S. 2. 560 Der Abend, Ausgabe vom 27. Oktober 1950, S. 2. Diese Zeitung war ein der kommunistischen Besatzungsmacht zuzuordnendes Medium.

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§ 10 und § 11 VG verurteilt wurde, wie im Folgenden soweit zutreffend auch berichtet]. Auch der Hochverrat ist ihm billig gekommen. Er wurde lediglich wegen Verbrechens des Hochverrates nach Paragraph 10 und 11 des Verbotsgesetzes schuldig gesprochen und unter Anwendung des außerordentlichen Milderungsrechtes zu drei Jahren schweren Kerkers, verschärft durch ein hartes Lager in jedem Vierteljahr der Haft, verurteilt und der Verfall seines gesamten Vermögens ausgesprochen. Hingegen wurde er von der Anklage des Verbrechens des Hochverrates am österreichischen Volk nach Paragraph 158/III mangels eines nachweisbaren strafbaren Tatbestandes freigesprochen. (Dieser Paragraph bedroht den Hochverrat, der auf Losreißung eines Teiles vom einheitlichen Staatsverband oder Herbeiführung einer Gefahr von außen abzielt). [Anm.: Dieses Paragrafenzitat ist unrichtig. Es wurde sichtlich irrtümlich aus den verfahrensrechtlichen Ausführungen der mündlichen Urteilsverkündung entnommen, ist aber auch der Zahl nach unrichtig. Gemeint ist sichtlich § 259 Abs. 3 StPO, wonach ein Freispruch zu erfolgen hat, wenn der mit der Anklage erhobene Vorwurf der Begehung einer strafbaren Handlung nicht nachgewiesen werden kann]. Die verhängte Strafe von drei Jahren ist durch die Untersuchungshaft und die Lagerhaft für verbüßt erklärt worden. Reinthaller wurde auf freien Fuß gesetzt […]

Das Plädoyer des Staatsanwaltes wird mit einer gewissen politischen Färbung wiedergegeben, ebenso das Plädoyer der Verteidigung: Staatsanwalt Dr. Eichler betonte in seinem Plädoyer, daß in den Märztagen 1938 alle zusammen gestanden sind, die gewillt waren, die Selbständigkeit Österreichs zu retten, und betonte, die Bereitschaft sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiter, trotz ihren politischen Gegensätzen zur Regierung, das Vaterland zu retten. In diesem Zusammenhang brandmarkte er den Weg, welchen die Regierung Schuschnigg gegangen ist. Das Verschulden Reinthallers liege vor allem darin, daß er mitgewirkt habe, dem Gewaltstreich Hitlers durch Unterfertigung des hochverräterischen Anschlußgesetzes den Schein der Legalität zu verleihen. Reinthaller erklärte noch, nachdem sein Verteidiger ein glühendes Bekenntnis zum Großdeutschtum abgelegt hatte, wenn noch einmal eine Situation wie 1933 und 1938 eintreten würde, werde er genauso handeln wie damals. Ein Vorsatz, den man ihm ohne Weiteres glauben kann.

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Die Prozessberichterstattung

7.7 Die Hauptverhandlung vor dem Volksgericht Linz

Auch über den Verhandlungstermin vor dem Volksgericht Linz wird in den namhaften Printmedien berichtet.561 Einen informativen Überblick vermittelt die Wiener Zeitung unter der Schlagzeile „ZWEIEINHALB JAHRE UND VERMÖGENSVERFALL FÜR ING. REIN­ THALLER – Die Freiheitsstrafe ist durch die Untersuchungshaft verbüßt“562: Der ehemalige Landwirtschaftsminister im Kabinett Dr. Seyß-Inquart für Ing. Anton Reinthaller hatte sich gestern neuerdings vor einem Linzer Volksgerichtssenat unter Vorsitz von LGR. Dr. Hofer wegen Hochverrats zu verantworten, nachdem er bereits im Oktober 1950 von einem Wiener Volksgerichtshof [Anm.: gemeint: vom Volksgericht Wien] wegen Illegalität zu drei Jahren schweren Kerkers und Vermögensverfall verurteilt worden war. Der vom Wiener Senat gefällte Freispruch hinsichtlich begangener Kriegsverbrechen wurde später vom Obersten Gerichtshof aufgehoben, worauf das Verfahren zur neuerlichen Strafbemessung nach Linz delegiert wurde. Da durch einen Akt des Bundespräsidenten im August 1951 die Einstellung des Verfahrens gegen Reinthaller nach dem Kriegsverbrechergesetz angeordnet worden war, hatte sich das Linzer Volksgericht nur mit der ebenfalls wieder unter Anklage gestellten Illegalität des Beschuldigten zu befassen. Nürnberg erhob keine Anklage – wie die Anklageschrift ausführte, war Ing. Reinthaller im Jahre 1933 der NSDAP beigetreten und hatte dem Kabinett Seyß-Inquart im Jahre 1938 als Landwirtschaftsminister angehört. Der Angeklagte habe zu jenen gemäßigten Nationalsozialisten gehört, die versucht hatten, die Selbständigkeit Österreichs zu bewahren. Nach der Okkupation Österreichs habe er sich um die heimische Landwirtschaft Verdienste erworben. Wie in seinem Wiener Prozeß, konnte der Angeklagte auch gestern vor Gericht auf Empfehlungen aller politischen Parteien und von prominenten Persönlichkeiten des Landes Oberösterreich hinweisen, die ihn wegen seines menschlichen Verhaltens allen Mitbürgern gegenüber das beste Zeugnis ausstellen. Zu seiner Rechtfertigung gab. Ing. Reinthaller an, daß er seit 1945 bereits fünfeinhalb Jahre im Gefängnis zugebracht habe und auch vor den Internationalen Gerichtshof in Nürnberg gestellt wurde, der jedoch von einer Anklage 561 Allerdings nicht immer richtig. In der Tageszeitung „Das kleine Volksblatt“ wird angegeben, dass das Volksgericht Linz den Angeklagten nun auch des Hochverrates für schuldig erkannt habe (Das kleine Volksblatt, Ausgabe vom 8. Mai 1952, S. 9). Das ist aber unrichtig, weil das nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs nunmehr auch wieder wegen des Vorwurfes des Hochverrates nach § 8 KVG anhängige Verfahren zwischenzeitig vom Bundespräsidenten niedergeschlagen worden war, sodass das Volksgericht Linz nur noch über den Vorwurf des Hochverrates nach § 10 und § 11 VG wegen Illegalität zu entscheiden hatte. 562 Wiener Zeitung, Ausgabe vom 8.5.1952, S. 4.

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Abstand genommen habe. Ing. Reinthaller wurde schließlich aufgrund der einschlägigen Bestimmungen des NS-Gesetzes zu zweieinhalb Jahren schweren Kerkers und Vermögensverfall verurteilt. Die Strafe erscheint durch die lange Untersuchungshaft verbüßt. Der Beschuldigte teilte dem Senat nach Schluß des Prozesses mit, daß er sich bemühen werde, seinen Fall neuerlich vor Gericht zu bringen.

8. Der Strafprozess im Detail

8.1 Die Voruntersuchung 8.1.1 Haft und Sicherungsmaßnahmen

Anton Reinthaller schien in der ersten österreichischen Kriegsverbrecherliste auf, die am 04. Dezember 1945 veröffentlicht wurde; der Grund dafür bestand in seinen früheren Eigenschaften als Minister des Anschlusskabinetts Seyß-Inquart und als SS-Oberführer.563 Der Aufenthaltsort von Ing. Anton Reinthaller war zunächst unbekannt. Laut Auskunft des Zentralmeldungsamts vom 04. August 1947 war Ing. Reinthaller zuletzt in Wien 2, Obere Augartenstraße 1/II/1/3 gemeldet. Die Erhebungen ergaben, dass die Wohnung des Ing. Reinthaller, die unter dieser Adresse bestanden hatte, nach Kriegsende zur Gänze von unbekannten Personen entleert worden war.564 Sichtlich ist daher der frühere berufliche Wirkungsbereich von Ing. Reinthaller der Anknüpfungspunkt für die weiteren Erhebungen. Dazu zählt auch ein landwirtschaftlicher Betrieb des Ing. Reinthaller, den dieser unter der Unternehmensbezeichnung „Beeren- und Obstverwertung Groß-Weiffendorf“ führt, und der seinen Sitz in Mettmach im politischen Bezirk Ried im Innkreis hat.565 Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen werden Ing. Franz Scheider, Wein- und Obstbaudirektor der Landwirtschaftskammer für Wien und Niederösterreich, sowie Elias Ebner, Angestellter in der Personalabteilung dieser Landwirtschaftskammer, befragt.566 Ing. Scheider gibt an, dass Ing. Reinthaller von seinem oberösterreichischen landwirtschaftlichen Unternehmen Obstwein an die Landesbauernschaft Donauland lieferte. Nach seiner Aussage war Ing. Reinthaller als Landesbauernführer und in politischer Hinsicht als prominenter Nationalsozialist bekannt und genoss bei der Landwirtschaftskammer einen sehr guten Leumund. Herr Ebner gewährt dem Erhebungsbeamten Einsicht in den bei der Landeswirtschafts563 Meldung der Abteilung I – Kriminalbeamtenabteilung der Polizeidirektion Wien vom 04. August 1947 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, Landesarchiv Oberösterreich (OÖ Landesarchiv). 564 Schreiben des Wiener Magistrat, Magistratsabteilung 62 vom 17. September 1947 zu 62/12112/47 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 565 Schreiben des Wiener Magistrat, Magistratsabteilung 62 vom 17. September 1947 zu 62/12112/47 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 566 Bericht der Polizeidirektion Wien vom 04. März 1947 an das Volksgericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

Die Voruntersuchung

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kammer geführten Personalakt von Ing. Reinthaller. Von dem darin enthaltenen Personalbogen wird eine Abschrift angefertigt. Dieser Personalbogen wurde für die Landesbauernschaft Niederdonau des ehemaligen Reichsnährstands angefertigt.567 Zur Eruierung des Aufenthaltsorts des Ing. Reinthaller schaltet man seitens des Volksgerichts Wien auch den Gendarmerieposten Attersee ein, um Ing. Reinthallers Gattin Therese zu dessen Aufenthaltsort zu befragen.568 Dem Volksgericht Wien gelangt schließlich zur Kenntnis, dass Ing. Reinthaller sich in Nürnberg in Haft befunden hat.569 Ing. Reinthaller hatte sich nach Kriegsende zunächst auf einem Bauerngut in Oberösterreich verborgen gehalten. Auf Anraten von Dr. Hans Frenzel570 stellte er sich den amerikanischen Besatzungsbehörden. Am 25. Juni 1945 wurde er von den amerikanischen Besatzungssoldaten festgesetzt. Vom 25. Juni bis zum 27. Juni 1945 befand er sich in amerikanischer Konfinierung. Die amerikanischen Besatzungsbehörden erteilten ihm aufgrund der Fürsprache Dr. Frenzels zunächst die Bewilligung, in Form des Hausarrestes bei Dr. Frenzel zu wohnen.571 Da er Dr. Frenzels Gastfreundschaft nicht übermäßig in Anspruch nehmen wollte, begab Ing. Reinthaller sich Mitte August 1945 auf das Bauerngut seiner Schwägerin Maria Lang in Kranzing Nr. 1, Post Oftering, wo er am 28. August 1945 von den amerikanischen Militärbehörden im Zusammenwirken mit dem Gendarmerieposten Alkoven verhaftet und anschließend in das Gefangenenhaus des Bezirksgerichtes Eferding bei Linz eingeliefert wurde572. Somit befand er sich ab dem 567 Bericht der Polizeidirektion Wien an das Volksgericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 04. März 1947 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, daran angeschlossene Abschrift des Personalbogens der Landesbauernschaft Niederdonau des ehemaligen Reichsnährstandes über Ing. Anton Reinthaller, Unterstaatssekretär im Ministerium für Land-Forstwirtschaft Berlin. 568 Meldung der Abteilung I. – Kriminalbeamtenabteilung der Polizeidirektion Wien vom 04. August 1947, ON 93 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, vormals Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 569 Vgl. Schreiben des Wiener Magistrats, Magistratsabteilung 62 vom 17. September 1947 zu 62/12112/47. 570 Dr. Hans Frenzel (07.09.1895–25.08.1966) Doktor der Rechte und Magister der Pharmazie, Sozialist, Minister für Volksernährung vom 20.12.1945 bis 11.01.1947, dann zunächst Vizepräsident und vom 02.06.1953 bis 20.04.1964 Präsident des Rechnungshofes. 1947 Gründer der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit, deren Generalsekretär, später deren Präsident und 1953 deren Ehrenpräsident. 1958 Präsident des Europäischen Rates des Codex alimentarius. (www.parlament.gv.at – Stand 09.12.2016) 571 Antrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres auf Begnadigung von Ing. Reinthaller vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 2 recto. 572 Antrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres auf Begnadigung von Ing. Reinthaller vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 2 recto.

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Der Strafprozess im Detail

28. August 1945 in Haft, zunächst im Lager Eferding, dann im Lager Pupping, und ab 05. Oktober 1945 bis zum 08. Oktober 1946 im Lager Glasenbach. An diesem Tag wurde er in das Gefängnis des Alliierten Militärgerichtshofs in Nürnberg überstellt573, wo er bis zum 16. Juli 1947 verblieb. Dann wurde er ins Lager Dachau überstellt und im März 1948 wieder nach Nürnberg verbracht. Im August 1948 wurde er in das Lager Langwasser überstellt. Von dort wurde er am 13. November 1948 aus der Haft entlassen. Die Hintergründe dafür bestehen darin, dass es im Zuge der vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg geführten Kriegsverbrecherprozesse auch ein Untersuchungsverfahren gegen Ing. Reinthaller gab, das aber nach Ansicht der Anklagebehörde keine belastenden Anhaltspunkte gegen Ing. Reinthaller ergab.574 Ing. Reinthaller war in Nürnberg mehrere Male in Verfahren – von der Anklagebehörde oder von der Verteidigung geführter – Zeuge, gegen ihn wurde aber dort kein Verfahren geführt.575 Seitens des Bayrischen Staatsministeriums für Sonderaufgaben wurde daher am 09.11.1948 angeordnet, dass Ing. Reinthaller aus dem Lager Nürnberg-Langwasser entlassen wird. Dabei wurde aber angeordnet, dass er sich zur Verfügung der Hauptkammer Traunstein zu halten hat.576 Ing. Reinthaller hielt sich daher in weiterer Folge an der Adresse Traunstein, Mühlgasse 16 auf. Die Hauptkammer Traunstein und der Kläger der Hauptkammer [Anm.: Ankläger] wurden jeweils informiert.577 Eine Auslieferung Reinthallers nach Österreich wurde damals nicht erwogen, weil dieser nicht in der einschlägigen Auslieferungsliste erfasst war.578 573 Antrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres auf Begnadigung von Ing. Reinthaller vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 2 recto. 574 Bestätigung von Paul H. Gantt, Attorney at Law, ehemals im Büro des Chefanklägers für Kriegsverbrechen in Nürnberg [Anm.: Robert H. Jackson] tätig, vom 20. Juli 1949 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 575 Bestätigung des Office of Chief of Counsel for War Crimes APO 696 A. vom 15.11.1948, ausgestellt von Paul H. Gantt als Director Special Projects Division, im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 576 Die Spruchkammern in Deutschland wie die Hauptkammer Traunstein waren Sondergerichte mit Laienbeteiligung, die über die Behandlung von Deutschen zu entscheiden hatten, die in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 104 vom 05. März 1946 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus wurden solche Personen in fünf Kategorien eingeteilt, und zwar Hauptschuldige, Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), Minderbelastete (Bewährungsgruppe), Mitläufer und letztlich Entlastete als Personen, gegen die nicht mit einer in diesem Gesetz vorgesehenen Maßnahme vorzugehen war. 577 Verfügungen des Bayrischen Staatsministeriums für Sonderaufgaben vom 09.11.1948 zu T.B.Nr.  St./ 0 20 – R L.M. und vom 23.11.1948 zu St.0. 20 624-R, 682-R 18.6212-R 63, 6253-84, Abschrift im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 578 Verfügung des Bayrischen Staatsministeriums für Sonderaufgaben vom 09.11.1948 zu T.B.Nr. ­

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Das Volksgericht Wien erlässt am 04. Jänner 1949 gegen Ing. Reinthaller einen Haftbefehl und richtet ein entsprechendes Auslieferungsersuchen an die Deutschen Behörden.579 Demnach sei Reinthaller in Haft zu nehmen und an das Volksgericht Wien zu überstellen, um ihn dort in Untersuchungshaft zu nehmen. Die Begründung des Haftbefehls ist im Vergleich zur späteren Anklageschrift weit weniger objektiv abgefasst, und die Tätigkeit von Ing. Reinthaller wird sehr einseitig dargestellt, wobei auch seine Bedeutung für die NS-Bewegung in Österreich überbewertet wird. So wird ausgeführt, dass Ing. Reinthaller zu jenem engen Kreis von Personen gehört habe, „die als geistige Führer die Voraussetzungen für die Entwicklung und die Organisation des illegalen Nationalsozialismus in Österreich schufen und die an erster Stelle dazu beigetragen haben, dass im Jahre 1938 Österreich in das Deutsche Reich einverleibt wurde“. Anschließend wird ausgeführt, dass Ing. Reinthaller seit 23. April 1928 unter Mitgliedsnummer 83.412 Mitglied der NSDAP war und während des Verbots der NSDAP in Österreich u.a. als Kreispropagandaleiter, Gauredner und Führer der illegalen nationalsozialistischen Bauernschaft in Österreich gewesen sei. Wiederum wird seine Bedeutung als herausragend dargestellt, wenn ausgeführt wird, dass „sein Wirken aus der Entwicklungsgeschichte des Nationalsozialismus in Österreich nicht wegzudenken ist“. Die Aktion Reinthaller wird hier als Reinthaller-Abkommen bezeichnet und diese Befriedungsaktion als Versuch dargestellt, den Nationalsozialismus aus der Illegalität herauszuheben und ihm unter dem Titel „Befriedung“ einen legalen Anspruch auf Betätigung in Österreich zu geben. Im Unterschied zum späteren Verfahrensverlauf wird zudem ein besonderer Zusammenhang zum Juli-Abkommen580 hergestellt. Der Haftbefehl enthält dazu die folgenden Ausführungen: St./ 0 20 – R L.M., darin enthalten in Punkt 2. der Vermerk mit dem folgenden Wortlaut: „Der österreichische Verbindungsoffizier OMGB hat mir heute mündlich mitgeteilt, dass der Betroffene [Anm.: Ing. Reinthaller] nicht auf der Auslieferungsliste steht.“ 579 Haftbefehl des Volksgerichts beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 04.01.1949 zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 580 Abkommen vom 11. Juli 1936 zwischen der Regierung des Deutschen Reiches und der Regierung des Bundesstaats Österreich (Ständestaat) zur Stabilisierung der Verhältnisse. Aufgrund dessen wurden Edmund Glaise-Horstenau zum Minister ohne Geschäftsbereich und Dr. Guido Schmidt Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten der Regierung Schuschnigg, damals Kabinett Schuschnigg II (Urteil des Volksgerichts Wien vom 12. Juni 1947 zu Vg 1g Vr 1920/45 und Hv 110/47 in der Strafsache gegen Dr. Guido Schmidt nach § 8 KVG, OÖ Landesarchiv, S. 6, 13). Außerdem wurde die von der deutschen Reichsregierung mit deren Gesetz vom 29. Mai 1933 über die Beschränkung der Reisen nach der Republik Österreich (RGBl 1933 I S. 311) erlassene 1000-MarkSperre, die seit 1. Juni 1933 galt (§ 4 leg. cit.), wieder aufgehoben (Gesetz der deutschen Reichsregierung vom 24. August 1936 über den Reiseverkehr mit Österreich, RGBl 1936 I S. 647). Die Aufhebung trat mit 28. August 1936 in Kraft (§ 3 leg. cit. in Verbindung mit § 4 der Verordnung vom 26. August 1936, RGBl 1936 I S. 648).

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Auch im Zusammenhang mit dem sogenannten Juli-Abkommen aus dem Jahre 1936 scheint sein Name wieder auf. Dieses Abkommen, das am 11. Juli 1936 von der Österreichischen Regierung mit Deutschland geschlossen wurde, stellte von österreichischer Seite einen Versuch dar, einen modus vivendi mit dem Deutschen Reich zu finden. Zu diesem Zwecke wurde von der Regierung Schuschnigg die Bildung des sogenannten Siebenerausschußes geduldet, einer Organisation, der die Vertreter des Nationalsozialismus und der nationalen Kreise in Österreich angehörten, und die jenes Befriedungswerk mehr oder weniger im Einvernehmen mit der Österreichischen Regierung durchführen sollten. Im Zusammenhang damit wurde an die Gründung eines Vereines gedacht (Deutschsozialer Volksbund), in dessen Rahmen den österreichischen Nationalsozialisten auf kulturellem und sozialem Gebiet in Österreich ein gewisses Betätigungsfeld eingeräumt werden sollte. Dieser Verein ist nie ins Leben getreten, da er für die innerpolitische Entwicklung in Österreich eine zu große Gefahr bedeutet hätte. In der Proponentenliste für die Führer dieses Vereins aber scheinen die Namen auf, die in der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich das größte Gewicht besaßen, darunter auch der Name des Beschuldigten [Anm.: Ing. Anton Reinthaller]. Die meisten dieser Männer stehen nun mehr auf der österreichischen Kriegsverbrecherliste. Es wird dem Beschuldigten auch zur Last gelegt, daß er dem oben erwähnten Siebenerausschuß, dessen Tätigkeit in späterer Zeit von der österreichischen Regierung nicht mehr geduldet wurde, in seiner späteren Zusammensetzung angehört hat.581

Daran anschließend wird gegen Ing. Reinthaller bereits der Vorwurf erhoben, dass er im März 1938 als Minister des Kabinetts Seyß-Inquart das Anschlussgesetz unterschrieb. Da er auf die Österreichische Verfassung vereidigt worden war, habe er damit auch Hochverrat begangen. Abschließend wird die Behauptung einer besonderen Stellung Reinthallers in der NS-Bewegung auch damit begründet, dass man versucht, eine solche aus seinen Funktionen abzuleiten. So wird angeführt, dass er Minister im Anschlusskabinett war, später Landesbauernführer der Landesbauernschaft Donauland, Mitglied des Reichsbauernrates und des Landesbauernrates, Gauamtsleiter für Agrarpolitik im Gau Niederdonau, Landesjägermeister, Beauftragter des Reichsforst581 Das ist aber unrichtig (Aussage Franz Langoth, Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv, AS 295 verso). Tatsächlich gehörten dem Siebenerausschuss (auch bezeichnet als Siebenerkomitee) Leopold Tavs, Hugo Jury und Gilbert In der Maur von der österreichischen NS-Landesleitung in München, Egbert Mannlicher als Vertrauensmann des Edmund Glaise-Horstenau, sowie Ferdinand Wolsegger und Stefan Berghammer als Vertrauensleute des Odo Neustädter-Stürmer, Mitglied der Regierung Schuschnigg, und Univ.Prof. Dr. Oswald Menghin an (Wolfgang Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 113). Zur Rolle des Neustädter-Stürmer als ehemaligem Chefideologen der am 10. Oktober 1936 aufgelösten Heimwehren in der Regierung Schuschnigg siehe Wolfgang Rosar, Deutsche Gemeinschaft, 101ff.

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meisters für das Fortwesen im Land Österreich, Mitglied des Deutschen Reichstages, Präsident der Versicherungsgesellschaft Ostmark und der Niederösterreichischen Brandschadenversicherungsgesellschaft und Verwaltungsrat der Deutschen Rentenbank-Creditanstalt. Schließlich wird darauf verwiesen, dass Reinthaller am 25. Juli 1938 zum SS-Oberführer ernannt wurde. Gemäß dem Haftbefehl wird Ing. Reinthaller im Auftrag der amerikanischen Militärregierung durch die bayrische Polizei am 01. Juli 1949 verhaftet und nach Traunstein eingeliefert.582 Am 27. Juli 1949 wird er dort von österreichischen Kriminalbeamten abgeholt und durch die russische Besatzungszone nach Wien gebracht, wo er am 29. Juli 1949 um 23 Uhr im Gefangenenhaus des Landesgerichts für Strafsachen Wien eingeliefert wird.583 Dort werden über ihn zunächst die Verwahrungshaft und dann die Untersuchungshaft verhängt.584 Die Untersuchungshaft dauert bis zum 26. Oktober 1950585, als das Volksgericht Wien das Urteil verkündet und die Haftzeiten vom 28. August 1945 bis 13. November 1948 und vom 01. Juli 1949 bis zum 26. Oktober 1950 gemäß § 55a StG auf die verhängte Haftstrafe von drei Jahren anrechnet586. 8.1.2 Dokumentation

Die Tätigkeit des Ing. Reinthaller für die NS-Bewegung und die von ihm nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich ausgeübten Funktionen sind behördlich gut dokumentiert. Nach der Abschrift des Personalbogens des ehemaligen Reichsnährstandes der Landesbauernschaft Niederdonau587 sind zunächst die allgemeinen Personaldaten erfasst wie Mettmach als Geburtsort, das Geburtsdatum 14. April 1895, als Stand und Beruf Bauer, Forstingenieur, Minister für Landwirt582 Vernehmungsprotokoll vom 30.08.1949, ON 39 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, worin die Bekanntgabe dokumentiert ist, dass die Untersuchungshaft verhängt wird. 583 Bericht des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 19.11.1949 an das Bundesministerium für Justiz, ON 44 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu VG 7d Vr 2068/49, vormals 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 584 Vernehmungsprotokoll vom 30.08.1949, ON 39 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 585 Antrag des mit der Vertretung des Bundesministers für Justiz betrauten Bundesministers für Inneres auf Begnadigung von Ing. Reinthaller vom 09. August 1951 zu 60.736/51, S. 2 verso. 586 Urteil des Volksgerichts Wien vom 26.10.1950 zu Vg 1h 238/50, Urteilsausfertigung im Rechtsanwaltshandakt Dr. Tiefenbrunner, S. 2. 587 Beilage zum Bericht der Polizeidirektion Wien an das Volksgericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 04. März 1947 im Gerichtsakt des Volksgerichts zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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schaft, Landesbauernführer. Es folgen die Daten der Ehegattin Therese Ritzberger-Oehn, geboren am 02. Juni 1901 in Alkoven. Die Ehegatten sind jeweils römisch-katholisch. Sie haben eine Tochter, die am 26. Dezember 1926 geboren ist. Es folgen Angaben zur Stellung im Reichsnährstand, Zugehörigkeit zur Partei oder Bewegung und öffentliche Ämter. Als Amt wird angegeben Landesbauernführer und als Dienstbereich Landesbauernschaft Donauland. Des Weiteren wird die Mitgliedschaft im Reichsbauernrat und im Landesbauernrat angeführt. Ausdrücklich angeführt wird, dass keine sonstigen Ämter im Reichsnährstand bestehen. Laut Personalbogen bestand die Mitgliedschaft im agrarpolitischen Apparat durch die Eigenschaft als Gauamtsleiter für Agrarpolitik im Gau Niederdonau. Die NSDAP-Mitgliedsnummer wird übereinstimmend mit den anderen Dokumentationen mit 83.421 angegeben, das Eintrittsdatum ebenso übereinstimmend mit 23. April 1928. Unter der Rubrik „Inhaber des Goldenen Parteiabzeichen“ wird „Anwärter“ angegeben. Unter der Rubrik „Inhaber des Blutordens der Partei“ wird angegeben, dass an Ing. Reinthaller dieser Orden nicht verliehen wurde. Die Mitgliedschaft bei der SS und die am 25. Juli 1938 erfolgte Ernennung zum SS-Oberführer sind erfasst. Angeführt wird auch die Mitgliedschaft im Reichstag. An sonstigen Ämtern werden angeführt Landesjägermeister, Beauftragter des Reichsforstmeisters für das Forstwesen im Lande Österreich, Präsident der Versicherungsgesellschaft Ostmark, Präsident der Niederösterreichischen Brandschadenversicherung, Verwaltungsrat der Deutschen Rentenbank-Creditanstalt. Unter beruflicher und politischer Werdegang wird zunächst die berufliche Ausbildung an der Hochschule für Bodenkultur angeführt und dann die Tätigkeit als Ingenieur der Wildbachverbauung. Als politischer Werdegang werden – was sich im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Strafverfahrens als brisant erweist – eine „illegale Tätigkeit als Kreispropagandaleiter, Gauredner und Führer der illegalen n.s. Bauernschaft in Österreich“ angegeben. Abschließend wird der Militärdienst von Ing. Reinthaller vom April 1915 bis Juli 1918 beim Feldartillerieregiment 102 angeführt, den er zum Teil in Kriegsgefangenschaft verbrachte, sowie seine militärische Dienststellung als Oberleutnant der Reserve und die ihm verliehene Auszeichnung der Silbernen Tapferkeitsmedaille I. und II. Klasse. In einer Meldung der Polizeidirektion Wien vom 04. August 1947588 wird neben der NS-Mitgliedsnummer 83.421 auch die SS-Nummer 292.775 angegeben. Angeführt wird, dass Ing. Reinthaller mit Wirkung vom 12. März 1938 zum SS-Standartenführer und aufgrund seiner Verdienste um die NSDAP am 25. Juli 1938 zum 588 Meldung der Abteilung I. – Kriminalbeamtenabteilung der Polizeidirektion Wien vom 04. August 1947, ON 93 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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SS-Oberführer unter gleichzeitiger Ernennung zum Führer der 18. SS-Standarte, geführt im SS-Oberabschnitt Donau, befördert wurde. Des Weiteren wird angegeben, dass er Träger des SS-Zivilabzeichens 162.221, des Parteiabzeichens der NSDAP in Gold, der 10- sowie 15-jährigen Dienstauszeichnung, der Ostmark- und Sudetenmedaille, des SS-Degens war, und zum Tragen des Ehrenwinkels für „Alte Kämpfer“ berechtigt war. Schließlich wird angeführt, dass Ing. Reinthaller im Jahr 1940 zum Unterstaatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft ernannt wurde, im Jahr 1942 Landesbauernführer in Niederdonau war und seit der 4. Wahlperiode 1938 dem Reichstag angehörte. In einem Bericht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 25. Jänner 1950589 weiß man ergänzend zu berichten, dass Ing. Reinthaller ab 30. Jänner 1941 SS-Brigadeführer war. 8.1.3 Vermögenssicherung

Zunächst stand das landwirtschaftliche Gut im Ort Mühlbach Nr. 6 der Gemeinde Attersee aufgrund des Dekrets 032025 VÖ der Property Control Section der amerikanischen Militärregierung unter öffentlicher Aufsicht des landwirtschaftlichen Treuhandverbandes für Oberösterreich in Linz. Mit der Verfügung der amerikanischen Militärregierung vom 02. Juni 1947 wurde diese öffentliche Aufsicht aufgehoben, jedoch wurde der Treuhandverband von der Österreichischen Regierung angewiesen, die Aufsicht bis auf weiteres beizubehalten.590 Ursprünglich war dann die Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis vom Wiener Magistrat mit der Durchführung der Beschlagnahme des in ihrem Wirkungsbereich gelegenen Vermögens des Ing. Reinthaller beauftragt worden. Im Hinblick darauf, dass sich dieses Vermögen über den Bereich mehrerer Bezirkshauptmannschaften erstreckte, bat diese das Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, diese Beschlagnahmung durchzuführen. Das Amt der Oberösterreichischen Landesregierung ersuchte daher das Landesgericht für Strafsachen Wien, es gemäß § 10 Abs. 1 des Volksgerichtsverfahrens- und Vermögensverfallsgesetz 1947 mit der Durchführung der Beschlagnahme des in Oberösterreich gelegenen Vermögens von Ing. Reinthaller zu betrauen.591 Das Amt 589 Bericht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit des Bundesministeriums für Inneres der Republik Österreich vom 25. Jänner 1950 zu Zl. 66.471-2/49, ON 86 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, vormals Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 590 Schreiben des Wiener Magistrats, Magistratsabteilung 62 vom 17. September 1949 zu 62/12112/47, ON 22 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 591 Schreiben des Amts der Oberösterreichischen Landesregierung vom 02.12.1947 zu VS. Zl. -2012/10-1947, ON 25 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv.

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der Oberösterreichischen Landesregierung erfasste als Vermögen von Ing. Reinthaller einen von der Familie dessen Ehegattin stammenden Waldhof in Mühlbach Nr. 6, Gemeinde Attersee, im Ausmaß von 74,63 ha, eine Landwirtschaft in Mettmach Nr. 3 im Ausmaß von 44,31 ha, die Kellerei Weiffendorf in Mettmach, ein unbebautes Grundstück in Salzburg-Parsch und ein Miethaus in Linz, Bethlehemstr. 35. Mit Beschluss des Volksgerichts Wien vom 11. Jänner 1947 wurde die Magistratsabteilung 62 des Wiener Magistrats beauftragt, die Beschlagnahme des Vermögens des Beschuldigten Ing. Anton Reinthaller durchzuführen.592 Die Agenden der Magistratsabteilung 62 wurden in weiterer Folge auf die beim Magistrat der Stadt Wien eingerichtete Zentralstelle für Vermögenssicherungsangelegenheiten, öffentliche Verwaltungen und Forderungen gegen Alliierte Besatzungsmächte übertragen. Mit Bescheid vom 19. August 1948 zu VS. Zl. 271/6-1948 bestellte das Amt der Oberösterreichischen Landesregierung den landwirtschaftlichen Treuhandverband für Oberösterreich zum Verwalter des Vermögens des Beschuldigten. Allerdings wurde mit dem darauf folgenden Bescheid der Oberösterreichischen Landesregierung vom 04. Juni 1949 die öffentliche Verwaltung wieder aufgehoben und das Vermögen an die Gattin des Beschuldigten, Theresia Reinthaller, übergeben. Mit Note vom 12. Oktober 1949 bat der Magistrat der Stadt Wien das Volksgericht Wien um Mitteilung, wenn gegen den Beschuldigten ein Vermögensverfallserkenntnis ergeht. Nach dem vom Volksgericht Wien mit Urteil vom 26. Oktober 1950 verhängten Vermögensverfall machte Dr. Günther allerdings erfolgreich den Umstand geltend, dass die Hälfte des Immobilienvermögens Theresia Reinthaller wegen eines zwischen ihr und Anton Reinthaller im April 1935 abgeschlossenen Ehepakts593, mit dem die beiden eine allgemeine Gütergemeinschaft begründeten, zusteht und damit dem Vermögensverfall entzogen ist.594 Eine Verwertung des vom Verfall umfassten Vermögens wurde bis zum Abschluss des Strafverfahrens aufgeschoben.595 592 Note des Magistrats der Stadt Wien – Zentralstelle für Vermögenssicherungsangelegenheiten, öffentliche Verwaltungen und Forderungen gegen Alliierte Besatzungsmächte vom 12. Oktober 1949 zu Zl. 1914/49, ON 42 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7d Vr 2068/49, vormals 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 593 Abschrift des Notariatsakts vom 25.04.1935, errichtet vor dem öffentlichen Notar Dr. Valentin Walden mit Sitz in Frankenmarkt (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner). 594 Abschriften der Eingaben von RA Dr. Karl Günther für Theresia Reinthaller bei der Abteilung für Vermögenssicherung der Oberösterreichischen Landesregierung vom 26.02. und 24.04.1951 zu VSI-56/51; Abschrift der Note des Amts der Oberösterreichischen Landesregierung vom 04.04.1952 zu VS-832/1-1952 an den Magistrat der Landeshauptstadt Linz, wonach der Notariatsakt mit dem Ehepakt vom Bundesministerium für Finanzen anerkannt und die entsprechende Berichtigung des Grundbuchstands veranlasst wurde (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner). 595 Vgl. Eingabe des Dr. Otto Tiefenbrunner bei der Abteilung Vermögenssicherung des Bundesministeriums für Finanzen zu 150.060/6-32-51.

Die Voruntersuchung

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8.1.4 Einschreiten des Dr. Günther 8.1.4.1 Eingabe vom 09. Juli 1949

Als erster der Verteidiger schreitet Rechtsanwalt Dr. Karl Günther ein. Seine erste Eingabe beim Volksgericht Wien erfolgt bereits am 09. Juli 1949.596 Darin gibt er zunächst bekannt, dass er als Rechtsbeistand von Ing. Reinthaller einschreitet, und legt eine entsprechende Vollmachtsurkunde vor, die Ing. Reinthaller am 09. Juni 1949 in Traunstein unterzeichnet hat.597 Daraus ergibt sich, dass Ing. Reinthaller, noch bevor er am 01. Juli 1949 aufgrund des österreichischen Auslieferungsansuchens in Bayern verhaftet wurde598, die Vollmacht an seinen Rechtsanwalt Dr. Günther erteilte. Diese Vollmachtsurkunde enthält bereits eine Subvollmacht (Substitutionsvollmacht) von Dr. Karl Günther an Rechtsanwalt Dr. Hans Haider vom 09. Juli 1949, wonach Dr. Hans Haider anstelle von Dr. Karl Günther als Verteidiger Reinthallers einschreiten darf. Mit dieser Eingabe vom 09. Juli 1949 stellt Dr. Günther auch einen Antrag auf Einstellung des Strafverfahrens. Die Begründung dieses Antrags enthält bereits wesentliche Einwände der Verteidigung. So wird zunächst die strafbare Illegalität in Abrede gestellt. Zugestanden wird, dass Ing. Reinthaller der NSDAP bereits bald nach deren Gründung beigetreten ist und auch schon vor dem Parteiverbot höhere Funktionen innehatte. Des Weiteren wird auch zugestanden, dass Ing. Reinthaller Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP ist. Eine illegale Betätigung in Österreich während des Parteiverbots wird aber bestritten. Dabei verweist Dr. Günther auf die „Aktion Reinthaller“. Daraus ergäbe sich, dass keine illegale Betätigung erfolgt sein kann, weil Ing. Reinthaller dabei nur mit Wissen und Willen der damaligen Regierungsstellen tätig war. Dabei verweist Dr. Günther auch auf den Umstand, dass zwei ehemalige Mitarbeiter von Ing. Reinthaller, Ing. Hugo Bohrn und Paul Krennwallner, jeweils vom Volksgericht Linz von der Anklage des Hochverrats wegen Illegalität freigesprochen wurden.599 In diesem Zusammenhang beruft sich 596 Eingabe des RA Dr. Karl Günther vom 09.07.1949, nach dem Eingangsvermerk eingelangt am 22. Juli 1949, im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46 (danach Vg 7d Vr 2068/49), OÖ Landesarchiv. Wobei Dr. Günther nach eigenen Angaben bereits seit 13.07.1947 als Anwalt für Ing. Reinthaller tätig war und für dessen deutsche Verteidiger Unterlagen beischaffte (Abschrift der Eingabe des Dr. Günther beim Bundesministerium für Finanzen vom 19.09.1951 zu 150.060 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner). 597 Strafvollmacht vom 09. Juni 1949, vorgelegt von RA Dr. Karl Günther mit dessen Eingabe vom 09.07.1949, im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 598 Siehe vorstehend Kapitel 8.1.1. – Haft und Sicherungsmaßnahmen. 599 Im Fall des Paul Krennwallner durch die Außenstelle Salzburg des Volksgerichts Linz.

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Der Strafprozess im Detail

Dr. Günther auch bereits auf den Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner und den früheren oberösterreichischen Sicherheitsdirektor Peter Graf Revertera. Gegen den Vorwurf, Ing. Reinthaller habe durch seine Mitwirkungen am Anschlussgesetz den Hochverrat nach § 8 KVG begangen, argumentiert Dr. Günther, dass damit nicht auf eine gewaltsame Änderung der Regierungsform abgezielt wurde, und dass Ing. Reinthaller damit auch nicht in strafbarer Weise die Machtergreifung durch die NSDAP vorbereitet oder gefördert hat. Dabei macht er geltend, dass dieses Bundesverfassungsgesetz vom 13. März 1938 über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich gemäß den damals geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen erlassen wurde, und verweist darauf, dass es für Sonntag, den 10. April 1938, eine freie und geheime Volksabstimmung vorsah, in der die Mehrheit der abgegebenen Stimmen über die Wiedervereinigung entscheidet.600 Außerdem führt er als Persönlichkeiten an, die nach der Volksabstimmung in öffentlichen Kundgebungen ausdrücklich anerkannt haben, dass der Anschluss Österreichs an Deutschland damit legal erfolgte, den damaligen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas, den im Zeitpunkt der Eingabe amtierenden Bundespräsidenten Karl Renner601 und seine Eminenz Kardinal Dr. Theodor Innitzer, deren Zeugenvernehmungen er beantragt.602 Dr. Günther weist auch auf den Umstand hin, dass Ing. Reinthaller in dessen politischem Wirken und insbesondere in dessen fachlichen Wirkungsbereich im Gegensatz zu einigen NS-Funktionären stand, er habe „heftige Kämpfe mit dem berüchtigten Landesinspektor Habicht, mit Hauptmann Leopold, mit Gauleiter Eigruber, Reichsleiter Schirach, Reichsleiter Bormann und selbst mit Reichsleiter Himmler“ führen müssen, „um wenigstens in seinem Wirkungskreis Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen“. Ing. Reinthaller habe es für seine Pflicht gehalten, auf seinem Posten bis zuletzt auszuharren, „nicht deshalb, um die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über Österreich aufrecht zu erhalten, sondern einzig und allein um auch weiterhin möglichst vielen Österreichern zu helfen und dem Bauernstand und der 600 Siehe aber zur Volksabstimmung als Scheinlegitimierung der Macht Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 242ff. 601 Dr. Karl Renner war der erste österreichische Bundespräsident nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war noch von der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt worden. Die Wahl der Bundesversammlung erfolgte einstimmig am 20. Dezember 1945. Dr. Renner übte dieses Amt bis zu seinem Tod am 31. Dezember 1950 aus. Zu der am 02. April 1938, und damit bereits vor der Volksabstimmung abgegebenen Anschlusserklärung von Karl Renner und dessen Motiven, siehe eingehend Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 184ff. 602 Zum Verhalten des Kardinal Innitzer beim Anschluss siehe Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 157ff.

Die Voruntersuchung

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Landwirtschaft in Österreich große Nachteile zu ersparen“. Dabei führt Dr. Günther auch an, dass Ing. Reinthaller während der NS-Zeit bestrebt war, „die fachliche Organisation der österreichischen Bauernschaft und der Landwirtschaft ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit der Funktionäre und Beamten aufrecht zu erhalten“, und dass er sich bemüht hat, Personen „vor jeder Verfolgung zu bewahren“.603 Schließlich wendet sich Dr. Günther gegen die Rückwirkung der Strafbestimmungen des § 10 und § 11 VG und des § 8 KVG, nach denen das Strafverfahren geführt wird. Dabei verweist er unter Bezugnahme auf die damalige Absicht der Republik Österreich, der UNO604 beizutreten, inhaltlich auf die UN-Deklaration der Menschenrechte605, die ein Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen enthält, und argumentiert rechtlich, dass gemäß Art. 9 B-VG606 diese Deklaration und damit das darin enthaltene Rückwirkungsverbot als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts auch in Österreich anzuwenden sind. Des Weiteren führt Dr. Günther auch eine Reihe von Staaten an, deren Rechtsvorschriften ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot beinhaltet607, wobei er auch auf das im Deutschen Grundgesetz verankerte Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG)608 Bezug nimmt. 603 Eingabe des RA Dr. Karl Günther vom 09.07.1949, nach dem Eingangsvermerk eingelangt am 22. Juli 1949, ON 33 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46 (danach Vg 7d Vr 2068/49), OÖ Landesarchiv, S. 5. 604 Organisation der Vereinten Nationen, am 26.6.1945 in San Francisco von 51 Staaten gegründete Nachfolgeorganisation des Völkerbunds. Österreich trat der UNO am 14.12.1955 als 70. Mitglied bei. 605 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diese Deklaration ist zu unterscheiden von der Europäischen Menschenrechtskonvention – MRK (Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten) als völkerrechtlichem Vertrag vom 04. November 1950, dem Österreich 1958 beigetreten ist (BGBl 1958/210), siehe vorstehend FN 135. Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „1. Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist. 2. Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.“ Siehe im Vergleich dazu Art. 7 MRK, vorstehend FN 156. 606 Artikel 9 Bundes-Verfassungsgesetz in der damals geltenden Fassung StGBl 1945/4: „Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes gelten als Bestandteile des Bundesrechtes.“ 607 Eingabe des RA Dr. Karl Günther vom 09.07.1949, eingelangt am 22. Juli 1949, ON 33 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46 (danach Vg 7d Vr 2068/49), OÖ Landesarchiv, S. 5f. 608 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, In Kraft getreten am 24. Mai 1949. Art. 103 GG: „(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

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Der Strafprozess im Detail

Dr. Günther legt mit dieser Eingabe zu den Beweisthemen, dass Ing. Reinthaller sich anständig und redlich verhielt, und dass er ein politischer Idealist war, und Gewaltmethoden ablehnte, und dass er kein Lagerdenken prästiert, sondern sich jedem Menschen gegenüber unabhängig von dessen politischer Einstellung und Parteizugehörigkeit sachlich und korrekt verhielt, und dass es ihm nicht um Parteipolitik ging, sondern um Sachpolitik für die Landwirtschaft, und dass er sogar Verfolgten des NS-Regimes Hilfestellung leistete, mit seiner ersten Eingabe nicht weniger als 32 Eidesstattliche Erklärungen oder Bestätigungen vor.609 Aus der Datierung der Schreiben und dem Umstand, dass diese von Dr. Günther gesammelt wurden und zum Teil auch direkt an ihn adressiert sind, ergibt sich, dass Dr. Günther spätestens bereits im Herbst 1947 begonnen hatte, diese „Leumundszeugnisse“ einzuholen.610 Der Landeshauptmann von Oberösterreich, Dr. Heinrich Gleißner, gibt in seiner Eidesstättigen Erklärung vom 29. Mai 1948611 bekannt, dass Ing. Anton Reinthaller ihm seit dem Jahre 1933 bekannt ist. Er meint, dass Ing. Reinthaller ein offener Anhänger der nationalsozialistischen Idee war, aber ein entschiedener Gegner von Gewaltmethoden. Ing. Reinthaller habe sich den Anschluss unter Aufrechterhaltung der Selbständigkeit Österreichs vorgestellt. Dr. Gleißner meint zu wissen, dass Ing. Reinthaller sehr enttäuscht war, als die weitere Entwicklung nach 1938 dessen

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ 609 Beilagen zur Eingabe des RA Dr. Günther vom 09. Juli 1949 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, im Folgenden zitiert als Beilage mit Nummer der Beilage. Zu der Richtigkeit (Verlässlichkeit) derartiger schriftlicher Erklärungen und Bestätigungen ist anzumerken, dass die Herstellung oder Verwendung von solchen Urkunden, die falsche Angaben enthalten, gemäß § 197 iVm § 461 StG 1852 strafbar war (heute § 293 StGB; vgl. RV 30 BlgNR XIII. GP 443f ). Die falsche Aussage vor Gericht war nach § 199 lit. a. StG 1852 strafbar (heute § 288 StGB; vgl. RV 30 BlgNR XIII. GP 433ff). 610 Nach seiner eigenen Aussage (Kapitel 8.1.5.) stellte er diese auch dem Verteidiger des Ing. Reinthaller in Nürnberg zur Verfügung. An anderer Stelle führte Dr. Günther aus, dass er seit 13.07.1947 für die in Deutschland tätigen Verteidiger des Ing. Reinthaller, Dr. habil. Hans Merkel, mit Kanzleisitz in Augsburg, und Dr. Felix Behmer, mit Kanzleisitz in Traunstein, Unterlagen für die Einstellung der in Nürnberg und Traunstein anhängigen Strafverfahren beischaffte (Abschrift der Eingabe des Dr. Günther beim Bundesministerium für Finanzen vom 19.09.1951 zu 150.060 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner). Ing. Reinthaller selbst teilte in seiner Vernehmung mit, dass Dr. Günther „verschiedene Affidavits“ zunächst für das gegen ihn vorgesehene „Spruchkammerverfahren in Bayern zusammengetragen“ hatte (Aussage Ing. Anton Reinthaller, Vernehmungsprotokoll ON 39 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 383/45, OÖ Landesarchiv, AS 153y verso). 611 Beilage 1.

Die Voruntersuchung

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Erwartungen widersprach. Es sei auch bekannt, dass Ing. Reinthaller in zunehmendem Gegensatz zu den Berliner Zentralstellen stand und von diesen ja auch in seinem Einfluss immer mehr ausgeschaltet wurde. Zu den menschlichen Qualitäten Reinthallers führt Dr. Gleißner aus, aus eigener Erfahrung feststellen zu können, „dass Ing. Reinthaller bestrebt war, Unrecht zu vermeiden, zu beheben und Härten zu erleichtern“. Seine Eidesstättige Erklärung setzt Dr. Gleißner mit den folgenden Worten zu seiner Person und zu Ing. Reinthaller fort: Als ich in Dachau in Haft war, hat er meiner Frau in jeder Weise geholfen bei ihren Bemühungen, mich freizubekommen. Er hat sicherlich ein Verdienst daran, daß ich nach eineinhalb Jahren entlassen wurde. Als ich das zweite Mal verhaftet wurde und im KZ Buchenwald war, hat er neuerlich seine Verbindungen eingesetzt, um wiederum meine Freilassung zu erreichen. Ich möchte diese Unterstützung, die er während meiner Haft meiner Frau gewährt hat, zu seinen Gunsten zur Kenntnis bringen. Ich habe auch von einer Reihe anderer Fälle gehört, in denen sich Ing. Reinthaller politischen Gegnern gegenüber absolut anständig, menschlich und hilfsbereit benommen hat. Ich füge zur Orientierung über meine Person bei, daß ich vor 1938 im Heimatland Ing. Reinthallers Landeshauptmann war und daher seine Tätigkeit und seinen Charakter kenne. Nach Aufenthalt in verschiedenen Gefängnissen und in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald hatte ich nach meiner Entlassung keine Erlaubnis, mich in Österreich niederzulassen. Ich kam erst im Jahre 1945 aus Berlin nach Oberösterreich, wo ich seitdem wieder als Landeshauptmann tätig bin. Ich kann feststellen, daß Ing. Reinthaller im ganzen Land Oberösterreich den Ruf eines anständigen, jede Gewalt und jedes Unrecht verabscheuenden Menschen genießt, der wohl politische Gegner, aber keinen persönlichen Feind hatte.

Peter Graf Revertera-Salandra macht in seiner Eidesstättigen Erklärung vom 10. Mai 1948612 die folgende Mitteilung: Zur Beurteilung des Verhaltens des früheren Landwirtschaftsministers und Unterstaatssekretärs Herrn Ing. Anton Reinthaller: „Ich war bis 13.03.1938 Mitglied der o.ö. Landesregierung und Sicherheitsdirektor für Oberösterreich in Linz. In dieser Eigenschaft habe ich auch Herrn Ing. Anton Reinthaller kennengelernt und stand mit ihm dauernd in Fühlung. Er war der Führer jener Gruppe oberösterreichischer Nationalsozialisten, welche jeden Terrorakt ablehnten und bestrebt waren, mit der damaligen Regierung zu einem erträglichen Übereinkommen zu gelangen. Er stand auch in vollem Gegensatze zu dem damali612 Beilage 2.

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gen Landesleiter Habicht und zu anderen radikalen Parteiführern. Er hat auch eine eigene Befriedungsaktion eingeleitet und der damaligen Regierung tatsächlich wertvolle Dienste geleistet. Nach der Machtergreifung der NSDAP in Österreich trat er offen gegen jede Vergewaltigung und gegen jeden Terror gegenüber den Anhängern der früheren österreichischen Regierung auf. Er verhinderte tatsächlich bei vielen Persönlichkeiten derartige Verfolgungen. Auch bei mir verhinderte er nach Kräften jede Verfolgung, er hat mich sogar gleich nach der Machtergreifung, obwohl ich der Partei nicht angehörte und auch als Mitglied derselben nicht in Frage kam, zum Gaujägermeister vorgeschlagen. Dieser Vorschlag wurde jedoch durch radikale Parteimänner zu Fall gebracht. Ich kann Herrn Ing. Reinthaller jedenfalls das Zeugnis ausstellen, daß er seine Angehörigkeit zur NSDAP und seine Stellungen nie mißbrauchte und offensichtlich das Ziel verfolgte, die österreichisch eingestellten Kreise vor jeder Verfolgung zu schützen.

Ein früherer Mitschüler von Ing. Reinthaller in der Bundesrealschule Linz, Dr. Hans Frenzel, Bundesminister a. D., Vizepräsident des Rechnungshofes, attestiert in seiner Eidesstattlichen Erklärung vom 24. Mai 1948613 Ing. Reinthaller „ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl“, das „alle seine Handlungen beherrschte“. Es sei ihm bekannt, dass Ing. Reinthaller „als Mitschüler auch gegen vermeintliche Ungerechtigkeiten von Professoren auftrat“. Diesen Gerechtigkeitssinn habe Ing. Reinthaller sich auch in seinem späteren Leben bewahrt. Dr. Frenzel erzählt von einem Besuch bei Ing. Reinthaller, bei dem dieser mit ihm seine Auseinandersetzung mit Baldur von Schirach erörterte, wobei Ing. Reinthaller geglaubt habe, dass er durchdringen werde, was aber dann nicht der Fall war. Beim 25-jährigen Maturajubiläum im Jahre 1939 war Dr. Frenzel nach seinen Angaben in einer außerordentlich bedrängten Lage, nachdem er zuvor aus der Gestapohaft entlassen und nach „§ 4 der Verordnung zur Reinigung des österreichischen Berufsbeamtentums“614 pensionslos aus dem Dienst entlassen worden war. 613 Beilage 3. 614 § 4 der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums, Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/160: „(1) Beamte, die nach ihrem bisherigen politischen Verhalten nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten, können in den Ruhestand versetzt werden; dies gilt vor allem für Beamte, die gegen die nationalsozialistische Bewegung und ihre Anhänger gehäßig aufgetreten sind oder ihre dienstliche Stellung dazu mißbraucht haben, um völkisch gesinnte Volksgenossen zu verfolgen, zurückzusetzen oder sonst zu schädigen. Auf die Dauer von drei Monaten nach der Versetzung in den Ruhestand werden ihnen ihre bisherigen Dienstbezüge mit Ausschluß der Nebengebühren belassen. Nach Ablauf der drei Monate erhalten sie drei Viertel des Ruhegenußes (Abfertigung); § 3 Abs. 1, Satz 2 gilt auch hier [§ 3 Abs. 1 Satz 2: ,Sie erhalten Ruhegenuß (Abfertigung) nach den für die Versetzung in den Ruhe-

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Dr. Frenzel teilt mit, dass er nicht die Absicht gehabt habe, an der Feier teilzunehmen, um Ing. Reinthaller um Hilfe zu bitten; er rechne diesem es daher hoch an, dass er ohne seine Bitte sich sofort seiner angenommen habe, sich den Sachverhalt seiner Verfolgung genauestens habe erzählen lassen und sich tatsächlich auch für ihn bei der Reichsstatthalterei in Wien und an anderen ihm nicht bekannten Stellen eingesetzt habe. Dr. Frenzel habe auch durch den Personalamtsleiter der Kreisleitung Linz, Linemayr, der ihm gut gesonnen sei, die vertrauliche Nachricht erhalten, dass man Ing. Reinthaller von höheren Parteidienststellen der NSDAP Vorwürfe gemacht habe wegen seines Eintretens für ihn. Ing. Reinthaller sei es auch gelungen, den Abtransport von Dr. Frenzel nach Dachau zu verhindern und seine Freilassung aus der Gestapohaft nach 15 Wochen durchzusetzen. Dr. Frenzel betont, Ing. Reinthaller umso mehr dankbar zu sein, als dieser nicht im geringsten Zweifel gewesen sei, dass Dr. Frenzel mit den Nationalsozialisten nie sympathisierte und auch nicht sympathisieren werde. Dr. Frenzel hatte auch nach dem Krieg mit Ing. Reinthaller Kontakt, als Ing. Reinthaller auf Anordnung der alliierten Militärbehörden bei ihm in Hausarrest war, und weiß zu berichten, dass dieser regen Anteil an dem Geschick des neuen Österreich nahm. Außerdem sei Ing. Reinthaller ihm mit dessen reicher Erfahrung als ehemaliger Landwirtschaftsminister stets mit guten Ratschlägen zur Seite gestanden. Dr. Frenzel schließt seine Erklärung mit den folgenden Worten: Das vorstehend Geschriebene entspricht vollständig der Wahrheit und gebe ich diese Erklärungen an Eides statt. Ich betone auch noch ausdrücklich, daß nichts von dem vorstehend Niedergelegten aus Dankbarkeit schöner gefärbt wurde, sondern daß ich mich streng an Tatsachen hielt. Weiters erkläre ich, daß ich stets Gegner des Nationalsozialismus war und mit der Partei und deren Gliederungen nie etwas zu tun hatte.





stand wegen Dienstunfähigkeit geltenden Vorschriften; einen fortlaufenden Ruhegenuß erhalten sie nur dann, wenn sie eine für die Ruhegenußbemessung anrechenbare Dienstzeit von mindestens 10 Jahren haben.‘] In schwereren Fällen kann der Ruhegenuß (Abfertigung) bis auf die Hälfte herabgesetzt oder statt der Versetzung in den Ruhestand die Entlassung des Beamten verfügt werden. (2) Auf Beamtenanwärter (Gleichgestellte) und Aspiranten ist Abs. 1 mit der Änderung anzuwenden, daß an die Stelle der Versetzung in den Ruhestand die Auflösung des Dienstverhältnisses gegen eine Abfertigung in Höhe von drei Vierteln des letzten Bruttomonatsbezuges oder der letzten Beihilfe tritt. In schwereren Fällen kann die Auflösung des Dienstverhältnisses ohne Abfertigung verfügt werden. (3) Der Abs. 1 findet auf Beamte, die seit dem 01. März 1933 in den zeitlichen oder dauernden Ruhestand getreten sind, dem Sinne nach Anwendung. Ihnen kann auch ein auf Grund des § 1 Abs. 3 der Verordnung der ehemaligen österreichischen Bundesregierung, BGBl 175/1926 (Amtstitelverordnung) verliehener Amtstitel wieder entzogen werden.“

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Minister a. D. Peter Mandorfer, Präsident der Oberösterreichischen Landwirtschaftskammer, gibt in seinem Schreiben vom 13. Mai 1948615 als Vorgänger von Ing. Reinthaller im Amt des Landwirtschaftsministers [Anm.: Amtszeit 15. Mai 1936 bis 11. März 1938] kurz und bündig an, dass Ing. Reinthaller sich im Jahre 1938 bei der Geschäftsübernahme im Landwirtschaftsministerium in Wien ihm gegenüber untadelig verhalten und ihm auch später nie irgendwelche Schwierigkeiten bereitet hat. Der Erzbischöfliche Sekretär, Domkapitular Dr. J. Weinbacher, gibt für das Erzbischöfliche Sekretariat im Auftrag seiner Eminenz Kardinal Innitzer die Erklärung vom 12. August 1948616 ab, dass seitens der Kreisbauernschaft Gänserndorf im Jahr 1938 gegen die landwirtschaftlichen Betriebe des Erzbistums eine feindselige Haltung eingenommen und deren Betrieb erschwert wurde, und im Jahr 1941 der Versuch unternommen wurde, das Bergfeld in Untersiebenbrunn vom Erzbistum abzutrennen und an die Kleinbauern zu verteilen, und im Jahr 1943 dem Erzbistum ein schwerer Sabotageakt unterstellt wurde, damit die Gestapo zu seinem Nachteil einschreitet. Diese Angriffe konnten aber erfolgreich abgewehrt werden durch den Oberstabsleiter Ing. Meisel, der dem Leiter der Kreisbauernschaft Gänserndorf, Stabsleiter Ing. Otto, übergeordnet war, wobei Ing. Meisel mit dem Wissen und der Billigung Ing. Rein­ thallers handelte, ohne den diese Abwehr nicht möglich gewesen wäre. Der Sektionschef im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Dr. Reichmann, bestätigt in seinem Schreiben vom 19. Mai 1948617, dass Ing. Reinthaller sich ihm gegenüber stets korrekt und loyal benommen hat. Er habe Ing. Reinthaller vor der Besetzung Österreichs nicht gekannt. Nach der Besetzung habe er erkennen müssen, dass einige, ihm unbekannte Personen gegen ihn als Beamten und gegen seine Belassung im Dienst Einwände erhoben. Ing. Reinthaller habe als Landwirtschaftsminister keineswegs jede Anschuldigung einfach hingenommen und den Dingen ihren Lauf gelassen, sondern jeden Fall einzeln geprüft. Man habe seine Entlassung aus dem Staatsdienst (Versetzung in den Ruhestand) nach der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. Mai 1938 bei Ing. Reinthaller betrieben, was dieser jedoch abgelehnt habe. Später sei weiterhin erfolglos versucht worden, ihn aus dem aktiven Dienst zu entfernen, erfolgt sei zwar schließlich nicht seine Entlassung, aber seine strafweise Versetzung nach § 5 dieser Verordnung618. In dieser Zeit und später habe sich Ing. Reinthaller, wenn er mit 615 Beilage 4. 616 Beilage 5. 617 Beilage 6. 618 § 5 der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. Mai 1938, Gesetzblatt für das Land Österreich 1938/160: „(1) Wenn es das dienstliche Bedürfnis erfordert, kann jeder Beamte im Bereich seines Dienstherrn auf einen anderen Dienstposten seines Dienst-

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diesem dienstlich zusammentraf oder ihn zufällig auf der Straße oder im Amte begegnete, unverändert freundlich zu ihm verhalten, er habe ihn jedenfalls nicht fühlen lassen, dass er eigentlich verfemt sei. Ing. Reinthaller sei zu ihm immer gleich freundlich und objektiv geblieben. Kollegen, die sich in der gleichen Lage wie er befanden, hätten dieselben Wahrnehmungen wie er von Ing. Reinthaller. Ing. Reinthaller habe auch nie versucht, ihn zum Eintritt in die NSDAP zu bewegen. Diesen Ruf, „ein objektiver, sich von jeder Gehäßigkeit fernhaltender Mann zu sein, der auch nichts nachtrug“, habe Ing. Reinthaller ganz allgemein gehabt. Er habe „von österreichischer Seite nie abfällige Bemerkungen über ihn [Anm.: Ing. Reinthaller] gehört, im Gegenteil, sein einwandfreies Verhalten gegen jedermann, auch in Ungnade gefallene Beamte wurde immer rührend hervorgehoben“. Ing. Reinthaller habe sich immer bemüht, Unrecht nach Möglichkeit zu verhindern, was bei anderen Ministerien nicht der Fall war. Beamte aus anderen Ministerien hätten auch immer wieder geäußert, wie gut es die Beamten des Landwirtschaftsministeriums haben, weil Ing. Reinthaller ihr Minister ist. Als konkreten Fall führt Dr. Reichmann jenen des Ministerialrats Dr. Rudolf Saar an, der zuvor in dem Disziplinarverfahren, in dem Ing. Reinthaller aus dem Dienst des Landwirtschaftsministeriums entfernt worden war, als Disziplinaranwalt die Anklage gegen Ing. Reinthaller vertreten hatte. Dr. Reichmann bestä-





zweiges oder eines anderen Dienstzweiges der gleichen Verwendungsgruppe versetzt werden. Wird der Beamte hierbei auch auf einen Dienstposten einer niedrigeren Dienstklasse versetzt, so behält er seinen Amtstitel und das Diensteinkommen seines bisherigen Dienstpostens. Diese Vorschriften sind auf die nicht in Verwendungsgruppen und Dienstklassen eingeteilten Beamten dem Sinne nach anzuwenden. (2) Für die Versetzung auf andere Dienstposten gelten das Land Österreich und seine ehemaligen Länder (Stadt Wien) als der selbe Dienstherr. (3) Von der beabsichtigten Maßnahme ist der Beamte schriftlich mit dem Bemerken zu verständigen, daß er innerhalb eines Monats Einwendungen vorbringen und im Falle des Abs. 1, Satz 2 seine Versetzung in den Ruhestand beantragen könne. § 3 Abs. 1, Satz 2 gilt auch hier. [Anm.: § 3 Abs. 1 Satz 2: ,Sie erhalten Ruhegenuß (Abfertigung) nach den für die Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit geltenden Vorschriften; einen fortlaufenden Ruhegenuß erhalten sie nur dann, wenn sie eine für die Ruhegenußbemessung anrechenbare Dienstzeit von mindestens 10 Jahren haben.‘] (4) In der Zeit vom 01. März 1933 bis zum 13. März 1938 vollzogene Ernennungen, bei denen die politische Einstellung des Beamten wesentlich mitgewirkt hat, können rückgängig oder erst von einem späteren Zeitpunkt an wirksam gemacht werden. In diesen Fällen sind die Beamten von dem auf die Verfügung folgenden Monat ab so zu stellen, als ob diese Ernennungen nicht oder erst mit Wirkung von dem späteren Zeitpunkt an vollzogen worden wären. Entsprechendes gilt für Beamte, die bei ihrer Aufnahme in den Dienst auf Dienstposten ernannt worden sind, die in der Regel nur im Wege der freien Förderung verliehen werden. Der Abs. 3 findet Anwendung; der Ruhegenuß (die Abfertigung) wird jedoch nur nach dem Diensteinkommen des niedrigeren Dienstpostens bemessen.“

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tigt, dass Ing. Reinthaller, als er dann Landwirtschaftsminister wurde, „nie auch nur das Geringste gegen MR Dr. Saar unternommen und diesen im Dienst belassen hat, obwohl Dr. Saar Fachschaftsleiter der Vaterländischen Front gewesen war“. Ministerialrat Felix Wilfort gibt in seiner Erklärung vom 13. Mai 1948619 an, dass er Ende September 1938 aufgrund des § 4 der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums [Anm.: von ihm so wie von Dr. Frenzel als Verordnung zur „Bereinigung“, bzw. „Reinigung“ des österreichischen Berufsbeamtentums bezeichnet] aus politischen Gründen unter Kürzung der Ruhebezüge um ein Drittel zwangspensioniert worden war. Ing. Reinthaller habe sich damals als österreichischer Landwirtschaftsminister für die Rückgängigmachung dieser Verfügung mit allem Nachdruck eingesetzt, obwohl er ihn überhaupt nicht persönlich kannte, weil er bis dahin im österreichischen Handelsministerium tätig gewesen und erst mit 1. Oktober an das Landwirtschaftsministerium unterstellt worden war. „Aufgrund der tatkräftigen Intervention des Minister Reinthaller“ wurde die Verfügung, mit der seine Zwangspensionierung per 1. Oktober ausgesprochen worden war, zurückgezogen, und er konnte „weiter in voller Aktivität Dienst machen, als wäre nichts geschehen“. MR Wilfort teilt abschließend mit, dass ihm auch bekannt sei, dass Ing. Reinthaller „anderen Kollegen, die wegen politischer Belastung, ,Versippung‘ u. Ä. gefährdet waren, dazu verholfen hat, weiter aktiv zu bleiben. Er schließt seine Erklärung mit folgendem Satz: „Fast alle von ihnen sind – so wie ich – heute wieder aktiv in leitenden österreichischen Staatsdienststellungen.“ Herr Hofrat Dr. Erich von Tschermak-Seysenegg, ehemaliger Professor der Hochschule für Bodenkultur an der Lehrkanzel für Pflanzenzüchtung, führt in seinem Schreiben vom 26. Juli 1948620 aus, dass er im Jahr 1940 frühzeitig von den Nazis pensioniert wurde. Dadurch habe er selbst keine Verbindung mehr mit dem „Ackerbauministerium“, der Landesbauernschaft Donauland sowie der Berglandabteilung im Reichsministerium mehr gehabt. Er wisse aber von den damaligen Rektoren Kaserer, Porsch und Staffe, dass „der damalige Landwirtschaftsminister und Unterstaatssekretär Ing. Anton Reinthaller als Fachmann und Förderer auf dem Gebiete der Landwirtschaft in Österreich sehr geschätzt wurde“. Ihm gegenüber habe sich Ing. Reinthaller sehr liebenswürdig und entgegenkommend benommen. So habe Ing. Reinthaller an der Hochschule für Bodenkultur seine beabsichtigte Entfernung aus seinem sogenannten „Alterszimmer“ an der Hochschule für Bodenkultur verhindert. Bezirkshauptmann a. D. Dr. Alfred Schmid, Landes-Regierungsrat im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, teilt in seinem Schreiben vom 07. Juni 619 Beilage 7. 620 Beilage 8.

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1948621 mit, dass er bis März 1938 Polizeikommissär bei der Polizeidirektion Wien war und nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Österreich in Haft genommen und in der Folgezeit aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Seine „wiederholten und verschiedenartigsten Bemühungen zur Erlangung einer“, seiner „Vorbildung entsprechenden Stelle in der Privatwirtschaft“ seien gescheitert, weil er wegen politischer Unzuverlässigkeit aus dem Staatsdienst entlassen worden war. Seine Schwägerin, die damals als Angestellte bei der Landesbauernschaft tätig war, habe sich an Ing. Reinthaller als Landwirtschaftsminister in Österreich und Landesbauernführer gewendet, um Rat und Hilfe zu erhalten. Obwohl Ing. Reinthaller gewusst habe, dass er, Dr. Schmid, bei der Vaterländischen Front war, habe Ing. Reinthaller ihm im Oktober 1939 beim Gartenbauwirtschaftsverband in Wien gegen den Einspruch dessen damaligen Vorsitzenden Ing. Benesch einen Posten als Angestellter verschafft, von dem er im Februar 1940 wieder in den Staatsdienst habe wechseln können. Ing. Reinthaller habe in weiterer Folge mehrere Versuche abgewehrt, Dr. Schmid wieder aus dem Staatsdienste zu entfernen. Dies auch im Sommer 1942, als er „neuerlich aufgrund eines vernichtenden politischen Gutachtens der Gauleitung der NSDAP in Wien aus dem Staatsdienste entfernt werden sollte“. Der Direktor des niederösterreichischen Bauernbundes, Ing. Eduard Hartmann, gibt in seinem Schreiben vom 19. September 1947622 bekannt, dass er – was, wie er betont, ihn persönlich betrifft – über Ing. Reinthaller zu der Zeit, in der Ing. Rein­ thaller sein Vorgesetzter war, nur Gutes aussagen könne. Ansonsten teilt er Dr. Günther eine Reihe weiterer Personen mit, die seiner Einschätzung nach zum Leumund von Ing. Reinthaller Angaben machen können. Franz Zaininger, Leiter der oberösterreichischen Warenverkehrsstelle, teilt in seiner Eidesstattlichen Erklärung vom 10. Juni 1948623 mit, dass er in der Zeit vom Jänner 1944 bis Mai 1945 beim ehemaligen Reichsnährstand – Landesbauernschaft Niederdonau tätig war, zuletzt als Landesprüfstellenleiter (Abteilung III D), und dass ihm Ing. Reinthaller in dessen Funktion als Landesbauernführer unmittelbar vorgesetzt war. Da er selbst kein Parteimitglied war, könne er bestätigen, dass „Herr Ing. Reinthaller politisch anders Denkenden niemals Schwierigkeiten bereitete und diese nur nach persönlicher Leistung urteilte, bzw. als seine Mitarbeiter bestellte“. Ing. Reinthaller sei „stets ein guter und hilfsbereiter Vorgesetzter“ gewesen. Ing. Heinz Pitter teilt in seiner Erklärung vom 03. Juli 1948624 mit, dass er seit 621 Beilage 9. 622 Beilage 10. 623 Beilage 11. 624 Beilage 12.

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dem Jahr 1938 bei der Landesbauernschaft Donauland und nach deren Teilung bei der Landesbauernschaft Niederdonau bis zum Zusammenbruch als Abteilungsleiter für Tierzucht tätig war und nunmehr Geschäftsführer des Landespferdezuchtverbands Salzburg ist. Zu Ing. Reinthaller macht er folgende Angaben: In der Zeit von 1938 bis zum Zusammenbruch war Herr Ing. Anton Reinthaller als Landesbauernführer mein Chef und Vorgesetzter. Ich hatte während dieser Zeit Gelegenheit, bei den verschiedensten Besprechungen und Sitzungen Ing. Reinthaller als aufrechten und korrekten Mann kennenzulernen, der sein Amt als Landesbauernführer unbeeinflusst von Parteistellen nur zum Wohle der Bauern und zur Sicherung der Ernährung ausübte. Mir ist noch erinnerlich, daß von Parteiseite her verlangt wurde, daß Zuschüsse oder Preise für Ausstellungen an frühere Gegner der NSDAP nicht vergeben werden sollten. Ing. Reinthaller hat als Landesbauernführer dieses Verlangen der Parteistellen zurückgewiesen und angeordnet, daß Zuschüsse und Preise an alle Personen, ohne Unterschied der Partei, vergeben werden. Ing. Reinthaller hat auch innerhalb der Landesbauernschaft bei den Angestellten und Beamten keinerlei Unterschied zwischen Parteigenossen und Nichtparteigenossen gemacht und war allen Angestellten stets ein wohlwollender Vorgesetzter. Dies beweisen auch die Belobigungen und Auszeichnungen, welche in gleicher Weise alle Angestellten, ohne Unterschied der Partei, erhielten. Maßgeblich für die Einschätzung war für Reinthaller stets die geleistete Arbeit.

Franz Ernstbrunner erzählt in seiner Eidesstättigen Erklärung vom 21. Juni 1948625, dass er Portier der niederösterreichischen Landwirtschaftskammer in Wien I., Löwelstraße 16, ist und bereits 11 Jahre diesen Posten inne hatte, als die Nationalsozialisten in Österreich die Herrschaft übernahmen. Er hatte täglich von „1/2 5 Uhr Früh bis 9 Uhr abends“ Dienst zu machen, auch an Sonn- und Feiertagen musste er in seinem Dienstraum anwesend sein, weil immer jemand zugegen sein musste. Er musste auch Reinigungsarbeiten verrichten und erhielt nur einen Nettolohn von 145 Schilling weil er 70 Schilling Zins zahlen musste, der ihm abgezogen wurde. Seine erste Begegnung mit Ing. Reinthaller schildert er folgendermaßen: Am dritten Tage, als Ing. Reinthaller als Landesbauernführer die Leitung der Landwirtschaftskammer übernommen hatte, wurde ich zu ihm gerufen. Ich wurde von ihm gefragt, wie ich eingestellt bin. Ich antwortete, daß ich so bleibe wie früher und daß ich mich nicht ändere. Ing. Reinthaller sagte mir darauf, bleibe wie Du warst und wie Du bist, und mache Deinen Dienst, so wie Du ihn bisher gemacht hast. 625 Beilage 13.

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Franz Ernstbrunner erzählt des Weiteren, dass Ing. Reinthaller sich nach seinem Dienst und nach seinem Lohn erkundigt habe. Daraufhin habe Ing. Reinthaller gemeint, dass sich das ändern muss, und sofort angeordnet, dass sein Lohn von 145 Schilling auf 245 Schilling erhöht wird, und dass ein zweiter Portier und eine Putzfrau eingestellt werden. Franz Ernstbrunner setzt fort wie folgt: Die ganzen Jahre, die er Landesbauernführer war, war er immer freundlich zu mir und hatte immer ein gutes Wort. Zu ihm konnte jeder mit seinem Anliegen kommen, er hat immer geholfen, ohne auch nur nach der Parteizugehörigkeit zu fragen. Von ihm ist auch niemand aus politischen Gründen entlassen worden, alle Beamten und Angestellten sind geblieben, ganz gleich was sie früher waren. Er hat von jedem nur seinen Dienst verlangt. Als dann die Verpflegungsschwierigkeiten auftragen hat er sich selbst um die Verpflegung der Angestellten gekümmert und hat getrachtet, daß in der Kantine immer etwas Anständiges zum Essen war.

Der Bürgermeister von Mettmach, Johann Huber, führt in seiner Bestätigung vom 12. Mai 1948626 aus, dass Herr Ing. Anton Reinthaller in seiner Heimatgemeinde Mettmach den besten Ruf besitzt, sich in der Zeit des NS-Regimes auch anders Gesinnten gegenüber stets tadellos benommen, niemanden geschädigt, jedoch vielen politisch anders Eingestellten geholfen hat. Er habe auch seine Stellung nie dazu benutzt, sich persönlich zu bereichern oder sonstige Vorteile für sich zu erringen. Der Pfarrer von Mettmach, Josef Tischberger, attestiert in seiner Bescheinigung vom 12. Mai 1948627, dass „Anton Reinthaller, geboren Mettmach am 14. April 1895, seit seiner Taufe am 15. April 1895 immer Mitglied der römisch-katholischen Kirche ist und nie aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Laut Taufbuch des Pfarramtes Mettmach Band VIII., Seite 60“. Im „Wohlanständigkeitszeugnis628“ vom 10. Mai 1948 erklärt der katholische Pfarrer Josef Schauer, dass Ing. Anton Reinthaller nach seinem Wissen stets ein höchst anständiges, einwandfreies Leben geführt und sich durch persönliche Hilfsbereitschaft gegen jedermann, besonders auch gegen wirtschaftlich schlechter Situierte, ausgezeichnet hat. Auch sei nichts bekannt, dass Ing. Reinthaller irgendjemand angezeigt oder sonst geschadet hätte. Selbst seitens entgegengesetzter politischer Parteien wird Ing. Reinthaller Anständigkeit attestiert. So bestätigt die Ortsgruppe Attersee der Österreichischen Volkspar626 Beilage 14. 627 Beilage 15. 628 Beilage 16.

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tei am 15. Mai 1948629, dass Ing. Reinthaller „sich während der nationalsozialistischen Zeit in seinen Funktionen gegenüber der hiesigen Bevölkerung in korrekter Weise benommen hat“. Es müsse „besonders erwähnt werden, daß er niemand geschadet, zur Anzeige gebracht, vielmehr in helfender Weise gewirkt hat“. Des Weiteren müsse „zum Großteil seinem Verdienste zugeschrieben werden, daß die auf den Kronberg führende Bergstraße erbaut wurde, welche im allgemeinen Interesse besonders wohltuend sich auswirkt“. Sogar die Ortsgruppe Attersee der Kommunistischen Partei Österreich, vertreten durch ihren Obmann Mathias Renner, bestätigt in ihrer Note vom 17. Mai 1948630, dass „über Herrn Anton Reinthaller, ehemaligen Ingenieur der Wildbachverbauung in Attersee, hierorts nichts nachteiliges bekannt ist, und daß er sich gegenüber seinen Mitmenschen nichts zu Schulden kommen ließ“. Als ehemaliges Mitglied der NSDAP sei er „als Idealist anzusprechen, der sich insbesonders während der verfloßenen Ära nie in die hiesigen lokalen Verhältnisse eingemischt hat und, so viel bekannt ist, manchen kleinen Leuten Hilfe angedeihen hat lassen“. Die Ortsleitung Attersee der KPÖ betont abschließend, dass sie sich in dieser Beurteilung „von rein sachlichen Momenten hat leiten lassen und jeden persönlichen Haßgedanken ausgeschaltet hat, weil die KPÖ Ortsleitung Attersee jeden gewissenhaft nach dem Charakter beurteilt“. Eduard Hlouschek, Fabriksdirektor in St. Georgen im Attergau Nr. 153 wohnhaft, Bezirksvertrauensmann der Sozialistischen Partei Österreichs im Bezirk Vöcklabruck, gibt in seiner Eidesstättigen Erklärung vom 07. Juli 1948631 an, dass er Ing. Rein­ thaller schon seit mehr als 20 Jahren kenne. Reinthaller sei immer national eingestellt gewesen und habe schon damals als „Idealist reinsten Wassers“ gegolten. Er sei „auch schon vor 1933 in der nationalsozialistischen Bauernorganisation führend tätig“ gewesen. Nach dem Parteiverbot in Österreich habe er „stets offen gegen die von radikalen Elementen verübten Terrorakte Stellung genommen“. Er sei bestrebt gewesen, zwischen der NSDAP und den österreichischen Regierungsstellen einen Ausgleich und eine Versöhnung herbeizuführen. Herr Hloschek verweist in diesem Zusammenhang auf die Aktion Reinthaller als Befriedungsaktion. Nach seiner Erinnerung sei diese Aktion „durch die radikalen, unter Führung Habicht stehenden Elemente, zu Fall gebracht“ worden. Nach 1938 sei Ing. Reinthaller in seiner Eigenschaft als Landwirtschaftsminister und dann als Unterstaatssekretär und Landesbauernführer bemüht gewesen, möglichst vielen Bedrängten und Verfolgten zu helfen, auch wenn diese nicht dem Lager der NSDAP angehörten. Bezeichnend sind die Schlussworte von Eduard Hloschek in dessen Erklärung: 629 Beilage 17. 630 Beilage 18. 631 Beilage 19.

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Ing. Reinthaller dürfte wohl zu den ganz wenigen nationalsozialistischen Funktionären Österreichs gehören, welche ihre Stellung in Partei und Staat nicht mißbraucht und niemanden geschädigt haben, so daß wohl die Mehrzahl der Bevölkerung ihm nicht feindlich gesinnt ist, ihm vielmehr eine freundliche Gestaltung seiner Zukunft wünscht. Mit mir selbst verkehrte Ing. Reinthaller jederzeit und nach jeder Richtung hin loyal, obwohl ihm selbstverständlich bekannt war, daß ich engagierter Gegner des Nationalsozialismus und Anhänger der Sozialdemokratie war.

Lina Weber erklärte in ihrer Eidesstattlichen Erklärung vom 24. August 1948632, dass ihr verstorbener Mann am 30. August 1943 von dem damaligen Getreidewirtschaftsverband einen Stilllegungsbescheid für seine Mühle erhielt, welcher die Vernichtung seiner Existenz bedeutete. Grund für die Stilllegung der Mühle sei gewesen, dass ihr Mann nicht Mitglied der NSDAP war und die Mühle verschiedenen Konkurrenten im Wege stand. Dass diese Stilllegung damals nicht erfolgte, sei, wie ihr verstorbener Mann immer wieder betont habe, „einzig und allein der Tatkraft sowie dem entgegengebrachten Verständnis des Herrn Ing. Anton Reinthaller zu verdanken“. Rudolf Kremslehner, Betreiber des Hotels Regina in Wien IX., Rooseveltplatz Nr. 16, bestätigt in seiner Eidesstättigen Erklärung vom 10. Mai 1948633 „zur Beurteilung des Verhaltens des früheren Landwirtschaftsministers und Unterstaatssekretärs Ing. Anton Reinthaller“, dass dieser als Minister und Landesbauernführer viel bei ihm verkehrt sei, und er Gelegenheit hatte, diesen näher kennenzulernen. Er könne von ihm nur das Eine sagen, „daß er ein selten anständiger Mensch und nie ein Parteifanatiker gewesen ist“. Er habe sich immer „scharf gegen die von vielen Parteifunktionären geübten Terrormethoden ausgesprochen und alle Verfolgungen und Gewaltmethoden verurteilt“. Herr Kremslehner wisse auch, dass Reinthaller vielen Leuten geholfen hat. In seinem Auftreten sei Reinthaller „immer sehr bescheiden und einfach“ gewesen. Zusammenfassend könne er nur feststellen, dass Reinthaller „ein Mann ist, von dem man sagen kann, Ehre wem Ehre gebührt“. Henriette Weiner teilt in ihrer Eidesstättigen Erklärung vom 13. Mai 1948634 mit, dass sie gehört habe, dass Ing. Reinthaller sich wegen seines Verhaltens als Angehöriger der NSDAP vor einer Spruchkammer zu rechtfertigen habe635. Frau Weiner gibt an, dass sie die Witwe des ehemaligen österreichischen Offiziers Rudolf Weiner sei, 632 Beilage 20. 633 Beilage 21. 634 Beilage 22. 635 Das kann darauf schließen lassen, dass zumindest ein Teil der Erklärungen bereits eingeholt worden waren, um sie vor der Spruchkammer Traunstein zu verwenden, bei der ursprünglich gegen Ing. Reinthaller ein Verfahren vorgesehen war.

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der „Volljude“ war. Mit der Frau von Ing. Reinthaller sei sie seit ihrer Jugend befreundet. Ing. Reinthaller habe trotz seiner Parteistellungen „nicht nur den weiteren freundlichen Verkehr zwischen ihr und seiner Frau gebilligt und geduldet“, sondern habe „auch selbst mit uns seinen freundlichen Verkehr, selbst noch in den Jahren 1938/39 aufrecht erhalten“. Er habe sogar nach seiner Ernennung zum Landwirtschaftsminister im Jahre 1938 einige Monate bei ihr und ihrem Mann in Wien gewohnt und ihren Mann „schon damals vor Verfolgungen geschützt“. Als ihr Mann im Jahre 1938 starb, habe Ing. Reinthaller mit seiner Frau am Begräbnis teilgenommen. Ing. Reinthaller habe dann auch erwirkt, dass an sie eine Gnadenpension ausbezahlt wird. Auch bei öffentlichen Veranstaltungen, an denen Ing. Reinthaller und seine Frau teilgenommen haben, habe er sie immer wieder mitgenommen und dadurch in aller Öffentlichkeit dokumentiert, dass er die „gehäßige Rassenlehre und den Verfolgungsterror der NSDAP vollkommen ablehnt“. Herr Josef Sanz, Kaufmann in Wien V., bestätigt in seiner Eidesstättigen Erklärung vom 12. Mai 1948636, dass Ing. Reinthaller ihn sehr unterstützt hat. Nach Einführung der reichsdeutschen Landwirtschaftsgesetzgebung habe auch sein Wald enteignet werden sollen, weil er weder Parteigenosse noch Landwirt gewesen ist. Er habe sich schon nicht mehr zu helfen gewusst. Da habe er erfahren, dass Ing. Rein­ thaller „gegen derartige Gewaltmethoden stets auftrat und solche Enteignungen nach Möglichkeit verhinderte“. Er habe bei ihm vorgesprochen, und Reinthaller habe ihn tatsächlich unterstützt, sodass ihm sein Wald erhalten blieb. Er habe auch sonst viel von solchen Hilfeleistungen des Ing. Reinthaller gehört. Johann Stros, Schneidermeister in Wien I., bestätigt in seiner Eidesstättigen Erklärung vom 20. Mai 1948637, dass Ing. Reinthaller schon einige Jahre vor der Machtergreifung der NSDAP in Österreich sein Kunde war, obwohl er selbst nie Parteimitglied war. Stros sei Reinthaller seinerzeit „von einer langjährigen anderen Kunde, dem jüdischen Mischling Weiner, mit dem er befreundet war“, empfohlen worden. Ing. Reinthaller sei auch dann, als er Minister wurde, Kunde von Johann Stros geblieben. Reinthaller habe ihm bereitwilligst seine Hilfe im Bedarfsfalle angeboten. Tatsächlich habe Stros diese Hilfe mehrmals in Anspruch nehmen müssen. Einmal sei er beim Kreisleiter seines Gebiets denunziert worden und „hätte damals sehr große Unannehmlichkeiten gehabt“, wenn ihm Ing. Reinthaller nicht geholfen hätte. Er wisse, dass Ing. Reinthaller „in diesem Falle eine sehr heftige Auseinandersetzung mit dem Kreisleiter hatte“ und es Reinthaller „nur mit Mühe gelungen ist, die Sache beizulegen“. Johann Stros habe in seinem Betriebe auch mehrere „Mischlinge 636 Beilage 23. 637 Beilage 24.

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als Hilfskräfte“ gehabt. „Diese armen Leute“ hätten irgendwie zu untergeordneten Notdienstarbeiten herangezogen werden sollen. Auch das habe Ing. Reinthaller verhindert. Maria Lang, Bäuerin in Oberösterreich, erklärt in ihrer Eidesstättigen Erklärung vom 12. Mai 1948638, dass sie Ing. Reinthaller schon seit vielen Jahren kenne und dieser trotz seiner hohen Stellung in der Partei nach 1938 immer der „einfache liebe Mensch geblieben“ sei, „der er stets war“. „Wo er helfen konnte, hat er geholfen.“ Das sei auch bei ihr der Fall gewesen. Im Krieg hatte sie einen polnischen Landarbeiter zugeteilt bekommen, der mit ihrer Magd ein Liebesverhältnis begonnen habe, „das nicht ohne Folgen blieb“. Die drohende Verhaftung der beiden habe Ing. Reinthaller verhindert und „damit gezeigt, daß er die nationalsozialistischen Terrormethoden ablehnte“. Maria Zuleger, Landwirtschaftslehrerin und Leiterin der Landwirtschaftsschule in Sooß, Niederösterreich, gibt in ihrer Eidesstättigen Erklärung vom 10. Mai 1948639 an, dass sie von 1930 bis 1938 bei der niederösterreichischen Landwirtschaftskammer als Wanderlehrerin angestellt gewesen sei und der NSDAP vollkommen ferngestanden habe. Sie habe vielmehr als „Schwarze“ und demnach als Gegnerin der NSDAP gegolten. Nach der Machtergreifung der NSDAP in Österreich habe sie ihre Entlassung erwartet. Zu ihrer Überraschung sei sie jedoch im Herbst 1938 von der Landesbauernschaft Donauland (Reichsnährstand) wieder als Fachlehrerin übernommen worden und habe den Auftrag erhalten, in Melk an der Donau eine landwirtschaftliche Fortbildungsschule für Burschen und Mädchen einzurichten. Sie sei sogar zur Leiterin dieser Schule berufen worden und zugleich auch zur Wirtschaftsberaterin der Kreisbauernschaft Melk. Sie habe dann erfahren, dass dies über ausdrückliche Anordnung des damaligen Landesbauernführers Ing. Reinthaller geschehen ist. Dieser habe auch ihre Schule des Öfteren besucht und ihr in jeder schwierigen Lage geholfen. Alle Anzeigen, die gegen sie selbst von der Kreisleitung erstattet wurden, insbesondere deshalb, weil sie „zu stark religiös eingestellt“ ist und „die Schülerinnen zu wenig politisch erziehe“, habe Ing. Reinthaller zur Seite gelegt. Ing. Reinthaller habe ihr immer wieder erklärt, dass er ein Feind jeder politischen Verfolgung sei. Sie wisse auch von vielen anderen Beamten und Angestellten des Reichsnährstandes, dass er diesen Grundsatz in seinem Amte immer aufrechterhalten hat, obwohl er damit selbst oft in Konflikte mit radikalen Parteimännern geriet. Franz Berger und Franziska Berger, verwitwete Strasser, geben die gemeinsame

638 Beilage 25. 639 Beilage 26.

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Eidesstättige Erklärung vom 06. Februar 1947640 ab, die zur Bestätigung vom Stiefsohn Franz Bergers, Wilhelm Strasser, und von Gemeindesekretär Ludwig Bubestinger mitunterfertigt wird. Diese Erklärung enthält eigentlich Ausführungen des Franz Berger, sodass auch die Mitunterzeichnung durch Franziska Berger als Bestätigung anzusehen ist. Franz Berger teilt mit, dass er ohne Hilfe des Ing. Reinthaller um sein landwirtschaftliches Gut gebracht worden wäre. Die Begebenheit habe sich folgendermaßen zugetragen: Am Tage des Kriegsausbruchs zwischen Deutschland und Rußland machte ich, Franz Berger, beim Gastwirt Hofinger in Ried im Innkreis die Äußerung, daß uns der Russ’ das Genick umdrehen werde und daß wir den Krieg nicht gewinnen könnten. Am 05.05.1942 wurde ich durch die Gendarmerie Waldzell verhaftet, und zwar unter dem Vorwand einer Preisüberschreitung. Die wahre Ursache war aber die, daß mich die Partei wegen meiner gegnerischen Einstellung schon seit langem beobachtete und nun eine Handhabe zu besitzen glaubte, gegen mich vorgehen zu können. Auch die oberwähnte abfällige Äußerung wurde zum Gegenstand meines Verfahrens gemacht und ich hatte im Kreisgericht Ried wegen Preisüberschreitung eine Strafe von vier Monaten und wegen der abfälligen Äußerung eine Strafe von drei Monaten Zuchthaus zu verbüßen. Die Zeit meiner Haft wurde nun von den Parteikreisen dazu benützt, mich und meine Bäuerin vom Erbhof abzumaiern. Als ich daher während meiner Haft einmal neun Tage Strafunterbrechung erhielt, weil ich als Pferdehändler einen Zivilprozess im Rheinland zu führen hatte, benutzte ich die Gelegenheit und setzte mich sofort mit dem damaligen Landesbauernführer Anton Reinthaller in Verbindung und informierte ihn darüber, daß die Abmaierung bevorstehe, und daß es sich hier um persönliche Gehäßigkeitsakte von Seiten der mir übel gesinnten Parteikreise handle. Anton Reinthaller nahm sich nun, was ich hier der Wahrheit gemäß und der Gerechtigkeit zu Ehre feststelle, meiner Sache sofort rückhaltlos und selbstlos an, er erschien an Ort und Stelle in Waldzell und brachte energischerweise die ganze Abmaierung zur sofortigen Einstellung. Hätte er dies nicht getan, so wäre ich ganz gewiß um meinen Hof gebracht worden.

Karl und Fritz Hintermayer, Automechaniker und Werkstättenbesitzer in Attersee, geben in ihrer Eidesstattlichen Erklärung vom 17. Mai 1948641 an, dass sie „beide mütterlicherseits Mischlinge“ seien. Ing. Reinthaller habe trotz seiner Stellungen in Partei und Staat sie diesen Umstand niemals fühlen lassen, sondern sie vor allen Benachteiligungen und allfälligen Verfolgungen, die ihnen nach ihrer Einschätzung mit 640 Beilage 27. 641 Beilage 28.

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Sicherheit gedroht hätten, stets beschützt. Er habe auch persönlich mit ihnen den Verkehr aufrechterhalten und auf diese Weise günstig auf seine Parteigenossen eingewirkt. Franz Häupl, Sägewerksbesitzer in Attersee, bestätigt in seiner Eidesstattlichen Erklärung vom 17. Mai 1948642, dass er als Nachbar die Familie Reinthaller und deren persönlichen Verhältnisse seit Jahrzehnten kenne. Reinthaller sei immer national eingestellt gewesen und daher auch schon frühzeitig der NSDAP beigetreten. Er dagegen sei immer christlich-sozial gewesen und gehöre auch jetzt der Österreichischen Volkspartei an. Diese „verschiedene politische Einstellung“ habe aber niemals das gute nachbarschaftliche Verhältnis getrübt. Ing. Reinthaller habe sich nicht nur ihm gegenüber stets freundlich benommen, sondern auch bei seinen Parteigenossen nie geduldet, dass diese sich anders Gesinnten gegenüber feindselig benehmen. Reinthaller sei auch immer gegen Terrorakte und Verfolgungen aufgetreten. Die in der Gemeinde wohnende halbjüdische Familie Hintermayer habe Reinthaller immer vor Benachteiligungen und Verfolgungen beschützt.643 Auch als Reinthaller Minister wurde, sei er weiterhin der gute Nachbar wie früher geblieben. Die Einstellung Reinthallers sei besonders aus einer Äußerung ersichtlich, die dieser damals zu ihm gemacht habe, als er diesen das erste Mal als Minister angesprochen habe. Reinthaller habe darauf gesagt: „Lassen’s das nur sein, es ist mir viel lieber, wenn Sie mich weiterhin Nachbar nennen, wir bleiben die Alten!“ So habe Reinthaller es nicht nur ihm gegenüber, sondern auch allen anderen Landsleuten gegenüber gehalten. Häupl schließt mit folgenden Worten über Reinthaller: „Er war ein Volksmann, wie es selten [einen] gegeben hat.“ Ing. Dr. Exenschläger, Industrieangestellter, ein ehemaliger Schulkamerad von Ing. Reinthaller, gibt in seines Eidesstättigen Erklärung vom 22. Mai 1949644 an, dass seine Frau Volljüdin sei und sie beide deshalb im Sommer 1944 vom Magistrat Wien den Auftrag vom 08. August 1944 zu M XIX 60/44 erhielten, ihre Wohnung binnen 14 Tagen zu räumen, um ein für halbjüdische Ehepaare vorgesehenes Quartier zu beziehen. Dabei führt er aus, dass seine Frau sehr krank war, und meint, dass sie den Aufenthalt in einem der für halbjüdische Ehepaare vorgesehenen Quartiere nicht überstanden hätte. In seine Heimatgemeinde Hofkirchen im Mühlkreis in Oberösterreich habe er mit seiner Frau nicht zurückkehren können, weil sie von dort bereits mit Verfügung des dortigen Bürgermeisters vom 20. Juni 1941 zu Zl 594/1-41 ausgewiesen worden sei. Er habe sich an Reinthaller um Hilfe gewendet, der sich sofort 642 Beilage 30. 643 Siehe Beilage 28. 644 Siehe Beilage 31.

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seiner angenommen und für die Aufhebung der Räumungsverfügung gesorgt habe. Ihm und seiner Frau sei daher die Wohnung belassen worden; Reinthaller habe auch dafür gesorgt, dass die beiden künftig vollkommen ungeschoren bleiben. Josef Langgartner, Sägemeister in Mühlbach in der Gemeinde Attersee, führt in seiner Eidesstattlichen Erklärung vom 17. Mai 1948645 aus, dass er Reinthaller schon seit vielen Jahren kenne. Er, Langgartner, sei immer Sozialist gewesen. Dennoch sei ihm Ing. Reinthaller stets sehr gewogen gewesen und habe sich ihm gegenüber sehr hilfsbereit gezeigt. Reinthaller habe für seinen zum Hausbau aufgenommenen Kredit gebürgt und ihm außerdem noch selbst ohne jede Sicherstellung Geld geliehen. Reinthaller habe sich generell gegenüber vielen Arbeitern und Kleinbauern sehr hilfsbereit verhalten. Das wisse er, weil er als Lokalobmann der Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter mit sehr vielen Arbeitern zusammenkomme und dabei auch oft über Reinthaller gesprochen werde. Reinthaller sei „nicht nur ein theoretischer Idealist“ gewesen, sondern habe „auch im praktischen Leben seine Anschauung von wirklicher Volksgemeinschaft vorgelebt. Dabei sei Reinthaller im Verkehr mit einfachen Leuten immer der gleiche bescheidene und zuvorkommende Mensch geblieben, auch als Minister und Staatssekretär. Langgartner bestätigt auch die von Reinthaller für die Familie Hintermayer geleistete Hilfestellung und führt aus, dass Reinthaller auch anderen „Leuten jüdischer Abstammung“ geholfen hat. 8.1.4.2 Eingabe vom 06. August 1949

Die Eingabe des Dr. Günther vom 06. August 1949 enthält Ausführungen zu drei Themenbereichen. So zur Thematik, dass der Rang eines SS-Brigadeführers nur ehrenhalber an Ing. Anton Reinthaller verliehen wurde, sowie dazu, dass Ing. Reinthaller zwar Träger von Parteiauszeichnungen, auch des Goldenen Ehrenzeichens der Partei, war, sich aber in der Verbotszeit nicht illegal für die NS-Bewegung betätigt habe, sondern nur im Zusammenhang mit der von ihm geleiteten Befriedungsaktion, und dass er nach dem Anschluss lediglich Landesbauernführer im Reichsnährstand war, aber niemals politischer Leiter der NSDAP vom Ortgruppenleiter oder Gleichgestellten aufwärts gewesen sei. Schließlich auch zu dem Themenbereich, dass er niemals auf eine gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich hingearbeitet oder eine gewaltsame Änderung gefördert habe, und auch durch seine Mitwirkung am Anschlussgesetz keine strafbare Handlung begangen habe.646 Mit dieser Beilage legt 645 Siehe Beilage 32. 646 Eingabe von Dr. Günther vom 06.08.1949, nach dem Eingangsvermerk am 08. August 1949 eingetroffen, im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46 (danach Vg 7d Vr 2068/49), OÖ Landesarchiv.

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Dr. Günther 24 eidesstattliche Erklärungen und Bestätigungen vor.647 In diesen Zusammenhängen führt RA Dr. Günther entlastend den Umstand an, dass seitens der amerikanischen Militärbehörden Ermittlungen gegen Ing. Reinthaller durchgeführt worden waren, die aber „keinerlei belastende Anhaltspunkte gegen Ing. Reinthaller“ ergaben, sodass gegen ihn kein Verfahren eingeleitet wurde; er legt dafür Bestätigungen648 vor. Schließlich weist Dr. Günther in dieser Eingabe auch auf den infolge der Haft eingeschränkten Gesundheitszustand seines Mandanten hin und bemüht sich um eine Beschleunigung bei der Abwicklung der strafrechtlichen Voruntersuchung und um dessen Entlassung aus der Untersuchungshaft. Demnach erkrankte Ing. Reinthaller im Lager Glasenbach an einem schweren Magenleiden, und es stellte sich bei der medizinischen Untersuchung heraus, dass er Magengeschwüre hat. Daher musste er sich im St. Johanns-Spital in Salzburg einer Operation unterziehen, bei der ihm „fast zwei Drittel des Magens herausgeschnitten wurden“. Dadurch habe er fast 25 kg Gewicht verloren. Bei seiner kurz darauf erfolgten Überstellung nach Nürnberg habe er gerade noch 60 kg gewogen. In Nürnberg, Dachau und Langwasser habe er sich nicht richtig erholen können. Erst dann in Traunstein, etwa zwei Jahre nach der Operation, habe er sich etwas erholt, habe aber statt seines Normalgewichtes von mehr als 85 kg noch immer nur 72 kg Körpergewicht gehabt. Dr. Günther machte geltend, dass deshalb bei einer Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft die Gefahr der neuerlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands seines Mandanten besteht.649 Das Volksgericht Wien entließ Ing. Reinthaller aber nicht aus der Untersuchungshaft. 8.1.4.2.1 Der Ehrenrang

Zu dieser Thematik legt Dr. Günther eine eidesstattliche Versicherung des ehemaligen Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft und Reichsbauernführer Walther Darré vom 15. Dezember 1947 vor.650 In dieser Erklärung legt Darré zu647 Beilagen Nr. 35 bis 57 zur Eingabe des RA Dr. Günther vom 06. August 1949 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, im Folgenden wird ein Teil davon jeweils einzeln zitiert als Beilage mit Nummer der Beilage. 648 Für das Office of Chief of Counsel for War Crimes, Nürnberg, von Paul H. Gantt als dessen Direktor ausgestellte Bestätigung vom 15.11.1948 und danach von Paul H. Gantt, Attorney at Law, als dessen ehemaligem Direktor ausgestellte Bestätigung vom 20.07.1949, Beilagen Nr. 54 und 55 zur Eingabe des RA Dr. Günther vom 06. August 1949 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv. 649 Eingabe des RA Dr. Günther vom 06. August 1949, ON 38 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv, Punkt III. 650 Beilage 33. Diese Erklärung wurde von Richard-Walter Darré aus dem Gerichtsgefängnis Nürnberg

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Der Strafprozess im Detail

nächst dar, dass der Reichsführer SS Heinrich Himmler im Sommer 1933 an ihn herangetreten ist, um eine Reihe seiner im Agrarsektor tätigen Mitarbeiter in die SS zu überführen, wogegen er aber schwerwiegende Bedenken sachlicher Art hatte. Er und seine Mitarbeiter stellten daher dafür die Bedingung, dass ihnen „dadurch keinerlei SS-Bindungen auferlegt werden, die sie mit ihrer Arbeit im Agrarsektor und den dafür geltenden allgemeinen Richtlinien in einen irgendwie gearteten Konflikt bringen könnten“. Himmler ging auf seine Bedingungen ein und gab ihm entsprechende bindende Zusicherungen. Demnach galten für die Mitglieder des Reichsnährstands die üblichen Voraussetzungen für einen Eintritt in die SS, insbesondere die Auslesebestimmungen, nicht, für sie bestand nicht das Erfordernis, sich durch lange Dienstzeit einen Führergrad zu erwerben, sondern sie erhielten entweder sofort einen ihrer zivilen Stellung im Agrarsektor entsprechenden Ehrenführerrang verliehen oder wurden bevorzugt zu einem ihnen entsprechenden Rang befördert. Die Mitglieder des Reichsnährstandes waren grundsätzlich nur Ehrenführer der SS, mit ihrer Zugehörigkeit zur SS war kein SS-Dienst verbunden, sie hatten in der SS keine Befehlsgewalt und waren gegenüber der allgemeinen SS auch nicht weisungsgebunden. Die allgemeine SS hatte keine Befehlsgewalt über sie. Aufgrund dieser Sonderstellung bestand auch kein Einblick in die Dienstvorgänge innerhalb der SS. Darré weist auch darauf hin, dass mit dieser ehrenhalber erfolgenden Aufnahme in die SS nicht auch ein Eintritt in die NSDAP verbunden war. Vielmehr sei man durch diesen Übertritt zur SS allfälligen gegenüber der Partei oder deren Gliederungen bestehenden Verpflichtungen enthoben worden. In seiner Erklärung legt Darré abschließend Wert auf die Feststellung, dass man in seinem Dienstbereich keinen Unterschied gemacht habe, ob jemand der Partei oder einer ihrer Gliederungen angehörte oder nicht. Maßgeblich sei nur die fachliche Eignung gewesen. Zudem bestätigen neun ehemalige Mitglieder des Reichsnährstandes, darunter der frühere Personalchef der Hauptvereinigung der deutschen Milchwirtschaft Werner Adrian, der frühere Leiter der Personalabteilung des Reichsnährstandes Kurt Bernhard und der frühere Ministerialdirektor im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft Dr. Alex Walter, in ihrer gemeinsamen eidesstattlichen Erklärung vom 31. Juli 1946, dass Himmler mit Darré ein Abkommen getroffen hatte, wonach planmäßig alle leitenden Beamten, Angestellten und Bauernführer des Reichsnährstandes und der angeschlossenen abgegeben, wo er sich in Untersuchungshaft befand, nachdem „ich zuerst darauf aufmerksam gemacht worden bin, daß ich mich bei Abgabe einer falschen Erklärung an Eides statt einer Bestrafung aussetze […]“.

Die Voruntersuchung

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Vereinigungen sowie auch des Reichsernährungsministeriums SS-Dienstgrade verliehen werden sollten, und zwar grundsätzlich rangmäßig in Angleichung an die Dienststellungen der Betreffenden, beginnend mit den zentralen Dienststellen bis herunter zu den Landesund Kreisbauernschaften.651

Nach dieser Bestätigung waren die beliehenen Mitglieder des Reichsnährstandes reine Rangträger, sodass es nicht erforderlich war, dass sie die Aufnahmebedingungen der allgemeinen SS erfüllen und sie grundsätzlich unter Außerachtlassung der Rangstufenleiter einen ihrer Dienststellung entsprechenden Dienstrang erhielten. Daher erfolgte die Verleihung automatisch und nicht auf Antrag, sodass Beförderungen bei der SS in Verbindung mit einer Beförderung im Dienst beim Reichsnährstand erfolgten. Die Beliehenen hatten keinen SS-Dienst zu leisten und sie wurden auch nicht SS-mäßig geschult oder ausgebildet. Die Beliehenen erhielten keine Befehle oder Weisungen und hatten umgekehrt auch selbst keine Befehlsgewalt. Sie hatten keine SS-Mitgliedsbeiträge zu zahlen und wurden personalmäßig gesondert geführt. 8.1.4.2.2 Zum Vorwurf der Illegalität

Dr. Günther macht auch geltend, dass Ing. Reinthaller zwar Träger von Parteiauszeichnungen wie dem Goldenen Ehrenzeichen der Partei gewesen ist, aber in der Verbotszeit vom 01. Juni 1933 bis zum 13. März 1938 nicht der NSDAP angehört und sich auch nicht für die NS-Bewegung betätigt hat.652 Dabei verweist er darauf, dass mangels illegaler Betätigung im Sinne des § 10 VG auch keine Strafbarkeit nach § 11 VG wegen einer der darin erfassten Funktionen oder Auszeichnungen bestehen kann. Im Zusammenhang mit der „Aktion Reinthaller“ führt Dr. Günther den Umstand an, dass bei dieser Befriedungsaktion die gesamte nationale Opposition einbezogen wurde, zu der außer den gemäßigten Angehörigen der NSDAP auch die Angehörigen der ehemaligen Großdeutschen Volkspartei und die Angehörigen des Landbundes zählten, sodass diese Aktion keine Betätigung für die illegale NS-Bewegung war. Dr. Günther bringt des Weiteren vor, dass sich dies auch daraus ergibt, dass diese Aktion im Auftrag der österreichischen Bundesregierung erfolgte. Franz Langoth, Mitwirkender an der Aktion Reinthaller, früheres Mitglied der ehemaligen Großdeutschen Volkspartei und erst nach dem Anschluss ab 01. Mai 1938 Mitglied der NSDAP, der beruflich zuletzt als Hauptschuldirektor in Linz tätig 651 Beilage 34. 652 Eingabe des RA Dr. Karl Günther vom 06.08.1949, ON 38 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, Punkt II.

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Der Strafprozess im Detail

gewesen und von 1938 bis 1943 Leiter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und nach seiner im November 1943 erfolgten Ernennung vom 1. Jänner 1944 bis 7. Mai 1945 Oberbürgermeister der Stadt Linz war, führt in seiner von Dr. Günther zu diesem Beweisthema vorgelegten eidesstattlichen Erklärung vom 06. Mai 1949 aus, dass der Zweck der unter der Leitung von Ing. Reinthaller gegründeten „Nationalen Aktion“ die Herbeiführung der inneren Befriedung Österreichs war.653 Die Ursachen für die damaligen innenpolitischen Spannungen verortet er im „Zusammenbruch der Demokratie“ und in der „wirtschaftlichen Verelendung“. Er bezeugt „als eifriger und enger Mitarbeiter Reinthallers“, „daß dieser ob dieses Befriedungswerkes, das in den breitesten nationalen Kreisen volle Zustimmung gefunden [hat], von der illegalen Führung der NSDAP in Österreich sehr viel angefeindet wurde654.“ 653 Beilage 35. Ebenso die in dem gegen Ing. Reinthaller geführten Strafverfahren erfolgte Zeugenaussage von Franz Langoth, Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv, worin Langoth auch betont, dass die Aktion Reinthaller „auf vollkommen legaler Grundlage“ und im Einvernehmen mit Repräsentanten der Regierung erfolgte (AS 291 recto) und deshalb zwischen Reinthaller einerseits und andererseits Leopold als dem Führer der illegalen Nazis „ein schwerer Gegensatz“ bestand (AS 293 recto). Vgl. Guido Zernatto, Generalsekretär der Vaterländischen Front sowie Staatssekretär und zuletzt Minister der Regierung Schuschnigg in seinem Buch mit dem Titel „Die Wahrheit über Österreich“, das in dem gegen Dr. Franz Hueber geführten Volksgerichtsprozess als Beweismittel verwendet wurde: „Schon im Jahre 1934 wurde der erste Versuch einer ,inneren Befriedung‘ in dem Sinne eines Versuchs zur Heranziehung der vernünftigen nationalen Elemente zur Mitarbeit und Mitverantwortung gemacht. Ein oberösterreichischer Agrarier, Ing. Reinthaller, der seit März 1938 österreichischer Ackerbauminister ist, unternahm mit Billigung des Bundeskanzlers einen Versuch, die vernünftigen und loyalen Nationalen Österreichs zu sammeln. Diese ,Aktion Reinthaller‘ ging in der allgemeinen Bürgerkriegsstimmung des Jahres unter“ (Guido Zernatto, Die Wahrheit über Österreich, New York 1938, Neuausgabe Karl-Maria Guth (Hg.), Sammlung Hofenberg, Berlin 2016, 97). 654 Zur gespaltenen österreichischen NS-Bewegung vgl. Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in RotWeiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 32: „Die Illegale war in sich selber gespalten; und manche Male schien es, als ob eine gemäßigte österreichische Richtung die Oberhand gewänne und ein vernünftiger Ausgleich in Sicht war. Der Anschein erwies sich als trügerisch; im entscheidenden Augenblick funkte immer wieder der radikale und aktivistische Flügel dazwischen. Der aber hielt sich an den Parteikatechismus, der vorschreibt, daß ein dem politischen Gegner gegebenes Wort nicht verpflichtet.“ Ebenso Guido Zernatto, Die Wahrheit über Österreich, 169: „Ich bin davon überzeugt, dass es einen einheitlichen Plan für die Eroberung Österreichs nicht gegeben hat. Es gab viele Pläne, die – ebenso wie im Juli 1934 – im März 1938 nebeneinander zur Ausführung kamen. Die nationalsozialistische Partei hat die Eigentümlichkeit, dass in ihr trotz des Gesetzes der strengen Disziplin viele Instanzen nebeneinander und gegeneinander wirken. So kommt es denn auch im März 1938 nicht nur zum Kampf um die Macht in Österreich, sondern zugleich auch zum erbitterten Kampf verschiedener Parteigruppen um die Macht innerhalb der Bewegung, zum Kampf verschiedener nationalsozialistischer Persönlichkeiten um einen Erfolg. Um die Zustimmung Hitlers ist es keinem dieser vielen Bonzen und Bönzlein Bange. Diese Zustimmung glaubt jeder in der Tasche zu haben.“, und 187f

Die Voruntersuchung

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Dabei verweist er auch auf den Umstand, dass das „im Hochverratsprozeß gegen Dr. Guido Schmidt bestätigt“ wurde. Tatsächlich weisen einzelne Beweisergebnisse dieses Prozesses einen partiellen Bezug zu Versuchen der inneren Befriedung zwischen der Vaterländischen Front und dem nationalen Lager auf. Zu nennen sind insbesondere die im Hochverratsprozess gegen Dr. Schmidt im Hauptverhandlungstermin vom 11. April 1947 verlesene, am 06. Juli 1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg abgelegten Zeugenaussage des Dr. Arthur Seyß-Inquart (der zwischenzeitig dort bereits zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war), ein Bericht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 04. April 1936 und die von Dr. Kajetan Mühlmann in der Hauptverhandlung abgelegte Zeugenaussage,655 die das Volksgericht Wien in sein in diesem Prozess gefälltes Urteil als Basis für Tatsachenfeststellungen einbezogen hat656. Auch Dr. Mühlmann bestätigt, dass Ing. Reinthaller schon vor dem Juli-Putsch [Anm.: dem am 25. Juli 1934 von radikalen Nationalsozialisten unternommenen Putschversuch] in Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Dr. Dollfuß seine Befriedungsaktion betrieb und diese Aktion auch unter Bundeskanzler Schuschnigg im Zusammenwirken mit der österreichischen Bundesregierung fortsetzte, dass diese Bewegung für ein selbständiges Österreich und das Unterbleiben der Einmischung Deutschlands in die österreichischen Verhältnisse eintrat, und dass die Leitung der illegalen österreichischen NS-Bewegung unter Hauptmann Leopold den Akteuren dieser Bewegung daher feindselig gegenüberstand.657 Mühlmann bestätigt auch, dass später, als Seyß-Inquart maßgeblich bei mit einer differenzierten Betrachtung der Nationalsozialisten: „Es ging nicht um den politischen Lebensraum für die Österreicher nationalsozialistischer Weltanschauung, um den in Berchtesgaden verhandelt worden war, sondern um den Erfolg der einen Gruppe von Nationalsozialisten gegen die andere. […] Niemand kann es besser wissen als ich, der ich die österreichischen Nationalsozialisten im politischen Kampf gründlich kennengelernt habe, dass die Gruppe aufrechter überzeugter Männer, die für ihre Weltanschauung mit Opfermut eintraten und die wirkliche und ehrenwerte Kämpfer für ihre Idee gewesen sind, im Gefüge der illegalen Partei gegen die andere Sorte politischer und menschlicher Unzulänglichkeit in der Minderheit war“. 655 Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1947, 243ff mit der Zeugenaussage des Dr. Kajetan Mühlmann, 336ff mit der Zeugenaussage des Dr. Seyß-Inquart und 467ff mit dem Bericht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 04.04.1936 zu G.D. 319.439-St.B. 656 Volksgericht Wien 12.06.1947 zu Vg 1g Vr 1920/45, Hv 110/47, 61f. 657 Zu Dr. Mühlmann ist anzumerken, dass dieser allerdings auch schwer durchschaubare Aktivitäten entfaltete, indem er zum einen als loyaler Konfident der österreichischen Bundesregierung fungierte (Volksgericht Wien 12.06.1947 zu Vg 1g Vr 1920/45, Hv 110/47, 62) und zum anderen auch am 12.02.1938 in Berchtesgaden als Kontaktmann der österreichischen NS-Bewegung gegenüber Hitler auftrat (vgl. Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot-Weiss-Rot, Zürich 1946, 45f ), nach

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den gemäßigten Nationalen tätig war658, ein Gegensatz zwischen den Illegalen Nazis unter Hauptmann Josef Leopold und den gemäßigten Nationalen um Seyß-Inquart, Hermann Neubacher und Anton Reinthaller bestand. In dem Bericht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 04. April 1936 wird über den damaligen Stand der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich informiert. Darin wird kategorisiert in zwei NS-Richtungen, eine gemäßigte und eine radikale. Der Kreis um Ing. Anton Reinthaller wird darin als dritte, außerhalb der reinen NS-Bewegung stehende friedliche Gruppierung gesehen, die auch andere nationale Kräfte umfaßt und auf legaler Grundlage erfolgt: „Als dritte Richtung könnte noch der Kreis um Ing. Anton Reinthaller angeführt werden, der unter starker Anlehnung an ehemalige großdeutsche Funktionäre und unter besonderer Hervorhebung des nationalen Gedankens über das System der nationalen Vertrauensmänner und einer legalen Fürsorge für nationalsozialistische Parteigänger eine Befriedung herbeiführen will“.659 Prof. Hermann Foppa, ehemaliger Obmann der Großdeutschen Volkspartei in Österreich, attestiert in seiner Erklärung vom 04. Mai 1948660, dass „Reinthaller seiner ganzen Wesensart nach ein Feind jedes extremen Negativismus“ war. Er war in seinem ganzen Denken und Handeln, soweit ich ihn in der Öffentlichkeit hörte und er sich mir gegenüber äußerte, stets aufbauend und konstruktiv und lehnte daher auch den Juli-Putsch, von dem er zuvor keine Kenntnis gehabt hatte, ab. Bei allen Befriedungsseiner eigenen Aussage als Repräsentant der gemäßigten Nationalsozialisten im Auftrag von Seyß-Inquart, um vom „Lager Leopold“ ausgehende Störungen zu verhindern (Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1947, 249f ). 658 Dr. Arthur Seyß-Inquart war deutschnational ausgerichtet, befürwortete aber eine föderative Gestaltung des Reiches mit gewisser Autonomie der deutschen Gliedstaaten und lehnte für Österreich jede Gleichschaltungspolitik ab (Guido Zernatto, Die Wahrheit über Österreich, New York 1938, Neuausgabe Karl-Maria Guth (Hrsg.), Sammlung Hofenberg, Berlin 2016, 117). Dr. Kurt Schuschnigg berief ihn im Jahr 1937 als seinen Vertrauensmann im Sinne des Abkommens vom 11. Juli 1936 in den österreichischen Staatsrat (Guido Zernatto, ibid.). Vgl. die Zeugenaussage des Dr. Franz Hueber bei seiner im Vorverfahren des gegen Dr. Schmidt geführten Volksgerichtsverfahrens durch den österreichischen Untersuchungsrichter Dr. Sucher durchgeführten Vernehmung: „Ich war der Befriedungsaktion Reinthaller und später Seyß-Inquart – Neubacher angehörig“ (Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1947, 336). 659 Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt vor dem Wiener Volksgericht – Die gerichtlichen Protokolle mit den Zeugenaussagen, unveröffentlichten Dokumenten, sämtlichen Geheimbriefen und Geheimakten, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1947, 470f. 660 Beilage 36.

Die Voruntersuchung

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versuchen, die seit 1934 in Österreich gemacht wurden, war Reinthaller führend mitbeteiligt und wurde daher auch von der extremen Richtung des Nationalsozialismus, dem damaligen Landesleiter Leopold, auf das Schärfste mißbilligt und angegriffen. In der Anschlussfrage ist Reinthaller stets ein Verfechter der evolutionären Entwicklung gewesen und wünschte eine weitestgehende Erhaltung der Eigenständigkeit Österreichs im Zusammenhang mit dem Deutschen Reiche. Nach dem Zusammenschluss hat wohl kaum ein führender Nationalsozialist die Übergriffe und Gewalttätigkeiten des Reiches in Österreich so rückhaltlos u. öffentlich in Versammlungen gegeißelt wie Reinthaller. Auf das Entschiedenste lehnte er die Konfessionspolitik des Reiches in Österreich ab und war daher beim Gauleiter Eigruber in Oberösterreich geradezu in Mißkredit.“

8.1.4.2.3 Die Mitwirkung am Anschlussgesetz

Dr. Günther brachte vor, dass Ing. Reinthaller trotz dessen Angehörigkeit „zum sogenannten Anschlußkabinett des Dr. Seyß-Inquart keine strafbare Handlung im Sinne des § 8 KVG gesetzt“ habe, „selbst nicht dadurch, daß er das Anschlußgesetz mitbeschlossen und mitunterschrieben habe“. Denn das Anschlusskabinett Dr. Seyß-Inquart habe nichts anderes tun können und getan, „als die durch Hitler und Göring eigenmächtig und vereinbarungswidrig durchgeführte militärische Einverleibung Österreichs in legale Formen überzuführen, um von Österreich möglichst jede gewalttätige Unterdrückung zunächst abzuwehren und dem Lande vielleicht doch noch eine gewisse Selbständigkeit zu bewahren.“ Der Sache nach macht Dr. Günther außerdem einen entschuldigenden Notstand geltend, wenn er vorbringt, dass bei dem Umstand, daß die Großmächte, insbesondere England und Italien der Annektion Österreichs durch Hitler schon vorher zugestimmt hatten, jede andere Stellungnahme des Kabinetts Dr. Seyß-Inquart nicht nur die Verfolgung aller Mitglieder desselben wegen Hochverrats durch die Reichsregierung und damit ihren sicheren Tod bedeutet hätte, sondern darüber hinaus dem Lande nicht die Selbstverwaltung durch die bodenständigen Behörden und die eigene Parteiorganisation verblieben, sondern zweifellos ein Militärregime ärgster Art verhängt worden wäre.

Des Weiteren macht Dr. Günther geltend, dass der Einmarsch der Deutschen Truppen und der Einzug Hitlers und Görings überall von Teilen der Bevölkerung mit höchster Begeisterung begrüßt wurde. Letztlich verweist Dr. Günther bei diesem Themenpunkt auch darauf, dass einige prominente Persönlichkeiten wie der frühere Bundespräsident Wilhelm Miklas, Kardinal Dr. Innitzer und „der jetzige Bundes-

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Der Strafprozess im Detail

präsident“ Dr. Karl Renner sich über das Ergebnis der gemäß dem Anschlussgesetz am 10. April 1938 durchgeführten Volksabstimmung anerkennend geäußert hatten. Wilhelm Keppler, der als Staatssekretär zur besonderen Verwendung auf Anordnung Hermann Görings beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vor Ort in Wien mitwirkte, gibt in seiner Eidesstattlichen Versicherung vom 04. Mai 1948661 an, dass Ing. Reinthaller „sich ständig in ehrlicher Weise im Sinne einer Befriedung zwischen der österreichischen Regierung und der Partei“ eingesetzt habe. Ihm sei „kein einziger Fall in Erinnerung, in dem Reinthaller von der loyalen Linie abgewichen wäre oder das von Bundeskanzler Schuschnigg in ihn gesetzte Vertrauen mißbraucht hätte. […] Wegen dieser loyalen Haltung und Mitarbeit wurde Reinthaller immer aufs schärfste von dem illegalen Landesleiter Leopold und seiner Umgebung angegriffen, und die Intrigen dieser Seite gegen ihn nahmen kein Ende.“ Dr. Otto Meißner662 gibt in seiner Eidesstattlichen Erklärung vom 14. Mai 1948663 bekannt, dass er Anfang März 1938 „sowohl aus dem Munde Hitlers wie Görings gehört“ hat, dass „die Reichsregierung bereit sei, im Falle eines Anschlusses Österreichs an das Reich Österreich als Verwaltungseinheit bestehen zu lassen und ihm als einem Lande im Rahmen des Reiches eine Autonomie zu garantieren, ähnlich wie sie das Land Bayern früher besessen hatte“. Des Weiteren teilt er mit, dass ihm Dr. Seyß-Inquart im März 1938 kurz nach dem erfolgten Anschluss bestätigte, dass ihm sowohl Hitler wie auch Göring eine solche Zusage gemacht hätten. Es sei ihm nicht bekannt, „aus welchen Gründen Hitler alsdann andere Pläne verfolgte und diese seine Zusage nicht eingehalten hat“. Helmut Suendermann äußert in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 01. Mai 1948664 zunächst – etwas dramatisiert anmutend – seinen Eindruck von der in den Tagen des 12. bis 14. März 1938 in Österreich vorherrschenden Stimmung: Ich war Stabsleiter des Reichspressechefs der NSDAP von 1937 bis 1945. Bei meiner journalistischen Betätigung zwischen 1931 und 1945 habe ich viele Volkskundgebungen und Massendemonstrationen erlebt. Ich war Zeuge zahlreicher deutscher Hitler-Versammlun661 Beilage 37. 662 Dr. Otto Meißner wurde am 13. März 1920 vom früheren Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, zum Chef der Präsidialkanzlei ernannt und hatte diese Funktion als Staatssekretär von 1925 bis 1934 unter Reichspräsident Paul von Hindenburg und dann bis 1945 unter Hitler. Er war durchwegs parteilos. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg wurde er angeklagt, aber freigesprochen (Karl-Heinz Janssen, Diener dreier Herren – Von Ebert über Hindenburg zu Hitler – Die einzigartige Karriere des Geheimrats Dr. jur. Otto Meißner, Die Zeit, Ausgabe Nr. 38/2000 vom 14.09.2000). 663 Beilage 38. 664 Beilage 39.

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gen vor und nach 1933. Ich habe auch die noch erregbareren italienischen Volksmassen in Erinnerung, wie sie auf dem Venediger Markusplatz und auf dem Platz vor dem Palazzo Venezia in Rom Mussolini stürmische Ovationen darbrachten. Alle diese Erlebnisse verblassen gegenüber den Eindrücken, die sich meiner Erinnerung in den Tagen des 12. bis 14. März 1938 in Österreich eingeprägt haben. Insbesondere der Empfang Adolf Hitlers in Wien am 14. März und die stundenlange dramatische Ovation hunderttausender begeisterungstrunkener Menschen vor dem Hotel „Imperial“ erscheint mir auch heute noch als eine der stärksten Kundgebungen populärer Leidenschaft gewesen zu sein, die die moderne Geschichte kennt.

Daran schließt er Angaben zur Durchführung der – in der historischen Betrachtung umstrittenen – Volksabstimmung vom 10. April 1938 an: Ich war nach dem 14.3.1938 bis zum 11.4.1938 als Pressesachbearbeiter des mit der Vorbereitung und Durchführung der Volksabstimmung beauftragten Gauleiters Bürckel in Wien tätig. Für den Wahltag hatte ich eine Gruppe von etwa 25 ausländischen Pressekorrespondenten aus Berlin zu einem Streifzug durch die Wahllokale eingeladen. Die Herren fuhren in einem Omnibus, ich fuhr mit einem kleinen Wagen voraus, in den ich den englischen Journalisten Ward Price gebeten hatte. Es war vereinbart worden, dass Herr Price die Route unserer Kreuz- und Querfahrt durch Wien während der Fahrt bestimmen und aus dem Stegreif diejenigen Wahllokale bezeichnen sollte, bei denen wir Halt machten und den Wahlvorgang beobachten. Wir besuchten nach dieser Methode überraschend 8 bis 10 Wahllokale während der Nachmittagsstunden. In jedem Wahllokal waren sog. Wahlzellen aufgestellt, in die der Wähler treten konnte, um seinen Stimmzettel unbeobachtet mit einem Kreuz zu versehen und in einen Umschlag zu stecken. Der Wahlvorsteher nahm nur solche Umschläge, niemals offene Zettel an und warf sie in eine verschlossene Wahlurne. Es war nicht nur mein sondern auch der Eindruck unserer ganzen Gruppe, daß, wer immer gegen den Anschluß Österreichs an das Reich stimmen wollte, dies tun konnte, ohne dabei festgestellt oder entdeckt zu werden. Nach Abschluß der Wahlzeit machte sich unsere Gruppe erneut auf, um in einem großen Wahllokal in der Innenstadt der Auszählung der Stimmen beizuwohnen. Dabei wurden die Wahlurnen unter Zeugen geöffnet, dann die Zahl der darin befindlichen Umschläge festgestellt und mit der vorher ermittelten Zahl der abgegebenen Stimmen verglichen. Dann wurden die Couverts, eines nach dem anderen, vom Wahlvorsteher geöffnet und mit lauter Stimme die auf dem Stimmzettel verzeichnete Abstimmung, also „Ja“ oder „Nein“ verlesen und je nachdem auf verschiedene Ablageplätze gelegt. Wahlzettel, die irgend einen Zusatz gleich welchen Inhalts enthielten, wurden als ungültig erklärt. Ich erinnere mich der Heiterkeit, die unter den Journalisten entstand, als der Wahlvorsteher mit dienstlichem Ernst mehrere Wahlzettel für ungültig erklärte, weil

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Der Strafprozess im Detail

sie Aufschriften wie „Heil Hitler“ trugen oder mit Hakenkreuzen verziert waren. Andere ungültige Stimmzettel enthielten Schmähungen auf Hitler. Wir wohnten dem Verlesen der Stimmzettel etwa eine halbe Stunde bei, unter vielen hunderten von Stimmen befanden sich etwa 2 bis 3 Nein-Stimmen und vielleicht 10 ungültige. Keiner der Korrespondenten hat mir gegenüber oder in seinen öffentlichen Berichten die Korrektheit der Wahldurchführung bezweifelt.665

Suendermann meint, dass das meistbesprochene verwaltungsmäßige Problem der Wahlvorbereitung die korrekte Aufstellung der Wahllisten war, da die letzte ordnungsmäßige Wahl in Österreich etwa 1930 stattgefunden hatte und insbesondere die seither wahlberechtigt gewordenen Jahrgänge nicht erfaßt, aber auch sonstige Veränderungen in den amtlichen Wahlunterlagen nicht vermerkt waren.

Er schließt mit seiner in diesem Zusammenhang geäußerten Kritik an Dr. Schuschnigg: Des öfteren wurde die Bevölkerung in den Zeitungen aufgefordert, bei den Behörden die Wahllisten einzusehen, ihre Richtigkeit zu prüfen und auf Irrtümer hinzuweisen. Es waren zahlreiche sachliche Ergänzungen erforderlich, deren örtliche Durchführung Wochen in Anspruch nahm. Nach meiner Kenntnis der Dinge ist es völlig ausgeschlossen, daß die von Schuschnigg am 9. März für den 13. März 1938 angesetzte Volksabstimmung verwaltungsmäßig korrekt hätte durchgeführt werden können.666 665 Das ist aber letztlich eine detailhaft aus dem Gesamtzusammenhang gerissene Darstellung, die daher einen irreführenden Eindruck hervorruft. Zur Korrektur siehe Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 201ff., der diese Volksabstimmung pointiert als Scheinlegitimierung der Macht bezeichnet (S. 242), über die intensive Propagandakampagne der NS-Führung und den von dieser ausgeübten Druck, „an der Abstimmung teilzunehmen und für das offensichtlich unabänderliche „Ja“ zu votieren“. In diese Richtung weisen auch die Fragestellung der Volksabstimmung und die Aufmachung der bei der Volksabstimmung verwendeten Stimmzettel (abgebildet bei Gerhard Botz, ibid., 195). Zu betonen ist auch, dass im Zeitpunkt der Volksabstimmung mit dem Einmarsch in Österreich und den bereits begonnen Eingliederungsmaßnahmen schon Fakten geschaffen worden waren. 666 Wobei diese Darstellung irreführend unvollständig ist. Denn Schuschnigg befand sich nach dem am 12. Februar 1938 erfolgten Treffen mit Hitler in Berchtesgaden, bei dem Hitler als Aggressor einschüchternd und drohend aufgetreten war (dazu im Detail Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot-Weiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 37ff), in einer Zwangslage, als er am 05.03.1938 von Staatssekretär Keppler mitgeteilte, über das Abkommen vom 12. Februar 1938 hinausgehende Forderungen zurückgewiesen hatte, und in Österreich die nationalsozialistische

Die Voruntersuchung

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8.1.4.2.4 Zur Gesinnung

Dr. Günther legt auch ergänzend zu den mit seiner Eingabe vom 09. Juli 1949 vorgelegten Erklärungen und Bestätigungen weitere Mitteilungen zu dem Thema vor, dass Ing. Reinthaller seine Ämter und Funktionen nur korrekt, fachbezogen und „im österreichischen Sinne“ ausgeübt hat. Oberlandwirtschaftsrat Dr. Ing. Wilfried Kahler berichtet in seinem Schreiben vom 25. Mai 1949667, dass er in Linz bis September 1939 und in Wien bis 1943 für die ehemalige Landesbauernschaft Donauland tätig war, sodass Ing. Reinthaller als Landesbauernführer sein Vorgesetzter war. Kahler teilt mit, dass er als Beamter der oberösterreichischen Landwirtschaftskammer in Linz im Jahr 1938 in die Landesbauernschaft Donauland übernommen wurde, obwohl er nicht Parteimitglied war und seine politische Beschreibung für die Partei nicht günstig lautete. Dennoch wurde er nicht nur in die Landesbauernschaft Donauland übernommen, sondern sogar als Leiter deren Abteilung für Betriebs- und Volkswirtschaft. In dieser Tätigkeit habe er Ing. Reinthaller kennengelernt „als einen Mann, dessen Verhalten zu seinen Untergebenen, ganz gleich ob Parteimitglied oder nicht, stets sehr korrekt und vornehm war, und der persönlich stets sicherlich – nach seiner Überzeugung – nur das Wohl seiner Untergebenen und der Bauernschaft im Auge hatte um dem jede Gehässigkeit gegen Andersdenkende fernlag. […] Seinem aufrechten Charakter war sicherlich auch keine der Untaten von Organisationen und Mitgliedern der Partei gegen die Menschenwürde zuzumuten. Soweit mir bekannt ist, war ihm diese Einstellung und Haltung auch bei der Zentralstelle in Berlin und anderen Parteistellen nicht förderlich.“ Der Referent der oberösterreichischen Landwirtschaftskammer, Oberforstmeister Dr. Ing. Hans Hufnagl gibt in seiner undatierten Erklärung668 an, dass „Reinthaller ein gerechter Vorgesetzter war und seine Untergebenen stets mit Wohlwollen und nach ihrer fachlichen Fähigkeit und ihrer Arbeitsfreudigkeit beurteilt und gefördert hat“. Parteipolitisches Günstlingswesen sei ihm verhasst gewesen. Nach Ansicht des Dr. Ing. Hufnagl habe Ing. Reinthaller sich um die österreichische PrivatforstwirtAgitation zunahm und vor allem aus Graz und Umgebung „bedrohliche Nachrichten“ einlangten und sich „erste Anzeichen passiver Resistenz“ zeigten (ibid. 56ff, 61). Daher proklamierte er, nachdem er sich der Unterstützung der für die Selbständigkeitspolitik eintretenden Sozialdemokraten und Kommunisten versichert hatte (ibid. 60, 62), am 09. März 1938 bei einer Massenversammlung in Innsbruck die Durchführung einer Volksbefragung (nicht im Sinne einer Volksabstimmung als Plebiszit im engeren Sinn) für Sonntag, den 13. März 1938 (ibid. 64). 667 Beilage 40. 668 Beilage 41.

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schaft besonders verdient gemacht. In der Zeit der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich habe es die Absicht zur weitgehenden Verstaatlichung des privaten Großgrundbesitzes und zur völligen Entrechtung des bäuerlichen Kleinwaldbesitzes gegeben, wobei auch die Aufhebung des österreichischen Reichsforstgesetzes vorgesehen gewesen sei. In zähen Verhandlungen, die der Zeuge als „wochenlange erbitterte Kämpfe“ bezeichnet, sei Reinthaller dem erfolgreich entgegengetreten. Der Amtsrat der oberösterreichischen Landwirtschaftskammer, Alois Burgstaller, teilt in seiner Erklärung vom 08. Juni 1948669 mit, dass er nach dem Anschluss als Beamter der früheren oberösterreichischen Landwirtschaftskammer nach Errichtung des Reichsnährstands in Österreich in dessen Dienste übernommen wurde, obwohl er nicht der NSDAP angehörte und ihr auch nicht beitrat. Er war zunächst der Landesbauernschaft Donauland und später der Landesbauernschaft Niederdonau zugeteilt und daher Ing. Reinthaller als deren Landesbauernführer unterstellt. Er gibt an, während dieser Zeit Ing. Reinthaller als „einen verständnisvollen und entgegenkommenden Chef“ kennengelernt zu haben, „der seine Einstellung zu den Dienstangehörigen durchaus nicht von deren politischen Zugehörigkeit abhängig machte“. „Bei einem Personalstand von etwa 1300 Personen“ sei ihm kein Fall bekannt geworden, dass von Ing. Reinthaller jemand wegen seiner politischen Überzeugung benachteiligt worden wäre; vielmehr sei im Gegenteil dazu ein sehr erheblicher Teil von Angehörigen der früheren Landwirtschaftskammern beim Reichsnährstand weiter beschäftigt worden, obwohl diese jeweils nicht Parteimitglieder waren. Eine infolge seiner politischen Einstellung von der zuständigen Dienststelle des damaligen Reichsstatthalters in Oberdonau verfügte Kürzung seiner Bezüge sei von der Landesbauernschaft nicht vorgenommen worden, und auch sonst habe er in keiner Weise eine Benachteiligung erfahren. Dipl. Ing. Franz Duralia, Beamter des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft in Wien, gibt in seinem Zeugenaffidavit vom 10. Mai 1948670 an, dass er während des Krieges Landwirtschaftsoffizier beim Wehrkreiskommando XVII Wien gewesen sei. Er könne daher „wie sonst wohl niemand beurteilen“, dass Ing. Rein­ thaller als damaliger Landesbauernführer der Landesbauernschaften „Donauland“ und später “Niederdonau“ stets mit Energie und meist mit Erfolg bemüht war, daß bei Einberufungen zur Wehrmacht mit größter Schonung des Landvolkes und der in der Ernährungswirtschaft Tätigen vorgegangen werde, wobei lediglich nach sachlichen Gesichtspunkten und ohne Rücksicht auf die politische Gesinnung gehandelt wurde. 669 Beilage 42. 670 Beilage 43.

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Auch Dipl. Ing. Walter Nejeschleb, der zunächst in der Landesbauernschaft Donauland und nach deren Teilung in der Landesbauernschaft Niederdonau als Referent und kommissarischer Leiter der für Arbeitseinsatz zuständigen Abteilung tätig war, erklärt in seinem Zeugenaffidavit671, dass auf Grund der Weisungen des damaligen Landesbauernführers Ing. Anton Reinthaller die Unabkömmlichkeitsstellung von Bauern und Landwirten ausschließlich nach sachlichen Erwägungen vorgenommen wurde. Es erging vom Landesbauernführer sowohl an die zuständige Abteilung der Landesbauernschaft, in der also ich beschäftigt war, und an die nachgeordneten Dienststellen die strenge Weisung, daß bei Einberufungen zur Kriegsdienstleistung niemals parteipolitische Grundsätze maßgebend sein dürfen.

Dr. Hans Schlager, von 1938 bis 1945 bei der Kreisbauernschaft in Zwettl tätig, bestätigt in seinem Zeugenaffidavit vom 14. Mai 1948672 generell, dass Ing. Reinthaller als Landesbauernführer die Personalangelegenheiten immer nach rein sachlichen Gesichtspunkten und nicht nach der Parteizugehörigkeit führte. Damit überreinstimmend schildert Dr. Ernst Spatschil als früherer Leiter der Marktrechtsabteilung der ehemaligen Landesbauernschaft Niederdonau des Reichsnährstands in seiner Eidesstattlichen Erklärung vom 18. Mai 1948673, dass die Richtlinien und eindeutigen Dienstanweisungen, welche von Ing. Reinthaller für alle mit der Aufbringung und Ablieferung bewirtschafteter landwirtschaftlicher Erzeugnisse befassten Funktionäre des Reichsnährstandes gegeben wurden, vom Geiste strengster Objektivität, vollem Verständnis für die mannigfaltigen Schwierigkeiten des Landvolkes und dem Bestreben, Aufklärung und Erziehung an Stelle von Strafmaßnahmen zu setzen, diktiert waren.

Sowohl Schlager als auch Spatschil teilen mit, dass Ing. Reinthaller stets darauf hingewirkt hat, dass auch bei schweren Verstößen gegen die kriegsbedingten Bewirtschaftungsmaßnahmen674 möglichst milde Strafen verhängt wurden, ohne 671 Beilage 45. 672 Beilage 46. 673 Beilage 47. 674 Siehe insbesondere die Kriegswirtschaftsverordnung (KWVO), RGBl I 1939, S. 1609–1613 idF RGBl I 1942, S. 147–148. Daraus folgender Auszug: „§ 1 (1) Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseiteschafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden. (2) Dieselbe Strafe trifft denjenigen, der Bescheinigungen über eine Bezugsberechtigung oder Vor-

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zwischen Anhängern oder Gegnern der nationalsozialistischen Bewegung zu unterscheiden. Auch Lothar Brauneis, der bis 1938 Angestellter der Niederösterreichischen Landeswirtschaftskammer gewesen war und beim Anschluss in die Dienste des Reichsnährstands übernommen wurde, stellt in seinem Zeugenaffidavit vom 25. Mai 1948675 Ing. Reinthaller ein besonders positives Attest aus: Als Vorgesetzter war er mein sozialster Chef, den ich je hatte. Er verkehrte mit uns stets wie mit seinesgleichen, hatte immer für uns Zeit und half, wo er helfen konnte, dies ebenso ohne Rücksicht auf politische Gesichtspunkte. Besonders hoch rechneten wir es ihm an, daß er niemals Sonderrechte für sich in Anspruch nahm. Mir wurde z.B. auch bekannt, daß ihm von Parteistellen nahe gelegt wurde, als Landesbauernführer von Niederdonau doch auch einen landwirtschaftlichen Betrieb in diesem Gebiet zu erwerben. Trotzdem ihm dies keinerlei Mühe verursacht hätte, und es ihn nur eine Unterschrift gekostet hätte, hat er es nicht getan. Er aß auch mit uns am gleichen Tisch das gleiche Essen in der Werkküche und wählte seinen Platz jeweils ohne Rücksicht auf die Dienststellung seines Nachbarn.

Ganz ähnlich lautet die von Ing. Agrar Paul Volpini in dessen Zeugenaffidavit vom 14. Mai 1948676 mitgeteilte Beurteilung der Person Reinthaller, zu der er als Sachbearbeiter für die landwirtschaftliche Fachpresse des Reichsnährstandes gelangte:

drucke hierfür beiseiteschafft, nachmacht oder nachgemachte Bescheinigungen oder Vordrucke in den Verkehr bringt oder sich verschafft. (3) Hat der Täter in der Absicht gehandelt, sich zu bereichern, so ist neben der Strafe aus Abs. 1 oder Abs. 2 auf Geldstrafe zu erkennen. Die Höhe der Geldstrafe ist unbeschränkt, sie muß das Entgelt, das der Täter für die Tat empfangen und den Gewinn, den er aus der Tat gezogen hat, übersteigen. An Stelle der Geldstrafe kann auf Vermögensentziehung erkannt werden. § 1 a (1) Mit Gefängnis und Geldstrafe oder einer dieser Strafen wird bestraft, wer in Ausübung eines Gewerbes oder Berufs 1. für die Bevorzugung eines anderen bei der Lieferung von Waren oder Leistungen eine Tauschware oder einen sonstigen Vorteil fordert oder sich oder einem anderen versprechen oder gewähren läßt, 2. die Lieferung einer Tauschware oder einen sonstigen Vorteil anbietet, verspricht oder gewährt, um sich oder einem anderen Waren oder Leistungen bevorzugt zu verschaffen. (2) Wer nicht in Ausübung eines Gewerbes oder Berufs handelt, bleibt als Teilnehmer einer nach Abs. 1 strafbaren Handlung straffrei. […]“ Typische Anwendungsfälle waren beispielsweise das Entziehen von Fleisch aus der staatlichen Bewirtschaftung und Rationierung durch Schwarzschlachten und das Vortäuschen einer Bezugsberechtigung für Lebensmittel. 675 Beilage 44. 676 Beilage 50.

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Ich muß vor allem betonen und ausdrücklichst hervorheben, dass alle Mitarbeiter, gleichgültig, ob diese Parteigenossen waren oder nicht, ob sie nun aus dem Lager der ehemaligen christlichsozialen oder sozialdemokratischen Partei kamen, mit an Verehrung grenzenden Gefühlen zu Ing. Reinthaller emporblickten. Der Landesbauernführer Reinthaller kannte keine Beurteilung eines Mitarbeiters nach engstirnigen, doktrinären Parteigesichtspunkten. Für ihn war allein Fachwissen und anständiger Charakter maßgebend.

Volpini teilt auch mit, dass unter der Leitung von Ing. Reinthaller Mitarbeiter avancierten, die nie mit der Partei etwas zu tun hatten und dies auch offen ablehnten, was „ausschließlich auf Grund ihres fachlichen Könnens im Dienste des Bauerntums“ erfolgte, wobei er einige Namen von solchen Personen nennen kann. Er führt des Weiteren aus: Weit bekannt war Reinthallers stetiger und offener Einsatz für die Erhaltung und Pflege der charakteristischen Eigenschaften des Bauerntums seiner Heimat. Mir selbst trug er zu wiederholten Malen auf, zu achten, daß das religiöse Empfinden unserer Bauern nicht durch Veröffentlichungen verletzt, ja im Gegenteil gefördert werden solle. Es war bei uns Mitarbeitern der Landesbauernschaft offenes Geheimnis, daß Reinthaller auf Grund seiner kulturpolitischen Ansichten, in welche auch gewisse Auffassungen über die Art der Förderungen des heimischen Bauerntums hineinspielten, radikaleren Strömungen der Partei weichen mußte und nicht jenes Avancements teilhaftig wurde, welches Reinthaller kraft seines Fachwissens verdiente. Nie sah ich Reinthaller in Parteiuniform. Er war hilfsbereit gegenüber jenen, die wegen ihrer politischen Vergangenheit und antinationalsozialistischer Einstellung zu leiden hatten. Ich selbst war Zeuge, wie Reinthaller, ich glaube im Herbst 1938, im Beisein des damaligen Professor Ernst Feichtinger äußerte, er werde kein Mittel unversucht lassen, um den gewesenen Minister für Landwirtschaft und Landeshauptmann Josef Reither, aus Dachau zu befreien. Ebenso bot er im Sommer 1944 in meiner Gegenwart Fred Hennings677 seine Hilfe an, damit eine Bekannte, Frau Margret Schenker-Angerer, aus der polizeilichen Schutzhaft entlassen werde. […] Nie hat Reinthaller seine Stellung mißbraucht und zur Bereicherung verwendet. Durch seine Gesinnung und Einstellung glaubte er am besten seiner Heimat Österreich und den Bauern seines Landes dienen zu können. Es ist anders gekommen, als er es seinerzeit voraus zu sehen meinte.

Ing. Richard Pecher zitiert einen Kommentar von Ing. Reinthaller zum Strafverfahren 677 Fred Hennings, geboren 26.01.1895, verstorben 22.11.1981. Österreichischer Schauspieler, Kulturhistoriker und Schriftsteller.

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Der Strafprozess im Detail

gegen eine Frau, die sich abfällig über Hitler geäußert hatte, wie folgt: „Früher hat man bei einer Majestätsbeleidigung 5 Gulden gezahlt, und jetzt wird gleich alles so aufgezogen.“678 Dr. Thomas Ager wurde im Juli 1940 als Referent für bergbäuerliche Betriebswirtschaft und Alpwirtschaft in die Unterabteilung Bergland des Reichsernäherungsministeriums berufen, deren Leiter Ing. Reinthaller war.679 Ager betont die seines Erachtens besonders ausgeprägten fachlichen Qualitäten des Ing. Reinthaller und dessen überdurchschnittlichen Arbeitseinsatz. Er bestätigt auch, dass Reinthaller die Auswahl seiner Referenten nicht nach politischen, sondern einzig und allein nach rein fachlichen Gesichtspunkten getroffen hat. In besonderer Erinnerung ist ihm die folgende Begebenheit: Ich hatte einmal – ich glaube im Herbst 1941 – im Bergbauerngebiet Bayerns dienstlich zu tun. Dabei wurde mir berichtet, daß der damalige Gauleiter von München Wagner die Kruzifixe aus den Schulen hatte entfernen lassen. Darob große Entrüstung bei den Bauern. Nach Rückkehr nach Berlin erzählte ich im Anschluß an die Berichterstattung hievon Herrn Reinthaller. Dieser hat sich dann über das unverantwortliche wie unsinnige und dumme Verhalten der Münchener hohen Parteiführer auf das Schärfste ablehnend ausgesprochen und bedauert, daß die Leute solchen Elementen ausgeliefert seien.

Es gibt auch wiederum Bestätigungen von Hilfestellungen, die Ing. Reinthaller geleistet hat. Anna Sackenbacher teilt in ihrer Eidesstattlichen Erklärung vom 19. Mai 1948680 mit, dass ihr Mann sich in den Jahren 1938 und 1939 in sehr schwierigen beruflichen Verhältnissen befunden und Reinthaller ihn dabei unterstützt habe, sich um den Posten eines Viehkommissionärs in Salzburg zu bewerben, obwohl ihm bekannt war, dass ihr Mann ein absoluter Gegner des Nationalsozialismus ist. Frau Rosa Hintermayer gibt in ihrer Eidesstattlichen Erklärung vom 17. Mai 1948681 bekannt, dass sie eine Jugendfreundin der Ehegattin von Ing. Reinthaller und jüdischer Herkunft ist. Ing. Reinthaller habe auch nach dem Anschluss niemals etwas gegen den „innigen freundschaftlichen Verkehr“ zwischen seiner Gattin und ihr eine Einwendung erhoben. Vielmehr habe er ostentativ weiterhin mit ihr und ihren Brüdern Kontakt gepflogen und diese daher vor Angriffen und Benachteiligungen geschützt. Sie bestätigt, dass er auch einer anderen Freundin seiner Ehegattin, Frau Henriette Weiner aus Wien und deren Ehegatten ebenso beigestanden ist. Damit hat Ing. Reinthaller 678 Beilage 48. 679 Beilage 51. 680 Beilage 49. 681 Beilage 52.

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ihres Erachtens „gezeigt, daß er die gehässige Rassentheorie der NSDAP in keiner Weise geteilt hat“. Seitens der Gemeinde Attersee wird bestätigt682, dass sich aus einem von den Vertretern der drei politischen Parteien der Gemeinde Attersee erstellten Gutachten ergibt, dass Ing. Reinthaller sich „in der NS-Zeit gegenüber den Nichtnationalsozialisten immer anständig benommen hat, nie gehässig war und soweit es hier bekannt ist, niemanden denunziert hat“. […] „Auch sonst hat sich Ing. Anton Reinthaller immer menschlich benommen und kann ihm daher das beste Zeugnis ausgestellt werden.“ 8.1.5 Die Zeugenaussage des Dr. Günther

Im Zuge der strafrechtlichen Voruntersuchung wurden weitgehend jene Personen, von denen schriftliche Erklärungen vorgelegt worden waren, als Zeugen vernommen, sodass sie ihre Angaben auch mündlich in einer Zeugenvernehmung äußerten. Des Weiteren erfolgten auch Zeugenvernehmungen anderer Personen. Die betreffenden Vernehmungsprotokolle wurden dann so wie die schriftlichen Erklärungen durch Verlesung in die Hauptverhandlung des Strafverfahrens einbezogen.683 Erwähnenswert erscheint die Zeugenaussage des Rechtsanwalts Dr. Karl Günther selbst, der auf seine eigene Initiative hin im Zuge der Voruntersuchung vom zuständigen Untersuchungsrichter, Landesgerichtsrat Dr. Nanke, vernommen wurde.684 Die Vernehmung erfolgte so wie ein Teil der anderen in der Voruntersuchung durchgeführten Zeugenvernehmungen vor Ort, und zwar in diesem Fall beim Gemeindeamt Vöcklamarkt.685 Die Einvernahme des Dr. Günther erfolgte am 24.11.1949 und dauerte von 21:30 h bis 23:45 h. Aus dieser Zeugenaussage lässt sich dessen Motivation für den besonderen Einsatz bei der Verteidigung des Ing. Reinthaller ableiten. Dr. Günther kannte Ing. Reinthaller seit 1928. Dr. Günther war damals Rechtsanwalt in Vöcklamarkt. Nachdem er sich dort niedergelassen hatte, besuchte er den Schwiegervater des Ing. Reinthaller, Hermann Oehn, mit dem er schon seit Frühjahr 1919 bekannt war, und lernte Reinthaller bei diesem Besuch kennen. Sowohl 682 Bestätigung vom 07.06.1948, Beilage 53. 683 § 252 StPO 1873. 684 Vernehmungsprotokoll vom 24.11.1949, ON 67 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv. 685 Andere derartige Zeugenvernehmungen erfolgten beispielsweise in Goisern, beim Bezirksgericht Frankenmarkt, beim Kreisgericht Wels, beim Landesgericht Linz oder beim Landesgericht Salzburg; sie wurden durchwegs durch den Untersuchungsrichter Landesgerichtsrat Dr. Nanke selbst durchgeführt (vgl. ON 46, 47, 57, 61, 67, 75, 78 und 80 des Gerichtsakts des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv).

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Reinthaller als auch er waren im deutschvölkischen Turnverein und Schulverein tätig. Die beiden blieben in regem Kontakt. Dr. Günther war außerdem als Anwalt sowohl für Reinthaller als auch für dessen Schwiegervater des Öfteren tätig. Dr. Günther betont, dass Reinthaller trotz dieses engen Kontaktes nie versucht hat, ihn für die NSDAP zu gewinnen. Dr. Günther trat im Jahr 1933 in die Vaterländische Front ein. Dr. Günther meint, dass Reinthaller sich nie illegal betätigt hat, sondern vielmehr den Standpunkt vertrat, dass „der deutsch-nationalen Richtung, als deren Exponent er die NSDAP betrachtete, im Interesse einer ruhigen Entwicklung in Österreich ehestens wieder eine legale Betätigung gestattet werden muß“. Nach der Einschätzung Dr. Günthers ist es auf Reinthallers mäßigenden Einfluss zurückzuführen, dass im Bezirk Frankenmarkt von den örtlichen illegalen Nazis nie besondere Aktionen unternommen wurden; „die Sprengung der Eisenbahnbrücke in Vöcklamarkt ist zweifellos auf auswärtige Emissäre zurückzuführen“. Reinthaller habe selbst im Lager Kaiser-Steinbruch einen mäßigenden Einfluss ausgeübt. Im Juli 1936 trat dann eine Unterbrechung des Kontakts der beiden ein, weil Dr. Günther zunächst von Frankenmarkt nach Vöcklabruck und dann nach Raab im Innviertel übersiedelte. „Nach der Okkupation im März 1938“ war Dr. Günther bald Verfolgungen ausgesetzt, weshalb er Ing. Reinthaller um Hilfe bat. Bei einem späteren Zusammentreffen in Wels erklärte Reinthaller ihm, dass „er gegen diese Verfolgungswut auf das Entschiedenste schon aufgetreten ist“, und dass er auch im Fall des Dr. Günther „die Weisung gegeben hat, daß auch Dr. Günther gehört werden muß“. Einige Zeit später trafen die beiden einander in Linz, weil Reinthaller die Absicht hatte, Dr. Günther „bei einer großen wirtschaftlichen Institution“ als Rechtsberater zu verwenden. Dr. Günther betont, dass Reinthaller ihm auch bei dieser Unterredung nicht die Bedingung gestellt hat, der Partei beizutreten. Reinthaller erklärte vielmehr, „daß er auch im Landwirtschaftsministerium und Reichsnährstand viele Beamte gehalten hat, die der Vaterländischen Front angehört haben, und daß er in seinem Bereich den Auftrag gegeben hat, niemanden wegen dessen politischen Einstellung zurückzusetzen“. Dr. Günther wurde im Sommer 1938 und bis in das Jahr 1939 „besonders stark vom damaligen Gaurechtsamtsleiter und Präsidenten der Rechtsanwaltskammer, dem späteren Polizeipräsidenten Dr. Plakolm686, verfolgt“, und dieser beantragte „wiederholt beim Reichsjustizminister die Streichung des Dr. Günther aus der Anwaltsliste“. Deshalb wandte sich Dr. Günther erneut an Reinthaller, der verhinderte, 686 Dr. Josef Plakolm, geboren 22. Juli 1889, verstorben am 24. Dezember1956. Mitglied der SS. Von März 1938 bis zum Kriegsende Polizeipräsident in Linz. Zudem Gaurechtsberater und Gauführer des NS-Rechtswahrerbundes.

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dass diese Streichung erfolgte. Im Jahr 1940 übersiedelte Dr. Günther nach Mattighofen. Nach zwei Jahren setzte ihm Dr. Plakolm wiederum arg zu, sodass er sich woanders niederlassen wollte. Ing. Reinthaller arrangierte daraufhin, dass Dr. Günther Leiter der Rechtsabteilung der Innsbrucker Niederlassung der Umsiedlungstreuhandgesellschaft wurde. Diese Anstellung erfolgte, obwohl diese Niederlassung eine Prüfstelle des Reichsführers SS war und man dort von der politischen Vergangenheit Dr. Günthers Kenntnis hatte. Ing. Reinthaller pflegte auch während der NS-Zeit mit Dr. Günther ostentativ Kontakt, etwa als die beiden einander 1943 zufällig in Innsbruck trafen, als einige Begleiter Ing. Reinthallers anwesend waren. Dr. Günther hat sichtlich Ing. Reinthaller das alles nie vergessen und für diesen eine tiefe Dankbarkeit verspürt. Als im Jahr 1946 die Gattin von Ing. Reinthaller verhaftet wurde, weil sie Trägerin des Goldenen Parteiabzeichens war, erreichte Dr. Günther über Landeshauptmann Dr. Gleißner deren baldige Enthaftung. Dabei wurde Dr. Günther auf eigene Initiative tätig, ohne Kontakt mit Reinthaller zu haben. Dr. Günther übernahm dann offiziell die Verteidigung von Frau Reinthaller und gelangte wieder in Kontakt mit Reinthaller selbst. Dr. Günther sammelte dann zunächst Informationen über das Verhalten von Ing. Reinthaller während der NSZeit. Dabei bekam er „in kurzer Zeit mehr als 50 sehr gute Bestätigungen über sein untadeliges Verhalten und über seine selbstlosen Hilfeleistungen“. Diese Unterlagen sendete er zunächst an den in Nürnberg tätigen Verteidiger des Ing. Reinthaller; nachdem das zunächst beim Alliierten Gerichtshof gegen Reinthaller anhängige Verfahren vollständig eingestellt worden war, verwendete Dr. Günther diese Unterlagen für die Verteidigung des Ing. Reinthaller in Österreich. 8.1.6 Das Rechtsgutachten des Dr. habil. Hans Merkel zum Anschlussgesetz 8.1.6.1 Zum Autor Dr. habil. Hans Merkel687

Dr. jur. habil. Hans Merkel wurde am 3. November 1902 in Fürth als Sohn des Oberlandesgerichtsrats Hans Merkel geboren. Nach dem Studium in Würzburg und Marburg legte Merkel im Juni 1928 das Zweite Staatsexamen mit „Gut“ ab und wurde mit einer Arbeit über „Das gemeinschaftliche Testament der Ehegatten“ mit der Bestnote summa cum laude promoviert. Von 1925 bis 1930 leitete der an Kunst 687 Dr. jur. habil. Hans Merkel (1902–1993). Die Angaben zu dessen Lebenslauf sind entnommen aus Hubert Seliger, Vom Umgang eines DAV-Präsidenten mit seiner und der NS-Vergangenheit – Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Hans Merkel (1902–1993) und die Nürnberger Prozesse, Anwaltsblatt [Deutsches Anwaltsblatt, Deutscher Anwalt Verein (Hrsg.)] 2015, 906.

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und Philosophie interessierte Bildungsbürger Merkel den Zweigverband der Anthroposophischen Gesellschaft in Augsburg, deren Mitglied er seit 1922 war; er unterhielt enge Verbindungen zu führenden Personen der anthroposophischen Bewegung. Seit 1927 arbeitete er als Referendar, dann als Anwalt in der alteingesessenen Augsburger Wirtschaftskanzlei der Justizräte Oehler und Deiler. Zunächst befasste sich Merkel in seiner Kanzlei mit Spezialfragen des Brauereirechts, war doch Kanzleichef Arnold Oehler auch Syndikus des Vereins „Augsburger Brauereien e. V.“. Seit den frühen 1930er-Jahren verlegte sich Merkel dann auf Fragen des allgemeinen Wirtschaftsrechts und der landwirtschaftlichen Marktregelung. Große Anerkennung in Fachkreisen erhielt Merkel, als er das juristisch schwierige Konkursverfahren der Centralmolkerei Augsburg ohne Verluste für die Gläubiger in den Jahren 1932 bis 1934 durchführte und dann federführend allgemeine organisatorische Fragen der Molkereiwirtschaft in Augsburg und Umgebung löste. Erste Erfahrungen mit „planwirtschaftlichen Regelungen“ machte Merkel bei der Gründung des Zwangskartells „Oberbayerischer Milchversorgungsverband“, eine zentrale Wegmarke für Merkels spätere Karriere im Reichsnährstand. Durch seine Rolle bei der Reorganisierung der schwäbischen Milchwirtschaft ist laut Merkel Walther Darré bzw. der Leiter des Stabsamtes des Reichsnährstandes, Hermann Reischle, auf ihn als einschlägigen Experten aufmerksam geworden. Ende Juni 1934 (nach anderen Angaben im September 1934) wurde Merkel daher in das Stabsamt des Reichsnährstandes berufen. Hauptziele des 1933 gegründeten Reichsnährstandes waren neben der Reform des Bodenrechtes (insbesondere durch das sogenannte Erbhofgesetz) und der Errichtung einer ständischen Vertretung der Bauernschaft insbesondere die zentrale Organisation sämtlicher Verbände und Organisationen der Ernährungswirtschaft unter dem Dach des Reichsnährstandes, um dadurch eine einheitliche Lenkung und Überwachung der Waren- und Güterverteilung zu erreichen.688 Die Steuerung dieser Verbände sollte in der sogenannten „Marktordnung“ primär über die Kontingentierung der erzeugten Waren und ein Festpreissystem erfolgen.689 Zunächst wurde Merkel in der für Rechtsfragen zuständigen Haupt688 Hubert Seliger, Vom Umgang eines DAV-Präsidenten mit seiner und der NS-Vergangenheit – Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Hans Merkel (1902–1993) und die Nürnberger Prozesse, Anwaltsblatt [Deutsches Anwaltsblatt, DeutscherAnwaltVerein (Hrsg.)] 2015, 907. 689 Nach Hubert Seliger, Vom Umgang eines DAV-Präsidenten mit seiner und der NS-Vergangenheit – Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Hans Merkel (1902–1993) und die Nürnberger Prozesse, Anwaltsblatt [Deutsches Anwaltsblatt, DeutscherAnwaltVerein (Hrsg.)] 2015, 907, sei das eine „Form der ,reactionary modernism‘ (Jeffrey Herf )“, womit „das Rad der Zeit mit modernsten betriebswirtschaftlichen Mitteln zurückgedreht werden“ sollte, „indem durch optimale Organisation der Agrarproduktion dem Bauernstand wieder der erste Platz in der gesamtwirtschaftlichen Produktion gesichert werden sollte, ungeachtet der Tatsache, dass das Deutsche Reich seit dem Kaiserreich ein hochtechnisierter Industriestaat war“.

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abteilung im Stabsamt des Reichsnährstandes mit der Leitung der Abteilung für Marktrecht betraut. Das Stabsamt war organisatorisch die wichtigste Unterabteilung des Reichsnährstandes, die sich primär mit der politisch-ideologischen Gesamtkonzeption der deutschen Agrarpolitik im Sinne Walther Darrés befasste. Als im April 1936 das Stabsamt reformiert wurde, stieg Merkel zum Leiter der zur Hauptabteilung II (Recht und Wirtschaft) zusammengefassten Rechts- und Wirtschaftsabteilungen auf. Offenbar setzte man großes Vertrauen in Merkel, löste dieser doch als Leiter der Abteilung für Marktordnung niemand geringeren als den ins Ernährungsministerium wechselnden, führenden Kommentator des Reichserbhofrechts, Wilhelm Saure, ab. Mit Merkels Eintritt in den Reichsnährstand war die Unterstellung der verschiedenen Erzeugerverbände unter den Reichsnährstand bereits weitgehend abgeschlossen, sodass Merkels Aufgabe in erster Linie in der Vertiefung und im Ausbau der Marktordnung sowie ihrer publizistischen Propagierung und der Behandlung von Spezialfragen bestand. Im Zuge einer allgemeinen Verwaltungsreorganisation und -vereinfachung des Reichsnährstandes zu Beginn der 1940er-Jahre wurde das gesamte Stabsamt liquidiert. 1942 wurde Merkel zum Leiter der Rechtsabteilung im Reichsnährstand ernannt. Merkel wurde von Darré persönlich zum geschäftsführenden Präsidenten der für die Erforschung der agrarpolitischen Maßnahmen in der Zeit nach Kriegsende geschaffenen Studiengesellschaft für Deutsche Wirtschaftsordnung unter vollen Bezügen eines Hauptabteilungsleiter weiter angestellt und blieb vom Militärdienst befreit. Als 1943 alle früheren Hauptabteilungsleiter des Stabsamtes endgültig ihre Kündigung durch den Reichsnährstand erhielten, wurde Merkel als einziger von ihnen im Reichsnährstand weiterbeschäftigt und übte bis Kriegsende als Leiter der Rechtsabteilung des Reichsnährstandes faktisch die gleiche Funktion wie zuvor aus. Der SS gehörte Merkel seit April 1936 zunächst als Untersturmführer, ab 1939 als Sturmbannführer an und war als SS-Führer dem Stab des Rasse- und Siedlungshauptamtes zugeordnet. Das waren aber nur Ehrenränge.690 1942 erfüllte sich auch Merkels Traum von einer Universitätsstelle. Noch 1938 hatte sich das Angebot, den Lehrstuhl des abgesetzten Othmar Spann, des politisch schillernden Verfechters der „berufsständischen Ordnung“, an der Universität Wien zu übernehmen, wegen fehlender Freigabe durch den Reichsnährstand zerschlagen. Die Universität Berlin verlieh ihm für seine wissenschaftlichen Leistungen den Titel „jur. habil“ und ernannte ihn 1943 zum Dozenten für Bauern-, Boden- und Wirtschaftsrecht. 690 Dazu im Detail und kritisch Hubert Seliger, Vom Umgang eines DAV-Präsidenten mit seiner und der NS-Vergangenheit – Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Hans Merkel (1902–1993) und die Nürnberger Prozesse, Anwaltsblatt [Deutsches Anwaltsblatt, DeutscherAnwaltVerein (Hrsg.)] 2015, 908.

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Von Dezember 1945 bis Februar 1947 war Hans Merkel in verschiedenen Lagern in der britischen Zone interniert. Von der Spruchkammer Goslar wurde er aber als Entlasteter eingestuft. Obwohl von einem Hungerödem als Folge der Internierung geplagt, stellte sich Merkel im März 1948 sofort für die Verteidigung Walther Darrés im Wilhelmstraßen-Prozess zur Verfügung.691 Diese Verteidigung beinhaltete zwangsläufig auch die Rechtfertigung der Agrarpolitik des Dritten Reichs, auch gegenüber der Nachwelt.692 Von den Anklagepunkten, welche die Vorbereitung eines Angriffskrieges durch die Kontingentierung von Getreide betrafen, wurde Darré freigesprochen. Die Anklage hatte keinen Beleg vorweisen können, dass Darré an den sogenannten Schlüsselkonferenzen beteiligt gewesen war, die vor Kriegsausbruch stattgefunden hatten. Daher sprach das Gericht Darré in diesem Punkt aus Mangel an Beweisen frei. Dagegen sah das Gericht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einer Anordnung Darrés vom 23. Dezember 1938, die jüdische Besitzer von Land und Forsten gezwungen hatte, weit unter den Marktpreisen zu verkaufen. Auch die Mitwirkung Darrés an Umsiedlungsprogrammen in Polen sah das Gericht als erwiesen an. Nach Merkels Vorbringen verwaltete die Ostdeutsche Landbewirtschaftungsgesellschaft ordnungsgemäß landwirtschaftliche Betriebe in Polen, und die von Darré gegründeten Siedlungsgesellschaften dienten demnach nur der wirtschaftlichen Betreuung der deutschen Siedler durch Gewährung von Krediten und Förderung der Produktionsfähigkeit, nachdem die Umsiedelungen von polnischer Landbevölkerung und Beschlagnahmungen der landwirtschaftlichen Güter unter der Leitung Himmlers erfolgt waren. Aber nach Einschätzung des Gerichts fanden die Organisationen Darrés in Polen keinen von Himmler geschaffenen Zustand vor, sondern Darré wirkte selbst an der Germanisierungspolitik mit. Hingegen wurde die vertretene Blut und Boden-Theorie an sich vom Gericht weder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch als Anstiftung dazu angesehen. Schließlich wurde Darré wegen seiner Stellung als Reichsleiter der NSDAP im Anklagepunkt der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation verurteilt. Darré wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die seit 1945 erfolgte Internierung wurde ihm auf die Haft angerechnet. Nach dem Prozess kehrte Merkel in seine alte Kanzlei nach Augsburg zurück und 691 Wilhelmstraßen-Prozess: Der Wilhelmstraßen-Prozess war der Nachfolgeprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg gegen hochrangige Angehörige des Auswärtigen Amts, anderer Ministerien oder NS-Dienststellen (Fall 11). Benannt wurde er nach der Berliner Straße, in der das Auswärtige Amt und andere wichtige Ministerien ihren Sitz hatten. 692 Kritisch zu der von Merkel vorgenommenen Verteidigung Hubert Seliger, Vom Umgang eines DAV-Präsidenten mit seiner und der NS-Vergangenheit – Rechtsanwalt Dr. jur. habil. Hans Merkel (1902–1993) und die Nürnberger Prozesse, Anwaltsblatt [Deutsches Anwaltsblatt, DeutscherAnwaltVerein (Hrsg.)] 2015, 911f.

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assoziierte sich wieder mit Justizrat Deiler.693 Schon 1950 gehörte Merkel zum Gründungsmitglied des wiedererstandenen Augsburger Anwaltsvereins und übernahm von 1950 bis 1963 den Posten des ersten Nachkriegsvorsitzenden. Sein Expertenwissen als Wirtschaftsjurist brachte ihn ebenfalls 1950 in den Beirat des wiedergegründeten Deutschen Anwaltvereins (DAV). 1952 wurde Merkel als Beisitzer in den Gesetzgebungsausschuss des DAV für Bodenrecht berufen und im Folgejahr in den Vorstand des DAV gewählt. Auf dem Anwaltstag in Mannheim 1955 machte Merkel mit einem Referat zur „Überwindung der Zersplitterung der rechtsprechenden Gewalt“ Furore. Sein Referat hatte weitreichende Folgen und führte zur Einrichtung von Rechtspflegeministerien in Bund und Ländern. Im gleichen Jahr wurde Merkel als zweiter Vertreter des DAV in die Kommission des Bundesjustizministeriums zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit berufen und war von 1960 bis 1963 anwaltlicher Beisitzer im Anwaltssenat des BGH. Von 1963 bis 1970 war Merkel Präsident des Deutschen Anwaltsvereins. Es liegt die Annahme nahe, dass es zu einem Kontakt zwischen Ing. Reinthaller und Dr. habil Hans Merkel über den Reichsnährstand gekommen ist. Rechtsanwalt Dr. habil. Hans Merkel war jedenfalls neben Rechtsanwalt Dr. Felix Behmer mit Kanzleisitz in Traunstein als Verteidiger des Ing. Reinthaller in Deutschland tätig.694 So hat sich wohl auch die Gutachtertätigkeit des Dr. habil. Hans Merkel ergeben. Feststeht, dass Dr. Tiefenbrunner sich wegen eines solchen Gutachtens schriftlich auch an den bekannten österreichischen Völkerrechtsgelehrten Univ.-Prof. Dr. Alfred Verdross gewendet hatte, der die Erstellung eines solchen Gutachtens aber ablehnte.695 Dr. Merkel wurde kurz vor der in der Strafsache gegen Ing. Reinthaller ausgeschriebenen mündlichen Hauptverhandlung von Dr. Günther auch beigezogen, um die Haftzeiten Reinthallers in Glasenbach, Nürnberg, Dachau und Langwasser nachzuweisen, weil diese als Vorhaftzeiten im Falle der Verurteilung auf eine verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen waren.696

693 Die Kanzlei besteht heute noch als Rechtsanwaltskanzlei Merkel und Grünwald (www.kanzlei-am-herkulesbrunnen.de – Stand 07.01.2017). 694 Abschrift der Eingabe des Dr. Günther beim Bundesministerium für Finanzen vom 19.09.1951 zu 150.060 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 695 Abschrift des Schreibens von Dr. Tiefenbrunner vom 25.03.1950 und Antwortschreiben des Univ.Prof. Dr. Alfred Verdross vom 28.03.1950 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 696 Von Dr. Günther an Dr. Tiefenbrunner gesendete Abschrift des Schreibens von Dr. Günther an Dr. Merkel vom 14.10.1950 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner, worin Dr. Günther auch seine Einschätzung mitteilt, dass sowohl mit einer Verurteilung nach § 10 und § 11 VG als auch nach § 8 KVG zu rechnen sei.

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8.1.6.2 Das Rechtsgutachten zum Anschlussgesetz

Mit Eingabe vom 30. März 1950697 legt Rechtsanwalt Dr. Günther das Gutachten des Rechtsanwalts Dr. habil. Hans Merkel zum Anschlussgesetz698 vor – dies zum Beweisthema, dass Ing. Reinthaller auch das Verbrechen des Hochverrates am österreichischen Volke nach § 8 KVG nicht begangen habe. Dabei führt er begründend aus, dass für diese Frage vor allem entscheidend sei, „ob es sich bei der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich im März 1938 um eine Okkupation, eine einseitige Annexion oder eine staatliche Vereinigung aufgrund von regulären Staatsverträgen gehandelt hat, und ob die Selbständigkeit Österreichs bereits am 12. März 1938 ihr Ende gefunden hat, oder erst am 13. März 1938 durch die Kundmachung des Wiedervereinigungsgesetzes von diesem Tage im österreichischen BGBl. Nr. 75 und im DRGBl. I, S. 237“. Die fachliche Bedeutung der Person des Gutachters und dessen besondere Eignung zur Analyse dieser Thematik betont Dr. Günther, indem er darauf verweist, dass Dr. Hans Merkel vormals Dozent an der Universität Berlin gewesen und als Hauptverteidiger beim Alliierten Gerichtshof in Nürnberg tätig war und daher eingehende Kenntnis über diese staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Vorgänge gewann. Mit diesem Gutachten macht Dr. Günther geltend, dass Österreich bereits am 12. März 1938 wegen der an diesem Tag weitgehend erfolgten militärischen Besetzung und der an diesem Tag auch in noch nicht militärisch besetzten Gebieten weitgehend erfolgten NS-Machtübernahme nur mehr ein okkupierter oder annektierter Gliedstaat des Deutschen Reiches war, sodass am 13. März 1938 keine unabhängige österreichische Regierung mehr bestand und die damalige Regierung Seyß-Inquart lediglich „eine der zuständigen Autorität des Deutschen Reiches untergeordnete Landesregierung des neuen Gliedstaats“ wurde. Demnach sei die Konsequenz daraus, dass durch den Beschluss und die Kundmachung des Wiedervereinigungsgesetzes am Bundesstaat Österreich kein Hochverrat begangen werden konnte, weil „dieser Bundesstaat am 13. März 1938 nicht mehr als staatsrechtliches Subjekt bestanden hat“. Außerdem macht Dr. Günther damit geltend, dass die Beschlussfassung über das Anschlussgesetz nicht wirksam erfolgt sei, weil der Ministerrat zur betreffenden Sitzung nicht ordnungsgemäß einberufen worden sei, und nicht alle Minister bei dieser Sitzung anwesend waren. In Ansehung des Umstandes, dass die Mitglieder der Regierung Seyß-Inquart erst im Lauf der nächsten Tage die Ur697 Beweisantrag des RA Dr. Günther vom 30.03.1950, ON 90 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7 Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv. 698 Gutachten von Rechtsanwalt Dr. habil. Hans Merkel, Augsburg, Beilage Nr. 59 zur Eingabe ON 90 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien Vg 7 Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv.

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schrift des Gesetzesbeschlusses unterschrieben, führt Dr. Günther aus, dass diese zu dieser Zeit bereits Landesminister des Dritten Reiches und damit „dem Führer und Kanzler Adolf Hitler unbedingten Gehorsam schuldig waren“. Ansonsten verweist Dr. Günther auch darauf, dass die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich von den wichtigsten europäischen Mächten, insbesondere England, Frankreich und Italien, anerkannt wurde, und auch „von der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung stürmisch begrüßt wurde“. Dr. Günther argumentiert, dass Ing. Reinthaller bei seiner Mitwirkung am Anschlussgesetz aufgrund der Gesamtsituation nicht mehr in einer führenden oder einflussreichen Stellung war, wie sie Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 8 KVG ist, und dass die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich und die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten bereits am 12. März 1938 vollendet gewesen sei, sodass Ing. Reinthaller auch die von § 8 KVG erfasste Vorbereitung oder Förderung der NS-Machtergreifung nicht mehr habe begehen können. Das Gutachten Dr. Merkels ist zu folgender Fragestellung erstellt: „Ist in der Unterzeichnung des Bundesverfassungsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13.3.1938 das Verbrechen des Hochverrats zu erblicken?“. Es ist in zwei Teile gegliedert: in Teil A über die tatsächliche Entwicklung und in Teil B mit der rechtlichen Beurteilung („Die rechtliche Würdigung“). Die in Teil A enthaltenen Tatsachenfeststellungen basieren auf den Aussagen von Zeitzeugen, auf historischen Dokumenten sowie auf Beweisergebnissen aus gerichtlichen Verfahren wie dem Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt und dem Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess. Das Gutachten ist wie folgt gegliedert: Teil A Tatsächliche Entwicklung I. Der Anschlussgedanke von 1918 bis 1933 II. Die Zeit vor dem Anschluss III. Der Anschluss IV. Nach dem Anschluss Teil B Die rechtliche Würdigung I. Völkerrechtlicher Teil II. Staatsrechtlicher Teil III. Strafrechtlicher Teil Die einzelnen Kapitel des Teils A haben jeweils zusammengefasst den nachstehenden Inhalt: Der Anschlussgedanke von 1918 bis 1933. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Woodrow Wilson verkündete am 08. Jänner 1918 in seiner Botschaft an den Kongress der Vereinigten Staaten die bekannten 14 Punkte. Diese enthielten das Postulat nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in Bezug auf Öster-

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reich-Ungarn in Punkt 10 wie folgt lautete: „The peoples of Austria-Hungary, whose place among the nations we wish to see safeguarded and assured, should be accorded the freest opportunity of autonomous development.“ Der amerikanische Staatssekretär Lansing stellte in seinem Memorandum vom 21. September 1918 in Punkt 11 die folgende Forderung auf: „Reduction of Austria to the ancient boundaries and title of the Archduchy of Austria. Incorporation of Archduchy in the Imperial German Confederation.“ Am 12. November 1918 beschloss die Provisorische Nationalversammlung von Österreich699 einstimmig das Gesetz über die Staats- und Regierungsform. Der zweite Artikel dieses Gesetzes begann mit den Worten „Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik“.700 Die österreichische Konstituierende Nationalversammlung701 beschloss am 12. März 1919 ein Gesetz über die Staatsform, in dessen Artikel 1 neuerlich statuiert wurde, dass Deutsch-Österreich ein Bestandteil des Deutschen Reiches ist.702 Artikel 61 der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 bestimmte, dass Deutsch-Österreich nach seinem Anschluss an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl erhält.703 Allerdings wurde in Artikel 80 des Vertrages von Versailles Deutschland die Wiedervereinigung mit Österreich verboten, und in Artikel 88 des Vertrages von St. Germain wurde umgekehrt Österreich die Wieder699 Diese Nationalversammlung, die vorerst als Verfassungsgeber fungierte, war ein Provisorium, weil sie sich aus den Abgeordneten Deutschösterreichs zum ehemaligen Reichstag zusammensetzte, deren Mandat auf der Wahl des Jahres 1911 beruhte, 1917 abgelaufen und durch Gesetz verlängert worden war; diese Abgeordneten traten nicht als Reichstagsabgeordnete zusammen, sondern als am ehesten legitimierte Volksvertreter (Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, mit grafischen Darstellungen von Friedrich Lachmayer, Wien, 6. Auflage 1992, 189). 700 Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutsch-Österreich, Staatsgesetzblatt für den Staat Deutsch-Österreich Nr. 1918/5. 701 Diese setzte sich nach der Wahl vom 16.02.1919 aus gewählten Volksvertretern zusammen und ersetzte die Provisorische Nationalversammlung; entgegen diesen beiden Bezeichnungen handelte aber bereits die Provisorische Nationalversammlung nicht lediglich als vorbereitende, sondern als konstituierende Gewalt (Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, mit grafischen Darstellungen von Friedrich Lachmayer, Wien, 6. Auflage 1992, 189). 702 Gesetz vom 12. März 1919 über die Staatsform, StGBl. für den Staat Deutsch-Österreich Nr. 1919/174. 703 Sowohl Artikel 1 des österreichischen Gesetzes vom 12. März 1919 über die Staatsform als auch Artikel 61 der Weimarer Verfassung sind programmatische Normen; Deutschösterreich hat mit seinem Gesetz entgegen dessen Wortlaut nur seiner Absicht kundgetan, Bestandteil des Deutschen Reiches zu werden, zumal es an einer korrespondierenden Bestimmung der Weimarer Verfassung fehlt, wonach die Vereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich von einem erst noch vorzunehmenden Anschluss abhängig ist (arg. „…nach seinem Anschluß…“, Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, mit grafischen Darstellungen von Friedrich Lachmayer, Wien, 6. Auflage 1992, 192).

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vereinigung mit Deutschland untersagt.704 Dies geschah auf Initiative Frankreichs. Staatssekretär Lansing bemerkt dazu, dass es kaum eine offensichtlichere Zurückweisung des Selbstbestimmungsrechts geben könnte als das. Nach Ansicht des britischen Botschafters Sir Neville Henderson bestand darin der Grundfehler des Versailler Vertrages. Auch der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Herbert Hoover, war dieser Ansicht. Die österreichische Nationalversammlung beschloss am 01. Oktober 1920 eine Volksabstimmung über den Anschluss, die aber von den Entente-Mächten verhindert wurde. Es kam lediglich zu einigen von den Landesregierungen selbständig beschlossenen Abstimmungen. Am 24. April 1921 waren in Tirol 145.302 Stimmen für den Anschluss, 1.805 Stimmen dagegen. Am 18. Mai 1921 waren in Salzburg 98.546 Stimmen für den Anschluss, 877 Stimmen votierten gegen ihn. In der Sitzung des Nationalrates vom 14. September 1922 äußerte sich der frühere Staatskanzler Dr. Renner: Wir wissen ja alle, daß wir in der Konfiguration, in der wir leben, als dieses Deutsch-Österreich keine Zukunft haben […] Wir können uns solange am Leben erhalten, bis die Stunde der Befreiung kommt, bis wir uns als Deutsche entscheiden können zu dem Staatswesen, zu dem wir der Natur der Dinge nach gehören.

Von Gustav Stresemann ist folgende Äußerung vom 27. August 1938 [Anm.: sic. Recte wohl 1928] überliefert: „Die ganz übergroße Mehrheit in Deutschland und in Österreich ist für den Anschluss.“ Die angestrebte Zollunion zwischen Österreich und Deutschland wurde von den USA begrüßt, die kein Verständnis für den dagegen bestehenden Widerstand Frankreichs hatten. Der bayerische Staatsrechtler Univ.Prof. Dr. Hans Nawiasky konstatierte in seinen 1926 erschienen Buch mit dem Titel „Gesamtüberblick über das Deutschtum außerhalb der Reichsgrenzen“ auf Seite 8 wie folgt: „Aber immer aufs Neue bricht sich der Anschlussgedanke Bahn. Immer wieder entlädt er sich in mächtigen Volkskundgebungen großen Stils […] Wer an der einen oder anderen von ihnen teilgenommen, der weiß, dass sie nicht gemacht sind; es bedarf nur leichten Anstoßes, und schon setzen sich die Massen in Bewegung, um für ihren tiefsten Herzenswunsch Zeugnis abzulegen. Von den großen politischen Parteien haben drei den Anschluss auf ihr Programm geschrieben: Die Großdeutsche Partei, der Landbund und die Sozialdemokraten; auch in der vierten, christlich-sozialen Partei ist ein Teil unbedingt anschlussfreundlich […] Aber ich glaube bei ganz 704 Zum Staatsvertrag von Saint Germain en Laye siehe Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, mit grafischen Darstellungen von Friedrich Lachmayer, Wien, 6. Auflage 1992, 194.

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nüchterner Betrachtung doch mit Bestimmtheit aussprechen zu können, daß, wenn der Augenblick gekommen ist, in welchem die Verwirklichung möglich erscheint, die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Österreichs mit fliegenden Fahnen in geschlossenen Reihen dem Zuge des Herzens folgen wird“. Der christlich-soziale Politiker Max Hussarek, der vorletzte Ministerpräsident der Monarchie, machte 1918 die folgende Feststellung: „Es hieße Vogel-Strauß-Politik treiben, wenn man die populäre Zugkraft des Anschlusses an Deutschland leugnen würde. Vielmehr muß damit gerechnet werden, daß bei einer Volksabstimmung sich mindestens 95 % heute dafür aussprechen würden.“ Der Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel gab 1927 eine Regierungserklärung ab, die jede Annäherung der beiden Staaten forderte: „Die sich an diese bedeutsame Erklärung anschließenden Reden der berufenen Parteiführer aller vier Parteien des Nationalrates ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, wie Österreichs Volksvertretung gesinnt ist. Die Reden waren so eindeutig, daß der die Erörterungen des Nationalrates damals besprechende Artikel des „Temps“ erklären mußte: „Wenn die berufenen Parteiführer im Nationalrat sich so zum Anschluße bekennen, muß die letzte Täuschung aufgegeben werden, als ob diese Idee in Österreich etwa nur von einer Minderheit vertreten werde“. Dr. Merkel beendet dieses Kapitel daher mit der folgenden Zusammenfassung: a.) Der Anschluß wurde in beiden Ländern vom gesamten Volk und von allen Parteien bejaht, bevor es einen Nationalsozialismus gab. b.) Der Anschluß wurde in beiden Ländern, insbesondere auch von solchen Persönlichkeiten vertreten, die Gegner des Nationalsozialismus waren, oder von diesem stark befehdet wurden. (Dr. Renner, dem sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Loebe, Dr. Stresemann u.s.w.) c.) Der Anschluß wurde nur durch außenpolitischen Druck gegen den verfassungsmäßig erklärten Willen beider Staaten verhindert.

Die Zeit vor dem Anschluss. Das Abkommen zwischen Deutschland und Österreich vom 11. Juli 1936 enthält die Absichtserklärung des österreichischen Bundeskanzlers, „Vertreter der diesjährigen sog. nationalen Opposition in Österreich zur Mitwirkung an der politischen Verantwortung heranziehen, wobei es sich um Persönlichkeiten handeln wird, die das persönliche Vertrauen des Bundeskanzlers genießen und deren Auswahl er sich vorbehält“. Nach Dr. Seyß-Inquart war dieser Satz der Kardinalpunkt der österreichischen Innenpolitik bis zum Abkommen vom 12. Februar 1938. Denn ihm und seinem Mitarbeiterkreis war es nicht wichtig, den Anschluss zu vollziehen, weil sie fest davon überzeugt waren, dass bei einer Bereinigung der innenpolitischen Schwierigkeiten und einer außenpolitischen Entspannung der An-

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schluss sich schrittweise von selbst entwickelt. Retrospektiv hat Seyß-Inquart diesen Zeitpunkt im Jahr 1939 gesehen. Der britische Botschafter, Sir Neville Henderson, äußerte gegenüber dem österreichischen Gesandten in Berlin, Ing. Stephan Tauschitz, dass auch die Österreicher Deutsche sind und den Anschluss an Deutschland daher umsetzen sollten. Auch der ungarische Reichsverweser, Admiral Horty, sah im Anschluss an Deutschland den einzig sinnvollen Weg für Österreich. Der Beauftragte der Vereinigten Staaten, Sumner Welles, berichtet darüber, dass ihm der italienische Außenminister, Graf Ciano, im Februar 1940 mitgeteilt habe, dass Dr. Schuschnigg ihm gegenüber die Einschätzung geäußert habe, dass im Falle einer Besetzung Österreichs durch Deutschland die Mehrheit der Österreicher diese Besetzung unterstützen und daher bei einer Intervention Italiens mit den Deutschen gegen Italien kämpfen würde. Graf Ciano habe außerdem seine eigene Meinung mitgeteilt, dass die Mehrheit der Österreicher es lieber hätte, wenn Österreich Teil von Deutschland würde. Schuschnigg schrieb 1946, dass ein militärischer Widerstand die Besetzung Wiens und Zentralösterreichs nur für etwa 24 Stunden, vielleicht auch 48 Stunden verzögert hätte, aber die Massen in Wien eben um diese Zeit später dem Führer gehuldigt hätten, sodass ein militärischer Widerstand Österreichs nicht sinnvoll gewesen wäre. Der britische Journalist James Louis Garvin705 schrieb in der Ausgabe des Observer vom 21.11.1937, dass die „Eingliederung Österreichs in irgendein System engerer Einheit mit den anderen Deutschen nicht weniger natürlich und unvermeidlich sei, als der Zusammenschluß der deutschen Staaten unter Bismarcks Führung. Ohne eine Wiedervereinigung mit der Masse ihres Volkes hätten die Österreicher keine große und sichere Zukunft“. Über den von Dr. Schuschnigg am 09. März 1938 angekündigten Entschluss über die Durchführung einer bereits für den 13. März geplanten Volksabstimmung über die Eigenständigkeit Österreichs sagte der britische Botschafter Henderson nur: „It was the throw of a desperate gambler, and it failed.“ Nach der Aussage des Altbundespräsidenten Miklas war diese Volksabstimmung von Frankreich angeraten worden. Mussolini, der mit dem Gedanken von Berchtesgaden einverstanden gewesen war, warnte vor diesem Schritt und bezeichnete die von Schuschnigg beabsichtigte Volksabstimmung „als eine Bombe, die in der Hand Schuschniggs platzen würde“.706 Max Hoffinger sagte, dass er in dem Zeitpunkt, als man die Volksabstimmung ansetzte, überzeugt war, dass Hitler losschlagen werde. 705 James Louis Garvin, geboren 12.04.1868 und gestorben 23.01.1947, 1908 bis 1942 Herausgeber des Observer, 1926 bis 1932 leitender Redakteur der Encyclopaedia Britannica (www.bundesarchiv.de – Stand 14.02.2017). 706 Vgl. Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot-Weiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 64: „Hinsichtlich des ,Plebiscito‘ ließ mich Mussolini allerdings warnen: È un errore !“.

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Dr. Michael Skubl, Staatssekretär für Angelegenheiten des Sicherheitswesens in der Regierung Schuschnigg, war ein Gegner der von Schuschnigg angekündigten Volksbefragung, weil er meinte, dass dieses Vorhaben geeignet war, zahllose Angriffsmöglichkeiten und heftige Kritik auszulösen. Franz von Papen, der damals der deutsche Botschafter in Österreich war, hielt Schuschniggs Entschluss zur Volksbefragung für einen theatralischen Streich, nicht aber für einen Volksentscheid, weil er es als unmöglich ansah, ein objektives, neutrales Votum in weniger als acht Tagen vorzubereiten. Hitler erließ am 12. März 1938 eine Proklamation, wonach diese Volksbefragung nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann, weil es seit vielen Jahren überhaupt keine Wahl mehr gegeben hat, und alle Unterlagen für die Erfassung der Wahlberechtigten fehlen, keine Wählerlisten bestehen, keine Wählerkarten, und es keine Einsichtnahme in die Wahlberechtigung gibt, und keine Verpflichtung zur Geheimhaltung der Wahl und auch keine Garantie für die unparteiische Führung des Wahlaktes. Des Weiteren besteht auch keine Sicherheit für die Auszählung der Stimmen. Demnach entschloss er sich daher, den Millionen Deutschen in Österreich nunmehr die Hilfe des Reiches zur Verfügung zu stellen. Dr. Merkel beendet das Kapitel mit der nachstehenden Zusammenfassung: a.) England und Italien, die allein Schritte zur Verhinderung des Anschlusses hätten unternehmen können, unternahmen nichts. b.) Die von Bundeskanzler Dr. Schuschnigg angeordnete Volksabstimmung kam äußerst überraschend und wurde von Hitler als Scheinabstimmung angesehen. c.) Hitler entschloß sich daher zu raschestem Eingreifen und ordnete den Einmarsch an.

Der Anschluss. Der frühere Oberbefehlshaber des Heeres Walter von Brauchitsch bestätigte, dass bei der Übernahme dieser Funktion im Februar 1938 keine Vorbereitungen für militärische Maßnahmen gegen Österreich beim Oberkommando des Heeres vorhanden waren. Auch in den folgenden Wochen wurde weder ein Aufmarschplan noch ein Operationsplan gegen Österreich im Oberkommando des Heeres bearbeitet. Am 10. März 1938 wurden der damalige Chef des Generalstabes General Bock und der damalige Oberst von Manstein überraschend zu Hitler befohlen. Dort erhielten sie von Hitler persönlich den Befehl, die Vorbereitungen für einen sofortigen Einmarsch nach Österreich zu treffen. Sie meldeten sachgemäß, dass nicht das Geringste vorbereitet ist. Zur Ausarbeitung der notwendigen Befehle blieben ihnen nur einige Stunden Zeit, sodass alles aus dem Stegreif improvisiert werden musste. Der frühere General Feldmarschall Milch weilte am 10. März 1938 auf einem Skiurlaub in der Schweiz, als er von Göring telefonisch nach Berlin zurückgerufen wurde. Dort teilte Göring ihm mit, dass die Beziehungen zu Österreich

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wegen der von Schuschnigg geplanten Volksabstimmung gespannt seien und dass die deutsche Luftwaffe sich zu einem etwaigen Einsatz bereithalten müsse. Am Abend desselben Tages fand eine Besprechung im Propagandaministerium statt, in welcher über die Mitnahme und Verteilung von Flugblättern durch die Luftwaffe für den Fall gesprochen wurde, dass ein Einmarsch in Österreich erfolgt. Am 12. März 1938 blieb Göring als Vertreter von Hitler in Berlin. Im Einvernehmen mit Göring begab General Feldmarschall Milch sich nach Österreich, um den Einsatz der Luftwaffe selbst zu beobachten und zu überwachen. Am Nachmittag dieses Tages landete er mit dem Flugzeug am Flugplatz in Aspern bei Wien, wo schon die Geschwader der deutschen Luftwaffe standen. Milch beschrieb die Stimmung in der Bevölkerung Wiens so, dass über den Ablauf der Dinge lediglich Freude geherrscht habe, und erwähnt auch den am Abend durchgeführten festlichen Fackelzug. Nach den Angaben Dr. Schuschniggs empfing dieser am 11. März 1938 um 11:30 Uhr Seyß-Inquart und Glaise-Horstenau. Er trug diesen auf, Hermann Göring von der Abberaumung der Volksbefragung zu informieren. Nach einem Telefonat mit Göring informierten die beiden Dr. Schuschnigg, dass Göring nunmehr auch dessen Rücktritt forderte. Diese Angaben ergeben sich aus dem Buch von Dr. Schuschnigg mit dem Titel „Austrian Requiem“ aus 1947.707 In einer im Wilhelmstraßen-Prozess einbezogenen Eidesstattlichen Erklärung Dr. Schuschniggs vom 19. November 1945 gab dieser an, dass er am 11. März 1938 ungefähr um 7.30 Uhr oder 8.00 Uhr abends – infolge seines vorangegangenen Rücktritts als provisorischer Kanzler – von Bundespräsident Miklas aufgefordert wurde, die Ereignisse des Tages im Rundfunk bekannt zu geben, gegen die im Laufe des Tages von Deutschland an Österreich gestellten Forderungen zu protestieren und dabei überdies der Welt mitzuteilen, dass Österreich durch überlegene Gewalt gezwungen war, den deutschen Forderungen nachzugeben.708 Schuschnigg hielt dann seine bekannte Rundfunkansprache, in der er von dem aus Deutschland ausgeübten Druck berichtete und seinen Rücktritt bekanntgab.709 Gegen 11.00 Uhr derselben Nacht wurde von Bundespräsident Miklas gemäß der deutschen Forderung Seyß-Inquart zum Bundeskanzler von Österreich ernannt. 707 Vgl. die deutsche Fassung: Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot-Weiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 72. 708 Vgl. Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot-Weiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 76: „Außenminister Dr. Schmidt bedrängt mich, die provisorische Weiterführung der Geschäfte nach Möglichkeit zu beenden; ,wir dürfen nicht warten, bis morgen vielleicht die Straße zur Abdankung zwingt‘“. 709 Vgl. Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot-Weiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 79f.

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Diese Vorgänge des 11. März 1938 werden auch von anderen Zeugen so geschildert. Der frühere Außenminister Dr. Guido Schmidt erzählte, dass der Kanzler ihn auf eine möglichst kurzfristige Abberaumung der Volksbefragung drängte, ihnen aber seitens Berlin erklärt wurde, dass man sich damit nicht zufrieden gebe und nun auch die Demission Schuschniggs verlange. Dr. Otto Ender, damals Präsident des Rechnungshofs, berichtete, dass Hitler an Miklas am 11. März die Aufforderung richtete, bis 4 Uhr nachmittags eine nationalsozialistische Regierung einzusetzen, ansonsten „wird er einmarschieren“. Nachdem Miklas diese Frist nicht eingehalten hatte, intervenierte der deutsche Militärattaché Muff bei Miklas und Schuschnigg. Danach verkündete Schuschnigg seinen Abgang. Der Wiener Bürgermeister Richard Schmitz befand sich am Nachmittag des 11. März bei Präsident Miklas, der ihn hatte zu sich rufen lassen, als General Muff zu Miklas vorgelassen wurde. Muff erklärte kategorisch, er habe im Auftrag Görings zu melden, dass 150.000 Mann reguläres deutsches Militär binnen einer Stunde nach Österreich einmarschieren, wenn bis dahin „nicht ein Kabinett Seyß-Inquart ernannt“ ist. Auch der Staatssekretär für das Sicherheitswesen Dr. Skubl erzählte von diesem Ultimatum und gab an, dass Bundespräsident Miklas sich unter dem Eindruck dieser Ereignisse entschloss, die Demission Schuschniggs anzunehmen und Seyß-Inquart mit der Kanzlerschaft zu betrauen. Seyß-Inquart beschrieb in seinem im Wilhelmstraßen-Prozess vorgelegten Memorandum den ganzen Vorgang folgendermaßen: Um etwa 7.30 Uhr erschien Skubl mit der Meldung eines Grenzpolizeipostens, deutsche Truppen hätten die Grenze überschritten. Ich hatte das Gefühl, alles sagt: Na also, und der vorbereitete Abschiedsakt kam in Gang. Tatsächlich erfolgte der Einmarsch um 11.30 Uhr nachts. Schuschnigg hielt seine bekannte Rede. Kaum hatte er geendet, kamen verschiedene Herren zu mir, darunter Schuschniggs politischer Sekretär, ich glaube auch Schmitz, und drangen mich, ans Mikrophon zu gehen und mitzuteilen, daß ich als Innen- und Sicherheitsminister weiterhin für Ruhe und Ordnung sorge […] Ich habe daraufhin meine ebenfalls bekannte Rundfunkrede mit der Aufforderung zur Haltung der Ordnung gehalten. Nun ernannte mich Miklas zum Bundeskanzler. Bis dahin hatte ich für diese Sache nicht einen Finger gerührt […] Bei der Ernennung des Ministeriums unterstützte mich Schuschnigg. Er sah meine Liste durch, fand sie brauchbar und riet Miklas, sie zu akzeptieren. Dies geschah.710 Die Vereidigung sollte am nächsten Tag stattfinden.

710 Vgl. Kurt von Schuschnigg, Ein Requiem in Rot-Weiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 82.

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Dr. Merkel zitiert anschließend auch die – etwas selbstdarstellerisch anmutende – Aussage Hermann Görings, die dieser vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg abgelegt hat: Es kam dann, so viel ich mich erinnere, die Antwort, daß die Volksabstimmung abgesagt würde, daß Schuschnigg dem zustimmte. In diesem Augenblick hatte ich ein intuitives Gefühl, daß jetzt die Situation ins Rutschen kam und nunmehr endlich die lang und heiß ersehnte Möglichkeit bestand, die ganze und klare Lösung durchzuführen. Und von diesem Augenblick ab muß ich die Verantwortung für das weitere, was geschah, hundertprozentig auf mich nehmen, denn es war weniger der Führer als ich selbst, der hier Tempo angegeben hat und sogar über Bedenken des Führers hinwegschreitend die Dinge zur Entwicklung gebracht hat. Meine Telefongespräche sind ja hier verlesen worden. Ich verlangte, ohne mich mit dem Führer eigentlich noch darüber auszusprechen, spontan den sofortigen Rücktritt des Kanzlers Schuschnigg. Als auch dieser zugebilligt wurde, stellte ich die nächste Forderung, so daß nunmehr die ganze Angelegenheit zum Abschluß reif war und wie bekannt sich abspielte. […] Es tauchten nämlich schon wieder Pläne auf, daß der Führer nur als deutsches Staatsoberhaupt gleichzeitig Staatsoberhaupt Deutsch-Österreichs werden sollte, und sonst aber eine Trennung blieb. Das sah ich als untragbar an. Die Stunde war gekommen. Sie mußte ausgenutzt werden. […] Hingegen war von ausschlaggebender Bedeutung, dass sofort und in ausreichendem Maße Truppen, deutsche Truppen nach Österreich marschieren mussten, um jedem Gelüst eines Nachbarn, bei dieser Gelegenheit auch nur ein einziges österreichisches Dorf zu erben, einen Riegel vorzuschieben. […] Also um all diesen Hoffnungen ein für allemal vorzubeugen, die sich bei solchen Dingen leicht ergeben, wünschte ich ganz klar den Einmarsch der deutschen Truppen unter der Parole „Der Anschluß ist vollzogen, Österreich ein Teil Deutschlands und damit in seinem ganzen Umfang automatisch und vollkommen unter den Schutz des Deutschen Reiches und seiner Wehrmacht gestellt.“

Die weitere Entwicklung schildert Seyß-Inquart in seinem Memorandum folgendermaßen: In der Nacht kam Himmler mit dem Flugzeug nach Wien. […] Am 12. März früh rief ich Hitler an […] Ich hatte sodann eine Unterredung mit Miklas. Das Gespräch mit Hitler teilte ich ihm mit, auch daß Letzterer mich ersucht hatte, nach Linz zu kommen, weil er wolle mit dem Wagen heute hinfahren. […] Nachmittags flog ich mit Himmler nach Linz und fuhr Hitler entgegen. Gegen Abend fuhr Hitler in Linz ein. Ich habe noch niemals und nie mehr wieder so eine Begeisterung erlebt. Der Empfang war spontan und einzigartig. In meiner Begrüßung erklärte ich den Artikel 88 des Vertrages von St. Germain für nicht

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verbindlich. Er enthielt das Anschlußverbot. […] Nach der Kundgebung zog sich Hitler zurück. Er sagte mir zu, sofort nach Wien zu kommen, um die weitere Entwicklung zu besprechen. Eine Andeutung machte er nicht. Die allgemeinen, wirklich überwältigenden Kundgebungen in allen Teilen Österreichs und in allen Bevölkerungsschichten erfolgten unter der Parole: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Ich glaube, daß Hitler den Entschluß des folgenden Tages unter diesem Eindruck gefällt hat. Ich fuhr noch in der Nacht von Linz nach Wien mit dem Wagen zurück.711

Die von Hitler in Linz am 12. März 1938 abends um 20 Uhr gehaltene Ansprache enthält die folgenden Worte: Wenn die Vorsehung mich einst aus dieser Stadt heraus zur Führung des Reiches berief, dann muß sie mir damit einen Auftrag erteilt haben, und es kann nur ein Auftrag gewesen sein, meine teure Heimat dem deutschen Reich wiederzugeben. Ich habe an diesen Auftrag geglaubt, habe für ihn gelebt und gekämpft und ich glaube, ich habe ihn jetzt erfüllt.

Es gibt auch Filmmaterial, etwa den im Wilhelmstraßen-Prozess vorgeführten Film, das die Ovationen der Bevölkerung beim Einmarsch der deutschen Truppen und bei den Reden Hitlers zeigt. Garvin schrieb in der Ausgabe des Observer vom 13. März 1938 Folgendes zu diesen Vorgängen: „Overnight Austria has become virtually incorporated with the Reich. […] The Anschluß has been created […] Partly the thing has been done with the consent of a large proportion of the Austrian people.“ Dr. Merkel führt auch den Umstand an, dass die amerikanische Anklagebehörde im Wilhelmstraßen-Prozess die Anschauung vertrat, dass der Anschluss am 12. März 1938 vollzogen wurde, und zitiert diese wie folgt: Das Beweismaterial zeigt, daß er (Keppler) eine entscheidende Rolle als Hitlers und Görings Abgesandter während der Zeit zwischen 08. und 12. März spielte, als der Anschluß unter militärischer Drohung durchgeführt wurde. […] Die Tatsachen stehen fest, daß er an der Durchführung des Anschlusses, wie er tatsächlich am 12. März 1938 zustande kam, einen entscheidenden Anteil hatte.

Dr. Merkel führt schließlich auch völkerrechtliches Schrifttum an, in dem der 711 Damit übereinstimmend das Gedächtnisprotokoll von Franz Langoth (Zeugenaussage von Franz Langoth, Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv, mit der daran angeschlossenen „Gedächtnisniederschrift – Erinnerungen über die Ankunft Adolf Hitlers in Linz am 12. März 1938“).

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12. März 1938 als Datum des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich angesehen wird, und schließt dieses Kapitel mit der folgenden Zusammenfassung: a) Der Anschluß hat sich am 12. März 1938 vollzogen. b) Auf die Form des Anschlusses hat Göring entscheidenden Einfluß genommen. c) Völkerrechtlich gesehen lag die Aktivität beim Anschluß ausschließlich beim deutschen Reich. Die Organe des österreichischen Staates waren gezwungen, im Hinblick auf den diplomatischen und militärischen Druck zu resignieren.

Nach dem Anschluss. Dr. Merkel zitiert zunächst aus den Erzählungen Seyß-Inquarts über die Ereignisse des 13. März wie folgt: Gegen Mittag kam Staatssekretär Stuckart aus Linz mit dem Flugzeug. Er brachte einen Entwurf für ein Wiedervereinigungsgesetz Österreich-Deutschland mit dem Wunsch des Führers um eheste Durchführung. […] Schon jetzt trafen andauernd Verbindungsmänner der Berliner Zentralstellen ein, die sich mit den Ministerien und Ämtern in Österreich in Verbindung setzten. […] Eine Weigerung, zu der ich mich falls nicht außerordentliche Gründe, z.B. Gefährdung des Reiches vorliegen, aus innerster Überzeugung nicht hatte entschließen können, würde eine vollkommen verkrampfte Situation schaffen, die die Setzung vollendeter Tatsachen doch nicht verhindert aber allseits größte Schwierigkeiten geschaffen hätte. […] Ich berief einen Ministerrat ein, nachdem mir Wolf mitgeteilt hatte, der Bundespräsident werde der Durchführung keine Schwierigkeiten bereiten, er fahre inzwischen nach Hause und sehe dort meinem Besuch entgegen. Der inzwischen zusammengetretene Ministerrat genehmigte auf meinen Antrag den Gesetzesentwurf, der inzwischen durch eine Rechtssetzungsabteilung einige Formulierungsänderungen erhalten hatte. Die Abstimmung für 10. April war schon im 1. Entwurf vorgesehen. Nach der Verfassung vom 01.05.1934 konnte jede auch staatsgrundgesetzliche Verfassungsänderung vom Ministerrat mit Zustimmung des Bundespräsidenten beschlossen werden. Eine Abstimmung oder Bestätigung durch das Volk war nirgends und in keinem Falle vorgesehen. Falls der Bundespräsident, aus welchem Anlaß immer, seine Funktion zurücklegt oder dauernd nicht ausüben kann, gehen seine Befugnisse auf den Bundeskanzler über. Ich begab mich mit Dr. Wolf zum Bundespräsidenten. Dieser erklärte mir, daß er nicht wisse, ob die Entwicklung zum Wohl des österreichischen Volkes ausschlagen werde, er wolle aber dieser Entwicklung nicht entgegenstehen und zurücktreten, worauf ja alle verfassungsmäßigen Rechte auf mich übergingen. […] Ich wechselte mit dem Bundespräsidenten Schreiben, in denen unsere Absprache und sein Rücktritt festgelegt waren.712 Hierauf begab ich mich im Wagen nach Linz. Dort 712 Was in Widerspruch zur Aussage des damaligen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas steht, siehe Kapitel 8.1.7.

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traf ich etwa um Mitternacht ein und meldete dem Führer und Reichskanzler den Vollzug des Wiedervereinigungsgesetzes. Hitler war sehr bewegt. Es war lange still, Tränen rannen ihm über die Wangen. Schließlich sagte er – anwesend waren Dr. Stuckart und mein Staatssekretär Dr. Wimmer, daß es ihm vor allem Genugtuung bereite, seine Heimat ohne Blutstropfen in das Reich geführt zu haben.

Dr. Merkel nimmt dann Bezug auf die Beweisführung des Dr. Gustav Steinbauer bei der Verteidigung des Seyß-Inquart vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, wobei dieser auf eine beeidete Aussage des früheren Staatssekretärs Dr. Stuckart Bezug nahm, dass er zunächst den Auftrag erhalten hatte, ein Gesetz auszuarbeiten, mit dem Hitler in Personalunion auch Präsident Österreichs wird, dann aber überraschend von Hitler in Linz den Auftrag erhielt, „ein Gesetz zu entwerfen, das den direkten totalen Anschluß beinhaltet, das heißt, Österreich soll ein Land des Deutschen Reiches werden wie etwa Bayern und die übrigen deutschen Länder“. Wie bekannt, hat Dr. Stuckart dieses Gesetz dann auftragsgemäß ausgearbeitet, ist nach Wien geflogen und hat es dort den versammelten Ministern zur Annahme vorgelegt. Der frühere Gesandte des deutschen Auswärtigen Amtes, Carl August Clodius, schilderte den Vorgang folgendermaßen: In Linz hat mir Staatssekretär Stuckart, mit dem ich von früheren gemeinsamen Verhandlungen her gut bekannt bin, verschiedene Entwürfe für das österreichische Gesetz gezeigt und mich in einigen Punkten um meine Meinung gefragt, wobei ich ihn dann bei der Formulierung eines Entwurfes (ich glaube, es war bereits der 5.) unterstützt habe. Bei Herrn Stuckart konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß es sich hierbei lediglich um meine persönliche Meinung gehandelt hat und nicht etwa um einen Auftrag des Auswärtigen Amtes. […] Nachdem ich mich am Sonntag, den 13. März mittags in Wien bei Herrn Keppler gemeldet hatte, gingen Herr Keppler und Herr Stuckart zum Bundeskanzler Seyß-Inquart. Etwa eine Stunde später wurde ich von den beiden Herren ins Bundeskanzleramt gerufen, weil bei der inzwischen dort vorgenommenen Formulierung des reichsdeutschen Gesetzes die Frage aufgetaucht war, ob und in welchem Umfang die österreichischen Handelsverträge und Zahlungsabkommen, sowie die Vereinbarungen über die österreichischen Auslandsanleihen aufrecht erhalten werden müßten. Zu dieser Frage (Art. 2 des reichsdeutschen Gesetzes) die zu meiner Zuständigkeit gehört, habe ich mich dann eingehend geäußert und mich an den Verhandlungen mit den österreichischen Herren über diese Frage beteiligt.

Dr. Merkel nimmt auch auf den Umstand Bezug, dass „diese Sachbehandlung des Anschlußgesetzes“ den Vorschlägen entsprach, die Universitätsprofessor Dr. Adolf

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Merkl als ordentliches Mitglied des Institut international de droit public bereits im Jahr 1930 gemacht hatte. Demnach sah er die Alternativen, entweder einen verfassungsändernden Staatsvertrag zwischen Österreich und Deutschland abzuschließen, der ohne Bemühung der Gesetzgebung Österreich unmittelbar zu einem Bestandteil des Reiches macht, oder in Österreich ein verfassungsänderndes Bundesgesetz zu erlassen, das im Zeitpunkt des Inkrafttretens eines korrespondierenden Reichsgesetzes die Rechtswirkung des Anschlusses herbeiführt.713 Nun kommt Dr. Merkel darauf zu sprechen, welche Reaktionen des Auslands auf die Vorgänge erfolgten, die sich in Österreich vom 11. bis zum 13. März 1938 ereigneten. Mussolini erklärte am 16. März 1938 vor der italienischen Kammer, dass eine Intervention Italiens deshalb nicht infrage gekommen sei, weil der größte Teil des österreichischen Volkes nicht mehr unabhängig, sondern Teil des Deutschen Reichs sein wollte. Im englischen Oberhaus äußerte sich der Erzbischof von Canterbury dahingehend, dass die Vereinigung mit Deutschland von der großen Mehrheit des österreichischen Volkes unterstützt wurde. Lord Redesdale teilte dort seine Überzeugung mit, dass die in Österreich erfolgten Veränderungen von ernstem und großem Verlangen der Mehrheit des österreichischen Volkes getragen waren. Dabei nimmt Dr. Merkel auch auf die von den österreichischen Bischöfen am 18. März 1938 abgegebene Erklärung Bezug, wonach sie sich von allen gläubigen Christen erwarten, sich als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen. Das Ergebnis der am 10. April 1938 durchgeführten Volksabstimmung betrug in Österreich Ja-Stimmen von 4,453.772 bei einer Gesamtzahl der Stimmen von 4,471.477 und im Altreich eine Anzahl an Ja-Stimmen von 44,451.401 bei einer Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen von 44,964.228.714 713 Zu der von Univ.-Prof. Dr. Adolf Merkl nach dem Krieg geäußerten Beurteilung über das österreichische Anschlussgesetz siehe Kapitel 8.1.7. 714 Sicherlich ist zu unterscheiden zwischen Personen, die ohne spezifisch nationalsozialistische Gesinnung den Anschluss Österreichs an Deutschland propagierten, und Nationalsozialisten, von denen jedenfalls die Extremen für den Anschluss an Hitler-Deutschland waren. Der Anschluss kam aber eben mit einem vom NS-Regime beherrschten Deutschland, und spätestens mit dem am 12. März 1938 erfolgten Einmarsch entstanden eine generelle Anschluss-Euphorie, aber zudem ein – nicht zuletzt auch durch Machtdemonstrationen, Gewaltakte und Übergriffe – ausgeübter allgemeiner Gesinnungsdruck, für den Anschluss zu sein. Siehe Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, der diese Volksabstimmung pointiert als Scheinlegitimierung der Macht bezeichnet (S. 242), zur intensiven Propagandakampagne der NS-Führung und den von dieser ausgeübten Druck, „an der Abstimmung teilzunehmen und für das offensichtlich unabänderliche ,Ja‘ zu votieren“ (S. 201ff), und zur Interpretation des Abstimmungsergebnisses (S. 231ff). In diese Richtung weisen auch die Fragestellung der Volksabstimmung und die Aufmachung der bei der Volksabstimmung verwendeten Stimmzettel (abgebildet bei Gerhard Botz, ibid., 195). Zu betonen ist auch, dass im Zeitpunkt der Volksabstim-

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Am 02. April 1938 überreichte der britische Botschafter in Berlin, Sir Neville Henderson, dem damaligen Reichsaußenminister zwei Noten. In einer wurde die Umwandlung der Gesandtschaft in Wien in ein Generalkonsulat mitgeteilt. Auch aus der anderen Note ergibt sich, dass die britische Regierung davon ausging, dass Österreich als Staat nicht mehr existent ist: „Die britische Regierung behält sich ihre Stellungnahme zu den Fragen vor, die sich auf Verträge und andere Angelegenheiten beziehen, die sich daraus ergeben, daß Österreich aufgehört hat, als souveräner unabhängiger Staat zu bestehen.“ Im März 1938 verlautbarte das Department der Vereinigten Staaten von Amerika, dass der Gesandte der Republik Österreich in den USA, Edgar Prochnik das Staatsdepartment davon informierte, dass die Existenz Österreichs als unabhängiger Staat infolge der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich beendet und dementsprechend die österreichische Gesandtschaft in den USA aufgelöst ist und deren Geschäfte von der deutschen Botschaft übernommen wurden. Am 06. April 1938 teilte daraufhin der amerikanische Botschafter in Deutschland dem deutschen Reichsaußenminister mit, dass die Regierung der Vereinigten Staaten aufgrund dieser Umstände ihre Botschaft in Wien schließt und dort nunmehr ein Generalkonsulat einrichtet. In gleicher Weise wandelten zahlreiche andere Staaten ihre diplomatischen Vertretungen in Konsulate um, so z.B. Belgien, die Schweiz, Schweden, die Niederlande, die Tschechoslowakei und Frankreich. In Bezug auf das ehemalige Österreich schlossen Italien, die Schweiz, Frankreich und Belgien mit Deutschland neue Handelsverträge ab. Dr. Merkel beendet dieses Kapitel mit der nachstehenden Zusammenfassung: a.) Das österreichische Wiedervereinigungsgesetz wurde auf Befehl Hitlers erlassen. b.) Maßgebende Stimmen des Auslands erkannten damals die Akklamation durch den größten Teil des österreichischen Volkes an. c.) Die damaligen Regierungen der wichtigsten Länder, insbesondere auch des Westens, erkannten den Anschluß de facto und de jure an.

mung mit dem Einmarsch in Österreich und den bereits begonnenen Eingliederungsmaßnahmen schon Fakten geschaffen worden waren. Dass kein notwendiger Zusammenhang zwischen NS-Herrschaft und einer Vereinigung Österreichs mit Deutschland bestand, wird auch durch den Umstand deutlich, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Teil der Austromarxisten nach der nunmehrigen Überwindung des nationalsozialistischen Faschismus (entgegen der Moskauer Erklärung vom 30.10.1943) für eine Beibehaltung der Vereinigung Österreichs mit Deutschland eintrat (Ludwik K. Adamovich/Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger/Stefan L. Frank, Österreichisches Staatsrecht, Band 1: Grundlagen, Wien, 2. Auflage 2011, 90).

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Im folgenden Teil B nimmt Dr. Merkel die nachstehende rechtliche Beurteilung dieser Vorgänge vor715 (Hervorhebungen durch Kursivdruck entsprechen nicht dem Originaltext, sondern stammen von mir): Teil B Die rechtliche Würdigung. I. Völkerrechtlicher Teil 1. Der Anschluß eines Landes an ein anderes ist in erster Linie ein völkerrechtliches Problem. Vom angelsächsischen Rechtsdenken her wird der Anschluß als „annexation“ betrachtet. Statt vieler Einzelheiten wird verwiesen auf das grundlegende Werk von Green Heywood Hackworth (Teil A IV. Ziffer 10, dieses Gutachtens), welches den Anschluß unter diesem Stichwort behandelt. Auch die Moskauer Deklaration vom 30.10.1943, die unterzeichnet ist von den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, von England, und der Sowjet-Union spricht von annexation. Zu bemerken ist, daß die Originalfassung der Deklaration englisch ist. Demgegenüber steht die innerhalb Deutschlands weitverbreitete Auffassung, die bei aller Zurückhaltung oder auch Ablehnung gegenüber den Methoden und Maßnahmen Hitlers folgenden Standpunkt vertritt: Der Anschluß war ursprünglich in den Verfassungen beider Staaten als einmütig erklärter Volkswille verankert. Der Durchführung dieses Willens standen außenpolitische Hindernisse entgegen. Der Anschluss beseitigte nicht einen Widerstand des österreichischen Volkes, sondern ein außenpolitisches Hindernis, das bis dahin dem Willen des österreichischen Volkes entgegenstand. Hiernach wäre der Anschluß eine Staatsvereinigung und keine Annexation. Der Unterschied liegt darin, daß bei der Annexion der einseitige Wille des Herrschaftsstaates in den Vordergrund tritt, beim Anschluß und Zusammenschluß dagegen der beiderseitige Wille zur Vereinigung. Bei der Annexion schwingt mindestens ein Unterton der Mißbilligung mit. Der Begriff des Anschlusses als solcher enthält diese völkerrechtliche Mißbilligung nicht. 2. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Anschluß im Sinne einer Gebietsverschmelzung und der Durchführung des Anschlusses selbst. Die letztere kann in Form einer friedlichen Abstimmung, einer friedlichen Besetzung oder einer kriegerischen Besetzung vollzogen werden. Der erste Weg ist Österreich nach dem Zusammenbruch 1918 durch außenpolitischen Zwang versagt worden. Die Volksabstimmung, die Schuschnigg durchführen wollte, wird auch von österreichischer Seite bemängelt und wurde von reichsdeutscher Seite als Scheinabstimmung betrachtet. Dementsprechend schritt Hitler zur friedlichen Besetzung. Von einer occupatio bellica war keine Rede. Von einer occupatio pacifica unterschied sich der Einmarsch durch die Akklamation, also die volle Zustimmung der Bevölkerung. Eine 715 Die ungekürzt wiedergegeben wird, um einen sinnstörenden Umfang an Simplifizierung zu vermeiden, der mit einer auszugsweisen Darstellung dieser Ausführungen gegeben wäre.

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Besetzung ist regelmäßig gegen das besetzte Land gerichtet. Für reichsdeutsche Vorstellungen war der Einmarsch in erster Linie eine Demonstration gegenüber dritten Staaten, durch die erklärt wurde, Österreich in den völkerrechtlichen Bestand und Schutz des Reiches zu nehmen. Dies ist auch von der Verteidigung in Nürnberg vorgetragen worden. Der internationale Militärgerichtshof hat dazu ausführt: „Selbst wenn dies alles wahr wäre, so würde es doch unerheblich sein, da die Tatsachen klar beweisen, daß die Methoden, deren man sich zur Erreichung jenes Zieles bediente, die eines Angreifers waren. Entscheidend war, daß Deutschlands bewaffnete Macht für den Fall eines Widerstandes bereitstand.“ Vgl. Kraus, Kommentar zum Kontrollratsgesetz Nr. 10 S. 44. 3. Wer die damaligen Vorgänge mehr von außen betrachtete, sah in erster Linie die äußeren Formen des Anschlusses. Wer sie mehr von innen her erlebte, sah mehr die Haltung und Zustimmung der Bevölkerung. Wer den großdeutschen Gedanken bejahte, sah mehr die Erfüllung eines uralten Sehnsuchtszieles. Wer die politische Zerstückelung Mitteleuropas wünschte, sah die Verletzung völkerrechtlicher Verträge, auch wenn sie den Besiegten von 1918 aufgenötigt waren. Wer den Nationalsozialismus bejahte, sah mehr den Akt der Selbsthilfe (hierbei ist zu bemerken, daß die Selbsthilfe im englischen Völkerrecht eine große Rolle spielt, etwa bei der Rechtfertigung der Wegnahme der dänischen Flotte in Kopenhagen 1807). Wer den Nationalsozialismus verneinte, sah mehr eine Eingriffs- oder gar Angriffshandlung. Das objektive völkerrechtliche Urteil wird also dadurch erschwert, daß eine Reihe von Komponenten gefühlsmäßiger oder politischer Art mitschwingen. Aber auch bei Anhängern des Anschlußgedankens kann durchaus ein Widerstreit der Gefühle vorhanden sein. Denn man konnte wohl den großdeutschen Gedanken bejahen, ohne dass man damit den Nationalsozialismus und seine übersteigerten oder überstürzten Methoden bejahte. Und endlich kann das Urteil durch die rückschauende Betrachtungsweise verschoben werden. Diese lässt die Erfahrungen, die wir in den letzten 12 Jahren gemacht haben, in die Beurteilung der damaligen Vorgänge einfließen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die damals Handelnden diese Erfahrungen noch nicht hatten und dementsprechend aus der damaligen Zeit heraus beurteilt werden müssen. Denn auch wir können heute noch nicht wissen, was im Jahre 1962 als richtig gelten wird und wie man im Jahr 1962 rückblickend unsere heutigen Maßnahmen oder Handlungen beurteilen wird. 4. Für die weiteren Darlegungen dieses Gutachtens wird vom angelsächsischen Standpunkt ausgegangen, der den Anschluss als eine Annexion betrachtet. Die Auffassung, dass nur eine Occupation vorgelegen habe, ist nicht haltbar. Denn wenn eine Occupation vorlag, so war sie nicht Selbstzweck, sondern Mittel der Annexion. Dies wird m.E. vom österreichischen Standpunkt, wie er in dem Buch von Verosta „Die internationale Stellung Oesterreichs 1938 bis 1947“ niedergelegt ist (Seite 118) nicht genügend berücksichtigt. Die politischen Zwecke, wie sie

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mit dieser Rechtsauffassung [Anm.: Der nach dem Krieg vertretenen Auffassung, Österreich sei nicht annektiert und ein Bestandteil des Deutschen Reiches geworden, sondern bloß vorübergehend vom Deutschen Reich okkupiert, also besetzt gewesen] angestrebt werden716, würden in gleicher Weise mit der Restitutionstheorie erreicht werden können. Durch die Siegermächte wurde die im Jahre 1938 vollzogene Annexion als völkerrechtlich nichtig erklärt und dementsprechend der Zustand wieder hergestellt, der völkerrechtlich vor dem Anschluss bestand. 5. Die völkerrechtlichen Wirkungen der Annexion werden in dem führenden deutschen Handbuch des Völkerrechtes, Band Staatensuczession von Schönbörn, Berlin 1913, folgendermaßen wiedergegeben: Für das Völkerrecht kommt in Betracht „nur die Annexionserklärung seitens des annektierenden Staates nebst der effektiven Überwältigung seiner Selbständigkeit.“ […] Freilich kann es auf diese Weise oft zweifelhaft sein, von welchem Zeitpunkt an die Annexion als vollzogen anzusehen ist. Die Annexionserklärung ist hierfür wohl nur dann maßgebend, wenn es im einzuverleibenden Staat entweder überhaupt nicht zu energischem Widerstand kommt, oder wenn erst nach dessen Niederwerfung die Annexionserklärung folgt.“ (Seite 87). „Die Wirkungen der totalen Annexion sind aus den Prinzipien des Völkerrechts abzuleiten. Die juristisch wichtigste Tatsache ist der einseitig herbeigeführte Wechsel der Staatsgewalt. Was die Rechtslage des Gebiets betrifft, so erstreckt sich die Inkorporation auf den inkorporierten Staat in seinem ganzen Umfang.“ (Seite 88). „Die Untertanen des inkorporierten Staates kommen mit der Inkorporation unter die Staatsgewalt des Inkorporierenden. In der Regel wird ihnen dessen Staatsangehörigkeit verliehen. Der annektierende Staat kann in dem zu annektierenden Gebiet ein Plebiszit zulassen (wie bei der Annexion Sardiniens 1860), aber auch wenn er das nicht tut, oder wenn das Plebiszit gegen die Annexion ausfällt, wird dadurch an den völkerrechtlichen Wirkungen der trotzdem vorgenommenen Annexion nichts geändert. Da der Begriff der Staatsangehörigkeit einen zugehörigen Staat voraussetzt, so ist es nicht möglich, daß einem Angehörigen des annektierten Staates über die Annexion hinaus seine alte Staatsangehörigkeit als solche erhalten bleibt. Höchstens könnte sie in scheinbar abgeschwächter, juristisch aber von Grund auf gewandelter Gestalt als eine besondere Provinzialangehörigkeit fortleben.“ (Seite 89). „Juristisch ist der annektierende Staat frei zu bestimmen, welche rechtliche Stellung den bisherigen Staatsangehörigen des annektierten Staats zukommen soll. Das einzelne Individuum hat keine rechtliche Möglichkeit, sich dagegen aufzulehnen. Dies folgt daraus, daß jeder Staat selbstherrlich und zugleich mit völkerrechtlicher Wirksamkeit den Kreis seiner Untertanen und seiner Staatsangehörigen zu bestimmen befugt ist.“ (Seite 90).

716 Siehe dazu in Kapitel 8.1.7.

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„Die Rechte und Pflichten des annektierten Staates aus völkerrechtlichen Grundrechten sind mit Vollziehung der Annektion schlechthin erloschen.“ (Seite 92). „Die innere Rechtsordnung des annektierten Gebietes unterliegt ebenso vollständig der Staatsgewalt des Inkorporanten. Schwierigkeiten in der Praxis macht hier freilich oft die Bestimmung des Momentes, in welchem die Annektion perfekt geworden ist, mithin die Kompetenz der neuen Staatsgewalt begründet ist. Allgemein lässt sich nur sagen, daß nach völkerrechtlichen Grundsätzen der Zeitpunkt der tatsächlichen Beseitigung der alten Staatsgewalt entscheiden muß. Die Staatsorgane des Inkorporanten werden sich freilich regelmäßig nach dem Datum der Annektionserklärung richten.“ (Seite 96). 6. Die erste Inkorporationserklärung in feierlicher Form hat Hitler in Linz abgegeben, in einem Zeitpunkt, in dem Himmler als Organ der vollziehenden Gewalt bereits einen Tag in Wien war717, die deutschen Flugzeuge den österreichischen Luftraum beherrschten oder auf dem Flugplatz in Aspern standen und auf der Straße von Linz nach Wien, der Hauptverkehrsader die deutschen Truppen marschierten. Irgendein Widerstand wurde in ganz Österreich nicht geleistet. Auch die angrenzenden Staaten verhielten sich völlig ruhig. Die Erklärung in Linz war daher die erste völkerrechtliche Manifestation des Anschlusses. Mit Recht ist daher die Anklagebehörde im Wilhelmstraßen-Prozeß vom 12.03.1938 als dem Tag des Anschlusses ausgegangen. Dies entspricht auch der allgemeinen völkerrechtlichen Auffassung. So führt das maßgebende Dictionaire Diplomatique de Frangulis Paris 1934 zur Frage der Annexion folgendes aus: „Die juristischen Folgen der Annexion sind vielfältige. Grundsätzlich verbindet sich das annektierte Land mit dem Staat, dessen Teil es geworden ist, „il cesse d’être un Etat souverain.“ Und das Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie von Hatschek – Strupp, Berlin 1924, stellt unter dem Stichwort Gebietserwerb fest: „Notwendig ist eine gehörige Erklärung des Einverleibungswillens in einer auch für die anderen Staaten erkennbaren Weise. Nicht die militärische Eroberung, sondern die Annexionserklärung ist daher das juristisch Entscheidende.“ (Seite 368). 7. Für das vorliegende Gutachten wird fernerhin unterstellt, daß der Einmarsch Mittel der Annektion war und daß nach angelsächsischer Auffassung in diesem Einmarsch eine Oc717 Vgl. die Aussage des damals kurzzeitig als Staatssekretär des Kabinetts Seyß-Inquart für das Sicherheitswesen amtierenden Dr. Michael Skubl, wonach er am 12. März 1938 gegen 5:00h früh Heinrich Himmler, der mit großem Gefolge ankam, vom Flugplatz Aspern abholte (Vernehmungsprotokoll ON 61 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv), und die Aussage des Franz Langoth, wonach dieser am Morgen des 12. März sich mit Ing. Reinthaller im Hotel Regina befand, als für diese überraschend Heinrich Himmler in das Hotel kam (Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv, AS 295 verso).

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cupationshandlung liegt. Für die beiden ersten Tage gilt daher Occupationsrecht, daneben seit der Proklamation in Linz auch Annexionsrecht. Einschlägig sind die Grundsätze der friedlichen Occupation. Vergleiche dieses Stichwort im Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie von Hatscheck-Strupp, Berlin 1924, Band 1 Seite 343. „Wirkung der Occupation ist Erwerb der völkerrechtlichen Gebietshoheit für den occupierenden Staat. Er ist berechtigt, die Herrschergewalt in dem occupierten Land auszuüben, sie allein unter Ausschluß jedes anderen Staates auszuüben.“ Es steht unter allen Umständen fest, daß eine kriegerische Occupation nicht vorlag. Aber auch dort gelten die gleichen Grundsätze. Ihre Wirkung ist 1. die gewaltsame Suspension des feindlichen Souverains von der Ausübung der Gebietshoheit im besetzten Gebiet. 2. Der Übergang der Ausübung der feindlichen Gebietshoheit im besetzten Gebiet auf den Occupanten. Die Suspensionswirkung ergibt sich zweifelsfrei aus Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung. Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie a.a.O. S. 156. „Die Gebietshoheit, die der Occupant im besetzten Gebiet ausübt, ist die des occupierten Staates, an dessen Stelle der Occupant infolge der Besetzung tatsächlich getreten ist.“ (Seite 157). „Dem Occupanten steht kraft des ihm verliehenen Rechtes zur tatsächlichen Ausübung der feindlichen Gebietshoheit im besetzten Gebiet die Befugnis zum Erlass von Rechtsnormen zu.“ (Seite 158). „Bleiben die einheimischen Beamten im Dienst, so sind sie dem Occupanten zur gewissenhaften Erfüllung ihrer amtlichen Obliegenheiten verpflichtet“. (Seite 163). Tatsächlich kommt es aber auf diese Grundsätze deshalb nicht an, weil spätestens von der Linzer Proklamation an Annexionsrecht gilt. Aber auch die Grundsätze über Occupation zeigen, daß auf die Besatzungsmacht die gesamte vollziehende Gewalt und die Befugnis zur Rechtssetzung übergeht. Die Besatzungsmacht bringt regelmäßig ihr eigenes Recht mit und das gilt erst recht für Hitler, der sofort alle Maßnahmen traf, um Staat und Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung dem reichsrechtlichen Zustand anzupassen. 8. Die Tatsache der Annexion wird endlich auch noch bewiesen durch die völkerrechtliche Anerkennung, die sie damals gefunden hat. (Vgl. Teil A, IV. 9–12.) Hier ist nur noch auf das Gutachten des bekannten Völkerrechtlers Kaufmann zu verweisen, das dieser im Wilhelmstraßen-Prozeß abgegeben hat. Kaufmann mußte wegen seiner Zugehörigkeit zum Judentum während des dritten Reiches aus Deutschland emigrieren und ist heute Ordinarius für Völkerrecht an der Universität München. Er führte aus: Frage: „Im Jahre 1938 wurde Österreich in das Deutsche Reich eingegliedert. Damals ha-

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ben – wie ich in meinem Beweisvortrag noch dokumentarisch nachweisen werde, – eine große Anzahl ausländischer Mächte wie der USA, Großbritannien und Frankreich ihre Botschaften und Gesandtschaften, die sie in Wien unterhielten, in Generalkonsulate umgewandelt. Sehen Sie da eine de jure des neuen Status?“ Antwort: „Ich würde darin eine Anerkennung de jure des neuen Status herleiten, insbesondere wo es sich zugleich daraus ergibt, daß die bisherigen diplomatischen Vertreter in Berlin nunmehr als die diplomatische Vertretung für das durch die Eingliederung vergrößerte Deutsche Reich angesehen wurden.“ Frage: „Würden Sie den gleichen Schluß ziehen, Herr Professor, aus der Tatsache, daß nach dem Anschluß eine große Reihe ausländischer Staaten bei dem Deutschen Reich nachgesucht haben um das sogenannte Exequatur für Konsuln in Städten von Österreich?“ Antwort: „Auch darin würde ich einen deutlichen Hinweis darauf sehen, daß die Staaten damit die neue Lage de jure anerkannt haben.“ Frage: „Und eine letzte Frage. Würden Sie aus der Tatsache, daß ebenfalls eine ganze Reihe ausländischer Staaten mit dem Deutschen Reich Verträge wirtschaftlicher Art schlossen oder auf dem Gebiet des Rechtshilfewesens oder über Zollfragen, die das Gebiet Österreichs betrafen, würden Sie daraus auch den gleichen Schluß ziehen?“ Antwort: „Auch daraus ist der gleiche Schluß zu ziehen und ich darf erwähnen, daß in der Debatte innerhalb des International Law Institute at Brussel der hervorragende Jurist Sir Cecil Hoorst, der Rechtsberater des Foreign Office war und später Präsident des Permanent Court of International Justice – das als eines der Beispiele für eine implizierte de jure Anerkennung gesehen hat in einem Abschluss von Verträgen mit den betreffenden Staaten.“ Aussage vom 3. Juni 1948, deutsches Protokoll 7272. Ergebnis a.) Nach angelsächsischer Rechtsauffassung, die gegenwärtig den westlichen Kulturkreis beherrscht, war der Anschluß Annektion. b.) Die Annektion wurde vollzogen mit der erstmaligen Proklamation Hitlers am 12. März 1938 zu Linz. c.) Auch die amerikanische Anklagebehörde im Wilhelmstraßen-Prozeß hat die Anschauung vertreten, daß der Anschluß vollzogen war am 12.03.1938. II. Staatsrechtlicher Teil. 1. Mit der Proklamation Hitlers am 12.03.1938 war die Annexion Österreichs in völker-

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rechtlich wirksamer Weise ausgesprochen worden. Bereits an diesem Tag befand sich der größte Teil des österreichischen Raumes in reichsdeutscher Hand und spätestens bis zum Mittag des 13.03.1938 konnte die Besetzung als abgeschlossen angesehen werden. Das Vorgehen Hitlers wurde im Ausland allgemein als Annexion betrachtet und als solche anerkannt. Erst in der zweiten Hälfte des Krieges wurde sie als Null und Nichtig erklärt. Für die Betrachtung der Verhältnisse im März 1938 gilt also Annexionsrecht. Die hauptsächlichsten Wirkungen der Annexion waren: a) Das österreichische Staatsgebiet wurde Bestandteil des Reichsgebiets. b) Die österreichische Wehrhoheit, Polizeihoheit, Verwaltungshoheit und Wirtschaftshoheit gingen auf das Reich über. c) Der österreichische Staat erlosch als völkerrechtliches Rechtssubjekt. d) Mit dem Zeitpunkt der Annexionserklärung verlor die in diesem Zeitpunkt im Amt befindliche österreichische Regierung jede Regierungsgewalt. 2. Diese völkerrechtlichen Folgen und staatsrechtlichen Wirkungen der Annexionserklärung sind seit jeher unbestritten. Sie galten bei der Besetzung des Kirchenstaates durch Italien, bei der Eingliederung der italienischen Gebiete in das Königreich Sardinien, sie galten bei Umgestaltung der europäischen Landkarte durch Napoleon und bei der Umgestaltung des innerdeutschen Raumes durch Bismarck. Jeder Eroberer bringt seine Macht mit und das Recht, das seiner Macht dient. Schon während des 12. und 13. März trafen Minister des Deutschen Reiches und Vertreter der Berliner Zentraldienststellen in Wien ein, um die Umschaltung von Verwaltung und Wirtschaft auf die im Reich geltenden Grundsätze vorzunehmen. Die Grundsätze des damaligen deutschen Staatsrechtes traten mit sofortiger Wirkung in Kraft, soweit sie die Grundelemente der Verfassung betrafen. Soweit in der Folgezeit Gesetze erlassen wurden, die sich auf diese verfassungsrechtlichen Materien bezogen, hatten sie nur eine deklaratorische, keine konstitutive Bedeutung. „Die Fundamentalsätze des nationalsozialistischen Verfassungsrechtes traten ohne schriftliche Verlautbarung unmittelbar mit der Wiedervereinigung in kraft. Auch einzelne fundamentale Verfassungsgesetze des Altreichs griffen in ihrer Geltung ohne weiteres auf Österreich über, weil ohne ihre Wirksamkeit eine Zugehörigkeit zum deutschen Reich nicht möglich ist. Das ist vor allem bei den Verfassungsgesetzen der Fall, die das Amt des Führers und Reichskanzlers, die Zuständigkeiten der Reichsregierung, die Funktionen der NSDAP als der volksführenden und staatsbestimmenden Bewegung des Reiches, die Aufgabe des Reichstags und die politischen Rechte des Volkes regeln.“ Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches 1939, Seite 96. 3. In diesem Zusammenhang gehören auch folgende Ausführungen des maßgebenden deutschen Lehrbuchs für Völkerrecht (von Liszt / Fleischmann, Berlin 1925): „Staat im Sinne des Völkerrechts ist die selbstherrliche Gebietskörperschaft, d.h. die auf einem be-

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stimmten Gebiet angesiedelte, durch eine selbständige Herrschergewalt zusammengefasste menschliche Gemeinschaft. Zum Begriff des Staates gehören mithin 3 Merkmale: 1. Die Staatsgewalt. 2. Das Staatsgebiet. 3. Das Staatsvolk. (Seite 86).“ „Ein Staat ist entstanden, sobald alle drei Merkmale des Staatsbegriffes gegeben sind. Er ist untergegangen, sobald eines von ihnen wegfällt.“ (Seite 89). „Auch der Untergang eines Staates kann auf friedlichem oder auf kriegerischem Weg erfolgen. Er kann auf dem Willen seiner Bürger beruhen. […] Der Untergang eines Staates kann aber auch durch den Willen eines fremden Staates, namentlich durch Waffengewalt herbeigeführt werden. So sind 1866 Hannover, Kurhessen, Nassau, und die freie Stadt Frankfurt durch kriegerische Eroberung als selbständige Staaten vernichtet worden.“ (Seite 90). Durch die Proklamation Hitlers, den Verlust der Wehrhoheit, der Polizei, der Verwaltungsund der Wirtschaftshoheit war die Herrschaftsgewalt der österreichischen Regierung untergegangen. Sie empfing den Befehl Hitlers zur Unterzeichnung des österreichischen Wiedervereinigungsgesetzes in einem Zeitpunkt, in dem das Staatsgebiet von deutschen Truppen besetzt war. Auf der Straße endlich rief das österreichische Volk unaufhörlich: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer.“ Sämtliche Elemente des österreichischen Staats waren in diesem Zeitpunkt bereits zerfallen. 4. Die Annexionserklärung Hitlers begründete nicht nur in völkerrechtlicher Beziehung die Inkorporation Österreichs in das deutsche Reich, sondern setzte auch in staatsrechtlicher Beziehung die Grundbestandteile des deutschen Verfassungsrechtes in Österreich in kraft. Diese Grundsätze waren folgende: (Nach Stuckart, der Staatsaufbau des deutschen Reiches in systematischer Darstellung, Leipzig 1943). a.) Hinsichtlich der Rechtsstellung Hitlers: „Alle Gewalt liegt in der Hand des Führers des Großdeutschen Volkes und Reiches.“ (Seite 72). „An der Spitze des Reiches muß dementsprechend ein Führer stehen, der nur dem Volk verantwortlich und daher keinen verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen ist.“ „Adolf Hitler ist als oberster Führer im Vollbesitz aller Gewalt.“ (Seite 74). b.) Hitler vereinigte in seiner Person die Rechte des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten. „Der Führer bestimmte nicht nur die Richtlinien der Politik, sondern er traf von vornherein die maßgeblichen Entscheidungen selbst.“ (Seite 75). „Der Führer ist nicht wie der Reichspräsident auf Zeit sondern ohne zeitliche Grenzen berufen, er ist auch vom Reichstag unabhängig. Deshalb bedürfen seine Anordnungen auch nicht mehr der Gegenzeichnung und die von ihm geschlossenen Verträge nicht der Zustimmung des Reichstags. Ebenso liegt die Entscheidung über Krieg und Frieden alleine in seiner Hand.“ (Seite 76).

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c.) „Der Führer ist kraft des ihm vom Volk erteilten Auftrags der Inhaber aller Gewalt in Partei und Staat. Er vereinigt in seiner Hand die oberste militärische Befehlsgewalt, die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Gerichtsgewalt, ohne hierbei durch die Mitwirkung irgendwelcher Stellen beschränkt zu sein. Alle Befugnisse in Partei und Staat gehen letzten Endes auf ihn zurück. Er ist Führer der Nation mit einer bisher nicht gekannten Machtvollkommenheit. Er hat die völkerrechtliche Vertretung des Reiches. Er regelt den völkerrechtlichen Verkehr. Er bestimmt die Außenpolitik, schließt mit anderen Staaten Bündnisse und Verträge und entscheidet über Krieg und Frieden. Er ist oberster Befehlshaber der Wehrmacht. Er ist oberster Gesetzgeber des Reiches. Er ist Regierungschef und oberster Verwaltungschef des Reiches. Er ist oberster Gerichtsherr des Reiches. Er ist Führer der Partei […]“ (Seite 77). d.) Im nationalsozialistischen Deutschland ist der Führer alleiniger Träger der Gesetzgebungsgewalt. […] Der Führererlaß, auch Führerverordnung, enthält Rechtssätze, die der Führer als Inhaber der Gesetzgebungsgewalt unmittelbar persönlich erläßt. Die Führererlässe stehen den Gesetzen gleich, da sie ebenso wie diese ein unmittelbarer Ausfluß der höchsten Führergewalt sind (S. 94). Zu besonderer Bedeutung sind die Führererlässe gelangt, durch die altes deutsches Land wieder mit dem Reich vereinigt worden ist.“ (Seite 94). e.) Über das Verhältnis von Reich und Ländern galten folgende Grundsätze: „Nach der Machtübernahme wurde die Frage des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern durch Bildung des Einheitsreichs gelöst. Bereits 1 Jahr nach der Machtübernahme wurde den Ländern die Eigenstaatlichkeit genommen. Die bisherigen Länder sind Verwaltungsbezirke des Reiches geworden. Das von dem Nationalsozialismus geschaffene Reich ist ein Einheitsstaat. Es ist gebietsmäßig in Reichsgaue und Länder als Verwaltungsbezirke des Reiches gegliedert. Die Hoheitsrechte, die früher zwischen dem Reich und den Ländern aufgeteilt waren, stehen sämtliche dem Reich zu. Die Länder haben dementsprechend kein Staatsgebiet, keine Staatsangehörigen und keine Verfassung mehr. Die Zuständigkeitsabgrenzungen in der Weimarer Verfassung über die Befugnisse von Reich und Ländern haben keine verfassungsrechtliche Bedeutung mehr. […] Die Hoheitsrechte, die auf das Reich übergegangen waren, sind vom Reich an die Landesbehörden zur Ausübung im Namen und im Auftrag des Reiches insoweit zurückübertragen worden, als das Reich nicht allgemein oder im Einzelfall von diesen Rechten selbst Gebrauch macht. Die Länder können demnach auch weiterhin Gesetze erlassen und die vollziehende Gewalt ausüben.“ (Seite 125, 126.) Ähnlich: Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches 1939, Seite 237–252; Dahm, Deutsches Recht 1944, Seite 230–233. 5. Zu den verfassungsrechtlichen Grundsätzen, die infolge der Annexionserklärung Hitlers sofort in kraft traten, gehörte auch das Verhältnis zwischen Reich und Ländern und die Stellung der Länderminister. Österreich war durch die Annexionserklärung Land des deutschen

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Reiches geworden. Die österreichische Regierung als solche hatte keine eigene Hoheit mehr. Eine Gesetzgebungsbefugnis stand ihr nur in dem vom Reich gestatteten oder angewiesenen Rahmen zu. Dementsprechend ließ Hitler durch Staatssekretär Stuckart der österreichischen Regierung den Befehl überbringen, das von deutscher Seite entworfene Wiedervereinigungsgesetz zu unterzeichnen. (IV, 1–3 dieses Gutachtens). Als Länderminister des Reiches waren die österreichischen Minister staatsrechtlich verpflichtet, diesen ihnen vom Reich vorgelegten Gesetzesentwurf zu unterzeichnen. Hierzu wären sie übrigens auch völkerrechtlich nach Besatzungsrecht verpflichtet gewesen, wenn eben im Zeitpunkt der Unterzeichnung noch Okkupationsrecht und nicht schon Annexionsrecht gegolten hätte. Man denke nur an das gegenwärtige Verhalten der Saarregierung gegenüber der französischen Regierung. Die Lage der damaligen österreichischen Regierung war im März 1938 aber weit eindeutiger umrissen. Denn in diesem Zeitpunkt lag bereits eine eindeutige Annexionserklärung mit ihren staats- und völkerrechtlichen Folgen vor. Dagegen sind die gegenwärtigen Saarverträge vor Abgabe einer endgültigen Annexionserklärung durch Frankreich, vor Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland und trotz der Atlantikcharta abgeschlossen worden. Sie werden vermutlich in Zukunft nicht so eindeutig beurteilt werden, wie der Erlass des österreichischen Wiedervereinigungsgesetzes. 6. In diesem Zusammenhang und in Ergänzung der dokumentarischen Belege unter Ziffer IV. (I–III) 1–3 dieses Gutachtens ist hier noch auf die eidliche Aussage des früheren Staatssekretärs Keppler vor dem amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg zu verweisen. (Deutsches Protokoll Seite 12 927/28). „Der Gesandte Clodius kam gemeinsam mit einem Flugzeug mit Stuckhart und sie brachten schon gewisse Entwürfe mit. Die Entwürfe wurden dann mit den maßgebenden Fachreferenten der österreichischen Regierung durchgesprochen und kleine Aenderungen vorgenommen und dann nach Zustimmung von Seyß-Inquart dem österreichischen Kabinett vorgelegt …“ „Ja ich muß eines sagen, daß es gemeinsam besprochen worden ist. An und für sich waren die österreichischen Herren bei der Arbeit und dann kamen die deutschen Herren dazu, haben sich gemeinsam an den Tisch gesetzt und es wurde an und für sich das österreichische Gesetz formuliert und der Wortlaut des österreichischen Gesetzes wurde dann in das deutsche Gesetz mitaufgenommen.“ … „Kurz nach 5 Uhr habe ich Hitler in Linz angerufen und ihm Mitteilung gemacht, daß das österreichische Kabinett den Anschluß beschlossen habe. Bald darauf bat mich Seyß-Inquart, ihn in Linz zu besuchen. Wir trafen wenige Minuten vor Mitternacht in Linz ein, der Führer war übervoll von Freude, dankte außerordentlich Seyß-Inquart dafür, daß nun seine Heimat wieder den Weg ins Reich gefunden habe. Dem Führer floßen die Tränen der Rührung über die Wangen, und ich habe ihn niemals mehr in so feierlichem, glücklichen Zustand später gesehen.“

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Ergebnis a.) Die Annexionserklärung Hitlers in Linz hatte als völkerrechtliche Erklärung auch die staatsrechtliche Folge der Eingliederung Österreichs in das Reichsgebiet. b.) Österreich hatte damit die rechtliche Stellung eines deutschen Landes, die österreichischen Minister hatten die rechtliche Stellung von Länderministern, die den Weisungen und Befehlen Hitlers absolut und unabdingbar unterworfen waren. c.) Die Inkorporation Österreichs in das Deutsche Reich war bereits abgeschlossen, als das österreichische Wiedervereinigungsgesetz auf Befehl Hitlers erlassen wurde. Dieses Gesetz hatte nur deklaratorische, keinerlei konstitutive Wirkung. III. Strafrechtlicher Teil. § 8 des österreichischen Verfassungsgesetzes vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrecher und andere nationalsozialistische Untaten bestimmt in seiner gegenwärtig geltenden Fassung: Wer für sich allein oder in Verbindung mit anderen in führender oder doch einflußreicher Stellung etwas unternommen hat, das die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zu Gunsten der NSDAP oder die Machtergreifung durch diese vorbereitete oder förderte, es sei solches durch Anraten, Aneiferung und Anleitung anderer oder durch persönliches tätiges Eingreifen, durch Mittel der Propaganda oder durch was sonst immer für eine dahin abzielende Handlung geschehen, hat das Verbrechen des Hochverrats am österreichischen Volke begangen und ist hierfür mit dem Tode zu bestrafen. Hat nun ein österreichischer Minister, der das österreichische Wiedervereinigungsgesetz unterzeichnete, gegen obige Vorschrift verstoßen? 1.) Die Änderung der Regierungsform in Österreich, also die erzwungene Abdankung des früheren Bundeskanzlers Schuschnigg ist ausschließlich auf den militärischen und politischen Druck Hitlers und Görings zurückzuführen. a.) Es steht fest, dass von deutscher Seite Gewaltmaßnahmen nicht vorbereitet waren (A III. 1–2 dieses Gutachtens), sondern erst unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Schuschnigg’schen Abstimmungsprojektes angeordnet wurden. b.) Die Ultimaten wurden von Göring gestellt (A III. 3, 7). c.) Bundeskanzler von Schuschnigg hat seine Amtsniederlegung ausschließlich mit dem Zwang begründet, der von Deutschland auf Österreich ausgeübt worden war (A III. 4, 5). d.) Seyß-Inquart hat bis zu seiner Ernennung durch Milkas sich in keiner Weise gesetzwidrig verhalten. (A III. 6). e.) Die amerikanische Anklagebehörde hat sich in Nürnberg auf den Standpunkt gestellt, daß der Anschluß aufgrund der militärischen Drohung durch das Reich durchgeführt wur-

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de. Die von Miklas ernannte Regierung Seyß-Inquart hat also bei der Änderung der Regierungsform keinerlei Aktivität entwickelt. 2.) Der Anschluß selbst wurde ausschließlich durch Göring und Hitler bewirkt. Diese Form des Anschlusses stand in völligem Gegensatz zu dem, was Seyß-Inquart sich als Ergebnis der Entwicklung vorgestellt hatte. (A II. 2). Die Tätigkeit von Seyß-Inquart war bis zu seiner Ernennung zum Bundeskanzler völlig legal gewesen. Denn sie beruhte auf der völkerrechtlichen Vereinbarung zwischen Deutschland und Österreich aus dem Jahre 1936. (A II. 1 dieses Gutachtens). Eine solche völkerrechtlich gebilligte Tätigkeit kann nicht nachträglich als strafbarer Tatbestand behandelt werden. 3.) Der Erlaß des österreichischen Wiedervereinigungsgesetzes war nicht die letzte Handlung einer vom Reich unabhängigen österreichischen Landesregierung. Dieses Gesetz war vielmehr die erste von Hitler aufgrund der vollzogen Annexion befohlene Regierungshandlung. Sie war die Handlung eines vom Reich bereits annektierten Gliedstaates, der keinerlei Souveränität mehr hatte (B I., II. dieses Gutachten). Durch das österreichische Wiedervereinigungsgesetz wurde also nicht ein dem österreichischen Staat etwa verbliebener selbständiger Status vernichtet, vielmehr wurde der neue Status, der durch die Annexion Hitlers geschaffen worden war, durch ein deklaratorisches Gesetz bestätigt. 4.) Das Wiedervereinigungsgesetz war kein widerrechtlicher Akt, der einen Zustand begründete, der etwa mit der österreichischen Verfassung unvereinbar gewesen wäre. Die österreichische Verfassung war vielmehr durch die Annexionserklärung Hitlers bereits außer Kraft gesetzt und die österreichischen Minister bestätigten, was bereits rechtens war. Da die österreichische Verfassung nicht mehr bestand, konnte sie durch das österreichische Wiedervereinigungsgesetz gar nicht mehr berührt werden. Das Wiedervereinigungsgesetz war also in Wahrheit kein grundlegendes österreichisches Staatsgesetz, sondern das Ausführungsgesetz eines annektierten Landes zu einer bereits völkerrechtlich wirksam ausgesprochenen Annexionserklärung. 5.) Nach allgemein gültigen Strafrechtsgrundsätzen muß ferner zwischen einer verbrecherischen Handlung und einem verbrecherischen Erfolg ein Kausalzusammenhang bestehen. Die Annexion war bereits vollzogene Tatsache. Das österreichische Wiedervereinigungsgesetz folgte ihr nach. Das Wiedervereinigungsgesetz war Folge, nicht Ursache der Annexion. Es besteht als kein ursächlicher Zusammenhang in dem Sinn, daß das Wiedervereinigungsgesetz die Causa efficiens für die Eingliederung ins Reich gewesen wäre. Wo aber kein Kausalzusammenhang besteht, besteht auch keine strafrechtliche Haftung. 6.) Im Zeitpunkt der Unterzeichnung des österreichischen Wiedervereinigungsgesetzes waren die österreichischen Minister bereits deutsche Landesminister und dem Reich gehorsamspflichtig, nicht nur, weil es Annexionsmacht war, sondern auch in seiner Eigenschaft als Besatzungsmacht. Sie handelten, wie eindeutig festgestellt ist, auf Befehl. Unter den damaligen Umständen war dies für sie eine unausweichliche Zwangslage. Ein Widerstand

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gegen den eindeutig ausgesprochenen Befehl der Annexions- und Besatzungsmacht wäre Wahnsinn gewesen. Das Handeln unter solcher Zwangslage und aufgrund diktatorischen Befehls entbindet von jeder strafrechtlichen Verantwortung. 7.) Unabhängig davon kann den Unterzeichnern des österreichischen Wiedervereinigungsgesetzes kein strafrechtliches Verschulden zur Last gelegt werden. Österreich war kein souveränes Land mehr, sondern annektierter Gliedstaat des Reiches. Dieser Überzeugung waren auch die damaligen österreichischen Landesminister. Sie hielten sich in staats- und völkerrechtlicher Beziehung für verpflichtet, den ihnen übermittelten Befehl zur Unterzeichnung des Gesetzes nachzukommen. In einem annektierten Staat kann kein Hochverrat begangen werden. Denn der Staat, der verraten werden könnte, besteht in staats- und völkerrechtlicher Beziehung nicht mehr. Ergebnis a.) Die österreichischen Landesminister unterzeichneten das Wiedervereinigungsgesetz aufgrund eines Befehles Hitlers und als Minister eines bereits annektierten Gliedstaates des Deutschen Reiches. b.) Es fehlte jeder Kausalzusammenhang zwischen dem Wiedervereinigungsgesetz und der bereits vorher vollzogenen Annexion. c.) Da der österreichische Staat bereits untergegangen war, war das österreichische Wiedervereinigungsgesetz kein Verrat an diesem bereits untergegangenen Staat. Darüber hinaus fehlte den unterzeichnenden Ministern aufgrund der damaligen Zeitverhältnisse jedes Bewußtsein der Widerrechtlichkeit und jedes Schuldbewußtsein. d.) Einer Anklage wegen Hochverrats fehlt jeder Boden, und zwar einerseits aufgrund der tatsächlichen Entwicklung (A I–IV dieses Gutachtens), wie aufgrund der völkerrechtlichen, staatsrechtlichen und strafrechtlichen Würdigung des gesamten Sachverhaltes (B I–III dieses Gutachtens). Ich bestätige, daß die Auszüge, welche in diesem Gutachten enthalten sind, anhand der Dokumente in Nürnberg und der mir zugänglichen Literatur gefertigt worden sind. [gezeichnet Dr. habil. Hans Merkel] Rechtsanwalt, früher Dozent an der Universität Berlin und Verteidiger am amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg.

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8.1.7 Univ.-Prof. Dr. Adolf Merkl zum Anschlussgesetz

RA Dr. Karl Günther sendete nach Abschluss des gegen Ing. Reinthaller geführten Strafverfahrens seine Prozessunterlagen (mit Zustimmung des Ing. Reinthaller) an den Staatsrechtler Univ.-Prof. Dr. Adolf Merkl.718 Dr. Günther war auf Dr. Merkl durch dessen Artikel „Das Deutsche Eigentum und vermögensrechtliche Ansprüche Österreichs“, der in einer renommierten juristischen Fachzeitschrift veröffentlicht worden war719, aufmerksam geworden.720 Dr. Merkl verfasste nun zum Thema des Prozesses einen Artikel mit dem Titel „Der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich – Eine Geschichtslegende“, der im Jahr 1955 ebenso in dieser juristischen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde.721 In diesem Artikel spricht er auch seinen Dank an RA Dr. Günther für „den Hinweis auf diesen Prozeßakt“ aus.722 Die bis dahin vorherrschende Auffassung von den Vorgängen des Anschlusses fasst Dr. Merkl eingangs des Artikels wie folgt zusammen: Nach den im Ausland wie in Österreich verbreiteten Darstellungen der Vorgänge, die die Herrschaft des Nationalsozialistischen Reiches in Österreich herbeigeführt haben, steht einerseits fest, daß die deutsche Staatsführung bemüht gewesen ist, die im Sinne der österreichischen Verfassung zuständigen Amtsträger zu jenen Handlungen zu veranlassen, welche Österreich unter die Herrschaft des Reiches gebracht haben, und andererseits, daß diese Bemühungen den Erfolg hatten, daß eine das Vertrauen Hitlers genießende österreichische Regierung Österreich in mehr oder weniger verfassungsmäßigen Formen unter die Herrschaft des Deutschen Reiches gebracht hat.

Dr. Merkl äußerte die Meinung, dass 718 Schreiben des RA Dr. Karl Günther an Dr. Otto Tiefenbrunner vom 24.05.1955 mit einer Abschrift vom Schreiben des Dr. Günther an Univ.-Prof. Dr. Merkl vom 23.05.1955 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 719 Adolf Merkl, Das Deutsche Eigentum und vermögensrechtliche Ansprüche Österreichs, Juristische Blätter 1955, 243. 720 Abschrift des Schreibens des Dr. Günther an Univ.-Prof. Dr. Merkl vom 23.05.1955 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 721 Adolf Merkl, Der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich – Eine Geschichtslegende, Juristische Blätter 1955, 439. 722 Adolf Merkl, Der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich – Eine Geschichtslegende, Juristische Blätter 1955, 439 FN 1: „Den Hinweis auf diesen Prozeßakt verdanke ich dem Herrn Rechtsanwalt Dr. Karl Günther in Mattighofen, O.Ö., der die über den Prozeßgegenstand weit hinausgehende Bedeutung der Beweisergebnisse für die juristische Deutung der rechtlichen Schicksale unseres Vaterlandes klar erkannt hat.“

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dieses überlieferte Bild der Geschehnisse aber durch die Ergebnisse des Strafprozesses, der gegen das Mitglied der Regierung Seyß-Inquart, Ing. Reinthaller, beim Landesgericht Wien als Volksgericht durchgeführt worden ist, erschüttert wird.

Dr. Merkl konstatierte den Umstand, dass die Deutsche Reichsregierung in nachdrücklicher Weise darum bemüht gewesen ist, den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich nicht als einen einseitigen Akt des Reiches erscheinen zu lassen, sondern einen inhaltlich übereinstimmenden Entschluß der zuständigen österreichischen Organe herbeizuführen, um dieser Art eine Willensübereinstimmung zwischen den beiden Staaten und damit nach Möglichkeit die juristische Unbezweifelbarkeit der Vereinigung der beiden Staaten sicherzustellen.

Dr. Merkl stellte zunächst die Frage, ob überhaupt die Bestellung der Regierung Seyß-Inquart rechtswirksam oder nichtig gewesen ist, und führt konsequenterweise aus, dass bei einer Unwirksamkeit dieser Bestellung auch alle ihre Regierungshandlungen ipso iure nichtig gewesen sind. Bei Bejahung der Rechtswirksamkeit der Bestellung dieser Regierung stellt sich die Folgefrage, ob das Wiedervereinigungsgesetz rechtswirksam gewesen ist oder nicht.723 Dabei thematisiert er auch den Umstand, dass die in dieser Angelegenheit agierenden Repräsentanten des Deutschen Reiches großen psychischen Druck ausgeübt haben: Des Weiteren steht im Einklang mit der üblichen Darstellung des geschichtlichen Vorgangs so viel fest, daß starke psychische Beeinflussungen nötig gewesen sind, um das Handeln der zuständigen österreichischen Organe in die gewünschten Bahnen zu lenken.

Aus der Durchsicht des Strafaktes Reinthaller ergab sich für Univ.-Prof. Dr. Merkl nun überhaupt, „daß ein gültiger Beschluß der Regierung Seyß-Inquart, mittels dessen Österreich zum Bestandteil des Deutschen Reiches hätte werden sollen, überhaupt nicht zustande gekommen ist.“ Das ergab sich für ihn vor allem aus dem Ausmaß dieses psychischen Drucks, das noch größer war, als bislang angenommen: Die […] Prozeßergebnisse machen, wenn irgendmöglich, noch unzweifelhafter, als es in

723 Zu diesen beiden Fragen in der jüngeren Vergangenheit Ewald Wiederin, März 1938 – staatsrechtlich betrachtet, in: Ulrike Davy/Helmut Fuchs/Herbert Hofmeister/Judith Marte/Ilse Reiter (Hrsg.), Nationalsozialismus und Recht, Rechtssetzung und Rechtswissenschaft unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, 226 (235ff).

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der Öffentlichkeit bekannt ist, klar, daß nicht bloß der Bundespräsident Miklas, sondern auch die Regierung Seyß-Inquart, allen voran dieser selbst, von Hitler unter äußersten psychischen Druck gesetzt worden ist, damit sie wenigstens irgendwelche Gesten an den Tag legen, die den Anschlußwillen der zuständigen österreichischen Organe demonstrieren sollten. Der Gipfelpunkt der tatsächlichen Beeinflussung ist darin zu erblicken, daß Seyß-Inquart mit seinen habachtstehenden Mannen den Reichskanzler Hitler bereits als ihren – österreichischen – Landesherrn betrachtet haben, weshalb sie das im Sinne der österreichischen Verfassung Nötige taten, um Österreich zum Bestandteil des Deutschen Reiches und damit Hitler zu ihrem Staatsoberhaupt zu machen. Unter diesen Umständen wäre auch ein gehorsamst beschlossenes Gesetz über die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ eine Farce, juristisch gesprochen ein nichtiger Staatsakt gewesen. […] Das Gesetz über die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ ist unter diesen Umständen ein absolut nichtiges Scheingesetz, die Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich ein einseitiger rechtswidriger Willensakt des Reiches.

Dieser Auffassung ist auch Wilhelm Brauneder; er führt dazu aus: Die zeitgeschichtliche Forschung hat erwiesen, daß die Regierung Seyß-Inquart unter dem Druck der Deutschen Reichsregierung gehandelt hat. Diesen Mangel heilt auch nicht die Volksabstimmung, da sie sich in Wahrheit über den vollzogenen „Anschluß“ nicht äußern und ihn nicht ändern konnte. Dies auch nicht im Rechtssinn, da das nationalsozialistische Staatsrecht einer derartigen Abstimmung lediglich die Aufgabe zuerkennt, „das gesamte lebende Volk für ein vom Führer aufgestelltes politisches Ziel aufzurufen und einzusetzen“, ohne aber selbst Entscheidungskraft zu haben (E. R. Huber724).725

Wie sich außerdem aus dessen Ausführungen ergibt, ist die Diskussion über die Wirkungen des Anschlusses vor dem Hintergrund der Annexionstheorie und der Okkupationstheorie zu sehen.726 In der österreichischen Diskussion ging man davon aus, dass davon, welche Theorie angewendet wird, als Folge abhängt, ob Österreich 1945 so wie 1918 als neu begründet anzusehen ist, oder ob Österreich 1945 als wiederhergestellt anzusehen ist. Nach der in Österreich vorherrschenden Auffassung folgt aus der Annexionstheorie, dass Österreich 1938 durch Annexion seitens des Deutschen Reiches als Staat untergegangen ist, und folgt aus der Okkupationstheorie, dass das 724 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg, 2. Auflage 1939. 725 Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, mit grafischen Darstellungen von Friedrich Lachmayer, Wien, 6. Auflage 1992, 248. 726 Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, mit grafischen Darstellungen von Friedrich Lachmayer, Wien, 6. Auflage 1992, 262.

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Deutsche Reich 1938 eine Okkupation des weiterhin existenten Staates Österreich vorgenommen habe, der 1938 somit bloß handlungsunfähig geworden, aber nicht untergegangen sei.727 Nach dieser Auffassung wäre Österreich bei der ersten Alternative im Jahr 1945 neu entstanden, bei der zweiten Alternative sei im Jahr 1945 nur dessen Handlungsunfähigkeit fortgefallen. Laut dieser Auffassung besteht somit bei Anwendung der Annexionstheorie eine Diskontinuität zwischen dem Staat Österreich 1945 und dem bis 1938 bestehenden Staat Österreich, und besteht nach der Okkupationstheorie im Gegensatz dazu eine Kontinuität des Staates Österreich seit 1918. Bei dieser Sicht der aus der Okkupationstheorie resultierenden Konsequenzen ist es daher auch verfehlt, nach 1945 von einer „2. Republik“ zu sprechen.728 Ausgehend von diesem Verständnis war es daher nach dem Zweiten Weltkrieg opportuner, die Okkupationstheorie zu vertreten, womit sich insbesondere besser darstellen ließ, Österreich sei nur vorübergehend das Opfer eines vom Deutschen Reich begangenen Überfalls gewesen. Wie aber Dr. habil. Hans Merkel in seinem vorstehend unter Punkt 8.1.6. wiedergegebenen Rechtsgutachten ausgeführt hat729, macht es für die Frage der Kontinuität oder der Diskontinuität des Staats Österreich keinen Unterschied, welche der beiden Theorien angewendet wird, weil auch bei Einstufung des 1938 erfolgten Anschlusses als Annexion dieser Vorgang der Annexion verhältnismäßig kurze Zeit später im Jahr 1945 durch die Siegermächte wieder rückgängig gemacht wurde, sodass jener Zustand wiederhergestellt wurde, der völkerrechtlich und staatsrechtlich vor dem Anschluss bestand. Die Annexion hatte damit nicht die Effektivität, die für eine völkerrechtliche Relevanz erforderlich gewesen wäre. Als unzutreffend erweisen sich jene Ausführungen des Univ.-Prof. Dr. Merkl, wonach gar keine Beschlussfassung über das Anschlussgesetz erfolgt sei, wonach die betreffende Ministerratssitzung nicht ordnungsgemäß einberufen worden sei, und wonach diese Ministerratssitzung nicht ausreichend dokumentiert worden sei, sodass auch aufgrund dieser Umstände kein wirksames Anschlussgesetz vorliege. Für eine mangelnde Einberufung des Ministerrats zu dieser Ministerratssitzung und dafür, dass eine solche allfällige mangelhafte Einberufung dazu geführt hätte, dass einzelne Minister nicht an dieser Sitzung teilnehmen konnten, bestehen keine Anhaltspunkte. Aufgrund der von Seyß-Inquart vorgenommenen Einberufung730 fand jedenfalls diese Sitzung mit zumindest einigen Ministern seines Kabinetts statt.731 Grundsätz727 Wilhelm Brauneder, aaO. 728 Wilhelm Brauneder, aaO. 729 Originalgutachten S. 35. 730 Aussage Ing. Anton Reinthaller, Vernehmungsprotokoll ON 39 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 383/45, OÖ Landesarchiv, AS 153 qu verso. 731 Ministerratsprotokoll 1071 vom 13. März 1938, Österreichisches Staatsarchiv. Note des Österrei-

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lich ist es aber – sofern keine anderslautende Regelung besteht – bei Kollegialorganen wie dem Ministerrat für die Beschlussfähigkeit erforderlich, dass sämtliche seiner Mitglieder anwesend sind.732 Nach der Verfassung 1934 war für die Beschlussfähigkeit des Ministerrats noch kein herabgesetztes Mindestpräsensquorum vorgesehen733. Aber nach dem Ministerratsprotokoll waren bei dieser Sitzung des Ministerrates vom 13. März 1938 neben Dr. Seyß-Inquart der Vizekanzler Dr. Glaise-Horstenau anwesend, ebenso die Minister Dr. Wolf, Klausner, Dr. Hueber, Dr. Menghin, Dr. Jury, Dr. Neumayer, Ing. Reinthaller und Dr. Fischböck sowie die Staatssekretäre Dr. Kaltenbrunner, Dr. Wimmer und Angelis.734 Der Ministerrat ist ein Kollegialorgan, sodass er mangels abweichender Vorschrift Beschlüsse nur einstimmig fassen kann, was auch nach der Verfassung 1934 galt.735 Bei dieser Ministerratssitzung bestand ein chischen Staatsarchivs vom 31. März 1948 mit beiliegender Abschrift des Ministerratsprotokolls 1071 vom 13. März 1938 samt Anwesenheitsliste und Gesetzesantrag für das Anschlussgesetz (im Folgenden zitiert als „Ministerratsprotokoll“), ON 94 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv. 732 Bernhard Raschauer in Karl Korinek/Michael Holoubek u.a. (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Loseblattsammlung Wien, 8. Lieferung 2007, Art. 69 B-VG Rz 26. 733 Ein geringeres Präsensquorum war für den Ministerrat ursprünglich auch in der Bundesverfassung 1920 nicht vorgesehen und wurde in dieser erst mit der Verfassungsnovelle 1997, BGBl I 1997/87, etabliert, indem Art. 69 B-VG um einen Absatz 3 ergänzt wurde, wonach die Bundesregierung beschlussfähig ist, wenn mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder anwesend ist. 734 Das entspräche der Vollzähligkeit der damaligen Regierungsmitglieder und Staatssekretäre, weil Dr. Michael Skubl vor dieser Sitzung bereits wieder von seinem Amt als Staatssekretär zurückgetreten war. Siehe FN 35. Allerdings kam es für einen wirksamen Gesetzesbeschluss nur auf die Mitwirkung der Bundesminister an. Denn die Bundesregierung bestand auch damals (vgl. Art. 69 B-VG; Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, 3. Auflage Wien 1997, 209) nach Art. 82 Abs. 1 der Verfassung 1934 nur aus dem Bundeskanzler, dem Vizekanzler und den Bundesministern (Kurt Schuschnigg, Die Verfassung des Bundesstaats Österreich, Leipzig Wien Berlin 1936, 61; Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935, 86), und nur dieses gemäß Art. 82 Abs. 1 der Verfassung 1934 unter der Führung des Bundeskanzlers, der nach Art. 93 der Verfassung 1934 auch die Kompetenz zur Bestimmung der Richtlinien der Politik hatte, stehende Kollegium war gemäß Art. 94 der Verfassung 1934 zur Fassung von Gesetzesbeschlüssen befugt. Die Staatssekretäre wurden gemäß Art. 92 Abs. 1 der Verfassung 1934 nur zur Unterstützung und Vertretung eines Bundesministers bestellt, und gemäß Art. 92 Abs. 2 leg. cit. waren sie diesem Bundesminister unterstellt und unterstanden dessen Weisungen. Es war damals und ist auch heute üblich, dass Staatssekretäre an Ministerratssitzungen teilnehmen. Die Anwesenheit eines Staatssekretärs bei einer Ministerratssitzung war zur Beschlussfähigkeit nur relevant, wenn er in Vertretung seines Bundesministers agierte (Art. 85 Abs. 3 leg. cit.). Zur heutigen Stellung von Staatssekretären nach der Bundes-Verfassung 1920 siehe Art. 78 Abs. 2 und Abs. 3 B-VG, zu deren im Vergleich zur Verfassung 1934 eingeschränkten Vertretungsbefugnis Art. 73 Abs. 3 B-VG. Die Anwesenheit bei der Ministerratssitzung vom 13.03.1938 ist aber jedenfalls bei Dr. Hueber fraglich (siehe Kapitel 6.3.2.). 735 Georg Fröhlich, Die „Verfassung 1934“ des Bundesstaates Österreich, Baden bei Wien, Leipzig, Brünn, Prag 1936, 156.

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konkreter Gesetzesantrag als Beschlussgegenstand in Form des Entwurfs für ein Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich („Anschlussgesetz“).736 Für diese Ministerratssitzung besteht auch das erforderliche Maß an Dokumentation. Als Schriftführer fungierte bei dieser Sitzung Ministerialrat Dr. Wolfgang Troll. Dieser zeichnete die Sitzung stenografisch auf737; seine Aufzeichnungen transkribierte er dann – wenngleich mit mehrwöchiger Verzögerung – in Reinschrift.738 Der wesentliche Inhalt dieses Sitzungsprotokolles lautet: Reichsstatthalter Dr. Seyß-Inquart stellt den Antrag, der Ministerrat wolle beschließen, das im Entwurf vorliegende (Beilage A) Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich auf Grund des Ermächtigungsgesetzes739 zu erlassen. Redner fügt bei, daß ein gleichlautendes Gesetz von den zuständigen Organen des Deutschen Reiches beschlossen werde. Dieses Gesetz erhalte den Zusatz, daß die derzeitigen Gesetze Österreichs in Kraft blieben. Daraus ergebe sich, daß der gesetzliche Inhalt Österreichs vorläufig keine Veränderung erfahre. Redner betont, das vorliegende Gesetz entspreche sicherlich nicht nur den Wünschen der österreichischen Bundesregierung, sondern auch den Ansprüchen des deutschen Volkes in Österreich, dessen Kampf- und Leidenszeit nunmehr beendet sei. Der Ministerrat genehmigt den gestellten Antrag. […].740 736 Beilage A zum Ministerratsprotokoll vom 13. März 1938 Nr. 1071. 737 Kommentiertes Ministerratsprotokoll 1071 vom 13. März 1938, Österreichisches Staatsarchiv, FN 9. 738 Vernehmungsprotokolle von den in den Strafverfahren gegen Dr. Rudolf Neumayer und gegen Dr. Franz Hueber jeweils durchgeführten Zeugenvernehmungen mit den Zeugenaussagen des Dr. Wolfgang Troll, Vernehmungsprotokoll vom 12.09.1945 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 2b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv, und Vernehmungsprotokoll vom 11.03.1948 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 8b Vr 409/46, Oberösterreichisches Landesarchiv. 739 Artikel III. Absatz 2 des Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung, BGBl 1934/255, wonach die Bundesregierung die Kompetenz zur einfachen Gesetzgebung sowie zur Verfassungsgesetzgebung hatte. 740 Auffallend ist, dass Dr. Seyß-Inquart in diesem Ministerratsprotokoll bereits als „Reichsstatthalter“ bezeichnet wurde. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt, ungeachtet der mit dem Anschlussgesetz bereits vorgesehenen und später plangemäß am 10. April 1938 durchgeführten Volksabstimmung über die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich, eigentlich bereits als vollzogen angesehen wurde. Das könnte aber auch einfach auf den Umstand zurückzuführen sein, dass das Protokoll von Dr. Troll erst am 21. April 1938 in Reinschrift transkribiert wurde, wie von diesem in dessen Zeugenvernehmung, die in der Hauptverhandlung des gegen Ing. Reinthaller durchgeführten Strafverfahrens erfolgte, schließlich auf eingehende Befragung durch den Vorsitzenden Dr. Apeltauer zugegeben (Hauptverhandlungsprotokoll vom 25. Oktober 1950 zu Vg 1h Hv 238/50 des Volksgerichts Wien im Rechtsanwalts-

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Der Strafprozess im Detail

Aus den Aussagen ergibt sich, dass – wenngleich die (eigentliche) Sitzung nach dem Ministerratsprotokoll nur 5 Minuten dauerte – Seyß-Inquart die Situation erläuterte und die Verfassungskonformität des vorgeschlagenen Gesetzes argumentierte, eine gewisse Erörterung der Angelegenheit erfolgte741 und von den Anwesenden ein Mindestmaß an Zustimmung signalisiert wurde.742 Der Gesetzesbeschluss wurde nachträglich von den Mitgliedern der Regierung Seyß-Inquart unterzeichnet743, womit handakt Dr. Otto Tiefenbrunner, S. 16). Die Angaben von Dr. Troll zu dieser Ministerratssitzung sind etwas unklar und widersprüchlich (Hauptverhandlungsprotokoll vom 25.10.1950, S. 14 bis 16). 741 Aussage Ing. Anton Reinthaller, Vernehmungsprotokoll ON 39 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 383/45, OÖ Landesarchiv, AS 153qu verso und 153r. Nach dem Ministerratsprotokoll dauerte die Sitzung nur 5 Minuten, allerdings konzediert Dr. Troll, dass ihm nicht bekannt ist, ob und welche Besprechungen zwischen Seyß-Inquart und den Regierungsmitgliedern „der eigentlichen Sitzung“ vorangegangen sind (Vernehmungsprotokoll vom 12.09.1945 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 2b Vr 445/45, Wiener Stadt- und Landesarchiv). 742 Aussage Ing. Anton Reinthaller, Vernehmungsprotokoll ON 39 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 383/45, OÖ Landesarchiv, der mehrfach von einem Beschluss (AS 153qu recto) und von einer erteilten Zustimmung spricht (AS 153s recto); Verantwortung von Dr. Rudolf Neumayer, wonach er an diesem Ministerrat „teilgenommen und das Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, BGBl. No. 75 mitbeschlossen“ hat und wonach „das Gesetz selbst, da niemand dazu das Wort wünschte, ohne Debatte angenommen wurde“ (Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Vr 445/45, S. 3 und 11). 743 Siehe den in diesem Zusammenhang stehenden Teil der Aussage Anton Reinthallers: „Ich wäre trotzdem vor einem Volksgericht des Staates von heute, auch wenn ich damals die Unterschrift verweigert hätte“ (Hauptverhandlungsprotokoll vom 23.10.1950 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner). Vgl. auch die Verantwortung von Dr. Rudolf Neumayer, wonach er sich (wegen der Anwesenheit Himmlers in Wien) nicht getraut habe, „die Unterschrift zu diesem Gesetz zu verweigern“ (Urteil des Volksgerichts Wien vom 02.02.1946 zu Vg 1b Hv 187/45, S. 11). Ebenso hat Dr. Franz Hueber das Anschlussgesetz nachträglich unterfertigt (Urteil des Volksgerichts Wien vom 30.12.1948 zu Vg 11b Hv 987/48, S. 4 verso). Dazu außerdem die Eingabe des Dr. Günther vom 30.03.1950: „Die Mitglieder der Regierung Seyß-Inquart haben erst im Laufe der nächsten Tage, sohin nachträglich die Urschrift des Gesetzesbeschlusses unterschrieben, ich glaube erst 4 oder 5 Tage später.“ (ON 90 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7 Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv). Dem entspricht im Wesentlichen die weitere von Ing. Reinthaller in diesem Zusammenhang in der Hauptverhandlung getätigte Aussage, wenngleich er erst erheblich später unterschrieben haben will: „Ich bin viele Tage später vor ein Pult geführt worden, wo in Zierschrift das Gesetz auf Pergament lag und das ich unterschrieben habe. Das war aber bestimmt nicht vor Ende März“ (Hauptverhandlungsprotokoll 24.10.1950, 11:40h–13:10h, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 236 [Die Seitenangabe bezieht sich auf die stenografierte Urschrift, die bei diesem Teil des Verhandlungsprotokolls auf der maschinengeschriebenen Reinschrift angeführt wird]). Reinthaller sagt auch aus, dass ebenso die anderen Minister dieses Gesetz jeweils einzeln unterschrieben haben (Hauptverhandlungsprotokoll 24.10.1950, 11:40h – 13:10h, S. 209). Auch nach den Aufzeichnungen des Edmund Glaise-Horstenau erfolgte die Unterfertigung des Anschlussgesetzes durch die Regierungsmitglieder (Peter Broucek, Ein General im Zwielicht – Die Erinnerungen des Edmund Glaises von Horstenau, Band 2, Wien, Köln, Graz 1983, 271). Eine am 16.03.2017 im Archiv der Republik vorgenommene

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jedenfalls ein formal gültiger Gesetzesbeschluss vorliegt, zumal es bereits damals üblich war, dass der Ministerrat Beschlüsse nicht nur in einer Ministerratssitzung fasst, sondern auch im Wege des schriftlichen Umlaufbeschlusses744. Das Gesetz wurde am selben Tag im Bundesgesetzblatt kundgemacht.745 Univ.-Prof. Dr. Merkl beanstandete in seinem Aufsatz auch den Umstand, dass keine Beurkundung dieses Gesetzesbeschlusses durch den Bundespräsidenten erfolgte. Zutreffend ist, dass nach Artikel 66 der Verfassung 1934 das verfassungsmäßige Zustandekommen der Bundesgesetze durch die Unterschrift des Bundespräsidenten zu beurkunden war. Allerdings hatte Bundespräsident Miklas sich am 13. März 1938 aufgrund der Gesamtsituation daran gehindert gesehen, sein Amt auszuüben, sodass gemäß Artikel 77 der Verfassung 1934 der Fall eintrat, dass seine Kompetenzen vertretungsweise auf den Bundeskanzler übergingen.746 Zu der vom Nachschau in den Akt zu dieser Ministerratssitzung vom 13.03.1938, in die in diesem Zeitraum im Zirkulationsweg erfolgten Ministerratsbeschlüsse und in die Protokolle der nachfolgenden Sitzungen des Ministerrats der Österreichischen Landesregierung und deren nachfolgend (ab 17.03.1938) im Zirkulationsweg gefassten Beschlüsse erbrachte keine weiteren Erkenntnisse. 744 Vgl. Ministerratsprotokoll 1070 vom 12. März 1938, Österreichisches Staatsarchiv, Pkt. 2. über das Bundesgesetz über die Abänderung und Ergänzung der Devisenordnung, BGBl 1938/72. Zur Wirksamkeit solcher Umlaufbeschlüsse siehe Bernhard Raschauer in Karl Korinek/Michael Holoubek u. a. (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Loseblattsammlung Wien, 8. Lieferung 2007, Art. 69 B-VG Rz 29. 745 Bundesgesetzblatt für den Bundesstaat Österreich vom 13. März 1938 Nr. 1938/75. 746 Was Altbundespräsident Miklas als Zeuge nicht nur im gegen Ing. Reinthaller geführten Strafverfahren aussagte (siehe FN 39), sondern auch in dem gegen Dr. Rudolf Neumayer geführten Strafverfahren (Vernehmungsprotokoll vom 17.09.1945 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 2b Vr 445/45), und in dem gegen Dr. Franz Hueber geführten Strafverfahren (Vernehmungsprotokoll vom 10.03.1948 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 8b Vr 409/46). In der letztgenannten Zeugenvernehmung hat Miklas auch ausgesagt, dass diese Vorgangsweise nicht proklamiert wurde, weil die NSDAP die Angelegenheit vor der Öffentlichkeit so darstellen wollte, dass der Bundespräsident demissioniert habe. Franz Langoth zitiert eine betreffende Aussage des Adolf Hitler vom 13. März 1938 und kommentiert diese ausgehend von einem Rücktritt des Wilhelm Miklas wie folgt: Hitler: „Ich habe das Gesetz über die Wiedervereinigung in verfassungsmäßigem Zustand bekommen. Ich habe Dr. Seyß-Inquart gesagt: ,Ich setze dem Bundespräsidenten Miklas eine Jahrespension von RM 60.000 aus, die er, wo immer er will, ruhig und unbehelligt verleben kann.‘ (Bundespräsident Miklas ist bekanntlich zurückgetreten. Auf Grund des Artikel 77 der Dollfuß-Verfassung sind alle seine Machtbefugnisse an den Bundeskanzler Seyß-Inquart übergegangen, der nun mit Fug und Recht mit der österreichischen Bundesregierung das Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich erlassen konnte)“ (Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49 mit angeschlossenem Gedächtnisprotokoll vom 13. März 1938, OÖ Landesarchiv). Sichtlich gingen also auch Personen, die bei diesen Ereignissen engeren Kontakt zu Hitler hatten, von der offiziellen Version des Rücktritts aus (arg. „bekanntlich“).

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damaligen Bundespräsidenten Miklas angeführten Verhinderung an der Amtsausübung ist zu konstatieren, dass man aufgrund der Gesamtsituation, insbesondere wegen des von der deutschen Reichsregierung ausgeübten Drucks, der schon weitgehenden militärischen Besetzung und der im gesamten Inland und insbesondere in der Bundeshauptstadt Wien bereits erfolgenden Umsturzbewegungen747, einen solchen Verhinderungsgrund ohne Weiteres annehmen kann. Dieser Vertretungsfall wäre im Übrigen auch dann eingetreten, wenn Wilhelm Miklas vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetreten wäre, wie die offizielle Version dieser Angelegenheit lautet, sodass es letztlich jedenfalls rechtmäßig war, dass Dr. Seyß-Inquart als Bundeskanzler in Vertretung des Bundespräsidenten auch die Beurkundung dieses Gesetzesbeschlusses vornahm.748 Außerdem ist bei der Frage des verfassungsmäßigen Zustandekommens und der inhaltlichen Verfassungskonformität eines Gesetzes zu berücksichtigen, dass auch ein nicht ordnungsgemäß zustande gekommenes und damit mangelhaftes Gesetz gilt, wenn ein besonderes Verfahren zur Aufhebung eines solchen mangelhaften Gesetzes vorgesehen ist. Das gilt jedenfalls, wenn es – wie im vorliegenden Fall – nicht absolut nichtig ist, weil es die Mindestvoraussetzungen eines Gesetzes wie insbesondere den Umstand, dass es von der zuständigen normsetzenden Instanz erlassen wird, erfüllt und im Bundesgesetzblatt kundgemacht wird, was hier der Fall war. Diesfalls gilt so ein, etwa wegen Abwesenheit einzelner Minister von der Ministerratssitzung749, mangelhaftes Gesetz bis zu seiner Aufhebung durch die dafür vorgesehene Instanz. 747 Aussage Ing. Anton Reinthaller, Vernehmungsprotokoll ON 39 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 383/45, OÖ Landesarchiv, AS 153m verso; vgl. Kurt von Schuschnigg, Requiem in Rot-Weiss-Rot, „Aufzeichnungen des Häftlings Dr. Auster“, Zürich 1946, 80 bis 83. 748 Art. 77 Abs. 1 Verfassung 1934, BGBl für den Bundesstaat Österreich Nr. 1934/1: „(1) Ist der Bundespräsident verhindert oder die Präsidentschaft dauernd erledigt, gehen seine Obliegenheiten auf den Bundeskanzler über.“ 749 Wobei aber dieser allfällige Mangel durch spätere Unterfertigung des Gesetzes durch sämtliche Regierungsmitglieder saniert wäre, weil diesfalls ein Umlaufbeschluss vorliegt. Anzumerken ist auch, dass nach Art. 85 Abs. 3 der Verfassung 1934 die Möglichkeit bestand, dass sich ein Bundesminister durch einen ihm unterstellten Staatssekretär oder ihm unterstellten Beamten beim Ministerrat (bei einer Ministerratssitzung) vertreten lässt (Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935, 89), dies im Unterschied zur Bundesverfassung 1920 idF BGBl 1930/1 (wenngleich nach Adolf Merkl, ibid., 88, mit Art. 85 Abs. 3 der Verfassung 1934 „freilich nur die geltende Praxis verfassungsgesetzlich festgelegt“ wurde). Darüber, dass eine derartige Vertretung durch einen Beamten erfolgte, oder warum eine solche Vertretung für einen bei dieser Ministerratssitzung abwesenden Minister, etwa für Dr. Hueber, bei dessen Abwesenheit nicht erfolgte, enthält der Sachverhalt keine Anhaltspunkte. Zur heutigen Rechtslage siehe Art. 73 Abs. 3 iVm Art. 69 Abs. 3 Bundes-Verfassungsgesetz 1920 idF BGBl I 1997/87.

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Ebenso wie die Bundesverfassung 1920 sah auch die Verfassung 1934 ein solches Verfahren vor, und zwar ein Gesetzesprüfungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof.750 Demnach hatte der Bundesgerichtshof u.a. über die Verfassungskonformität eines Bundes- oder Landesgesetzes zu erkennen.751 Ein verfassungswidriges Gesetz galt bis zu seiner Aufhebung durch diesen Gerichtshof.752 Das von der Bundesregierung erlassene Wiedervereinigungsgesetz galt daher auch bei allfälligen formalen Mängeln jedenfalls durch seine Kundmachung.753 Letztlich stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich aus diesen Umständen für die strafrechtliche Beurteilung nach § 8 KVG ergeben. Wenn man von der Unwirksamkeit des Anschlussgesetzes ausgeht, dann kann grundsätzlich auch eine Mitwirkung an diesem Anschlussgesetz nicht strafbar sein, weil ja diese Mitwirkung mangels Wirksamkeit ohne Auswirkungen gar kein relevantes Verhalten ist. Wenn man allerdings so wie der Oberste Gerichtshof im Fall Reinthaller754 davon ausgeht, dass eine Strafbarkeit nach § 8 KVG schon damit bestehen konnte, dass man der NS-Machter750 Art. 163ff Verfassung 1934. 751 Art. 170 Abs. 1 Verfassung 1934. Das umfasste auch ein verfassungsänderndes Gesetz, weil es – insbesondere a minori ad maius – nicht kohärent wäre, wenn ein einfaches Gesetz auf seine Verfassungskonformität geprüft werden könnte, aber nicht geprüft werden könnte, ob eine Änderung der Verfassung zulässig und auf die in der Verfassung vorgesehene Weise zustande gekommen ist. 752 Art. 170 Abs. 3 und Abs. 4 Verfassung 1934: „(3) Erkennt der Bundesgerichtshof ein Gesetz oder bestimmte Stellen eines Gesetzes als verfassungswidrig, so ist dies, sofern es sich um ein Bundesgesetz handelt, vom Bundeskanzler im Bundesgesetzblatt kundzumachen, sofern es sich aber um ein Landesgesetz handelt, vom zuständigen Landeshauptmann unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen. (4) Die Aufhebung des Gesetzes oder der als verfassungswidrig erkannten Stellen des Gesetzes tritt mit dem Tage der Kundmachung, wenn aber der Bundesgerichtshof eine Frist bestimmt hat, mit deren Ablauf in Kraft; die Frist darf sechs Monate nicht übersteigen.“ 753 Ob aufgrund der Gesamtsituation ein solches Gesetzesprüfungsverfahren überhaupt noch durchgeführt werden konnte, betrifft die Frage, ob die mit der Verfassung 1934 vorgesehene staatliche Ordnung überhaupt noch aufrecht war. Auch das ändert nichts an der rechtlichen Reflexwirkung des Bestehens eines Normprüfungsverfahrens, wonach auch mangelhafte Rechtsnormen aufgrund ihrer Kundmachung gelten, solange sie nicht von der Prüfungsinstanz in einem Normprüfungsverfahren aufgehoben werden (aA, weil differenzierend zwischen einem das System und dessen Normprüfungsverfahren unverändert lassenden Gesetz und einem systemändernden Gesetz, das durch die mit ihm erfolgende Änderung nicht mehr im ursprünglichen Normprüfungsverfahren überprüfbar ist [in concreto dem Anschlussgesetz, weil damit die Gesetzprüfungskompetenz des Bundesgerichtshof beseitigt worden sei] Ewald Wiederin, März 1938 – staatsrechtlich betrachtet, in: Ulrike Davy/ Helmut Fuchs/Herbert Hofmeister/Judith Marte/Ilse Reiter (Hrsg.), Nationalsozialismus und Recht, Rechtssetzung und Rechtswissenschaft unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, 226 (258f ); generell zur Reflexwirkung Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien, New York, 2. Auflage 1991, 252). 754 OGH 27.04.1951 zu 6 Os 18/51.

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greifung in Österreich den Anschein einer Legitimität verlieh, dann besteht eine Strafbarkeit nach § 8 KVG auch bei einer Unwirksamkeit des Anschlussgesetzes. Denn durch dessen Proklamation wurde im In- und Ausland mitgeteilt, dass die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich auch unter Mitwirkung der österreichischen Bundesregierung als der österreichischen Gesetzgebungsinstanz erfolgte.755

8.2 Die Hauptverhandlung 8.2.1 Erster Verhandlungstag Montag, 23. Oktober 1950

Nach der mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien vom 24. Mai 1950 gegen Ing. Reinthaller erhobenen Anklage versuchte Dr. Tiefenbrunner mit seinen Eingaben vom 10. Juli und 02. Oktober 1950 anstelle einer Hauptverhandlung die Rückleitung des Verfahrens in das Stadium der Voruntersuchung zur Durchführung weiterer Beweisaufnahmen zu erreichen.756 Mit seinem am 16. Oktober 1950 eingebrachten Antrag versuchte Dr. Tiefenbrunner die Vertagung der nunmehr für den 23. Oktober 1950 ausgeschriebenen Hauptverhandlung zu erreichen, was er damit begründete, dass für die Verteidiger keine ausreichende Gelegenheit zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung bestehe und der Verteidigung „seit Monaten“ wesentliche Akten nicht zugänglich gewesen seien, insbesondere der Gerichtsakt zu dem 755 Wobei anzumerken ist, dass der Umstand, dass Österreich im März 1938 kein demokratisches, sondern ein autokratisches Regierungssystem war, die verfassungsrechtliche Durchführung des Anschlusses oder die Herstellung des Anscheins eines verfassungsrechtlich legitimen Anschlusses vereinfacht hat, weil es ungleich schwerer ist, einen demokratischen Entscheidungsprozess herbeizuführen, als den überschaubaren Entscheidungsprozess der zumeist kleinen Führungsclique einer Autokratie. Ein ordnungsgemäßer demokratischer Entscheidungsprozess erfordert zumeist komplexere Vorgänge und eine größere Anzahl mitwirkender Personen. Damit ist es zumindest in diesem Zusammenhang einer legitimen, nach dessen Regeln erfolgenden Übernahme der Macht in einem Herrschaftssystem oder einer mit dem Anschein einer solchen Legitimität erfolgenden Machtübernahme einfacher, wenn dieses Herrschaftssystem eine Autokratie ist und nicht eine Demokratie. Mit anderen Worten: Es ist einfacher, auf regelkonforme Weise die Macht in einem autokratischen System zu übernehmen als in einem demokratischen System. Im vorliegenden Fall erfolgte die Übernahme der Macht in der österreichischen Diktatur, sodass letztlich nur eine geringe Zahl an Ämtern durch Druck auf die Amtsinhaber oder durch Auswechslung der Amtsinhaber durch loyale Personen unter die Kontrolle gebracht werden mussten, um eine mehr oder weniger verfassungskonforme Rechtsnorm herbeizuführen, welche die Machtübernahme legitimiert oder den Anschein einer solchen legitimen Machtübernahme schafft. So hat eine Diktatur die andere übernommen. 756 Gleichschriften der Anträge vom 10.07. und 02.10.1950 mit Eingangsbestätigung des Landesgerichts für Strafsachen Wien im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner.

Die Hauptverhandlung

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gegen Dr. Franz Hueber geführten Volksgerichtsverfahren.757 Seitens des Volksgerichts wurden diese Anträge mit Beschluss vom 17. Oktober 1950 abgewiesen.758 Die Hauptverhandlung wurde daher zu den vom Volksgericht Wien vorgesehenen Verhandlungsterminen durchgeführt. Die Hauptverhandlung begann am 23. Oktober 1950 um 11.20 Uhr.759 Der Verhandlungsbeginn war an sich für 9 Uhr dieses Tages vorgesehen. Die Verteidigung hatte jedoch noch am vorangegangenen Samstag einen auf Übertragung des Strafverfahrens an das Volksgericht Linz gerichteten Delegierungsantrag eingebracht, über den der Oberste Gerichtshof sogleich am Vormittag des 23. Oktober abschlägig entschied. Erst danach konnte die Hauptverhandlung beginnen. Eingangs des Verhandlungstermins gibt Dr. Tiefenbrunner eine Grundsatzerklärung der Verteidigung ab: Es sind deshalb drei Verteidiger gekommen, um eine Arbeitsteilung vorzunehmen und weil mit Rücksicht auf die äußerst kurzfristige Ausschreibung der Hauptverhandlung eine hinreichende Gelegenheit zu einer Vorbereitung nicht mehr gegeben war. Im Übrigen wollen die Verteidiger an diesem Verfahren nicht verdienen. Sie sind nichts anderes als Kämpfer und Streiter für Wahrheit und Recht, auch nach Beendigung des Verfahrens. Diese Erklärung möchte ich hinsichtlich der Verteidigung abgeben.

Es folgt die Verlesung der Anklageschrift. Sodann klärt der Vorsitzende, Oberlandesgerichtsrat Dr. Apeltauer, die Haftung der Verteidiger für das Honorar der auf deren Antrag für die stenografische Protokollierung der Hauptverhandlung beigezogenen Parlamentsstenografen. Die Verteidiger machen von der in der Strafprozessordnung vorgesehenen Möglichkeit760 Gebrauch, anstelle der (handschriftlichen) Führung des Hauptverhandlungsprotokolls durch einen Gerichtsbediensteten diese stenografische Protokollierung der Hauptverhandlung durch Parlamentsstenografen zu erwirken. Die drei Verteidiger übernehmen die solidarische Haftung für die Kosten dieser Protokollierung, weil für diesen Fall gesetzlich geregelt war, dass die Kosten dieser Protokollierung von jener Partei zu tragen sind, die sie beantragt. 757 Gleichschrift des Antrags vom 16.10.1950 mit Eingangsbestätigung des Landesgerichts für Strafsachen Wien im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 758 Ausfertigung des Ratskammerbeschlusses des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 17.10.1950 zu Vg 1h Hv 238/50 mit Eingangsvermerk der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Otto Tiefenbrunner vom 18.10.1950 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 759 Hauptverhandlungsprotokoll 23.10.1950, 11.20 Uhr bis 13.55 Uhr und 15.12 Uhr bis 17.11 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49 (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner). 760 § 271 Abs. 4 StPO 1873.

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Wie von ihnen schon zuvor schriftlich vorgebracht, wenden die Verteidiger die Unzuständigkeit des Volksgerichts ein. Dabei stützen sie sich auf die erst kurz zuvor am 30. Juni 1950 im Volksgerichtsverfahren gegen Dr. Franz Hueber ergangene Entscheidung des Volksgerichts Wien, wonach die Strafbestimmung des § 8 KVG nicht neben den Strafbestimmungen des § 10 und des § 11 VG anzuwenden ist, sondern § 8 KVG in seinem Anwendungsbereich § 10 und § 11 VG ausschließt.761 Demnach kann jemand, dem eine Vorbereitung oder Förderung der NS-Machtergreifung zur Last gelegt wird, nicht auch noch wegen Illegalität bestraft werden. Die Verteidigung versucht nun, diese Entscheidung für die Frage der Gerichtszuständigkeit zu nutzen. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen Ing. Reinthaller sowohl nach § 10 und § 11 VG als auch nach § 8 KVG Anklage erhoben, wobei sich der nach § 8 KVG erhobene Vorwurf auf die Tätigkeit Reinthallers als Minister der Regierung Seyß-Inquart bezieht. Die Verteidigung meint nun, dass es aufgrund der vorrangigen Geltung des § 8 KVG in Ansehung der Gerichtszuständigkeit alleine auf den Umstand ankommt, dass Ing. Reinthaller ein – angeblich strafbares – Verhalten vorgeworfen wird, das er als Minister begangen hat. Dies in einem Zeitraum, als die Verfassung 1934 galt. Nach dieser Verfassung war für die Geltendmachung einer von einem Minister in dessen Amtsausübung begangenen Rechtsverletzung, auch einer gerichtlich strafbaren Handlung, nicht die Strafgerichtsbarkeit zuständig, sondern der Bundesgerichtshof als Staatsgerichtshof.762 An dessen Stelle war nunmehr mit Wiederinkrafttreten der Bundesverfassung 1920 der Verfassungsgerichtshof getreten. Die Verteidigung argumentierte also, dass für die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage nicht das Volksgericht, sondern der Verfassungsgerichtshof zuständig sei. Nach einer Erwiderung des Staatsanwalts Dr. Eichler zieht sich der Senat zu einer Beratung zurück, um anschließend zu entscheiden, dass das Volksgericht sich für die Anklage als zuständig erachtet. Das begründet der Senat im Wesentlichen in Übereinstimmung mit dem Staatsanwalt dahingehend, dass es auf den Umstand verweist, dass die Verfassung 1934 nicht mehr in Geltung ist, sodass nicht nach deren Bestimmungen vorgegangen werden kann. Die nunmehr geltende Bundesverfassung 1920 kann aber nicht angewendet werden, weil Reinthaller nicht während der Geltungsdauer dieser Verfassung Minister war.763 Außerdem verweist der Senat darauf, dass sowohl das Verbotsgesetz als auch das Kriegsverbrechergesetz Verfassungsgesetze sind, in denen 761 Volksgericht Wien 30.06.1950 zu Vg 11a Hv 987/48. Diese Entscheidung war allerdings von einem anderen Senat des Volksgerichts Wien gefällt worden als jenem, bei dem das gegen Ing. Reinthaller geführte Strafverfahren anhängig war. Dazu in Kapitel 6.3.3. 762 Art. 173 und Art. 174 Verfassung 1934. 763 Was das Volksgericht dann auch in seinem Urteil so ausführte (Volksgericht Wien 26.10.1950 zu Vg 1h Hv 238/50, S. 11f ).

Die Hauptverhandlung

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für Anklagen, die nach deren Bestimmungen erhoben werden, die besondere Zuständigkeit des Volksgerichts statuiert ist, sodass in deren Anwendungsbereich anderslautende Verfassungsbestimmungen außer Kraft gesetzt sind. Schließlich sieht der Senat auch einen wesentlichen Unterschied zum Fall Hueber darin, dass die Anklage gegen Hueber kongruente Tatzeiträume umfasst, weil Hueber im Unterschied zu Reinthaller auch Tätigkeiten als Verstoß gegen § 8 KVG zur Last gelegt werden, die vor dem Anschluss während der Verbotszeit erfolgt sind bzw. erfolgt sein sollen, sodass dieser nach § 8 KVG erhobene Vorwurf auch den gesamten Zeitraum einer möglichen Illegalität umfasst. Dieser Sicht ist mE entgegenzuhalten, dass das Verbotsgesetz auch mit der Strafbarkeit einer Illegalität darauf abzielte, die NS-Bewegung insgesamt als hochverräterisches Unterfangen zu erfassen, weil sie – nach der für die Gesetzesauslegung relevanten Auffassung des Gesetzgebers – generell auf die Machtübernahme in Österreich ausgerichtet gewesen sei. Mit § 8 KVG wurden nun Personen erfasst, die über eine bloße Mitgliedschaft bei der NS-Bewegung oder einer bloßen allgemeinen Mitwirkung an der NS-Bewegung hinaus in einflussreicher Stellung aktiv bei der NS-Machtergreifung selbst oder bei deren Vorbereitung tätig waren. Damit zielten beide Bestimmungen auf ein und denselben Hochverrat ab bzw. auf ein und dasselbe als Hochverrat eingestufte Unterfangen, sodass bei der Erfüllung der Tatbestände beider Delikte nicht doppelt nach beiden Strafbestimmungen zu bestrafen war, sondern nur nach § 8 KVG als der spezielleren Rechtsnorm764. Nur dann, wenn keine Strafbarkeit nach § 8 KVG bestand, war eine Bestrafung nach § 10 und § 11 VG zulässig. Das Volksgericht Wien erklärte sich jedenfalls für zuständig und führte das Strafverfahren durch. Es folgte eine Vernehmung des Angeklagten zu dessen Lebenslauf, zunächst zu dessen nichtpolitischem Lebenslauf, dann zu dessen politischem Werdegang. Die Vernehmung des Angeklagten wurde am zweiten Verhandlungstag fortgesetzt. 8.2.2 Zweiter Verhandlungstag Dienstag, 24. Oktober 1950

Eingangs seiner fortgesetzten Vernehmung765 begründet Reinthaller seinen Eintritt in die Regierung Seyß-Inquart. Demnach musste er sich in den Nachtstunden des 11. März 1938 abrupt entscheiden, ob er Mitverantwortung übernimmt. Er habe sich veranlasst gesehen, „in die Bresche zu springen“, weil die Notlage klar ersichtlich gewesen sei. Er sei auch dazu gedrängt worden: 764 Lex specialis derogat legi generali. 765 Hauptverhandlungsprotokoll 24.10.1950, 9 Uhr 7 Minuten bis 13 Uhr 10 Minuten, Volksgericht Wien zu Vg 1h Vr 2068/49.

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Wir wurden auch von den verschiedensten Persönlichkeiten, in erster Linie von politischen Gegnern, die sich im Bundeskanzleramt am Ballhausplatz befanden, sehr stark attackiert, und es wurde uns zugeredet, doch um Gottes Willen jetzt, da niemand hier sei, da Schuschnigg zurückgetreten sei, eine Führung zu übernehmen, sonst geht alles außer Rand und Band.

In einem idealistischen Ansatz äußert er, dass „jeder Mann zu jeder Zeit seiner Regierung irgendwie zur Verfügung zu stehen hat, weil er viel Gutes tun und viel Schlechtes verhindern kann, wenn er nur selbst guten Willen zeigt“. Die logische Folge seines Entschlusses sei gewesen, sich eine Position zu schaffen, insbesondere nachdem am 12. März die Eingliederung Österreichs durch den gewaltsamen Anschluss erfolgt war. Zu seinem Erfassungsantrag und seinem Fragebogen des Reichsnährstandes gibt er an, nicht mehr zu wissen, was er damals darin alles anführte, weil er selbst dafür keine Zeit gehabt und das an seinen Sekretär delegiert habe. Er gesteht aber eine damals durchaus übliche Verhaltensweise ein: Eines weiß ich aber bestimmt, daß ich so wie jeder andere befleißigt war, Abträgliches zu verschleiern und Förderliches herauszustreichen. Sofern ich mich dort in irgendeinem der Bogen als Kreispropagandaleiter und Gauredner deklarierte, so ist das nur richtig, wenn ich mich auf die Zeit vor dem Verbot der Partei bezogen hatte. Wenn ich mich dort auf die Führung der illegalen Bauernschaft berufe, so ist das überhaupt erfunden, denn ich habe nicht die illegale Bauernschaft geführt, sondern ich habe den Vertrauensmännerapparat im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler Dr. Dollfuß, das heißt mit seiner Erlaubnis, aufgestellt, und daß dieser in erster Linie aus Bauern bestand, lag in der Natur der Sache, denn ich war vor dem Verbot Führer der nationalsozialistischen Bauernschaft, und meine Freunde rekrutierten sich in erster Linie eben aus dem Kreis der Bauern dieses Landes.

Anschließend erklärt Reinthaller seine Befriedungsaktion. Diese habe „einen gewaltigen Auftrieb“ erfahren. Das sei letzten Endes darauf zurückzuführen gewesen, daß die breiten Massen der nationalen Opposition mit den exzessiven Methoden nicht einverstanden waren, sie ablehnten und daß man sich aber trotzdem mitverantwortlich fühlte für das, was geschehen war, daß man gerne bereit war, an der Wiedergutmachung mitzuwirken, um alles das, was Desperados aus dem Regierungslager und aus der nationalen Opposition angerichtet hatten, wieder zu applanieren.

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Dabei sieht er die Aktion auch selbstkritisch: Daß sich damals in dieser Befriedungsaktion auch Skeptiker einfanden, das will ich nicht bestreiten. Ich will auch nicht bestreiten, daß sich Ungläubige einfanden, welche vielleicht die Mitgliedschaft bei dieser nationalen Aktion benützten, um sich zu tarnen. Aber diese Skeptiker und diese Ungläubigen waren zweifellos eine kleine Minderheit gegenüber jener großen Masse, die aus der Enttäuschung heraus und aus der Sehnsucht, endlich einmal zu einem Frieden, zu einer ruhigen Arbeit zu kommen, mir und meinen Freunden Gefolgschaft leisteten.

Er sah damals durchaus Erfolgschancen: Die Bewegung war also nicht klein, sie war also sehr groß, und ich konnte immer wieder feststellen, wenn ich im Auftrage Dr. Schuschniggs damals Fühlung nahm mit den Menschen im Lande, daß sie bereit waren zu einem Frieden mit dem System, daß sie der Führung in München die Gefolgschaft verweigerten; ich konnte feststellen, daß sie nicht bereit wären, diesen exzessiven Methoden, die von dort gefordert wurden, irgendwelche Gefolgschaft zu leisten.

Als geübter politischer Redner erwidert er eloquent die in der Anklage aufgestellte Behauptung, er habe in der illegalen NS-Bewegung fundiert sein müssen, um seine Befriedungsaktion durchzuführen: Heute erklärt die Anklage, dies sei Beweis dafür, daß ich illegal, daß ich Wortführer von Nationalsozialisten war und, so wird argumentiert, daher der illegalen Partei angehört haben muß. Ich habe bereits erklärt, daß ich vom Augenblick des Verbotes der Partei an, beziehungsweise schon früher überhaupt keinen Finger mehr für die Partei als solche rührte, daß ich weder Parteimitglied war, noch einen Mitgliedsbeitrag zahlte, und daß ich daneben, besonders in meiner engeren Heimat immer wieder davor warnte, den illegalen Parolen Gefolgschaft zu leisten. Ein Beweis dafür mag sein, daß gerade in meiner engeren Heimat, im Attergau, keine solchen Dinge passiert sind, wie sie sonst allerorten festzustellen waren. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine besondere Groteske hinweisen. Schuschnigg und seine Mitarbeiter erklärten, daß ich völlig legal gehandelt habe […]. Nach Überwindung des autoritären Systems fühlt sich nun die Justiz einer Demokratie, beziehungsweise der Anklagevertreter in Wahrnehmung der Interessen eines überwundenen und verachteten autoritären faschistischen Systems verpflichtet, mich diesem austrofaschistischen System gegenüber als illegal zu bezeichnen. Besonders drastisch wird diese Situation durch folgende Überlegung illustriert: Das autoritäre System von 1933 bis 1938 gilt in der of-

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fiziellen Auslegung Österreichs, also des heutigen demokratischen Österreich, als illegal. Herr Vizekanzler Schärf bezeichnet die Träger dieses Systems als Hochverräter, welchen es nicht um Österreich ging, sondern um ihre persönliche Macht. Daher konnte die Untergrundbewegung der sozialdemokratischen und kommunistischen Partei nicht illegal sein. Dementgegen werden aber wir, die Untergrundbewegung der Nationalsozialisten, als illegal gebrandmarkt. Aber nicht nur dies, auch die von den Vertretern dieses „illegalen Systems“ gewünschte und geförderte Tätigkeit im Rampenlicht der Öffentlichkeit, also meine Befriedungsaktion, stellt die Anklage als eine „illegale Handlung“ diesem „illegalen Regime“ gegenüber dar, sodaß man beim Unikum der legalen und illegalen Untergrundbewegung, vermehrt um eine illegale Obergrundtätigkeit einem illegalen System gegenüber landet. Sie werden mir nicht übel nehmen, daß ich das mit meinem einfachen Menschenverstand nicht mehr ganz begreife.

Die Verleihung seiner alten Mitgliedsnummer erklärt Reinthaller so: Ich komme nun zur sogenannten Mitgliedsnummer. Mir wirft die Anklage vor, daß ich die alte Mitgliedsnummer erhalten habe, was ein Beweis dafür sei, daß ich ununterbrochen von 1928 an, als ich in die Partei eintrat, bis zum Jahr 1938 Mitglied der Partei, das heißt auch Mitglied der illegalen Organisation gewesen sein muß. Ich möchte darauf hinweisen, daß es eine Degradierung meinerseits gewesen wäre, wenn man mir meine alte Mitgliedsnummer, die ich im Jahr 1928 erworben habe und fünf Jahre innehatte, im Jahr 1938 einfach abgesprochen hätte, und ich war nicht bereit, diese Degradierung einfach hinzunehmen. Ich habe bereits erklärt warum, weil ich eine Stellung, einen festen Fixpunkt, also diesen archimedischen Punkt, wie ihn Hassel bezeichnete, haben mußte, wenn ich überhaupt wirksam werden wollte. Sonst wäre es gescheiter gewesen, ich wäre überhaupt nach Hause gegangen. Es bedurfte einiger sehr radikaler Verstöße, um dies überhaupt zu erreichen, denn die Gauleitung Oberösterreich, der ich damals ja kraft meiner ehemaligen Mitgliedschaft in der Ortsgruppenleitung Attergau, die der Gauleitung Oberösterreich unterstand, zugehörte, war nicht bereit, mir diese alte Mitgliedsnummer zuzugestehen, insbesondere deshalb, weil sie mir nicht gut gesinnt war, weil ich entgegen dem Parteibefehl für die Befriedung zwischen der nationalen Opposition und der Regierung eingetreten bin. Aber sie konnten mit ihren Absichten nicht durchdringen, denn mein Ansehen in den Kreisen der nationalen Opposition, also in den Massen der Nationalsozialisten – ich muß das aussprechen, obwohl man so etwas lieber verschweigen möchte – war zu groß und außerdem hatte ich viel zu viele Bekannte im Deutschen Reich, die bereits in gehobener Stellung waren aus alter Zeit her, sodaß die Gauleitung Oberösterreich es doch für nützlich empfand, diesem Stand der Dinge Rechnung zu tragen und mir mein gutes Recht auf die alte Mitgliedsnummer nicht zu verweigern und mir diese Mitgliedsnummer zuzuerkennen.

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Zum SS-Ehrenrang erklärt Reinthaller, dass er diesen und dann höhere SS-Ränge ohne eigene Initiative durch Interventionen anderer erhielt und dass er diese auch für seine fachliche Arbeit und für die von ihm geleisteten Hilfestellungen nutzen konnte: Dem gleichen Zwecke diente der sogenannte SS-Rang. Ich komme noch darauf zu sprechen, wie ich ihn überhaupt bekommen habe. Wenn Dr. Jury, der ehemalige Gauleiter von Niederdonau, wiederholt Eingaben gemacht hat, um mir einen höheren SS-Rang – ein Ehrenrang war das bekanntlich – zu verschaffen, so tat er dies nur deswegen, um die Durchschlagskraft des ihm unterstellten Landesbauernführers zu vergrößern, denn er hatte hiefür ein großes Interesse. Im Übrigen glaube ich auch, noch nachweisen zu können, daß nicht ich es war, der vielleicht diese Beförderungen oder Erhöhungen provoziert hat, sondern daß andere Menschen es waren, die das taten. Ohne diesen Ehrenrang in der SS wäre es mir zum Beispiel niemals möglich gewesen, einen Landeshauptmann Dr. Gleißner aus dem Konzentrationslager Dachau herauszubekommen. Ohne die Dienstauszeichnungen, welche die logische Folge der Zuerkennung meiner alten Mitgliedsnummer waren, wäre es mir nicht möglich gewesen, in hundert und aberhunderten Interventionen immer wieder wirksam zu werden, wenn Leute in ihrer Not und in ihrer Bedrängnis an mich herangetreten sind, um für sie zu intervenieren. Ich habe mich nie versagt und bin immer wieder in die Bresche gesprungen, wenn ich glaubte, daß es nottat.

Im Zusammenhang mit der ersten Verleihung eines SS-Ehrenranges an ihn teilt er mit, dass er nach seinem damaligen Wissenstand keine so negative Einschätzung von der SS hatte: Damals hat uns der schon am 12. in Wien gelandete SS-Reichsführer Himmler ins Hotel Regina gebeten (mehrere Herren) und uns dort zu unserer nicht geringen Überraschung mitgeteilt, daß er seiner Freude über den deutschen Frieden Ausdruck verleiht und uns für Verdienste um den deutschen Frieden Ehrenränge der Allgemeinen SS zuerkennt. Ich bitte den hohen Gerichtshof zu bedenken, was damals die SS war. Sie war mit dem Odium dessen, was wir heute wissen, noch nicht belastet. Wir sahen in ihr damals im Jahr 1938 eine Elite. Und ich muß offen gestehen, ich fühlte mich geehrt. Ich war überrascht und im Übrigen hätte ich auch, wenn ich hätte ablehnen wollen, dies aus purem Anstand nicht tun können. Im Übrigen haben wir damals bereits gewußt, daß die einzelnen Gliederungen der Partei Ehrenränge um die Wette verliehen haben, indem sie Menschen aus dem öffentlichen Leben, sei es der Verwaltung, sei es der Wirtschaft, durch Verleihen von Ehrenrängen irgendwie für sich verpflichten wollten. […] Es war keine Verpflichtung damit verbunden. Im Übrigen habe ich mich nicht darum beworben, sondern Reichsführer SS Himmler hat überraschend mehreren Herren – es war eine ganze Reihe von Herren zu dieser Stunde ins

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Hotel Regina eingeladen – Ehrenränge gegeben und wollte damit zweifellos seine Freude abreagieren, seine Freundschaft bezeugen und Leute von Rang für sich gewinnen.

Reinthaller betont, dass er sich der Sachpolitik verpflichtet fühlte: Ich habe in der Zeit nach dem 11. März, also nach Neubildung der Regierung Seyß-Inquart, von 1933 bis 1945 nicht für die Partei, wie es die Anklage wahrhaben will, gearbeitet, sondern für die österreichische Landwirtschaft und im Besonderen für das österreichische Bergbauerntum, und ich glaube, hier ohne Überheblichkeit sagen zu können, ich habe mich nicht ganz ohne Erfolg für beide betätigt.

Im Übrigen schildert Reinthaller in nachvollziehbarer Weise eine gewisse Machtlosigkeit der Regierung Seyß-Inquart: Ich muß sagen, daß meine Überlegungen, die ich darüber anstellte, kein positives Ergebnis ergaben. Denn wir hatten keine Macht mehr, wir standen genauso unter dem Eindruck des Geschehens, wie Dr. Schuschnigg am 11. März gestanden war. Das heißt, wir waren machtlos, wir waren durch die Annexion keine autonome Regierung mehr, die Handlungsfreiheit besaß, sondern wir hatten abzuwarten, was über uns beschlossen wurde. Also was mutet uns eigentlich die Anklage zu? Hätten wir vielleicht in einem Amoklauf uns den Demonstrierenden und dem für den Anschluß schreienden Volk entgegenwerfen sollen? Oder hätten wir den einmarschierenden Truppen uns, die Scheinregierung, irgendwie aktiv entgegenstellen sollen? Es wäre nichts anderes gewesen, als ein Selbstmord ganz besonders sensationeller Natur.

Dabei stellt Reinthaller der Anklage die damals herrschende Umsturzbewegung entgegen: Der Anklage scheint es, so muß ich feststellen, entgangen zu sein, daß der bescheidene Beginn der Machtergreifung der NSDAP am 11. März immerhin den Effekt zeigte, daß ganz Österreich in den Abendstunden – noch vor der Regierungsumbildung, nebenbei bemerkt – von Nationalsozialisten besetzt war, daß es keine Landesregierung gab, die noch im Besitz des alten Systems war, daß in Wien selbst der Ballhausplatz, also das Bundeskanzleramt, von Nationalsozialisten besetzt war, daß Herr Schmitz [Anm.: Der Wiener Bürgermeister des Ständestaats] und andere bereits verhaftet waren, und daß wir uns selbst, die wir uns damals als gemäßigte nationale Vertreter der nationalen Opposition im Bundeskanzleramt befanden, und die dort eingeschlossenen Mitglieder der alten Regierung samt Beamtenschaft uns vorkamen wie in einer Mausefalle.

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Reinthaller verweist auf die damals bereits weit fortgeschrittene NS-Machtergreifung. Dabei stellt Reinthaller einen geschickten politischen Vergleich an: Der heutige Bundeskanzler Figl erklärte am 12. April 1946, die Besetzung Österreichs raube Österreich die Handlungsfreiheit und die Ausübung der Staatsgewalt, das heißt behinderte die österreichische Regierung an der Ausübung der Staatsgewalt, und 1945 hat sie diese Handlungsfreiheit wieder zurückgewonnen. Was Schuschnigg für den 11. März konzediert wird, nämlich daß er durch die Besetzung seiner Handlungsfreiheit beraubt wurde, soll nun für uns für den 13. März, da sich doch zwischen dem 11. und 13. noch verschiedenes zusätzlich ergeben hat, nicht mehr gelten? Das kann ich nicht begreifen.

Reinthaller berichtet umfangreich, durchwegs frei und ohne Unterbrechung über die historischen Ereignissen, in diesem Zusammenhang insbesondere über den Umstand, dass damals auch bereits Teile der Polizei und des Militärs begonnen hatten, sich nationalsozialistisch zu gerieren. Zwischendurch erinnert ihn der Vorsitzende daran, dass an diesem Tag auch noch seine Befragung durch den Senat, den Staatsanwalt und die Verteidiger vorgesehen ist. Reinthaller mahnt auch noch sinngemäß ein, sich der Unterscheidung zwischen retrospektiver Betrachtung mit dem heutigen Wissensstand („Weisheit des Rückblicks“) und der nach damaligem Wissensstand gegebenen Betrachtung der Dinge bewusst zu sein: Ich möchte noch kurz eine kleine Betrachtung anfügen, welche meines Erachtens für die Urteilsfindung von grundsätzlichem Wert und von Bedeutung ist. Es wird uns und den ehemaligen Nationalsozialisten noch heute zum Teil der Vorwurf gemacht, wir hätten wissen müssen, wohin die Reise geht. Wir hätten womöglich schon im Jahre 1927/28 wissen müssen, daß Nationalsozialismus nichts anderes bedeutet als Krieg, Konzentrationslager, Verbrechen und Gräuel. Nun, ich muß Ihnen offen gestehen, ich habe das damals nicht gewußt. Ich kann aber auch gleichzeitig feststellen, daß ich diesen meinen Glauben teilte mit Menschen, die einen vielfach größeren Weitblick haben mußten als ich. Denn wie sonst anders wäre es denkbar, daß man dem Deutschen Reich die außenpolitischen Erfolge beschert hätte, ja geradezu zum Präsentierteller entgegengebracht hätte, als nur aus dem Glauben heraus, daß die Friedensversicherungen Hitlers ernst gemeint waren? Ich befand mich also mit diesem meinen Glauben in einer sehr honoren Gesellschaft.

Nachdem er die „fürchterliche planmäßige Ausrottung“ scharf verurteilt, postuliert Reinthaller letztlich auch eine differenzierte Betrachtung:

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Wenn man mit dem Sammelbegriff „Nazi“ nichts anderes als Menschen versteht, welche bar sind jeder Moral, und verbrecherische Tendenzen verfolgen, dann muß ich – und wie ich weiß, mit die große Masse der ehemaligen Nationalsozialisten in Österreich – in Anspruch nehmen, wie Sven Hedin beurteilt zu werden.766 Wenn man sich bei dem Studium des Problems des Nationalsozialismus in höhere geistige Unkosten gestürzt hätte, als es bedauerlicherweise geschehen ist, wäre man sehr bald dahintergekommen, daß die im Krieg zweifellos sehr brauchbare Antinazipropaganda kein Fundament für eine Rechts- und Wahrheitsfindung sein kann. Es gibt im Englischen ein Sprichwort, welches lautet: Who generallies, generally lies, das heißt: Wer verallgemeinert, lügt gewöhnlich. Genauso wenig, wie es unter den punzierten Demokraten nur gute Menschen gibt, ebenso wenig waren die ehemaligen Nationalsozialisten lauter Bösewichte.

Nach dieser pointierten Kritik an der mit den Vergeltungsbestimmungen des Verbotsgesetzes angewendeten schematischen Betrachtung tätigt Reinthaller noch eine politische Aussage für die Zukunft: Ich habe es bereits in meiner Voruntersuchung niedergelegt und möchte es hier nur mit einigen Worten unterstreichen: Die wahre Sicherung des Friedens liegt nicht im Besitz von Atombomben oder sonstiger Verheerungswaffen, sondern sie liegt darin, daß man eine Übereinstimmung der Menschen über das werdende Weltbild herstellt. Erst dann wird man die Philosophie Nietzsches „Macht geht vor Recht“ erschüttern und Vertrauen auf ein kommendes Völkerrecht erwecken. Eine schöpferische Führung muß das größte Interesse daran haben, eine so enorm aktive Gruppe wie die ehemaligen Angehörigen der nationalsozialistischen Bewegung für die im Entstehen begriffene Organisation der menschlichen Gesellschaft und für diese Ideale zu gewinnen. Das Streben dieser Menschen galt der Verwirklichung eines jahrhundertealten Traumes und der Sehnsucht aller Deutschen nach dem Reich als Hort des Friedens und der Wohlfahrt, sowie der Lösung der sozialen Frage, um die Nation vor dem Abweichen in das Chaos zu sichern. Diese und auch ich wollten weder Krieg, Diktatur noch Konzentrationslager oder gar die Gräuel, für welche wir auch nicht verantwortlich sind und genauso verurteilen wie jeder anständige Mensch. Die am Nationalsozialismus gläubig gehangenen Menschen als rettungslos verloren zu betrachten, ist meines Erachtens ein Wahnsinn. Diese Menschen sind heute bessere Demokraten als manche, die sich einbilden, solche zu sein, denn das weiß ich aus meinen Erfahrungen, und ich

766 Sven Hedin, geboren 19.02.1865, verstorben am 26.11.1952, war ein schwedischer Geograf, Entdeckungsreisender und Reiseschriftsteller. Er war zunächst ein Sympathisant des NS-Regimes, kritisierte aber zunehmend dessen menschenfeindlichen Aktionen und setzte sich schließlich für die Freilassung von deportierten Juden ein.

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war in sechs Lagern und vier Gefängnissen. Diese Menschen sind nie mehr gewillt, einem Einzelnen, und wenn dieser auch mit Engelszungen reden wollte, eine unkontrollierbare Machtbefugnis zu geben. Sie wollen arbeiten, sie wollen eine friedliche Welt und sind von dem Wunsche nach Arbeit in einer friedlichen Welt durchdrungen. Diese Massen weiterhin abzustoßen, erfordert mehr Kunst, als sie zu gewinnen. Als heimatliebender Österreicher, und ich kann stolz bekennen, ich war es immer – wünsche ich von ganzem Herzen, daß Letzteres Tatsache werde. Man mag noch so laut versichern, daß man zu irgendwelchen Idealen steht: das Mißtrauen würde bleiben, wenn wir der Welt nicht beweisen, daß wir in dieser Zeit nach beschworenen Grundsätzen leben und handeln, das heißt, letzten Endes uns gegenseitig zu verstehen und zu verständigen suchen.

8.2.3 Dritter Verhandlungstag Mittwoch, 25. Oktober 1950

Am dritten Verhandlungstag beginnt das Beweisverfahren, an dessen Anfang die Vernehmung des früheren Bundespräsidenten Wilhelm Miklas steht.767 Miklas schildert zunächst die Vorgänge des 11. März 1938, als er sich zum Mittagessen in seiner Dienstwohnung befand, wo ihn die telefonische Mitteilung von dem von Deutschland an Bundeskanzler Dr. Schuschnigg gerichteten Ultimatum erreichte, wonach der damalige Innenminister Seyß-Inquart zum Bundeskanzler zu bestellen ist und andernfalls die an der österreichischen Grenze von Passau bis Bregenz bereitgestellten deutschen Reichstruppen in der Stärke von etwa 200.000 Mann nach Österreich einmarschieren. Altbundespräsident Miklas erzählt, wie er daraufhin sofort in die Präsidentschaftskanzlei zurückeilte und dort davon erfuhr, dass der Bundeskanzler Schuschnigg in Erwiderung des Ultimatums darauf verwiesen hatte, dass diese Angelegenheit in die Kompetenz des Bundespräsidenten fällt. Miklas wollte sich nicht diktieren lassen, wen er zum Regierungsmitglied bestellt. Schuschnigg trat als Bundeskanzler zurück, wurde von ihm aber sofort bis zur Bildung einer neuen Regierung mit der interimistischen Durchführung der Regierungsgeschäfte betraut. Nachdem an Berlin Mitteilung von der Haltung des Bundespräsidenten gemacht worden war, sprach der Staatssekretär des Deutschen Reiches für auswärtige Angelegenheiten Keppler bei ihm vor, um das Ultimatum nun direkt an ihn als Bundespräsidenten zu richten, worauf er ihm erwidert habe, „daß Österreich ein freier, unabhängiger Staat ist und er alleine das Recht habe zu bestimmen, wer bei ihm regiere, also auch die Bestellung des Bundeskanzlers“. Keppler entfernte sich, allerdings nicht ohne 767 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 09.00–13.15 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 1–10 (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner).

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Hinweis auf die an der Reichsgrenze zwischen Österreich und dem Deutschen Reich bereitstehenden 200.000 Soldaten der deutschen Reichstruppen. Als nächstes schildert Miklas, wie er in weiterer Folge von dem deutschen Militärattaché, General Leutnant Wolfgang Muff, aufgesucht wurde, der die Drohung mit dem Einmarsch wiederholte, auch dieser allerdings erfolglos. Nach dem Gespräch mit Muff setzte Miklas sich mit dem Heeresministerium ins Einvernehmen. In diesem Zusammenhang schildert er das Verhältnis der Truppenstärken: „Meiner Schätzung nach waren es ungefähr 10 bis 12.000 Mann, verteilt über die ganzen Grenzen gegenüber den 200.000 Mann“. Miklas führt weiter aus, wie zunächst das Ultimatum, in Österreich einzumarschieren, mit 1/2 8 Uhr abends befristet wurde, aber in weiterer Folge die Frist des Ultimatums wiederholt verschoben wurde, letztlich „bis auf den frühen Morgen des 12. März“, wobei zwischenzeitig eine Falschmeldung aus Innsbruck eintraf, wonach „die deutschen Truppen in der Kufsteiner Gegend eingerückt seien“, worin Miklas den Beweis für eine Unentschlossenheit sieht: Vielleicht war dies von außen absichtlich so gemeldet worden, denn es stellte sich nämlich dann heraus, daß sie auf österreichischem Gebiet gar nicht eingerückt waren, was wiederum ein Beweis ist, daß auch auf Seite Hitlers oder vielleicht der Offiziere und Kommandanten gezögert wurde.

Auf österreichischer Seite setzte man auf Beruhigung: Der Bundeskanzler hat im Interesse des Schutzes Österreichs natürlich sehr darauf geachtet, daß womöglich doch infolge des Zögerns der Reichsdeutschen bei uns in Österreich eine ähnliche Maßnahme zur Abwendung des Kampfes und zur Beruhigung stattfindet. Nach Rücksprache mit seinem Heeresinspektor – der Heeresminister war nicht zu finden – hat man sich an den höchsten Offizier der Armee, an Schilhavsky, gewendet und beschlossen, die Truppen von der Inngrenze zurückzunehmen bis zur Traun oder bis zur Enns, um nicht durch eine Schießerei, die vielleicht plötzlich an der Grenze ausbricht, von vornherein den Krieg auszulösen. Es war dies eine Sicherheitsmaßnahme zum Schutze des Friedens.

Das damals auf ihn ausgeübte Drängen und seine damalige Rolle schildert Miklas so: Dann hat man gewartet, was geschieht, wann die Einrückung vor sich geht, was aber nicht der Fall gewesen ist. Umso mehr hat die Bundesregierung gebohrt, daß ein neuer Bundeskanzler raschestens bestellt wird, und zwar so, wie es Hitler haben wollte, also den Seyß-Inquart. Jeder andere wäre von vornherein abgelehnt worden und hätte nur wieder ein neues Ultimatum ausgelöst. Es blieb sonst kein Ausweg. Die Regierungsmänner waren

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damals die eigentlichen Regenten des Staates, der Bundespräsident war eigentlich nur ein Staatsnotar.

Daran anschließend berichtet Miklas von den verzweifelten und letztlich erfolglosen Versuchen, beim Völkerbund und bei anderen Staaten Hilfe zu erlangen, wobei Miklas sich über das Verhalten Frankreichs verärgert zeigt: Wir haben uns auch nach Frankreich gewendet und von dort die Antwort bekommen: Wir haben gerade jetzt eine Ministerkrise, wir können das nicht über’s Knie brechen, aber seid überzeugt, wird werden unter allen Umständen zu euch halten. Später haben uns die Franzosen den Vorwurf gemacht, wir hätten eigentlich dreinhauen sollen. So behandelte man den Staat, den man im Jahr 1919 zu St. Germain geschaffen hatte.

Auch der Einsatz von führenden österreichischen Politikern konnte keine Hilfe aus dem Ausland bewirken: Es waren auch mehrere führende Politiker, z.B. der damalige Bürgermeister von Wien Schmitz bei mir gewesen, die mir sagten, sie hätten gute Beziehungen zu Frankreich, wenn ich nur bis Mitternacht aushalten könne. Mit all dem konnte jedoch der Fall Österreichs nicht aufgehalten werden.

Der Aufmarsch von Militär der Tschechoslowakei an der Grenze zu Österreich war Miklas suspekt: Wir haben auch noch andere Staaten gerufen und uns z.B. erkundigt, was man in Prag dazu sagt. Dort wurde uns mitgeteilt, man sei äußerst nervös und habe an die Grenze Österreichs Truppen geschickt. Zu welchem Zwecke, weiß man nicht und nehme ich an, daß das damals noch in dem Sinne gewesen ist, um die Tschechoslowakei selbst zu schützen, es ist aber auch möglich, daß dabei schon machtpolitische Interessen aus der Tschechoslowakei selbst mitgespielt haben, die bei der Niederwerfung und Beraubung Österreichs mit dabei sein wollten. Ich habe auch den St. Germainer Frieden erlebt und die Verhandlungen, die vorangegangen sind, und weiß sehr gut, daß die Tschechoslowakei das Land bis zur Donau, von Passau bis Preßburg etc. für sich beansprucht hat. Da sind vielleicht alte Staatsordnungspläne vom Norden her mit dabei gewesen. Auf alle Fälle waren dies keine Leute, die für das bedrohte Österreich hätten eintreten können.

Miklas lässt auch Ungarn nicht unerwähnt:

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Was Ungarn betrifft, in Ungarn war das Horthy-Regime. Dieser war sehr freundlich und hat mir sogar den ungarischen Orden gebracht, was mich wiederum veranlaßt hat, mich nach Ungarn zu begeben, um ihm den Krukenkreuzorden zu überreichen. Ich wurde in Ungarn sehr freundlich aufgenommen und hatte Gelegenheit, mit mehreren ungarischen Staatsmännern zu sprechen und bin daraufgekommen wie sich Ungarn stellen würde, wenn Österreich von Deutschland her bedroht werde. Ich habe gesagt: Ich mache euch aufmerksam, wenn Österreich fällt, dann seid auch ihr mit eurer Freiheit verloren.

Dann erzählt Miklas, dass er letztlich resignierte, als zu der Bedrohung von außen auch noch der Umstand kam, dass Unruhen und Umsturzaktionen im Inneren768 erfolgten: Ich habe mich dann doch entschlossen, schwer entschlossen, aber zur Rettung des Lebens meines Heimatvolkes und Vaterlandes war es notwendig. Leben und Existenz standen auf dem Spiele, wenn die gefährliche Drohung plötzlich wahr wird, und dies wäre das Vorhandensein von 600 bis 800 Kampfflugzeugen im Raume zwischen Passau, München und Kufstein. Diese Kampfflugzeuge konnten innerhalb von zwei Stunden in Österreich sein und hier unter Umständen das machen, was dann später die Amerikaner gemacht haben und wie in Rotterdam. Das ist die Lage, in der wir uns befunden haben und im Inneren war sozusagen noch eine schreckliche Lethargie zu finden. Die Bevölkerung, die Vaterländische Front usw. waren wie verschwunden, eine Hiobsbotschaft nach der anderen über Eingreifen der Nazis in Stoßtrupps in Österreich selbst kam zu uns nach Wien, auch in der Tiroler Landesregierung, in der Steirischen und Kärntner Landesregierung, überall hat man die Landeshauptmannschaften gewaltsam besetzt und dort fast keinen Widerstand gefunden. Das ist die Situation, wie Innen alles zusammengebrochen ist durch die Stoßtrupps der Nationalsozialisten. Das ist natürlich Revolution gegen Österreich und das waren österreichische Nationalsozialisten; gewiß auch unterstützt von Emissären von draußen, aber die draußen kamen erst ein paar Tage später nach Österreich. Es waren an die 30.000 Mann, die österreichischen Legionäre, die in ein von den Nationalsozialisten des Deutschen Reichs okkupiertes, erobertes Land kamen. Diese Situation nötigte mich im Interesse des Lebens und der Existenz des österreichischen Heimatvolkes zu dem Entschluß, dem Verlangen der abtretenden Regierung Schuschnigg zu entsprechen und Seyß-Inquart, den bisherigen Innenminister Österreichs, mit der Regierungsbildung zu betrauen.769 768 Anschaulich Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 62ff, zu den damals erfolgenden Massenkundgebungen von NS-Protagonisten, vielfachen Umsturzaktionen und einsetzenden Übergriffen und Gewaltakten. 769 Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 68: „Miklas hat sich doch der Macht der Ereignisse gebeugt.“

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Die von Miklas geäußerte Beurteilung des Seyß-Inquart fällt ambivalent aus: Seyß-Inquart hat sich unter Schuschnigg ziemlich loyal verhalten, er wollte erst warm werden und hat man mit ihm ein leidliches Auskommen gehabt. Nur in dem Moment, als er zum Kanzler ernannt wurde, war er wieder der alte Nationalsozialist, hat aber doch so viel Ausgleichs- und Versöhnungsempfinden mitgenommen, daß er in sein neues Kabinett auch Leute hineingenommen hat, die bisher immer gute Österreicher waren. Es waren dies alte Österreicher, die die Vorstellung gehabt haben, wir bleiben als Österreich erhalten, aber wir kommen halt zum Deutschen Reich so ähnlich wie seinerzeit das Bismarckreich. Das war so die Vorstellung dieser braven, alten Österreicher, die aus Anlaß dieses schweren Falles, der durch weltgeschichtliche Ereignisse hervorgerufen, einen furchtbaren Zwang auf Österreichs Volk und seine Regierung ausgewirkt hat, der alles entscheidend beeinflussen mußte in dieser wichtigen Stunde.

Miklas gibt allerdings an, dass er weiterhin auf eine für ihn positive Lösung hoffte, und es für ihn daher auch zu diesem Zeitpunkt noch immer ein Spiel auf Zeit war: Ich habe gesagt, daß ich mich auch aus einem gewissen, geheimen Grunde entschlossen habe. Ich habe nämlich gemeint, wenn ich jetzt vorläufig eine Regierung Seyß-Inquart habe, dann wird vielleicht doch unterdessen die Welt draußen daraufkommen, was sich da in Mitteleuropa ereignet hat, was da wider Recht und Gesetz geschehen ist und was auch dem Völkerrecht widerspricht, und dementsprechend seine Beschlüsse fassen. Dies war ein heimlicher Wunsch in dieser Österreichfrage, es ist aber leider anders gekommen, denn schon am 13. März 1938 wurde Seyß-Inquart beauftragt, das sogenannte Anschlußgesetz in Österreich sofort zum Beschluß zu erheben, nachdem ich für das Deutsche Reich bereits abgesetzt war.

Miklas erzählt dann von der um 11 Uhr vormittags des 12. März erfolgten Vereidigung der Regierung Seyß-Inquart, um schließlich auf die Vorgänge des 13. März 1938 einzugehen. Als Seyß-Inquart von ihm die Gegenzeichnung des Gesetzesbeschlusses mit dem Anschlussgesetz verlangte, lehnte er entschieden ab: Es hat über den Sonntag, den 13. gedauert und ist schließlich am 13.03., um etwa 4 Uhr nachmittags der Kanzler zu mir gekommen und hat mir ein Schriftstück gezeigt, einen Beschluß der Regierung, die den Anschluß an das Deutsche Reich öffentlich zum Gesetz machen soll und dieses Anschlußgesetz habe ich zu unterfertigen abgelehnt und erklärt, so etwas, das sozusagen die Hingabe der Souveränität Österreichs an einen anderen Staat ist, sei ausgeschlossen, das werde ich niemals unterschreiben ohne vorhergehende Volksabstim-

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mung. Die letzte Volksabstimmung hat Hitler verhindert und sich in dessen zur Aggression gegenüber Österreich entschlossen. Jetzt verlangte ich diese Abstimmung nochmals; wenn die sich dafür anschließen, weil die heutige Grundlage Österreichs als Kleinstaat nicht zu halten ist, dann soll das österreichische Volk darüber entscheiden. Dies ist jedoch abgelehnt worden und wäre auch gar nicht durchzuführen gewesen in einem Lande, das bereits von den Truppen des Auslandes besetzt ist, es wäre dies niemals eine freie Wahl geworden und war es eine absolute Sackgasse, in der wir uns befunden haben. Trotzdem habe ich zur Wahrung des Begriffes der Selbständigkeit Österreichs mich geweigert, ein Anschlußgesetz zu unterschreiben.

Schließlich kommt Miklas auch in grundsätzlicher Übereinstimmung mit seinen früheren, auch in anderen Volksgerichtsverfahren abgelegten Zeugenaussagen auf den Umstand zu sprechen, dass er nicht vom Amt des Bundespräsidenten zurücktrat (demissionierte), sondern sich als an der Amtsausübung gehindert erklärte: Mich hatte die Deutsche Reichsregierung für abgesetzt erklärt und hätte ich eigentlich schon am 12. März keine aktive Tätigkeit als Bundespräsident mehr auszuüben gehabt. Ich habe erklärt, ich habe nicht demissioniert, wurde aber sozusagen vom politischen, aktiven Leben ausgeschaltet, was merkwürdigerweise in der Weltöffentlichkeit gar nicht beachtet worden ist. Die Demission hätte ich eigentlich überreichen sollen, ich habe jedoch erklärt, ich übertrage für die Dauer meiner Verhinderung alle Funktionen des Staatschefs des Bundespräsidenten an den Kanzler des Staates.770 Das ist auch in der Verfassung vorgesehen gewesen, glaublich in § 77 der Verfassung, wo es ausdrücklich heißt: Im Falle der Verhinderung des Bundespräsidenten gehen alle Funktionen auf den Bundeskanzler über. Davon habe ich Gebrauch gemacht und bin eigentlich im Stillen immer fortgeblieben bis zur neuen provisorischen Renner-Regierung und habe davon der neuen Regierung durch Kuntschak Mitteilung gemacht, daß ich mich freue, daß Österreich wiederum eine österreichische Regierung habe und daß ich mich weiters freue, daß ich im Interesse der Rechtskontinuität nunmehr die Regierung Österreichs als voll anerkennen kann. Ich bin dann noch bis zu den Wahlen geblieben, erst nachher hat meine Präsidentschaft geendet. Eine Wiener Zeitung hat mich einmal einen Mann des Überganges genannt, aber dieser war verdammt schwer.

770 Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien – Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939, Wien 2008, 92: „[…] an jenem Sonntag […] übertrug der Bundespräsident dem Bundeskanzler Seyß-Inquart seine Befugnisse als Staatsoberhaupt, ohne jedoch ausdrücklich zu demissionieren.“

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Es folgen Detailfragen des Vorsitzenden des Richtersenats, des Staatsanwalts und der Verteidiger. Auf die Frage des Vorsitzenden sagt Miklas über den Angeklagten, Ing. Reinthaller: Der Angeklagte ist damals nicht besonders in Erscheinung getreten. Ich habe ihn erst gekannt, als er damals zur Angelobung auf die österreichische Verfassung gekommen ist. In der Sommerfrische in Attersee habe ich viel von ihm gehört. Es hat viele gegeben, die für ihn waren und viele die gegen ihn waren, doch habe ich mich darum weiters nicht gekümmert.

Der Staatsanwalt befragt Miklas dann zu dessen Beglaubigung des Devisengesetzes.771 Die Beglaubigung dieses Gesetzes wird von Miklas bestätigt. Auf Befragung durch Dr. Tiefenbrunner gibt Miklas eine Stellungnahme ab zu den Männern der Regierung Seyß-Inquart: Ich weiß es heute nicht mehr auswendig. Es waren nicht nur Minister, sondern auch beispielsweise Unterstaatssekretäre Wimmer, Menghin usw. Letzterer war ganz ausgezeichnet und waren überhaupt alle brave, alte Österreicher. Auch Neumayer war nichts anderes als ein alter österreichischer Beamter mit großen Kenntnissen und ist dann eben Finanzminister geworden. Neumayer ist überdies nach der Vereidigung zu mir gekommen und hat sich bedankt und seiner Verwunderung Ausdruck verliehen, daß ich ihn wiederbestellt habe. Seyß-Inquart hat ihn einfach übernommen. Sie sehen, wie gemischt die Regierung zusammengesetzt war. Daß natürlich der Einfluß von draußen störend gewirkt hat, ist sicher, denn unmittelbar nach dem 13.03.38 hat ja das begonnen, wo der sogenannte Rechtsangleich an das Deutsche Reich beginnen sollte. Diese Rechtsangleichung hat der Regierung Seyß-Inquart und ihren Mitgliedern sehr viel Kopfzerbrechen gemacht und weiß ich, daß einige Monate später mir vertraulich mitgeteilt wurde, Seyß-Inquart habe sich geäußert: Das haben wir nicht gewollt. Sie sehen, wie auch diese ursprünglich bestellte österreichische Regierung seit der Bestellung Seyß-Inquart zum Statthalter des Deutsche Reiches unter dem schweren Druck des Narzissmus des Deutschen Reiches gestanden ist.

Im weiteren Verlauf der Befragung stellt Dr. Tiefenbrunner eine Frage, die sichtlich darauf abzielt, dass die Mitglieder der Regierung Seyß-Inquart diese Funktionen aus Verantwortung für Österreich übernommen hätten: „Ist Ihnen bekannt, daß die Kabinettsmitglieder verschiedentlich flehentlich gebeten worden sind, in die Bresche zu 771 Dieses wurde von der Regierung Seyß-Inquart im Zirkularweg, also im Umlaufweg beschlossen (Ministerratsprotokoll vom 12.03.1938 Nr. 1070, Österreichisches Staatsarchiv, Punkt 2).

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springen, das heißt diese Funktion zu übernehmen und sich Österreichs wegen in den Dienst der Sache zu stellen?“ Der Zeuge Miklas antwortet darauf: Von mir aus ist niemand gebeten worden, doch ist es schon möglich, daß gewisse konservative Kreise Österreichs gesagt haben, die Situation ist so verzweifelt, daß nichts übrig bleibt, als das Kabinett Seyß-Inquarts zustande zu bringen, nehmt diese Funktionen an. Einer hat es jedoch abgelehnt und dies war der Außenminister Guido Schmidt.

Zu Tiefenbrunners ergänzender Frage zum Anschlussgesetz macht Miklas folgende Angaben: Ich kann mich nicht erinnern, daß noch ein Briefwechsel zwischen mir und Seyß-Inquart geführt worden ist. Ich habe nie ein Protokoll dieser sogenannten Ministerratssitzung vom 13.03. gesehen, sondern hat mir Menghin mit Seyß-Inquart in meiner Dienstwohnung mitgeteilt, daß es dringend notwendig sei, daß wir ein Anschlußgesetz machen, und habe ich dann erst später erfahren, wie es zustande gekommen ist. Es ist in einer ca. 5 Minuten dauernden Kabinettssitzung zustande gekommen und hat mir Seyß-Inquart mitgeteilt, daß er am Tage vorher die Weisung spät abends von Hitler bekommen habe mit der Erklärung, dieses müsste sofort österreichisches Verfassungsgesetz werden, sonst werde er militärisch vorgehen. Unter diesem Druck hat Seyß-Inquart es dem Kabinettsrat vorgelegt und dieser hat nach weniger Minuten einfach unterschrieben. Ob das Protokoll tatsächlich unterschrieben worden ist, weiß ich nicht, darüber wurde mir nichts gesagt.

Auf die definitive Frage des Dr. Tiefenbrunner, ob demnach das Zustandekommen des Anschlussgesetzes verfassungsgemäß war, sagt Miklas, diese Frage nicht beantworten zu können, weil er nicht wisse, wie die Faktoren für jene, „die es beschlossen haben, unterschrieben haben“. waren. Tiefenbrunner fragt dann, ob Österreich am 13. März noch handlungsfähig war, ob es noch frei war in seinen Entschlüssen oder bereits okkupiert war. Miklas berichtet darauf: „Es war besetzt und zumindest okkupiert mit Ausnahme des alten Bundespräsidenten.“ Tiefenbrunner setzt nach mit der Frage, wodurch und von wem der furchtbare Zwang ausgeübt worden ist, worauf Miklas antwortet: Von der ganzen Welt. Ich bin verlassen gewesen von allen Faktoren im Inneren und von allen entscheidenden machtpolitischen Faktoren des Auslandes, einschließlich des Völkerbundes. Es war eben eine Überrumpelung. Die Absetzung des Bundespräsidenten war die erste Forderung. Ich weiß, daß Seyß-Inquart über diesen Befehl von Berlin gar nicht erfreut war und haben sie sich die Anlehnung an das Deutsche Reich auch ganz anders vorgestellt.

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Tiefenbrunner fragt weiter: „Hätten die Männer im Kabinett Seyß-Inquart sich diesem Befehl Hitlers, des Diktators, widersetzen können? Was wäre geschehen, wenn sie es wirklich versucht hätten?“ Miklas erwidert: Ich gebe zu, daß das ein furchtbarer Druck war, als Hitler das genau konzipierte Anschlußgesetz gemacht und von Seyß-Inquart das Gesetzwerden verlangt hat, widrigenfalls militärische Maßnahmen erfolgen, und hätte eine andere Regierung kaum etwas anderes machen können. Natürlich ist damit nichts über die politische Verantwortung gesagt, ob und wie man sich überhaupt zu der großen staatspolitischen und weltanschaulichen Politik in Europa, zum Narzissmus und Nationalsozialismus stellte.

Tiefenbrunner fragt weiter: „Hätte die Vergewaltigung Österreichs am 13.03. durch irgendeine Maßnahme von einem Österreicher aufgehalten oder vereitelt werden können?“ Miklas antwortet darauf: „Nein. Nach meinem Dafürhalten war dies ganz ausgeschlossen und nur durch ein Wunder möglich gewesen.“ Auf die Frage von Dr. Tiefenbrunner nach einer Kenntnis davon, ob Reinthaller als Politiker, als Nazifunktionär oder als Fachminister in das Kabinett Seyß-Inquart aufgenommen wurde, kann Miklas nur angeben, dass es der Wunsch des Regierungschefs war, dass Rein­ thaller in das Kabinett hineinkommt, dass er jedoch nicht zu jedem Einzelnen sagen könne, ob dieser wegen seiner politischen Stellung oder seiner fachlichen Eignung nominiert wurde. Die Verteidigerbefragung setzt Dr. Günther fort, indem er nochmals das Anschlussgesetz anspricht: „Sie haben gesagt, daß um 4 Uhr Seyß-Inquart mit einem Zettel gekommen ist, und gesagt hat, das Gesetz hat der Ministerrat beschlossen.“ Dazu sagt Miklas aus: Ich habe um 4 Uhr erklärt, ich unterschreibe nichts und stimmt auch das, was Neumayer und Reinthaller angeben, nämlich, daß ihm soeben alle Rechte von Miklas übertragen worden sind. Ich habe schon vor dem Ministerrat alle Funktionen übergeben. Es hätte nicht sein müssen, daß ich die Funktion auf Grund des Art. 77 übertrage, doch ist ja vom Reich sofort meine Absetzung verlangt worden. Skubl wurde ebenfalls abgesetzt.

Günther will wissen: „Sie sind durch die ganze NS-Zeit Bundespräsident geblieben und haben nicht demissioniert?“ Miklas sagt daraufhin aus: Eine Demission meinerseits ist niemals erfolgt und habe ich auf Veranlassung Hitlers auch meine Bezüge erhalten. Ich konnte auch die Amtswohnung behalten. Man hat natürlich auch alles Interesse gehabt, auf mich aufzupassen, und kann ich mich erinnern, daß ich im Sommer 1938 bei der Gestapo gebeten habe, ob ich wieder in die westlichen Bundes-

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länder fahren dürfe, worauf man mir geantwortet hat, daß ich nur unter Begleitung eines Kriminalbeamten und nicht in die westlichen Bundesländer fahren dürfe. Nach Südbayern durfte ich schon fahren.

Dr. Günther liest schließlich Artikel 84 der Bundesverfassung 1934 mit der Eidesformel vor und konfrontiert Miklas mit dem Umstand, dass „in keinem einzigen Verfassungsgesetz die Verpflichtung drinnen ist, daß die Regierung oder der Bundespräsident für die Unabhängigkeit [Anm.: des Staates Österreich] eintreten muß“, worauf Miklas antwortet: „Diese Schwierigkeiten, die aus der alten österreichischen Bundesverfassung bzw. Dollfußverfassung hervorgegangen sind, haben wiederholt auch mir große Sorgen gemacht.“ Zum Abschluss seiner Zeugenvernehmung wird Miklas von Reinthaller direkt angesprochen: „Haben Sie mich damals am 13.03., als ich unter dem Drucke des Reiches das Wiedervereinigungsgesetz zur Kenntnis nahm, haben Sie mich, den Neumayer, Wolf etc. für einen Hochverräter betrachtet?“ Miklas darauf: „Nein.“ Als nächster Zeuge wird Heinrich Gleißner vernommen.772 Er teilt mit, dass er kurze Zeit später, nachdem er am 01. März 1934 Landeshauptmann von Oberösterreich geworden war, Reinthaller kennenlernte. Gleißner wusste von Bundeskanzler Dollfuß, daß die verschiedenen Gruppen der Nationalsozialisten bestehen und daß man mit denen, die sich von den Terroristen scheiden und mehr eine evolutionäre Linie einhalten, daß man mit denen die Verbindung aufnehmen soll, um zu sehen, in welcher Weise ihre Mitarbeit möglich ist unter gewissen Bedingungen, und war ihm Reinthaller als ein solcher Exponent, der sich um verschiedene Aktionen der Beruhigung bemühte, bekannt.

Das Treffen mit Reinthaller nach dem von den radikalen Nazis unternommenen und gescheiterten Juliputschversuch schildert Gleißner folgendermaßen: Ich traf ihn unmittelbar nach dem Mord an Bundeskanzler Dollfuß und weiß noch heute, daß er sehr erschüttert war und glaubte, daß die Bemühungen der Kreise gegen die eigenen Terroristen jetzt keine Erfolge mehr haben werden und jetzt eine allgemeine Verfolgung einsetzen wird.

Bundeskanzler Schuschnigg tätigte nach einem Gespräch mit Reinthaller gegenüber Gleißner die folgende Äußerung: „Es wird vielleicht nicht viel herauskommen, aber 772 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 09.00 – 13.15 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 10–13.

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man muß den Versuch jedenfalls machen.“ Reinthaller machte auch schriftliche Unterlagen für seine im Herbst 1934 einsetzende Befriedungsaktion773 und ging dabei von der Vorstellung aus, dass die Anerkennung der Selbständigkeit Österreichs und die Anerkennung der Verfassung gewährleistet wird. Die Tendenz war, die Nationalsozialisten zur Mitarbeit heranzuziehen, die einen Trennungsstrich zu Terroristen und jenen machen, die nicht die Ansicht vertreten, dass die Abhängigkeit von einer reichsdeutschen Dienststelle aufhören soll. Gleißner berichtet auch, dass er sich in Wien über die Person Reinthallers erkundigte, hauptsächlich beim Sicherheitsdirektor. Dabei ergab sich, dass Reinthaller dort immer die Ermächtigung holte, bzw. seine Unterlagen abgab, sodass seine Handlungen nicht illegal, sondern mit Billigung der verantwortlichen Stellen erfolgten. Auf Frage des Vorsitzenden teilt Gleißner dezidiert mit, dass er von einer hochverräterischen Tätigkeit des Angeklagten nichts bemerkt hat. Das führt Gleißner dazu, die folgenden Begebenheiten zu erzählen: Wie ich aus Dachau entlassen worden bin, habe ich hier einen Beruf gesucht und bin in diesen zwei Monaten meiner Freiheit zu Reinthaller gegangen, der im Landwirtschaftsministerium amtierte. Ich bedankte mich bei ihm dafür, daß er meiner Frau so geholfen hatte und sich auch für meine Freilassung eingesetzt hatte. Der sagte damals noch zu mir: Was sagen Sie zu dieser Entwicklung. So haben wir uns das nicht vorgestellt, wir dachten, daß Österreich den Österreichern bleiben wird. Jetzt reden die Anderen und wir müssen schweigen. Es war damals beim Angeklagten eine sichtliche Depression zu bemerken. Ich bin nach zwei Monaten neuerlich verhaftet worden und haben wir uns nachher nicht mehr gesehen.

Auf die Befragung durch Dr. Tiefenbrunner teilt Gleißner mit, dass ihm keine hochverräterische Handlung von Ing. Reinthaller bekannt ist, und tätigt zur Frage, ob die „Aktion Reinthaller“ der Regierung nur bekannt war oder diese von der Regierung sogar gewünscht, gebilligt und gefördert wurde, folgende Ausführungen, die einen Überblick über die damals bestehenden schwierigen Verhältnisse geben: Die schriftlichen Unterlagen über diese ganze Aktion, die Reinthaller machte, mußten naturgemäß zu der Meinung führen, es kann nicht illegal gewesen sein, wenn es die Staatsführung wußte. Ich konnte keine Illegalität sehen und das, was ich dann von meiner vorgesetzten politischen Stelle hörte, nämlich, daß man in der Situation, in der Österreich sei, alles tun müsse, um die, die keine Abenteurer sind, zu gewinnen und zu versuchen, daß man 773 Zur Aktion Reinthaller im Detail siehe Lothar Höbelt, Die „Aktion Reinthaller“: „Ständestaat“ und „Nationale Opposition“, in: Gerhard Marckhgott (Hrsg.), Oberösterreich 1918–1938, Bd. 1, Linz 2014, 47.

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sie von irgendwelchen Befehlen von außen her trennt, trug erst recht nicht dazu bei. Man muß Verständnis haben für eine Regierung, die auf schmaler Basis stand, wie ich zugeben muß. Man kann nicht auf schmaler Basis, auch mit guter Absicht, ein Land führen ohne Parlament. Die Vaterländische Front hat sich teilweise zu Reinthaller gestellt, sie war eben so uneinheitlich wie auf der anderen Seite die Nazi. Es waren überall die verschiedensten Meinungen und torpediert wurde es ja von beiden Seiten.

Gleißner bestätigt auch sehr deutlich die vielen von Reinthaller gewährten Hilfestellungen: „Ich bin glücklich, hier als Mensch erklären zu können, daß er allen geholfen hat und kenne ich viele, die sagen, Reinthaller habe in jeder Lage geholfen.“ Hinsichtlich der damals durchgeführten sicherheitspolizeilichen Überprüfung von Ing. Rein­ thaller verweist Gleißner auf Sicherheitsdirektor Revertera. Dr. Günther richtet aber in der anschließend von ihm ergänzend durchgeführten Befragung die folgende Frage an Landeshauptmann Gleißner: „Sie haben sich erkundigt, was Reinthaller für ein Mensch ist. Wer hat ihn eigentlich richtig überprüft?“ Gleißner antwortet: Die Sicherheitsdirektion. Es war einmal eine disziplinäre Untersuchung gegen den Angeklagten [Anm.: Ing. Reinthaller] und wurde er damals entlassen. Es wurde festgestellt, daß er in der Zeit der erlaubten Bewegung sehr prominent war, man hat ihm aber später glaube ich seine Pension weiterhin bezahlt, was nicht gut möglich gewesen wäre, wenn er wirklich illegal gewesen oder von den vorgesetzten Behörden als solcher angesehen worden wäre.

Dr. Günther fragt daraufhin: „Halten Sie ihn aufgrund der Tätigkeit von 1933 bis 1938 als einen Hochverräter?“ Gleißner berichtet: Ich hatte mit ihm zu tun und wäre, wenn ich mit einem Hochverräter verkehrt hätte, das gleiche. Wir haben uns von 1934 bis 1938 in einem Rahmen bewegt, von dem alle verantwortlichen Stellen wußten. Ich möchte hiebei feststellen, daß es ein Unterschied ist, ob einer ein politisches Ziel auf revolutionäre oder auf evolutionäre Weise verfolgt. Das, was Reinthaller gemacht hat, war wahrscheinlich so, daß er seinen Mitgliedern gesagt hat, nur auf evolutionäre Weise kann das Ziel erreicht werden.

Dr. Haider setzt die Befragung mit Fragen zu den Vorgängen des 11. März 1938 fort: „Wie lagen die Dinge am 11.03.1938 in den Abend- und Nachtstunden, also bevor Hitler nach Linz kam und dort die Proklamation erließ?“ Gleißner erzählt weiter: In Linz war der Hauptplatz voller Menschen. Ich selbst war im Büro und wartete die Dinge ab. Ungefähr um 10 Uhr abends kamen die ersten Nationalsozialisten mit Armbinden und

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verlangten die Schlüssel zu den Büros verschiedener Herren. Das war der erste Gewaltakt. Später kamen mehrere Männer, darunter auch Eigruber774, der mir sagte, seine Leute verlangen, daß ich die Macht übergebe im Landhaus. Ich antwortete ihm, daß ich nicht von seinen Leuten eingesetzt sei und daher nicht an sie übergeben könne und stimmte er mir bei. Wir sind dann ungefähr bis 1 Uhr früh gesessen und schließlich nach Hause gegangen. Am nächsten Tag ging ich wieder in das Amt und bekam von Wien den Auftrag, zu übergeben. In Linz war bereits am Samstag Vormittag alles erledigt und hatte ich alles übergeben. Ich habe auch verlangt, daß ich die Absetzung schriftlich bekomme, was dann auch geschehen ist.

Von Dr. Haider zu der Darstellung (der Staatsanwaltschaft) befragt, die Befriedungsaktion Reinthaller könnte eine Tarnung für Illegale gewesen sein, führt Gleißner folgendermaßen aus: „Das kann man nach all dem nicht annehmen. Ich glaube, er hat diesen Weg gewählt, weil er ihn für richtiger hielt und ihn nach seiner Auffassung der politischen Entwicklung für zweckmäßiger hielt. Er ist diesen Weg mit Zustimmung der Bundesregierung und vor allem der Sicherheitsdirektion gegangen.“ Am Ende der Befragung richtet Reinthaller wiederum selbst eine Frage an den Zeugen: „Haben Sie jemals den Eindruck gehabt, daß ich in der Zeit der Befriedungsaktion in Oberösterreich und später in Wien eine Funktion als illegaler Bauernführer, als Kreispropagandaleiter oder Gauredner getätigt oder ausgeübt hatte?“ Gleißner dazu: „Der Sicherheitsdirektor Revertera und ich haben dafür nie einen Beweis gehabt, sonst hätten wir auch sofort die Beziehungen abgebrochen.“ Dr. Haider beantragt nun unter Bezugnahme auf den Umstand, dass Gleißner sich in seiner Aussage „in vielfacher Hinsicht in der entscheidenden Frage wegen illegaler Tätigkeit auf Sicherheitsdirektor Revertera berief“, dessen Zeugenvernehmung. Der Staatsanwalt beantragt die Abweisung dieses Beweisantrags. Nachdem der Senat sich zur Beratung zurückgezogen hat, kehrt er wieder, und der Vorsitzende verkündet den Beschluss auf Ladung und Vernehmung des Zeugen Peter Revertera. Als nächster Zeuge wird Dr. Wolfgang Troll vernommen, Schriftführer bei der Ministerratssitzung vom 13. März 1938.775 Dessen Aussage erscheint zunächst schlüssig, im Zuge der intensiveren Befragung ergeben sich aber zunehmend Widersprüche und Unklarheiten. Zunächst gibt er an, dass er im Jahr 1938 bereits seit 15 Jahren Schriftführer im Ministerrat gewesen war. Daher sei er auch am 13. März beauftragt 774 August Eigruber, geboren am 16.04.1907, hingerichtet am 28.05.1947. 1936 bis zum Anschluss war Eigruber Gauleiter des NSDAP-Gaues Oberdonau, danach bis zum 02.05.1945 Gauleiter des Reichsgaues Oberdonau. 775 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 09.00–13.15 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 13–17.

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worden, sich für eine Ministerratssitzung bereitzuhalten. Die Sitzung sei verschoben worden und das Kabinett sei erst um 5 Uhrnachmittags versammelt gewesen. Dann sei Seyß-Inquart erschienen und habe einen Entwurf für das Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich dem Ministerrat vorgelegt, die Genehmigung dieses Entwurfes beantragt und hinzugefügt, dass ein gleichlautender Entwurf von den Stellen des Deutschen Reiches beschlossen werden soll. „Nach dem Vortrag, der 5 Minuten gedauert hat, wurde der Antrag ohne Debatte angenommen und um 5 Uhr, 5 Minuten war die Sitzung beendet.“ Auf Frage des Vorsitzenden Dr. Apeltauer gibt Troll an, dass er „nur mehr ein verschwommenes Bild darüber, wer damals bei der Ministerratssitzung zugegen war“, habe und sich kaum noch an Gesichter erinnern könne. Zur Frage der Anwesenheit sagte er: „Nach meinem Protokoll waren alle Minister und Staatssekretäre anwesend. Ich habe mitstenographiert und ein Beschluß- und ein Verhandlungsprotokoll gemacht. Nach meinen Aufzeichnungen war das Kabinett vollzählig.“ Dann folgt eine Aussage die zu dem schriftlichen Ministerratsprotokoll in Widerspruch steht: „Es ist keine Abstimmung gewesen, sondern wurde nur vom Vorsitzenden konstatiert, daß der Antrag angenommen ist.“ Dann folgen Angaben, die in Widerspruch zu den Aussagen von Ing. Reinthaller, Dr. Neumayer und Dr. Hueber stehen, wonach die schriftliche Ausfertigung dieses Gesetzesbeschlusses nachträglich unterschrieben wurde776: „Unterfertigt wurde nichts, dies war nicht so üblich. Ich habe das Beschlußprotokoll dann allen Ministern und Staatssekretären zugeschickt. Es wurde auch nachträglich nichts unterschrieben.“ Die sonstigen Umstände werden von Dr. Troll wie folgt geschildert: Es sind damals alle Herren um den Tisch herumgestanden, als Seyß-Inquart hereinkam und wurde gleich stehend alles erledigt. […] Eine Debatte war überhaupt nicht und hat damals keiner der Herren ein Wort dazu gesagt. Zum Abschluß haben sie alle mit dem deutschen Gruß gegrüßt. So viel ich mich erinnere, hat Seyß-Inquart darauf aufmerksam gemacht, daß in dem Entwurf eine Klausel enthalten ist, nach der die österreichischen Gesetze weiter bestehen bleiben sollen, und daraus den Schluß gezogen, daß an dem gesetzlichen Inhalt Österreichs eine Änderung vorläufig nicht eintrete. Das hat Seyß-Inquart gesagt, sonst nichts. Das Gesetz hat Seyß-Inquart verlesen.

Auf Nachfrage des Vorsitzenden bleibt Troll dabei, dass zum Abschluss der deutsche Gruß geleistet worden sei, und gibt ansonsten an, dass er die Reinschrift gleich anschließend erstellt habe, „also das Beschluß- und das Verhandlungsprotokoll“. Das Verhandlungsprotokoll sei „in einer Kasse“ versperrt worden, wogegen „das Beschlußpro776 Siehe Kapitel 8.1.7.

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tokoll an die Minister verschickt“ worden sei. Auf Befragung durch Dr. Tiefenbrunner gibt Dr. Troll an, dass Seyß-Inquart nicht einleitend bemerkt habe, dass er im Auftrag und auf Befehl Hitlers handelt. Es habe an der Sitzung niemand teilgenommen, der nicht dem Ministerrat angehörte. Jeder habe in dieser Sitzung die Möglichkeit zu einer Debatte oder kontroversen Stellungnahme gehabt. Dr. Troll sei gleich nach der Sitzung aus dem Saal gegangen. Hinsichtlich einer schriftlichen Ausfertigung fragt Dr. Tiefenbrunner wie folgt nach: „Warum ist dieses wichtige Protokoll den Mitgliedern nicht sofort zur Unterschrift vorgelegt worden?“ Dr. Troll meint darauf: „Dies war erstens nicht üblich und zweitens habe ich dazu auch gar keinen Auftrag bekommen.“ Dr. Tiefenbrunner erkundigt sich weiter zur Anwesenheit: „Können Sie es auf Ihren Eid nehmen, daß alle Mitglieder des Kabinetts damals anwesend waren?“ Dr. Troll sagt: „Ich habe es damals bestätigt unter Eid. Heute kann ich mich nicht mehr erinnern, ob alle anwesend waren. Wolf war jedenfalls dabei, ebenso Menghin und Hueber; es waren alle dabei.“ Auf eine zwischendurch wieder vom Vorsitzenden gestellte Frage gibt Dr. Troll an: „Seyß-Inquart hat sich damals als Reichsstatthalter bezeichnet und habe ich ihn deshalb im Protokoll auch so bezeichnet.“ Dr. Haider möchte wissen, ob Seyß-Inquart damals „etwas von einem Zettel heruntergelesen“ hat, worauf Troll aussagt: Seyß-Inquart hat den Entwurf in der Hand gehabt, wo dieser dann hingekommen ist, kann ich jedoch nicht sagen und weiß ich auch nicht, ob ihn Seyß-Inquart selbst behalten hat. Ich habe dann eine Abschrift bekommen, glaublich noch am selben Tag und habe ich von dieser den Wortlaut gehabt. Daß ich diese Abschrift später bekam und deshalb Seyß-Inquart als Reichsstatthalter bezeichnete, ist nicht möglich.

Auf den Vorhalt des Dr. Haider, dass Seyß-Inquart erst am 15. März den Titel „Reichsstatthalter“ erlangt hat, sagt Troll: „Es ist möglich, daß es erst Tage nachher war. Ich weiß heute nicht mehr genau, wann ich das Protokoll gemacht habe, gebe jedoch zu, daß es auch einige Tage nachher gewesen sein kann“. Daraufhin insistiert Troll, dass Vollzähligkeit bestanden habe: „Die im Protokoll angeführten Herren waren jedenfalls am 13.03. da, das muß ich sagen.“ Auf dessen Antwort hält Dr. Haider dem Zeugen Troll vor, „daß zwei der bereits abgeurteilten, und zwar Neumayer und Hueber, sowie auch der Angeklagte Reinthaller bestätigen und behaupten, daß Hueber nicht bei der Ministerratssitzung anwesend war“. Ing. Reinthaller setzt nach: „Ich weiß sicher, daß Hueber am 12.03. nach Linz gefahren und erst mehrere Tage später nach Wien zurückgekommen ist; er war am 13.03. überhaupt nicht in Wien.“ Troll gibt sich sicher: „Einen Irrtum halte ich bei dem Protokoll für ausgeschlossen.“ Nach Fragen von Dr. Haider zu Begleitumständen der Sitzung stellt Dr. Tiefenbrunner die Frage nach der Herkunft dieses Gesetzesentwurfs, Troll gibt dazu an:

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Das weiß ich nicht und ist mir auch nicht bekannt, wer ihn verfaßt hat. Es ist nicht gesagt worden, von wem er gemacht worden ist. Eine Drohung durch Seyß-Inquart, die Hitler sonst in die Wirklichkeit umgesetzt hätte, ist nicht ausgesprochen worden bei der Sitzung. In der Sitzung ist mit Ausnahme von Seyß-Inquart von niemandem ein Wort gesprochen worden.

Daraufhin stellt Dr. Günther die Frage, ob Troll die Herren damals schon gekannt hat (womit Dr. Günther sichtlich hinterfragen will, ob Dr. Troll überhaupt beurteilen konnte, wer anwesend ist). Dazu Troll: „Ich habe die Herren nach der Vereidigung gesehen, bin aber nicht in näherer Beziehung gestanden. Mit Reinthaller habe ich weder vorher noch nachher zu tun gehabt. Es ist damals eine Anwesenheitsliste aufgelegen, die noch vorhanden ist, und muß sie im Originalakt liegen.“ Dann gibt Troll aber ergänzend an, dass er „es damals bestätigt hat auf Grund der Anwesenheitsliste“, dass diese Liste aber nicht von ihm aufgenommen worden war. Auf die Frage des Dr. Günther, wie Troll bei Seyß-Inquart auf den Titel „Reichsstatthalter“ komme, sagt dieser: „Es ist möglich, daß das Protokoll erst am 15. gemacht wurde.“ Plötzlich stellt der Vorsitzende Dr. Apeltauer fest, dass auf der vorliegenden Fotokopie des Sitzungsprotokolles beim Stempel für das Geschäftszeichen das Datum „21.04.“ vermerkt ist, und hält dies Troll vor. Troll darauf: „Daraus geht hervor, daß ich das Protokoll am 21.04. gemacht habe. Bei der Sitzung bin ich ja gestanden und habe nur mitstenographiert.“ Darauf fragt Dr. Apeltauer nach: „Wieso haben Sie erst am 21.04. das Protokoll gemacht? Am Anfang Ihrer Verantwortung haben Sie erklärt, daß Sie das Protokoll noch am selben Tag der Sitzung gemacht haben.“ Troll verweist dazu auf seine stenografischen Aufzeichnungen: „In dem Protokoll liegt mein stenographisches Protokoll, und daraus wird alles hervorgehen.“ Im Anschluss verliest Dr. Apeltauer das Sitzungsprotokoll „über die 1071. Sitzung des Ministerrates vom 13.03.1938“. Daraufhin wird von Dr. Troll zugestanden, dass es sein könne, dass er „dann bei Ausfertigung des Protokolls die Titel abgeändert“ habe. Er betont aber: „Mit den Unterschriften habe ich nichts zu tun gehabt.“ Auch den Vorhalt Dr. Haiders, dass „nach Protokollen der Nürnberger Akten“ Menghin und Wolf während der 5-Minuten-Sitzung beim Bundespräsidenten gewesen seien, relativiert Troll, wobei er auch spitzfindig wird: „Ich habe dies nicht bestätigt, sondern nach meiner Erinnerung angegeben. Ich habe gesagt, nach dem Protokoll waren alle hier [Anm.: Hervorhebung durch Kursivdruck von mir].“ Dr. Tiefenbrunner fragt unter Bezugnahme auf die Bedeutung der Angelegenheit vehement nach: „Am 13.03.1938, 5 Uhr abends wird ein verfassungsänderndes Gesetz, eine Umwandlung der gesamten Verfassung stehend stenographiert. Warum wird hier keine Unterschrift verlangt, das ist doch ein Ausnahmefall gewesen“. [Anm.: Die Hervorhebung durch Unterstreichung ist im

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Hauptverhandlungsprotokoll so enthalten] Troll nun im Widerspruch zu seiner bisherigen diesbezüglichen Aussage: „Das ist nachher geschehen.“ Auf die Frage Dr. Tiefenbrunners zur Einberufung dieser Ministerratssitzung meint Troll: „Das weiß ich nicht, mir ist überhaupt kein Programm bekannt gegeben worden. Ich kann es nicht genau sagen, doch glaube ich, daß es Staatssekretär Wimmer war, der mich damals hinbestellt hat.“ Und auf weitere Befragung durch Dr. Tiefenbrunner erwidert Troll: Der 1071. Ministerrat war der letzte, den ich mitgemacht habe. Vom Finanzgesetz weiß ich nichts. Der Verfassungsdienst war daran beteiligt und hat dies und das Gesetz kundgemacht. Ich nehme an, daß der Staatssekretär Wimmer das veranlaßt hat. Ich habe stehend den Text stenographiert, mein Text ist jedoch nicht in die Staatsdruckerei gekommen. Seyß-Inquart muß seinen Entwurf jemandem gegeben haben, wem, weiß ich allerdings nicht und ist mich dies auch gar nichts angegangen.

Auf die weitere Befragung durch Dr. Tiefenbrunner, wie es zur Präsenzliste kam, sagt Troll: „Es wurde eine Liste des ganzen Kabinettes im Vorhinein aufgestellt und dann die Namen der Anwesenden abgehakt oder unterschrieben. Damals wurde nichts unterschrieben und nur abgehakt, jedoch nicht von mir.“ Die zwischendurch von Dr. Haider durchgeführte ergänzende Befragung ergibt, dass Troll sichtlich in der Tat keine Ahnung davon hat, was sich vor und nach der Sitzung ereignete. Abschließend konstatiert Dr. Tiefenbrunner noch mahnend gegenüber dem Zeugen Troll: „Bei Ihrer Zeugenaussage hat Hueber 18 Jahre schweren Kerker bekommen und Neumayer lebenslänglich!“ Dr. Rudolf Saar berichtet als Zeuge777 – wie schon in seiner im Vorverfahren vorgelegten Eidesstattlichen Erklärung – davon, dass er in dem Disziplinarverfahren, mit dem Reinthaller aus politischen Gründen aus der Funktion eines Agraringenieurs für Wildbachverbauung entfernt worden war, als Disziplinaranwalt tätig gewesen war. Er bestätigt wiederholt, dass er als Beamter des Landwirtschaftsministeriums dennoch von Reinthaller fair behandelt wurde, als dieser später am 12. März 1938 Landwirtschaftsminister wurde. Das ist umso bemerkenswerter, als der Zeuge Dr. Saar auch ausführt, dass das gegen Reinthaller gefällte Disziplinarerkenntnis auf Pensionierung mit 25-prozentiger Kürzung der Bezüge gelautet hatte. Dr. Saar führt aus, warum im Landwirtschaftsministerium unter der Leitung Reinthallers damals eine bessere Situation bestand, als in den anderen österreichischen Ministerien:

777 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 09.00–13.15 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 17–19.

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Sein Einzug in das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft hat sich unter außerordentlich guten Verhältnissen abgespielt und war es die einheitliche Auffassung aller Angehörigen des Ministeriums, daß im Landwirtschaftsministerium wesentlich weniger personelle Schwierigkeiten und Änderungen entstanden sind, als in den anderen Ministerien. Von den 160 Angestellten des Ministeriums sind nur 8, davon glaublich 6 Akademiker, nach der Berufsbeamtenverordnung amoviert worden. Sie sind, soweit ich mich erinnere, alle pensioniert worden, irgendein Disziplinarverfahren ist gegen niemand eingeleitet worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß ich Fachgruppenleiter der Vaterländischen Front im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft war, und der Angeklagte Gelegenheit gehabt hätte, mich sofort zu amovieren.

Dr. Saar erzählt des Weiteren, dass er dann über persönliches Ansuchen selbst „aus dem deutschen Dienst“ ausschied, weil seine Rechtsauffassungen mit denen des Naziregimes nicht vereinbar gewesen seien, sodass er dann bis 1945 in Pension war. Dann fragt Dr. Tiefenbrunner: „Hat Reinthaller jemals einen Unterschied gemacht zwischen Parteigenossen, Nationalsozialisten, Märzveilchen und anderen Personen?“ Dr. Saar erwähnt darauf: Nein. Ich kann positiv sagen, daß auch die Amovierung der damals aus dem Landwirtschaftsministerium entfernten Angestellten sich nicht nach rein parteipolitischen Gründen gerichtet hat und weiß, daß Angehörige von Organisationen wie z. B. der Katholischen Adeligen, im Amt geblieben sind. Einer von den höheren Beamten, der dieser Organisation angehört hat, ist ebenfalls im Amte belassen worden, obwohl die Partei [Anm.: gemeint ist die NSDAP] seine Amovierung verlangt hat, und zwar ist mir damals mitgeteilt worden, daß der Betreffende 8 Kinder hatte und der Angeklagte [Anm.: Anton Reinthaller] sich deshalb geäußert habe, er könne es nicht auf sich nehmen, dem Mann mit den 8 Kindern die Pension zu entziehen.

Dann kommt Saar wieder darauf zurück, wie fair Reinthaller mit ihm umgegangen ist: Der Angeklagte hat mich niemals fühlen lassen, daß ich sein Disziplinaranwalt gewesen war, ich bin im Gegenteil 3 Tage später avanciert, als mein Chef eine andere Abteilung übernommen hatte. Als meine Amovierung begehrt und sehr betrieben wurde, hat mir der damalige Präsidialchef mitgeteilt, daß der Angeklagte gesagt habe: Wer hier zu amovieren ist, werde ich entscheiden. Und daß er die Sache zurückgedrängt hat.

Auf weitere Fragen durch Dr. Tiefenbrunner bestätigt Dr. Saar außerdem, dass Rein­ thaller nicht gegen österreichische Bestimmungen und Gesetze aufgetreten ist. Aus-

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schlaggebend für die Bestellung zum Landwirtschaftsminister waren bei Reinthaller demnach nicht eine Bereitschaft, als Vollstrecker des nationalsozialistischen Willens zu agieren, sondern seine fachlichen Fähigkeiten: „Ich glaube, daß beim Angeklagten die fachlichen Fähigkeiten bestimmend waren, daß er das Ministerium übernehmen mußte.“ Dr. Saar lobt auch die unter der Leitung Reinthallers eingetretenen Fortschritte: Ich war in einer Spezialabteilung tätig und habe mit den anderen Abteilungen keine Fühlung gehabt, ich habe jedoch gehört, daß unter dem Angeklagten sehr viel geschehen ist, z. B. die Bergbauernhilfe und die Entschuldungsaktion wurden damals eingeleitet und letztere in sehr großem Umfang durchgeführt. Diese Sachen wurden nach Bedarf und nicht vielleicht nach rein politischen Grundsätzen durchgeführt.

Am Ende seiner Vernehmung bestätigt Dr. Saar noch die von Dr. Günther verlesene Erklärung des Sektionschefs Dr. Reichmann.778 Von 13.15 Uhr bis 14.35 Uhr erfolgt eine Verhandlungspause. Danach wird das Beweisverfahren mit der Vernehmung des Zeugen Dr. Fritz Butschek fortgesetzt.779 Als Reinthaller 1932 Leiter der nationalsozialistischen Bauernschaft war, lernte Butschek ihn kennen. Als die Verhältnisse sich im Jahr 1933 zuspitzten, erfuhr Butschek, dass Reinthaller aus der NSDAP ausgeschlossen wurde, nachdem sich zwischen diesem und der Parteileitung „Schwierigkeiten hinsichtlich des einzuschlagenden Kurses“ ergeben hatten. Butschek war bis 1933 leitend in der Studentenschaft tätig gewesen. Als Reinthaller im Einvernehmen mit Dr. Schuschnigg seine Befriedungsaktion betrieb, trafen die beiden einander im August oder September 1934, weil Butschek im Studentenverband eine ähnliche Aufgabe zufiel, und zwar die Beilegung der Feindseligkeiten zwischen den einander gegenüberstehenden nationalsozialistischen Studenten und den CV-Studenten. Am 01. Oktober 1937 kam es mit dem Gauleiter für Niederösterreich, Josef Leopold780, einem der Repräsentanten der illegalen NS-Bewegung in Österreich, in Berlin zu einer Besprechung. Leopold teilte ihm mit, dass er nun selbst die Führung der NS-Bauernschaft in Österreich übernommen 778 Kapitel 8.1.4.1., Beilage 6. 779 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 13.35–18.20 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 1–6 (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner). 780 Hauptmann Josef Leopold, geboren am 18.02.1889, verstorben (gefallen) am 24.07.1941, SA-Gruppenführer, NSDAP-Gauleiter in Niederösterreich und seit 1932 bis zum Betätigungsverbot (bis zum Beginn der Verbotszeit) Abgeordneter im Landtag von Niederösterreich. Er war nach der wegen des gescheiterten Juliputsches erfolgten Ablösung des Theodor Habicht auch Landesleiter der illegalen NS-Bewegung in Österreich.

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habe, und bekundete seine Absicht, Reinthaller erneut aus der Partei auszuschließen, wie es einige von ihm verlangten. Als Grund für diesen ungewöhnlichen Vorgang gab er den Umstand an, dass Reinthaller zwar während der Verbotszeit die NS-Bauernschaft nicht führte, aber auch unter den nationalsozialistisch gesinnten Bauern einen größeren Anhängerkreis hatte. Am 13. März 1938 wurde Butschek von Reinthaller zum Geschäftsführer des Reichsnährstands ernannt. Butschek führt in Übereinstimmung mit den vorliegenden Bestätigungen aus, dass die SS-Ränge von Mitgliedern des Reichsnährstands reine Ehrenränge waren, die diesen ihren Funktionen entsprechend verliehen wurden. Den polizeilich sichergestellten Personalbogen des Reichsnährstands stellt Butschek so weit richtig, als Reinthaller nie ernannter Gauamtsleiter war, auch nicht des Gauamts für Agrarpolitik. Auf Frage von Dr. Tiefenbrunner stellt Dr. Butschek klar, dass Reinthaller nur seine Befriedungsaktion durchführte und daneben keine illegale Leitung vornahm und auch von ihm verlangte, bei dem Versuch der Befriedung der Studenten keine illegale Tätigkeit auszuüben und „die Dinge legal abzuwickeln“. Reinthaller stand als „Repräsentant der legalen Entwicklung in Österreich“ im Gegensatz zu den illegalen Kreisen. Von Dr. Tiefenbrunner dazu befragt, ob Reinthaller „nach dem 13. März 1938 Unterschiede zwischen Angehörigen der NSDAP und anderen Personen“ machte, führt Dr. Butschek aus, dass Ing. Rein­ thaller ihn anwies, „den vorhandenen Beamtenapparat, soweit er stellenplanmäßig zulässig war, in den Reichsnährstand zu übernehmen, ohne Rücksicht auf die politische Einstellung“. „Es wurden damals Leute übernommen, die politisch ganz anderer Richtung waren.“ Auf die Frage Dr. Tiefenbrunners, ob Reinthaller etwas getan habe, „was gegen die Eigenart Österreichs ging“, führt Dr. Butschek aus, dass Reinthaller als Minister alles getan hat, um die Verhältnisse in Österreich aufrechtzuerhalten. Besonders für die Erhaltung des Bergbauerntums setzte Reinthaller sich ein. Den von Reinthaller für die Bergbauern hereingebrachten Betrag schätzt Butschek auf 50,000.000 Reichsmark781. Ansonsten bestätigt Dr. Butschek die Hilfestellungen Reinthallers für Frau Zuleger, Herrn Ing. Exenfeld [Anm.: recte Exenschläger] und Frau Weiner.782 Als Beispiel, dass Reinthaller sich für „rassisch“ Verfolgte einsetzte, führt Dr. Butschek eine Begebenheit im Mai 1938 an: Er hat das getan, was in seiner Macht stand. Ich kann mich erinnern, daß im Mai 1938 Dr. Zechner [Anm.: Reinthallers damaliger Sekretär im Landwirtschaftsministerium] eine

781 Mit großen Ungenauigkeiten kann das heutige Kaufkraftäquivalent dieses Betrages auf ungefähr € 205.000.000 geschätzt werden (vgl. Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, www.bundesbank.de). 782 Siehe Kapitel 8.1.4.1.

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Weisung ergehen ließ, daß in jener Parkanlage, die vor dem Landwirtschaftsministerium war, Juden der Eintritt verboten ist. Der Angeklagte hat den Auftrag gegeben, daß diese Verfügung sofort aufgehoben wird und Dr. Zechner den Ausschluß aus dem Ministerium angedroht. Wie etwaige Beschwerden erledigt wurden, kann ich nicht sagen, da sie über das Sekretariat an ihn eingingen.

Als nächster Zeuge wird der frühere Landesleiter der ehemaligen österreichischen NSDAP, Alfred Proksch, vernommen.783 Dieser beginnt seine Aussage mit dem von der Regierung Dollfuß erlassenen Betätigungsverbot. Bereits vor dem am 19. Juni 1933 erlassenen Betätigungsverbot für die NSDAP in Österreich schloss er alle im öffentlichen Dienst stehenden Parteiangehörigen aus, um diese nicht in einen Gewissenskonflikt mit dem Staat zu bringen. Diese Verfügung sei „von der Partei auch anerkannt“ worden. Dadurch wurde Reinthaller, der als Ingenieur für Wildbachverbauung ein Staatsbediensteter war, ausgeschlossen. Konsequenterweise gab Proksch als Beamter der Österreichischen Bundesbahnen seine Stellung des NSDAP-Landesleiters auf. Mit dem „in das österreichische Leben eingetretenen Habicht“ stand Reinthaller von 1931 bis 1933 „in einem sehr bedeutenden Konflikt, welcher dazu führte, daß Reinthaller ,in der Partei zu dieser Zeit um seine Betätigungsmöglichkeit kam‘.“784 Bei der mit der Wiedererrichtung der NSDAP in Österreich nach dem Anschluss 1938 durchgeführten Wiedererfassung der früheren NSDAP-Parteimitglieder wurde unterschieden zwischen Personen, die für Österreich tätig gewesen waren, solchen, die neutral waren, und jenen, die gegen die Partei waren.785 Den Umstand, dass proklamiert wurde, Habicht habe den Ausschluss Reinthallers aus der Partei vollzogen, sieht er als eine Art politischer Agitation an: Es ist bekannt, daß meine Verfügung der bestimmende Anlaß dafür war, daß ich vor dem Verbot veranlaßt war, mein Amt als Vorsitzender aus der gesetzlichen Grundlage heraus zurückzulegen und damit auch meine Stellung als Landesleiter aufzugeben. Man hat mir damals selbst vorgehalten, daß ich mich mit dieser Verfügung selbst ausgeschlossen habe. Daraus wird die Folgerung abgeleitet, daß ich auch nicht in der Lage gewesen sei, dieses Amt weiter auszuüben. Ich verweise allerdings, daß diese Anschuldigung mit meiner anderen Einstellung mit einem sehr heftigen Konflikt wegen Österreich, den ich mit Habicht hatte, erfolgt ist. Ich bin damals davon überzeugt gewesen, daß Reinthaller, der zu dem Per783 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 13.35–18.20 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 6–9. 784 Theodor Habicht, Landesinspektor für die Reorganisation der NSDAP in Österreich, der mächtiger wurde als der Landesleiter Proksch. 785 Zu diesem Erfassungsverfahren siehe Kapitel 3.3.1.

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sonenkreis der aus der Partei Ausgeschiedenen gehörte, nicht allein wegen dieser Verfügung seinerzeit austrat, sondern weil er mehr für eine Befriedung zwischen den Parteien eintrat und den Standpunkt des bedrohten Österreichs vertreten hat, den auch ich durch mehr als zwei Jahre im inneren Parteikampf vertreten habe. Ich habe auch gehört, daß durch Habicht der Ausschluß Reinthallers aus der Partei vollzogen wurde. Das war lächerlich, weil Reinthaller der Partei nicht mehr angehörte und daher nicht mehr ausgeschlossen werden konnte. Ich habe daraus gefolgert, daß es Habicht darum zu tun gewesen ist, mit der Verlautbarung des Ausschlusses seinen Anhängern gegenüber zu betonen, dieser Mann gehört nicht zu uns und ist als solcher nicht in der Lage, in unserem Auftrag irgendwie zu handeln und Vereinbarungen abzuschließen.

Im Zuge der weiteren Vernehmung betont er nochmals: „Das ist allgemein bekannt gewesen, daß Habicht Reinthaller ausgeschlossen hat.“ Dann habe er sich nach der vorübergehenden Verhaftung Habichts bemüht, über Leopold als Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtag eine Verbindung zu Bundeskanzler Dr. Dollfuß zu bekommen, um die innenpolitischen Konflikte zu überwinden. Um für dieses Gespräch eine Basis zu haben, habe er über den Landtagsabgeordneten Rentmeister786 versucht, von der Berliner Reichsregierung die Bewilligung dreier Forderungen zu erhalten, und zwar einen Ausschluss Habichts von jeder Betätigung, die das österreichisch-deutsche Verhältnis berührt, eine proklamierte Nichteinmischung des Deutschen Reichs in die österreichischen Verhältnisse und die Aufhebung der 1000-MarkSperre. Bei einer darauf folgenden Aussprache in München wurde das abgelehnt, sodass Proksch aus seiner politischen Tätigkeit ausschied.787 Zu Rein­thaller gibt Proksch an, dass er ein selbständiges Österreich mit gut nachbarlichen Beziehungen zu Deutschland anstrebte. Auf Befragung durch Dr. Tiefenbrunner definiert Proksch die Aktion Reinthaller folgendermaßen: „Die Reinthalleraktion ist im engsten Zusammenhang mit den maßgeblichen Männern der österreichischen Regierung gestanden und sollte zu einer Befriedung zwischen Deutschland und Österreich führen.“ Den Gegensatz zwischen Reinthaller und den radikalen Nationalsozialisten bestätigt Proksch wie folgt: Daß Reinthaller von der radikalen Gruppe der NSDAP schärfstens angegriffen wurde, stimmt, und zwar deshalb, weil Reinthaller eine Befriedung der Verhältnisse zwischen Deutschland und Österreich anstrebte, was er nicht allein, sondern viele angestrebt haben, 786 Walter Rentmeister, geboren am 03.12.1894, gestorben am 03.12.1964, 1932 bis zum Betätigungsverbot NSDAP-Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtags. 787 In seiner Funktion als Landesleiter folgte ihm Habicht als Führer der österreichischen NSDAP nach.

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und diese Tätigkeit war Habicht ganz wider den Strich, so daß er mit schärfsten Mitteln aufgetreten ist. Daß der Angeklagte mit „Verräter“ usw. bezeichnet wurde, kann ich nicht sagen.

Auf die Frage des Dr. Tiefenbrunner, ob ihm bekannt ist, dass Reinthaller sich eine Legitimation holte und zu Hess fuhr, führt Proksch Folgendes aus: Das ist mir im einzelnen nicht bekannt. Ich weiß, daß im Jahre 1934 Reinthaller unterwegs war, um in einer solchen Mission etwas zu unternehmen, aber durch die Ereignisse (Dollfußmord) dann gehindert wurde. Ich kann jeden Eid dafür stehen, daß er nicht die geringste Ahnung gehabt hat und von den Ereignissen überrascht und an der Ausführung gehindert wurde.788

Der danach vernommene Zeuge Stefan Schachermayer789 erzählt zunächst, wie er im Auftrag der Extremen einschritt: Den Angeklagten kenne ich seit dem Jahre 1936. Ich war damals wiederholt im Auftrage von Leopold, wie auch Eigruber790 bei ihm und hatte den Auftrag, Reinthaller zu bewegen, daß er von seiner Befriedungsaktion absieht und sich der illegalen Partei zuwendet. Er hat das abgelehnt und erklärt, daß er es nicht verantworten könne, daß noch viele Familien in Not und Elend kommen, und hat eine abwehrende Stellung eingenommen. […] Das Verhältnis zwischen Angeklagtem und Eigruber hat sich dann verschärft, und nach der Machtübernahme hat Eigruber den Angeklagten als Bauernschaftsführer abgelehnt. Eigruber hat den Angeklagten ständig übergangen und erst über Einschreiten des Reichsministers Darré hat Reinthaller das Abzeichen bekommen, ich glaube die bronzene oder silberne Dienstauszeichnung. Er bekam es erst 1939/40, während alle anderen sie schon Ende 1938/39 bekamen.

Schachermayer selbst war Gauinspektor im Gau Oberdonau (Oberösterreich mit dem Ausseer Land). Daher war er neben dem Gaupersonalamtsleiter auch für Perso788 Vgl. die im Stadium des Vorverfahrens (der Voruntersuchung) abgelegte Zeugenaussage des Franz Langoth (Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv). 789 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 13.35–18.20 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 9–11. 790 August Eigruber, geboren am 16.04.1907, hingerichtet am 28.05.1947. 1936 bis zum Anschluss war Eigruber Gauleiter des NSDAP-Gaues Oberdonau, danach bis zum 02.05.1945 Gauleiter des Reichsgaues Oberdonau.

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nalfragen zuständig und kann zur Frage der NSDAP-Mitgliedsnummer des Anton Reinthaller die folgenden Angaben machen: Eigruber wollte auch wegen der Befriedungsaktion ihm seine ursprünglich innegehabte Nummer nicht zuerkennen und Reichsschatzmeister Schwarz hat ihm zum Durchbruche geholfen. Schwarz bekleidete eigentlich eine Ausnahmestelle in der ganzen Reichsleitung. Was Schwarz sagte, galt. Eigruber war eine Null gegen ihn. Der damalige Minister Darré hat sich auch für ihn verwendet und zwar deshalb, weil er wiederholt sich für die Bauern eingesetzt hatte, und hatte in Oberösterreich ein besonderes Ansehen, ohne Unterschied der Parteizugehörigkeit.

Über die Aktion Reinthaller berichtet der Zeuge auf Frage des Dr. Haider folgendermaßen: Ich weiß, daß Reinthaller seinerzeit schon vor dem Juliputsch mit Dollfuß und seinen Leuten verhandelt hat und anschließend mit Dr. Schuschnigg und Zernatto791, Gleißner und Revertera. Er wurde deshalb auch von Eigruber angegriffen und wiederholt ausgeschlossen. Bauernführer war der Zucker. Ich weiß sogar, daß ein Flugblatt 1937 herausgekommen ist, ich weiß davon, weil ich es gedruckt habe und diese gedruckten Exemplare auch zum Versand brachte. In dem Exemplar stand, daß er schon mit Dollfuß und Dr. Schuschnigg verhandelt und ein Verräter sei und daß er nicht beauftragt sei, mit irgendjemandem zu verhandeln. Ob er sich auch mit der Judenfrage beschäftigte, weiß ich nicht. In Oberösterreich hatten wir wenig Juden. Er hat sich jedenfalls gegen die Juden-Aktionen ausgesprochen. In Attersee war ein gewisser Hinterberger, ein Jude, und kam diese Angelegenheit bis zu Heß.

Zu der schweren, mit Hassgefühlen behafteten Aversion des Gauleiters Eigruber gegen Reinthaller führt der Zeuge auf die Frage Dr. Haiders nach einem über Rein­ thaller verhängten Sprechverbot wie folgt aus: Das ist unmittelbar nach der Machtübernahme erfolgt, obwohl er schon Minister war, weil eben Eigruber dem Reinthaller nicht verzeihen konnte, in der schweren illegalen Zeit ihm in den Rücken gefallen zu sein, und weiters hatte er auch Minderwertigkeitskomplexe und fühlte, daß Reinthaller ihm überlegen war.

Die NS-Machtübernahme in Oberösterreich schildert der Zeuge konzis, aber plakativ: 791 Guido Zernatto, geboren am 21.06.1903, verstorben am 08.02.1943. Ab Mai 1934 war Zernatto Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Generalsekretär der Vaterländischen Front.

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Am 11., 12. und 13. März 1938 befand ich mich in Linz. Ich war damals in der Umgebung des illegalen Gauleiters Eigruber. Die Übernahme der Macht vollzog sich zwischen 4 und 5 Uhr, als der Auftrag gekommen ist von Globocnik792 oder Rainer793, daß sämtliche Behörden, Landesregierungen, Polizeidirektionen von der SA oder SS besetzt sein müssen. In Oberösterreich, mit Ausnahme von den entfernteren Städten wie Freistadt war die Machtübernahme erfolgt. Um Mitternacht war alles bereits in Händen der NSDAP. Eigruber war zwischen 1/2 10 und 10 Uhr in der Landeshauptmannschaft und hat von Dr. Gleißner die Übergabe verlangt. Er hat sich zur Wehr gesetzt und hat ein telefonisches Gespräch angemeldet und hier hat er dann erfahren, daß alles erledigt ist, und Eigruber die Macht übergeben. Am nächsten Vormittag hat Gleißner die Geschäfte Eigruber übergeben. Am Samstag hat es schon kein anderes Amt mehr gegeben. Die Gendarmerie war schon am Mittwoch von der SS besetzt worden. Gegen Abend ist der Führer nach Linz gekommen. Ich war damals am Neubau draußen. Am Abend fand dann die Kundgebung am Hauptplatz statt. Ich weiß nur einen einzigen Ausspruch, der in allen Zeitungen stand, und zwar „Ich melde der Geschichte den Vollzug der Heimkehr meiner engeren Heimat in das Großdeutsche Reich.“ Dr. Hueber habe ich am 13. März 1938 um die Mittagsstunde gesehen. Berichte über die Situation in Wien hatten wir in Linz, denn wir waren fortlaufend am Telefon. Am Samstag um 12 Uhr herum haben wir die Berichte gehabt, daß Miklas den Seyß-Inquart beauftragte, die Regierung zu bilden. Daß Reinthaller Minister geworden ist, haben wir erfahren, Eigruber war wütend und hat sich dagegengestellt. Es hat ihm aber nichts genützt.

Letztlich kommt auch die religiöse Seite Anton Reinthallers zur Sprache: „So viel mir bekannt ist, war der Angeklagte gegen die Kirchenaustritte, er hat sich dagegengestellt. Das war auch ein Grund der radikalen Elemente, gegen Reinthaller zu sein, da man in Oberösterreich keinen Kulturkampf führen konnte.“ Der anschließend vernommene Zeuge Hermann Foppa,794 der frühere Obmann der ehemaligen Großdeutschen Volkspartei, macht im Wesentlichen Angaben so wie in seiner von der Verteidigung im Verfahren bereits vorgelegten Eidesstattlichen Erklärung795. Ansonsten gibt er bei seinen Ausführungen über seine politische Tätig792 Odilo Globocnik, eingedeutscht Globotschnigg, Kärntner Abwehrkämpfer, ab 1931 Mitglied der NSDAP und ab 1932 Mitglied der SS. Er wirkte beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich mit. 793 Friedrich Rainer, geboren am 28.07.1903, verstorben am 19.07.1947. In der Verbotszeit war Rainer in der illegalen Gauleitung der NSDAP für Kärnten tätig, vom 22.05.1938 bis 17.11.1941 war er NSDAP-Gauleiter von Salzburg und vom 18.11.1941 bis 1944 NSDAP-Gauleiter von Kärnten, sowie ab 15.03.1940 Reichsstatthalter von Salzburg und ab 11.11.1941 von Kärnten. 794 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 13.35–18.20 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 11–14. 795 Siehe Kapitel 8.1.4.2.2.

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keit an, wie er nach der am 04. März 1933 erfolgten Ausschaltung des Parlaments in dem als Scheinparlament verbliebenen Rumpfparlament „gegen die Ausschaltung und gegen diesen Verfassungsbruch Stellung genommen“ und gegen die Maiverfassung 1934 opponiert hat.796 Er macht auch Detailangaben zur Befriedungsaktion von Ing. Reinthaller und dessen Gegensatz zu den extremen Nationalsozialisten. Auf die Frage nach der Initiative für die Befriedungsaktion führt Foppa aus: „So viel ich weiß, ist immer die Regierung an Reinthaller herangetreten, da er der Exponent aus der nationalsozialistischen Richtung war, dem höchstes Vertrauen gezollt wurde.“ Auf die Frage Dr. Tiefenbrunners nach dem bei der Befriedungsaktion bestehenden Einvernehmen mit der Regierung teilt der Zeuge mit: „Der Sicherheitsdirektor von Oberösterreich, Revertera, hat von Reinthallers Handeln Kenntnis gehabt, er hat ihm noch die Wege geöffnet und war Graf Revertera der Mann, der mit allen Mitteln alles daran gesetzt hat, die Befriedung zustande zu bringen.“ Schließlich sagt Foppa auch zu dem Umstand aus, dass Reinthaller – obwohl er Oberösterreicher war und der Schwerpunkt seines Wirkens in Oberösterreich lag – nicht in Oberösterreich (respektive im Reichsgau Oberdonau), sondern in Niederösterreich (respektive im Reichsgau Niederdonau) Bauernführer war: „Das Verhältnis zwischen Eigruber und dem Angeklagten ist immer schlimmer geworden, je länger die Zeit gedauert hat. Nach dem Zusammenschluß war es ganz miserabel. Reinthaller hätte als Bauernführer nach Oberösterreich und nicht nach Niederösterreich gehört.“ In weiterer Folge wird aufgrund eines darauf gerichteten, erst in diesem Verhandlungstermin gestellten Beweisantrags der Zeuge Emil Schmidt vernommen, der (ohne eine Ladung erhalten zu haben) bei Gericht erschienen ist und von Dr. Haider zur Vernehmung stellig gemacht wird.797 Emil Schmidt berichtet von einer der guten Taten Anton Reinthallers: Durch die Presse wurde ich auf den Prozeß aufmerksam gemacht. Dank der Intervention des Angeklagten war es möglich, den zum Tode verurteilten Hansy aus Gänserndorf zu einem Wiederaufnahmeantrag zu verhelfen und hat der Angeklagte durch seine Reise nach Berlin und Vorsprache bei Minister Darré dies ermöglicht. Die Vorgeschichte war die: Ein Herr Sedlacek aus Siebenhirten kam zu mir, er wußte, daß ich mit Oberstaatsanwalt Hermann Feichtinger bekannt war, und hat mir erzählt, daß Hansy wegen Schwarzschlachtung zum Tode verurteilt wurde, ich möge den Oberstaatsanwalt aufsuchen und ihn fragen, ob 796 125. Sitzung des Nationalrats vom 30.04.1934 (Stenographisches Protokoll IV. GP 3395). Gegen den Verfassungsbruch und die Verfassung 1934 hat in dieser Sitzung neben Hermann Foppa auch ein weiterer Abgeordneter der Großdeutschen Volkspartei, Dr. Ernst Hampel protestiert. 797 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 13.35–18.20 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 14.

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nicht noch eine Chance bestünde. Oberstaatsanwalt Dr. Feichtinger, den ich aufsuchte, erklärte mir auf mein Befragen, er kenne den Akt, er werde ihn nochmals durchzustudieren und werde mir Bescheid geben. Von Oberstaatsanwalt Dr. Feichtinger bekam ich dann die Nachricht, daß alles weitere zwecklos ist, in dem Falle Hansy etwas zu unternehmen, nachdem von Berlin eine Bestätigung gekommen ist, das Urteil zu vollziehen. Wie ich von Sedlacek erfahren habe, hat Hansy das nicht im Schleichhandel verkauft, sondern in normalen Gasthausportionen abgegeben, der Gastwirt hätte einen sehr guten Ruf und meinte er, wenn das Hansy ohne besonderen Aufschlag weitergegeben habe, die Strafe vielleicht eine geringere sein könnte. Ich habe meinen Freund, Oberstaatsanwalt Dr. Feichtinger dann wieder einmal getroffen und erklärte er, es wäre nur möglich, den Mann zu retten, wenn ein Wiederaufnahmeverfahren gelänge. An dieser Sache war auch sehr interessiert ein Kreisbauernführer Husch, ob er Parteimann war, weiß ich nicht. Ich glaube nicht und der hat erklärt, er kenne den Minister Reinthaller, vielleicht wäre es möglich, daß man den Oberstaatsanwalt mit Reinthaller zusammenbringen könne. Es kam dann eine Vereinbarung zusammen, daß wir bei einer Familie in Döbling alle zusammen eingeladen waren […]. Reinthaller versprach, er werde in diesem Falle nach Berlin fliegen und Reichsernährungsminister Darré sprechen. Es ist dann eine Weisung zur Wiederaufnahme des Verfahrens gekommen und wurde er zu einer längeren Haft verurteilt, die in den Umbruchstagen ihr Ende gefunden hat. Man hat sich an den Angeklagten gewandt, weil das sein Ressort war. Er hat auch angeordnet, daß man eine Leumundsnote des Hansy beibringt. […].

Ebenso macht Dr. Günther einen Zeugen zur Vernehmung stellig, Herrn Georg Wagner.798 Dieser war Kriminalbeamter der Polizeidirektion Wien und wurde Ende März 1938 Ing. Reinthaller zugeteilt. Reinthaller sah dafür keinen Bedarf, er äußerte: „Kriminalbeamten brauche ich keinen, aber neue Hosenträger“. Daher hielt Wagner sich auf Anweisung Reinthallers untertags in der Einfahrt des Ministeriums auf, um Leute, die bei Reinthaller vorsprechen wollten, nach deren Gründen zu fragen. Dazu führt Wagner exemplarisch aus: Es sind Bittsteller gekommen, so kann ich mich an den Fall eines Müllner erinnern. Der wurde von den Parteigenossen ziemlich torpediert. Ich habe zu Sekretär Dr. Zechner hinaufgeläutet, daß der Müllner den Angeklagten sprechen wolle. Es wurde mir der Auftrag erteilt, ich solle den Sachverhalt aufnehmen und in Form einer Meldung weitergeben. Der Angeklagte hat mir dann selbst erklärt, diesen Fall müsse man untersuchen.

798 Hauptverhandlungsprotokoll 25.10.1950, 13.35–18.20 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 16.

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Wagner war auch selbst in Bedrängnis, woraus ihm Reinthaller heraushalf: In Ausübung meines Dienstes während der Verbotszeit kam ich wiederholt mit illegalen SS-Angehörigen in Berührung, die wegen der Illegalität festgenommen und beamtshandelt wurden. Im August 1938 haben die Leute Beschwerden eingebracht, und kam meine Sache vor den Untersuchungsausschuß, wo ich ziemlich schwer belastet worden war. Ich habe dies nach meiner Rückkehr von dem Untersuchungsausschuß dem Angeklagten gemeldet, daß gegen mich ein Verfahren läuft, und daß sein Vertrauen erschüttert sein werde. Der Angeklagte erwiderte mir, das komme gar nicht in Frage, und forderte mich auf, ihm eine Abschrift zu bringen. Nach einigen Tagen hat mir Reinthaller erklärt, daß er mit dem Vorsitzenden Dr. Graf gesprochen habe, und ich weiter Dienst mache. In der Folgezeit wurde nichts mehr gegen mich unternommen. Von den Kriminalbeamten habe ich dann erfahren, daß der Angeklagte in dieser Form soweit geholfen hat, daß das Verfahren gegen mich ad acta gelegt wurde […]. Im Oktober 1938 bin ich dann abberufen worden. Ich kann es ehrlich sagen, ich bin dem Angeklagten dankbar, daß ich zu ihm kam, denn sonst wäre ich unter die Räder gekommen.

Vor dieser Vernehmung nahm das Gericht die Verlesung einiger Schriftstücke zu deren Einbeziehung in die Entscheidungsgrundlage vor, insbesondere der im Gerichtsakt erliegenden Auskünfte und der Bestätigungen und einiger Eidesstattlichen Erklärungen, und der Protokolle zu den in der Voruntersuchung dieses Strafverfahrens erfolgten Zeugenvernehmungen.799 Danach wurde die Verhandlung um 18.20 Uhr beendet, um am 26. Oktober 1950 fortgesetzt zu werden. 8.2.4 Vierter Verhandlungstag Donnerstag, 26. Oktober 1950

Der einzige an diesem Verhandlungstag vernommene Zeuge ist Peter Revertera, der frühere Sicherheitsdirektor Oberösterreichs.800 Eingangs seiner Vernehmung gibt er eine Stellungnahme ab, wonach er seine Aussage ausschließlich aus dem Gedächtnis machen muss: „Ich muß vorausschicken, meine Schriften sind durch Hausdurchsuchungen, die gelegentlich meiner Verhaftung durch die Gestapo erfolgten, abhanden gekommen, und kann ich mich nur auf mein Gedächtnis beziehen.“ Er vermag es aber jedenfalls, auch ohne Unterlagen die wesentlichen Informationen mitzuteilen. Er gibt an, dass er den Angeklagten Anton Reinthaller „schon seit langen Jahren“ 799 Verlesung nach § 252 StPO 1873. 800 Hauptverhandlungsprotokoll 26.10.1950, 9.30–13.00 Uhr, Volksgericht Wien zu Vg 7d 2068/49, S. 1–9 (Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner).

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kennt. Als Sicherheitsdirektor lernte er ihn aufgrund der Vermittlung von Franz Langoth kennen. Im Einvernehmen mit Bundeskanzler Dr. Schuschnigg wirkte er als Sicherheitsdirektor bei der Befriedungsaktion Reinthaller mit. Revertera legt offen, dass man Reinthaller zunächst mit Skepsis begegnete und daher überwachte, dass sich aber letztlich aufgrund dieser Überwachung das Misstrauen gegen Reinthaller als unbegründet erwies: Nach den Befriedungsvorschlägen, die Ing. Reinthaller im September 1934 an den Bundeskanzler Dr. Schuschnigg gerichtet hatte, bekam ich den Auftrag, ihn nach Möglichkeit in Oberösterreich zu unterstützen und habe ich ihn natürlich, da ich verantwortlich war im Hinblick darauf, ob hinter dieser Befriedungsaktion nicht doch eine Tarnung vorliegt für eine Fortsetzung illegaler Betätigung für die damals schon verbotene NSDAP aus dieser Zusammenarbeit Langoths und Ing. Reinthallers, beobachten lassen. Ich kann sagen, daß der Angeklagte während der ganzen Jahre, da ich mit der Wahrung der Sicherheit betraut war, immer in der loyalsten Weise vorgegangen ist und sich nie etwas zu Schulden kommen ließ. Es ist bekannt, daß er im scharfen Gegensatz war zu Hauptmann Leopold und Habicht, die die radikale Richtung in Österreich vertreten haben, und kann man von einem Kampf sprechen zwischen diesen beiden Richtungen. Gegen diese radikalen und neuen Versuche von illegaler Betätigung und Attentaten ist der Angeklagte aufgetreten, trat mit mir in persönliche Verbindung und seitens des Sicherheitsministeriums erhielt ich den Auftrag, die Befriedungsaktion Reinthallers zu unterstützen, andererseits, daß mir die Informationen über etwaige illegale Betätigungen nicht entgehen. Ich habe den Angeklagten scharf beobachten lassen, weil es meine Aufgabe war. Am Anfang kam ich dem Angeklagten mit Mißtrauen entgegen und ich muß gestehen, daß das Mißtrauen sich gelegt hat. Mit Einverständnis des Herrn Bundeskanzlers und Staatssekretärs Zernatto konnten dann Zusammenkünfte im kleineren Kreise, dem Lager Reinthallers nahestehenden Personen zwecks Befriedung erlaubt werden. Die Zusammenkünfte der gemäßigten nationalsozialistischen Führer fanden in Ischl und Linz immer unter meiner und unter entsprechender Beaufsichtigung der Polizei statt, und da hat sich ergeben, daß die Herren, die sich mit der Befriedungsaktion des nationalsozialistischen Lagers befaßten, in ihren eigenen Reihen auf größere Schwierigkeiten gestoßen sind, da diese eine radikale Richtung vertreten haben wollten.

Auch im Zuge seiner weiteren Vernehmung betont Revertera die Vertrauenswürdigkeit des Ing. Reinthaller einerseits und dessen Auseinandersetzungen mit dem extremen Lager der Nationalsozialisten andererseits: Ich möchte erwähnen, daß auf die Dauer keine wirkliche Aufbauarbeit sich machen ließ, auch mit der anderen Seite der Opposition, den Sozialisten, mit Männern, die heute noch

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in gehobenen Posten stehen. Es war damals die Absicht, um aus dieser Affäre, die im Feber und Juli 1934 zu diesen schweren Auseinandersetzungen geführt hat, möglichst eine Atmosphäre der Ruhe und Versöhnung zu schaffen. Ich muß erklären, daß ich beim Angeklagten, der die Regierung in loyalster Weise unterstützte, niemals bemerkte und festzustellen war, daß er diese Befriedungsaktion benützt hätte für eine Fortsetzung oder ein Neuaufziehen von illegaler Betätigung. […] Trotzdem habe ich nach dem Juliabkommen die Beaufsichtigung der nationalen Kreise verschärft. Ich erinnere mich nicht mehr, zu welchem Zeitpunkte es war, ist der Angeklagte über Wunsch des damaligen Sicherheitsministers Baar-Barenfels nach Deutschland geschickt worden mit dem Auftrag, anhand konkreter Feststellungen von mir, in der weiteren Folge hat er auch vom Vizekanzler gewisse Momente mitbekommen, gegen die Fortsetzung der illegalen Aktion und radikalen Beeinflussung durch Habicht Protest einzulegen. Wir nahmen an, daß er durch Vermittlung der agrarischen Kreise, die, wie wir angenommen haben, weniger der radikalen Seite zuneigten, dies zur Kenntnis der obersten Führung zu bringen und daß auch die Vereinbarungen deutscherseits eingehalten werden, wie es unsererseits der Fall war. Ich kann es offen sagen, daß es eine heikle und sehr schwierige Sache war und daß ich mich verpflichtet fühlte, auch im Reich draußen den Angeklagten bespitzeln zu lassen, ob er auch im Reich draußen, wie er es in Österreich gegenüber der Regierung getan hat, sich loyal verhalten wird. Ich habe festgestellt, daß die Berichte, die einlangten, positiv waren. […] Ich kann weiters feststellen, daß für diese heikle Mission, in der sich damals Österreich befand, er sein bestes getan hat, um die Beeinflussung seitens der Parteikreise in Deutschland in Österreich abzubremsen. Gelungen ist es ihm nicht, man kann ihn nicht verantwortlich machen und so ist über seinen Kopf der Kampf weitergegangen, bis es zu den Ereignissen 1938 kam […].“

Daraus ergibt sich, dass Ing. Reinthaller sogar für das damalige Regime Schuschnigg als Intermediär agierte, um nach Möglichkeit einen inneren Ausgleich in Österreich mit Befriedung des nationalen Lagers zu bewirken. Wenngleich die innere Befriedung in Österreich nicht gelang, so bestanden wenigstens gewisse positive Auswirkungen, wie auch der Zeuge Revertera an anderer Stelle konstatiert: Der Angeklagte hat naturgemäß als Landwirt seinen Einfluß auf die bäuerliche Anhängerschaft ausgedehnt, und da kann ich feststellen, wenn auch die Befriedungsaktion kein hundertprozentiger Erfolg war, hat sich doch in Oberösterreich eine gewisse Atmosphäre der Beruhigung breitgemacht, die in angenehmer Weise sich von den anderen Bundesländern abhob. Die Bombenattentate haben wohl nicht zur Gänze, aber fast ganz aufgehört. Ich konnte feststellen, daß dies, ohne übertreiben zu müssen, auf die Bestrebungen des Angeklagten zurückzuführen war. […] Diese ursprüngliche Befriedungsaktion ist im Sande verlaufen und hat erst in einem späteren Stadium zu einem modus vivendi mit der damaligen Opposition geführt.

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Auch nach dem im Februar 1938 erfolgten Kanzlerbesuch in Berchtesgaden trat man an Ing. Reinthaller heran, um das Schlimmste zu vermeiden: Umso mehr war es notwendig, nach dem Kanzlerbesuch in Berchtesgaden mit den Exponenten, wo ich geglaubt habe, mich verlassen zu können, mir die unbedingte Notwendigkeit zu schaffen, alles daran zu setzen, um von Seiten der österreichischen Kreise eine Richtung der Versöhnung zu schaffen. Ich habe zu diesem Zwecke mit Einverständnis der Regierung in Wien in Ebelsberg, wo ich meine Villa hatte, eine Zusammenkunft veranstaltet, an der Reinthaller, Langoth und Dr. Hueber teilnahmen und über ausdrücklichen Wunsch dieser Herren auch den illegalen Parteileiter Eigruber eingeladen, und hat sich folgendes ergeben. Ich habe ihnen die Situation auseinandergesetzt und verlangt, daß sie sich loyal verhalten. Sehr bestimmt und positiv eingestellt haben sich Reinthaller, Langoth und Dr. Hueber, Eigruber hat nicht Nein und Ja gesagt und war zu erkennen, daß auf ihn nicht zu rechnen war, was mir von vornherein bekannt war. Ich möchte nocheinmal erwähnen, daß noch im letzten Augenblick die genannten drei Herren positiv und loyal mitgewirkt haben und Reinthaller ein Rundschreiben an die bäuerlichen Kreise herausgegeben hat. Wenn er auch nicht offizieller Bauernführer war, wenn er etwas sagte, so folgten ihm die Bauern aus dem nationalsozialistischen Lager, das sich zusammen gesetzt hatte aus den ehemaligen Landbündlern. Es war jedenfalls vor dem Einmarsch der deutschen Truppen so, daß bei Verübung von Gewaltakten niemals von der NS Bauernschaft die Rede sein konnte. Diese Befriedungsaktion habe ich von oberösterreichischer Seite gebilligt, weil ich mit diesen Leuten verkehrte. Diese Aktion hat sich auch auf die anderen Bundesländer erstreckt. Die vorgekommenen Sabotageakte sind ausschließlich von radikaler Seite erfolgt, wenn man der Sache nachgegangen ist, aber niemals von der loyalen.

Revertera führt des Weiteren aus, dass Reinthaller sich nicht am Einmarsch beteiligt hat. Zu dem Grund, warum Reinthaller Mitglied der Regierung Seyß-Inquart war, hat Revertera eine klare Meinung: Ich kann in meiner seinerzeitigen Stellung das eine wohl als Meinung sagen, daß der Angeklagte in diese unglückselige Regierung Seyß-Inquart hinein geschlittert ist und kann es nur aus dem Motiv gewesen sein, zu helfen, zu nützen, zu retten, was zu retten ist durch seine persönliche Annahme und nur aus diesem Beweggrund. Ich habe in den Jahren, wo ich den Angeklagten genau beobachtet habe, das eine feststellen können, daß er ein absolut guter Österreicher war, trotz der anderen Schattierung, er war eben aus dem NS-Lager hervorgekommen, aber Österreicher war er und hat immer wieder nicht nur mir gegenüber in seiner praktischen Betätigung, in seiner Beeinflussung der ihm nahestehenden Kreise immer wieder erklärt, bei einem Anschlußgedanken müsse auf die österreichische Auffassung,

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Der Strafprozess im Detail

die österreichische Tradition Rücksicht genommen werden und Österreichs Sonderstellung im Rahmen des Reiches entsprechend gewürdigt werden.

Revertera betont nochmals, dass seine Einschätzung von Reinthaller gut fundiert ist: „Ich rede nicht ins Blaue hinein, das sind einstimmige Berichte von Leuten, die ich mit der Beobachtung des Angeklagten betraute und in den ganzen Jahren immer negative Berichte erhielt, daß an der loyalen österreichischen Auffassung des Angeklagten nicht zu rütteln ist und daß diese Auffassung auch in den Wiener Regierungskreisen Platz gegriffen hat.“ Der Umstand, dass Reinthaller nicht in Dimensionen von Parteizugehörigkeit dachte, und dass nicht nur eine Wertschätzung von Revertera gegenüber Reinthaller bestand, sondern auch umgekehrt, sodass also zwischen den beiden eine wechselseitige Wertschätzung und ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis bestand, ergibt sich aus der Begebenheit, dass Reinthaller nach dem Anschluss Revertera überredete, das Amt des oberösterreichischen Gaujägermeisters zu übernehmen. Dies, ohne zu verlangen, der NSDAP beizutreten, was Revertera ohnedies dezidiert ablehnte, wobei Reinthaller betonte: „Was Sie politisch denken, ist mir wurscht, ich verlange keinen Beitritt zur NSDAP, keine Verleugnung ihrer Weltanschauung, ich will nur einen Fachmann haben zur Führung, damit sie mir keinen Preußen hereinsetzen und wir in das preußische Fahrwasser hineinschlittern“. Auch daraus ergibt sich außerdem, dass für Reinthaller Sachlichkeit im Vordergrund stand und fachliche Motive prioritär sein Handeln bestimmten. Mit diesem fachlichen und lagerübergreifenden Denken war Reinthaller aber sichtlich im Dritten Reich in der Minderheit, wie sich auch aus dem Umstand ergibt, dass Reinthaller nur zunächst Revertera gegen die Widerstände aus der Partei in diesem Amt halten konnte, aber dieser letztlich ohne Parteimitgliedschaft zur NSDAP nicht in diesem Amt bleiben konnte: „Nach 10 Tagen teilte mir der Angeklagte mit, daß es ihm leid tue, er müsse verlangen, entgegen seinem Wort, daß ich der NSDAP beitrete, sonst könne er mich nicht halten. Ich erwiderte damals: ,Ich bedaure, Nazi bin ich keiner und Jägermeister muß ich nicht sein.‘ Der Angeklagte erkannte meinen Standpunkt an und lag es ihm ferne, einen Gewissenskonflikt heraufzubeschwören. Das ist ein Beweis des Überflutens durch die Preußen und war es nicht leicht, etwas hintanzuhalten, selbst in einer nationalsozialistischen Regierung.“ Zu Hilfestellungen Reinthallers führt Revertera aus, dass Reinthaller auch junge Mädchen vor schädlichen nationalsozialistischen Einflüssen schützte: Meine nachmalige Schwiegertochter wurde als 17-jähriges Mädchen einberufen zum Landdienst. Reinthaller war derjenige, um sie vor unangenehmen Erlebnissen, wie sie meine eigene Tochter mitmachen mußte, zu schützen, der sie als Arbeitsmaid auf seinen Hof

Die Hauptverhandlung

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brachte, wo sie fest arbeiten mußte wie eine Magd, wofür ich ihm heute noch dankbar bin. Es wurde in keiner Weise versucht, sie im antiösterreichischen Sinne zu beeinflußen, meine Schwiegertochter war dort wie zu Hause, sie hat ihren religiösen Pflichten nachkommen können. Auch die anderen Mädchen, die beim Angeklagten untergebracht waren, waren bei ihm gut aufgehoben gewesen und ist nie der Versuch gemacht worden, ihnen das nationalsozialistische Gedankengut in irgendeiner Form beizubringen.

Ansonsten attestiert Revertera zum Charakter des Reinthaller, dass dieser ein zu großer Idealist war, wobei er aber auch anmerkt, dass dieser mit seiner Einstellung auch Positives bewirkt hat: Was meine Person betrifft, möchte ich vorbringen, daß der Angeklagte sich für meine Person sehr eingesetzt hat. Es ist bekannt, daß ich 3 mal durch fünfzig [Anm.: sic. Gemeint wohl: „fünfzehn“] Monate in Haft war und keine Ursache habe, der NSDAP „grün“ zu sein. Ich buche den Angeklagten nicht als Nationalsozialisten. Nach den ganzen gemachten Erfahrungen gehört er in die ganze Bande nicht hinein. Wie er mich zu sich berufen hatte wegen der Gaujägergeschichte äußerte er sich „Um Gottes Willen, wohin bin ich hinein geschlittert, ich bin verzweifelt, wenn ich nur heraus könnte.“ Ich habe ihm darauf entgegnet „Ja Herr Minister, Sie waren ein zu großer Idealist.“ Der Angeklagte wurde dann bald kaltgestellt und die alpenländische Bauernschaft in drei Teile geteilt. Das war nur ein Mittel, um ihn loszuwerden, und bekam er die Stelle eines Unterstaatssekretärs in Berlin. Von dort aus hatte er, wo er nur konnte, den Land- und Forstwirtschaftskreisen wertvolle Dienste geleistet. Ich denke hier an die private Forstwirtschaft, die verstaatlicht werden sollte. Das war sein Bemühen, daß dies unterblieben ist. Wenn irgendein Bauer oder Landwirt irgendwie in schwere Gefahr gekommen ist und hat sich an ihn gewendet, so hat er geholfen, wo er nur helfen konnte, sodaß er zum Schlusse in den eigenen Reihen als „Außenseiter“ betrachtet wurde. Wenn der Angeklagte in die Regierung Seyß-Inquart eintrat, so war es ausschließlich aus der Überzeugung, daß man manches vermeiden könne und dem Österreichertum wenigstens innerhalb der NSDAP Nachdruck verleihen könne.

Letztlich übt Revertera auch scharfe Kritik an den Vergeltungsgesetzen, nach denen die Anklage gegen Reinthaller erhoben wurde: „Wenn daher der Angeklagte aus formalen Gründen, wie es im Gesetze drinnen steht, verurteilt werden muß, ist es kein Beweis, daß er sich schuldig gemacht hat, schuld ist vielleicht ein mangelhaftes Gesetz, das derartiges ermöglichen kann.“ Auf Anfrage des öffentlichen Anklägers, des Staatsanwalts Dr. Eichler, zerstreut Revertera ein Gerücht, wonach die Aktion Reinthaller mit einer illegalen Aktion

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gekoppelt gewesen sei. Auf Anfrage des Staatsanwalts gibt Revertera die folgende Erklärung für die an Reinthaller verliehenen höheren Auszeichnungen: Die hat er verliehen bekommen, da war er aber nicht der einzige, da sind eine ganze Menge von Chargen nachgeworfen worden. Auf einmal war er SS-Oberführer. Ihm habe ich meine Enthaftung zu verdanken. Als ich ihn einmal fragte, wie er Oberführer der SS geworden ist, lachte er und gab an „Der Himmler hat es mir nachgeschmissen, ein Zurückweisen wäre nicht möglich gewesen.“ Ich nehme an, daß das auch anderen passiert ist. Ich bin überzeugt, daß er sich nie beworben hat, um eine SS-Charge zu bekommen.

Zu dieser Thematik setzt der Verteidiger Dr. Haider mit folgender Frage nach: „Wenn Sie damals entgegen Ihrer Einstellung des Gewissens für die Stelle des Gaujäge­ rmeisters den Beitritt zur NSDAP vollzogen hätten, was glauben Sie, was Sie für eine Charge oder Uniform zu erwarten gehabt hätten?“ Revertera antwortet darauf: „Vielleicht wäre ich SS-Brigadeführer geworden.“ Der Verteidiger Dr. Tiefenbrunner möchte nochmals ganz sichergehen, was die Basis für die Einschätzung des Revertera von Reinthaller anbelangt, möchte dessen Aussage sichtlich „in Stein gemeißelt“ haben: „Als Sicherheitsdirektor von Oberösterreich mußte Ihnen das ganze Handeln, Tun und Lassen im Rahmen der bewilligten Befriedungsaktion bekannt sein. Ist es anzunehmen, daß Sie sich in Reinthaller getäuscht haben können, daß er nicht mit, sondern gegen die Regierung gearbeitet hat?“ Revertera erklärt dazu: Wie ich Reinthaller kennenlernte, war ich neugierig, was herauskommt, und bin mit großem Mißtrauen hinein gegangen. Je mehr ich aber dann über seine Person in Kenntnis gesetzt wurde durch meine Beamten, hat sich die Überzeugung vertieft und ich habe sie auch gegenüber dem Kanzler geäußert, daß er absolut in Ordnung ist und kein Doppelspiel treibt. Es war auch keine getarnte Organisation. […] Daß der Angeklagte mit der radikalen Seite in Verbindung getreten sei, gerade mit Neubacher und Leopold und Eigruber ist nicht gut möglich, denn wenn der Name Reinthaller fiel, machten sie unfreundliche Nasenlöcher.

Zu der Erfassung der Illegalen im Ständestaat macht Revertera auf Befragen des Dr. Günther die folgenden Angaben: Evidenzblätter über die Illegalen hatten wir bald nach dem Kanzlermord. Es wurde damals zuerst so praktiziert, sobald ein gewisser Kreis von Illegalen festgestellt war, wurden sie verhaftet und nach Wöllersdorf gebracht801. Ich habe mich dagegen gesträubt, denn es ist viel 801 Zum Anhaltelager Wöllersdorf siehe Pia Schölnberger, Das Anhaltelager Wöllersdorf 1933–1938, Wien 2015.

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wertvoller, wenn man weiß, wer wer ist, das heißt wer illegal ist und im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler wurden diese Lager dann auch aufgelassen. In den Illegalenlisten ist Reinthaller nicht aufgeschienen. Wer Gauleiter, wer Kreisleiter und Ortsgruppenleiter war, die Namen haben wir alle gekannt.

Auf Vorhalt des im Gerichtsakt erliegenden Fragebogens (Erfassungsbogens) durch Dr. Tiefenbrunner stellt Revertera richtig, dass Reinthaller weder illegaler Kreisleiter noch illegaler Bauernführer und auch nicht illegaler Kreispropagandaleiter oder Gauredner war. „Das Einzige, wenn man will, Bauernführer, aber nicht organisationsmäßig. Bauernführer war er insoferne, daß die Bauernschaft ihn als den Maßgebenden in ihrem Kreis angesehen hat, und ich habe das begrüßt.“ Durch Dr. Haider zum idealistischen Ansatz Reinthallers befragt, führt Revertera folgendermaßen aus: Ich habe im Reich draußen ziemlich viele Verwandte gehabt und so war ich informiert, wie es im Reich zuging und die haben mir gesagt „bildets Euch ja nicht ein, daß Ihr etwas erhoffen könnts, wenn man ein anständiger Mensch ist, ist man schon zur Interesselosigkeit verurteilt. Reinthaller war nicht so. Nach meiner Überzeugung war er vollkommen davon überzeugt, daß nur durch Einsatz der Person er Dinge retten könne und ist in die Regierung gegangen.

Dr. Günther fragt nach den Alternativen zur Bildung der Regierung Seyß-Inquart: „Was wäre damals geschehen, wenn es keine Regierung gegeben hätte? Wer hätte die Macht in Händen gehabt?“ Revertera erwidert darauf in plakativer Weise: Die Horden, sogenannte Abenteurer-Naturen. Wenn man da nicht eine starke Hand geschaffen hätte. Der Anschluß war von Hitler ausgesprochen und war es notwendig, daß eine österreichische Regierung sich bildet und dafür sorgt, daß keine Auswüchse entstehen, und das ist bis zu einem gewissen Grad erreicht worden.

Schließlich befragt Dr. Tiefenbrunner zu Reverteras Erlebnissen in Berlin, worauf Revertera das Ergebnis seiner damaligen Erhebungen schildert: Ich bin damals sofort von Berlin direkt nach Wien gefahren zum Bundeskanzler und habe den Eindruck geschildert, daß meiner Ansicht nach in unabsehbarer Zeit März/April, das war der Zeitpunkt, wo sie immer den Rappel zu bekommen pflegten, mit einer bewaffneten Aktion gegen Österreich zu rechnen ist, daß eine Unterstützung seitens England und Frankreich nicht zu erwarten ist. In Berlin hatte ich Gelegenheit mit dem englischen Botschafter Henderson und dem französischen Botschafter Poincaré mich auszusprechen

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und wurde mir von diesen erklärt, daß wir wegen Euch einen Krieg anfangen, kommt nicht in Frage.802 Henderson konnte nicht begreifen, warum wir uns so wehren gegen einen Anschluß und erklärte „Ihr seids Deutsche, Ihr sprecht die selbe Sprache“. Sie konnten es nicht verstehen.

Dr. Haider fragt nach. „Hat Göring Ihnen nicht einen bestimmten Zeitpunkt genannt?“ Revertera meint abschließend: Es war seinen Ausführungen zu entnehmen, das hängt von dem Führer ab, das kann morgen oder übermorgen sein, wir werden wenige Monate noch zuschauen und dann wird die Entscheidung so oder so fallen und daß da zwei Divisionen genügen werden, um Österreich ohne Blutvergießen zu bekommen. Damals hätte es nur einen Ausweg gegeben und auf den hat auch Dr. Schuschnigg gebaut, das war die Loyalität Italiens, aber er hat dabei vergessen, daß uns Italien schon einmal sitzen ließ.

Weitere Zeugenvernehmungen führt das Volksgericht Wien nicht durch. Es erfolgt die Verlesung von Schriftstücken, deren Inhalt als entscheidungswesentlich angesehen wird. Das zum Teil auf Antrag der Verteidigung oder des Staatsanwalts. So erfolgen insbesondere Verlesungen aus den Gerichtsakten zu den gegen Dr. Rudolf Neumayer und Dr. Franz Hueber geführten Volksgerichtsverfahren sowie Konstatierungen daraus.803 Eine Einigkeit zwischen dem Ankläger und den Verteidigern besteht nur soweit, als aufgrund deren beider Anträge die Verlesung des Buchs von Dr. Schuschnigg mit dem Titel „Requiem in Rot-Weiß-Rot“ erfolgt, das Franz Langoth bereits im Vorverfahren dem Untersuchungsrichter Dr. Nanke leihweise für den Gerichtsakt zur Verfügung gestellt hatte.804 Einige weitere Verlesungen erfolgen, einige andere werden abgelehnt. Hinsichtlich der offenen, vor allem auf weitere Zeugenvernehmungen oder Verlesungen gerichteten Beweisanträge zieht der Senat sich zur Beratung zurück 802 Sic. Der französische Botschafter in Berlin war damals allerdings André François-Poncet (Regina Haunhorst/Irmgard Zündorf, Biografie André François-Poncet, in Stiftung Deutsches Historisches Museum/Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Bundesarchiv (Hrsg.), LEMO – Lebendiges Museum Online, www.dhm.de). Es liegt sichtlich eine Namensverwechslung vor mit Raymond Poincaré (20.08.1860–15.10.1934), der in der Zeit von 1912 bis 1929 Staatspräsident und mehrfach Ministerpräsident und Außenminister Frankreichs gewesen war (Anne-Cécile Renouard/Gabriel Eikenberg, Biografie Raymond Poincaré, in: Stiftung Deutsches Historisches Museum/Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Bundesarchiv (Hrsg.), LEMO – Lebendiges Museum Online, www.dhm.de). 803 Kapitel 6.2. und 6.3. 804 Beilagen zum Vernehmungsprotokoll ON 75 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7d Vr 2068/49, OÖ Landesarchiv.

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und verkündet nach seinem Wiedererscheinen den Beschluss auf Abweisung sämtlicher noch nicht erledigter Beweisanträge und schließt das Beweisverfahren. Die Hauptverhandlung wird dann um 13 Uhr unterbrochen. Um 14 Uhr wird die Hauptverhandlung fortgesetzt.805 Es erfolgt zunächst das Plädoyer des Staatsanwalts, dann folgt das Plädoyer des Verteidigers Dr. Tiefenbrunner, der den Freispruch des Angeklagten Ing. Reinthaller von der gegen ihn erhobenen Anklage beantragt.806 Dann kommt es zum Schlusswort des Angeklagten. In der Presseberichterstattung wird auch die Aussage Reinthallers zitiert, wonach er wieder so handeln würde wie damals: Ich habe in den letzten fünf Jahren genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob ich es heute anders machen würde als damals. Ich muß offen gestehen: In einer Situation wie 1933 würde ich mich auch heute für eine Befriedungsaktion zur Verfügung stellen. In einem Notstand wie 1938 würde ich wie damals in die Bresche springen. Wäre ich wie am 13. März vor die Wahl gestellt, einem Wiedervereinigungsgesetz zuzustimmen, oder einem Herrn Bürckel die Macht zu überlassen, würde ich dieses Gesetz neuerlich stillschweigend akzeptieren.807

Diese Aussage wurde zum Teil detailhaft aus dem Gesamtzusammenhang gerissen wiedergegeben und polemisch kommentiert. Bei der Betrachtung des Gesamtzusammenhangs ergibt sich eindeutig, dass Ing. Reinthaller – seinem aufrechten Charakter und seinem Verantwortungsbewusstsein entsprechend – damit meinte, dass er es noch immer für richtig hielt, sich nicht aus der Verantwortung zu stehlen und den Radikalen das Feld zu überlassen, sondern versuchte, im Sinne des Landes und der Menschen das Beste aus der Situation zu machen und die Extremisten in deren Wirken möglichst zu hindern. Im Verhandlungsprotokoll ist nur das folgende Schlusswort Reinthallers enthalten: „Ich habe nur eine Bitte: Entscheiden Sie so, daß Ihr Spruch auch vor der Nachwelt bestehen kann.“ Der Gerichtshof zieht sich nun zur Beratung zurück und verkündet nach seinem Wiedererscheinen das Urteil samt der wesentlichen Entscheidungsgründe. Das Urteil entspricht soweit dem protokollierten Schlusswort des Anton Reinthaller, als er da805 Hauptverhandlungsprotokoll 26. Oktober 1950, 14 Uhr bis 20.20 Uhr, Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. 806 Plädoyers wurden und werden im Strafverfahren generell nicht protokolliert, so auch nicht in diesem Fall. Teile der Plädoyers können der Presseberichterstattung entnommen werden (siehe Kapitel 7.6.). 807 Zitiert nach der in Kapitel 7.6. angeführten, in der Tageszeitung „Neues Österreich“ vom 27. Oktober 1950 veröffentlichten Prozessberichterstattung.

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Der Strafprozess im Detail

mit vom Vorwurf eines nach § 8 KVG begangenen Hochverrats freigesprochen wird. Allerdings wird Reinthaller wegen einer angeblichen Illegalität im Sinne des § 10 VG in der Deliktsqualifikation des § 11 VG verurteilt.808 Das Volksgericht stützt seine Feststellung einer angeblichen illegalen Betätigung Reinthallers vor allem auf die vorliegenden Unterlagen. Soweit in der Urteilsbegründung angeführt wird, dass Reinthaller, der ja bereits vor der Verbotszeit Mitglied der NSDAP gewesen war, ab dem Betätigungsverbot die Beitragsleistung eingestellt hat, ohne aus der Partei ausgetreten zu sein, ist darauf zu verweisen, dass der Umstand des unterbliebenen Austritts aus der österreichischen NSDAP für sich genommen für die Strafbarkeit nach § 10 und § 11 VG irrelevant war, weil deren Tätigkeit als Partei mit dem Betätigungsverbot eingestellt wurde, und die Nationalsozialisten in Österreich nur als Untergrundorganisation operierten.809 Die Begründungen, von einem Parteiausschluss Reinthallers sei nicht auszugehen, weil es bei einem solchen mangels Fundierung in der NS-Untergrundbewegung für ihn nicht möglich gewesen sei, die Befriedungsaktion durchzuführen, und er als Ausgeschlossener nicht in das Interimskabinett Seyß-Inquart berufen worden wäre, sind nicht stichhaltig und lassen eine vollständige und sachgerechte Würdigung der vorliegenden Zeugenaussagen missen. Daraus ergibt sich gerade auch, dass Reinthaller über das NS-Lager hinaus im gesamten nationalen Lager eine starke Stellung hatte, und auch im NS-Lager, insbesondere in der NS-Bauernschaft viele Befürworter hatte, sodass er seine Befriedungsaktion unabhängig von der NS-Bewegung durchführen konnte. Aufgrund dieser Aktion stand er in Gegnerschaft zu den radikalen Nationalsozialisten, hatte aber dadurch gute Verbindungen zu den gemäßigten Nationalsozialisten. Daraus ergibt sich, dass aus dem Umstand, dass Seyß-Inquart ihn in sein Kabinett berief, und aus der Durchführung der Befriedungsaktion gerade keine illegale NS-Betätigung ableitbar ist. Eine richtige Würdigung der Zeugenaussagen hätte im Zusammenhang mit der Anklage nach § 10 und § 11 VG ein gegenteiliges Urteil ergeben müssen. Äußerst abwegig muten Ausführungen zur Beweiswürdigung an, wonach die von Revertera mitgeteilte Überwachung nicht ausschlaggebend sei, weil „keine Sicherheitsbehörde alle strafbaren Verfehlungen festzustellen in der Lage ist“.810 Diese Begründung ist beliebig und kann einen Schuldspruch nicht tragen, weil damit in Wirklichkeit nur ein Restzweifel geäußert wird, wie er immer bestehen kann. Bei sachgerechter Betrachtung legen die eindeutig belegte sicherheitspolizeiliche Überwachung Reinthallers und der 808 Zum Urteil siehe Kapitel 4.4.1. 809 Siehe Kapitel 3.3.1. 810 Urteil des Volksgerichts Wien vom 26.10.1950 zu Vg 1h Vr 2068/49, S. 8 (Urteilsausfertigung im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner).

Das Überprüfungsverfahren vor dem OGH

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Umstand, dass sich dabei keine illegalen Tätigkeiten Reinthallers ergeben haben, vielmehr die Annahme nahe, dass er auch keine illegale Tätigkeit ausgeübt hat. Letztlich zeigt dieser Fall, dass allein der Umstand der Anfechtbarkeit von Gerichtsentscheidungen ein höheres Ausmaß an Richtigkeit gewährleistet.811

8.3 Das Überprüfungsverfahren vor dem OGH 8.3.1 Das Erkenntnis

Das Volksgericht Wien verurteilte Reinthaller am 26. Oktober 1950 zwar nach § 10 und § 11 VG, sprach ihn aber vom Vorwurf des Hochverrats nach 8 KVG frei. Der tragende Grund für diesen Freispruch bestand im Wesentlichen darin, dass das Volksgericht Wien zu der Ansicht gelangte, dass der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich bereits am 12. März 1938 vollendet war, sodass Reinthaller mit der ihm von der Staatsanwaltschaft Wien zur Last gelegten, am 13. März 1938 erfolgten Mitwirkung am Anschlussgesetz das Verbrechen nach § 8 KVG nicht mehr begehen konnte. Denn strafbar nach § 8 KVG war nur die Vorbereitung oder Förderung der gewaltsamen Änderung der Regierungsform in Österreich zugunsten der NSDAP oder der NS-Machtergreifung. Nach dieser Änderung der Regierungsform und nach dieser Machtergreifung konnte dieses Delikt somit nicht mehr begangen werden812. Auf Initiative der Staatsanwaltschaft Wien leitete der Erste Präsident des Obersten Gerichtshofs mit Verfügung vom 05. April 1951 zu Präs. 2041/51 das Verfahren zur Überprüfung dieses Urteils an, soweit damit der Freispruch von der Anklage der Begehung eines Hochverrats nach § 8 KVG erfolgte.813 In diesem Überprüfungsverfahren hob der Oberste Gerichtshof mit Urteil vom 27. April 1951 zu 6 Os 18/51 auf. Der Oberste Gerichtshof meinte im Unterschied zum Volksgericht Wien, dass Reinthaller sich durch seine Mitwirkung an dem Zustandekommen des Anschlussgesetzes des Verbrechens nach § 8 KVG schuldig gemacht habe, weil er meinte, dass der Zweck des Anschlussgesetzes darin bestanden habe, die „Vernichtung der staatlichen Selbständigkeit Österreichs vor dem Auslande zu legalisieren“. Der Oberste Gerichtshof führte dazu im Detail wie folgt aus (Hervorhebungen durch Unterstreichung stammen aus dem Originaltext): 811 Zur Unanfechtbarkeit von Volksgerichtsurteilen siehe Kapitel 3.5. 812 Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 6.2.4. über den im Fall Dr. Rudolf Neumayer ergangenen Beschluss des Volksgerichts Wien vom 05.06.1953 zu Vg 1b Vr 445/45, womit in diesem Zusammenhang früher getätigte, anderslautende Ausführungen des Gerichts revidiert werden. 813 Zum Wesen des Überprüfungsverfahrens siehe Kapitel 3.5.

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Der Strafprozess im Detail

Mit der Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich war der Kampf um Österreich in der Verbotszeit im nationalsozialistischen Sinne entschieden. Der Angeklagte hat nicht zuletzt als österreichischer Minister diese Entwicklung gefördert. Denn die Erlassung des Wiedervereinigungsgesetzes war keine leere Formalität. Adolf Hitler hatte ausdrücklich von der österreichischen Bundesregierung die Beschließung eines solchen Gesetzes verlangt. Das Gesetz sollte die Legalität der Verfassungsmäßigkeit der Eingliederung Österreichs vortäuschen und dem Auslande zeigen, daß es sich hier keineswegs um eine seit langem geplante Angriffsmaßnahme des Deutschen Reiches (siehe das sogenannte Hossbach-Protokoll vom 10. November 1937, Zl. 386 PS-US-25 der Nürnberger Prozessakten), sondern – wie dies schon das von Göring vorgeschlagene, von Seyß-Inquart jedoch nicht abgesandte, in der deutschen Presse aber trotzdem veröffentlichte Telegramm an die Reichsregierung um Entsendung von deutschen Truppen zur Vermeidung von Unruhen dartun sollte (siehe Nürnberger Urteil) – um eine Maßnahme handelte, die von Österreich selbst ausging. Hierauf wurde von Hitler besonderer Wert gelegt, da der damalige Reichsaußenminister Ribbentrop aus London berichtet hatte, dass England jeder legalen Entwicklung zustimmen würde (siehe Denkschrift von Arthur Seyß-Inquart, unter PS3254 dem Nürnberger Gerichtshof vorgelegt). Das Anschlussgesetz sollte also die Okkupation tarnen und außenpolitische Schwierigkeiten, die durch eine Intervention der Großmächte hätte auftreten können, beseitigen. Es kann daher keineswegs gesagt werden, dass es sich, wenn es auch richtig ist, dass Österreich bereits am 12. März 1938 mit Gewalt seiner Unabhängigkeit beraubt worden ist, beim Wiedervereinigungsgesetz bloß um eine politische Geste gehandelt habe. Durch die Mitwirkung an dem Zustandekommen des Gesetzes, das der damalige Bundespräsident Miklas zu unterzeichnen sich geweigert hatte, weil es die Aufgabe der österreichischen Souveränität bedeutete, hat der Angeklagte somit zweifellos in einflussreicher Stellung die Machtergreifung der NSDAP in Österreich gefördert, mögen auch die Nationalsozialisten im Vereine mit den einmarschierten Truppen bereits mit Ablauf des 12. März 1938 die Macht in Österreich de facto in ihren Händen gehabt haben. Eine Notstandssituation kann dem Angeklagten nicht zugebilligt werden, weil er die Zwangslage durch seinen freiwilligen Eintritt in die Regierung selbst verschuldet hat.

Der Oberste Gerichtshof teilte also die Einschätzung des Volksgerichts Wien, dass die NS-Machtübernahme in Österreich bereits mit Ablauf des 12. März 1938 erfolgt war, ging aber in der rechtlichen Beurteilung der faktischen Auswirkungen des Anschlussgesetzes nicht mit dem Volksgericht Wien konform und sah den nach § 8 KVG strafbaren Effekt des Anschlussgesetzes darin, dass der Anschluss dadurch einen Anschein von Legitimität erhalten habe.

Das Überprüfungsverfahren vor dem OGH

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8.3.2 Die Angelegenheit als Politikum

Im Jahr 1951 fand die erste Volkswahl des Bundespräsidenten statt. Der erste Wahlgang erfolgte am 06. Mai 1951, der zweite am 27. Mai 1951. Im ersten Wahlgang traten eine Kandidatin und fünf Kandidaten gegeneinander an. Dabei erhielten Dr. Heinrich Gleißner, Landeshauptmann von Oberösterreich, und Dr. h.c. Theodor Körner die meisten Stimmen; Dr. Gleißner erhielt 40,1 %, Dr. Körner 39,2 % der gültig abgegebenen Stimmen.814 Im zweiten Wahlgang gewann Dr. Körner mit 52,1 % der gültig abgegebenen Stimmen gegen Dr. Gleißner mit 47,9 % der gültig abgegebenen Stimmen.815 Der Oberste Gerichtshof fällte in der Strafsache gegen Ing. Reinthaller im Überprüfungsverfahren sein Urteil am 27. April 1951, das damit gerade in die „heiße Phase“ dieses Präsidentschaftswahlkampfs fiel. Die Beteiligten erlangten davon erst mit einer gewissen Verzögerung Kenntnis. Dr. Günther informierte mit seinem an Dr. Tiefenbrunner gerichteten Schreiben vom 22. Mai 1951, das beim Adressaten am 25. Mai 1951 eintraf, davon, dass er nach seiner Rückkehr aus Ried durch telefonische Verständigung „mit einigem Entsetzen“ erfahren hat, „daß der OGH in seiner unerforschlichen Weisheit dem Überprüfungsantrag des Herrn Staatsanwalt Dr. Eichler stattgegeben und den Freispruch nach § 8 KVG ausgerechnet vor der Bundespräsidentenwahl aufgehoben hat“.816 Dr. Günther verleiht darin seiner Hoffnung Ausdruck, dass diese Nachricht nicht mehr in die Presse kommt, weil dann niemand aus dem nationalen Lager mehr „unseren Kandidaten Dr. Gleißner“ wähle. Deshalb schlägt er Dr. Tiefenbrunner vor, „unseren Klienten vor Sonntag nicht von dieser Aufhebung zu verständigen […] um eine derartige Beunruhigung auf alle Fälle zu vermeiden“.817 Dabei verweist Dr. Günther darauf, dass das für den Klienten Ing. Reinthaller keine nachteiligen Folgen hat. Er kündigt aber zugleich an, dass er Landeshauptmann Dr. Gleißner davon sofort verständigen werde, „damit er sieht, welches Unheil die Formaljuristen in Wien anzurichten in der Lage sind“. Er schließt dieses Schreiben mit einer Prognose zu den 814 Quelle: Österreichische Präsidentschaftskanzlei, www.bundespraesident.at. 815 Stimmen für Dr. Gleißner: 2.006.322; Stimmen für Dr. Körner: 2.178.631 (Österreichische Präsidentschaftskanzlei, www.bundespraesident.at). 816 Wobei Dr. Tiefenbrunner bereits vor Erhalt dieses Schreibens durch seinen Informanten aus dem BMJ, Dr. Leonhard, von der Entscheidung des OGH erfahren haben dürfte (Aktenvermerk vom 25. Mai 1951 im Rechtsanwaltshandakt des Dr. Otto Tiefenbrunner, worin Dr. Tiefenbrunner festhält, dass Dr. Haider ihn davon verständigt, dass „in den Salzburger Nachrichten 2 Artikel erschienen sind, die Mitteilungen des Präsidenten Leonhard an mich zum Gegenstand haben.“). 817 Schreiben des Rechtsanwalts Dr. Karl Günther vom 22. Mai 1951 im Rechtsanwaltshandakt von Dr. Otto Tiefenbrunner. Dazu ist anzumerken, dass der Wahlsonntag der 27. Mai 1951 war, der 22. Mai 1951 der Dienstag davor.

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Der Strafprozess im Detail

seines Erachtens je nach Ausgang der Bundespräsidentenwahl gegebenen Handlungsoptionen: Nach der Bundespräsidentenwahl werden wir uns dann klar werden, was wir tun können. Wird Bürgermeister Körner gewählt, so ist ein Abolitionsantrag meiner Meinung nach ganz zwecklos, weil Dr. Tschadek818 vom § 8 KVG niemanden freilassen will; wird unser Landeshauptmann gewählt, dann wird ohnehin voraussichtlich mit der ganzen Nazigesetzgebung und den Formaldelikten in irgendeiner Weise Schluss gemacht.

Am Freitag, dem 25. Mai 1951, erreicht die Kanzlei des Dr. Tiefenbrunner ein Anruf des Dr. Haider, womit Dr. Haider davon verständigt, dass in der Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom 25. Mai 1951 zwei Artikel über diese Angelegenheit erschienen sind.819 Nach Beischaffung dieser Zeitungsausgabe und der Lektüre dieser darin enthaltenen Artikel führt Dr. Tiefenbrunner ein neuerliches Telefonat mit Dr. Haider, worin Dr. Haider darüber informiert, dass er Dr. Günther aufgrund dieser Entwicklungen nahegelegt habe, den Mandanten zu verständigen, zumal dieser ja deshalb mit einer erneuten Untersuchungshaft rechnen müsse.820 Dr. Haider und Dr. Tiefenbrunner stimmen in diesem Telefonat in der Einschätzung überein, dass dieser Artikel „für Reinthaller nicht von Vorteil sein könne“. Für den Fall einer Anfrage des Justizministeriums vereinbaren sie, „wahrheitsgemäß Auskunft“ zu erteilen, „dass die Initiative zu den Artikeln nicht von Wien ausgegangen ist“. Dr. Günther hat dazu eine konträre Einschätzung, wie sich aus dessen an Dr. Tiefenbrunner gerichteten Schreiben vom 25. Mai 1951 ergibt, das Dr. Tiefenbrunner am 28. Mai 1951 erreichte. Darin informiert er über die Ereignisse: Wie mir Herr Dr. Marcic von den SN schon am Mittwoch mitgeteilt hat, hat die Redaktion von Wien selbst einen eingehenden Bericht über die Aufhebung des Freispruches in der Sache unseres Klienten Ing. Reinthaller erhalten sowie auch über die Rolle, die dabei Herr B.M. Dr. Tschadek gespielt hat. Herr Dr. Canaval821 hat sich daher entschlossen, einen scharfen Artikel gegen Dr. Tschadek und die jetzigen Justizgebräuche in der heutigen 818 Dr. Otto Tschadek, geboren am 31.10.1904, verstorben am 04.02.1969. Er war Rechtsanwalt. Vom 08.11.1949 bis 16.09.1952 und vom 29.06.1956 bis zum 23.06.1960 war er Bundesminister für Justiz; er war Mitglied der SPÖ (www.parlament.gv.at). 819 Aktenvermerk vom 25. Mai 1951 im Rechtsanwaltshandakt des Dr. Otto Tiefenbrunner. 820 Aktenvermerk vom 25. Mai 1951 im Rechtsanwaltshandakt des Dr. Otto Tiefenbrunner. 821 Dr. Gustav Adolf Canaval, geboren am 05.08.1898, verstorben am 26.11.1959; er war gemeinsam mit KR Max Dasch Mitbegründer der Salzburger Nachrichten und von 1945 bis 1959 deren Chefredakteur (www.aeiou.at – Stand 21.02.2017).

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Nummer zu bringen. Ich wurde lediglich gefragt, ob ich darin eine unmittelbare Gefahr für unseren Klienten erblicke, was ich verneinte. Die SN rechnen gerade wegen dieses Artikels auf eine besondere Aufrüttelung der ehem. Nationalsozialisten zur Stimmenabgabe für Dr. Gleißner. Tatsache scheint zu sein, dass Dr. Canaval den Salzburger Flügel des VdU ganz auf seine Seite gebracht hat, da Dr. Reimann822 vollkommen ruhig ist und Dr. Kraus823 sogar in der Presse einen Artikel für Dr. Gleißner erscheinen ließ! Der von Canaval selbst verfasste Leitartikel ist auch in der heutigen Folge der SN unter dem Titel „Eine Maske fiel …“ erschienen, auf der 2. Seite wird dann mit einem großen Obertitel der Bericht aus Wien gebracht. Im Mittagsbericht des Senders Rot-Weiß-Rot wurde nun die Nachricht durchgegeben, daß die Polizeidirektion Salzburg über Auftrag des Justizministers die vorläufige Beschlagnahme der heutigen SN durchgeführt hat. Bei uns ist aber die Zeitung in der Früh noch zugestellt worden. Ich nehme an, daß in Wien die Beschlagnahme restlos durchgeführt wird und Ihr daher nicht in den Besitz eines Exemplars gelangt. Daher sende ich Dir die ersten beiden Seiten der heutigen Nummer der SN zu. An Kollegen Dr. Haider geht der gleiche Brief ab und ebenfalls dieser Teil der heutigen SN. Ich bitte Dich, mir gleich mitzuteilen, wie Du die jetzige Situation aufgrund dieses Artikels siehst, insbes. wenn Dr. Gleißner am Sonntag nicht gewählt werden sollte.

Der betreffende Zeitungsbericht über die Aufhebung des Freispruchs lautet wie folgt824: REINTHALLERS FREISPRUCH WURDE AUFGEHOBEN – Wien (SN). Von gut informierten Kreisen verlautet, daß der im Justizministerium wirkende ehemalige hohe Richter Dr. Leonhard Ende voriger Woche den Wiener Anwalt des am 26. Oktober 1950 vom Hochverrat nach dem Kriegsverbrechergesetz freigesprochenen Ing. Anton Reinthaller zu sich gebeten habe. Dr. Leonhard soll dem Anwalt eröffnet haben, daß der Oberste Gerichtshof vor kurzem den Freispruch, den das Wiener Volksgericht gefällt hatte, aufgehoben hätte. – Der Staatsanwalt hatte damals, nach dem Freispruch, vom sozialistischen Justizmi822 Dr. Viktor Reimann, geboren am 25.01.1915, verstorben am 07.10.1996. Er war als Journalist und Schriftsteller tätig. Als ehemaliger Widerstandskämpfer saß er von 1941 bis 1945 in Haft. Ende 1945 bis 1948 war er stellvertretender Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Zudem war er Mitbegründer des VdU. Vom 08.11.1949 bis zum 08.06.1956 war er Abgeordneter des VdU zum Nationalrat (www.parlament.gv.at). 823 Dr. Herbert Alois Kraus, geboren am 18.11.1911, verstorben am 04.09.2008. Mitbegründer und Bundesobmann des VdU. Abgeordneter des VdU zum Nationalrat vom 08.11.1949 bis zum 08.06.1956 (www.parlament.gv.at). 824 Salzburger Nachrichten, Ausgabe vom 25. Mai 1951, S. 2.

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nister Dr. Tschadek die Weisung erhalten, an den Obersten Gerichtshof ein Ansuchen um Überprüfung zu stellen, dem dieser stattgab. Es soll dem Wiener Rechtsvertreter Ing. Rein­ thallers gedeutet worden sein, daß er für seinen Mandanten gleich ein Niederschlagungsgesuch einreichen möge, da man in Kreisen der Regierung eine Aufrollung des Prozesses nicht wünsche.

Der dazu veröffentlichte Kommentar des Dr. Canaval hat folgenden Inhalt:825 EINE MASKE FIEL … – Was auch immer für Entgleisungen in diesem Wahlkampf um den Bundespräsidenten vorgekommen sind, so haben doch bisher die ganzen Argumentationen und Aktionen nicht in die private Sphäre eingegriffen und so – abgesehen von dem Fall Burghard Breitner826 – wenigstens das äußerste an Hässlichkeit vermieden. Nun aber bleibt uns auch das nicht erspart. Die Clique der unentwegten Hasser und jene, die ja schließlich doch – wenn nicht deklarierte Wegbereiter der Volksdemokratie – so zumindest Arm in Arm mit diesen bei dieser Wahl marschieren, haben zu ganz üblen Methoden gegriffen. Der vom Volksgericht freigesprochene und also seit mehreren Monaten enthaftete ehemalige Minister Reinthaller wurde über seinen Anwalt vorgestern verständigt, daß sein Freispruch vom Obersten Gerichtshof aufgehoben sei und er füglich mit einer neuen Verhandlung – vielleicht auch verbunden mit neuer Haft – zu rechnen habe! Das hat uns gerade noch gefehlt! Gegen den Obersten Gerichtshof – obwohl seine Entscheide gerade in politischen Angelegenheiten seit Jahren zum überwiegenden Prozentsatz zu Ungunsten der Angeklagten erfolgt sind, was den Sinn der Volksgerichte in sein Gegenteil verkehrt – findet keine Polemik statt. Man kann gewiß nicht sagen – und darf es auch nicht–, daß sich ein österreichisches Gericht in seinen Sprüchen beeinflussen lasse.

825 Salzburger Nachrichten, Ausgabe vom 25. Mai 1951, S. 1f. Damit wurde (in der Nachkriegszeit) „zum ersten Mal die Person Anton Reinthaller in die politische Debatte geworfen“ (Lothar Höbelt, Von der Vierten Partei zur dritten Kraft – Die Geschichte des VdU, Graz 1999, 150). 826 Burghard Breitner, geboren am 10.06.1884, verstorben 28.03.1956, von Beruf Chirurg und Schriftsteller. Als Schriftsteller verwendete er das Pseudonym Bruno Sturm. Im Ersten Weltkrieg geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, in der er sich als Lagerarzt humanitär verdient machte. Er betreute sowohl deutsche Gefangene als auch Russen in selbstloser Weise und wurde daher auch „Engel von Sibirien“ genannt. Eine Berufung nach Moskau lehnte er ab und blieb bis Ende 1920 freiwillig bei den Gefangenen, bis die letzten Mithäftlinge entlassen wurden. 1922 erhielt er die Venia Legendi, 1927 wurde er zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt. 1950 wurde er Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes (Quelle: www.chirurgie-innsbruck.at – Stand 17.02.2017). Zu Burghard Breitner im Detail siehe Lothar Höbelt (Hrsg.), Festschrift für Burghard Breitner, Wien 1995. Bei der Bundespräsidentenwahl 1951 trat Dr. Burghard Breitner als Kandidat des VdU an und erhielt im ersten Wahlgang 622.501 Stimmen; das waren 15,4 % der gültig abgegebenen Stimmen (www.bundespraesident.at).

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Schließlich findet auch bei den „Überprüfungen“ des Obersten Gerichtshofes kein Beweiswürdigungsverfahren mehr statt. Aber wer hat denn überhaupt die ganze Maschinerie in Gang gesetzt? Der Spruch eines Volksgerichtes ist bekanntlich inappellabel! – gewiß. Aber … (dieser Aber spielt ja in Österreich eine so verhängnisvolle Rolle) der Staatsanwalt kann – besonders wenn er Weisung hat – dennoch die „Überprüfung“ eines Volksgerichtsurteiles verlangen. Von wem bekommt der Staatsanwalt eine solche Weisung, die dem Gedanken von der Trennung der Gewalten vollkommen widerspricht? Vom Herrn Justizminister. Dieses Ressort hält die SPÖ besetzt. Solche Weisungen sind gerade in der gegenwärtigen Regierungsperiode wiederholt erfolgt. In der Affäre Richter-Brohm (VÖEST) sind sie gegen Beschlüsse der Ratskammer erflossen, aber diese Sache wollten wir absichtlich nicht in der Wahlzeit berühren. Die Aufhebung des Freispruchs Reinthaller zeigt jedoch deutlich, wie viel die Uhr geschlagen hat. Auch der unentwegteste Verfechter der Auffassung, am Wahltag weiße Stimmzettel abzugeben, muß nun einsehen, daß das Gewicht einer noch so berechtigten Vergeltung nicht mehr den Schutz der Lebensinteressen bedrohter Menschen aufwiegen kann, die an der inneren Befriedung gearbeitet haben und denen wir treu neu verpflichtet sind. Haben wir nicht Recht gehabt, als wir zum Zusammenhalten um jeden Preis aufgefordert haben? Wir wußten nur selbst nicht, wie sehr. Aber dieser letzte Fall, dem noch Verletzungen der öffentlichen Meinungsfreiheit durch Pressebeschlagnahmungen in elf Fällen vorausgegangen sind, reißt der Situation die Maske vom Gesicht! Da ist ein hochangesehener Mann – zugleich ein Mensch von tiefster Seelengüte und bedeutendem Fachwissen, der durch die Ungunst der Politik in die Maschinerie des Antinazigesetzes geraten ist, und die Volksrichter haben seinen guten Willen erkannt und sprachen ihn frei. “Unwiderruflich“ frei. Da ist ein Gesetzgeber und der heißt das österreichische Volk und er wollte durch seine Vertreter mit Absicht eine gewisse Trennung der politischen Rechtsprechung von der allgemeinen Justiz einrichten und griff zur Einsetzung der Volksgerichte. Wir waren nie dafür – aber wenn man sie schon hat und wenn ihre Volksrichter wiederholt für einen Angeklagten entscheiden, weil sie irgendwie dem Friedensgedanken dienen wollen, dann erfolgt damit in wenigen Ausnahmen, also regelmäßig, ein Eingriff von Oben, der gegen den Angeklagten wirkt. Dieser hat sich aus einem ganz natürlichen Rechtsgefüge heraus schon im Besitze eines gesicherten Grundrechtes, nämlich seiner persönlichen Freiheit gewähnt, weil doch das Volksurteil keinen Instanzenzug mehr zuläßt und nun trifft ihn das neuerliche Bocken der Rechtsmaschine wie ein Keulenschlag! Wie vielen Menschen mag es noch so gehen und wie vielen ist es schon so ergangen? Was wir brauchen ist die Sicherung der Grundrechte im Staat. Nicht der „Gnadenweg“, auf den von gewisser obrigkeitlicher Seite, die jetzt ob dieses psychologischen Mißgriffes vielleicht selbst entsetzt ist, im Falle Reinthaller verwiesen wurde. Diesem Mann wurde im Prozeß, wo allerhand interessante und namhafte Zeugen aufgetreten sind, wie Miklas,

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Revertera und namentlich Gleißner ein so glänzendes Charakterzeugnis ausgestellt, daß ihn mancher Politiker darum beneiden möchte. Nun soll die Maschinerie gegen ihn weiter laufen, weil eine politische Partei durch ihren Justizexponenten einmal zeigen wollte, daß sie nicht leere Drohungen ausstoße (als sie noch an keine Wahl dachte). Und die Maschinerie kann, wenn die Volksrichter auf ihrem Freispruch bestehen, noch lange ihr Opfer hin und her ziehen. Bis zu drei- und viermal sind schon solche Freisprüche und „Überprüfungsentscheide“ gegeneinander in einer Sache erfolgt. Ein Ende kann da nur die Abolition durch den Bundespräsidenten setzen. Am Sonntag wählen wir ihn. Sollen wirklich unsere weißen Stimmzettel auf diesen wichtigen Posten den Parteigenossen des Herrn Justizministers setzen? Jetzt geht es um kein Gefühl erlittener Beleidigung, um keine Zweckmäßigkeitsgründe mehr, die in uns miteinander kämpfen mögen. Es geht um den Schutz der Freiheit und der Ehre derer, die auf uns hoffen! Es trifft sich schicksalshaft, daß Dr. Gleißner wenige Stunden vor dem Bekanntwerden dieses verabscheuungswürdigen Streiches, der nur um einige Tage zu früh explodierte, ein Bekenntnis zu den Bürgerrechten abgelegt hat. Wir haben sein Wort. Im gegebenen Fall sogar gegen seine Partei. CANAVAL

Das besonders ausgeprägte, für Österreich kennzeichnende Lagerdenken, das damals auch ganz besonders den Bundespräsidentschaftswahlkampf 1951 prägte, kommt sehr deutlich in dem nachstehenden, in derselben Zeitungsausgabe enthaltenen Bericht zum Ausdruck:827 JUSTIZMINISTER BESCHLAGNAHMT ÖVP-BLÄTTER – Wien (SN). Der Wahlkampf um die Bundespräsidentschaft ist vor allem durch die äußerste Erbitterung gekennzeichnet, mit der er von beiden Parteien geführt wird. Während im ersten Wahlgang nur die ÖVP dem radikalen und von Beschimpfungen strotzenden Ton der KPÖ nahekam, haben nun beide Parteien das Niveau der kommunistischen Agitationsformulierungen ziemlich erreicht. Auf der Seite Körners ist erstmals in der politischen Geschichte der Zweiten Republik zu bemerken, wie die Kommunisten versuchen, die Sozialisten an Schwung und Intensität ihrer Propaganda und ihrer Argumente zu übertreffen und auf diese Weise die SPÖ-Führung in Versuchung zu führen, sich dem Ton der KP anzuschließen. Selbst so ruhige und verantwortungsbewußte SPÖ-Führer wie Nationalrat Doktor Pittermann, der Führer des SPÖ-Parlamentsklubs, lassen sich zu groben Beschimpfungen gegen die Regierungspolitik verleiten, die sie selbst mit der ÖVP zu verantworten haben. Die ÖVP beantwortet die SPÖ-Angriffe nicht mit Mäßigung, sondern mit gleich extremer Beschimpfungstonart. 827 Salzburger Nachrichten, Ausgabe vom 25. Mai 1951, S. 2.

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Während Gleißner von der KP als Heimwehrfaschist, von der SPÖ als Günstling der KP, von der KP und SPÖ gemeinsam aber als Kandidat der Preiswucherer beschimpft wird, klassifiziert die ÖVP Körner als „Bürgerkriegsgeneral und Wegbereiter der Volksdemokratie“. Die 11 niederösterreichischen Wochenblätter der ÖVP veröffentlichen diese Klassifizierung Körners in einem von allen Blättern übernommenen Artikel in Fettdruck. Darauf trat ein neues Moment hinzu, das die Stimmung weiter verschärfte: Der sozialistische Justizminister ließ diese ÖVP-Wochenblätter beschlagnahmen. Es wurde bisher keine offizielle Erklärung über die Ursache dieser politischen Beschlagnahme bekanntgegeben, jedoch nehmen verschiedene politische Kreise an, daß der Justizminister als Begründung die Verbreitung beunruhigender Gerüchte sowie die gesetzwidrige Beschimpfung einer öffentlichen Persönlichkeit des Staatslebens anführen dürfte. Die ÖVP hat noch Donnerstag eine scharfe Protestresolution veröffentlicht, wo sie das Vorgehen des Justizministers als volksdemokratische Methode der Unterdrückung der Meinung politisch Andersdenkender bezeichnet.

Dr. Tiefenbrunner fand in seinem – einer gewissen Theatralik nicht entbehrenden – Antwortschreiben an Dr. Günther vom 28. Mai 1951 zu der mit der Aufhebung des Freispruchs gegebenen neuen Ausgangssituation klare Worte:828 Lieber Freund und Kollege! Von Tirol zurückkehrend finde ich Deine Briefe vor. Die Nachricht über die Aufhebung des Freispruches im Falle unseres Klienten und Freundes Ing. Reinthaller wegen § 8 KVG ist eine Trauerbotschaft. Von verschiedener Seite ist eine üble Rolle gespielt worden! Meines Erachtens hat auch Präsident Dr. Leonhard die Hände im Spiel und hat wohl seinen Einfluß geltend gemacht. Auch vertrauliche Mitteilungen rechtfertigen meine Ansicht. Nicht der Freispruch bei Reinthaller, sondern die Schuldsprüche bei Neumayer und Hueber wegen § 8 KVG hätten aufgehoben werden sollen; diese Überprüfungsanträge liegen aber unerledigt. Die Schande der Nazigesetzgebung dauert weiter an. Die Folgen können und werden nicht ausbleiben. Ich habe mich beeilt, Ing. Reinthaller kurz zu schreiben, daß er mit mir rechnen kann und ich, wie schon einmal, bereit bin, in einem allfälligen neuerlichen Verfahren ganz in die Bresche zu springen. Du wirst ja sicher wieder in einem solchen Fall zu meiner Rechten sitzen. 828 Schreiben von Dr. Tiefenbrunner an Dr. Günther vom 28. Mai 1951 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. Vgl. aus dem in Abschrift im Rechtsanwaltshandakt Dr. Tiefenbrunner befindlichen Schreiben von Dr. Günther an Ing. Reinthaller vom 31. Mai 1951: „[…] Kollege Dr. Tiefenbrunner sagte mir, daß er sehr deutlich geworden sei. Ich war mit ihm schon vor dem Prozeß gelegentlich bei Dr. Eichler und bei Dr. Apeltauer und weiß, wie deutlich er wird. Ich kann mir daher schon vorstellen, daß er dem Präs. Dr. L. allerhand Wahrheiten gesagt hat. […].“

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Der Strafprozess im Detail

Wie dem auch sei, Reinthaller soll nicht verzagen, wir tun es auch nicht! Nach jeder Nacht kommt der Tag, jedes Unrecht wird einmal die Wiedergutmachung erfahren. Die Aufhebung des Schuldspruches durch den OGH nach verhältnismäßig so kurzer Zeit wirft ein Schlaglicht auf die Einstellung mancher maßgebender Männer. Wir werden in Fühlung bleiben. Meine neuerliche Absicht, Reinthaller zu besuchen, scheiterte, weil ich wiederum in der Nacht von Tirol her durchgefahren bin. Nötigenfalls bin ich bereit, jederzeit zu kommen, wenn es sein muß. Ein allfälliges wieder aufgerolltes Verfahren müßte diesmal wohl vor dem VG Linz durchgeführt werden, denn Reinthaller befindet sich ja dort und ist schon letztes mal nur unter Bruch der Zusage und der Nichteinhaltung der Auslieferungsbedingung nach hieher gebracht worden. Ob und inwieweit sogar eine Verhaftung im Bereich der Möglichkeit liegt, will ich auf den ersten Anhieb hin nicht ohne weiteres annehmen; allein man müßte aufgrund der üblen Erfahrungen geradezu auf alles gefaßt sein. Du wirst sicher in nächster Zeit mit unserem Freund Ing. Reinthaller mündlich sprechen. Es läßt sich der ganze Fragenkomplex viel leichter erörtern. Die Nichtwahl Dr. Gleißners zum Bundespräsidenten ist eine große Enttäuschung und wie ich persönlich glaube auch nach vieler Hinsicht ein großer Nachteil; dies wird sich wohl erweisen. Alte und eingefleischte ehemalige Nazi haben gemeinsam mit den Kommunisten rot gewählt; ich komme hier nicht mehr mit. Meine Auffassung über Geradlinigkeit ist anders. Am allergrößten aber ist hier die Ungeschicklichkeit und Dummheit der Bürgerlichen und hier kann ich auch führende Politiker nicht ausnehmen. Sie haben sich sozusagen selbst den Boden unter den Füßen gezogen. Vielleicht ist nunmehr diese Wahl noch in letzter Minute als dringendes Warnzeichen einer zukünftigen Einigung auf einer gemeinsamen Plattform unter allen Bedingungen zu werten. […] Wenn etwa Ing. Reinthaller das Bedürfnis nach einer persönlichen Aussprache mit mir vielleicht auch in Deinem Beisein haben sollte, bin ich der Dringlichkeit der Sache halber jederzeit bereit! Ich bin für ganze Arbeit, wenn sie gefordert wird. […]

8.4 Das Verfahren vor dem Volksgericht Linz

Nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs hatte das Volksgericht mittlerweile neben der Verurteilung nach § 10 und § 11 VG auch eine Verurteilung nach § 8 KVG und von nunmehr diesen zwei Verurteilungen ausgehend auch eine neue Strafbemessung vorzunehmen. Die Verteidigung konnte jedoch bewirken, dass der Bundespräsident mit Entschließung vom 11. August 1951 den wegen des Vorwurfs nach § 8 KVG geführten Teil des Strafverfahrens niederschlug, sodass das Volksge-

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richt Wien diesen Teil des Strafverfahrens am 09. Oktober 1951 einstellte.829 Dann wurde das Verfahren auf Antrag des Dr. Tiefenbrunner830 u.a. aufgrund des Wohnsitzes von Ing. Reinthaller und aufgrund des Umstands, dass der Vorwurf der angeblichen Illegalität vor allem das Wirken Reinthallers in Oberösterreich betrifft, dem Volksgericht Linz delegiert831, was bedeutet, dass dem Volksgericht Linz die Zuständigkeit für dieses Strafverfahren übertragen wurde. Dem Volksgericht Linz blieb zu diesem Zeitpunkt nur die Aufgabe, auf Basis des vom Obersten Gerichtshof nicht aufgehobenen und damit bindenden Teil des Urteils des Volksgerichts Wien vom 26. Oktober 1950 mit dem nach § 10 und § 11 VG erfolgten Schuldspruch eine neuerliche Strafzumessung vorzunehmen, was es mit Urteil vom 07. Mai 1952 tat, wobei es bei der Strafbemessung milder war als das Volksgericht Wien und anstelle einer Freiheitsstrafe von drei Jahren schweren Kerkers nur eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren schweren Kerkers verhängte.832 Dabei rechnete es, wie gesetzlich vorgesehen833, die von Reinthaller zugebrachten Vorhaftzeiten – Lagerhaft, Verwahrungshaft und Untersuchungshaft – in der Gesamtdauer vom 28. August 1945 bis zum 13. November 1948 und vom 01. Juli 1949 bis zum 26. Oktober 1950 (als dem Datum des Volksgerichts Wien in dieser Strafsache gefällten Ersturteils und der an diesem Tag auf Anordnung des Gerichts erfolgten Enthaftung Reinthallers) auf die verhängte Strafe an. Allerdings hatte Rechtsanwalt Dr. Karl Günther bereits am 23. April 1952 einen auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens wegen neuer Tatsachen und Beweismittel gerichteten Antrag an das Volksgericht Linz gesendet.834 Darin legte Dr. Günther im 829 Siehe Kapitel 4.4. und 6.4. 830 Durchschrift des Delegierungsantrags vom 27.02.1952 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner, worin auch geltend gemacht wird, dass in Österreich nach wie vor eine „Demarkationslinie“ besteht und der bei neuerlichen Verhandlungen vor dem Volksgericht Wien erforderliche Aufenthalt des Ing. Reinthaller in der östlichen Besatzungszone mit der Gefahr einer Verhaftung durch die Besatzungsmacht verbunden wäre. 831 § 63 StPO 1873. 832 Urteil Volksgericht Linz vom 07.05.1952 zu Vg 10 Hv 46/52. 833 § 55 a StG. 834 Abschrift des Wiederaufnahmeantrags des RA Dr. Karl Günther vom 23.04.1952 nach § 353 Z. 2 StPO im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner. § 353 StPO 1873: „Der rechtskräftig Verurteilte kann die Wiederaufnahme des Strafverfahrens selbst nach vollzogener Strafe verlangen: 1. […] 2. wenn er neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt, welche allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet erscheinen, seine Freisprechung oder die Verurteilung wegen einer unter ein milderes Strafgesetz fallenden Handlung zu begründen, 3. […].“

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Namen seines Mandanten zunächst die beglaubigte Abschrift eines Briefes von Rudolf Heß vom 21. August 1934 vor, womit Reinthaller darauf hingewiesen wird, dass er keine Vollmacht zur Führung der österreichischen Nationalsozialisten oder der NSDAP in Österreich hat und auch nicht ermächtigt ist, für die Nationalsozialisten zu handeln. In diesem Brief wird Reinthaller von Heß auch nicht mit der obligaten Anrede „Parteigenosse“ adressiert, in diesem Brief ist außerdem nicht der obligate Gruß „Heil Hitler“ enthalten. Mit diesen Umständen wollte Dr. Günther belegen, dass Reinthaller auch nicht von höchster Stelle der NS-Bewegung als deren Mitglied angesehen wurde. Aus diesem Antrag ergibt sich auch, dass Reinthaller nach seiner am 26. Oktober 1950 erfolgten Enthaftung die nunmehrige Gelegenheit nutzte, Unterlagen zu sichten und beizuschaffen. Unter Bezugnahme auf den Umstand, dass die Zeugen Dr. Heinrich Gleißner und Peter Revertera-Salandra unabhängig voneinander übereinstimmend mitteilten, dass sie Reinthaller stets polizeilich überwachen ließen und dabei „niemals eine illegale Betätigung oder eine Verbindung mit der illegalen Partei während der Verbotszeit festgestellt werden konnte“, das Volksgericht Wien in seiner Beweiswürdigung aber meinte, dass „keine Sicherheitsbehörde alle strafbaren Verfehlungen festzustellen in der Lage ist“, legte Dr. Günther zwischenzeitlich von Ing. Reinthaller ausgehobene Korrespondenz, die er in der Verbotszeit mit Regierungsstellen geführt hatte, vor, und Protokolle über Sitzungen von Vertretern der damaligen Regierung und Repräsentanten der nationalen Opposition, womit Dr. Günther belegte, dass Reinthaller bei der damaligen Regierung eines besondere Vertrauensposition hatte, was gegen eine illegale Betätigung Reinthallers spricht. Zudem legte Dr. Günther von Reinthaller stammende Rundschreiben vor, die an Vertrauensmänner der Aktion Reinthaller ausgesendet worden waren, womit Reinthaller „jedwede Verbindung zur illegalen NSDAP“ untersagte. Des Weiteren wies er Rundschreiben und Korrespondenz vor, aus denen sich auch eine Betätigung Reinthallers auf dem agrarpolitischen Sektor ergibt, die in Verbindung mit der Vaterländischen Front erfolgte. Dr. Günther verwies auch darauf, dass es „für einen Illegalen fast schon unmöglich“ gewesen sei, „bei der strengen Überwachung durch die Sicherheitsbehörden und die Funktionäre der Vaterländischen Front in der damaligen Zeit einen Reisepaß zu bekommen“. Es sei „ganz unmöglich“ gewesen, „für einen Illegalen, von den Sicherheits- und Paßbehörden eine Ausreisegenehmigung nach dem deutschen Reiche zu erlangen“. Er belegte, dass Reinthaller „von der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck im Einvernehmen mit der Sicherheitsdirektion“ einen österreichischen Reisepass erhielt und die Sicherheitsdirektion an Reinthaller wiederholt Bewilligungen zur Ausreise nach Deutschland erteilte und „am 23. September 1936 sogar ein Dauervisum, das bis 1938 Geltung hatte“. Das machte (Dr. Günther namens) Reinthaller geltend als „überzeugenden Beweis dafür,

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daß ich tatsächlich nicht der illegalen NSDAP angehörte, sondern sich die Regierung und die Sicherheitsbehörden bei mir überzeugt hatten, daß ich ein parteiunabhängiger Vertreter der nationalen Richtung gewesen bin“. Des Weiteren wurde in diesem Wiederaufnahmeantrag geltend gemacht, dass Reinthaller aufgrund seines Erfassungsantrages seine alte Mitgliedsnummer 83.421, das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP, die Dienstauszeichungen der NSDAP in Bronze und Silber und den SS-Ehrenrang nur erhalten hatte, weil er eine prominente Stellung hatte, und weil das – wie auch vom Zeugen Schachermayer in der Hauptverhandlung ausgesagt – vom damaligen Reichsschatzmeister Schwarz befürwortet wurde. Hinsichtlich des Ehrenrangs verwies er auf gleichermaßen prominente Personen wie Franz Langoth und Franz Hueber, die einen derartigen SS-Ehrenrang oder SA-Ehrenrang als „Begünstigungen seitens der Reichsstellen“ erhalten hatten. Zu dieser Thematik legte Reinthaller in weiterer Folge durch Dr. Otto Tiefenbrunner mit dessen Eingabe vom 15. Juli 1952 eine weitere Eidesstattliche Erklärung des damaligen Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft Walther Darré vor.835 Darin werden folgende Informationen mitgeteilt: Ich war von 1933 bis 1942 Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und Reichsbauernführer in Deutschland. Aus meiner Kenntnis der damaligen Verhältnisse bestätige ich die Richtigkeit folgender Tatsachen an Eides statt. Ing. Anton Reinthaller wurde 1938 österreichischer Landwirtschaftsminister. Er hatte vor 1933 der NSDAP in Österreich als Mitglied angehört. Als diese Partei damals in Österreich verboten wurde, schied er aus dieser Partei aus und wurde erst 1938 nach der Besetzung Österreichs wieder Mitglied der Partei. Die Reichsleitung der Partei in München – Reichsschatzmeister – verfuhr beim Ausscheiden von Mitgliedern folgendermaßen: In der Kartei blieb das alte Karteiblatt des ausgeschiedenen Mitglieds stehen. Trat dieses ausgeschiedene Mitglied später wieder in die Partei ein, so wurde der Wiedereintritt auf dem alten Karteiblatt vermerkt, wobei das Mitglied automatisch wieder die alte Mitgliedsnummer erhielt. Auch Reinthaller erhielt bei seinem Wiedereintritt 1938 automatisch die Mitgliedsnummer wieder, die er vor 1933 gehabt hatte. Da diese Mitgliedsnummer unter 100.000 lag, hätte er auch das goldene Parteiabzeichen ohne weiteres erhalten, welches die Mitglieder unter der Nummer 100.000 allgemein erhielten. Gegen diesen Verleihungsantrag wendete sich 1938 die für Reinthaller zuständige österreichische Gauleitung mit der Begründung, Reinthaller habe 1933 bis 1938, also während 835 Abschrift der Eingabe des Dr. Otto Tiefenbrunner beim „Volksgericht beim Landesgericht Linz/ Donau“ vom 15.07.1952 zu Vg 10 Vr 527/52 samt Abschrift der „Eidesstattlichen Versicherung“ des Walther Darré vom 09.07.1952 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner.

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der sogenannten illegalen Zeit, der Partei nicht angehört und habe auch keine Mitgliedsbeiträge bezahlt. Dieser Widerstand der österreichischen Gauleitung wurde durch gemeinsame Intervention des seinerzeitigen Reichsleiters Schwarz und meiner Person beseitigt. Auf diese Weise wurde Reinthaller die alte Parteinummer zuerkannt und das goldene Parteiabzeichen verliehen. Ich setzte mich deshalb für Reinthaller ein, weil ich ihn als eine absolut untadelige, ehrenhafte und menschlich in jeder Beziehung einwandfreie Persönlichkeit kannte und schätzte. Reinthaller war aus Idealismus zur Partei gekommen. Sein unausgesetztes Bemühen galt nur dem Wohl der österreichischen Landwirtschaft und dem Bergbauerntum. Wenn es gelungen ist, die wirtschaftliche und soziale Lage des Bergbauerntums, soweit dies überhaupt möglich war, zu heben, so ist dies in erster Linie der Arbeit Reinthallers zuzuschreiben. Ich habe seinerzeit Reinthaller in das Reichsernährungsministerium berufen, damit er dort in noch umfassenderer Weise für das Bergbauerntum tätig werden konnte.

Im Wiederaufnahmeantrag vom 23. April 1952 erklärte Reinthaller ansonsten den Umstand, dass er Anfang des Jahres 1934 vorübergehend im Anhaltelager Kaisersteinbruch836 inhaftiert war, was das Volksgericht Wien in seiner Beweiswürdigung als belastendes Indiz für eine illegale Betätigung angesehen hatte, damit, dass damals im Zuge einer „kumulativen Sicherungsmaßnahme wegen der Terrorakte der illegalen NSDAP“ nicht nur illegale Nazis, sondern auch ehemalige Funktionäre der NSDAP und generell Personen, die zu „den Führern der nationalen Richtung“ gehörten, inhaftiert worden seien. Schließlich legte Dr. Günther in dem Wiederaufnahmeantrag für Reinthaller auch eine beglaubigte Abschrift „eines Aufrufes der Gauleitung Wien der illegalen NSDAP vom 04. Dezember 1934 in der illegalen Zeitung „Der Kampfruf“ vor, in welchem ausdrücklich festgestellt wurde, „daß Reinthaller nicht zu den illegalen Führern gehört und nicht berechtigt ist, namens der NSDAP Erklärungen abzugeben“, sowie eine schriftliche Weisung der illegalen Gauleitung der NSDAP, in der festgestellt wurde, dass Reinthaller nicht der illegalen Partei und deren Leitung angehört und seine Aktion mit der NSDAP nichts zu tun hat, sondern von ihr restlos abgelehnt wird. Schließlich wurde in dem Wiederaufnahmeantrag auch vehement propagiert, eine Zeugenvernehmung von Dr. Schuschnigg über die Bildung des Interimskabinetts Seyß-Inquart zu bewirken.

836 Im Bericht des Bundeskanzleramts zu G.D. 309.856 – St. B. vom 20.03.1936, 11f, wird als Ort der vom 17.01. bis zum 25.04.1934 erfolgten Inhaftierung nur das Anhaltelager Wöllersdorf angeführt. Zunächst dürfte Reinthaller jedoch im Anhaltelager Kaisersteinbruch inhaftiert gewesen sein (Vernehmungsprotokoll Landesgericht für Strafsachen Wien zu Vg 7d Vr 383/46 – 39, AS 153c verso, OÖ Landesarchiv). Zu den Anhaltelagern Kaisersteinbruch und Wöllersdorf siehe Pia Schölnberger, Das Anhaltelager Wöllersdorf 1933–1938, Wien 2015.

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Der Wiederaufnahmeantrag endete mit scharfen Worten: „Es wäre endlich an der Zeit, daß über die Vorgänge zwischen 09. und 13.03.1938 ohne parteipolitische Mißgunst und ohne Rücksicht auf die Fiktionen des VG und des KVG von einem Gerichtshof versucht würde, die objektive Wahrheit zu ergründen.“ Von Dr. Günther wurde u.a. vorgelegt eine schriftliche Mitteilung des Hans Brucker mit Informationen zum Gegensatz zwischen Ing. Reinthaller und den extremen und später auch illegalen Nazis: Ich Endesgefertigter war ab Februar 1932 bis zum Verbot der Partei als „geschäftsführender Gaufachberater Oberösterreich“ bei der Ns. Bauernschaft tätig und unterstand in dieser Funktion dem damaligen „Landwirtschaftlichen Landesfachberater“ für Österreich Ing. A. Reinthaller. Ich habe die Entwicklung der Ns. Bauernschaft von ihrer Gründung an somit unmittelbar erlebt und kann bezeugen, daß Ing. Reinthaller die Selbständigkeit der Ns. Bauernschaft gegenüber der Landesparteileitung mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln wahrgenommen hat und die sich wiederholenden Einmischungen Habichts und seines Sekretärs Steinert immer zurückgewiesen hat. Diesem Umstande entsprang der sich immer mehr zuspitzende Konflikt zwischen Ing. Reinthaller und Habicht, welcher im Jahre 1932 seinen Höhepunkt in der Absetzung Ing. Reinthallers durch Habicht fand. Obgleich über Einspruch des damaligen Landesleiters Proksch Habicht die bereits ausgesprochene Absetzung zurückziehen mußte, konnte von einer gedeihlichen Zusammenarbeit der beiden Männer nicht mehr gesprochen werden. Ihr Verhältnis zueinander war ein permanent gespanntes. Die Aberkennung der Parteimitgliedschaft sämtlicher öffentlicher Beamter und Angestellter durch den Landesleiter im Mai 1933 bot Habicht die Handhabe, von Reinthaller sämtliches Schriftenmaterial über die Ns. Bauernschaft abzufordern. Von diesem Zeitpunkt ab war Reinthaller praktisch ausgeschaltet. Ich wurde am selben Tage wie Reinthaller – Ende Juni 1933 – aus der Vorbeugungshaft im Kreisgerichte Wels entlassen und hatte damals Gelegenheit, mit dem Genannten einige Stunden zusammen zu sein. Reinthaller unterzog damals mir gegenüber die Politik Habichts einer schonungslosen Kritik und betonte im Besonderen, daß die Österreichfremdheit des uns aufoktroyierten Landesinspekteurs vor allem zu dem politischen Unglück der Politik der NSDAP geführt habe. Ing. Reinthaller fand bittere Worte über die damals schon durchgesickerte Absicht, der Reichspolitik in München, eine Landesleitung für Österreich zu errichten, und erklärte mir gegenüber wörtlich, daß er nicht gesonnen sei, diese Desperado-Politik mitzumachen, sondern sich vollkommen zurückzuziehen, außer er werde gerufen um einem inneren Frieden Bahn zu brechen. Ing. Reinthaller wollte die Führung A. Hitlers über die österreichische Regierung nur ideologisch anerkannt wissen ähnlich jener von Karl Marx für die Sozialdemokratische Partei.

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Der Strafprozess im Detail

Daß sich in weiterer Folge Ing. Reinthaller der Landesleitung München gegenüber abtrünnig erwies und gegen den Willen dieser und trotz scharfer Angriffe von Seiten der österreichischen illegalen Parteiführung in Verhandlungen mit österreichischen Regierungsstellen eintrat, ist allgemein bekannt.

Mit Eingabe vom 04. Juni 1952837 legte Dr. Günther u.a. eine Erklärung des Matthäus Mittermair vor, deren Inhalt den Erfassungsantrag nicht nur relativiert, sondern dessen Richtigkeit sehr in Zweifel zieht: Ich war von 1932/1933 Geschäftsführer der NS-Bauernschaft Österreichs, deren Leiter Ing. Anton Reinthaller, Attersee Oberösterreich war. Im Frühjahr 1933 wurde Ing. Rein­ thaller vom reichsdeutschen Landesinspekteur Theo Habicht seiner Funktion entkleidet. Ich hatte damals von Ing. Reinthaller alle die NS-Bauernschaft betreffenden Unterlagen abzufordern und Herrn Habicht zu übergeben. Die Absetzung erfolgte, weil Ing. Reinthaller alle reichsdeutschen Lenkungsversuche und die damit verbundene Einmischung in die österreichische Innenpolitik schärfstens bekämpfte. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß Ing. Reinthaller von diesem Tage an bis zur Berufung in das Seyß-Inquart-Kabinett in der NSDAP keine wie immer geartete politische Funktion mehr bekleidete. Ich stütze mich dabei auf folgende Tatsachen: 1.) Ich war in der Verbotszeit illegaler Funktionär und bin als solcher abgeurteilt. In dieser meiner Eigenschaft habe ich mich nach dem Parteiverbot mehrere Male bemüht, Ing. Rein­ thaller zur Mitarbeit zu gewinnen. Reinthaller hat jedes Mal entschieden abgelehnt. Ein Versuch des damaligen Gauleiters Bolek, dies durch persönliche Freunde Reinthallers, wie dem Lehrer Lengauer zu erreichen, schlug ebenso fehl. Reinthaller galt in unseren Reihen als Abtrünniger! 2.) Nach dem Juliputsch 1934 lud mich Reinthaller zu einer Zusammenkunft ihm von früher her bekannter Nationalsozialisten. Hiebei eröffnete er uns, daß er im Einvernehmen des Sicherheitsdirektors von Oberösterreich Graf Revertera handle. Reinthaller wollte uns, unter Aufbietung seiner ganzen Überzeugungskraft, von unserer Einstellung abbringen. Er machte keinen Hehl daraus, daß er das Vertrauen des Bundeskanzlers Schuschnigg genieße. 3.) Diese Bemühungen Ing. Reinthaller’s wurden sodann von der illegalen Gauleitung aufgegriffen und Reinthaller in einigen Flugblättern schärfstens angegangen. Ich erinnere mich genau, daß in diesen Flugblättern stets dargetan wurde, daß R. seit dem Parteiverbot nichts mehr mit der NSDAP zu tun habe und er sich seinerzeit schon durch den Streit mit 837 Abschrift der Eingabe des RA Dr. Günther vom 04.06.1952 an das Volksgericht Linz zu Vg 10 Vr 527/52 samt Abschriften der dazugehörigen Beilagen im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner.

Das Verfahren vor dem Volksgericht Linz

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Habicht der Mitgliedschaft begeben habe. Als Regierungsvertrauensmann sei er von der NSDAP schärfstens abzulehnen und zu bekämpfen. Wer mit ihm verhandle, dürfe sich nicht mehr zur NSDAP gehörig betrachten. Diese Flugblätter habe ich später im Gauarchiv der NSDAP wiedergefunden und müßten in den sichergestellten Akten der NSDAP aufliegen. 4.) Als späterer Gaupersonalamtsleiter von Oberdonau weiß ich, daß Gauleiter Eigruber die Deklarierung Reinthallers als illegalen Mitkämpfer schärfstens ablehnte, ihn nie zu deren Zusammenkünfte einladen und teilnehmen ließ. 5.) Eigruber machte größte Schwierigkeiten, als Reinthaller die Wiederzuteilung seiner alten Mitgliedsnummer anstrebte. Wenn Reinthaller am Ende diese Mitgliedsnummer trotzdem erhielt, verdankte er dies ausschließlich seinen hohen Gönnern im Reichsnährstand, aber nicht den formulierten Angaben über seine Parteitätigkeit. Eigruber stellte seinen offenen Widerstand erst über Bedeuten von „Oben“ ein. Schließlich war es für Eigruber wichtig, mit der Führung des Reichsnährstandes ein gutes Verhältnis zu haben. 6.) Mit der Wiedererlangung der alten Mitgliedsnummer, die eine unter Hunderttausend war, war der Weg für die Verleihung des goldenen Ehrenzeichens und der Dienstauszeichnungen frei. In der Folgezeit mußten diese zwangsläufig verliehen werden. Den Antrag über die Dienstauszeichnungen habe ich als der zuständige Gauamtsleiter selbst bearbeitet und weitergeleitet. Ich weiß, wie schwer es mir wurde, eine Parteitätigkeit für Reinthaller nachzuweisen, zumalen ich seine Einstellung während der illegalen Zeit aus eigener Erfahrung kannte. Zusammenfassend kann ich daher zur Person Ing. Anton Reinthaller’s mit gutem Gewissen behaupten, daß dieser seine alte Mitgliedsnummer und dadurch in weiterer Folge das goldene Parteiabzeichen und die Dienstauszeichnungen der NSDAP zu Unrecht und nur dank seiner hohen Gönner im Reichsnährstand erhalten hat.

Vom Volksgericht Linz wurde nun eine Reihe der beantragten Zeugenvernehmungen durchgeführt. Unter anderem wurde auch Dr. Walter Riehl einvernommen, eine Art „Nazi-Insider der ersten Stunde“.838 Dr. Riehl konnte mit seiner Aussage bestä838 Dr. Walter Riehl ist eng mit der Entstehungsgeschichte der NSDAP verbunden. Deren Vorgängerparteien waren die 1903 gegründete DAP – Deutsche Arbeiterpartei und die daraus hervorgegangene, im Jahr 1918 gegründete DNSAP – Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (dazu eingehend Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration, Wien, Köln, Weimar 2005, 479ff). Nach dem gescheiterten Hitler-Putschversuch in München vom 08. und 09.11.1923 kam es bei der österreichischen DNSAP zu einer Spaltung zwischen der Schulz-Bewegung einerseits und andererseits des Kreises um Rechtsanwalt Dr. Walter Riehl, der sich im Deutschsozialen Verein vereinigte. Im Mai 1926 erfolgte durch Richard Suchenwirth, vormals Suchanek, die Gründung der NSDAP in Österreich als „Hitler-Bewegung“, in der sich die Nazis vereinigten und in der auch der Deutschsoziale Verein aufging. Zum späteren Lebensweg des Walter Riehl siehe Michael Wladika, ibid. 634ff.

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Der Strafprozess im Detail

tigen, dass Reinthaller bei den illegalen Nazi in Österreich auf großen Widerstand stieß.839 Vernommen wurde auch Bundeskanzler Ing. Dr. Leopold Figl, der angab, dass Reinthaller nach seinen Wahrnehmungen während der Verbotszeit nicht illegal tätig war und auch nicht als illegaler Nazi angesehen werden kann, weil er damals in einer Befriedungsaktion für die Österreichische Regierung tätig war. Die Staatsanwaltschaft Linz sprach sich gegen die Wiederaufnahme des Strafverfahrens aus. Dennoch fällte das Volksgericht Linz am 12. Jänner 1953 den Beschluss auf Wiederaufnahme des gegen Ing. Reinthaller nach § 10 und § 11 VG geführten Strafverfahrens und hob das Urteil des Volksgerichtes Wien vom 26. Oktober 1950, „soweit es den Ausspruch über die Schuld nach §§ 10, 11 Verbotsgesetz betrifft“, sowie sein eigenes Urteil vom 07. Mai 1952 zur Gänze auf. In der Begründung stützte es diesen Beschluss auf eine Reihe der auf Antrag der Verteidigung aufgenommenen Beweise, insbesondere auf die im Wiederaufnahmeverfahren vorgelegte Eidesstättige Erklärung Walther Darrés, die Zeugenaussage Dr. Riehls und die Zeugenaussage Dr. Figls. Das Volksgericht Linz konstatierte auch, dass es eine neue Entscheidung nur nach Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und einem darin erfolgenden, eingehenden Beweisverfahren treffen kann: Die oben angeführten Beweise stellen aber doch nach Ansicht des Volksgerichtes neue Tatsachen und Beweise dar, die insbesondere in Frage stellen könnten, ob Reinthaller dem Personenkreis des § 10 Verbotsgesetz zu unterstellen sei. Im verneinenden Falle müßte Reinthaller vom Verbrechen des Hochverrates [Anm.: jenes nach § 10 VG] freigesprochen werden. Diese Frage aber muß vom Volksgericht im Rahmen einer Hauptverhandlung neu und insbesondere in der Richtung geprüft werden, wann und aus welchem Grunde Ing. Reinthaller aus der NSDAP ausgeschlossen wurde und zu welchem Zeitpunkte und über wessen Begünstigung er wieder mit der alten Mitgliedsnummer in die Partei aufgenommen worden ist. Erst die Lösung dieser Fragen läßt eine zweifelsfreie Feststellung im Sinne des § 10 Verbotsgesetz zu. Aus diesem Grunde hat das Volksgericht dem Wiederaufnahmsantrag Folge gegeben und die im Spruch zitierten Urteile für aufgehoben erklärt, um die Frage der Schuld des Wiederaufnahmswerbers im Sinne des Verbrechens des Hochverrates in einem neuen Verfahren prüfen zu können.

Zu einer solchen neuen Hauptverhandlung und einer damit erfolgenden restlosen Klärung kam es aber nicht mehr, weil der Bundespräsident mit Entschließung vom 839 Wobei anzumerken ist, dass Riehl selbst im Gegensatz zu den Radikalen wie Habicht stand und deren Terrormethoden ablehnte (siehe im Detail Michael Wladika, ibid. 636).

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12. Juni 1953 Reinthaller auch soweit begnadigte, dass er ihn gemäß § 27 VG von der Anwendung des § 10 und des § 11 VG ausnahm.840 Das Volksgericht Linz stellte daher mit Beschluss vom 06. Juli 1953 auch dieses restliche gegen Ing. Reinthaller geführte Strafverfahren endgültig ein.841

840 Begnadigung nach § 27 VG, siehe Kapitel 4.4. und 6.4. 841 Verständigung des Volksgerichts Linz vom 06.07.1953 zu Vg 11 Vr 998/53 im Rechtsanwaltshandakt Dr. Otto Tiefenbrunner.



9. Schlusswort Ing. Anton Reinthaller war ein politischer Idealist. Er war von nationaler Gesinnung, prästierte aber kein Lagerdenken, wie es in Österreich leider besonders verbreitet und ausgeprägt war und noch immer ist842, sondern verhielt sich Menschen gegenüber, unabhängig von deren politischer Einstellung und Parteizugehörigkeit, sachlich und korrekt. Parteipolitik war für ihn subsidiär, und prioritär war für ihn Sachpolitik für die Landwirtschaft. Reinthaller war um anständiges und redliches Verhalten bemüht und lehnte Gewaltmethoden ab. So gehörte er in Österreich den gemäßigten Nationalsozialisten an, die im Gegensatz zu den extremen Nazis standen, die wiederholt radikale Handlungen wie Gewaltakte begingen und für das Attentat auf Dollfuß und den Juliputsch 1934 verantwortlich sind. Während eines Teils der Zeit des Verbots der Betätigung für die NSDAP in Österreich betrieb Reinthaller seine Befriedungsaktion, womit er versuchte, einen Ausgleich zwischen dem nationalen Lager und der Vaterländischen Front zu erreichen. Das nationale Lager umfasste weit mehr als nur NS-Protagonisten. Die Aktion Reinthaller erfolgte im, wenngleich inoffiziellen Einvernehmen mit maßgeblichen Repräsentanten der Vaterländischen Front und der Regierungsstellen des Ständestaats. Die Aktion Reinthaller stand im Gegensatz zu den radikalen österreichischen Nationalsozialisten, die daher gegen diese Aktion agierten. Reinthaller war zwar bereits vor der Verbotszeit Mitglied der österreichischen NSDAP, aufgrund dieser Umstände ist aber davon auszugehen, dass er sich entgegen dem erhobenen Vorwurf in der Verbotszeit nicht illegal für die NS-Bewegung betätigte. Die Wiederbetätigungsbestimmungen des Verbotsgesetzes mit den Verboten nationalsozialistischer Betätigungen sind in die Zukunft gerichtet und fungieren von ihrem Grundansatz her zum Schutz der Demokratie. Generell sollte ein demokratisches System keine Parteien zulassen müssen, die antidemokratisch sind. Die Demokratie muss zu ihrem eigenen Schutz Parteien, Bewegungen oder sonstige Initiativen, die auf die Abschaffung der Demokratie oder auf eine Einschränkung von grundlegenden, für das Funktionieren der Demokratie wesentlichen Institutionen abzielen, von den demokratischen Prozessen ausschließen, um nicht zu ihrer eigenen Beseitigung missbraucht zu werden. So werden nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland die darin statuierten Grundrechte nur unter dem Vorbehalt gewährt, dass sie nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausge842 Vgl. die Aussage von Univ.-Prof. Dr. Gerhard Jagschitz: „Österreich ist keine entwickelte Demokratie“, über Demokratiedefizite und falsche Politinszenierung wie der Dämonisierung des politischen Gegners (www.kurier.at – Stand 04.02.2018).

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übt werden.843 Generell wird ein System konsequenterweise nicht zulassen, dass seine Einrichtungen und die von ihm gewährten Möglichkeiten so verwendet werden, dass sie gegen das System selbst und dessen Ziele gerichtet werden. So besteht auch nach der Missbrauchsklausel des Artikels 17 MRK kein Schutz der Menschenrechtskonvention (MRK) für jemanden, der gegen die darin statuierten Ideale agiert; z.B. besteht für jemanden, der sich rassistisch äußert oder auf die Abschaffung der in der MRK garantierten Rechte und Freiheiten abzielt, der in der MRK normierte Schutz für die Freiheit der Meinungsäußerung nicht.844 Man kann es auch pointiert mit Karl Popper sagen: „Der Toleranzgedanke verpflichtet dazu, intolerant zur Intoleranz zu sein“. Die Demokratie muss also weder ihre revolutionäre Abschaffung noch ihre eigene, auf evolutionärem Weg erfolgende Abschaffung zulassen. Dass gerade die nationalsozialistische Betätigung verboten ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass man sich aufgrund der von 1938 bis 1945 erfolgten Entwicklung Österreichs bei diesem Verbot besonders auf die NS-Bewegung konzentriert hat. Für eine Gesamtlösung bedarf es aber eines generellen Verbots aller antidemokratischen Betätigungen, etwa auf autokratische Machtausübung gerichteter Bewegungen, insbesondere auch eines Totalitarismus stalinistischer Art. Von diesem Ansatz des Demokratieschutzes her waren auch Maßnahmen der bürokratischen Entnazifizierung konsequent, die Personen, bei denen eine nationalsozialistische Gesinnung anzunehmen oder wahrscheinlich war, von besonders einflussreichen Positionen ausgeschlossen haben, wie jenen bei Bildungseinrichtungen oder im Medienwesen, die im besonderen Ausmaß die Beeinflussung von Personen mit Verbreitung einer schädlichen Gesinnung ermöglichen. Verfehlt war die mit den Vergeltungsbestimmungen des Verbotsgesetzes (VG) normierte Kollektivverantwortung, womit es rückwirkend als strafbar eingestuft wurde, dass jemand in der Verbotszeit der NS-Bewegung angehört oder sich für diese betätigt hatte. Damit wurden einzelne Personen ungeachtet deren Gesinnung und Handlungen nachträglich kriminalisiert, auch wenn sie nichts mit den NS-Gewaltverbrechen oder sonstigen NS-Gräueltaten zu tun hatten. Eine solche Kollektivverantwortung 843 Art. 18 GG: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“ Siehe auch Art. 21 (1) GG: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. […].“ 844 Werner Röggla/Heinz Wittmann/Peter Zöchbauer, Praxiskommentar zum Medienrecht, Wien 2012, 187.

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widerspricht dem Prinzip der Individualschuld, wonach es nur auf die individuelle Vorwerfbarkeit von Straftaten ankommt. Damit erfolgt eine oberflächliche schematische Pauschalbetrachtung, die dem Einzelfall nicht gerecht wird. Sie normiert daher auch die Bestrafung Unschuldiger für die strafwürdigen Taten einzelner Anderer und ist damit abzulehnen (dazu in Kapitel 3.4.). Die rückwirkenden, auf die Ahndung von NS-Gewaltverbrechen gerichteten Strafbestimmungen des Kriegsverbrechergesetzes (KVG) waren eine angebrachte Sondermaßnahme, womit eine strafrechtliche Erfassung erfolgte, die von der Art und dem Umfang her der außergewöhnlichen Dimension der NS-Gewaltverbrechen und damit im Zusammenhang stehenden NS-Verbrechen entspricht (§ 1 bis § 7 KVG). Ausgenommen von dieser Beurteilung ist nur die damit statuierte Strafbarkeit einzelner Funktionen, bei denen sich anders als etwa bei leitenden Funktionären von NS-Vernichtungslagern nicht bereits aus der Funktion die Begehung von Gewaltverbrechen ergibt (dazu in Kapitel 3.3.2.). Eine rückwirkende Bestrafung einer politischen Betätigung und der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei ist nach der Menschenrechtskonvention, der Österreich (später, nach der Aufhebung des VG und des KVG) im Jahr 1958 beigetreten ist, und die in Österreich seit dem Jahr 1964 auch als Verfassungsgesetz gilt, nicht zulässig (Kapitel 5.7.). Auch das Volksgerichtsverfahrensgesetz entsprach nicht den Garantien der Menschenrechtskonvention (dazu in Kapitel 3.5.). Hingegen war es nach dem in der MRK zum Ausdruck kommenden überwiegenden soziologischen Konsens der zivilisierten Völker über die als eminent anerkannten grundlegenden Ideale zulässig und richtig, nachträglich rückwirkende Strafbestimmungen zur Ahndung der NS-Gewaltverbrechen zu erlassen und diese durchzusetzen (dazu in Kapitel 5.). Ing. Anton Reinthaller wurde auch die Mitwirkung bei dem am 13. März erlassenen Anschlussgesetz als Hochverrat zur Last gelegt. Dieses Verhalten war zum Zeitpunkt seiner Begehung nicht strafbar (dazu in Kapitel 4.3.2.2.). Es konnte nur nach der rückwirkenden Strafbestimmung des § 8 KVG als Förderung der NS-Machtergreifung strafbar sein. Bei der zum Teil vertretenen Annahme der Unwirksamkeit des Anschlussgesetzes (zu dieser Thematik in Kapitel 8.1.7.) ist fraglich, ob damit eine strafbare Handlung begangen werden konnte. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass mit dem Anschlussgesetz eine strafbare Förderung der NS-Machtergreifung begangen wurde, weil damit dem Anschluss der Anschein der Legitimität verliehen wurde (dazu in Kapitel 8.3.). Dieser Anschein bestand bereits durch den Umstand, dass das Anschlussgesetz der österreichischen Regierung zuzurechnen war und kundgemacht wurde. Bei dieser Betrachtung konnte auch der Umstand, dass die wesentlichen Schritte der NS-Machtergreifung bereits bis zum 12. März 1938 erfolgt waren, was an sich ausschließt, dass später mit dem Anschlussgesetz noch eine Förderung der

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NS-Machtergreifung begangen worden sein kann (dazu in Kapitel 8.1.6.2.), nichts an der Strafbarkeit nach § 8 KVG ändern. Auch die rückwirkende Strafbestimmung des § 8 KVG war nach den Maßstäben der MRK nicht zulässig, weil eine solche Strafbarkeit gegen das in der MRK enthaltene Rückwirkungsverbot verstößt und auch nicht von der Ausnahme von diesem Rückwirkungsverbot erfasst ist (dazu in Kapitel 5.7.; zur Kritik an dieser Bestimmung im historischen und verfassungsrechtlichen Kontext in Kapitel 6.2.4.). Ing. Reinthaller war letztlich ein fehlgeleiteter politischer Idealist (vgl. Kapitel 8.2.2.), wie ihm selbst vom politischen Gegner845 und letztlich vom Volksgericht Wien846 attestiert. Der Vergleich zu dem gegen Dr. Rudolf Neumayer im Jahr 1946 gefällten erstinstanzlichen Urteil (Kapital 6.2.) zu dem gegen Ing. Anton Reinthaller gefällten Urteil lässt – wenngleich die Verurteilungen wegen unterschiedlicher Delikte erfolgten, so doch hinsichtlich der Relation der Strafrahmen zur Dauer der verhängten Freiheitsstrafe – in Ansehung der Strafhöhe darauf schließen, dass die Bestrafung derartiger Fälle in späteren Jahren nicht mehr mit der gleichen Vehemenz erfolgte, wie in den ersten Nachkriegsjahren, in denen sichtlich ein größeres Bedürfnis bestand, an einzelnen Personen, die stellvertretend für viele Personen standen, die als Repräsentanten der NS-Machtergreifung angesehen wurden, ein Exempel zu statuieren. Für Ing. Reinthaller kann es daher eine günstige Fügung gewesen sein, dass er nach dem Krieg zunächst längere Zeit in Deutschland in Haft war und die Hauptverhandlung in dem gegen ihn geführten Strafverfahren erst später stattfand. Verfehlt war es, Reinthaller nach § 8 KVG zu verurteilen, wie vom Obersten Gerichtshof vorgesehen (siehe Kapitel 4.4., insbesondere Kapitel 4.4.2.), aber dabei dessen Verurteilung nach § 10 und § 11 VG aufrecht zu erhalten, weil § 8 KVG als die speziellere Norm Anwendungsvorrang vor § 10 und § 11 VG hatte (siehe Kapitel 6.3.3.) und daher die Anwendung der letztgenannten Bestimmungen ausschloss. 845 Schreiben des Mathias Renner, KPÖ, Ortsgruppe Attersee, vom 17. Mai 1948, unter Hinweis darauf, dass die KPÖ sich nur von rein sachlichen Momenten leiten lasse und jeden gewissenhaft nach dem Charakter beurteile; vgl. aus der Eidesstättigen Erklärung des Eduard Hlouschek vom 07. Juli 1948: „Ing. Reinthaller dürfte wohl zu den ganz wenigen nationalsozialistischen Funktionären Österreichs gehören, welche ihre Stellung in Partei und Staat nicht mißbraucht und niemanden geschädigt haben, so daß wohl die Mehrzahl der Bevölkerung ihm nicht feindlich gesinnt ist, ihm vielmehr eine freundliche Gestaltung seiner Zukunft wünscht. Mit mir selbst verkehrte Ing. Rein­ thaller jederzeit und nach jeder Richtung hin loyal, obwohl ihm selbstverständlich bekannt war, daß ich engagierter Gegner des Nationalsozialismus und Anhänger der Sozialdemokratie war.“ (Beilagen 18 und 19 der Eingabe des RA Dr. Günther vom 09. Juli 1949 im Gerichtsakt des Volksgerichts Wien zu Vg 7c Vr 383/46, OÖ Landesarchiv). 846 Urteil des Volksgerichts Wien vom 26. Oktober 1950 zu Vg 1h Hv 238/50 (Vg 1h Vr 2068/49), S. 8.

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Aus einer Vielzahl unterschiedlicher, voneinander unabhängig abgegebener Stellungnahmen von Personen unterschiedlicher sozialer Stellung und politischer Gesinnung erweist Reinthaller sich in seinem Wirken als primär der Sachpolitik verschrieben. Er war gewiss auch ein politischer Mensch im weiteren Sinn und ist als solcher sichtlich für seine Überzeugung eingetreten. Als Gemäßigter ist er gegen radikale und menschenfeindliche Tendenzen aufgetreten und hat in seinen Funktionen gerade auch gegen Mitglieder der eigenen Partei couragiertes Auftreten gezeigt, in einigen Fällen zum Schutz sozial Schwächerer. Sein Leben und insbesondere sein politisches Wirken in der NS-Zeit ist frei von einer Verantwortung für Kriegsverbrechen, für NS-Verbrechen oder sonstige NS-Untaten und NS-spezifische Schädigungen von Menschen, und für sonstige kriminelle Handlungen, und frei von einer Verantwortung für eine Begünstigung aus solchen Taten. Es verbleibt letztlich nur die angeblich auch während der Verbotszeit erfolgte Mitwirkung in der NS-Bewegung an sich, die ihm zur Last gelegt wird. Allerdings attestieren ihm auch Mitglieder aus den völlig konträren politischen Lagern Idealismus und anständiges, sozial verantwortungsbewusstes Handeln. Eine Mitwirkung an der NS-Bewegung kann letztlich jedem zum Vorwurf gemacht werden, der sich in irgendeiner Weise befürwortend für die NS-Bewegung gezeigt hat, was eine Vielzahl von Menschen betrifft. Nicht jeder hat aber die radikalen und menschenfeindlichen Auswüchse dieser Zeit befürwortet, gar zum eigenen Vorteil ausgenutzt oder daran eigenverantwortlich mitgewirkt. Die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit war hinsichtlich der Personen, bei denen dies der Fall war, ein wichtiger Schritt zu einer zivilisierten demokratischen Gesellschaft. Mitunter erscheint aber die Grenzziehung zu Personen, die nicht zu den Gewaltverbrechern und Hauptverantwortlichen dieser Vergangenheit zählen, aufgrund ihrer Ungenauigkeit unzureichend. Gerade der vorliegende Fall zeigt, dass die mit Formalkriterien erfolgende schematische und oberflächliche Pauschalierung dem Einzelfall nicht gerecht werden kann und daher gerade bei besonders berücksichtigungswürdigen Umständen Härtefälle unvermeidbar sind. Eine Kollektivverantwortung ist abzulehnen, auch nach außerordentlichen Missständen. Die Betonung von Individualverantwortung bringt zwar im Regelfall eine aufwändigere Aufarbeitung des Einzelfalls mit sich, es kann aber nur so grundlegenden Gerechtigkeitserwägungen zum Durchbruch verholfen werden. Anton Reinthaller wurde, wenngleich nicht bei der Frage der Strafzumessung, so doch bei der Frage der Strafbarkeit an sich, nach geltenden Formalkriterien beurteilt, ohne dass – gemessen an strafrechtlichen Kernbereichen der Strafgesetzbücher zivilisierter Staaten und diesen immanenten sozialen Grundwertungen – ein strafwürdiges Verhalten im engeren Sinn vorlag. Die Korrektur eines unbilligen Ergebnisses konnte

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durch die vom Bundespräsidenten vorgenommenen Begnadigungen bewirkt werden (Kapitel 4.4.und Kapitel 7.4.). Der Fall zeigt auch die Problematik der juristischen Aufarbeitung historischer Ereignisse in gerichtlichen Verfahren. Diese Verfahren dienen der Wahrheitsfindung, nach der Strafprozessordnung gelten der Untersuchungsgrundsatz und das Prinzip der materiellen Wahrheit, wonach das Gericht von Amts wegen die entscheidungswesentlichen Umstände zu ermitteln hat (§ 3 StPO 1873; § 3 StPO 1975). Ankläger und Verteidiger haben jeweils die Möglichkeit zur Beweisführung. Nach der Zielsetzung des Parteienverfahrens soll sich gerade auch im Widerstreit zwischen Anklage und Verteidigung für das Gericht eine möglichst wahrheitsgetreue Information vom Bestehen oder Nichtbestehen der entscheidungswesentlichen Umstände ergeben. Aber was im Verfahren entscheidungswesentlich ist, bestimmt sich nach den Strafbestimmungen, nach denen die Anklage erhoben wird. Daraus ergibt sich ein bestimmter Fokus auf die historischen Ereignisse. Dieser Fokus kann zu eng sein und wird diesfalls ihrer Komplexität nicht gerecht, was gerade dann der Fall ist, wenn schematische Strafbestimmungen mit Formalkriterien anzuwenden sind. Zudem können diese anzuwendenden Strafbestimmungen tendenziös sein und damit von vornherein eine einseitige Betrachtung auferlegen. Die Aufgabe von Gerichtsverfahren ist zumeist die Ermittlung und Beurteilung vergangener Vorgänge und Situationen, wobei auch immer die Unterscheidung zwischen damaligem Informationsstand und damaliger prospektiver Betrachtung einerseits und jetzigem Informationsstand sowie jetziger retrospektiver Betrachtung andererseits zu berücksichtigen ist, sowohl bei der Sachverhaltsermittlung, z.B. bei der Einschätzung der damaligen Wahrnehmungen eines Zeugen, von denen dieser nunmehr berichtet, als auch bei der Beurteilung der Verantwortung einer Person, insbesondere nach der damaligen Ausgangssituation für deren Entscheidungen und Handlungen und deren damaligem Kenntnisstand. Berufsrichterinnen und Berufsrichter sind zur Objektivität verpflichtet und üblicherweise aufgrund ihrer professionellen Ausrichtung und ihrer berufsmäßig kritischen Sachverhaltsermittlung weniger anfällig für Beeinflussungen von außen. Gerade die Aufarbeitung umfangreicher und politisch umstrittener historischer Ereignisse, über die viel und divergierend berichtet wird und die Gegenstand von politischer Auseinandersetzung und Meinungsmache sind, stellt aber besondere Anforderungen an die Bewahrung der Objektivität und einer entsprechenden unvoreingenommenen Haltung, dies besonders bei der Außerachtlassung von beliebigen moralischen Eigenwertungen. Umfang und Komplexität von historischen Ereignissen, die Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sind, können es im Einzelfall unerlässlich machen, für eine mög-

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lichst sachliche und umfassende Sachverhaltsermittlung Historikerinnen und Historiker mit besonderer Fachkunde beizuziehen.

Zusammenfassung Agraringenieur Anton Reinthaller war ein gemäßigter Nationaler. Bei seiner politischen Betätigung erwarb er sich einen gewissen Bekanntheitsgrad. Vor dem erlassenen Verbot der Betätigung für die NSDAP in Österreich war er Mitglied der NSPAP. Reinthaller stand im Gegensatz zu den radikalen Nationalsozialisten, deren Gewaltmethoden er ablehnte. Während der Verbotszeit betrieb er eine nach ihm benannte Befriedungsaktion, die „Aktion Reinthaller“, mit der ein innerer Ausgleich zwischen dem – über die Gruppe der Nationalsozialisten hinausreichenden – gesamten nationalen Lager und der damals autokratisch regierenden Vaterländischen Front versucht wurde. Im März 1938 war er Mitglied der Regierung Seyß-Inquart, des sogenannten Anschlusskabinetts, und wirkte in dieser Eigenschaft am Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (Anschlussgesetz) mit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde gegen ihn vor dem Volksgericht ein Strafverfahren geführt wegen der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklage, er habe mit dieser Mitwirkung am Anschlussgesetz die in Österreich erfolgte NS-Machtergreifung gefördert und damit das Delikt des Hochverrats nach § 8 Kriegsverbrechergesetz (KVG) begangen. Auch habe er sich zudem während der Zeit des für die NSDAP in Österreich geltenden Betätigungsverbots (Verbotszeit) und daher illegal für die NS-Bewegung betätigt und damit das Delikt des § 10 Verbotsgesetz (VG) in der Deliktsqualifikation des § 11 VG begangen. Es erfolgt die Aufarbeitung dieses Strafverfahrens unter analytischer Betrachtung der darin gegenständlichen historischen Ereignisse sowie der staats- und völkerrechtlichen Komponenten des Falles. Dabei werden die angewendeten rückwirkenden Strafbestimmungen, der Hochverrat nach § 8 KVG und die Vergeltungsbestimmungen des VG einer kritischen Beurteilung unterzogen und im Kontext der Strafrechtsentwicklung erörtert. Besonderes Augenmerk wird auf die Thematik des Wechsels von Herrschaftssystemen und der Ahndung von Handlungen, die während des früheren Herrschaftssystems erfolgten und vom späteren Herrschaftssystem als verwerflich angesehen werden, gerichtet. Ebenso wird diskutiert, ob und unter welchen Voraussetzungen es bei der Etablierung einer Strafbarkeit sachgerecht ist, von einer Funktion wie einem Beruf oder einem Amt auf die Begehung strafbarer Handlungen zu schließen. Einbezogen wird auch die Differenzierung zwischen Individualschuld einerseits und andererseits Kollektivschuld; bei der Statuierung letzterer operiert man – wenn sie ohne Bezug auf einen konkreten verbrecherischen Akt etabliert wird – mit einer schematischen Betrachtung, womit man den Umständen des Einzelfalls nicht gerecht werden kann. Die Rückwirkung der Strafbestimmungen des § 10 und § 11 VG und des gesamten KVG wird auch nach dem Maßstab der Menschenrechtskon-

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Schlusswort

vention (EMRK) und unter Bezugnahme auf die spätere Entwicklung bei der nach deren Untergang erfolgten Ahndung von Staatshandlungen der DDR untersucht. Es wird ein Vergleich zwischen dem Strafverfahren gegen Anton Reinthaller und den gegen den Finanzminister des Kabinetts Seyß-Inquart, Dr. Rudolf Neumayer, und gegen den Justizminister dieses Interimskabinetts, Dr. Franz Hueber, durchgeführten Strafverfahren vorgenommen. Die Wechselwirkungen zwischen diesen Fällen werden aufgezeigt. Auch die im Zusammenhang mit diesem Fall Reinthaller erfolgte Medienberichterstattung mit ihrer politischen Komponente wird bei der Betrachtung des Falles berücksichtigt.



Abstract Anton Reinthaller was a moderate German nationalist. In his political activity he achieved some degree of popularity. Before the legal prohibition of the NSDAP (the Nazi Party) in Austria he was a member. Reinthaller opposed the radical National Socialists, whose methods of violence he rejected. During the time of the Austrian ban of the NSDAP he organized a mission for peace which was named after him, the „Aktion Reinthaller“, which had the purpose of trying to reach an understanding between the whole political group of the so-called “national opposition”, which included the Austrian National Socialists, and the authoritarian regime of the Vaterländische (Patriotic) Front. In march 1938 he was a member of the Cabinet Seyß-Inquart, the so-called „Anschlusskabinett“, which enacted the law for the reunification of Austria with the German Reich (Anschlussgesetz). After World War II there were criminal proceedings before the Volksgericht („Peoples Court“), where the prosecution filed an indictment against him with the accusation of having committed high treason according to § 8 Kriegsverbrechergesetz (KVG; law of retaliation for war crimes and other misdeeds of National Socialists) by his participation in enacting the Anschlussgesetz, and with having illegally acted for the National Socialist Movement during the period of the Austrian ban of the NSDAP and so having committed the crime of § 10 and § 11 Verbotsgesetz (VG; law of 1945 with the ban of the NSDAP and its organisations). This thesis examines the trial, including the accounts of witnesses of the historic events, and its relationship with constitutional and international law. The paragraphs of the KVG and the VG, which were applied ex post, are critically analyzed and discussed in the context of the development of criminal law. To a large extent the trial turned on the question whether holding a certain office automatically implied having been engaged in criminal activities during the Nazi regime. If acting on the principle of collective guilt, no specific criminal action had to be proven. The ex post nature of the criminal sanctions of § 10 and § 11 VG and the whole KVG is also examined in relationship to the standards of the European Convention on Human Rights (ECHR) and with reference to the later development of dealing with the governmental actions of the GDR after its decline. The thesis also tries to compare the trials against Anton Reinthaller with the ones against the minister of finance of the Cabinet Seyß-Inquart, Dr. Rudolf Neumayer, und against the minister of justice of this Cabinet, Dr. Franz Hueber, as there was an obvious connection between all three of them. Finally, the media coverage of the case and its political context is taken into consideration.



Abkürzungsverzeichnis aA anderer Ansicht aaO am angegebenen Ort Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch ABGB Abs Absatz Archiv der Republik AdR AdV Anmerkung des Verfassers aM anderer Meinung Anm. Anmerkung argumentum arg. Art Artikel Aktenseite AS AZ Aktenzahl BG Bundesgesetz Bundesgesetzblatt BGBl Bundesgerichtshof (Deutschland) BGH Bl. Blatt BMI Bundesministerium für Inneres BMJ Bundesministerium für Justiz BPD Bundespolizeidirektion BR Bundesrat Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE B-VG Bundes-Verfassungsgesetz CIC Counter Intelligence Corps Cartellverband CV Deutsche Arbeitsfront DAF Deutsche Arbeiterpartei DAP ders. derselbe DNSAP Deutsche Nationalsozialistische Arbeiter Partei Dok Dokument dRGBl. Deutsches Reichsgesetzblatt E Entscheidung ebd. ebendort EB Erläuternde Bemerkungen EMRK/MRK Europäische Menschenrechtskonvention FN Fußnote FPÖ Freiheitliche Partei Österreichs

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GBlÖ Gesetzblatt für das Land Österreich GDföS Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit Geschäftsordnung für die Gerichte I. und II. Instanz GEO GOG Gerichtsorganisationsgesetz 1945 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GG GP Gesetzgebungsperiode Hitlerjugend HJ Hrsg. Herausgeber Aktenkürzel der Hauptverhandlung Hv ibid. ibidem (ebenda) International Criminal Court ICC/IStGH idF in der Fassung idgF in der geltenden Fassung Internationaler Militärgerichtshof IMG im Sinne der/des iSd iVm in Verbindung mit JBl Juristische Blätter JN Jurisdiktionsnorm Justizverwaltung Jv KPÖ Kommunistische Partei Österreich Kriegsverbrechergesetz KVG KWEG Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz KZ Konzentrationslager legis citatae leg cit litera (literae) lit mE meines Erachtens NL Nachlass N.N. nomen nescio NR Nationalrat Nr. Nummer NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSG Nationalsozialistengesetz o.D. ohne Datumsangabe OGH Oberster Gerichtshof OGK Ortsgruppenkartei (Bundesarchiv Berlin) Österreichische Juristen-Zeitung ÖJZ OLG Oberlandesgericht ON Ordnungsnummer

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ÖStA Österreichisches Staatsarchiv ÖVP Österreichische Volkspartei RA Rechtsanwalt recte richtig auf der Vorderseite recto RGBl Reichsgesetzblatt Richtlinie RL Rn Randnummer Rechtssprechung Rsp Rz Randzahl Reichsgesetzblatt RGBl RM Reichsmark R-ÜG Rechts-Überleitungsgesetz Regierungsvorlage RV S Seite SA Sturmabteilung sic so; wirklich so (sic erat scriptum) s.p. sine pagina Sozialdemokratische Partei Österreichs SPÖ SS Schutzstaffel der NSDAP Aktenkürzel der Staatsanwaltschaft St StG Österreichisches Strafgesetz StGB Österreichisches Strafgesetzbuch 1975 Staatsgesetzblatt StGBl Strafprozessordnung StPO u. a. unter anderem Aktenkürzel Voruntersuchung Ur usw. und so weiter V Verordnung verso auf der Rückseite VdU Verband der Unabhängigen VG Verbotsgesetz vgl. vergleiche VfGH Verfassungsgerichtshof VfSlg Sammlung der Erkenntnisse des VfGH Aktenkürzel bei Strafverfahren des Gerichtshofs I. Instanz Vr V-ÜG Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945 WdU Wahlpartei der Unabhängigen Z Ziffer



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Digitale Medien Österreichische Präsidentschaftskanzlei – www.bundespraesident.at Österreichische Parlamentsdirektion – www.parlament.gv.at Austria-Forum Team, AEIOU-Lexikon – www.austria-forum.org Das Bundesarchiv – www.bundesarchiv.de LEMO – Lebendiges Museum Online – www.dhm.de Deutsche Bundesbank – www.bundesbank.de Fritz Bauer Institut, www.fritz-bauer-institut.de Salzburger Nachrichten Verlagsgesellschaft m.b.H. & Co KG – www.salzburg.com Medizinische Universität Innsbruck – www.chirurgie-innsbruck.at

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